Menschenrecht Inklusion: 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in Sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern [1 ed.] 9783788731922, 9783788730819, 9783788730802


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Menschenrecht Inklusion: 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention - Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in Sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern [1 ed.]
 9783788731922, 9783788730819, 9783788730802

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Theresia Degener / Klaus Eberl /

Sigrid Graumann / Olaf Maas / Gerhard K. Schäfer (Hg.)

Menschenrecht Inklusion 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3081-9 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de  2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Dorothee Schönau, Wülfrath

Inhalt

Theresia Degener/Klaus Eberl/Sigrid Graumann/Olaf Maas/ Gerhard K. Schäfer

Vorwort .............................................................................................1 1

Grundlagen und Perspektiven

1.1

Theresia Degener

1.2

Sigrid Graumann

1.3

Gerhard K. Schäfer

1.4

Klaus Eberl

1.5

Heinrich Greving/Petr Ondracek

1.6

Hildegard Mogge-Grotjahn

1.7

Uwe Becker

Völkerrechtliche Grundlagen und Inhalt der UN BRK .........11 Menschenrechtsethische Überlegungen zum notwendigen Paradigmenwechsel im Selbstverständnis von Sozialpolitik und sozialen Diensten ...........................................................52 Menschen mit Behinderung in Kirche und Diakonie – eine historische Skizze ..........................................................74 Aus theologischer Perspektive: Inklusion im kirchlich-diakonischen Selbstverständnis .................................................................104 Menschenrecht Inklusion – Betrachtungen aus heilpädagogischer Perspektive .............123 Intersektionalität: theoretische Perspektiven und konzeptionelle Schlussfolgerungen .....................................140 Inklusionsbarrieren – Anmerkungen zur drohenden Entpolitisierung eines Menschenrechtsprojekts .............................................157

VI 2 2.1

Inhalt

Handlungsfelder und Praxisimpulse Irmgard Eberl/Klaus Eberl/Sigurd Hebenstreit/ Michaela Moser

Inklusive Frühpädagogik .....................................................177 2.2

Dirk Nüsken/Hiltrud Wegehaupt-Schlund

2.3

Hans-Jürgen Balz/Kathrin Römisch/Martin Weißenberg/ Kurt-Ulrich Wiggers

Zur Reform der Erziehungshilfe oder: Der Inklusionsanspruch gilt allen Kindern und Jugendlichen ................................................................204

Inklusion im Erwachsenenalter – Herausforderungen in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Partnerschaft ..................................................228 2.4

Silke Gerling/Helene Ignatzi

2.5

Siegfried Bouws/Christian Grabe/Stefan Schache/ Kristin Sonnenberg

Wohnen und Leben im Alter – mit und ohne Behinderung .................................................260

Mosaiksteine inklusiver Sozialraum-„Begleitung“ .............287 2.6

Beate Hofmann/Olaf Maas/Karen Sommer-Loeffen/ Christine Stoppig

Professionalität und ehrenamtliches Engagement – neue Perspektiven durch Inklusion .....................................308 2.7

Dieter Kalesse/Helene Skladny

2.8

Margret Osterfeld

2.9

Harald Herderich

„Kunst kennt keine Behinderung“. Kunst und Inklusion: Theorie und Praxis am Beispiel der Arbeit des Ateliers Strichstärke ................325 Selbstbestimmung, Inklusion und rechtliche Betreuung – Herausforderung oder gordischer Knoten? .........................349 Stellvertretung und Zwang aus der Betroffenenperspektive ...........................................369

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .....................................377

Vorwort

Am 13. Dezember 2006 wurde das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK) verabschiedet. Keine UN-Konvention ist so rasch von so vielen Staaten ratifiziert worden wie diese. Bislang haben über 160 Staaten die Konvention unterzeichnet. Das ist ein deutliches Zeichen für den epochalen Charakter des Übereinkommens. Die Bundesrepublik Deutschland ist der Behindertenrechtskonvention im März 2009 beigetreten. Die UN-Konvention ist damit in Deutschland geltendes Recht. Die UN BRK stellt mit ihrem menschenrechtlichen Ansatz einen Meilenstein für die Stärkung der Rechte von behinderten Menschen in der Gesellschaft dar. Selbstbestimmung und Partizipation, Barrierefreiheit und gleichberechtigte Teilnahme, Vielfalt und Inklusion sind zu Schlüsselbegriffen geworden für die Behindertenarbeit1 und die Bildungspolitik, für sozialpolitische Debatten und kulturelle Entwicklungen. Anlässlich des 10. Jahrestages der Verabschiedung der UN BRK thematisiert dieses Buch die Herausforderungen, die mit der Konvention für die sozialen Dienste gegeben sind. Die vorliegende Veröffentlichung ist die Fortsetzung einer intensiven Zusammenarbeit zwischen der Evangelischen Hochschule RWL in Bochum, der Diakonie RWL und den Landeskirchen zur UN BRK. Als erster Schritt wurde an der EvH RWL im Juni 2013 eine internationale Fachkonferenz2 durchgeführt, auf der Fragen der Umsetzung der UN BRK in den Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit, Heilpädagogik, Pflege und Diakonie kritisch und konstruktiv erörtert wurden. Wenn die Prinzipien der Fürsorge und Wohltätigkeit in der Behindertenarbeit durch Selbstbestim1

Außer in historischen Kontexten verwenden wir im vorliegenden Band für soziale Dienste und Dienstleistungen in Bezug auf Menschen mit Behinderungen den Begriff Behindertenarbeit. Damit verbunden ist nicht die Ablehnung des gängigen Begriffs Behindertenhilfe, wohl aber dessen Konnotationen von Fürsorge und Bedürftigkeit. 2 Die Tagung wurde gefördert aus Mitteln der Aktion Mensch, des Ministeriums für Arbeit, Integration und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, der KD Bank Stiftung, des Vereins der Freunde und Förderer der EvH RWL, der Wohnungsbaugesellschaft Bochum sowie der EvH RWL.

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mung, Freiheit und Gleichberechtigung abgelöst werden sollen, dann müssen neue Anforderungen an Fachlichkeit und Strukturen der Leistungserbringung diskutiert werden. „Menschen Recht Inklusion“ – so lautete der Titel der Konferenz, an der mehr als 350 Gäste aus der Region, dem Bundesgebiet und dem Ausland teilnahmen. Mit Bedacht wurde dieser Titel gewählt, denn es ging um Menschenrechte, um das Recht, Rechte zu haben und diese auch auszuüben, und es ging um das Zauberwort „Inklusion“. Das sind neue Themen für die deutsche Behindertenarbeit, die nach wie vor durch ein hohes Maß an stationärer Versorgung in Sonderwelten geprägt ist. Die UN BRK hat wie keine andere Menschenrechtskonvention in Deutschland Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und Fachwelt erlangt. Die Diskussion um Inklusion hat vielerorts zu lebhaften Diskussionen geführt. Die UN BRK und ihre Umsetzung werden höchst unterschiedlich eingeschätzt: Einerseits wird die Konvention als „neuer moralischer Kompass“3 gepriesen. Andererseits wird der „Budenzauber Inklusion“4 kritisiert und von einer „Inklusionslüge“5 gesprochen. Heiner Bielefeld, der ehemalige Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte und erster Inhaber eines Lehrstuhls für Menschenrechte in Deutschland, schreibt der UN BRK „ein hohes Innovationspotenzial“6 für die Gesellschaft zu. Dieses Innovationspotenzial wurde zunächst überwiegend in der Politik auf Bundes- und Landesebene diskutiert, während es in den Fachverbänden und in der Praxis – mit Ausnahme der Schulen – lange still blieb. Die internationale Fachkonferenz „Menschen Recht Inklusion“ wollte 2013 genau hier einen Impuls setzen. Der Diskurs, der bislang überwiegend auf politischer Ebene und meistens in Berlin geführt wurde, sollte in die Fachwelt getragen und in die Region geholt werden. Der Bochumer Kongress brachte Studierende, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Fachleute aus sozialen Einrichtungen und Diensten zusammen. Die Umsetzung der UN BRK in Deutschland hängt zu einem beachtlichen Maß davon ab, wie sehr es den Leistungserbringern in der Behindertenarbeit gelingt, das Innovationspotenzial aufzugreifen und in moderner, menschenrechtsbasierter Fachlichkeit und mit neuen Strukturen umzusetzen. Dabei war den Veranstalter_innen durchaus bewusst, dass es in der Praxis bereits viele positive Modellprojekte gibt, die für die Umsetzung der UN BRK anschlussfähig sind. Einige wurden auf der Konferenz vorgestellt und mit den Gästen aus dem 3

Degener, Vortrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung – vom völkerrechtlichen Startschuss zur innerstaatlichen Umsetzung“, Folie 18. 4 Sierck, Budenzauber Inklusion. 5 Becker, Die Inklusionslüge. 6 Bielefeld, Zum Innovationspotenzial der Behindertenrechtskonvention, 15.

Vorwort

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In- und Ausland diskutiert. Deutlich wurde: Die UN BRK verlangt einen radikalen Wandel in der gesamten Gesellschaft, und die Leistungserbringer haben eine hohe Verantwortung, diesen Wandel mit zu steuern und zu gestalten. Die Politik kann die Weichen stellen, aber der Zug muss von den Akteur_innen in der Behindertenarbeit gefahren werden. Neben den Behindertenverbänden sind das ganz besonders die großen Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Die Auseinandersetzung mit neuen Konzepten der „assistierten Freiheit“7, mit Barrierefreiheit und Inklusion, mit Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und Partizipation erfordert Offenheit und kritische Reflexion. Sie bedarf der Beteiligung ganz unterschiedlicher Disziplinen. Die Konferenz „Menschen Recht Inklusion“ war dafür beispielhaft: Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Pflege und Diakonie, Recht, Politik und Ökonomie, Psychologie und Soziologie, Theologie und Ethik, Ästhetik und Kommunikation waren aktiv vertreten. Der zweitägigen Konferenz gingen eine Kunstausstellung und Filmabende im Kunstmuseum Bochum zum Thema voraus. Der Dialog braucht zudem unterschiedliche Perspektiven. Die wissenschaftliche Erkenntnis braucht die Erfahrung der Praktiker_innen und Nutzer_innen sozialer Dienstleistungen in der Behindertenarbeit. Die Erfahrung der Alten muss durch den Ideenreichtum der Jungen angereichert werden. Die Studierenden von heute werden die Mammutaufgaben bei der Umsetzung der UN BRK zu erfüllen haben. Denn Strukturwandel braucht einen langen Atem und Zeit. Der vorliegende Band möchte die Impulse der Tagung „Menschen Recht Inklusion“ aufgreifen und die Diskussion fortführen. Anliegen dieses Buches ist es, Grundlagen, Zusammenhänge und Implikationen der UN BRK zu reflektieren, Perspektiven für die Umsetzung der Konvention zu eröffnen sowie Praxisimpulse für die Bereiche der Behindertenarbeit zu geben. Dabei werden das Selbstverständnis der Diakonie und diakonische Handlungsfelder besonders berücksichtigt. Die Diakonie Deutschland hat die UN BRK zum Thema der Jahre 2013/14 erklärt und sich zwei Jahre lang intensiv mit ihr beschäftigt. Dabei kristallisierte sich „die Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses und Commitments aller Beteiligten“ heraus.8 Entlang der Lebensspanne von Menschen mit Behinderungen und im Blick auf Handlungsfelder der Behindertenarbeit werden relevante Normen des Übereinkommens der Vereinten Nationen auf ihre theoretischen und praktischen Implikationen hin untersucht. So weit wie 7 8

Graumann, Assistierte Freiheit. Diakonie Deutschland, Inklusion verwirklichen, 49.

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möglich wurde dabei die wissenschaftliche Sicht mit der Perspektive der Professionellen verknüpft. Dazu wurden entsprechende Teams von Autor_innen aus Wissenschaft und Praxis zusammengestellt. Inhaltlich gliedert sich der Band in zwei Teile. Im ersten Grundlagenteil kommen verschiedene fachwissenschaftliche Perspektiven zur Geltung: Theresia Degener analysiert die UN BRK aus rechtlicher Perspektive. Sie stellt die Präzisierung und Konkretisierung der allgemeinen Menschenrechte mit Blick auf die Lebenssituationen von Menschen mit Behinderungen dar. Dabei stellt sie insbesondere die epochale Bedeutung des neuen menschenrechtlichen Verständnisses von Behinderung heraus, nach dem Menschen mit Behinderungen nicht mehr als Almosenempfänger_innen, sondern als Rechtssubjekte anzusehen sind. Und sie räumt einige verbreitete Missverständnisse beiseite, die den rechtsverbindlichen Handlungsbedarf, der von der Konvention ausgeht, relativieren wollen. Sigrid Graumann liefert eine ethische Analyse des Vertragstextes der Konvention und arbeitet heraus, wie die menschenrechtsethischen Prinzipien „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ aus moralphilosophischer Sicht zu verstehen sind. Mit einer sozialethisch erweiterten kantianischen Argumentation entwickelt sie das Konzept assistierte Freiheit. Damit liefert sie eine ethische Begründung dafür, dass Menschen mit Behinderungen positive Rechte auf Barrierefreiheit sowie auf Unterstützung und Assistenz in Abhängigkeit von ihren individuellen Lebenslagen haben, die mit verbindlichen Solidaritätspflichten verbunden sind. Gerhard K. Schäfer bietet eine historische Skizze zur Wahrnehmung von Menschen mit Behinderung. Dabei stehen insbesondere theologische Deutungen, kirchliche Reaktionen und Formen diakonischer Hilfe im Vordergrund. Der Überblick beleuchtet geschichtliche Kontinuitäten und Veränderungen, Paradoxien und Herausforderungen der Behindertenarbeit vom Altertum bis zur Gegenwart. Für das heutige diakonische Handeln konstatiert er ein neues Paradigma, nach dem Diakonie wesentlich als Assistenz zu einem Leben in kommunikativer Freiheit zu verstehen ist. Klaus Eberl setzt sich mit dem Begriff der Inklusion aus kirchlichdiakonischer Perspektive auseinander. Er stellt die Inklusion in den Zusammenhang des reformatorischen Freiheitsverständnisses und seiner Bedeutung für eine offene Gesellschaft, in der sehr verschiede-

Vorwort

5

ne Menschen zusammenleben. Theologische Impulse des Alten und Neuen Testaments werden für die Vision einer inklusiven Kirche und einer Diakonie fruchtbar gemacht, die zum Motor für notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse werden können. Heinrich Greving und Petr Ondracek betrachten Inklusion aus heilpädagogischer Perspektive. Sie bieten einen theoretischen und methodologischen Diskurs zur Prüfung und Weiterentwicklung des Selbstverständnisses der (Heil-)Pädagogik im Zeitalter der Inklusion. Sie legen Heilpädagog_innen einen Fahrplan zur Überprüfung ihres Selbstkonzepts im Hinblick auf Inklusionszuträglichkeit vor. Hildegard Mogge-Grotjahn befasst sich in ihrem Beitrag mit dem theoretischen Konzept der Intersektionalität und seiner praktischen Bedeutung für die Weiterentwicklung professionellen Handelns mit dem Ziel der Inklusion. Sie arbeitet die wechselseitige Verschränkung unterschiedlicher Ausgrenzungs- und Diskriminierungsrisiken (Behinderung, Armut, Ethnizität, Geschlecht) heraus. Als gelungenes Beispiel, wie in einem Wohnprojekt intersektional gehandelt werden kann, stellt sie die Claudiushöfe in Bochum vor. Der Beitrag von Uwe Becker schließt den Grundlagenteil mit der Warnung vor einer zu schlichten Logik von Inklusionsprozessen ab, wenn angenommen werde, Inklusion sei schon durch inklusive Regelbeschulung und damit erhöhte Integrationschancen auf dem ersten Arbeitsmarkt verwirklicht. Damit würden die Ausgrenzungsdynamiken, die gerade von diesen Instanzen der Vergesellschaftung – Bildung und Arbeit – ausgehen, eigenartig tabuisiert. Der zweite Teil fasst theoretische Überlegungen und Praxisimpulse für verschiedene Handlungsfelder der Behindertenarbeit zusammen: Irmgard Eberl, Klaus Eberl, Sigurd Hebenstreit und Michaela Moser zeigen für den Bereich der inklusiven Frühpädagogik, dass dieser verglichen mit der Schule eine Vorreiterrolle zukommt, was sich statistisch mit vergleichsweise hohen Inklusionsquoten belegen lässt. Die Erfahrungen im Bereich der Elementarpädagogik zeugen aber auch von großen konzeptionellen Herausforderungen, was der Beitrag mit Bezug auf rechtliche, institutionelle, beziehungsbezogene, didaktische und professionelle Aspekte diskutiert und an einem Praxisbeispiel, der KiTa „Rosengarten“, erläutert. Dirk Nüsken und Hiltrud Wegehaupt-Schlund beschäftigen sich mit dem Inklusionsanspruch in der Erziehungshilfe mit Blick auf die po-

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litisch in Aussicht stehende „große Lösung“, mit der Ausgrenzung und Exklusion, die Hilfen zur Erziehung bisher immer auch bedeuten, überwunden werden sollen. Neben umfassenden sozialrechtlichen Reformen würde dazu gehören, dass stationäre und teilstationäre Angebote im Sozialraum des Kindes erbracht werden und es zukünftig als normal angesehen wird, wenn Kinder zwei Zuhause haben. Mit mehreren Beispielen guter Praxis wird ein Weg gewiesen, wie sich eine inklusive Jugendhilfe entwickeln lässt. Hans-Jürgen Balz, Kathrin Römisch, Martin Weißenberg und KurtUlrich Wiggers gehen davon aus, dass Menschen mit Behinderungen das gleiche Recht auf ein gelingendes Leben haben wie Menschen ohne Behinderungen. Dafür ist die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben während des ganzen Lebens notwendig. Der Beitrag nimmt eine Bestandsaufnahme über die Möglichkeiten von Inklusion in den Feldern Arbeit, Wohnen und Familienplanung vor. Dabei wird deutlich, dass sowohl die Regelungen zur Kostenübernahme als auch die Formen der Leistungserbringung gerade für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf noch wenig Selbstbestimmung und Inklusion zulassen. Anhand einiger „Leuchtturmprojekte“ wird aber auch gezeigt, welches Potenzial die Umsetzung der UN BRK für behinderte Menschen im Erwachsenenalter bieten kann. Der Artikel von Helene Ignatzi und Silke Gerling diskutiert die Herausforderungen, die dadurch gegeben sind, dass einerseits behinderte Menschen eine zunehmend höhere Lebenserwartung haben und andererseits durch den demografischen Wandel altersbedingte Behinderungen zunehmen. Darauf sind beide Systeme, die Alten- wie die Behindertenarbeit, nicht eingestellt. In dem Beitrag wird auch deutlich, dass die Forderungen der UN BRK – auch alle älteren Menschen haben den Anspruch auf Selbstbestimmung und Inklusion – in der Altenhilfe noch viel zu wenig diskutiert werden. Dem Beitrag von Siegfried Bouws, Christiane Grabe, Stefan Schache und Kristin Sonnenberg liegt die Einsicht zu Grunde, dass die Verwirklichung von Inklusion nicht ohne eine umfassende und nachhaltige Gestaltung inklusiver Sozialräume zu haben ist. Die Autor_innen zeigen – unter Einbezug der Arbeit des Evangelischen Zentrums für Quartiersentwicklung der Diakonie RWL –, dass Gemeinwesenarbeit sowohl die materiellen wie auch die immateriellen Lebensbedingungen von Menschen verbessern will und dabei alle Lebensbereiche im Blick haben muss.

Vorwort

7

Beate Hoffmann, Olaf Maas, Karen Sommer-Loeffen und Christine Stoppig untersuchen die Wirkung von Inklusion auf das Verhältnis von Professionalität und Ehrenamt. Sie beschreiben die Auflösung scheinbar klarer Konzepte und die darin enthaltenen Chancen und Herausforderungen. Gleichzeitig geben sie durch Beispiele guter Projekte Praxisimpulse. Dieter Kalesse und Helene Skladny setzen sich mit dem Verhältnis von Kunst und Inklusion auseinander. Die Frage, inwieweit Kunsttherapie und Outsider-Art den Forderungen der UN BRK entsprechen, wird mit Joseph Beuys These: „Jeder Mensch ist ein Künstler“ konfrontiert und kritisch diskutiert. Im zweiten Teil folgt ein ausführlicher Bericht über die Arbeit des „Atelier Strichstärke“. Dieses Projekt in der Mönchengladbacher Fußgängerzone verfolgt das Ziel, Menschen mit Behinderungen in inklusivem Kontext Entfaltungsmöglichkeiten als Künstler_innen zu bieten. Margret Osterfeld erörtert das große Handlungsfeld der rechtlichen Betreuung. Sie sieht in dem deutschen Betreuungsrecht ein modernes Gesetz, das den Anforderungen der UN BRK nach assistierter Entscheidungsfindung im Grundsatz entspricht. Als menschenrechtlich problematisch beurteilt sie die bevormundende Praxis, für die sie konkrete Verbesserungsvorschläge entwickelt. Anders beurteilt Harald Herderich das Thema aus Nutzerperspektive. Menschenrechtsverletzungen sind nach seiner Erfahrung nicht nur auf überkommene bevormundende Handlungsmaximen in der Praxis, sondern auch auf Vorgaben des Gesetzes zurückzuführen. Die UN BRK verpflichtet die Staaten, „die Schulung von Fachkräften und anderem mit Menschen mit Behinderungen arbeitendem Personal auf dem Gebiet der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu fördern, damit die aufgrund dieser Rechte garantierten Unterstützungen und Dienste besser geleistet werden können“.9 Es ist übrigens das erste Mal, dass ein internationales Menschenrechtsübereinkommen die menschenrechtsbasierte Bildung von Professionen der Sozialen Arbeit und anderer Heil- und Pflegeberufe einfordert. Die Bewusstseinsbildung ist ein zentraler Baustein der Menschenrechtsbildung.10 Dabei ist es nicht erforderlich, dass sich immer alle einig sind. In den Beiträgen dieses Bandes treten durchaus auch unterschiedliche Einschätzungen zutage. Spannungen werden deut9

UN BRK Art. 4 Abs.1 lit.i) Schattenübersetzung. Art. 8 UN BRK (Bewusstseinsbildung).

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lich – zwischen Theorie und Praxis, Vision und Realisierungsschritten. Solche Differenzen und Spannungen gilt es, produktiv zu bewältigen. In diesem Sinne hoffen die Herausgeber_innen, dass dieses Buch zur Fort- und Bewusstseinsbildung über die UN BRK in der deutschen Behindertenarbeit beiträgt. Die Herausgeber_innen danken allen Autor_innen insbesondere dafür, dass sie sich auf das Vorhaben einer Kooperation zwischen Wissenschaft und Praxis eingelassen haben. Das hat allen Beteiligten mehr Zeit und Energie als erwartet abverlangt. Der Dank gilt außerdem Franziska Witzmann für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts und Herrn Ekkehard Starke von der Neukirchener Verlagsgesellschaft für die gute Zusammenarbeit. Die Diakonie RheinlandWestfalen-Lippe und die Evangelische Kirche im Rheinland haben die Drucklegung des Bandes durch Zuschüsse finanziell gefördert. Dadurch konnte ein erschwinglicher Preis ermöglicht werden. Dafür sind wir außerordentlich dankbar. Theresia Degener, Klaus Eberl, Sigrid Graumann, Olaf Maas und Gerhard K. Schäfer Bochum und Düsseldorf, April 2016 Literatur Becker, Uwe, Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2015. Bielefeld, Heiner, Zum Innovationspotenzial der Behindertenrechtskonvention, Berlin 2006. Degener, Theresia, Vortrag „Das Menschenrecht auf inklusive Bildung – vom völkerrechtlichen Startschuss zur innerstaatlichen Umsetzung“ in Berlin am 03.12.2010 zur UN BRK auf der Veranstaltung des Deutschen Behindertenrats: „Inklusion mein Menschenrecht“. Graumann, Sigrid, Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Frankfurt a.M./New York 2011. Diakonie Deutschland, Inklusion verwirklichen. Projekte und Beispiele guter Praxis, Berlin 2014. Sierck, Udo, Budenzauber Inklusion, Neu-Ulm 2013.

1 Grundlagen und Perspektiven

Theresia Degener

1.1 Völkerrechtliche Grundlagen und Inhalt der UN BRK

1

Der Inhalt der BRK

Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) besteht aus zwei völkerrechtlichen Verträgen: der UN BRK und dem Fakultativprotokoll. Die UN BRK umfasst 50 Artikel und eine Präambel. Das Fakultativprotokoll ist eine Art Zusatzprotokoll und stellt in 18 Artikeln verschiedene Verfahrensweisen bereit, wie individuelle bzw. kollektive Menschenrechtsverletzungen der UN BRK überprüft werden können. Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen können die UN BRK alleine oder zusammen mit dem Fakultativprotokoll unterzeichnen und ratifizieren. Etwa zwei Drittel aller Unterzeichnerstaaten entscheiden sich dafür, beiden völkerrechtlichen Verträgen beizutreten, und versprechen damit nicht nur, den normativen Inhalt der UN BRK in die eigene Rechtsordnung zu übertragen, sondern sich auch für Individualbeschwerden und Untersuchungsverfahren zu öffnen.1 Deutschland hat die UN BRK am 30. März 2007 unterzeichnet und am 24. Februar 2009 auf Grundlage des Gesetzes vom 21. Dezember 2008 ratifiziert.2 Dem Gesetz haben Bundestag und Bundesrat – nach ausführlichen Anhörungen in verschiedenen Ausschüssen3 – zuge1

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt (Mai 2016) haben nur 11 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die UN BRK weder unterzeichnet noch ratifiziert. 160 Staaten haben die UN BRK unterzeichnet und 92 Mitgliedsstaaten das Fakultativprotokoll (FP). 165 Staaten haben die UN BRK ratifiziert und 89 Staaten das FP. Der Unterschied zwischen Unterzeichnung und Ratifikation ist von Land zu Land ein anderer. In einigen Ländern fallen beide Rechtsakte zusammen, in den meisten Ländern sind es zwei unterschiedliche Rechtshandlungen. Die Unterzeichnung ist eine völkerrechtliche Willenserklärung, mit der sich der Staat verpflichtet, dem Völkerrechtsvertrag auf seinem Rechtsgebiet Geltung zu verschaffen. Mit der Ratifikation wird der Völkerrechtsvertrag Bestandteil der nationalen Rechtsordnung, vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 856 ff. 2 Vgl. BGBl. (2008) II, 1419. 3 Vgl. z.B. nur die Stellungnahmen vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales am 21.11.2008, Ausschussdrucksache 16 (11) 1209.

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T. Degener

stimmt. Die Ratifikation ist seit dem 26. März 2009 in Kraft. Seither ist die UN BRK Bestandteil der deutschen Rechtsordnung und zwar im Rang eines einfachen Bundesgesetzes, vergleichbar also mit dem SGB IX oder dem SGB II. Weil das Grundgesetz nach der deutschen Normenhierarchie über den Bundes- und Landesgesetzen steht, geht das Grundgesetz im Falle eines Normenkonflikts der UN BRK vor. Diese allgemeine Regel hat das Bundesverfassungsgericht allerdings in mehreren Entscheidungen zur Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes4 und zur UN BRK explizit im Jahre 20115 dahingehend qualifiziert, dass internationales Menschenrecht bzw. die UN BRK zur Auslegung des Inhalts und der Reichweite der Grundrechte herangezogen werden kann und muss. Die UN BRK hat damit einen hohen Stellenwert in der deutschen Rechtsordnung. Die Konvention lässt sich in drei thematische Abschnitte unterteilen. Im ersten allgemeinen Teil werden der Zweck der Konvention, Definitionen, allgemeine Prinzipien und allgemeine Staatenpflichten formuliert. Der zweite Abschnitt enthält die einzelnen Menschenrechte und der dritte Abschnitt Durchführungs- und Überwachungsbestimmungen sowie allgemeine technische Vorschriften etwa zum Inkrafttreten des Übereinkommens6 oder zur Authentizität verschiedener sprachlicher Fassungen.7 Der Geist der UN BRK wird durch ihren Zweck und ihre acht allgemeinen Prinzipien verkörpert. Ihr Zweck besteht darin, „den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“8 Dass behinderte Menschen Träger von Menschenrechten sind und dass die allgemeinen Menschenrechte also auch für behinderte Menschen gelten, ist keine neue Erkenntnis, für die es eine neue Menschenrechtskonvention bedurfte. Zwei Pronomen markieren das Innovationspotenzial der UN BRK: ALLE Menschenrechte müssen ALLEN behinderten Personen zugestanden wer4

Vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04. Vgl. BVerfG, 2 BvR 882/09 vom 23.3.2011. 6 Art. 45 UN BRK besagt, dass die Konvention 30 Tage nach der Hinterlegung der zwanzigsten Ratifikationsurkunde in Kraft tritt. International trat die UN BRK deshalb am 03.05.2008 in Kraft. 7 Art. 50 UN BRK besagt, dass nur die 6 UN-Sprachen (Englisch, Französisch, Spanisch, Arabisch, Russisch, Chinesisch) die amtliche Fassung wiedergeben. Insofern ist der Streit um die fehlerhafte deutsche Übersetzung der UN BRK – in der z.B. der Begriff „Inklusion“ mit „Integration“ übersetzt wurde – rechtlich unbedeutend. 8 Art. 1 UN BRK. 5

Grundlagen und Inhalt der UN BRK

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den. Hierin liegt eine Absage an zwei Vorurteile, die in der Theorie und Praxis auch von den Professionen der Behindertenarbeit aufrechterhalten werden. Vorurteil 1 besagt, dass bestimmte gesundheitliche Beeinträchtigungen – insbesondere im Bereich der kognitiven und psycho-sozialen Fähigkeiten – Menschenrechtsfähigkeit ausschließt. Eine Behinderung kann danach so schwer sein, dass die betreffende Person das Menschenrecht nicht wahrnehmen kann. Vorurteil 2 besagt, dass bestimmte Menschenrechte ein Mindestmaß an kognitiven Fähigkeiten voraussetzen, etwa das Recht auf gleiche Anerkennung als Person vor dem Recht. Dieses wird in der deutschen Rechtsordnung als rechtliche Handlungsfähigkeit9 bezeichnet, womit z.B. die Fähigkeit gemeint ist, verbindliche Willenserklärungen abzugeben. Beide Vorurteile sind mit der Menschenrechtstheorie unvereinbar, denn diese besagt, dass Menschenrechte qua Geburt verliehen werden und weder durch Leistung noch durch persönliche Eigenschaften (etwa Geschlecht oder Nationalität) erworben werden.10 Mit diesem Grundsatz, der bereits während der Verhandlungen zur Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 formuliert wurde,11 wurde in der Rechtsgeschichte allerdings vielfach gebrochen, etwa wenn Frauen und Sklaven einzelne Menschenrechte, wie etwa das Wahlrecht oder Eigentumsrecht, versagt wurden und in einigen Ländern heute noch werden. Auch behinderten Personen wurden in der Vergangenheit und zum Teil noch in der Gegenwart viele Menschenrechte verweigert. Begründet wird dieser Rechtsausschluss regelmäßig mit der der Behinderung zugrunde liegenden gesundheitlichen Beeinträchtigung. Mit dieser Diskriminierung will die UN BRK aufräumen. Darin liegt ihr revolutionärer Charakter. Zu den acht Prinzipien, aus denen sich der Geist der UN BRK weiter ergibt, gehören die Achtung vor der Menschenwürde, einschließlich der Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen, sowie der Selbstbestimmung,12 die Nichtdiskriminierung,13 die Partizipation und Inklusion,14 die Achtung der Diversität behinderter Menschen und die An9

Im deutschen Recht wird zwischen Rechtsfähigkeit und rechtlicher Handlungsfähigkeit unterschieden. Rechtsfähig, d.h. fähig, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, ist jeder Mensch ab Geburt (§ 1 BGB). Die rechtliche Handlungsfähigkeit ist in den Teilgebieten des Rechts unterschiedlich geregelt und hängt vom Alter und oft auch vom geistigen Zustand der Person ab. So beginnt die beschränkte Geschäftsfähigkeit im Zivilrecht mit Vollendung des 7. Lebensjahres (§§ 106 ff BGB), im Sozialrecht gilt man mit 15 Jahren als rechtlich handlungsfähig (§ 36 SGB I). 10 Vgl. Burgenthal, Human Rights. 11 Vgl. Normand/Zaidi, Human rights at the UN, 177–196. 12 Art. 3 lit. a) UN BRK. 13 Art. 3 lit. b) UN BRK. 14 Art. 3 lit. c) UN BRK.

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T. Degener

erkennung dieser Diversität als Teil menschlicher Vielfalt,15 die Chancengleichheit,16 die Barrierefreiheit,17 die Geschlechtergerechtigkeit18 und die Achtung der sich entwickelnden Fähigkeiten von behinderten Kindern und ihrer Identität.19 Diese acht Prinzipien gelten für alle weiteren Bestimmungen der UN BRK. Sie müssen insbesondere bei der Interpretation und Umsetzung der einzelnen Menschenrechte, die in der UN BRK enthalten sind, mitgedacht werden. Die einzelnen subjektiven Menschenrechte der UN BRK orientieren sich an der Allgemeinen Menschenrechtserklärung von 1948 und den beiden Mutterkonventionen der Menschenrechte, dem Zivilpakt und dem Sozialpakt von 1966. Während der vierjährigen Verhandlungen der UN BRK von 2002 bis 200620 in New York wurde stets betont, man wolle keine neuen Menschenrechte schaffen. Es sollten lediglich der allgemein anerkannte Menschenrechtskatalog auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten werden. Dies hatte zwei voneinander unabhängige politische Hintergründe. Erstens sollten für behinderte Menschen keine (weiteren) Sonderrechte geschaffen werden, sondern Behinderung sollte in das allgemeine Menschenrechtsregime der Vereinten Nationen aufgenommen werden.21 Zweitens sollte mit der UN BRK kein Einfallstor für die Schaffung umstrittener Menschenrechte der sogenannten dritten Generation – wie etwa das Recht auf Entwicklung – geöffnet werden.22 Ob die UN BRK letztendlich wirklich keine neuen Menschenrechte geschaffen hat, wird im Hinblick auf bisher unbekannte Normen wie Barrierefreiheit23 oder selbstbestimmtes Leben in der 15

Art. 3 lit. d) UN BRK. Art. 3 lit. e) UN BRK. 17 Art. 3 lit. f) UN BRK. 18 Art. 3 lit. g) UN BRK. 19 Art. 3 lit. h) UN BRK. 20 Vgl. zu den Verhandlungsdokumenten: http://www.un.org/disabilities/default.asp?id=1423 (Zugriff am 30.12.2015) sowie Degener, Eine UN-Menschenrechtskonvention für Behinderte, und Degener, Menschenrechtsschutz. 21 Zum langen Kampf um dieses Mainstreaming vgl. Degener, Disabled persons and human rights, und Quinn/Degener, Human rights and disability. 22 Zur ersten Generation der Menschenrechte gehören die zivilen und politischen Rechte. Zur zweiten Generation werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte gezählt. Zur dritten Generation gehören u.a. kollektive Rechte, wie das Recht auf Frieden, Entwicklung, saubere Umwelt. Die Einteilung der geltenden Menschenrechte in erste und zweite Generation und die damit verbundene Hierarchisierung wird in der modernen Menschenrechtstheorie abgelehnt und gilt in der Menschenrechtspolitik spätestens seit der Wiener Menschenrechtskonferenz von 1993 als überwunden. 23 Art. 9 UN BRK. 16

Grundlagen und Inhalt der UN BRK

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Gemeinde24 diskutiert.25 Dass das internationale Menschenrecht insgesamt durch die UN BRK modernisiert wurde, kann als gesicherte Erkenntnis angesehen werden. Konsens besteht auch dahingehend, dass die UN BRK mindestens die folgenden 17 subjektiven Menschenrechte26 enthält: das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz und Nichtdiskriminierung,27 das Recht auf Leben, Sicherheit und Freiheit der Person,28 das Recht auf gleiche Anerkennung als Person vor dem Recht,29 Freiheit von Folter,30 Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch,31 Recht auf Respekt der physischen und psychischen Integrität,32 Recht auf Freizügigkeit und Nationalität,33 Recht auf selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde,34 Recht auf Meinungs- und Redefreiheit,35 Recht auf Privatsphäre,36 Recht auf Respekt vor der Wohnung und der Familie,37 Recht auf Bildung,38 Recht auf Gesundheit,39 Recht auf Arbeit,40 Recht auf angemessenen Lebensstandard,41 Recht auf politische Teilhabe42 und Recht auf kulturelle Teilhabe.43 2

Das Menschenrechtsmodell von Behinderung

Mit der Verabschiedung der UN BRK wurde weltweit ein neues Verständnis von Behinderung geschaffen, mit dem paternalistische Grundannahmen, die auf Prinzipien der Barmherzigkeit und Fürsorge fußen,44 in Frage gestellt werden. Dieses neue Verständnis kam nicht aus dem Nichts, es wurde jahrzehntelang durch politische Interessenvertretung der Behindertenbewegung und kritischer Mediziner_innen 24

Art. 19 UN BRK. Vgl. Blanck, Equality. 26 Vgl. United Nations, From Exclusion to Equality, 15. 27 Art. 5 UN BRK. 28 Art. 10, 14 UN BRK. 29 Art. 12 UN BRK. 30 Art. 15 UN BRK. 31 Art. 16 UN BRK. 32 Art. 17 UN BRK. 33 Art. 18 UN BRK. 34 Art. 19 UN BRK. 35 Art. 21 UN BRK. 36 Art. 22 UN BRK. 37 Art. 23 UN BRK. 38 Art. 24 UN BRK. 39 Art. 25 UN BRK. 40 Art. 27 UN BRK. 41 Art. 28 UN BRK. 42 Art. 29 UN BRK. 43 Art. 30 UN BRK. 44 Vgl. den Beitrag von Gerhard K. Schäfer in diesem Band. 25

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und Pädagog_innen auf nationaler und internationaler Ebene errungen. Behinderte Menschen forderten zunehmend die Auflösung von Sondereinrichtungen im Bildungswesen, in der Psychiatrie, im Pflegesektor. Die Integrationsbewegung, wie sie damals noch genannt wurde, hatte bereits einen menschenrechtlichen Ansatz, in dem behinderte Menschen als Rechtssubjekte mit gleichen Rechten statt als Almosenempfänger_innen gesehen wurden. Auf internationaler Ebene begann der Wandel 1981 mit dem internationalen Jahr der Behinderten,45 das durch die Vereinten Nationen proklamiert wurde. Diesem folgte eine UN-Dekade der behinderten Personen 1983– 1992, die von einem Weltaktionsprogramm für behinderte Personen getragen wurde.46 Während dieser Jahre der besonderen Beachtung von Behinderung in der internationalen Politik kündigte sich bereits der Wandel vom medizinischen Modell zum sozialen Modell von Behinderung an, welcher auch rechtlichen Ausdruck gefunden hat. Die UN-Sonderorganisation Weltgesundheitsorganisation (WHO) verabschiedete ein erstes neues Konzept von Behinderung,47 das bereits auf die Wechselwirkung zwischen Umweltbedingungen und individueller (gesundheitlicher) Beeinträchtigung hinweist. Etwas später entstanden in den USA und Großbritannien als theoretischer Arm der Behindertenbewegung die Disability Studies. Diese neue wissenschaftliche Denkrichtung setzte dem medizinischen Modell von Behinderung das soziale Modell von Behinderung entgegen.48 Unter dem medizinischen Modell von Behinderung wird die Reduktion behinderter Menschen auf ihre (gesundheitliche) Beeinträchtigung verstanden. Mit dem medizinischen Modell von Behinderung einher geht die Vorstellung, dass behinderte Menschen vor allem Rehabilitation und Therapie benötigen, dass sie sogenannte Schonräume in Form von Sonderschulen, Wohnheimen oder besonderen Werkstätten brauchen und dass behinderte Menschen nicht zur gesellschaftlichen Teilhabe in der Lage sind. Das soziale Modell von Behinderung sieht das Hauptproblem in gesellschaftlichen Barrieren und Diskriminierungen. Behinderung wird nicht in erster Linie als medizinisch ontologisch zu begreifendes Phänomen, sondern als soziales Konstrukt verstanden, dass aus der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Erwartungshaltungen und individuellen leiblichen, intellektuellen und psychischen Bedingungen entsteht. Vertreter_innen des sozialen Modells von Behinderung setzen auf Antidiskriminierungspolitik, Barrierefreiheit, Selbstbestimmung und 45

Vgl. United Nations, International Year for Disabled Persons. Vgl. United Nations, Implementation of the World Programme, Ziff. 11. 47 Vgl. World Health Organisation, International classification. 48 Vgl. Oliver, The politics of disablement. 46

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Empowerment. Noch bevor Disability Studies in Deutschland Fuß fassten,49 wurden die Ziele, die mit dem sozialen Modell von Behinderung verfolgt werden, auch in das deutsche Recht aufgenommen. So z.B. 1994 in der Ausweitung des verfassungsrechtlichen Diskriminierungsverbots in Artikel 3 GG mit Aufnahme des Satzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“50 Im Sozialgesetzbuch IX von 2001 wurden als Ziele der Rehabilitation die Selbstbestimmung, gleichberechtigte Teilhabe und Nichtdiskriminierung behinderter Menschen festgeschrieben.51 Das Behindertengleichstellungsgesetz von 2002 markiert einen weiteren Meilenstein für den Einzug des sozialen Modells von Behinderung in das deutsche Behindertenrecht. Mit der Verabschiedung der UN BRK 2006 durch die Vereinten Nationen und ihrem Inkrafttreten in Deutschland hat sich das soziale Modell von Behinderung nun zu einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung weiterentwickelt.52 Kennzeichen dieses neuen Modells von Behinderung ist seine theoretische Verortung in den Menschenrechten einerseits und in den Disability Studies andererseits. Da Menschenrechte den Status der Nichtbehinderung nicht voraussetzen, gilt jede behinderte Person als menschenrechtsfähig. Das hat insbesondere Auswirkungen auf Menschen mit kognitiven und psychosozialen Beeinträchtigungen, denen im Recht und in der Praxis häufig Selbstbestimmung verweigert wird. Ein weiterer Wesensbestandteil des menschenrechtlichen Behindertenmodells ist die Annahme von der Interrelation, Interdependenz und Unteilbarkeit aller Menschenrechte. Es kommt daher nicht nur darauf an, behinderten Menschen Gleichheits- und Freiheitsrechte auf dem gleichen Niveau wie nicht behinderten Menschen zu gewähren, es geht auch um den gleichen Zugang zu und Schutz von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Das kann persönliche Assistenz bei der Arbeit oder in der politischen Betätigung bedeuten oder Unterstützung zur Entscheidungsfindung im Bereich Wohnen oder bei der Wahl. Entscheidend für das menschenrechtliche Modell von Behinderung ist die Absage an jegliche Sonderwelten und an Zwang. Segregation und Zwang stehen a priori unter dem Verdacht der Menschenrechtsverletzung. 49

2002 wurde in Dortmund die „Arbeitsgemeinschaft Disability Studies in Deutschland – Wir forschen selbst“ gegründet, vgl. http://www.disabilitystudies.de/ (Zugriff am 30.12.2015). 50 Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. 51 § 1 SGB IX. 52 Zum Unterschied zwischen sozialem Modell von Behinderung und menschenrechtlichem Modell von Behinderung vgl. Degener/Diehl, Handbuch Behindertenrechtskonvention; Attia, Dominanzkultur reloaded.

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Behinderung gilt als Teil menschlicher Vielfalt und ist damit kein defizitärer Zustand mehr.53 Weitere Merkmale des Menschenrechtsmodells sind sein Bezug zur Intersektionalität insbesondere im Hinblick auf Geschlecht,54 Alter55 und Armut.56 Im Gegensatz zur traditionellen Behindertenpolitik erfasst das Menschenrechtsmodell keine herkömmliche Präventionspolitik. Prävention von Behinderung gehört nicht zum Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Die UN BRK anerkennt nur die sekundäre Prävention als Bestandteil des Rechts auf Gesundheit und auch diese nur, wenn sie frei von Stigmatisierung und menschenwürdig gestaltet ist.57 3

Über die rechtliche Wirkung der UN BRK in Deutschland und zahlreiche Missverständnisse hierzu

Die Frage der rechtlichen Wirkung der UN BRK, insbesondere die der in ihr enthaltenen Rechte und Pflichten, hat zu einer Vielzahl an Spekulationen geführt. An ihnen waren nicht nur, aber leider auch, Juristinnen und Juristen beteiligt. Das hat zu vielen Missverständnissen geführt. Konsens besteht darüber, dass die UN BRK mit Unterzeichnung und Ratifikationsgesetz gem. Artikel 59 GG Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden ist. Wie bereits ausgeführt, erlangte die UN BRK damit den Rang eines einfachen Bundesgesetzes. In dem Ratifikationsgesetz ist der Vollzugsbefehl für die Anwendung der UN BRK in Deutschland zu sehen. Davon zu unterscheiden ist der sich auf den Inhalt der UN BRK beziehende Anwendungsbefehl. Dieser ergibt sich aus dem Ratifikationsgesetz und aus dem Grundgesetz.58 An die Gesetze unserer Rechtsordnung sind die Exekutive (also Regierung und Verwaltung) und die Judikative (also Gerichte) nach Artikel 20 Abs. 3 GG unmittelbar gebunden. Die Legislative (also Bundestag und Bundesrat) ist nach Artikel 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, aus der sich aufgrund der Völkerfreundlichkeit des Grundgesetzes59 wiederum eine Bindung an Menschenrechtskonventionen ergibt. 53

Art. 3 lit. d) UN BRK. Art. 6 UN BRK. 55 Art. 7 UN BRK. 56 Art. 32 UN BRK. 57 Art. 25 UN BRK. 58 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 86 ff.; Geiger, Grundgesetz und Völkerrecht, § 32. 59 Art. 25, 59 GG und BVerfG in ständiger Rechtsprechung, vgl. BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14.10.2004 – 2 BvR 1481/04. 54

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Welche Bedeutung diese Bindung im Einzelnen hat, hängt von den konkreten Umständen ab. Nach den allgemeinen Staatenpflichten, die in Artikel 4 der Konvention kodifiziert sind, verpflichten sich die Vertragsstaaten „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen“.60 Diskriminierende Gesetzgebung sowie diskriminierende „Verordnungen, Gepflogenheiten und Praktiken“ müssen aufgehoben und geändert werden.61 Ebenso sind die Vertragsstaaten verpflichtet, „Handlungen und Praktiken“, die mit der UN BRK unvereinbar sind, zu unterlassen bzw. zu unterbinden und dafür Sorge zu tragen, dass alle Träger der öffentlichen Gewalt sich daran halten.62 Aber auch gegenüber Privaten ergeben sich Pflichten aus der UN BRK. So muss Deutschland „geeignete Maßnahmen“ ergreifen, um Diskriminierung behinderter Menschen durch „Personen, Organisationen und private Unternehmen“ zu verhindern. Erstmals in einer UN-Menschenrechtskonvention werden auch Fachkräfte der Behindertenarbeit erwähnt. „Fachkräfte[...] und andere[s] mit Menschen mit Behinderungen arbeitende[s] Personal auf dem Gebiet der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte“ müssen geschult werden, um sicherzustellen, dass ihre Dienste und Leistungen im Einklang mit der UN BRK erbracht werden.63 Damit sind nur die allgemeinen Staatenpflichten erwähnt. Die besonderen Verpflichtungen ergeben sich aus den einzelnen Spezialnormen. Aus Artikel 13 (Zugang zur Justiz) ergibt sich etwa die Pflicht zur Herstellung gleichberechtigten barrierefreien Zugangs zu Gerichten, Verwaltung und Polizei. Aus Artikel 21 (Meinungsfreiheit) ergibt sich z.B. die Pflicht zur barrierefreien Informationspolitik. Nach Artikel 25 (Gesundheit) müssen die Vertragsstaaten einen gleichberechtigten Zugang zu allgemeinen Gesundheitsdienstleistungen – einschließlich sexual- und fortpflanzungsmedizinische Leistungen – gewährleisten. Aus jedem weiteren Recht der UN BRK lassen sich auf diese Weise besondere Pflichtenkataloge erstellen. Im Völkerrecht gilt allgemein, dass internationale Verträge von den Mitgliedsstaaten nach „Treu und Glauben“ einzuhalten sind.64 Bei Menschenrechtsverträgen wurde lange Zeit zwischen zwei Generationen65 von Menschenrechtsgruppen unterschieden, denen unterschiedliche Rechte und Pflichten zugeordnet wurden. Zur ersten Generation werden die politischen und bürgerlichen Menschenrechte 60

Art. 4 Abs. 1 lit. a) UN BRK. Art. 4 Abs. 1 lit. b) UN BRK. 62 Art. 4 Abs. 1 lit d) UN BRK. 63 Art. 4 Abs. 1 lit. i) UN BRK. 64 Vgl. Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht. § 459. 65 Vgl. auch Fn. 22. 61

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gezählt,66 denen Menschenrechte mit sogenannten negativen Pflichten für die Staaten zugeordnet wurden. Negative Pflicht bedeutet in diesem Zusammenhang, die Pflicht etwas nicht zu tun, z.B. nicht zu foltern. Zur zweiten Generation der Menschenrechte werden die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte67 gezählt, die mit positiven Staatenpflichten verbunden wurden. Negative Pflichten galten und gelten mit sofortiger Wirkung, während positive Pflichten nur schrittweise und im Rahmen vorhandener Ressourcen erfüllt werden müssen. Aus dieser Einteilung der Menschenrechte wurde auch geschlussfolgert, nur aus der ersten Generation ließen sich individuelle Rechte ableiten, die justiziabel seien. Diese Vorstellungen von der Unterteilung und Wirkung verschiedener Menschenrechte mögen in der Philosophie oder politischen Theorie heute weiterhin eine Rolle spielen. In der Rechtswissenschaft gelten sie aber mittlerweile als überholt.68 Hier gilt inzwischen, dass alle Menschenrechte miteinander verbunden sind oder voneinander abhängen und unteilbar sind. In Bezug auf alle Menschenrechte werden den Staaten negative und positive Pflichten auferlegt.69 Die Vorstellung, dass negative Pflichten ohne Kosten erfüllt werden können, während positive Pflichten kostenintensiv seien, wurde inzwischen widerlegt. Sowohl negative Pflichten als auch positive Pflichten können sowohl kostenneutral als auch kostenintensiv sein.70 Wenn z.B. ein Staat, in dem gefoltert wird, damit aufhören möchte, muss er sehr viel Geld für die Schulung der Polizei und des Justizpersonals aufwenden, um diese negative Pflicht umzusetzen. Auch die Aufrechterhaltung eines funktionierenden Rechtsstaates oder die Abhaltung freier Wahlen sind ressourcenintensiv, denn es muss ein funktionierendes Gerichtswesen und Wahlsystem finanziert werden. Umgekehrt kann schon die Aufhebung eines Verbots – etwa des Besuchs einer Regelschule – einen Beitrag zur Realisierung des Rechts auf Bildung für behinderte Schüler_innen darstellen. Außerdem wird im modernen Völkerrecht heute bezüglich aller Menschenrechte eine sogenannte Pflichtentrias angenommen, denen die Staaten unterliegen. Danach sind Vertragsstaaten verpflichtet, die Menschenrechte zu respektieren, zu schützen und zu gewährleisten (to respect, to protect, to fulfil). Die Pflicht, ein Menschenrecht zu respektieren, bedeutet, es staatlicherseits nicht zu verletzen. Schutzpflichten zielen auf die Abwehr von Menschenrechtsverletzungen durch Private. Gewährleistungspflichten umfassen 66

Die im Zivilpakt von 1966 kodifiziert sind. Die im Sozialpakt von 1966 kodifiziert sind. 68 Vgl. Sepúlveda, The nature of the obligations, 12 ff. 69 Das vertritt auch der Menschenrechtsausschuss, der der zuständige Fachausschuss für den Zivilpakt ist, vgl. Human Rights Committee, General Comment No. 31. 70 Vgl. Sepúlveda, The nature of the obligations, 122 ff. 67

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strukturelle, institutionelle und Förderpflichten, um die Bedingungen für den Genuss von Menschenrechten zu schaffen.71 Diese modernen Völkerrechtsgrundsätze werden hier so ausführlich dargestellt, weil die Diskussion um die Wirkung und die Pflichten aus der UN BRK in Deutschland deutlich zeigt, dass es hier immer wieder zu Missverständnissen kommt. Dazu gehören z.B. folgende: 1. Missverständnis: Dem deutschen Gesetzgeber werden durch die UN BRK keine legislativen Pflichten aufgebürdet. In ihrer Denkschrift72 zum Ratifikationsgesetz hatte die Bundesregierung im Jahre 2008 zunächst vertreten, dass alle deutschen Gesetze mit der UN BRK im Einklang stehen und neue legislative Maßnahmen nicht erforderlich seien. Diverse Rechtsgutachten73 und Stellungnahmen74 haben nicht nur in Bezug auf die deutschen Schulgesetze in den Bundesländern eine gegenteilige Auffassung vertreten. Im ersten Nationalen Aktionsplan von 2011 wurde dann seitens der Bundesregierung immerhin eine Prüfung diverser Gesetze in Erwägung gezogen.75 Im Entwurf des zweiten Nationalen Aktionsplanes, der auf den Inklusionstagen 2015 am 23.–24. November in Berlin vorgestellt wurde, werden konkrete legislative Maßnahmen, wie etwa der Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz, die Überarbeitung des Behindertengleichstellungsgesetzes und weitere Gesetzesüberprüfungen, angekündigt. Auch das Maßregelvollzugsrecht und das Betreuungsrecht mussten aufgrund höchstrichterlicher Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts76 bzw. des Bundesgerichtshofes77 bereits verändert werden. Aus alledem ergibt sich, dass der deutsche Gesetzgeber zwar einen Ermessensspielraum hat, wie er seine Pflichten aus der UN BRK umsetzt, jedoch besteht kein Zweifel, dass es auch legislative Handlungspflichten gibt. 2. Missverständnis: Die UN BRK entfaltet keine Wirkung für die einzelnen Bundesländer. Verschiedentlich haben deutsche Gerichte vertreten, die UN BRK entfalte keine unmittelbare Wirkung für die Bundesländer, soweit de71

Vgl. Sepúlveda, The nature of the obligations, 157 ff. Vgl. Deutscher Bundestag, Denkschrift. 73 Vgl. Degener, Legislative Herausforderungen; Poscher/Rux/Langer, Von der Integration zur Inklusion; Mißling/Ückert, Inklusive Bildung. 74 Vgl. z.B. Krajewski, Ein Menschenrecht auf integrativen Schulunterricht. 75 Vgl. BMAS, Nationaler Aktionsplan. 76 BVerfG 2 BVR 882/09 vom 23.03.2011. 77 BGH XII ZB 99/12 Besch. V. 20.06.2012. 72

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ren ausschließliche Gesetzgebungskompetenz betroffen sei.78 Zwar heißt es in der UN BRK, dass ihre Bestimmungen „ohne Einschränkung oder Ausnahme für alle Teile eines Bundesstaats“ gelten,79 doch wird die Wirkung internationaler Verträge in föderalen Systemen, trotz anderslautender Vorschriften in der Wiener Vertragsrechtskonvention,80 immer wieder angezweifelt. Für Deutschland ist diese Frage aber spätestens seit dem Lindauer Abkommen von 1959 geklärt, die Bundesländer unterliegen überdies dem Gebot der Bundestreue.81 Und schließlich haben die Bundesländer über den Bundesrat dem Ratifikationsgesetz und damit der UN BRK zugestimmt.82 Das sind drei Gründe, warum die UN BRK unmittelbar auch die Bundesländer verpflichtet. 3. Missverständnis: Deutsche Gerichte und deutsche Behörden können die UN BRK nicht umsetzen, solange der Gesetzgeber nicht gehandelt hat. Ein anderes hartnäckiges Missverständnis besagt, die UN BRK sei vor Gericht nicht einklagbar, weil sie keine sogenannten „self executive“-Normen enthalte. Damit sind im Völkerrecht menschenrechtliche Normen gemeint, die inhaltlich so hinreichend bestimmt sind, dass sich aus ihr unmittelbare Rechte und Pflichten ergeben. Das wird bei Menschenrechtsnormen selten angenommen, weil es zu ihrem Wesen gehört, allgemein und oft generalklauselartig kodifiziert zu werden. Dennoch gibt es auch Menschenrechtsnormen, denen ein solcher „self executive“-Charakter zugeschrieben wird,83 und die UN BRK ist davon nicht ausgeschlossen.84 Unabhängig aber davon, ob einzelne Menschenrechtsnormen der UN BRK diesen Charakter haben, ist die Konvention jedoch selbstverständlich vor Gericht anwendbar. Denn es gibt eine zweite Form der gerichtlichen Anwendung von Menschenrechtskonventionen im na78 OVG Niedersachsen, Beschluss vom 16.09.2010, Az. 2 ME 278/10; VGH Hessen, Beschluss vom 12.11.2009, Az. 7 B 2763/09. 79 Art. 4 Abs. 5 UN BRK. 80 Art. 26 WVK – Pacta sunt servanda: Ist ein Vertrag in Kraft, so bindet er die Vertragsparteien und ist von ihnen nach Treu und Glauben zu erfüllen. Art. 27 WVK – Innerstaatliches Recht und Einhaltung von Verträgen: Eine Vertragspartei kann sich nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen, um die Nichterfüllung eines Vertrags zu rechtfertigen. 81 Art. 20 Abs. 1 GG. 82 BGBl. II (2008), 1419. 83 Vgl. Cremer, Menschenrechtsverträge. 84 Vgl. Riedel, Zur Wirkung der internationalen Konvention, 10. Vgl. dazu auch Aichele, Die UN-Behindertenrechtskonvention in der gerichtlichen Praxis; Welti, Die UN BRK, 64; Banafsche, Art. 19, Rn 20.

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tionalen Recht. Diese Anwendungsmethode nennt sich menschenrechtskonforme Auslegung von bestehenden Bundes- oder Landesgesetzen. Dazu sind Gerichte sogar verpflichtet, wenn sie andernfalls zu konventionswidrigen Entscheidungen kommen. Die Grenzen der richterlichen Auslegung müssen dabei selbstverständlich eingehalten werden.85 Erste Analysen der deutschen Rechtsprechung zur UN BRK belegen, dass hier noch viel Nachholbedarf besteht und Missverständnisse ausgeräumt werden müssen.86 Für Behörden gilt gleichermaßen, dass sie zur Anwendung der UN BRK verpflichtet sind, da sie an Recht und Gesetz unmittelbar gebunden sind,87 insbesondere bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe (z.B. „Zumutbarkeit“) oder wenn eine Ermessensentscheidung getroffen werden muss (die Leistung „kann“, muss aber nicht gewährt werden). Auch diesbezüglich besteht noch großer Nachholbedarf. 4. Missverständnis: Schrittweise Umsetzung unter dem Vorbehalt vorhandener Ressourcen bedeutet Anwendungsvorbehalt. Die UN BRK enthält den aus dem UN-Sozialpakt bekannten Progressionsvorbehalt in Artikel 4 Abs. 2,88 nach dem die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte (WSK-Rechte) schrittweise und mit den verfügbaren Mitteln umzusetzen sind. Hieraus wird zu Unrecht geschlussfolgert, diese Rechte seien vor deutschen Gerichten nicht einklagbar und der Staat könne selbst entscheiden, wann und wie er diese Rechte umsetze. Das Recht auf Bildung, welches in Deutschland bislang am meisten diskutiert wurde, gehört zu diesen WSKRechten. Es ist jedoch falsch, anzunehmen, WSK-Rechte seien nicht justiziabel. Bereits die Tatsache, dass mittlerweile auch der UN-Sozialpakt ein individuelles Beschwerdeverfahren kennt,89 zeigt, dass diese Rechtsauffassung überholt ist. Zudem hat der UN-Ausschuss zum Sozialpakt in mehreren Allgemeinen Bemerkungen90 sowie in 85

Vgl. Zippelius, Juristische Methodenlehre. Vgl. BMAS/DIMR, Dokumentation der Fachtagung. 87 Art. 20 Abs. 3 GG, vgl. Banafsche, Art. 19, Fn 37 exemplarisch für eine völkerrechtskonforme Auslegung von dt. Sozialrechtsnormen, die gg. Art. 19 UN BRK verstoßen. 88 Der Text lautet: „Hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet sich jeder Vertragsstaat, unter Ausschöpfung seiner verfügbaren Mittel und erforderlichenfalls im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit Maßnahmen zu treffen, um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen unbeschadet derjenigen Verpflichtungen aus diesem Übereinkommen, die nach dem Völkerrecht sofort anwendbar sind.“ 89 Vgl. Vereinte Nationen, Fakultativprotokoll. 90 Vgl. insbesondere CESCR, General comment No. 3, art. 2, para. 1. 86

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seiner Rechtsprechung zu einzelnen Staaten deutlich betont, dass auch WSK-Rechte unmittelbare Pflichten für die Vertragsstaaten enthalten. Und selbst für die Pflichten, die schrittweise umgesetzt werden müssen, gibt es harte Maßstäbe für deren Einhaltung. Schrittweise Umsetzung bedeutet z.B., dass Staaten sofort konkrete, zielgerichtete und effektive Maßnahmen ergreifen müssen. Die Mittel, die eingesetzt werden, müssen das Maximum der vorhandenen Ressourcen darstellen. Der Staat ist verpflichtet, eine stetige Verbesserung der Situation nachzuweisen, und – in Zeiten leerer Kassen besonders wichtig – es dürfen keine reversiblen Maßnahmen eingeleitet werden.91 Schließlich weist Artikel 4 Abs. 2 UN BRK selbst auf Grundsätze des Völkerrechts hin, nach denen WSK-Rechte sofortige Wirkung entfalten. Zu denen gehört ohne Zweifel das Diskriminierungsverbot.92 Deshalb wird man immer dann, wenn eine Verletzung eines WSK-Rechts eine Diskriminierung darstellt, eine sofortige Pflicht zum Handeln des Staates und ein korrespondierendes einklagbares Recht des Individuums annehmen müssen. Das ist der Grund, warum auch aus dem Recht auf inklusive Bildung (Artikel 24 UN BRK) individuell einklagbare, sofortige Rechte ableitbar sind.93 Für die UN BRK ist der Progressionsvorbehalt überdies grundsätzlich schwer zu lokalisieren, denn ein Wesensmerkmal dieser Konvention ist, dass WSK-Rechte und bürgerliche und politische Rechte oft nicht klar abgrenzbar sind.94 So gilt das Recht auf gleiche Anerkennung als Person vor dem Recht (Artikel 12 UN BRK) seit jeher als klassisches bürgerliches Freiheitsrecht.95 Mit der UN BRK hat dieses Menschenrecht jedoch auch eine soziale Komponente bekommen, weil zu diesem Recht nun auch gehört, Zugang zu Unterstützungsdiensten und Schutz vor Manipulation zu bekommen.96 Eine stattliche Anzahl der Menschenrechte in der UN BRK weist diesen Doppelcharakter auf. Damit wurde in der UN BRK kodifiziert, was in der Menschenrechtstheorie seit Langem vertreten wird: Alle Menschenrechte sind voneinander abhängig, miteinander verbunden und unteilbar.

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Ausführlich dazu Sepúlveda, The nature of the obligations, 311 ff. Vgl. Rudolf/Mahlmann, Gleichbehandlungsrecht. 93 Ausführlich dazu Riedel/Arend, Im Zweifel Inklusion. 94 Vgl. Quinn, A Short Guide. 95 Vgl. Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, Rn 9. 96 Vgl. Aichele/Degener, Frei und gleich im rechtlichen Handeln. 92

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Besondere normative Herausforderungen für die Professionen in der Behindertenarbeit

Für die Fachkräfte in der deutschen Behindertenarbeit ergeben sich besondere Herausforderungen insbesondere aus den Normen, die einen Gegenentwurf zu Sonderwelten und Stellvertretung und Zwang in den Bereichen Wohnen und Freizeit, Bildung und Arbeit darstellen. Das sind insbesondere Artikel 12 (gleiche Anerkennung vor dem Recht), Artikel 19 (selbstbestimmt Leben und Einbeziehung in die Gemeinschaft), Artikel 24 (Bildung) und Artikel 27 (Arbeit und Beschäftigung). 4.1

Artikel 12 UN BRK – Recht auf gleichberechtigte Anerkennung als Person vor dem Recht: Gesetzliche Betreuung quo vadis?

Artikel 12 UN BRK bekräftigt zunächst, dass alle behinderten Personen das Recht haben, als Rechtssubjekt anerkannt zu werden.97 Das bedeutet, dass sie in allen Lebensbereichen gleichberechtigte Rechtsund Handlungsfähigkeit genießen.98 Damit sie diese auch ausüben können, werden die Vertragsstaaten verpflichtet, für diejenigen, die sie benötigen, Zugang zu Unterstützungsmaßnahmen zu gewähren.99 Auch muss wirksamer und verhältnismäßiger Schutz vor Missbrauch und Manipulation gewährt werden, wobei sicherzustellen ist, dass „der Wille und die Präferenzen der betreffenden Person geachtet werden.“100 Vertragsstaaten müssen geeignete Maßnahmen treffen, um sicherzustellen, dass behinderte Menschen gleichberechtigt mit anderen Eigentum haben und erben und Zugang zu Finanzdienstleistungen haben.101 Das Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht bedeutet in der juristischen Fachsprache, die Fähigkeit, rechtliche Handlungen vornehmen zu können, wie z.B. Verträge zu schließen, den Aufenthaltsort zu bestimmen oder in medizinische Handlungen einzuwilligen. Die rechtliche Handlungsfähigkeit ist nicht mit der Rechtsfähigkeit zu verwechseln. Diese bedeutet, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, nicht aber diese Rechte und Pflichten auch ausüben zu können. So kann man bereits als Säugling durch einen Erbfall Fabrikant und damit auch Arbeitgeber werden, aber dieser Säugling braucht einen 97

Art. 12 Abs. 1 UN BRK. Art. 12 Abs. 2 UN BRK. 99 Art. 12 Abs. 3 UN BRK. 100 Art. 12 Abs. 4 UN BRK. 101 Art. 12 Abs. 5 UN BRK. 98

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Stellvertreter (z.B. Vormund), um als Fabrikant auch rechtswirksam handeln zu können. In der Praxis der sozialen Behindertenarbeit ist die rechtliche Handlungsfähigkeit besonders in allen Bereichen der Arbeit mit behinderten Erwachsenen relevant. Die Frage, wo und mit wem möchte ich wohnen, stellt sich für jeden Menschen mit Auszug aus dem Elternhaus.102 Eingetragene Partnerschaft und Ehe sind mit rechtlichen Willenserklärungen verbunden, die politische Wahlentscheidung ist eine rechtliche Willenserklärung, ebenso die Einwilligung oder die Ablehnung einer medizinischen Behandlung. Behinderte Erwachsene mit kognitiven oder psycho-sozialen Beeinträchtigungen, die in Wohnheimen oder Wohngruppen leben, werden in ihrer rechtlichen Handlungsfähigkeit regelmäßig behindert, etwa durch Hausordnungen, Dienstpläne oder alltägliche Stellvertretung. Auch werden behinderte Erwachsene häufig unter rechtliche Betreuung gestellt, womit sie zwar nicht (mehr)103 generell für geschäftsunfähig erklärt werden, die gesetzliche Betreuungsperson hat jedoch ein Stellvertretungsrecht104 und bei entsprechendem Gerichtsbeschluss hat er oder sie dieses auch alleine.105 Schließlich spielt die Frage der rechtlichen Autonomie eine Rolle bei Zwangsbehandlung und Zwangsunterbringung im Rahmen der sozialen Betreuung von Menschen mit kognitiven oder psycho-sozialen Beeinträchtigungen im Rahmen des Betreuungsrechts, im Rahmen der Psychiatriegesetze der Länder oder im Rahmen der strafrechtlichen Unterbringung. Artikel 12 UN BRK bricht mit allen traditionellen Vorstellungen einer wohlmeinenden Betreuung von behinderten Menschen, die als nicht entscheidungsfähig angesehen werden. Nach Artikel 12 UN BRK gilt für alle erwachsenen behinderten Menschen die Vermutung der rechtlichen Handlungsfähigkeit. Aus Artikel 12 Abs. 3 ergibt sich deutlich die Prämisse der unterstützten Entscheidungsfindung, d.h., behinderten Menschen, die Assistenz bei der Entscheidung in einer Frage brauchen, muss diese angeboten werden. Stellvertretungssysteme gelten als a priori konventionswidrig, das hat der UN BRK-Ausschuss in seiner Allgemeinen Bemerkung Nr. 1, mit der er die Norm juristisch interpretiert hat,106 und in allen seinen Abschließenden Bemerkungen107 zu den Staaten, die er inzwischen überprüft hat, deutlich betont. Auch Zwangsunterbringung und -behandlung sind mit der 102

Vgl. den Beitrag von Hans-Jürgen Balz et al. in diesem Band. Bis 1992 galt in Deutschland ein totalitäres Entmündigungsrecht. 104 § 1902 BGB. 105 § 1903 BGB. 106 Vgl. CRPD, General Comment No 1. 107 Vgl. http://tbinternet.ohchr.org. Bis Dezember 2015 wurden 32 Staaten überprüft. 103

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UN BRK prinzipiell nicht vereinbar.108 Das stellt die Praxis der Behindertenarbeit vor große Herausforderungen, denn Stellvertretung gehört zum normalen Alltag der deutschen Behindertenarbeit, insbesondere wenn es um die Versorgung und soziale und rechtliche Betreuung von Menschen mit kognitiven und psycho-sozialen Beeinträchtigungen geht. Auch Zwangsunterbringung und Zwangsbehandlung sind in Deutschland nicht nur anerkannte Methoden der Betreuung und (medizinischen) Versorgung, die Zahl der Anwendung ist sogar in den vergangenen Jahren rasant gestiegen.109 Reichweite und Rechtsnatur des Artikel 12 UN BRK waren lange umstritten. So wurde zunächst angenommen, Artikel 12 erfasse nur die Rechtsfähigkeit, nicht aber die rechtliche Handlungsfähigkeit.110 Weiter wurde angenommen, Stellvertretung im Sinne einer rechtlichen Betreuung sei konventionsgemäß.111 Die Frage, ob der deutsche Gesetzgeber handeln muss, wurde ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage, ob die Pflichten aus Artikel 12 zu den Bürgerrechten oder zu den WSK-Rechten gehören und damit dem Progressionsvorbehalt des Artikel 4 Abs. 2 UN BRK unterliegen.112 Inzwischen verabschiedete der Genfer Ausschuss 2014 eine sogenannte Allgemeine Bemerkung113 zum Recht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht nach Artikel 12 UN BRK.114 Darin heißt es unmissverständlich, dass sowohl Rechtsfähigkeit als auch rechtliche Handlungsfähigkeit erfasst werden.115 Der Ausschuss betont, dass der „Status als Mensch mit einer Behinderung oder das Vorhandensein einer Beeinträchtigung (einschließlich körperlicher oder sensorischer Beeinträchtigung) niemals die Grundlage für die Versagung der rechtlichen Handlungsfähigkeit oder eines der in Artikel 12 aufgeführten Rechte sein darf.“116 Diesen absoluten Rang des Rechts begründet der Ausschuss 108

Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Fn 106. Vgl. BRK Allianz e.V., Für Selbstbestimmung, 25, 27, 33; Armbruster/Dieterich/ Hahn/Ratzke, Wo stehen wir heute?. 110 So brachte z.B. China kurz vor Ende der Verhandlungen zum Text der Konvention noch eine Fußnote ein, derzufolge das Wort „legal capacity“ als Rechtsfähigkeit zu übersetzen sei. Vgl. Trömel, A Personal Perspective. Weitere Nachweise bei Tolmein, Artikel 12; sowie Lachwitz, Art. 12. 111 Vgl. Deutscher Bundestag, Denkschrift, 52; BMAS, Erster Staatenbericht, 34; Lipp, Erwachsenenschutz, 342. 112 Vgl. Tolmein, Art. 12, Rn 14 f mwN. 113 Allgemeine Bemerkungen (General Comments) werden von den Fachausschüssen zu bestimmten Normen oder Themen der Menschenrechtskonventionen erlassen. Es handelt sich um nicht verbindliche juristische Erläuterungen, die gleichwohl hohe Anerkennung in Rechtwissenschaft und Praxis genießen. 114 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Fn 106. 115 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 11ff. 116 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 9. 109

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damit, „dass die rechtliche Handlungsfähigkeit ein universelles Attribut ist, das allen Personen aufgrund ihres Menschseins innewohnt und auch für Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen gewahrt sein muss.“117 Rechtliche Handlungsfähigkeit und geistige Fähigkeiten müssen unterschieden werden: Ersteres sei ein Menschenrecht, Letzteres sei ein umstrittenes Konzept, das kein „objektives, wissenschaftliches und naturgegebenes Phänomen“ sei, sondern vom sozialen und politischen Kontext abhänge.118 Auch den Systemen der ersetzenden Entscheidungsfindung, d.h. der rechtlichen Stellvertretung durch gesetzliche Betreuung oder Vormundschaft, erteilt der Ausschuss im ersten Allgemeinen Kommentar eine deutliche Absage und fordert die Vertragsstaaten auf, „anstelle der Regelwerke zur ersetzenden Entscheidungsfindung die unterstützte Entscheidungsfindung einzuführen, die die Autonomie, den Willen und die Präferenzen der betroffenen Person respektiert.“119 Welche Form und welchen (rechtlichen) Charakter Maßnahmen der unterstützten Entscheidungsfindung haben, beantwortet der Ausschuss nicht abschließend. Er betont, dass eine Vielzahl von Formen in Betracht kommt und dass es hierzu noch erheblichen Forschungs- und Entwicklungsbedarf gibt.120 Der Allgemeine Kommentar Nr. 1 enthält jedoch Kriterien für Merkmale einer ersetzenden Entscheidungsfindung und Richtlinien für die Staatenpflicht im Hinblick auf die Gewährleistung von unterstützter Entscheidungsfindung.121 In Bezug auf die Sicherungsmaßnahmen nach Abs. 4 finden sich klare Erläuterungen, dass sich daraus keine Stellvertretung legitimieren lässt: „Oberstes Ziel dieser Sicherungen muss sein, sicherzustellen, dass das Recht, der Willen und die Präferenzen der betreffenden Personen geachtet werden.“ In den wenigen Fällen, in denen Wille und Präferenz der Person nicht erkannt werden kann, muss „bestmögliche Interpretation des Willens und der Präferenzen“ den bisher üblichen Maßstab des besten Wohls des Betroffenen ersetzen.122 Weil Zwangsunterbringung und -behandlung auch mittelbar unter Artikel 12 UN BRK fallen,123 äußert sich der Ausschuss im Allge117

Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 8. Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 14. 119 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 22. 120 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 15, 51. 121 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 23, 25. 122 Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 21. 123 Unterbringung betrifft eher Art. 14 UN BRK (Freiheit und Sicherheit der Person), während Zwangsbehandlung eher durch Art. 15 UN BRK (Freiheit von Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe), Art. 16 UN BRK (Freiheit von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch), Art. 17 UN BRK (Schutz der Unversehrtheit der Person) und Art. 25 UN BRK (Gesundheit) erfasst wird. 118

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meinen Kommentar Nr. 1 auch zu diesen Praxismaßnahmen. Sie werden ausnahmslos als konventionswidrig charakterisiert.124 Die Staaten werden aufgefordert, die rechtliche Handlungsfähigkeit behinderter Menschen jederzeit zu achten, insbesondere „auch in Krisensituationen, eigene Entscheidungen zu treffen …“125 Dass mit Zwangsunterbringung nicht nur die zivilrechtliche, sondern auch die öffentlich-rechtliche Unterbringung aus Gründen der Gefahrenabwehr und im Rahmen strafrechtlicher Verfahren gemeint ist, stellte der Ausschuss im September 2015 während seiner 14. Tagung klar. Dort wurden die Richtlinien zu Artikel 14 UN BRK verabschiedet, mit denen der Ausschuss auf Äußerungen anderer Menschenrechtsorgane reagiert, die Zwangsmaßnahmen aufgrund einer konkreten oder scheinbaren psycho-sozialen Beeinträchtigung legitimieren.126 Nach den Richtlinien zu Artikel 14 ist das Verbot, „dass das Vorliegen einer Behinderung in keinem Fall eine Freiheitsentziehung rechtfertigt“,127 absolut, d.h., es gilt auch, wenn weitere Faktoren wie Selbst- oder Fremdgefährdung oder Behandlungsbedürftigkeit hinzutreten. Psychiatriegesetze, die Freiheitsentziehung auf dieser kombinierten Basis erlauben, werden als diskriminierend und unvereinbar mit Artikel 12 und 14 UN BRK angesehen.128 Die Richtlinien, die eine Zusammenfassung der bisherigen „Rechtsprechung“129 des Ausschusses zur Thematik enthalten, stellen klar, dass niemand, auch behinderte Menschen, einen Schaden anrichten dürfen. Rechtsstaaten verfügten über Strafrecht und andere Gesetze, die im Fall der Verletzung dieser Pflichten zur Anwendung kämen. Jedoch würden behinderte Menschen oft auf ein anderes Rechtsgleis gestellt, das wie z.B. Psychiatriegesetze geringen rechtsstaatlichen Schutz böten.130 Gleiches gelte für die Folgen der Annahme behinderungsbedingter Schuldunfähigkeit im Strafrecht.131 In den Richtlinien gibt es weitere menschenrechtliche Vorgaben für die Bedingungen der Unterbringung, der Überprüfung der Unterbringungsorte und -verfahren, für strafrechtliche Sicherheitsmaßnahmen und Intervention in Krisensituationen. Die Richtlinien zu Artikel 14 UN BRK stellen, wie 124

Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 40f. Vgl. CRPD, General Comment No. 1, Ziff. 42. 126 Z.B. Human Rights Committee, General Comment No. 35. 127 Art. 14 Abs. 1 lit. b) UN BRK. 128 Vgl. CRPD, Guidelines on article 14, Ziff. 8, 13, 15. 129 Als „Rechtsprechung“ werden im Völkerrecht auch die Abschließenden Bemerkungen bezeichnet, die die Fachausschüsse zum Abschluss der Staatenberichtsprüfung erlassen. Gleichwohl sind die Fachausschüsse keine Gerichte im eigentlichen Sinne. 130 Vgl. CRPD, Guidelines on article 14, Ziff. 14. Ähnlich Pollähne, Behindertenrechte im Strafprozess. 131 Vgl. CRPD, Guidelines on article 14, Ziff. 15f. 125

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auch die Allgemeine Bemerkung Nr. 1 zu Artikel 12 UN BRK, die bisherigen Betreuungs- und Versorgungsstrukturen in Psychiatrie und Behindertenarbeit weltweit radikal in Frage. Das gilt auch für Deutschland, ein Land, in dem in Folge der Psychiatrie-Enquete im Jahre 1975,132 des Krüppel-Tribunals von 1981133 und weiterer historischer Ereignisse der Selbsthilfebewegungen134 zahlreiche menschenrechtliche Verbesserungen in Recht und Praxis errungen wurden. Die Leistungserbringer im Bereich gesetzlicher Betreuung und sozialpsychiatrischer Versorgung stehen insbesondere vor der Aufgabe, Formen der Assistenz zu entwickeln, die eine unterstützte Entscheidungsfindung im Sinne des Artikel 12 UN BRK ermöglichen. Erste Beispiele guter Praxis aus dem In- und Ausland sind bekannt.135 Sie müssen weiterentwickelt und erforscht werden. 4.2

Artikel 19 UN BRK – Recht auf selbstbestimmtes inklusives Leben/Wohnen: Wohnheime quo vadis?

Artikel 19 UN BRK proklamiert das Recht aller behinderten Personen auf „unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft“136, d.h., gleiche Wahlmöglichkeiten zu haben, wie andere Menschen in der Gemeinde zu leben. Das bedeutet, dass behinderte Personen die Möglichkeit haben, den „Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.137 Es bedeutet auch, „Zugang zu einer Reihe von gemeindenahen Unterstützungsdiensten zu Hause und in Einrichtungen sowie zu sonstigen gemeindenahen Unterstützungsdiensten“ einschließlich persönlicher Assistenz zu haben.138 Und es bedeutet, Zugang zu barrierefreien gemeindenahen Dienstleistungen und Einrichtungen für die Allgemeinheit zu haben.139

132

Vgl. Armbruster, 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Vgl. Daniels, von/Degener/Jürgens, Krüppel-Tribunal. 134 Vgl. die historische Zeittafel im Anhang Degener/Diehl, Handbuch Behindertenrechtskonvention, 442 ff. 135 Vgl. Inclusion International, Independent but not Alone; Gordon, The Emergence of Assisted (Supported) Decision-Making; Gold, "We Don't Call It a Circle"; Herr, Self Determination Autonomy; Eichenbrenner, Entwicklung einer alltagsorientierten Methodenkompetenz. 136 Überschrift zu Art. 19 UN BRK in der deutschen amtlichen Übersetzung BGBl. 2008 II, 1433. 137 Art. 19 lit. a) UN BRK. 138 Art. 19 lit. b) UN BRK. 139 Art. 19 lit. c) UN BRK. 133

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Nach der Schattenübersetzung140 sollte „unabhängige Lebensführung“ mit „selbstbestimmt Leben“ übersetzt werden. Dem ist zuzustimmen, denn Artikel 19 UN BRK ist auf die internationale „Independent Living“-Bewegung141 zurückzuführen, die im deutschsprachigen Raum mit Selbstbestimmt-Leben-Bewegung übersetzt wird. Anders als die meisten Menschenrechte, die in der UN BRK kodifiziert wurden, findet Artikel 19 UN BRK keine direkte Entsprechung in der Menschenrechtscharta.142 Während der Verhandlungen der Textfassung der UN BRK wurden Anknüpfungspunkte zu dem Recht auf freie Wahl des Wohnsitzes143 in Kombination mit dem Recht auf angemessenen Lebensstandard144 gesehen. Die Selbstbestimmt-Leben-Bewegung verfolgt, wie andere in den 1960er und 1970er Jahren entstandene soziale Bewegungen der Deinstitutionalisierung, das Ziel, Menschen mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben außerhalb von Anstalten, Heimen, Wohngruppen oder sonstigen Sonderwelten zu ermöglichen. Der Schlüssel dazu sind persönliche Assistenz und Barrierefreiheit der lokalen Sozialräume. Artikel 19 ist damit eine zentrale normative Vorgabe für Inklusion. Als Kernelement gilt das Recht, frei zu bestimmen, wo, mit wem und unter welchen Umständen man leben möchte. Artikel 19 lit. a) UN BRK wird in der deutschen rechtswissenschaftlichen Rezeption aufgrund seines klaren Bezugs zum bürgerlichen Recht der Freizügigkeit und aufgrund seines klaren Wortlauts als unmittelbar anwendbares, subjektives Recht behinderter Menschen angesehen.145 Demgegenüber werden die Rechte aus den folgenden Absätzen des Artikel 19, also lit. b) und c), den WSK-Rechten zugeordnet.146 Das Recht auf Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten und das Recht auf barrierefreie allgemeine Dienste und Einrichtungen im Sozialraum werden deshalb dem Progressionsvorbehalt unterstellt. Obgleich der inklusive Wohn- und Lebensraum als Kernziel der Norm anerkannt wird, wird aus ihr auch das Recht auf Wahl zwischen ambulanter oder 140

Die Schattenübersetzung wurde als Kritik an der amtlichen deutschen Übersetzung durch Netzwerk Artikel 3 erstellt, online: http://www.behindertenrechtskonvention.info/schattenuebersetzung-3678/ (Zugriff am 23.03.2016). 141 Vgl. dazu Crewe/Zola, Independent living; Degener, Disabled persons and human rights; Miles-Paul, „Wir sind nicht mehr aufzuhalten“; Heyer, Rights enabled. 142 Zu dieser zählen die Allgemeine Menschenrechtserklärung (AEMR) von 1948, der Internationale Zivilpakt von 1966 und der Internationale Sozialpakt von 1966. 143 Art. 6 AEMR; Art. 12 Abs. 1 Zivilpakt. 144 Art. 11 Sozialpakt. 145 Vgl. Banafsche, Art. 19, Rn 14, 20. 146 Vgl. Banafsche, Art. 19, Rn 25; Trenk-Hinterberger, Art. 27, Rn 12.

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stationärer Wohnform herausgelesen.147 Ob diese Rechtsauffassung vom UN BRK-Ausschuss geteilt wird, ist angesichts seiner bisherigen „Rechtsprechung“ fraglich. Denn in fast allen Abschließenden Bemerkungen hat der Ausschuss auf die Notwendigkeit eines Strukturwandels von stationärer zu sozialraumorientierter Versorgung hingewiesen. Spätestens mit der für 2017 zu erwartenden Allgemeinen Bemerkung zu Artikel 19 wird sich der Ausschuss zu dieser Rechtsfrage grundlegend äußern. In der internationalen Literatur wird die Interpretation des Artikel 19 als Wahlrecht zwischen institutionalisierten und gemeindenahen Unterstützungsdiensten abgelehnt. Die Vorhaltung beider Systeme – flächendeckende Unterstützung in der Gemeinde und flächendeckende Vorhaltung institutionalisierter Wohnangebote – wird als nicht finanzierbar angesehen.148 Tatsächlich zeigen europäische Studien zur Deinstitutionalisierung, dass die Aufrechterhaltung stationärer Betreuungsangebote Mittel bindet, die einer umfassenden Ambulantisierung entzogen werden. Zudem wird angezweifelt, dass selbstbestimmt Leben im Sinne des Artikel 19 UN BRK in institutionalisierten Wohnarrangements möglich ist.149 Die Europäische Grundrechtsagentur der Europäischen Union hat hierzu mehrere neue Studien vorgelegt, die diese Zweifel bestätigen.150 Dass Artikel 19 UN BRK kein Wahlrecht zwischen institutionalisierter und inklusiver Wohnform enthält, ist auch der Studie des UN Hohen Kommissariats für Menschenrechte zu diesem Artikel aus dem Jahr 2014 zu entnehmen.151 Auch sie statuiert eine Pflicht für Mitgliedsstaaten, Budgets für den stationären auf den ambulanten Sektor umzuleiten und Deinstitutionalisierung nicht als zusätzliche Maßnahme, sondern als grundlegende Umstrukturierung im Behindertensektor zu planen und umzusetzen. Die Studie weist zudem auf einen Trend im Behindertensektor hin, demzufolge in vielen Ländern stationäre (institutionelle) Strukturen durch Verkleinerung und Umbenennung von Einrichtungen verfestigt werden. Das Hohe Kommissariat für Menschenrechte warnt vor Euphemismen, die menschenrechtsorientierte Transformationen verhindern. Unabhängig von Größe und Form einer Einrichtung wird Institutionalisierung daher definiert als Verlust der Kontrolle über alltägliche Ent147

Vgl. Banafsche, Art. 19, Rn 30. Vgl. Quinn/Doyle, Getting a Life, 26ff.; Mansell/Knapp/Beadle-Brown/Beecham, Deinstitutionalization and community living; Parker, A Community For All. 149 Vgl. EDF, Alternative Report, 36ff.; Parker/Bulic, Realising the Right to Independent Living; Townsley, The Implementation of Policies. 150 Vgl. FRA, Unfreiwillige Unterbringung; FRA, Wahlfreiheit und Selbstbestimmung. 151 Vgl. OHCHR, Thematic study on the right of persons with disabilities to live independently, Ziff. 25. 148

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scheidungen aufgrund auferlegter bzw. erzwungener Wohnverhältnisse.152 Zwangseinweisungen und Vormundschaft bzw. rechtliche Betreuung gelten als weitere Hindernisse auf dem Weg zu einem selbstbestimmten Leben im Sinne des Artikel 19 UN BRK. Sie verhindern die Ausübung von Autonomie und Kontrolle über den Alltag. Um ein selbstbestimmtes Leben im inklusiven Sozialraum zu realisieren, werden in Artikel 19 UN BRK zwei Arten von Unterstützungsleistungen genannt, die für behinderte Personen zugänglich sein müssen. Einerseits behindertenspezifische Dienstleistungen, wie persönliche Assistenz und personenorientierte Unterstützung, und andererseits barrierefreie kommunale Angebote der Daseinsvorsorge und andere Serviceleistungen. Nur die Kombination aus personenzentrierten spezifischen Dienstleistungen für behinderte Menschen und kommunalen barrierefreien Serviceleistungen garantieren die Umsetzung der Menschenrechte aus Artikel 19 UN BRK. Für beide ist der Staat primär verantwortlich, insbesondere die Kommunen und die kreisfreien Gemeinden.153 Für Deutschland ergibt sich jedoch die Besonderheit, dass Dienst- und Sachleistungen im Sozialrecht überwiegend von den Wohlfahrtsverbänden und anderen privaten Dritten erbracht werden, die selbst nicht direkt aus der UN BRK verpflichtet werden. Hier greift die Pflichtentrias der menschenrechtlichen Verpflichtung: Der Staat, und damit auch seine öffentlich-rechtlichen Sozialleistungsträger,154 sind verpflichtet, behinderte Menschen vor Diskriminierung und Verletzung durch Dritte zu schützen. Aus dieser Schutzpflicht erwächst die Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass die Leistungsanbieter im Behindertensektor den Anforderungen des Artikel 19 UN BRK gerecht werden. Im deutschen Sozialrecht wird dies in der Regel über die Kosten- und Leistungsvereinbarungen155 reguliert. Diese müssen daher im Hinblick auf die Anforderungen der UN BRK überprüft werden. Die rechtlichen Anforderungen können aber den fachlichen Beitrag nicht ersetzen oder herbeizaubern. Dieser muss von den Leistungserbringern selbst kommen. Die Einrichtungen der Diakonie und ihre Fachverbände sind hier im besonderen Maße herausgefordert, neue Formen der menschenrechtsbasierten Hilfe zu entwickeln und flächendeckende Strukturveränderungen zu begleiten. Auch diese dür152

Vgl. OHCHR, Thematic study on the right of persons with disabilities to live independently, Ziff. 21. 153 Vgl. Rohrmann, Die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention auf kommunaler Ebene. 154 Vgl. §§ 12 ff SGB I. 155 Vgl. z.B. §§ 76 ff SGB XII; §§ 78a ff SGB VIII; §§ 69 ff SGB V; §§ 71 ff SGB XI.

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fen nicht zu Menschenrechtsverletzungen führen und müssen die Ängste von langjährigen Einrichtungsbewohner_innen, Familienangehörigen und Mitarbeiter_innen in stationären Einrichtungen wahrnehmen. Angesichts der hohen Konzentration stationärer Leistungsangebote in Deutschland, die ein Vielfaches der Ausgaben für ambulante Hilfen übersteigen,156 sowie der Tatsache, dass im europäischen Vergleich die Wohlfahrtsverbände und kommerzielle Anbieter in der Behindertenarbeit allen Ambulantisierungsrufen zum Trotz beharrlich an stationären Strukturen festgehalten haben,157 gibt es hier noch großen Nachholbedarf. Als mittelbar Verpflichtete aus Artikel 19 UN BRK ist die Diakonie gehalten, in absehbarer Zeit drei Aufgaben zu erfüllen: erstens keine neuen stationären/institutionellen Leistungsangebote mehr zu schaffen, zweitens eine Umschichtung der Budgets von stationären auf ambulante Maßnahmen strukturell vorzubereiten und drittens einen Plan für neue, menschenrechtsbasierte Unterstützungsleistungen zu entwickeln, die behinderte Personen, die auf Hilfen angewiesen sind, befähigen, ein selbstbestimmtes Leben im Sinne des Artikel 19 UN BRK zu führen.158 4.3

Artikel 24 UN BRK – Recht auf Bildung: Förderschulen auf dem Prüfstand

Artikel 24 UN BRK enthält das Menschenrecht auf inklusive Bildung. Der Artikel besteht aus fünf Absätzen. Im ersten wird das Menschenrecht auf Bildung, so wie es in anderen Menschenrechtsquellen, insbesondere der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte159 und dem internationalen Sozialpakt160, anerkannt ist, proklamiert. Der zweite Absatz enthält die allgemeinen Pflichten, die Vertragsstaaten erfüllen müssen, um das Recht auf inklusive Bildung zu realisieren. Im dritten Absatz wird auf die spezifischen Bedarfe von gehörlosen, blinden und taubblinden Menschen eingegangen. Absatz 4 enthält Vorgaben für die Qualifizierung der Lehrkräfte und im fünften Absatz sind die Anforderungen für inklusive Hochschulen und lebenslanges Lernen enthalten. Artikel 24 UN BRK hat in Deutschland bislang mit Abstand die höchste Aufmerksamkeit bekommen. Das liegt zum einen daran, dass der Streit um die korrekte deutsche Fassung der UN BRK sich insbesondere an der falschen Übersetzung des englischen Terminus 156

Vgl. Monitoringstelle/DIMR, Parallelbericht. Vgl. Lampke/Rohrmann/Schädler, Örtliche Teilhabeplanung; Rohrmann/Weber, Selbstbestimmt leben. 158 Vgl. Quinn/Doyle, Getting a Life, 75ff. 159 Art. 26 AEMR. 160 Art. 13 Sozialpakt. 157

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„inclusion“ mit „Integration“ entzündete. Es liegt aber auch an dem besonders differenzierten deutschen Schulsystem, dass einen extrem hohen Segregationsgrad aufweist, der im Hinblick auf die Exklusion behinderter Schüler_innen im Vergleich europäischer Schulsysteme nur noch von Belgien übertroffen wird. Den Übersetzungsstreit haben die Kritiker_innen gewonnen, wenn auch der Übersetzungstext der amtlichen deutschen Übersetzung – im Gegensatz zur Situation in Belgien und Österreich – nicht geändert wurde.161 Aber unstrittig ist, dass Inklusion der weitergehende Begriff ist, der auch Veränderungen des Bildungssystems erfordert. Selbst die Bundesregierung veranstaltet inzwischen jährlich „Inklusionstage“.162 Das deutsche Bildungssystem hat sich demgegenüber kaum verändert. Die Zahl der behinderten Schüler_innen, die eine Sonder- bzw. Förderschule besuchen müssen, hat sich gegenüber 2009 kaum verändert. Die Exklusionsquote beträgt nach wie vor zwischen 72 und 80 Prozent.163 Die Kultusministerkonferenz hat die Sonder- und Förderschulen zum festen Bestandteil des deutschen Bildungssystems erklärt.164 Zwar haben die meisten Bundesländer inzwischen ihre Schulgesetze reformiert, doch erfüllt die Mehrzahl der Gesetze die Anforderungen der UN BRK nicht.165 Über die Rechte und Pflichten, die sich aus Artikel 24 UN BRK ergeben, besteht gerade in Deutschland viel Streit. Mehrere Rechtsgutachten166 und Gerichtsentscheidungen167 haben sich mit der Norm beschäftigt. In der deutschen juristischen Literatur wird inzwischen mehrheitlich vertreten, dass sich aus Artikel 24 UN BRK ein Antidiskriminierungsanspruch ableiten lässt, der auch individuell einklagbar ist. Dieser Anspruch sei von den anderen Pflichten, die sich aus der Norm ergeben und die dem Progressionsvorbehalt unterliegen, zu trennen.168 Behinderte Schüler_innen dürfen 161

Das war auch nicht nötig, da Art. 50 UN BRK nur die Fassungen in den sechs Sprachen der Vereinten Nationen für authentisch erklärt. Dazu gehört die englische Fassung, die den Begriff „inclusion“ verwendet, nicht aber die deutsche. 162 Vgl. http://www.bmas.de/ (Zugriff am: 23.03.2016). 163 Vgl. Döttinger/Hollenbach-Biele, Auf dem Weg zum gemeinsamen Unterricht?; Monitoringstelle/DIMR, Parallelbericht; Siehr/Wrase, Das Recht auf inklusive Schulbildung; BRK Allianz e.V., Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! 164 Vgl. Kulturministerkonferenz, Inklusive Bildung. 165 Das ergab eine Studie im Auftrag des Deutschen Instituts für Menschenrechte: Mißling/Ückert, Inklusive Bildung. 166 Vgl. Poscher/Rux/Langer, Von der Integration zur Inklusion; sowie die dort genannten Quellen. 167 Z.B. VGH Hessen, Beschluss vom 12.11.2009, Az. 7 B 2763/09; weitere Nachweise bei Siehr/Wrase, Das Recht auf inklusive Schulbildung. 168 Z.B. Krajewski/Bernhard, Artikel 24 – Bildung, Rn 19ff.; Kreutz, Artikel 24 Bildung, Rn 14; Siehr/Wrase, Das Recht auf inklusive Schulbildung, 172f.

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deshalb grundsätzlich nicht aufgrund ihrer Behinderung von einer Regelschule abgewiesen werden. Diese Rechtsauffassung wird auch durch eine thematische Studie des Hohen Kommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen bestätigt, die aus Artikel 24 UN BRK eine „no rejection duty“ für Schulen ableitet.169 Was den Bestand der Sonder- und Förderschulen in Deutschland anbelangt, darüber herrscht Uneinigkeit. Während die Lernbehindertenschulen allgemein als Schandfleck für das deutsche Bildungssystem wahrgenommen werden, wird an Förder- und Sonderschulen für Schüler_innen mit körperlichen, kognitiven, emotionalen und anderen Beeinträchtigungen durchaus festgehalten. Insbesondere für Personen mit Sinnesbeeinträchtigungen wird aus Artikel 24 Abs. 3 UN BRK abgeleitet, Sonderschulen seien für sie die adäquatere Bildungseinrichtung.170 Dem widerspricht die bisherige Rechtsprechung des UN BRK-Ausschusses, der immer wieder auf die Pflicht zur Überwindung der segregierenden Bildungssysteme hingewiesen hat. Auch die Studie des Hohen Kommissariats lehnt es ausdrücklich ab, Artikel 24 Abs. 3 UN BRK als normative Legitimation für Sonderschulen für gehörlose, blinde oder taubblinde Menschen zu sehen.171 Die Monitoringstelle für die UN BRK im Deutschen Institut für Menschenrechte resumiert: „Von einer Weichenstellung hin zu einem ‚inklusiven Schulsystem‘ kann erst dann gesprochen werden, wenn die sonderpädagogische Förderung systematisch und strukturell in den allgemeinen Schulen verankert wird und gleichzeitig trennende Strukturen im Bereich der schulischen Bildung überwunden werden.“172 4.4

Artikel 27 UN BRK – Recht auf inklusive Arbeit: Werkstätten für Menschen mit Behinderungen quo vadis?

Das Menschenrecht auf Arbeit ist eines der ältesten Menschenrechte im modernen Völkerrecht. Es ist in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948173enthalten ebenso wie in sieben der neun Kernmenschenrechtskonventionen.174 Um Arbeitsrechte geht es auch 169

Vgl. OHCHR, Thematic study on the right of persons with disabilities to live independently, Ziff. 26f. 170 Vgl. Krajewski/Bernhard, Art. 24 – Bildung, Rn 29. 171 Vgl. OHCHR, Thematic study on the right of persons with disabilities to live independently, Ziff. 52. 172 Monitoringstelle/DIMR, Parallelbericht, Ziff. 134. 173 Art. 23 AEMR. 174 Art. 6 Zivilpakt; Art. 6–8 Sozialpakt; Art. 5 Antirassismuskonvention; Art. 11 Frauenrechtskonvention; Art. 32 Kinderrechtskonvention; Art. 11 Wanderarbeitnehmerkonvention.

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in den Normen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die bereits 26 Jahre vor den Vereinten Nationen gegründet wurde. Sie hat weit über 200 Konventionen verabschiedet, darunter auch die Konvention 159 und die dazugehörige Empfehlung 168 aus dem Jahr 1983 zu beruflicher Rehabilitation und Beschäftigung behinderter Menschen. Auch im europäischen Menschenrechtssystem nimmt das Menschenrecht auf Arbeit eine prominente Rolle ein, etwa in der Europäischen Sozialcharta175 oder in der EU Grundrechtscharta.176 Artikel 27 ist mit Abstand der längste Artikel in der UN BRK und gehört zu den Normen, um die während der Verhandlungen am meisten gerungen wurde.177 Dabei ging es um einen der Hauptkonflikte, der mit den Schlagworten Inklusion versus Segregation beschrieben werden kann. Wir wissen, dass viele behinderte Menschen in Sonderarbeitswelten arbeiten und in Sonderinstitutionen beruflich ausgebildet werden. Wie mit diesen Sonderarbeits- und Sonderausbildungswelten normativ umzugehen ist, war die schwierigste Frage in der Entstehungsgeschichte des Artikel 27. Während die meisten Behindertenorganisationen und viele Staaten auf Inklusion setzen wollten, gab es auch Stimmen, die Werkstätten für Behinderte und ähnliche informelle Arbeitsstätten und Rehabilitationseinrichtungen als Beispiele für die Umsetzung des Rechts auf Arbeit in den Text der Norm aufnehmen wollten. Im Ergebnis haben sich die Inklusionsbefürworter durchgesetzt. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen werden zwar nicht verboten, aber auch nicht als mögliche Alternative zum ersten Arbeitsmarkt benannt. In Absatz 1 des Artikels 27 wird das Recht auf Arbeit als Recht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durch Arbeit im offenen, inklusiven und zugänglichen Arbeitsmarkt zu verdienen, definiert. Sodann werden den Mitgliedsstaaten Maßnahmen genannt, die geeignet sind, das Recht auf Arbeit zu verwirklichen. Dazu zählt Diskriminierungsschutz, Gewährleistung gleicher, menschenwürdiger Arbeitsbedingungen, Schutz vor Belästigung und kollektive Arbeitsrechte, Zugang zu Arbeitsförderung, Karriere und Wiedereingliederung sowie gleiche Chancen zur Selbständigkeit. Der öffentliche Sektor muss Vorbildfunktion einnehmen und Behinderte beschäftigen, Anreize für den privaten Sektor sollen gesetzt werden, berufliche Rehabilitation muss gleiche Chancen gewähren und angemessene Vorkehrungen am Arbeitsplatz müssen gewährt werden, um das Recht auf Arbeit zu gewährleisten.

175

Europäische Sozialcharta 1996, revidiert Teil I Ziff. 1–22 und Teil II Art. 1–6. Art. 5 EU Grundrechtscharta. 177 Dazu im Einzelnen Degener, Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. 176

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Absatz 2 der Vorschrift enthält das Verbot der Zwangsarbeit auch für behinderte Menschen. Dieser Absatz wurde erst später im Laufe der Verhandlungen aufgenommen, da viele Mitglieder des Ad-hoc-Ausschusses der Meinung waren, behinderte Menschen seien hiervon nicht betroffen. Die Studie des UN Hohen Kommissariats für Menschenrechte zu dieser UN BRK-Norm belegt, dass Zwangsarbeit und Ausbeutung behinderter Arbeiter und Arbeiterinnen ein ernst zu nehmendes Problem in einigen Ländern dieser Welt ist.178 Artikel 27 UN BRK enthält zunächst einmal vier Standards zur Implementierung des Rechts auf Arbeit. Diese sind (a) Nichtdiskriminierung, (b) Zugänglichkeit bzw. Barrierefreiheit, (c) angemessene Vorkehrungen und (d) positive Maßnahmen. Diese Standards bieten Mitgliedsstaaten einen Rahmen für ihre Umsetzungspflichten.179 (a) Nichtdiskriminierung bedeutet, dass weder der Staat selbst noch private Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen gegen behinderte Personen diskriminieren dürfen. Der Staat hat die Verpflichtung, Behinderte durch Gesetze und andere Maßnahmen hinreichend gegen Diskriminierung zu schützen. Behindertendiskriminierung wird in Artikel 2 UN BRK definiert als „jede Unterscheidung, Ausschließung oder Beschränkung aufgrund von Behinderung, die zum Ziel oder zur Folge hat, dass das auf die Gleichberechtigung mit anderen gegründete Anerkennen, Genießen oder Ausüben aller Menschenrechte und Grundfreiheiten im politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen, bürgerlichen oder jedem anderen Bereich beeinträchtigt oder vereitelt wird. Sie umfasst alle Formen der Diskriminierung, einschließlich der Versagung angemessener Vorkehrungen“. Schutz vor Diskriminierung sollte rechtliche und faktische, direkte und indirekte Diskriminierung, inklusive Belästigung, erfassen. Nach der Studie des UN Hohen Kommissariats für Menschenrechte aus dem Jahre 2012 erfasst die Pflicht zum Diskriminierungsschutz für Behinderte im Arbeitsleben mindestens folgende Bereiche: Ausschreibungen und Bewerbungen, Einstellungen, Begutachtungen und Beförderungen, Versetzungen, Arbeitsbedingungen, einschließlich Bezahlung, Viktimisierung und Belästigungen, Arbeits- und Gesundheitsschutz.180 Wenngleich Artikel 27 als klassisches WSK-Recht dem Progressionsvorbehalt des Artikels 4 Abs. 2 UN BRK unter-

178

Vgl. OHCHR, Thematic study on the work and employment, Ziff. 52f. Vgl. OHCHR, Thematic study on the work and employment, Ziff. 20ff. 180 Vgl. OHCHR, Thematic study on the work and employment, Ziff. 22. 179

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fällt, gilt dies nicht für das Recht auf Schutz vor Diskriminierung im Arbeitsleben.181 (b) Zugänglichkeit/Barrierefreiheit Zugänglichkeit – oder Barrierefreiheit, wie es in der Schattenübersetzung heißt – ist in der UN BRK mehrfach verankert. Einmal als allgemeines Prinzip in Artikel 3 UN BRK und außerdem als materielle Norm in Artikel 9 UN BRK. Letztere identifiziert drei große Bereiche, die barrierefrei gestaltet werden müssen, um Behinderten einen gleichberechtigten Zugang zu gewähren: die bauliche Umwelt, Verkehrs- und Transportmittel sowie Information und Kommunikation. Barrieren sind eines der größten Hindernisse auf dem Weg zur Realisierung des Rechts auf Arbeit für behinderte Menschen. Ihre Beseitigung in allen drei Bereichen – bauliche Umwelt, Transport und Information und Kommunikation – gehört daher zu den zentralen Pflichten der Mitgliedsstaaten. (c) Angemessene Vorkehrungen werden in Artikel 2 der UN BRK definiert als „notwendige und geeignete Änderungen und Anpassungen, die keine unverhältnismäßige oder unbillige Belastung darstellen und die, wenn sie in einem bestimmten Fall erforderlich sind, vorgenommen werden, um zu gewährleisten, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen alle Menschenrechte und Grundfreiheiten genießen oder ausüben können“. Der Unterschied zur Barrierefreiheit oder Zugänglichkeit besteht hier in der Individualitätsbezogenheit der angemessenen Vorkehrung. Sie muss dem/der einzelnen Behinderten unter Beachtung seiner Autonomie und Menschenwürde gerecht werden. Barrierefreiheit ist demgegenüber gruppenbezogen. Die Pflicht zur Barrierefreiheit ist erfüllt, wenn bestimmte Standards (etwa Türbreite) eingehalten werden. Die Verweigerung angemessener Vorkehrungen erfüllt den Tatbestand der Diskriminierung, wie sich aus Artikel 2 UN BRK ergibt. Das kann in der Regel bei der Verweigerung von Barrierefreiheit auch angenommen werden, ist aber in der UN BRK nicht als ausdrücklicher Diskriminierungstatbestand definiert.182 (d) Positive Maßnahmen sind Maßnahmen der Förderung zur Gleichbehandlung im Arbeitsmarkt. Die bekanntesten Instrumente sind Quoten, die es in vielen Ländern gibt. Weniger bekannt, aber 181 182

Vgl. OHCHR, Thematic study on the work and employment, Ziff. 21. Vgl. CRPD, General Comment No. 2.

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ebenfalls in Frage kommend sind andere Maßnahmen wie gezielte Nachwuchsförderprogramme. In der deutschen Rezeption wird im Hinblick auf Artikel 27 UN BRK insbesondere darüber gestritten, ob Werkstätten für Menschen mit Behinderungen (WfbM) zum Bestandteil eines inklusiven Arbeitsmarktes zu zählen sind oder nicht. Die Bundesregierung, unterstützt von den Trägern der WfbM, ist der Auffassung, dass „Werkstätten als Anbieter von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben weiterhin ihren Platz haben.“183 In der juristischen Kommentarliteratur wird das Postulat vertreten: So wenig Sonderwelten wie möglich, doch dort, wo sie (noch) existieren, sollen sie so normal wie möglich ausgestaltet sein.184 Die Monitoringstelle im Deutschen Institut für Menschenrechte weist angesichts der rasant steigenden Zahl der Beschäftigten in WfbM und der Tatsache, dass kaum jemand den Weg wieder aus diesen Sonderwelten heraus findet, darauf hin, dass Deutschland von einem inklusiven Arbeitsmarkt weit entfernt ist. Den WfbM könne deshalb allenfalls eine Brückenfunktion zukommen.185 Dies entspricht der Interpretation des UN Hohen Kommissariats für Menschenrechte und der „Rechtsprechung“ des UN BRK-Ausschusses, die vertreten, dass der Erhalt beschützender Beschäftigungsverhältnisse nicht durch Artikel 27 UN BRK legitimiert werden kann.186 5

Deutschland vor dem Genfer Ausschuss

Die Prüfung des ersten Staatenberichts von Deutschland, der fast fristgerecht im Jahr 2011 vorgelegt wurde,187 konnte aufgrund des hohen Rückstands des UN BRK-Ausschusses erst im März 2015 stattfinden. Nach einer ersten Prüfung im September 2014 waren der Bundesregierung Fragen zugeleitet worden, die sie zusätzlich beantworten musste. Die Zivilgesellschaft hatte mehrere Parallelberichte vorgelegt, mit denen der Staatenbericht kritisiert bzw. korrigiert wer183

CRPD, Replies of Germany to the list of Issues, Ziff. 117. Vgl. Trenk-Hinterberger, Art. 27 – Arbeit und Beschäftigung, Rn 31. 185 Vgl. Monitoringstelle/DIMR, Parallelbericht, Ziff. 141. 186 Vgl. OHCHR, Thematic study on the work and employment, Ziff. 16, 18; Committee on the Rights of Persons with Disabilities, Concluding Observations, CRPD/C/MUS/CO/1 (Mauritius 2015); CRPD/C/KOR/CO/1 (Korea 2015), CRPD/C/AUT/CO/1 (Österreich 2013). 187 Statt im März 2011 wurde er im September 2011 vorgelegt, online: http://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/staatenbericht-2011.html (Zugriff am 05.03.2016). 184

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den sollte. Insbesondere der Parallelbericht der BRK-Allianz,188 einem Bündnis aus 78 Organisationen aus Verbänden der politischen und sozialen Behindertenarbeit, und der Bericht der Monitoringstelle im Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR)189 hatten großen Einfluss auf den Dialog, der an zwei Tagen in Genf stattfand. Deutschland reiste mit einer großen, hochrangigen Delegation an – darunter Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller und die Bundesbehindertenbeauftragte Verena Bentele. Auch Valentin Aichele, dem Leiter der Monitoringstelle im DIMR, wurde eigenständige Redezeit eingeräumt. Landesberichterstatterin Diane Kingston, aber auch alle anderen Mitglieder des UN BRK-Ausschusses190 gingen mit Deutschland hart ins Gericht.191 Zum Abschluss der Prüfung verabschiedete der Ausschuss Allgemeine Bemerkungen, die 29 Besorgnisse und 29 Empfehlungen für 62 Maßnahmen zur Umsetzung der UN BRK in Deutschland zum Ausdruck brachten. Im Hinblick auf die hier diskutierten Artikel stellte der Ausschuss erheblichen legislativen, administrativen und fachlichen Änderungsbedarf in der deutschen Behindertenarbeit fest. So wird das geltende Betreuungsrecht als konventionswidrig angesehen. Der UN BRK-Ausschuss empfiehlt, alle „Formen der ersetzenden Entscheidung abzuschaffen und ein System der unterstützten Entscheidung an ihre Stelle treten zu lassen“ sowie „für alle Akteure, einschließlich öffentlich Bedienstete, Richter, Sozialarbeiter, Fachkräfte im Gesundheits- und Sozialbereich, und für die umfassende Gemeinschaft Schulungen zu Artikel 12 des Übereinkommens bereitzustellen, die der Allgemeinen Bemerkung Nr. 1 entsprechen.“192 Er empfiehlt weiter, „Zwangsunterbringung durch Rechtsänderung zu verbieten“193 und „alternative Maßnahmen zu fördern“. Für eine „menschenrechtsbasierte Überprüfung der psychiatrischen Dienstleistungen“ empfiehlt er eine unabhängige Enquete.194 Körperliche und chemische Freiheitseinschränkungen werden in den Kontext von Folter gestellt. Sie sollen mit dem Ziel überprüft werden, alle „Praktiken, die als Folterhandlungen“ einzustufen sind, abzuschaffen.195 „Menschenrechtsverletzungen in der psychiatrischen 188

Vgl. BRK Allianz e.V., Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! 189 Vgl. Monitoringstelle/DIMR, Parallelbericht. 190 Theresia Degener war aufgrund ihrer deutschen Staatsbürgerschaft von dem Verfahren ausgeschlossen. 191 Vgl. Bericht aus Genf, Nr. 9/2015, Newsletter von Theresia Degener, Mitglied des VN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 192 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany. 193 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 30. 194 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 30. 195 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 34.

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Versorgung und der Altenpflege“ sollten in allen Bundesländern untersucht werden.196 Besorgt zeigt sich der Ausschuss auch über den „hohen Grad der Institutionalisierung und den Mangel an alternativen Wohnformen.“197 Er empfiehlt legislative und sozialraumorientierte Maßnahmen, um allen behinderten Menschen – insbesondere auch Menschen mit geistigen und psycho-sozialen Behinderungen – ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde zu ermöglichen.198 Im Hinblick auf Artikel 24 UN BRK ist der Ausschuss „besorgt, dass der Großteil der Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen in dem Bildungssystem des Vertragsstaats segregierte Förderschulen besucht.“199 Er empfiehlt die sofortige Verpflichtung aller Regelschulen, behinderte Schüler_innen aufzunehmen, angemessene Vorkehrungen für ein inklusives Bildungssystem bereitzustellen und das Lehrpersonal entsprechend zu schulen.200 Auch die Segregation im Arbeitsleben wird vom Ausschuss kritisiert. Hier empfiehlt er verschiedene Maßnahmen zur Schaffung eines inklusiven Arbeitsmarktes, u.a. auch „die schrittweise Abschaffung der Behindertenwerkstätten durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne“.201 6

Fazit

Mit der UN BRK wurde ein neues Paradigma im internationalen Behindertenrecht verabschiedet: das Menschenrechtsmodell von Behinderung. Dieses löst das medizinische Modell, mit dem segregierende Sonderwelten und architektonische und andere Barrieren legitimiert wurden, ab. Es entwickelt das soziale Modell von Behinderung, nach dem Behinderung als sozial konstruiertes Phänomen zu verstehen ist, weiter, indem der volle Menschenrechtskatalog auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten wird. Die UN BRK hat in Deutschland wie kaum eine andere Menschenrechtskonvention Aufmerksamkeit in der allgemeinen und der Fachöffentlichkeit erlangt. Der rechtliche Charakter der UN BRK und ihre Wirkung im deutschen Rechtssystem wurden dabei nicht immer richtig verstanden. Der normative Auftrag für die Professionen des Gesundheits- und Sozialwesens ist erheblich, auch wenn sie nicht direkt durch die UN BRK verpflichtet werden. Fachlichkeit in der Behindertenarbeit muss 196

Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 38. Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 41. 198 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 42. 199 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 45. 200 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 46. 201 Vgl. CRPD, Concluding Observations Germany, Ziff. 50. 197

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sich zukünftig an den Vorgaben der UN BRK messen. Besondere Verantwortung haben Leistungserbringer wie die Diakonie im Hinblick auf die Umsetzung von Artikel 12 (gleiche Anerkennung vor dem Recht), Artikel 19 (selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde), Artikel 24 (inklusive Bildung) und Artikel 27 (inklusive Arbeit und Beschäftigung). Die Vorgaben der UN BRK hat der Ausschuss in seinen Abschließenden Bemerkungen zum ersten deutschen Staatenbericht im April 2015 präzisiert: Sonderwelten, Stellvertretung und Zwangsbehandlung sind abzuschaffen und durch Inklusion, unterstützte Entscheidungsfindung und menschenrechtsbasierte Krisenintervention zu ersetzen. Leistungsverträge, die der Staat und seine Sozialleistungsträger mit privaten (gemeinnützigen) Leistungserbringern schließt, müssen sich in Zukunft daran orientieren. Das gebietet der rechtsstaatliche Auftrag aus Artikel 20 Grundgesetz. Auch die Europäische Union, die seit 2010 der UN BRK beigetreten ist, hat inzwischen entsprechend veränderte Vorschriften erlassen. So wurden die Rechtsverordnung zur Verwendung des Europäischen Sozialfonds 2013 überarbeitet. Gelder aus diesem Fond dürfen nicht mehr für Maßnahmen eingesetzt werden, die der UN BRK widersprechen.202 Damit reagierte die EU auf die Verwendung dieser Gelder für den Bau oder die Renovierung von Heimen und Sondereinrichtungen in vielen Mitgliedsstaaten.203 Deutschland weist im Vergleich zu anderen EU-Ländern einen hohen Institutionalisierungsund Segregationsgrad auf. Diese Institutionen werden oft von Wohlfahrtsverbänden getragen. Ihr Fachwissen in Sachen Changemanagement und professioneller Leistungserbringung ist nun gefragt, soll der Umbauprozess gelingen. Die Diakonie Deutschland, die als Mitglied der BRK-Allianz den Parallelbericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN BRK in Deutschland204 mitverfasst hat, erklärte Inklusion zu ihrem Jahresthema 2013/2014. Zwei Jahre intensiver Auseinandersetzung mit den Anforderungen der UN BRK für die Handlungsfelder der Diakonie wurden in einer abschließenden Broschüre reflektiert.205 Neben zahlreichen guten Praxisbeispielen werden auch die ersten neun Aktionspläne, die Mitgliedsorganisationen des Fachverbandes Bundesverband Evangelischer Behindertenhilfe (BeB) zur Umsetzung der UN BRK in ihren Organisationen entwickelt haben, vorgestellt. Erste Handreichungen für diakonische Mitgliedsorganisationen zu Vermei202

Verordnung (EU) No. 1303/2013. Vgl. Quinn/Doyle, Getting a Life. 204 Vgl. BRK Allianz e.V., Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! 205 Vgl. Diakonie Deutschland/Evangelischer Bundesverband/Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Inklusion verwirklichen! 203

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dung von Zwang und Institutionalisierung liegen vor.206 Damit sind wichtige Schritte getan, um dem Paradigmenwechsel zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung zum Durchbruch zu verhelfen. Literatur Aichele, Valentin, Die UN-Behindertenrechtskonvention in der gerichtlichen Praxis, AnwBl 10 (2011) 727–730. Aichele, Valentin/Degener, Theresia, Frei und gleich im rechtlichen Handeln, in: Valentin Aichele (Hg.), Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht, Baden-Baden 2013, 37–66. Armbruster, Jürgen, 40 Jahre Psychiatrie-Enquete. Blick zurück nach vorn, Köln 2015. Armbruster, Jürgen/Dieterich, Anja/Hahn, Daphne/Ratzke, Katharina, Wo stehen wir heute? Resümee und Ausblick, in: Jürgen Armbruster (Hg.), 40 Jahre Psychiatrie-Enquete, Köln 2015, 16– 38. Attia, Iman, Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015. Banafsche, Minou, Art. 19, in: Antje Welke (Hg.), Die UN-Behindertenrechtskonvention mit rechtlichen Erläuterungen, Berlin/[Freiburg im Breisgau] 2012, 150–163. Blanck, Peter, EQuality. The struggle for web accessibility by persons with cognitive disabilities, New York/NY 2014. BRK Allianz e.V., Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion! Erster Bericht der Zivilgesellschaft zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland, Berlin 2013. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Nationaler Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, Kabinettsbeschluss 15.06. 2011, Berlin 2011. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen. Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland. Vom Bundeskabinett beschlossen am 03.08.2011, online: 206

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Sigrid Graumann

1.2 Menschenrechtsethische Überlegungen zum notwendigen Paradigmenwechsel im Selbstverständnis von Sozialpolitik und sozialen Diensten

1

Selbstbestimmung und Inklusion als normative Grundprinzipien

Die Umsetzung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK) stellt sowohl die Sozialpolitik als auch die Träger sozialer Dienste und deren Mitarbeiter_innen vor große Herausforderungen. Die beiden zentralen normativen Grundprinzipien, die von nun an für beide Felder bindend sind, lauten „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“. Was genau unter „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ zu verstehen ist, wird in pädagogischen und sozialpolitischen Fachdebatten allerdings kontrovers diskutiert.1 Die UN BRK jedenfalls verleiht jeder Person mit Behinderung einen menschenrechtlich begründeten Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben bei voller und gleichberechtigter gesellschaftlicher Teilhabe. Das gilt für alle Lebensbereiche und für alle Menschen mit Behinderungen, auch für diejenigen mit einem hohen oder sehr hohen Unterstützungsbedarf. Damit ist ein grundlegender Paradigmenwechsel von wohltätigkeits- zu rechtebasierten Ansätzen gefordert – sowohl in der Behindertenpolitik als auch in der praktischen Arbeit mit behinderten Menschen. Dieser Paradigmenwechsel wird durch die folgende Einsicht befördert, die während des Entstehungsprozesses der UN BRK öffentlichkeitswirksam thematisiert wurde:2 Der traditionelle Wohltätigkeitsund Fürsorgeansatz ist dadurch gekennzeichnet, dass behinderte Menschen als Objekte karitativer Hilfe, Unterstützung und Sorge angesehen und behandelt werden. Der Begriff der Wohltätigkeit ist mit der Vorstellung altruistischen Handelns und freiwilliger Solidarität 1

Vgl. hierzu die Beitrage in: Dederich/Greving/Mürner/Rödler, Inklusion statt Integration. 2 Vgl. OHCHR/United Nations, Human Rights and Disability.

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anderer Bürger_innen verbunden, worauf die Empfänger_innen der Wohltätigkeit kein Anrecht haben und wofür von ihnen Dankbarkeit erwartet werden kann. Der Begriff der Fürsorge impliziert zudem eine paternalistische Haltung gegenüber denjenigen, für die gesorgt wird.3 Damit verbunden ist die Vorstellung, dass pädagogische und medizinische Expert_innen zum Wohl behinderter Menschen Entscheidungen treffen, denen sich diese unterzuordnen haben. In einem rechtebasierten Ansatz, wie er von der UN BRK gefordert wird, gelten solche Formen der Fremdbestimmung und Bevormundung dagegen als Menschenrechtsverletzungen. Behinderte Menschen werden hier als Subjekte mit gleichen Rechten und Pflichten angesehen, denen die Kontrolle über ihr eigenes Leben zurückgegeben werden muss.4 Dazu gehört auch, dass sie verbindliche Ansprüche auf die Hilfe und Unterstützung geltend machen können, die ihnen eine selbstbestimmte und unabhängige Lebensführung erlauben. Inwieweit die Umsetzung der UN BRK Erfolg haben wird, wird sich nicht zuletzt an den Konsequenzen für behinderte Menschen mit einem hohen bis sehr hohen Unterstützungsbedarf erweisen. Diese Personengruppen, so behaupten viele „Inklusions-Kritiker“, würden nicht oder nicht gleichermaßen von der UN BRK profitieren. In dem vorliegenden Beitrag sollen die normativen Prinzipien „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ aus menschenrechtsethischer Sicht reflektiert werden. Zunächst soll ihr normativer Gehalt aus den Regelungen der UN BRK herausgearbeitet und dann aus ethischer Sicht beleuchtet werden. Anschließend wird auf inklusionskritische Einwände eingegangen und gezeigt, dass alle Menschen mit Behinderungen nur dann gleichberechtigt einbezogen werden, wenn Menschenrechtsnormen auch positive Rechte umfassen, das heißt, wenn Ansprüche auf Unterstützung und Assistenz in Abhängigkeit von der individuellen Lebenslage und der Anspruch auf eine barrierefreie Umwelt als berechtigte Forderungen anerkannt werden. Dies wirft jedoch kontrovers diskutierte Begründungsfragen auf, die auf der Grundlage der Konzeption einer integrativen, d.h. sozialethisch erweiterten kantischen Ethik beantwortet werden. 2

Selbstbestimmung und Inklusion als ethischer Kern der UN BRK

Wie bereits angedeutet wurde, bestehen in den Fachdebatten erhebliche Zweifel, was die Bedeutung von „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ sowie die Verwirklichung der damit verbundenen norma3 4

Vgl. Schnabl, Gerecht sorgen, 23 f. Vgl. OHCHR/United Nations, Human Rights and Disability, 9.

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tiven Ansprüche angeht. So heißt es beispielsweise in der Einleitung des Themenhefts zu Inklusion der Zeitschrift Widersprüche zum „dominierenden Begriff [Inklusion] in sozialarbeiterischen und Bildungsdebatten“: „Die Einigkeit schwindet […], sobald […] der Begriff qualifiziert und gefüllt werden soll, sei es inhaltlich oder mit Ressourcen.“5 Dem ist entgegenzuhalten, dass sich aus dem Vertragstext der UN BRK sehr konkret herauslesen lässt, was mit „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ aus menschenrechtlicher Sicht gemeint ist: „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ sind zwei normative Grundprinzipien, die den gesamten Vertragstext der UN BRK durchziehen. Detailliert ein- und ausgeführt werden sie in Artikel 12 (equal recognition before the law) und Artikel 19 (living independently and being included in the community). Mit Artikel 12 werden die Vertragsparteien darauf verpflichtet, die rechtliche Handlungsfähigkeit aller Menschen mit Behinderungen anzuerkennen. Das heißt, dass behinderte Menschen nicht nur gleichberechtigt mit anderen Menschen als Träger von Rechten anzuerkennen sind, sondern dass darüber hinaus auch davon ausgegangen werden muss, dass sie selbstbestimmt entscheiden und rechtlich verantwortlich handeln können. Darin kann eine „radikale Abkehr“ von jeder Form der Bevormundung, Entmündigung und Fremdbestimmung gesehen werden. In Frage steht damit insbesondere, inwiefern stellvertretende Entscheidungen über persönliche Angelegenheiten von Menschen mit Behinderungen überhaupt noch gerechtfertigt werden können. Unter Bezug auf die Konvention wird nun gefordert, pädagogische und rechtliche Konzepte stellvertretender Entscheidungsfindung durch Konzepte assistierter Entscheidungsfindung zu ersetzen. Wie das Treffen assistierter, selbstbestimmter Entscheidungen im Unterschied zu bevormundender, fremdbestimmender Stellvertretung in unterschiedlichen Feldern genau aussehen kann, wird sich in der Praxis zeigen müssen. Dabei werden in Bezug auf Menschen mit starken kognitiven und psychisch-sozialen Beeinträchtigungen erhebliche Zweifel vorgebracht, wie weit jede Stellvertretung tatsächlich verzichtbar ist.6 Das ist hier jedoch nicht das zentrale Thema. Eine abschließende Antwort darauf kann ohnehin erst gegeben werden, wenn entsprechende innovative pädagogische Konzepte entwickelt, praktisch erprobt und wissenschaftlich evaluiert wurden. Der menschenrechtsethische Kern von Artikel 12 besteht jedenfalls darin, die Fähigkeit und Möglichkeit von Selbstbestimmung nicht 5 6

Widersprüche 133, 3. Vgl. hierzu die Beiträge in Ackermann/Dederich, An Stelle des Anderen.

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einfach vorauszusetzen, sondern auch die Entwicklung, Ermöglichung und Förderung von Selbstbestimmung in den Menschenrechtsschutz einzubeziehen. Das Recht auf Selbstbestimmung wird demzufolge nicht lediglich – wie im traditionellen Menschenrechtsdenken – als Abwehrrecht oder negatives Recht gegen Bevormundung und Fremdbestimmung aufgefasst, das jeder Menschen mit oder ohne Behinderungen hat, sondern auch als Anspruchsrecht oder positives Recht auf die Assistenz, die eine Optimierung des individuellen Selbstbestimmungsspielraums erlaubt. Dabei ist die Frage, inwieweit so weit reichende positive Rechte begründet werden können, eine Frage, die nicht empirisch, sondern nur moralphilosophisch beantwortet werden kann. In Artikel 19 der UN BRK wird ausgeführt, dass alle Menschen mit Behinderungen das Recht auf eine unabhängige Lebensführung und auf die volle und gleichberechtigte Einbeziehung in die Gemeinschaft – oder kurz: ein Recht auf Inklusion – haben. Dieses Recht muss von Seiten der Vertragspartner umfassend geachtet, geschützt und gefördert werden. Das heißt, Vorschriften, die Menschen mit Behinderungen nötigen, in Komplexeinrichtungen oder anderen segregierenden Institutionen zu leben, zu lernen, zu arbeiten oder ihre Freizeit zu verbringen, widersprechen der UN BRK. Unter Bezug auf die Konvention wird gefordert, alle Barrieren zu beseitigen, die Menschen mit Behinderungen den Zugang zu „normalen“ Lebensund Arbeitsumfeldern bislang verwehren.7 Die Regelungen in Artikel 19 verpflichten die Staaten darüber hinaus dazu, die Voraussetzungen für echte Wahlfreiheit für Menschen mit Behinderungen in Bezug auf alle Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, zu schaffen. Das schließt insbesondere die Verpflichtung ein, individuelle Unterstützung und Assistenz, die für Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe im täglichen Leben, beim Lernen, Arbeiten und in der Freizeit notwendig sind, zu garantieren.8 Darüber hinaus ist ein inklusives und befähigendes Lebensumfeld zu schaffen.9 Darin ist insbesondere eingeschlossen, dass alle gemeindenahen Dienste und Infrastrukturen zukünftig so gestaltet werden müssen, dass Menschen mit Behinderungen einen gleichberechtigten Zugang dazu haben.10 Der menschenrechtsethische Kern von Artikel 19 besteht wiederum darin, dass sich der Anspruch auf Inklusion nicht darauf beschränkt, in Sinne eines negativen Rechts vor Ausgrenzung geschützt zu sein, 7

Vgl. United Nations/Human Rights Council, Thematic study. Vgl. den Beitrag von Hans-Jürgen Balz et al. in diesem Band. 9 Vgl. den Beitrag von Siegfried Bouws et al. in diesem Band. 10 Vgl. United Nations/Human Rights Council, Thematic study. 8

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sondern positive Rechte auf eine barrierefreie Umwelt sowie auf Unterstützung und Assistenz umfasst, sofern diese für die volle und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe notwendig sind. Ob und, falls ja, wie derartige positive Menschenrechtsansprüche begründet werden können, ist – wie bereits dargelegt wurde – eine moralphilosophische und keine empirische Frage. Bevor aber auf diese Fragen der Begründbarkeit positiver Menschenrechtsansprüche eingegangen wird, sollen die bereits angesprochenen Einwände der „Inklusionskritiker“ kritisch gewürdigt werden.11 3

Zu den Einwänden der „Inklusionskritiker“

Wenn Artikel 12 und Artikel 19 der UN BRK – wie dargelegt – interpretiert werden, sollten wir uns eigentlich auf einem guten Weg in Richtung Gleichberechtigung und Gleichstellung behinderter Menschen befinden. Auch individuell hoffen viele behinderte Menschen auf eine erhebliche Verbesserung ihrer Lebenssituation in der nahen Zukunft. Angesichts der gesellschaftlichen Herausforderungen, die die Konvention mit sich bringt, ist es aber nicht verwunderlich, dass auch zahlreiche Zweifel und Befürchtungen hinsichtlich der Umsetzung der UN BRK formuliert werden. In den Verbänden der Behindertenarbeit wurde der rechtebasierte Ansatz zunächst keineswegs von allen begrüßt. Insbesondere von Angehörigen behinderter Menschen, Verbandsvertreter_innen, Mitarbeiter_innen sozialer Einrichtungen und Expert_innen, die besonders das Wohlergehen von behinderten Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf im Blick haben, wird befürchtet, dass diese Menschen „Inklusionsverlierer“ sein könnten.12 „Die Abkehr von fürsorglichen Konzepten hin zur Orientierung am Willen des betroffenen Menschen“ wird zwar generell begrüßt; es wird jedoch angemahnt, dabei „auch die Menschen zu bedenken, deren schwere mentale Beeinträchtigung nur ganz elementare Formen der Selbstbestimmung ermöglichen“ würden13 und die „langfristig auf besondere soziale Unterstützung und mitmenschliche Solidarität angewiesen bleiben“.14 Ein Recht auf Selbstbestimmung wird für Menschen mit einem hohen Unterstützungsbedarf durchaus ambivalent gesehen. Es biete zwar 11

Vgl. den Beitrag von Uwe Becker in diesem Band. Der Begriff „Inklusionsverlierer“ wird in der Bildungsdebatte sehr häufig verwendet. So etwa Becker, Die Inklusionslüge, 33. 13 Eurich, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung, 154–155. 14 Gröschke, Praktische Ethik der Heilpädagogik, 43. 12

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auch für diese Personengruppe Chancen für ein selbstbestimmtes Leben; gleichzeitig gehe damit aber auch die Gefahr von Vernachlässigung einher. Es setze Selbstbestimmung und Unabhängigkeit als Fähigkeiten voraus und berge damit die Gefahr, die Bedürfnisse und Lebenssituationen derjenigen aus dem Blick zu verlieren, für die Selbstbestimmung und Unabhängigkeit unerreichbare Ideale seien. Für sie sei eine Orientierung an den traditionellen Tugenden der Nächstenliebe und Wohltätigkeit der bessere Weg.15 Von vielen, die sich in dieser Weise positiv auf Tugenden beziehen, wird aber auch gesehen, dass damit eine „Tendenz zur Entstaatlichung des Sozialen“ und die Gefahr einer „idealistische[n] Überhöhung von Tugenden in der Beschwörung der ‚helfenden Liebe‘ […]“ verbunden sein könnten.16 Die UN BRK beansprucht jedoch, alle Menschen mit Behinderungen in ihren Geltungsbereich einzubeziehen, gerade auch diejenigen mit einem hohen Unterstützungsbedarf. Dies stellen die Kritiker_innen des rechtebasierten Ansatzes konzeptionell in Frage, indem sie für eine Behindertenarbeit und -politik auf der Grundlage von (christlichen) Tugenden plädieren. Eine begründete Positionierung zu dem damit skizzierten Spannungsfeld setzt eine moralphilosophische Reflexion dessen voraus, was Tugenden und was moralische Rechte und Pflichten für berufsethische und für politisch-ethische Fragen im Umgang mit den Lebenssituationen behinderter Menschen leisten können. Eine ganze Reihe anderer Autoren wie Suitbert Cechura, Norbert Wohlfahrt und Uwe Becker kritisieren den rechtebasierten Ansatz aus politischer Sicht. Sie stellen das Inklusions-Prinzip in den Kontext realer Sozial- und Wirtschaftspolitik und wenden ein, dass dieses ohne entsprechende finanzielle Ressourcen nur leere Versprechen beinhaltet oder sogar als Rechtfertigung für weiteren Sozialabbau dienen würde.17 Der Behindertenaktivist Udo Sierck weist zudem darauf hin, dass die allgemeine Bewusstseinslage der nicht behinderten Bürger_innen nach wie vor durch Denkmuster und Verhaltensweisen geprägt sei, die im Alltag ausgrenzend wirken. Seine Skepsis gegenüber dem Inklusions-Prinzip bringt er folgendermaßen auf den Punkt: 15

Diese Position wird besonders deutlich von Hans Reinders formuliert, vgl. Reinders, Receiving the Gift of Friendship. Aber auch in der Care-Ethik sind solche Positionen verbreitet. 16 Antor/Bleidick, Behindertenpädagogik als angewandte Ethik, 123. 17 Vgl. hierzu Wohlfahrt, Vom Klassenkompromiss zur klassenlosen Bürgergesellschaft?; Becker, Die Inklusionslüge; sowie Cechura, Inklusion: die Gleichbehandlung Ungleicher. Alle drei Autoren sind Kollegen an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe.

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„Bei der in Fachkreisen ausgebrochenen Inklusions-Euphorie wird gerne übersehen, dass die gesellschaftliche Tendenz in die gegenteilige Richtung hin zu einer tatsächlichen oder möglichen Ausgrenzung geht.“18

Die genannten politischen Bedenken hinsichtlich des rechtebasierten Ansatzes sind zweifellos nicht von der Hand zu weisen. Völlig zu Recht werden erhebliche politische Mängel in der Umsetzung der UN BRK kritisiert.19 Bei genauem Lesen der hier genannten Inklusionskritiken wird aber deutlich, dass mit den Argumentationen „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ als politisch-ethische Grundprinzipien nicht etwa in Frage gestellt, sondern im Gegenteil deren ethische Berechtigung vorausgesetzt wird. Ohne „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ als berechtigte ethische Ansprüche zu unterstellen, die mit gesellschaftlichen Pflichten zu Solidarität einhergehen, wäre die Kritik an der herrschenden liberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik nämlich substanzlos. Die Kritik trifft dabei nicht nur die Politik als solche, sondern auch gesellschaftlich weit verbreitete liberale politischethische Grundhaltungen, die die herrschende Politik legitimieren und verbindliche gesellschaftliche Solidaritätspflichten zurückweisen. Dies verweist noch einmal auf die moralphilosophische Frage, ob die Forderungen nach „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ tatsächlich moralische Rechte sind, denen verbindliche Solidaritätspflichten gegenüberstehen, oder ob diese nicht lediglich berechtigte Wünsche darstellen, die nur mit freiwilligen Leistungen anderer Bürger_innen erfüllt werden können.20 Dazu kommt, dass die Garantie der Rechte auf Selbstbestimmung und Inklusion für Menschen mit Behinderungen einen gesellschaftlichen Bewusstseinswandel hin zu einer „Kultur der Inklusion“ voraussetzen würde. Hier stellt sich die Frage noch einmal verschärft, ob es sich dabei um das moralisch Richtige handelt, das verbindliche Verpflichtungen nach sich zieht, oder „nur“ um moralisch Erwünschtes.

18

Sierck, Budenzauber Inklusion, 8. Dies wird in den Parallelberichten zum ersten deutschen Staatenbericht zur UN BRK mit vielen empirischen Beispielen belegt: Allianz der deutschen Nichtregierungsorganisationen zur UN-Behindertenrechtskonvention, Für Selbstbestimmung, gleiche Rechte, Barrierefreiheit, Inklusion!; Deutsches Institut für Menschenrechte, Parallelbericht an den UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 20 Das würde der Argumentation des renommierten Sozialstaatstheoretikers Wolfgang Kersting entsprechen. Ihm zufolge lassen sich sozialstaatliche Leistungen nur als freiwillige Solidarität der Bürger_innen und nicht als verbindliche Verpflichtungen ausweisen, vgl. Kersting, Politische Solidarität statt Verteilungsgerechtigkeit? 19

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Integrative Ethik

Menschenrechte werden aus philosophischer Perspektive als moralische Rechte aufgefasst, zu deren Achtung wir strikt wechselseitig verpflichtet sind. Soziale Rechte bzw. generell positive Menschenrechts-Forderungen auf Hilfs- oder Unterstützungsleistungen stellen aber einseitige Forderungen dar, weshalb ihre Berechtigung kontrovers diskutiert wird.21 Ohne eine Anerkennung positiver Menschenrechts-Forderungen aber werden Menschen mit Behinderungen, insbesondere diejenigen mit einem hohen Unterstützungsbedarf, aus dem Schutzbereich der Menschenrechte ausgeschlossen. Auch die Auseinandersetzung mit den inklusions-kritischen Positionen hat gezeigt, dass Forderungen nach einer konsequenten Umsetzung der UN BRK mit moralphilosophischen Grundproblemen konfrontiert sind: Dazu gehören vor allem die Frage nach dem Verhältnis des moralisch Richtigen zum moralisch Erwünschten sowie die Frage nach dem Verhältnis von individuellen Rechten und Pflichten zu gesellschaftlicher Verantwortung. Für eine menschenrechtsethische Reflexion von „Inklusion“ und „Selbstbestimmung“ ist folglich eine Ethikkonzeption notwendig, die alle vier Dimensionen integriert.22 Dies gilt zumindest dann – und diese normative Setzung wird hier zu Grunde gelegt –, wenn davon ausgegangen wird, dass auch Menschen mit Behinderungen Subjekte mit gleicher Würde und gleichen Rechten sind und damit den Anspruch auf Gleichberechtigung haben.23 Hans Krämers Konzept einer integrativen Ethik ermöglicht, Fragen nach dem moralisch Erwünschten mit Fragen nach dem moralisch Richtigen zusammen zu denken. Dabei gehören Fragen nach dem moralisch Erwünschten – in den von ihm vorgeschlagenen Begriffen – zur Strebensethik und Fragen nach dem moralisch Richtigen zur Sollensethik.24 Aufgabe der Strebensethik ist es nach Krämer, über Fragen der persönlichen Lebensgestaltung zu reflektieren. Gegenstand der Strebens21

Vgl. Tugendhat, Die Kontroverse um die Menschenrechte; Gosepath, Zur Begründung sozialer Menschenrechte. 22 Ich beziehe mich hier auf eine Ethikkonzeption, die Hille Haker vorschlägt. Sie geht von Krämers Konzept einer Integrativen Ethik aus und erweitert diese sozialethisch, vgl. Haker, Narrative Bioethik. 23 Dies ist in ethischen Debatten keineswegs selbstverständlich, wie die sogenannte Singer-Debatte zeigt. Vgl. Dederich, Bioethik und Behinderung. Die Verteidigung des Status von Menschen mit nicht, noch nicht oder nicht mehr empirisch nachprüfbaren Personeneigenschaften wie Selbstbewusstsein, Rationalität und Vernunft als gleichberechtigte Moralsubjekte hat die ethischen Debatten der Heil- und Sonderpädagogik entscheidend geprägt; vgl. Graumann, Behinderung. Darauf soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. 24 Vgl. Krämer, Integrative Ethik.

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ethik sind damit partikulare Werte, Haltungen und Tugenden. Dabei sind strebensethische Reflexionen von subjektiven Vorstellungen des „guten Lebens“ geprägt, die individuell sehr unterschiedlich ausfallen können. Ein Bezug zur Sollensethik ergibt sich aber dann, wenn die eigenen Vorstellungen des guten Lebens anderen „aufgedrückt“ werden; dann wird deren Recht auf Selbstbestimmung verletzt. Die Sollensethik hat die Aufgabe, allgemein verbindliche Rechte, die jede Person unabhängig von persönlichen Präferenzen, individuellem Ansehen oder sozialem Status in der gleichen Lebenssituation hat und zu deren Achtung wir wechselseitig verpflichtet sind, zu begründen. Dazu gehören die moralischen Rechte auf Leben, körperliche und seelische Unversehrtheit und Selbstbestimmung, zu deren Achtung wir strikt verpflichtet sind. Darüber hinaus ist eine weitere Unterscheidung wichtig, um die aufgeworfenen moralphilosophischen Fragen angemessen behandeln zu können: die Unterscheidung zwischen Fragen der Individualethik und Fragen der Sozialethik. Individualethik hat „das Gute und Richtige in Bezug auf das Handeln einzelner“ zum Gegenstand. Dazu gehören sowohl subjektive Werte und individuelle Haltungen bzw. Tugenden als auch individuelle Rechte und Pflichten. In der Sozialethik dagegen wird nach der „gemeinsamen Verantwortung“ für die soziale Ordnung gefragt.25 Zur Sozialethik gehört einerseits die Verständigung über geteilte, partikulare Werte und Rollenerwartungen, die sich zwischen Gesellschaften und Gemeinschaften unterscheiden und über die Zeit verändern können. Die Unterschiede müssen toleriert werden, sofern Personen, die die entsprechenden Werte nicht teilen, nicht geschädigt werden. Zur Sozialethik gehören aber andererseits auch Forderungen nach Gerechtigkeit, die wir unabhängig von gesellschaftlichen kulturellen und historischen Unterschieden geltend machen und auf die wir berechtigterweise Bezug nehmen können, um gesellschaftliche Strukturen und Institutionen zu kritisieren und Veränderungen verbindlich einzufordern. Wo die Grenze zwischen partikularen geteilten Werten, für die von Mitgliedern anderer Wertegemeinschaften Toleranz erwartet werden kann, und Fragen nach Gerechtigkeit, die keine Relativierung zulassen, gezogen werden muss, ist allerdings häufig strittig. Mit dieser doppelten Unterscheidung ergeben sich vier Dimensionen des Konzepts einer integrativen Ethik: – subjektive Vorstellung vom guten Leben der oder des Einzelnen – individuelle Rechte und Pflichten 25

Vgl. Mieth, Sozialethik.

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– gesellschaftlich bzw. gemeinschaftlich geteilte Werte und Rollenerwartungen – gerechte gesellschaftliche Strukturen und Institutionen Vor diesem Hintergrund soll nun im Folgenden konkreter ausgeführt werden, wie den Forderungen nach „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ von und für Menschen mit Behinderungen einerseits in der Praxis sozialer Berufe und andererseits in der Sozialpolitik nachgekommen werden soll. 5

Individuelle Vorstellungen vom guten Leben mit Behinderung

Das Erbe des traditionellen, christlich geprägten Ethos helfender Berufe ist eine Neigung zur Orientierung an Tugenden des Helfens und weniger an Pflichten, die Rechte der Klient_innen zu achten. So wurden die ethischen Grundlagen für die Arbeit mit behinderten Menschen von Seiten der Heil- und Sonderpädagog_innen traditionell in geteilten Werten wie der Solidarität mit den Schwachen26, der Wahrnehmung des Mitmenschen als leidend und hilfebedürftig27 oder der Moral des Erziehers28 verortet. Das Problem solcher tugendethischer Ansätze ist aber, dass sie explizit oder implizit auf starken Konzeptionen vom guten Leben von Menschen mit Behinderungen basieren, in denen sich genau betrachtet die eigenen partikularen Wertvorstellungen von Pädagog_innen und anderen Hilfe-Expert_innen niedergeschlagen haben und die keineswegs den subjektiven Vorstellungen vom guten Leben der Klient_innen entsprechen müssen. Während nämlich die tradierten berufsethischen Werte wie „Fürsorglichkeit“, „Mitleid“, „Anteilnahme“ oder „Wohltätigkeit“ von der sorgenden Person her gedacht werden, werden die zentralen Werte der Behindertenbewegung, wie „Selbstbestimmung“, „Selbstständigkeit“ oder „gleichberechtigte Teilhabe“, aus der Perspektive der Personen, die auf Unterstützung oder Assistenz angewiesen sind, formuliert. Dazukommt, dass eine tugendethisch begründete Behindertenarbeit entweder autoritär ist oder unverbindlich bleibt, wie MacIntyres Tugendkonzeption zeigt: MacIntyre fordert zur Einsicht auf, nur deshalb eine selbstbestimmte und selbstständige Person zu sein, weil andere durch ihre Fürsorge dies ermöglicht haben, ohne dass sie darum gebeten wurden. Damit will er eine Schuld gegenüber der Gemeinschaft begründen, die durch Hilfe und Wohltätigkeit gegenüber anderen, etwa behinderten Menschen, die darauf angewiesen sind, ab26

Vgl. Speck, System Heilpädagogik. Vgl. Gröschke, Praktische Ethik der Heilpädagogik. 28 Vgl. Antor/Bleidick, Heilpädagogik als angewandte Ethik. 27

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zugelten sei.29 Diese Forderung aber wurde in der Vergangenheit und wird von wertkonservativer Seite auch heute noch einseitig an Frauen gerichtet. MacIntyres „Tugenden der anerkannten Abhängigkeit“ erhalten so – als verbindliche Rollenerwartungen formuliert – einen tendenziell antiemanzipatorischen Charakter. Sie bleiben außerdem insofern unverbindlich, als sie von einem geteilten Wertehorizont abhängen. Dennoch ist die Tugendkonzeption von MacIntyre für die Reflexion der traditionellen, christlich geprägten ethischen Orientierung der Behindertenarbeit gerade auch in (selbst-)kritischer Absicht diakonischer Angebote wichtig. Die „Tugenden der anerkannten Abhängigkeit“ entwickelt MacIntyre unter Bezug auf Thomas von Aquin ausgehend von der Tugend der Liebe zu Gott und den Menschen (caritas), der Tugend des Mitleidens (misercordia) und der Tugend der Wohltätigkeit (beneficentia) und fasst sie in einer Kardinaltugend der gerechten Großzügigkeit zusammen. MacIntyre sieht, dass „gefühlsmäßige Dispositionen“ wie Anteilnahme, Zuneigung und Mitleid nicht qua Willensakt herbeizuführen sind. Sie könnten aber gesellschaftlich kultiviert werden.30 Und genau das ist unabhängig von der konkreten Ausformulierung der Tugenden auch der Punkt, an dem angeknüpft werden kann und sollte. Allgemeinverbindliche Verpflichtungen gegenüber anderen können nicht strebensethisch, sondern nur sollensethisch begründet werden. Dessen ungeachtet kann aber gerade im Feld sozialer Dienste, wo zwangsläufig in die individuelle Lebensgestaltung anderer eingegriffen wird, nicht auf strebensethische Reflexionen verzichtet werden. Ihre Aufgabe ist aber nicht, verbindliche Verpflichtungen auszuwiesen, sondern die Begriffe bereitzustellen, mit denen über die Qualität von „Sorge-Beziehungen“ nachgedacht werden kann. Dazu gehören in einem emanzipatorischen berufsethischen Verständnis, das die Forderungen der Behindertenbewegung aufnimmt, Haltungen wie „Respekt“ und „Achtsamkeit“ gegenüber Klient_innen, das Bemühen um eine „Begegnung auf gleicher Augenhöhe“, aber auch, die Balance zwischen „Empathie“ und „professioneller Distanz“ in der professionellen Unterstützung richtig zu bestimmen. Diese Haltungen oder Tugenden, die vor allem in der Care-Ethik formuliert wurden, kennzeichnen aus zeitgenössischer Sicht eine „gute Sorge“, die Selbstbestimmung ermöglicht und Vernachlässigung vermeidet.31 Ohne sie ist eine berufsethische Orientierung an den Grundsätzen der „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ in der Arbeit mit 29

Vgl. MacIntyre, Anerkannte Abhängigkeit, 29 ff. Vgl. MacIntyre, Anerkannte Abhängigkeit, 119–128. 31 Vgl. Conradi, Take care; Kittay, Love’s Labor. 30

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behinderten Menschen kaum möglich. Das gilt für säkulare wie für christliche Kontexte. Die Stärke derjenigen, die in diakonischen Arbeitsfeldern tätig sind, ist hier, dass tugendethische Reflexionen in Kirche und Diakonie traditionell einen größeren Stellenwert haben. Und es geht nicht darum, ob wir eine Werteorientierung in der Behindertenarbeit brauchen, sondern darum, welche Werte zu Grunde gelegt werden sollen. Weil es sich bei den genannten Begriffen aber um Haltungen handelt, können und sollen diese durch geeignete strukturelle und institutionelle Rahmenbedingungen zwar gefördert werden. Sie dürfen und können jedoch nicht erzwungen werden. 6

Individuelle Rechte und Pflichten

Die Frage, ob Menschen mit Behinderungen tatsächlich ein Recht auf Selbstbestimmung und Inklusion verbunden mit Ansprüchen auf Unterstützung geltend machen können, hängt letztlich davon ab, wozu andere verpflichtet werden können. Und das wird in verschiedenen Ethikkonzeptionen unterschiedlich gesehen. Martha Nussbaum vertritt mit ihrem Capabilities-Ansatz eine Gerechtigkeitskonzeption, die die Verpflichtung zur Unterstützung von behinderten Menschen explizit einbezieht. Sie bezieht sich darauf, dass jeder Mensch ein Recht auf die Entwicklung von bestimmten grundlegenden Fähigkeiten (capabilities) hat, die ein selbstbestimmtes, „wirklich menschliches“ Leben erst ermöglichen. Nussbaums Grundgedanke ist, dass das menschliche Leben eine allen Menschen gemeinsame, unhintergehbare Bedürfnisstruktur aufweise. Soziale Gerechtigkeit bedeutet für Nussbaum die staatliche Verpflichtung, sicherzustellen, dass alle Bürger_innen, auch wenn sie eine Behinderung haben, ein Mindestmaß der geforderten Basisfähigkeiten entwickeln können.32 So ließe sich die gesellschaftliche bzw. staatliche Verpflichtung, die Unterstützungen zur Verfügung zu stellen, die Menschen mit Behinderungen für ein selbstbestimmtes Leben und volle und gleichberechtigte Teilhabe brauchen, begründen. Damit vertritt sie allerdings eine höchst problematische starke Konzeption des guten Lebens, die zumindest unterschwellig das Leben derjenigen abwertet, die auf Grund einer Beeinträchtigung einzelne Basisfähigkeiten – etwa sehen, hören, rational denken oder sich aus eigener Kraft fortbewegen zu können – trotz Unterstützung nicht oder nur minimal entwickeln können.33 Wenn aber die Entwicklung der 32 33

Vgl. Nussbaum, Grenzen der Gerechtigkeit, 218–309. Vgl. ausführlich dazu Graumann, Assistierte Freiheit, 133 ff.

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Basisfähigkeit nicht mit einem guten Leben gleichgesetzt wird, sondern – etwas bescheidener – als Voraussetzung, eigene Lebenspläne entwickeln, artikulieren und/oder verfolgen zu können, angesehen wird, lassen sich möglicherweise Ansprüche auf Unterstützung daraus ableiten. Im Unterschied zu Nussbaum verstehen liberale Ethiker_innen Moral als fiktiven Vertrag zwischen freien und gleichen Personen. Sie argumentieren, dass jede und jeder das Recht habe, nach den eigenen Vorstellungen des guten Lebens zu streben, sofern niemand anders dadurch ungebührlich im Verfolgen seiner eigenen Lebensziele eingeschränkt wird. Sie gehen davon aus, dass dies ein allgemeines Recht ist, weil es sich um ein allgemein geteiltes Interesse handelt. Paternalistische Bevormundung und Fremdbestimmung sind demzufolge unzulässig. Zu den Vertreter_innen dieser Position gehören z.B. die radikal-liberale Ethikkonzeption von Norbert Hoerster, dessen fiktive Vertragspartner_innen sich lediglich auf einen gegenseitigen Schädigungsverzicht verpflichten würden,34 aber auch die sozialliberale Ethikkonzeption von John Rawls,35 der über das aufgeklärte Eigeninteresse der Vertragspartner_innen schlechter gestellte Bürger_innen gleichberechtigt einbeziehen will. Diese beiden Ethikkonzeptionen bilden wohl den größten Teil des Spektrums der heutigen politisch-liberalen Grundüberzeugungen ab. Menschen mit Behinderungen werden dabei jedoch nicht gleichberechtigt einbezogen.36 Für viele Menschen mit Behinderungen stellt sich nämlich das Problem, dass sie auf Assistenz und Barrierefreiheit angewiesen sind, um ihre Vorstellungen des guten Lebens zu entwickeln, zu artikulieren und/oder zu realisieren. Wenn die genannten moralischen Rechte nur – im vorherrschend politisch-liberalen Sinn – als negative Rechte verstanden werden, können sie sie daher nicht gleichberechtigt wahrnehmen. Wenn sie aber – wie bei Nussbaum – auch als positive Rechte konzipiert werden, könnten ihre Ansprüche auf Assistenz zur Ermöglichung selbstbestimmten Entscheidens und Handelns sowie 34

Vgl. Hoerster, Ethik und Interesse. Vgl. Rawls, Theorie der Gerechtigkeit. 36 Tugend- und Care-Ethikerinnen wie MacIntyre, Die Anerkennung der Abhängigkeit, und Kittay, Love’s Labor, kritisieren am liberalen politisch-ethischen Selbstverständnis, dass die Tatsache ausgeblendet wird, dass wir in vielen Phasen unseres Lebens, beispielsweise als Kinder, als kranke oder als alte Menschen, unausweichlich von Sorge in partikularen Beziehungen abhängig seien. Außerdem bestehe im liberalen Denken die Tendenz einer Engführung auf individualethische Fragen, während sozialethische Fragen eher ausgeklammert werden. Fragen des guten Lebens werden einseitig als Fragen individueller Lebensführung aufgefasst, für die sich eine liberale kontraktualistische Ethik nicht zuständig sieht. Dabei wird allerdings nicht gesehen, dass selbst – zumindest implizit – starke Vorstellungen des guten Lebens – nämlich eines selbstbestimmten und unabhängigen Lebens – vertreten werden. 35

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ihre Ansprüche auf die Beseitigung von Barrieren, die einer vollen und gleichberechtigten Teilhabe entgegenstehen, als berechtigt ausgewiesen werden. Wenn davon ausgegangen wird, dass alle Menschen in manchen Phasen ihres Lebens auf Unterstützung angewiesen sind, müssten diese Ansprüche eigentlich als allgemein berechtigt gelten können. Dann stellt sich aber die entscheidende Frage, an wen die Verpflichtungen, die mit diesen Ansprüchen einhergehen, adressiert werden können. Damit tritt wieder das Begründungsproblem auf den Plan, das auch Nussbaum nicht löst. Wir suchen also eine Ethikkonzeption, in der Menschen sowohl als zu selbstbestimmtem Entscheiden und Handeln begabte als auch als leibliche, verletzliche und soziale Wesen betrachtet werden, in der verbindliche Ansprüche auf Achtung, Entwicklung, Bewahrung, Förderung und Wiederherstellung der Fähigkeit zu Selbstbestimmung formuliert werden und gleichzeitig paternalistische Bevormundung und Diskriminierung ausgeschlossen werden können. Ich meine, dass dies auf der Basis eines kantischen Autonomie-Verständnisses möglich ist. Für Kant ist der Mensch auf der einen Seite ein leiblich-sinnliches und auf der anderen Seite ein autonomiebegabtes Wesen. Dabei meint Autonomie die Fähigkeit des Menschen, als Mensch nach selbst gesetzen moralischen Grundsätzen (Maximen) handeln zu können. Als leiblich-sinnliches Wesen ist der Mensch an die Möglichkeiten und Grenzen seiner biologischen Existenz gebunden und seinen sinnlichen Begierden ausgesetzt. Als autonomiebegabtes Wesen kann er auf seine biologischen Existenzbedingungen reflektieren, sich von seinen sinnlichen Begierden distanzieren und sich zu diesen verhalten. Er ist in seinem Handeln in dem Sinne autonom, dass er sich in seinem Handeln als frei erlebt, moralischen Gesetzen zu gehorchen oder diesen zuwiderzuhandeln.37 Im Unterschied zu Vertreter_innen vertragstheoretischer Ethikkonzeptionen ist Autonomie für Kant nicht nur eine empirisch feststellbare Eigenschaft von individuellen Personen, sondern auch eine Eigenschaft, die den Menschen als Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet. Dem Menschen kommt, wie Kant es ausdrückt, auf Grund seiner Autonomie Würde zu.38 Dabei ist nicht die individuelle, aktuell verwirklichte Autonomie eines Menschen ausschlaggebend, sondern die Fähigkeit zur Autonomie der menschlichen Gemeinschaft. Jedem Mitglied dieser Gemeinschaft kommt daher Würde zu und zwar unabhängig von dem Grad an Autonomie, den sie oder er aktuell verwirklichen konnte. 37 38

Vgl. Steigleder, Kants Moralphilosophie, 72. Vgl. Kant, Grundlegung, 69.

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Die Menschenwürde zu achten, bedeutet nach Kant bekanntlich, andere niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Selbstzweck zu behandeln. Damit ist die Selbstzweckformel des obersten Moralprinzips, des Kategorischen Imperativs, angesprochen. Dabei wird Autonomie unabhängig von dem individuellen Grad der Verwirklichung und der eigenen Wertschätzung als ein oberster moralischer Wert angesehen. Deshalb sind wir auch, wie ich meine, nicht nur zur Achtung vorhandener Autonomie, sondern auch zum Schutz und zur Verwirklichung von noch nicht entwickelter oder beschädigter Autonomie verpflichtet. Dieses Konzept bezeichne ich als „assistierte Freiheit“. Um zu klären, welche beruflichen und gesellschaftspolitischen Verpflichtungen gegenüber behinderten Menschen mit dem Konzept „assistierter Freiheit“ genau verbunden sind, ist es notwendig, auf Kants Gerechtigkeitskonzeption einzugehen. Der Schlüsselbegriff in Kants Gerechtigkeitskonzeption ist allerdings nicht Autonomie, sondern Freiheit. Während Autonomie für Kant innere Freiheit im Sinne des Vermögens zu moralischem Handeln bedeutet, ist Freiheit als solche für Kant zunächst einfach Freiheit von äußeren Zwängen.39 Das gesellschaftliche Zusammenleben führt aber zwangsläufig dazu, dass die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Konflikt gerät, sodass eine geregelte wechselseitige Beschränkung äußerer Freiheit notwendig wird. Das Gerechtigkeitsprinzip soll die individuellen Freiheiten miteinander verträglich machen und dabei maximale Freiheit für alle garantieren.40 Allerdings steht das Gerechtigkeitsprinzip für Kant nicht unabhängig neben dem Moralprinzip, sondern stellt dessen externalisierte Fassung dar, wie es Allen Rosen ausdrückt.41 Ohne Freiheit ist Autonomie nicht möglich. Der wesentliche Punkt für behinderte Menschen ist nun, ob und wie sie im Rahmen der wechselseitigen Beschränkung von Freiheit berücksichtigt werden. Wenn hier Regeln formuliert werden, denen zufolge in erster Linie negative Freiheitsrechte geschützt werden, sind diejenigen, die auf solidarische Hilfe und Unterstützung angewiesen sind, um ihre Freiheitsmöglichkeiten überhaupt realisieren zu können, benachteiligt oder werden sogar ganz ausgeschlossen. Wenn aber auch die Realisierungsbedingungen von Freiheit in die Regeln einbezogen werden sollen, muss es auch positive Rechtsansprüche geben, deren Geltungsanspruch allerdings strittig sein kann.Wir können i. d. R. von anderen verbindlich erwarten, unsere seelische und 39

Vgl. Rosen, Kant’s Theory of Justice, 7. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, 337; Rosen, Kantʼs Theory of Justice, 11. 41 Vgl. Steigleder, Kants Moralphilosophie, 132; Rosen, Kant’s Theory of Justice, 13. 40

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körperliche Integrität nicht zu verletzen und unser Recht auf Selbstbestimmung zu respektieren. Wir können aber nicht von beliebigen anderen Personen verbindlich erwarten, die Hilfe und Unterstützung zu bekommen, die wir brauchen, um unsere Lebensziele realisieren zu können. Soweit ist auch mit Kant den vorherrschenden liberalen ethischen Positionen Recht zu geben. „Affektgeladene“ Fürsorge und Wohltätigkeit falle, so etwa Axel Honneth, nicht in das Feld universalisierbarer Normen.42 Würde eine Person gegen ihren Willen genötigt oder gezwungen, für eine beliebige andere Person Hilfe und Unterstützung zu leisten, würde ihr eigenes Recht auf Selbstbestimmung verletzt. Wäre das das letzte Wort, müssten wir akzeptieren, dass Menschen mit Behinderungen und Unterstützungs- bzw. Assistenzbedarf nur dann ihren Anspruch auf ein selbstbestimmtes Leben und Inklusion verwirklichen könnten, wenn andere die „Tugenden anerkannter Abhängigkeit“ verinnerlicht haben und zu freiwilliger Solidarität bereit sind. Das wäre sicher unbefriedigend und ist auch nicht das letzte Wort. 7

Gesellschaftlich bzw. gemeinschaftlich geteilte Werte und Rollenerwartungen

Wenn in unserer heutigen Gesellschaft, wie es auch die Inklusionskritiker unterstellen, politisch-liberale Grundüberzeugungen vorherrschen, die einseitig aus der Perspektive von selbstbestimmten, unabhängigen und nicht behinderten Personen formuliert werden, besteht ein ungünstiges gesellschaftliches Klima für die Durchsetzung der Haltungen, Menschen mit Behinderungen auf gleicher Augenhöhe zu begegnen, ihre Selbstbestimmung zu achten und sie als vollwertige Gesellschaftsmitglieder anzuerkennen. Mit dem gesellschaftlichen Klima sind hier die in einer Gesellschaft oder Gemeinschaft in einem bestimmten Zeitraum mehrheitlich geteilten Werte und Rollenerwartungen gemeint. Wenn dabei ein Leben mit Beeinträchtigung als defizitär gilt und negative Stereotypen und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen weit verbreitet sind, werden sich „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ als normative Grundsätze der Sozialpolitik kaum, wie von der UN BRK gefordert, durchsetzen lassen. Allerdings lassen sich positive Einstellungen nicht erzwingen; sie lassen sich aber fördern und begünstigen. Das 42

Vgl. Honneth, Das andere der Gerechtigkeit. Honneth zufolge beschränken sich universalisierbare Normen auf reziproke Verpflichtungen in symmetrischen Beziehungen. Sorge (Care) und Assistenz in asymmetrischen Beziehungen wären davon generell ausgenommen.

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haben auch die Mütter und Väter der UN BRK erkannt, wie Artikel 8 der UN BRK zeigt. In Artikel 8 werden die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, „sofortige, wirksame und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um a) in der gesamten Gesellschaft […] das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu fördern; b) Klischees, Vorurteile und schädliche Praktiken gegenüber Menschen mit Behinderungen […] zu bekämpfen; c) das Bewusstsein für die Fähigkeiten und den Beitrag von Menschen mit Behinderungen zu fördern.“

Plakataktionen und Kampagnen reichen sicher nicht aus, um negative Stereotype und Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen abzubauen. Eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, dass sich Menschen mit und ohne Behinderungen, sei es im Kindergarten, in der Schule, in der Nachbarschaft, in der Kirchengemeinde, bei der Arbeit und in der Freizeit, selbstverständlich begegnen. „Inklusion“ bezeichnet in diesem Sinne sowohl eine Praxis als auch eine gesellschaftliche Werthaltung, wobei beides eng zusammenhängt. 8

Soziale Gerechtigkeit

Menschen mit Behinderungen ihre berechtigten Ansprüche auf ein selbstbestimmtes Leben und auf volle und gleichberechtigte Teilhabe in allen gesellschaftlichen Feldern zu garantieren, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Dazu gehört zum einen, Menschen vor paternalistischer Bevormundung und Fremdbestimmung zu schützen, und zum anderen, die notwendige Unterstützung bereitzustellen, die ein selbstbestimmtes Leben und eine gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Paternalistische Bevormundung und Fremdbestimmung können ebenso wie direkte Diskriminierung durch staatlichen Zwang unterbunden werden. Wenn aber einzelne Personen zu Unterstützungsleistungen genötigt oder gezwungen werden, kann sie das nicht nur überfordern, sondern auch ihr eigenes Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verletzen. Das gilt auch für Familienangehörige, insbesondere für Frauen, von denen – im Unterschied zu Männern – in einem wertkonservativen Gesellschaftsmodell die Sorge für andere als Familienpflicht erwartet wird. „Wohltätigkeitspflichten“ können und dürfen generell nur sehr begrenzt erzwungen werden. Beispiele dafür sind asymmetrische, familiäre oder professionelle Sorgebeziehungen, die

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mit der Übernahme von Verantwortung für das Wohlergehen der umsorgten Person verbunden sind.43 Ohne jeden Zweifel ist es gesellschaftlich wünschenswert, dass Bürger_innen freiwillig zur Leistung von Hilfe und Unterstützungen für andere Personen bereit sind.44 Sie dürfen dazu aber nicht oder nur sehr begrenzt genötigt oder gezwungen werden, sonst wird ihr Recht auf Selbstbestimmung verletzt. Mit diesem Argument können aber nicht, wie oft angenommen wird, allgemein verbindliche gesellschaftliche Pflichten zur Gestaltung gesellschaftlicher Strukturen und Institutionen zurückgewiesen werden, die notwendig dafür sind, „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ für alle Menschen – mit und ohne Behinderung – zu garantieren. Adressat der menschenrechtsethischen Forderungen, „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ möglich zu machen, sind nämlich nicht individuelle Personen, sondern der Staat bzw. die Verbände, die im öffentlichen Auftrag soziale Dienste und Leistungen anbieten. Das nämlich verlangt von der oder dem Einzelnen nicht zu viel.45 Damit ist es eine verbindliche gesellschaftliche bzw. staatliche Aufgabe, die familiäre Sorge und die bürgerschaftliche Solidarität durch professionelle Dienste zu unterstützen, zu ergänzen und, wo dies notwendig ist, zu substituieren. Die Rechte auf Selbstbestimmung und Inklusion von Menschen, die auf Unterstützung und den Abbau von Barrieren angewiesen sind, lassen sich nur dann verwirklichen, wenn sich die gemeinschaftlichen Pflichten zur Förderung der Tugenden, zur Institutionalisierung von sozialen Diensten und Leistungen und zur Schaffung inklusiver Strukturen gegenseitig ergänzen. 9

Fazit

Die Unterzeichnerstaaten der UN BRK haben sich verbindlich verpflichtet, den Paradigmenwechsel von wohltätigkeits- zu rechtebasierten Ansätzen sowohl in der Behindertenpolitik als auch in der praktischen Arbeit mit Menschen mit Behinderungen herbeizuführen. Daran können auch die Inklusions-Kritiker nichts ändern. Die Auseinandersetzung mit den inklusions-kritischen Einwänden hat aber gezeigt, dass ein Menschenrechtsverständnis, in dem Menschenrechte primär als negative Rechte oder Nichtinterventionsrechte aufgefasst werden, in der Tat alle Menschen systematisch aus ihrem Schutzbereich ausschließen, die unter den gegebenen gesellschaftlichen 43

Vgl. ausführlich hierzu Graumann, Assistierte Freiheit, 197 ff. Vgl. den Beitrag von Beate Hofmann et al. in diesem Band. 45 Vgl. Graumann, Assistierte Freiheit, 198–246. 44

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Bedingungen nicht aus eigenen Stücken ihre Rechte wahrnehmen können. Alle Menschen mit Behinderungen können nur dann gleichberechtigt einbezogen werden, wenn Menschenrechtsnormen auch positive Rechte umfassen, das heißt, wenn Ansprüche auf Unterstützung und Assistenz in Abhängigkeit von der individuellen Lebenslage und der Anspruch auf eine barrierefreie Umwelt als berechtigte Forderungen anerkannt werden. Es konnte gezeigt werden, dass diese Ansprüche deshalb als berechtigt ausgewiesen werden können, weil sie mit gesellschaftlichen bzw. staatlichen Solidaritätspflichten einhergehen, die notwendigen sozialen Dienste und Leistungen für die Verwirklichung der menschenrechtsethischen Grundsätze „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ bereitzustellen, und damit einzelne Personen nicht überfordert werden. Das aber ist noch nicht alles. Ob „Selbstbestimmung“ und „Inklusion“ für alle Menschen mit Behinderungen Wirklichkeit wird, hängt auch davon ab, ob sich eine stärkere gesellschaftliche Anerkennung von Menschen mit Behinderungen entwickeln wird und ob sich entsprechende Haltungen oder Tugenden in den „helfenden Berufen“ durchsetzen können. Mit Blick auf die christlich geprägten, diakonischen Handlungsfelder stellt sich dabei nicht die Frage, ob die Behindertenarbeit auch zukünftig wertegeleitet sein soll, sondern welche Werte Orientierung bieten sollen. Das sollten emanzipatorische Werte einer inklusiven Kultur sein, die weder die Autonomie des Menschen noch seine Abhängigkeit von sozialen Beziehungen negieren. Die staatliche Verpflichtung besteht darin, Behindertenfeindlichkeit zu bekämpfen und die strukturellen und institutionellen Bedingungen zu schaffen, die Selbstbestimmung und Inklusion befördern und nicht behindern. Ohne eine „Kultur der Inklusion“ wird eine konsequente Umsetzung der UN BRK nicht gelingen können.

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Gerhard K. Schäfer

1.3 Menschen mit Behinderung in Kirche und Diakonie – eine historische Skizze

Einleitung Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) hat ihre eigene Geschichte.1 Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) setzte 2002 einen „Ad-hoc-Ausschuss für ein umfassendes und integrales Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderungen“ ein. Die Arbeit dieses Ausschusses mündete in das „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“, das am 13. Dezember 2006 durch die Generalversammlung der UN verabschiedet wurde. Deutschland unterzeichnete die UN BRK am 30. März 2007. Durch ein Ratifizierungsgesetz am 21. Dezember 2008 wurde die Konvention als innerstaatliches Recht ab dem 26. März 2009 in Kraft gesetzt. Das Übereinkommen basiert auf der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) und greift auf spezifische Menschenrechtsabkommen zurück – u.a. auf den UNSozialpakt (1966), den UN-Zivilpakt (1966), die UN-Frauenrechtskonvention (1979) sowie die UN-Kinderrechtskonvention (1989). Die UN BRK dekliniert bestehende Menschenrechte weiter, indem sie sie auf die Lebenssituation von behinderten Menschen bezieht. Sie zielt wesentlich auf die „Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und die Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt und der Menschheit“ (Artikel 3d). Das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen gründet in der Tradition der Menschenrechte und führt diese in bestimmter Weise weiter. Darüber hinaus gewinnt die UN BRK klare Konturen auf der Folie der langen Geschichte der Behinderung. Beeinträchtigung und Krankheit, Versehrtheit und Verletzlichkeit gehören zu den Grunderfahrungen des Menschen. Phänomene beeinträchtigten Lebens begegnen zu allen Zeiten und in allen Kulturen und Gesellschaften. Was freilich als Behinderung gilt, ist kontextuell 1

Vgl. den Beitrag von Theresia Degener in diesem Band.

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bedingt. Wahrnehmungen und Erfahrungen von körperlichen oder geistigen Beeinträchtigungen sind jeweils soziokulturell geprägt. Der Status behinderter Menschen ist ebenso unterschiedlich wie die Lebensbewältigung von Menschen mit Beeinträchtigungen. Formen der sozialen Einbindung und der Unterstützung, aber auch der Benachteiligung und Ausgrenzung treten in der Geschichte in höchst unterschiedlicher Weise in Erscheinung. In Form eines groben Überblicks werden im Folgenden geschichtliche Kontinuitäten und Veränderungen in der Wahrnehmung von Behinderung skizziert.2 Dabei stehen insbesondere theologische Deutungen, kirchliche Reaktionen und diakonische Hilfeformen im Fokus. Dies schließt ein zu fragen, wie einschlägige biblische Motive geschichtlich wirksam geworden sind. 1 1.1

Altertum „So sei es Gesetz, kein verkrüppeltes Kind aufzuziehen.“

Kinder, die mit schweren körperlichen Missbildungen auf die Welt kamen, wurden im Altertum häufig kurz nach ihrer Geburt ausgesetzt. Sichtbare Anomalien konnten als Zeichen göttlichen Zorns über menschliche Verfehlungen sowie als Indiz für die Verletzung der kosmischen Ordnung gedeutet werden. Sie erschienen als Ausdruck von Hässlichkeit und damit als manifester Gegensatz zu den Idealen der Schönheit und Vollkommenheit des Menschen. Die verbreitete Praxis, missgebildete Kinder auszusetzen, fand im antiken Griechenland ihre rechtliche Fixierung und philosophische Rechtfertigung. In Sparta – so berichtet Plutarch (ca. 46–120 n.Chr.) – hatten die Gemeindeältesten ein neugeborenes Kind anzusehen und zu prüfen, ob es „wohlgestaltet und stark“ und deshalb aufzuziehen oder „schwach und missgestaltet“ und darum auszusetzen war.3 Im letzten Fall sei ein Weiterleben weder für das Kind selbst noch für die Stadt zumutbar. In Athen musste die Familie über die Aufnahme eines Kindes im Rahmen eines Rituals wenige Tage nach der Geburt eine Entscheidung treffen. Darauf deutet Platon im Theaitetos hin. Es sei – so lässt er Sokrates sagen – die Aufgabe der Wehmütter zu entscheiden, ob ein Neugeborenes als „echtes“ Kind oder „Trugbild“, das heißt als Missgeburt („Mondkalb“), zu gelten habe. Ein missgebildetes Kind sei der Aufzucht nicht wert; die Mutter solle sich

2 Vgl. Braddoc/Parish, An Institutional History of Disability; Bösl/Klein/Waldschmidt (Hg.), Disability History. 3 Zit. n. Neumann, Der mißgebildete Mensch, 24.

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ihres Kindes umgehend „entledigen“.4 Es war schließlich Aristoteles, der in seiner Politik (VII 16.1335b, 20f) auf eine rechtsverbindliche Klärung drang: „Was aber die Aussetzung oder Aufziehung der Neugeborenen betrifft, so sei es Gesetz, kein verkrüppeltes Kind aufzuziehen.“ Dieser Maxime folgten im Wesentlichen auch die Römer. Äußerungen griechischer Philosophen bzw. antiker Autoren dürfen zwar nicht einfach mit dem tatsächlichen Verhalten der Bevölkerung und staatlichen Praktiken gleichgesetzt werden. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die genannten Philosophen die Praxis der Aussetzung von Kindern mit körperlichen Beeinträchtigungen wie selbstverständlich voraussetzen und ihrerseits eine solche Praxis begründen. Gegen die Praxis, sich missgebildeter Neugeborener zu entledigen, wandte sich die christliche Kirche seit dem vierten Jahrhundert in mehreren Konzilsbeschlüssen. Die kirchlichen Verbote scheinen allerdings nur in begrenzter Weise Erfolg gehabt zu haben. Als wirksam erwies sich hingegen das Anbringen von Marmorschalen an Kirchen. In diese Schalen konnten unerwünschte, gerade auch körperlich missgebildete Kinder gelegt werden. Die abgelegten Kinder wurden dann von Pflegefamilien oder kirchlichen Findeleinrichtungen aufgenommen und erzogen. Seit dem 13. Jahrhundert ersetzten drehbare Krippen die Marmorschalen. Vergleichbare Vorkehrungen finden sich zum Teil bis heute. 1.2

Monster – nah und fern

Menschen, die von der als normal geltenden körperlichen Gestalt stark abwichen, konnten als Monster etikettiert werden. „Monster“ – abgeleitet von lateinischen Verben, die „zeigen“ und „warnen“ bzw. „ermahnen“ bedeuten – galten im Altertum als Wunder- und Mahnzeichen. Sie verkörperten das „Andere“ und „Fremde“ in zugespitzter und verdichteter Weise. Einerseits beflügelten sie als außerordentliche Erscheinungen die Phantasie und übten eine eigentümliche Faszination aus. Andererseits hatte ein „Monster“ den Charakter eines bösen Omens. Als Zeichen für nahendes Unheil löste es Angst und Schrecken aus. Diese Doppeldeutigkeit hat sich über die Zeiten hinweg erhalten. Während Monster im Sinne von „Missgeburten“ stets Teil der jeweiligen Lebenswirklichkeit der Menschen waren, existierten vielgestaltige Fabelwesen und exotische Völker nach antiken Vorstellungen an der Peripherie der Welt. Wundersam-anormale Wesen am Rande der Welt sind Gegenstand mythischer Überlieferungen und tauchen in 4

Zit. n. Müller, Der Krüppel, 49.

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antiken Reiseberichten auf. Plinius der Ältere (1. Jh. n. Chr.) hat sie in seiner Naturkunde beschrieben. Vor allem die Schilderungen des Plinius bildeten die Grundlage für die Darstellungen der Fabelwesen im Mittelalter und in der Renaissance. Plinius sah in der Unterschiedlichkeit und Vielgestaltigkeit der menschlichen Wesen „Spielarten der erfinderischen Natur“ (Nat. hist. 7,32). Mit dieser Erklärung hielt er jede moralische Bewertung und gar eine Identifikation des Abweichenden mit dem Bösen sowohl von den fernen exotischen Wesen als auch von den nahen missgebildeten Menschen fern. Augustin übernahm Pliniusʼ Darstellung der am Rand der Welt hausenden Wesen wie der menschlichen Missbildungen. Im Unterschied zu Plinius aber habe der Kirchenvater – so wird behauptet – eine „logische Beziehung zwischen Mißgestalt und der moralischen Kategorie des Bösen“5 hergestellt. Die Welt sei als Schöpfung Gottes grundsätzlich geordnet und schön. Hässliches und Abnormes lasse sich deshalb für Augustin nur denken als Widerspruch gegen die von Gott gewollte Ordnung. Eben diesen, gegen Gottes schöne Schöpfungsordnung gerichteten Aufstand des Willens zeige der Kirchenvater in seiner Deutung der biblischen Noahgeschichte auf. Nach Augustin stammten Fabelwesen und Missgebildete von Ham, dem mittleren Sohn Noahs, ab. Ham aber war gemäß der biblischen Überlieferung verflucht, weil er gegenüber seinem Vater eine schwerwiegende Schuld auf sich geladen hatte. Jegliche Form von Missbildung stehe in der auf Ham zurückgehenden Fluchtradition. Augustin habe mit seiner Deutung die Folgezeit in einer Weise geprägt, die schließlich in eine Dämonisierung Behinderter mündete. Die skizzierte und hartnäckig sich haltende Interpretation wird indes Augustin keinesfalls gerecht. Der Kirchenvater setzt sich in seinem großen Werk „De civitate dei“ (Vom Gottesstaat, Kap. 8) mit der Frage von Missgestalten auseinander. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass jeder, der als Mensch, „das heißt als sterbliches, vernunftbegabtes Lebewesen geboren wird, mag er an Leibesgestalt, Farbe, Bewegung oder Stimme uns noch so fremdartig vorkommen, mag er Kräfte, Teile, Eigenschaften haben, welche er will,“ von Adam, dem „Ersterschaffenen“6, dem Menschen, abstammt. „Monster“ sind für Augustin – anders als in der heidnischen Antike – keine üblen Vorzeichen, die auf eine Störung der gottgewollten Ordnung hinweisen. Missgestaltete sind keine defizitären Geschöpfe; das hieße ja, dass Gott in seinem schöpferischen Handeln Fehler unterlaufen wären. Augustin betont dagegen nachdrücklich: „Gott ist der Schöpfer aller 5

Neumann, 39; vgl. auch Bach, Durch Theologie behindert? und Ahmann, Was bleibt, 406. 6 Augustinus, Vom Gottesstaat, 293f.

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und weiß am besten, wo und wann es angebracht ist oder war, etwas zu schaffen; er versteht sich auch darauf, bald aus gleichen, bald aus verschiedenen Teilstücken das Teppichmuster des schönen Weltalls zu weben.“7 Missgebildete sind von Gott gewollte Geschöpfe und Teil des Heilsplans Gottes, der allerdings als Ganzes für uns Menschen nicht zu übersehen ist. 2

Frühes Mittelalter

Während bei Augustin das systematische Problem im Vordergrund steht, wie Missbildungen mit Gottes Schöpfungshandeln in Einklang zu bringen sind, kommen in frühmittelalterlichen Quellen andere Perspektiven zur Geltung. Erfahrungen insbesondere mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen werden zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert vornehmlich in Wunderberichten und Heiligenlegenden thematisiert.8 Untersuchungen zu Worten wie debilis und debilitas sowie die Analysen von Wunderberichten zeigen, dass Behinderung in unterschiedlichen Bezügen wahrgenommen wurde. Dabei ist wesentlich, dass die verschiedenen Lebens- und Wirklichkeitsbereiche allesamt religiös durchformt waren. Zum Ersten wird debilitas – Behinderung, Gebrechen, Schwäche, Verwundung – im Zusammenhang eines bestimmten Menschenbildes gedeutet: In den Blick kommen gravierende körperliche Funktionsstörungen vor allem der Gliedmaßen. Lähmungen und Gehbehinderungen bilden sichtbare, langwierige Beeinträchtigungen, die primär den Körper betreffen, aber auch mit einer Einbuße an Lebenskraft und einer Beeinträchtigung der Seele verbunden sein können. Physische Beeinträchtigungen verweisen darauf, dass der Mensch, die „Krone der Schöpfung“, immer auch schwach, anfällig und verletzlich ist. Zum Zweiten erscheinen die auf Unterstützung angewiesenen Personen als wertgeschätzte Mitglieder von Solidargemeinschaften. Menschen mit körperlichen Handicaps erhielten Hilfe in erster Linie durch die Familie und darüber hinaus durch Nachbarn, die Dorfgemeinschaft, Arbeitskollegen oder den jeweiligen Herrn. Solche Hilfe galt als Ausdruck christlicher caritas. Bemerkenswert ist, dass die Menschen mit Behinderungen nirgends als Personen geschildert werden, die in ihrem sozialen Wert eingeschränkt sind oder der Gemeinschaft zur Last fallen.

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Augustinus, Vom Gottesstaat, 294. Vgl. Goetz, Debilis; Horn, Überleben in der Familie; Lutterbach, Der Christus medicus; Nolte, Devotio christiana. 8

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Drittens konnten in zeitgenössischer Sicht schwerwiegende Handicaps durch ein Wunder – und nur dadurch – geheilt werden. In der Vita des Heiligen Fridolin aus dem 10. Jahrhundert wird beispielsweise die Heilung eines erwachsenen Mannes geschildert, der seit seiner Kindheit an Armen und Beinen gelähmt und dazu noch taubstumm war. Seine Eltern brachten den Schwerbehinderten am Fest des Fridolin zu der Kirche des Heiligen. Der Mann wurde während der Messe, auf dem Grab des Heiligen liegend, geheilt.9 Der Bericht über das Wunder zeigt, wie die Familie, die zuhause mit ihrer Fürsorge das Überleben des Behinderten sicherte, mit einer Wallfahrt die Möglichkeit einer Heilung eröffnete. Die Beteiligung an einer Wallfahrt erforderte beträchtliche Unterstützungsleistungen. Dies galt umso mehr für Verkrüppelte und Lahme, aber auch für Blinde und Taubstumme, die sich manchmal über Wochen und Monate in Außenbereichen von Kirchen aufhielten, bis sie Zugang zum Innenraum erhielten, um in unmittelbare Nähe zu einem Grab oder zu Reliquien von Heiligen zu gelangen. Gut situierte Menschen mit schweren Beeinträchtigungen wurden in dieser Zeit von Angehörigen verpflegt. Die Masse der Abhängigen und Unfreien war dagegen deutlich benachteiligt. Sie hatten zumeist nur dann die Gelegenheit, in das Kraftfeld eines Heiligen zu kommen, wenn ein frommer Herr oder eine fromme Herrin dafür Sorge trug. Eine Wallfahrt oder ein Aufenthalt an bestimmten Kirchen erfolgte in der Hoffnung auf Heilung. Zugleich dienten sie der Förderung und symbolischen Darstellung von sozialer Teilhabe und Zusammengehörigkeit. Die Zugehörigkeit eines beeinträchtigten Menschen zu einer sozialen Gruppe konnte öffentlich zum Ausdruck gebracht werden. Die Anerkennung eines Behinderten wurde inszeniert – vor Gott, vor Geistlichen und der kirchlichen Gemeinde. Wenn es schließlich zu einer wundersamen Heilung kam, so wurde darin die Kraft (virtus) von Heiligen wirksam. Die Heiligen galten als Vermittler göttlichen Heils und als heilige Ärzte. Viertens sind die Verschiebungen aufschlussreich, die die theologische Deutung von Behinderung betreffen. Gregor (538–594), seit 573 Bischof von Tours, der Stadt des heiligen Martin, steht beispielhaft für Vorstellungen im frühmerowingischen Frankenreich. Für Gregor bestand ein kausaler Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit bzw. Behinderung. Die Sünde, als deren Strafe ein Gebrechen galt, konnte dabei von dem Betroffenen selbst oder seinen Eltern oder – kollektiv – von einem Volk begangen worden sein. Aus Sünde – so Gregor von Tours – erwachsen Krankheit und Behinderung. Diese können wiederum Gott als pädagogisches Mittel zur Besserung von 9

Vgl. Horn, Überleben in der Familie, 308.

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Einzelnen oder des Volkes insgesamt dienen, bevor es durch die Kraft eines Heiligen zur Heilung kommt. Gregor vertrat also einen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der der neutestamentlichen Auffassung, wie sie vor allem in Joh 9 zur Geltung kommt, deutlich widerspricht. Instruktiv ist, dass das Erklärungsmodell von Behinderung bzw. Krankheit als Folge der Sünde in der Folgezeit zurücktrat, ja verschwand. In einschlägigen Quellen des 9. und 10. Jahrhunderts taucht es kaum oder gar nicht mehr auf. Für die Mittelalterforschung war die These lange Zeit leitend, dass der Tun-Ergehen-Zusammenhang für die Religiosität frühmittelalterlicher Menschen fundamental gewesen sei. Diese pauschale Annahme wird den Quellen jedoch nicht gerecht. Tatsache ist freilich auch, dass das Erklärungsmodell, das körperliche Missbildung als Sündenstrafe versteht, im Lauf der Geschichte immer wieder eine Rolle gespielt hat. Eindrucksvoll ist schließlich die Geschichte des Benediktinermönchs Hermann (1013–1054). Der aus einem schwäbischen Adelsgeschlecht abstammende Hermann war wohl von Geburt an stark verkrüppelt. Seine Glieder waren – das berichtet ein Zeitgenosse – „auf so grausame Weise versteift, dass er sich von der Stelle, an die man ihn setzte, ohne Hilfe nicht wegbewegen, nicht einmal auf die Seite drehen konnte.“10 Aufgrund der Lähmung von Mund, Zunge und Lippen konnte er sich nur sehr schwer artikulieren. Hermann der Lahme oder Hermann Contractus fand im Kloster Reichenau am Bodensee einen Raum der Geborgenheit und der Bildung, der Hilfe und Spiritualität, der es ihm ermöglichte, seine Gaben zu entfalten. Er entwickelte sich zu einem Universalgelehrten. Hermann gilt als bedeutender Chronist und Komponist. Er machte insbesondere das bis dahin ausschließlich auf Arabisch überlieferte Wissen in Mathematik und Astronomie zugänglich und wurde so zu einer wichtigen Gestalt in der abendländischen Wissenschaftsgeschichte. Hermann wurde als Wunder des Jahrhunderts bestaunt – ein Zeichen natürlich auch dafür, dass es eben damals und für das folgende Jahrtausend in Europa alles andere als normal war, dass Behinderte Forscher und gar Forscherinnen waren. 3

Spätes Mittelalter

3.1

„Würdige“ und „unwürdige“ Arme

Das Spätmittelalter ist im Blick auf die Deutung von Behinderung und den Umgang mit Behinderten von einer tiefen Widersprüchlich10

Zit. n. Aly, Die Belasteten, 276.

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keit gekennzeichnet: Behinderte galten nicht als rechtsfähig. Körperkraft und Recht waren im mittelalterlichen Denken eng aufeinander bezogen. Entsprechend war die Freiheit von körperlichen Gebrechen und Defekten eine Bedingung für die Lehns- und Erbfähigkeit, von der sog. Krüppelkinder ausgeschlossen blieben.11 Verwiesen waren behinderte Menschen hingegen auf die Barmherzigkeit, die als verpflichtende Forderung für Christen galt. Das Almosengeben wurde zu einem Massenphänomen. Vor allem Angehörige der bürgerlichen Elite in den Städten übernahmen soziale Verantwortung, die sich insbesondere in Stiftungen (Spitäler, Hospize, Leprosenhäuser) äußerte. Breitenwirksam wurde ein Denken, das das Verhältnis von Reichen und Armen – und dazu gehörten die meisten Menschen mit schweren körperlichen Beeinträchtigungen – als eine Art Tauschbeziehung und Gesellschaftsvertrag auffasste: Der Reiche ist verpflichtet, seine irdischen Güter, die ihm gleichsam als Lehen anvertraut sind, mit den Armen zu teilen. Der Arme hat einen Anspruch darauf, dass ihm Barmherzigkeit erwiesen wird. Als Gegenleistung hat er für das Seelenheil des Wohltäters zu beten. Bei diesem System waren Arme und Behinderte gesellschaftlich integriert. Zugleich aber brachte die Wohltätigkeit die Standesunterschiede anschaulich zur Geltung und verfestigte sie. Soweit die Unterstützung der primären Sozialformen, vor allem der Familie, nicht ausreichte, waren körperlich Behinderte darauf angewiesen, zu betteln, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Der Bettel stellte eine gesellschaftlich akzeptierte Einrichtung dar. Betteln war nichts Ehrenrühriges, sondern normal. Seit dem 14. Jahrhundert übernahmen die Städte zunehmend soziale Verantwortung. Die Armenfürsorge sollte systematisiert, der Bettel eingeschränkt und die Almosenabgabe kanalisiert werden. Im Zuge der neuen Armutspolitik wurden die Unterscheidungen zwischen Armen, Bedürftigen und Bettlern verfeinert und systematisiert. Die Differenzierung zwischen „würdigen“ und „unwürdigen“ Armen, der bis zum Ende des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus Geltung zukam, verlief entlang der kategorialen Dichotomien von Arbeitsfähigkeit und Arbeitswille bzw. Müßiggang einerseits sowie „einheimisch“ und „fremd“ andererseits. Diese Kategorien markieren elementare Integrations- und Exklusionsmechanismen der europäischen Gesellschaft im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit. Körperlich Behinderte oder Versehrte gehörten zu den „würdigen“ Armen, denen das Betteln gestattet war und die ein Anrecht auf Unterstützung hatten. Beispielsweise traf die Nürnberger Bettelordnung von 1478 folgende Regelung: Bettler und Bettlerinnen, die Krüppel, 11

Vgl. Borst, Alltagsleben, 487.

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lahm oder blind waren, konnten an Werktagen an bestimmten Bettelplätzen vor den Kirchen betteln, während die nicht schwer physisch Beeinträchtigten werktags Arbeiten ausführen sollten, zu denen sie imstande waren.12 Die Einführung von Bettelzeichen zielte darauf, die unterstützungsberechtigten Bedürftigen erkennbar zu machen. Zugleich hatten die Zeichen aber eine stigmatisierende Wirkung. Den Gegenpol zu den „würdigen“ Armen bildeten diejenigen, deren Armut gesellschaftlich nicht anerkannt war: Personen, die als arbeitsfähig galten, aber nicht als arbeitswillig, die „unehrenhaften“ Armen und „falschen“ Bettler. Sie hatten keinen Anspruch auf Unterstützung und glitten meist in die Nichtsesshaftigkeit ab. Praktiken der Täuschung gehörten zu den Lebens- und Überlebensstrategien der vagierenden Bettler. Professionelle Bettler simulierten Geisteskrankheiten und suchten mit der Darstellung körperlicher Behinderung Mitleid zu erwecken. „Die Behinderung konnte zum ‚Arbeitsinstrument‘ werden, wenn sie richtig in Szene gesetzt wurde: das fehlende Auge, der lahme Arm, das Vorzeigen eines Armstumpfes.“13 Das Vortäuschen verschiedenster Formen körperlicher Gebrechen und seelischen Leidens spiegelt sich im populären „Liber vagatorum“ (Buch der Vaganten, 1509/10), in dem zugleich die verschärfte Kritik am beruflichen Bettel wie an der Bettelei insgesamt zu Beginn des 16. Jahrhunderts seinen markanten Ausdruck fand. Die Praktiken der vagierenden professionellen Bettler wirkten auf die Wahrnehmung der körperlich Behinderten insgesamt zurück. Greifbar wird dies z.B. bei Hieronymus Bosch (1450–1516), in dessen Werken das Motiv des Krüppelbettlers eine große Rolle spielt. Dabei liegen körperliche Missbildung, moralischer Unwert und Dämonisierung unmittelbar beieinander.14 3.2

Leprosen

Als Inbegriff von Krankheit und Behinderung galten die Leprosen oder Aussätzigen. Gegen die Lepra kannte das Mittelalter kein Heilmittel. Die Krankheit rief massive Veränderungen an Haut, Nerven und Knochen hervor: Geschwüre, Knoten und Verstümmelungen. Aussätzige sahen im Endstadium der Krankheit mitleiderregend und abschreckend aus. Barmherzigkeit auf der einen und Schutz der gesunden Bevölkerung vor Ansteckung auf der anderen Seite bestimmten die Maßnahmen, die in Europa seit etwa dem 5. Jahrhundert zunächst von Bischöfen, dann von Klöstern sowie Laienbruderschaften 12

Vgl. Sachße/Tennstedt, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland 1, 65. Rheinheimer, Arme, Bettler und Vaganten, 143. 14 Vgl. Sachße/Tennstedt, Bettler, Gauner und Proleten, 46. 13

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und schließlich von den Städten ergriffen wurden. Im Umfeld größerer Städte entstanden seit dem 11. Jahrhundert spezielle Hospize für Leprosen. Die Leprosorien wurden vor den Stadtmauern an Verkehrsknotenpunkten, stark frequentierten Straßen oder schiffbaren Flüssen angelegt. Die Aussätzigen sollten abgesondert und zugleich so untergebracht werden, dass sie sich Almosen erbetteln konnten. Der Akt der Aussetzung hatte den Charakter einer Aussegnung. Der „soziale“ Tod wurde rituell vollzogen und der physische Tod antizipiert – in der Aussicht auf das ewige Leben. Soweit sich das sagen lässt, ist es tatsächlich gelungen, den Leprosen – unter den Bedingungen und nach den Maßstäben der Zeit – ein „menschenwürdiges Leben bis zum Tod in der Gemeinschaft von Leidensgenossen zu sichern“15. 3.3

„Irre“, „Wahnsinnige“, „Narren“

In starkem Kontrast zu dem insgesamt als durchaus positiv zu beurteilenden Umgang mit den Leprosen stand das Verhalten gegenüber „Geisteskranken“ und geistig Behinderten. Die beiden Gruppen lassen sich für das Mittelalter nicht unterscheiden. Mit den geläufigen Begriffen „Irre“, „Wahnsinnige“, „Narren“ etc. waren sowohl geistig behinderte wie psychisch kranke Menschen gemeint. Die mittelalterlichen Menschen standen geistig Behinderten mit einer eigenartigen Mischung aus Angst und Mitleid, Scheu und Verständnislosigkeit, Neugier und Rohheit gegenüber.16 Irre und Kranke von Sinnen galten – auch wenn sie sich aggressiv verhielten – als für ihr Handeln nicht verantwortlich. Sie waren rechtlich handlungsunfähig. Deshalb erhielten sie Vormünder und Pfleger – zumeist aus dem Kreis der nahen Verwandten. Es ist davon auszugehen, dass die meisten der geistig behinderten Menschen in ihren Familien lebten oder von Verwandten versorgt wurden und insofern sozial eingebunden waren. Wer freilich nicht mit familiärer Solidarität rechnen konnte und dazu noch als gefährlich galt, wurde gezeichnet und ausgesondert. Schwer geistig Behinderte oder psychisch Kranke hatten auffällige Kleidung und Schellen zu tragen, damit die Umgebung rechtzeitig vor ihnen gewarnt war. Seit dem 14. Jahrhundert entwickelten Städte besondere Einrichtungen, die der Absonderung der Irren dienten. In Doren- und Tollkisten wurden die als aggressiv und gefährlich geltenden Geisteskranken eingesperrt – wie Tiere in Käfigen. Aufgestellt waren die Kisten zumeist vor den Toren der Stadt. Die Wahnsinnigen konnten so vom Mitleid der Passanten profitieren und Almosen erbitten. Zu15 16

Irsigler, Mitleid und seine Grenzen, 167. Vgl. Irsigler/Lassotta, Bettler und Gaukler, Dirnen und Henker, 93.

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gleich waren sie dem Spott von Kindern und Erwachsenen schutzlos ausgesetzt. In die Narrentürme wurden vermutlich solche geistig Behinderten eingesperrt, deren Angehörige für den Lebensunterhalt der Irren aufkommen konnten. Wegsperren der gefährlichen Irren war das eine, das Zurschaustellen der „natürlichen“, d.h. der geistesschwachen, und der „künstlichen“ Narren, der gesunden und häufig witzigen Spaßmacher, war das andere. Narren waren Objekte der Volksbelustigung auf Jahrmärkten und wurden – ursprünglich als Antitypen zur Figur des weisen Herrschers – an den Königs- und Fürstenhöfen mit ihrem schier grenzenlosen Bedürfnis nach Unterhaltung und Spottlust gehalten. Bei Menschen mit einer geistigen Behinderung oder einer psychischen Krankheit wurde vielfach eine Besessenheit durch böse Geister oder den Teufel unterstellt. Entsprechend zielten exorzistische Riten auf eine Befreiung von den dämonischen Mächten. Ansonsten blieb den schwer geistig Behinderten als Alternative zur Einsperrung oft nur die Hoffnung auf eine Wunderheilung. Solche Hoffnung wurde genährt durch Wallfahrtsorte, die speziell auf die Heilung von Geisteskranken ausgerichtet waren. Es ist ebenso augenfällig wie erklärungsbedürftig, dass im Spätmittelalter, der Zeit der Gründung vieler sozialer Institutionen, kaum karitative Einrichtungen für geistig Behinderte bzw. Kranke ins Leben gerufen wurden. Nahe liegt die Annahme, dass Geistesschwachen – im Unterschied zu anderen Hilfebedürftigen – nicht zugetraut wurde, effektiv für das Seelenheil potenzieller Stifter Fürbitte zu leisten. Hinzukam die Angst vor den unheimlichen und mit dem Bösen in Verbindung gebrachten Irren. Schließlich förderten professionelle Bettler und bettelkritische Schriften das Misstrauen, dass Epilepsie und Narrheit nur vorgetäuscht seien, um Mitleid zu erregen. Theorieansätze gehen davon aus, dass die spätmittelalterliche Praxis des Wegsperrens der Irren ihre systematische Fortsetzung in den folgenden Jahrhunderten fand.17 Die Zeit zwischen 1650 und 1800 ist als „Epoche der administrativen Ausgrenzung der Unvernunft“18 charakterisiert worden. Demgegenüber zeichnen Lokalstudien ein differenziertes Bild. Das 1601 in Lübeck gegründete „Haus der armen Unsinnigen“ z.B. fußte nicht auf der Logik des Wegsperrens und der Disziplinierung. Es basierte vielmehr auf dem Hospizgedanken. Die christliche Prägung des Hauses bedingte eine humane Behandlung der Geisteskranken. Instruktiv ist, dass in den Eintragungen des Protokollbuchs in keinem Fall Gott als der genannt wird, der die Krankheit bzw. Behinderung verhängt hat. Er wird nie als Strafender 17 18

Vgl. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft; Dörner, Bürger und Irre. Dörner, Bürger und Irre, 28.

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bezeichnet, sondern kommt durchweg als Helfer in Leid und Bedrängnis zur Sprache.19 4

Reformation – das Beispiel Martin Luther

Die Reformation hat dazu beigetragen, die Kommunalisierung der Armenfürsorge voranzutreiben und zu stärken. Martin Luther (1483– 1546) schärfte die soziale Verantwortung der Obrigkeit wirksam ein. Im Blick auf Phänomene von Behinderung und den Umgang mit Behinderten begegnet bei Luther indes höchst Widersprüchliches. 4.1

Rehabilitierung der Taubstummen

Luther hat der neuzeitlichen Beurteilung der Taubstummheit den Weg bereitet.20 Taubstumme galten in der Tradition des Aristoteles als nicht bildungsfähig. Aus Augustins Lehre von der Wortgebundenheit des Glaubens ließ sich die Ausschließung der Tauben vom Heil überhaupt ableiten. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass Luther, der – wie Augustin – dem Wort höchste Bedeutung für das Verständnis der göttlichen Offenbarung und der Konstitution des Glaubens beimaß, die Taubstummen theologisch rehabilitierte. Er hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Taubstumme am Abendmahl teilnehmen dürften und damit als gleichberechtigte Glieder der christlichen Gemeinschaft anzuerkennen wären. Der Reformator lehnte den Vorschlag, die Taubstummen mit ungesegneten Hostien gleichsam abzuspeisen, strikt ab. „Dieser Schimpf“ – so Luther – „ist nicht gut, wird Gott auch nicht gefallen, der sie so gut zu Christen gemacht hat wie uns; ihnen gebührt das Gleiche wie uns. Darum, wenn die Stummen bei Vernunft sind und man aus sicheren Anzeichen merken kann, daß sie es aus rechter christlicher Andacht begehren, wie ich oft gesehen habe, so soll man dem heiligen Geist sein Werk lassen und ihm nicht versagen, was er fordert. Es kann sein, daß sie innerlich ein höheres Verständnis und einen höheren Glauben haben als wir, und dem soll niemand frevelhaft widerstreben. […] Christus ließ die Kinder zu sich kommen und wollte nicht dulden, daß jemand sie abwehrt (Mark. 10,14). So hat er seine Wohltat auch weder Stummen noch Blinden noch Lahmen versagt. Warum sollte dann sein Sakrament nicht auch denen zuteil werden, die es herzlich und christlich begehren.“21 19

Vgl. Lutz, Zwischen Andacht und Aderlass. Vgl. Gewalt, Taube und Stumme. 21 Luther, Ein Sermon von dem neuen Testament, 112f. 20

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Luther sah in der Taubstummheit ein Werk des Teufels. Gegen das destruktive Agieren des Teufels geht Christus mit seinem heilbringenden Wirken vor. In dieses Wirken wird der Mensch durch die Taufe ohne Vorbedingungen wirksam einbezogen. Die heilsame Zuwendung Gottes wird im Abendmahl je und je aktualisiert. Taubstumme, die durch die Taufe in den gnädigen Bund Gottes einbezogen sind, sind voll berechtigt, am Abendmahl teilzunehmen. Mit dieser Argumentation hat Luther die Taubstummen kirchlich rehabilitiert. Die kirchliche Rehabilitation schloss nach Luther auch die politische Gleichberechtigung ein. Diese wurde allerdings erst in der Zeit der Aufklärung verwirklicht. Zugleich eröffnete die Taubstummenpädagogik, die durch die Pionierarbeiten von Abbé de l‘ Epée und Samuel Heinicke entscheidende Impulse erhielt, seit dem 18. Jahrhundert neue Bildungshorizonte – für eine Gruppe, die seit der Antike als bildungsunfähig angesehen wurde. 4.2

Verteufelung der „Wechselbälger“

Luthers Aussagen zu den Taubstummen haben in der einschlägigen neueren Literatur wenig Beachtung gefunden. Häufig zitiert wird hingegen sein Rat, einen „Wechselbalg“ zu töten. Luther hat sich mehrfach zum Thema „Wechselbälger“ geäußert. Zentral ist die Tischrede Nr. 5207. Sie ist in drei Fassungen überliefert, denen Folgendes gemeinsam ist: Luther nahm Stellung zum Fall eines Kindes, das wir heute wohl als schwer geistig behindert ansehen würden, das er aber für einen „Wechselbalg“ hielt: „Der verschlang so viel wie vier Bauern und tat nichts anders als zu essen und zu kacken.“ Luther empfahl, das Kind zu töten – mit der Begründung, es handle sich hier um eine „Fleischmasse ohne Seele“. Diese sei nicht menschlichen Ursprungs, sondern vom Teufel gezeugt. Der Begriff „Wechselbalg“ tauchte im 11. Jahrhundert erstmals auf. Er bezeichnete einen Säugling (Balg), der einer Wöchnerin im Austausch gegen ihr eigenes Kind vom Teufel untergeschoben wurde. Diese Vorstellung war im Mittelalter verbreitet. Luther teilte sie wie selbstverständlich. Luther sah in dem besagten Kind keinen Menschen, sondern eine teuflische Kreatur. Die Tötung des Wechselbalgs war für ihn ein Ausdruck des Kampfes gegen den Teufel. Als „Mensch zwischen Gott und Teufel“22 interpretierte Luther seine Gegenwart als Endzeit des Kampfes zwischen dem menschenfreundlichen Gott und dessen Widersacher, der, angestachelt durch die Neuentdeckung des befreienden Evangeliums, unter den verschiedenartigsten Masken sein destruktives Werk trieb. Die mittelalter22

Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel.

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liche Vorstellung von den „Wechselbälgern“ bildete ein Element in dieser Denkwelt. Luthers Bemerkungen lassen sich nicht einfach als vereinzelte Gelegenheitsaussagen oder als Kuriosität am Rande abtun. Sie bilden allerdings auch nur einen Punkt in Luthers Anschauungen, aber allemal einen dunklen Fleck in der Geschichte des Protestantismus. Die Annahme physischer Teufelskindschaft verstellte Luther den Weg zur Annahme „vom Teufel geschlagener, aber von Christus angenommener Kreatur, den er im Fall der Taubstummen fand.“23 5

Entwicklungen im 19. Jahrhundert

5.1

Die Entstehung von Rettungshäusern

Neue Impulse evangelisch motivierter Zuwendung zu Menschen in Not entstanden in Deutschland seit Anfang des 19. Jahrhunderts. Mit der sog. Rettungshausbewegung entwickelten sich Erziehungseinrichtungen, die verwahrlosten Kindern und Jugendlichen eine Lebensperspektive zu eröffnen suchten. Die Rettungshäuser bildeten einen Gegenentwurf zu den Arbeits- und Zuchthäusern, die sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbreiteten. Kranke und Irre, Arme, Arbeitslose und aufsässiges Gesinde, Waisen und missratene Kinder wurden – kaum voneinander getrennt – in den Häusern untergebracht. Notdürftige Versorgung, Strafe, Disziplinierung und Arbeitszwang prägten die Einrichtungen. Die Rettungshäuser hatten demgegenüber eine deutlich andere Zielsetzung. Inspiriert durch pädagogische Ideen Johann Heinrich Pestalozzis (1746–1827), rief Johannes Daniel Falk (1786–1826) 1813 in Weimar die „Gesellschaft der Freunde in der Not“ ins Leben. Sie nahm sich – in den Wirren des Krieges gegen Napoleon – verwaister, vagabundierender, auch behinderter Kinder an. Das bekannteste Rettungshaus wurde das 1833 von Johann Hinrich Wichern (1808–1881) gegründete Rauhe Haus in Horn bei Hamburg. Wichern nahm die prekären Lebensverhältnisse der großstädtischen Unterschicht, insbesondere der Kinder, präzise wahr. Er beschrieb die Welt der Armen, zu der auch und gerade Kinder gehörten, die verkrüppelt, „verlähmt“24 oder blind waren. Wichern konzipierte die neue Einrichtung für die, die als erziehungsunfähig galten, die gemeinhin als hoffnungslose Fälle abgeschrieben wurden und in den vorhandenen Anstalten der Erziehung und der Armenhilfe keinen Platz fanden. Freiheit, Individualisierung und 23 24

Gewalt, Sonderpädagogische Anthropologie und Luther, 110f. Wichern, Hamburgs wahres und geheimes Volksleben, 34.

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Subjektorientierung waren die leitenden Prinzipien der Erziehung im Rauhen Haus, mit der die moderne Sozialpädagogik ihren Anfang nahm. Wichern hat zwar Phänomene von körperlicher und geistiger Behinderung bei Kindern und Jugendlichen durchaus wahrgenommen. Diese fanden aber in der Pädagogik des Rauhen Hauses keine spezifische Berücksichtigung. Auch in den weiteren Initiativen der Inneren Mission, die 1848 mit der Gründung des Centralausschusses für die Innere Mission eine Bündelung erfuhren, blieben die Unterstützungsbemühungen, die sich auf die Belange von Menschen mit Behinderungen richteten, zunächst marginal. 5.2

Die Bildbarkeit der Taubstummen

Wicherns Konzeption des Rauhen Hauses zielte darauf, ein qualitativ neues pädagogisches Arrangement zu etablieren. Das Rettungshaus wollte Raum bieten zur Förderung und Bildung für verwahrloste Jugendliche, denen mit staatlicher Repression, polizeilicher Kontrolle und herkömmlichen Formen der Armenschule und -fürsorge nicht beizukommen war. Das Rauhe Haus wurde bewusst und konsequent frei von staatlichen Einflüssen konzipiert. Nur so ließ sich der pädagogische Anspruch Wicherns im Blick auf die verwahrlosten Kinder und Jugendlichen der städtischen Unterschicht verwirklichen. Anders lagen die Dinge bei den Gruppen der Blinden und Taubstummen. Im Zuge der Durchsetzung des humanistischen Bildungsideals fand die Bildbarkeit der taubstummen und blinden Kinder zunehmende Anerkennung. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die staatliche Bildungsverantwortung für diese Gruppen von Behinderten allmählich in die Praxis umgesetzt. Politisch kam dabei beispielsweise in Sachsen die Absicht zum Tragen, Kinder nicht in speziellen Taubstummenschulen zu unterrichten, sondern den Taubstummenunterricht als Bestandteil der Elementarschulen zu gestalten. In diesem Zusammenhang wurden Pfarrer verpflichtet, taubstumme Kinder zu melden, damit kirchliche und staatliche Stellen über die Zahl der betroffenen Kinder informiert waren. Zugleich wurde von Pfarrern erwartet, Konfirmandenunterricht für Taubstumme zu erteilen. Sie waren damit freilich ebenso überfordert wie die Elementarschullehrer, die zum größten Teil keinerlei zusätzliche Ausbildung erhielten. Die Verallgemeinerung der Taubstummenbildung – Ähnliches gilt für die Blinden – stieß in der Praxis auf große Schwierigkeiten, nicht zuletzt aus finanziellen Gründen. In der Folge wurden betroffene Kinder und Jugendliche verstärkt in besonderen Taubstummenanstalten untergebracht.

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5.3

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Die Bildbarkeit der „Blödsinnigen“

Während die staatliche Verantwortung für die Taubstummen und Blinden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts grundsätzlich Anerkennung gefunden hatte, galt dies für die „Geistesschwachen“ nicht. Auch in der Bewegung der Inneren Mission fanden die Belange geistig Behinderter in den ersten Jahren wenig Aufmerksamkeit. Dies änderte sich erst mit der 1857 erschienenen Schrift von Julius Disselhoff „Die gegenwärtige Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten in christlichen Ländern“. Sein „Noth- und Hülferuf für die Verlassensten unter den Elenden“ geißelte die Situation in Preußen scharf. Zeitgenössischen Stimmen, die Cretine als Monstrositäten beschrieben und als „Entartung“ des Menschengeschlechts sowie als tierische Wesen beurteilten, setzte er seine innerste Überzeugung entgegen: „[D]er vollendetste Cretin ist dem Wesen nach derselbe, der ich bin“25. Der Kaiserswerther Pfarrer konnte international auf eine Reihe von Anstalten und damit verbundene pädagogische Erfolge verweisen – die berühmte „Heilanstalt für Cretinitismus“, die Johann Jakob Guggenbühl auf dem Abendberg bei Interlaken 1841 gegründet hatte, Unterrichts- oder Heilanstalten für schwach- und blödsinnige Kinder in Württemberg sowie die Anstalt im fränkischen Neuendettelsau. Im Vergleich zu vielen seiner Zeitgenossen vertrat Disselhoff einen erstaunlich reduzierten Paternalismus. In seiner Darstellung pionierhafter Initiativen hebt er bemerkenswerterweise auf die Talente der geistig Behinderten, deren religiöses Gefühl und Selbstbewusstsein sowie auf die Erziehung des ganzen Menschen ab und darauf, dass der Aufenthalt in einer Anstalt für Betroffene in vielen Fällen zeitlich begrenzt war. Disselhoff trat entschieden für die „Bildsamkeit“, die Bildungsfähigkeit der „Blödsinnigen“ ein: „Es kann, wenn die Hülfe zu rechter Zeit erscheint, das Selbst- und Gottesbewußtsein dieser scheinbar Bewußtlosen geweckt und erweitert werden; sie lassen sich in nicht seltenen Fällen sogar zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesellschaft und zu lebendigen Bürgern des Gottesreiches erziehen.“26 In dieser Perspektive rief Disselhoff Einzelne, Vereine der Inneren Mission und katholische Orden, Kirche und Staat zum Handeln, d.h. insbesondere zur Gründung entsprechender Anstalten auf. Der preußische Staat reagierte auf Disselhoffs Schrift, indem er die Gründung solcher Anstalten grundsätzlich befürwortete, aber in erster Linie der Privatwohltätigkeit zuwies. In Kreisen der Inneren Mission stieß der Notruf Disselhoffs auf großes Interesse. Er trug ent25 26

Disselhoff, Die gegenwärtige Lage, 8. Disselhoff, Die gegenwärtige Lage, 157.

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scheidend dazu bei, diakonische Behindertenarbeit als spezifisches Handlungsfeld zu entwickeln. Disselhoffs ebenso leidenschaftlicher wie sachkundiger Aufruf führte unmittelbar dazu, dass 1859 die evangelische Anstalt „Hephata“ für blödsinnige Kinder Rheinlands und Westfalens in München-Gladbach (Mönchengladbach) eröffnet wurde. In den folgenden Jahren kam es in Deutschland zur Gründung weiterer Anstalten. Im Jahr 1901 gab es 79 evangelische Einrichtungen, in denen ca. 15.000 Menschen mit Behinderungen und psychischen Problemen lebten, für deren Erziehung, Pflege und Betreuung rund 3.200 Mitarbeitende Sorge trugen. 5.4

Lebensraum Anstalt

Bei Julius Disselhoff erscheint die Anstalt als Ort, an dem behinderte Kinder und Jugendliche in der Regel auf Zeit in intensiver Weise gefördert werden. Als Ziel stand ihm die gesellschaftliche Reintegration der Behinderten vor Augen. Die Bildung durch die Anstalt sollte grundsätzlich zur Teilnahme an den „normalen“ Lebenszügen in Familie, Schule und Arbeit befähigen. In Wirklichkeit allerdings entwickelten sich die Anstalten in anderer Weise. Sie nahmen zunehmend Züge an, die unter dem Stichwort der „totalen“ Institution beschrieben und kritisiert worden sind. Wichtig ist freilich, dass diese Charakterisierung rückgebunden bleibt an die geschichtlichen Bedingungen der Anstaltsgründungen und die Kritik zumindest die Beweggründe der Akteure zur Kenntnis nimmt und durch eine Würdigung der entsprechenden Motive hindurchgegangen ist. Auf drei evangelische Anstaltungsgründungen des 19. Jahrhunderts sei kurz eingegangen. Anstalten für geistig Behinderte wurden im Sinne einer Sonderwelt konzipiert. Sie gewannen Gestalt als „Sozialgefüge eigener Art“27. Deutlich wird dies am Beispiel der von Pfarrer Wilhelm Löhe (1808– 1872) 1854/1855 in Neuendettelsau ins Leben gerufenen „Anstalt für Blöde und Schwachsinnige“. Zeitgleich mit der Einrichtung für Behinderte gründete Löhe eine Diakonissenanstalt. Beide Anstalten waren konzeptionell miteinander verflochten. Die Diakonissen stellten das Personal für die Betreuung der Kinder und Jugendlichen. Aufgenommen wurden zunächst vor allem Kinder aus armen Verhältnissen. Diese Kinder konnten keine Pflegesätze beibringen, sodass die Anstalt rasch in finanzielle Schwierigkeiten geriet. Nur dank des selbstlosen Einsatzes der Diakonissen konnte die Einrichtung am Leben gehalten werden. Die Behinderteneinrichtung stellte für Löhe eine 27

Störmer, Behindertenhilfe, 502.

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„schöne Insel“ dar. Sie sollte eine „Welt in der Welt“28 sein. Ziel war nicht eine gesellschaftliche Reintegration der behinderten Kinder und Jugendlichen, sondern deren lebenslange Unterbringung in der Anstalt. Gegenüber der Welt, in der die geistig behinderten Kinder weitgehend ohne jegliche Förderung blieben, in Armut lebten und Erfahrungen der Exklusion machten, bot die neue Welt der Anstalt eminente Bildungs- und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Anstalt war insofern gleichsam ein Ort der Erfahrung von Inklusion. In Löhes Theologie meint „Welt“ zugleich den Bereich des Widergöttlichen, Bösen, Schädlichen. Die Abwendung von dieser Sphäre war mit der Lebensform der Diakonissen eng verflochten. Als eine Art Gegenwelt sollte die Anstalt durch eine Lebensgemeinschaft in der Nachfolge Jesu geprägt sein. Dazu gehörte, dass die Diakonissen gemeinsam mit den ihnen anvertrauten Kindern lebten. Die Diakonissen-Mutter und ihre Kinder – durch diese Beziehungskonstellation gewann die „Welt in der Welt“ Gestalt. Fürsorge und Geborgenheit waren Kennzeichen des Lebens in der Anstalt. Zum wichtigsten Protagonisten protestantischer Anstaltsfürsorge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Pfarrer Heinrich Matthias Sengelmann (1821–1899). Er gründete in Hamburg die „Alsterdorfer Anstalten“, in die seit 1860 zunehmend geistig Behinderte – „Idioten“ – Aufnahme fanden. Die von ihm mit initiierte „Conferenz für Idioten-Heil-Pflege“ brachte Fachleute aus der Behindertenarbeit in Deutschland zum Austausch und zur gemeinsamen Lobbyarbeit zusammen. Seine Prinzipien und Anschauungen legte Sengelmann in seinem dreibändigen Werk „Idiotophilus“ (1885) dar – dem ersten systematischen Lehrbuch der „Idiotenfürsorge“ in deutscher Sprache.29 Der christliche Schöpfungsglaube schließt für Sengelmann die Gleichwertigkeit aller Menschen ein und verbietet zugleich jegliche Uniformierung. Die Achtung der Personalität und Individualität der Behinderten und entsprechend das Prinzip der Individualisierung prägten die Arbeit Sengelmanns axiomatisch: „Wir haben es nicht mit ‚Fällen‘ zu tun, sondern mit Mitmenschen, in denen auch eine unsterbliche Seele wohnt, wenn auch eine verhüllte.“30 Er betonte – mit Ausnahme der Schwerstbehinderten – die Bildungsfähigkeit geistig Behinderter. Als Ziel von Bildung galt ihm dabei insbesondere die Aufhebung der Isolation durch Befähigung zur Kommunikation. Im Rahmen des Religionsunterrichts ging es ihm wesentlich um Herzens- und Charak28

Zit. n. Mayer, Eine Geschichte der Behinderten, 18. Neuabdruck: Schmidt, Sengelmann – Sorgen für geistig Behinderte. 30 Zit. n. Schümann, Heinrich Matthias Sengelmann. 29

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terbildung. Der Religionsunterricht führte geistig Behinderte zur Vorbereitung auf die Konfirmation und die Teilnahme am Abendmahl. In der Arbeit mit Behinderten trat Sengelmann für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Pädagogen, Theologen und Medizinern ein. Angesichts der Leib-Seele-Einheit des Menschen und damit einer ganzheitlichen Auffassung auch und gerade des behinderten Menschen forderte er die Erziehung geistig behinderter Menschen „aus einer Hand“. Eine große Anstalt bot für Sengelmann einen adäquaten Lebensraum für die Entfaltung der Gaben und Potenziale geistig Behinderter. Eine Anstalt sollte in ihrer Kultur und Organisationsstruktur Grundmerkmale der christlichen Gemeinde widerspiegeln. Dazu gehörten ein geschwisterlicher Umgang miteinander, das liebevolle und fachlich kompetente Eingehen auf die Behinderten sowie eine „republicanisch“ gestaltete Leitungsstruktur. Der Gedanke einer demokratisch verfassten Anstalt stand freilich im Widerspruch zu dem patriarchalischen Führungsanspruch Sengelmanns in der Praxis. Unter der Leitung Friedrich von Bodelschwinghs (1831–1910) entstand in Bethel (Bielefeld) eine „Stadt der Barmherzigkeit“ im Sinne eines christlichen Gegenentwurfs zu den Städten des Industriezeitalters. Hier stand ein christliches Gemeinwesen vor Augen, „in dem soziale Gegensätze nicht ausgefochten, sondern im Dienst dienender Liebe überwunden werden sollten.“31 Die diakonische Kleinstadt wurde 1892 zur selbständigen Kirchengemeinde, in der die „Angestellten und Pfleglinge“ miteinander verbunden waren. Neben der örtlichen Kirchengemeinde kristallisierte sich der Typus der Anstaltsgemeinde heraus. Zugleich entstanden über das ursprüngliche Gebiet der Fürsorge für „Epileptische“ hinaus neue Arbeitsfelder, zu denen auch die Fürsorge für „Geistes- und Gemütskranke“ sowie für „Schwachsinnige“ gehörte.32 Einen Einschnitt bildete dabei das preußische Gesetz über die erweiterte Armenpflege aus dem Jahr 1893. Es machte die Fürsorge für mittellose „Geisteskranke“, „Idioten“ und „Epileptische“ zur verpflichtenden Aufgabe der Provinzen. Die Provinzialverbände schlossen entsprechende Verträge mit Bethel ab. Bethel, die Sonderwelt mit dem Anspruch einer Kontrastgesellschaft, war somit zugleich mit der öffentlichen Fürsorge verknüpft. Die Staatsaufsicht über das konfessionelle Anstaltswesen verstärkte sich. Damit ging die Forderung einher, den medizinischen Bereich in den Anstalten zu professionalisieren. In Bethel führte dies zu erheblichen Diskussionen um das Verhältnis von medizinischen und theologischen Deutungen insbesondere im Blick auf psychische Krankheiten 31 32

Benad, Eine Stadt für die Barmherzigkeit, 127. Vgl. von Bodelschwingh, dargestellt von Schmuhl, 98–103.

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und nach der Rolle der unterschiedlichen Professionen. Schließlich war für Bodelschwingh wichtig, dass die Kranken und Behinderten nicht lediglich Objekte der Fürsorge sind. Die „kranken und blöden Kindlein“ galten ihm vielmehr als „die Professoren, die uns deutlich beibringen, was Evangelium und was Gotteskraft zur Seligkeit ist“.33 5.5

Signifikante Spannungen und Paradoxien

An evangelischen Anstalten wie Neuendettelsau, Alsterdorf und Bethel treten spezifische Diskrepanzen und Spannungen zutage: Sie waren – zum Ersten – Bildungseinrichtungen und haben in hohem Maße dazu beigetragen, der Bildbarkeit geistig Behinderter Ausdruck zu verleihen. Sie verfochten allerdings kein grundsätzliches Bildungsrecht für die betreffende Personengruppe. Zum Zweiten dominierten Erfahrungen von Fürsorge und Geborgenheit. Dahinter traten Erfahrungen der „Freiheit eines Christenmenschen“ stark zurück. Zum Dritten machten massive Exklusionserfahrungen die Einbeziehung von geistig behinderten Kindern in einen besonders arrangierten Lebensraum notwendig. Dies wiederum führte erneut zu deren Exklusion. Die Paradoxie ist augenfällig: Die Bildungsfähigkeit geistig Behinderter war unter den gegebenen Bedingungen nur durch die Gründung von Sonderinstitutionen zur Geltung zu bringen. Aber gerade die Entdeckung der Bildbarkeit geistig behinderter Menschen und deren Einbeziehung in Bildungsprozesse leitete deren Sonderung ein.34 Schließlich konnte der Anspruch, ein christliches Gemeinwesen im Sinne einer Kontrastgesellschaft darzustellen, in Spannung treten zur Logik öffentlicher Fürsorge. 6

Vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Ende des „Dritten Reichs“

6.1

Eugenik, Rassenhygiene und Fürsorge nach dem KostenNutzen-Kalkül

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert griffen in Europa Gedanken und Forderungen um sich, die die Erbgesundheit zum entscheidenden Gesichtspunkt für den Wert einer menschlichen Rasse und die Entwicklung eines Volkes erhoben. Damit war die Behauptung verbunden, sozial schwächer Gestellte und Minderbegabte vermehrten sich schneller und stärker als höher Begabte. Seit Ende des 33 34

von Bodelschwingh, zit. n. Schäfer, Evangelisch-theologische Konzeptionen, 103. Vgl. Ellger-Rüttgardt, Geschichte der Sonderpädagogik, 130.

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19. Jahrhunderts etablierte sich die Eugenik als Wissenschaft. Eugenik (Francis Galton, 1883) beinhaltete die Anwendung theoretischer Konzepte auf die Bevölkerungsentwicklung und die Gesundheitspolitik. Der Anteil positiv definierter Erbanlagen sollte gefördert und die negativ beurteilten Erbanlagen sollten verringert werden. Durch den Ersten Weltkrieg mit seinen acht Millionen Toten erhielt solches Gedankengut weiter Auftrieb. Eugenik und „Rassenhygiene“ fanden vor 1930 in der Inneren Mission kaum Resonanz. Mit der Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaates und der gesellschaftlichen Diskussion um die Verschränkung von Eugenik und Fürsorgepolitik vollzog sich dann eine Hinwendung zu dem Themenfeld. Großen Einfluss übte dabei der Arzt und Volkswirt Hans Harmsen (1899–1989) aus. Er initiierte und leitete die Fachkonferenz für Eugenik, die 1931 vom Centralausschuss der Inneren Mission eingesetzt worden war. Zwischen 1931 und 1938 debattierten Pfarrer, Ärzte und Fürsorgerinnen der Inneren Mission in 13 Sitzungen der Fachkonferenz und seit 1934 des Ständigen Ausschusses für Rassenhygiene und Rassenpflege des Centralausschusses Fragen der eugenischen Gesetzgebung und rassenhygienischer Maßnahmen. Die erste Fachkonferenz tagte 1931. Die Konferenz lehnte die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“, wie sie Karl Binding und Alfred Hoche in ihrer 1920 erschienenen Schrift gefordert hatten, nachdrücklich ab – sowohl aus „religiösen“ wie „volkserzieherischen“ Gründen. Die Fachleute der Inneren Mission vertraten aber den Gedanken der „differenzierte[n] Fürsorge“, der auf Kosten-Nutzen-Berechnungen beruhte: „Erhebliche Aufwendungen sollten nur für solche Gruppen Fürsorgebedürftiger gemacht werden, die voraussichtlich ihre volle Leistungsfähigkeit wieder erlangen. Für alle übrigen sind dagegen die wohlfahrtspflegerischen Leistungen auf menschenwürdige Versorgung und Bewahrung zu begrenzen. Träger erblicher Anlagen, die Ursache sozialer Minderwertigkeit und Fürsorgebedürftigkeit sind, sollten tunlichst von der Fortpflanzung ausgeschlossen werden.“

Eine Sterilisation – so die These – könne eine sittliche Pflicht darstellen. Die Forderung nach Sterilisierung sei Ausdruck der „Verantwortung, die uns nicht nur für die gewordene, sondern auch die kommende Generation auferlegt ist.“35 Festzuhalten ist: Die Fachkonferenz der Inneren Mission lehnte die „Euthanasie“ klar ab. Mit der Forderung nach einer Fürsorge, die unter den Kriterien der Erwerbsfähigkeit und des Nutzens für die Gesellschaft stand, trug sie aber dazu bei, das Lebensrecht „sozial Minderwertiger“ in Frage zu stellen. 35

Harmsen, Gegenwartsfragen der Eugenik, zit. n. Maaser/Schäfer, Geschichte der Diakonie, 380–383: 382.

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Mit den Überlegungen zur Unfruchtbarmachung bereitete die Konferenz schließlich einer Entwicklung den Boden, die nach Beginn des „Dritten Reiches“ auch Anstalten der Inneren Mission betraf. Zum 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Es regelte insbesondere die zwangsweise Sterilisation. Die Vertreter der Inneren Mission sprachen sich zwar stets für eine freiwillige Sterilisation unter bestimmten Bedingungen aus. In der Praxis aber kam es immer wieder vor, dass Betroffene zur Sterilisierung gedrängt wurden. Die Statistik weist für den Zeitraum zwischen dem 01. Januar 1934 und dem 30. Juni 1935 die Unfruchtbarmachung von 8.856 Menschen in evangelischen Einrichtungen aus. Insgesamt wurden in den Jahren von 1934 bis 1939 rund 350.000 Personen in staatlichen und anderen Anstalten sterilisiert. 6.2

Euthanasie im „Dritten Reich“

Der nationalsozialistische Wohlfahrtsstaat brach dezidiert mit den christlichen und humanistischen Traditionen, die im Armen das Ebenbild Gottes und im Hilfebedürftigen ein Glied der Menschheitsfamilie sahen. Er setzte sich zugleich von der Leitvorstellung des bisherigen Wohlfahrtsstaats ab, Arme und Ausgegrenzte in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren. Der NS-Staat zielte hingegen im Sinne der „Volkspflege“ auf die Förderung der „Wertvollen“ und die Ausmerzung der „Minderwertigen“. Rassische Selektionskriterien waren für die Unterscheidung zwischen Unterstützungswürdigen und Unwürdigen maßgeblich. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) übernahm insbesondere die im Sinne der NS-Ideologie attraktiven und relevanten Erziehungs- und Vorsorgebereiche und überließ den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden die Pflege der Schwachen und „Minderwertigen“, der „hoffnungslosen Fälle“, in ihren Anstalten. Dem Krieg nach außen entsprach schließlich der Krieg nach innen, der sich in der systematischen Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ niederschlug. Auf der Grundlage eines auf den 1. September 1939, den Tag des Beginns des Zweiten Weltkriegs, zurückdatierten, von Hitler unterschriebenen Ermächtigungsschreibens begann die nationalsozialistische „Euthanasie“, die Ermordung von Geisteskranken und Behinderten. Ihr lag neben rasseideologischen Motiven ein klares Kosten-Nutzen-Kalkül zugrunde: Die „Aktion T4“ sollte die Solidargemeinschaft des Deutschen Volkes von unnötigen Kosten entlasten.36 36 Josef Goebbels hat das materialistische Motiv der Euthanasie so zum Ausdruck gebracht: „Es ist unerträglich, dass während eines Krieges Hunderttausende für das praktische Leben gänzlich ungeeignete Menschen, die vollkommen verblödet sind

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Die Reaktionen und Verhaltensmuster innerhalb der Verbandsstrukturen und Einrichtungen der Inneren Mission wiesen eine erhebliche Bandbreite auf. Zu einer einmütigen Haltung der Ablehnung oder gar einer gemeinsamen Protestaktion kam es nicht. Es waren mutige Einzelne, die gegen die „Euthanasie“ Stellung bezogen. Auf evangelischer Seite ist insbesondere Paul Gerhard Braune (1887–1854), der Leiter der Lobetaler Anstalten und Vizepräsident des Centralausschusses für die Innere Mission, zu nennen. Seine an Adolf Hitler adressierte Denkschrift (Juli 1940) stellt eine zeitgenössisch einzigartig detaillierte Dokumentation der Verbrechen dar. Die berühmten Predigten des katholischen Bischofs von Münster, August von Galen (1878–1946), veranlassten Hitler im August 1941 dazu, die „Aktion T 4“ vorläufig zu stoppen. Nach der offiziellen Einstellung des Programms ging allerdings die „Euthanasie“ in „wilder“ Form bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs weiter. 7 7.1

Tendenzen nach 1945 Diakonische Behindertenarbeit in der DDR

Im Unterschied zu anderen Ländern des Ostblocks wurden diakonische Aktivitäten der Kirchen in der DDR nicht verboten. Die Diakonie wurde mit der Zeit als „Nothelfer“ anerkannt. Eine Pionierfunktion nahm die Diakonie in der Arbeit vor allem mit geistig behinderten Menschen ein. Seit 1967 kam es z.B. zum Aufbau von Sondertagesstätten für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung. Die Statistik des Diakonischen Werks der DDR weist zum 01. September 1988 100 Förder-, Rehabilitations- und Pflegeheime für geistig behinderte Jugendliche und Erwachsene mit 6.919 Plätzen und 23 Sondertagesstätten für geistig behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit 515 Plätzen aus. Die Diakonie stellte damit rund die Hälfte der Plätze für schwer- und schwerstbehinderte Menschen in der DDR. Dass der Diakonie dieses Feld überlassen wurde, ist bezeichnend für die Bildungs- und Gesundheitspolitik in der DDR. Der Staat ließ zu, dass sich die Arbeit mit schwer geistig Behinderten zu einem diakonischen Schwerpunkt entwickelte, während er selbst „die Schulbildungspflicht für geistig behinderte Menschen stark ein-

und niemals mehr geheilt werden können, mitgeschleppt werden und den Sozialetat des Landes dermaßen belasten, dass für eine aufbauende soziale Tätigkeit kaum noch Mittel und Möglichkeiten übrigbleiben.“ Zit. n. Aly, Die Belasteten, 60.

Historische Skizze

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schränkte und nicht einmal eine Förderpflicht für alle Behinderten anerkannte.“37 7.2

Entwicklungen der diakonischen Behindertenarbeit in der Bundesrepublik

Im Westen Deutschlands bzw. in der Bundesrepublik nahmen die Einrichtungen der Inneren Mission ihre Arbeit in der Nachkriegszeit wieder auf – nach den vermeintlich bewährten Konzepten.38 Die neuere Forschung zur Geschichte der Anstalten und Heime für Menschen mit geistiger Behinderung, Epilepsie oder einer psychischen Erkrankung in der frühen Bundesrepublik konzentrierte sich zunächst darauf, die strukturelle Gewalt in der Heimerziehung herauszuarbeiten. Leitend war dabei das Konzept der „totalen Institution“ Erving Goffmans.39 Inzwischen richtet sich das Forschungsinteresse – über das Thema Gewalt hinaus – auf den gesamten Heimkosmos und den Alltag unter den spezifischen Bedingungen einer Anstalt bzw. eines Heims. In diesem Zusammenhang kommen Menschen mit Behinderungen oder psychischer Erkrankung nicht lediglich als Objekte der Fürsorge, sondern zunehmend auch als eigen-sinnige Subjekte in den Blick, die eigene Strategien angesichts der „fürsorglichen Belagerung“ entwickelten.40 Damit ist zugleich der Versuch verbunden, zu erkunden, wie die Heimbewohner_innen ihre Situation selbst wahrnahmen und deuteten. Plastisch zutage treten so Strategien der Obstruktion wie der Anpassung. Deutlich wird auch, dass Anspruch und Wirklichkeit auch und gerade in diakonischen Einrichtungen häufig auseinanderklafften. Die fundamentale Gleichheit etwa, die die Gründergestalten betonten und die in einem christlichen Gemeinwesen zur Geltung gebracht werden sollte, konnte ausgerechnet von denen konterkariert werden, die die Bezeichnung „Brüder“ führten. „Brüder“ – damit waren insbesondere Diakone gemeint, die häufig als Hausväter tätig waren. Eben die „Brüder“ wurden von den Behinderten oft als ausgesprochen streng, arrogant und bevormundend erlebt.41 Neue Diskussionen um konzeptionelle Grundfragen der Behindertenarbeit begannen Ende der 1950er Jahre. Eltern von behinderten Kindern und Jugendlichen bemühten sich intensiv darum, Formen der Betreuung und Förderung für ihre Kinder außerhalb der Anstaltsstrukturen zu finden. Die traditionelle Anstaltsarbeit geriet damit in 37

Hübner, Diakonie im real existierenden Sozialismus, 262. Vgl. Störmer, Behindertenhilfe, 503–505. 39 Goffman, Asyle. 40 Vgl. Schmuhl, Lebensbedingungen und Lebenslagen, 142. 41 Vgl. Winkler, „Der ist Blöde und Dumm“, 176. 38

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eine fachliche Auseinandersetzung über ihre inhaltlichen und strukturellen Gegebenheiten. Dies verstärkte sich seit den 1970er Jahren. Politische Anstrengungen richteten sich darauf, das Netz der rehabilitativen Angebote weiter auszubauen und auszudifferenzieren. Die diakonische Behindertenarbeit, die nach wie vor durch große Anstalten geprägt war, suchte in diesem Zusammenhang ihre Einrichtungen den strukturell neuen Gegebenheiten anzupassen und verbesserte die Fachlichkeit ihrer Arbeit. Gleichwohl wuchs die Kritik an dem herkömmlichen Gedanken der Rehabilitation, der dem Prinzip einer „Ausgliederung zum Zwecke der Eingliederung“ verhaftet war. In den 1980er Jahren entstanden dann erste Formen einer „offenen Behindertenarbeit“. Sie wurden nicht in erster Linie von diakonischen Trägern oder anderen Wohlfahrtsverbänden initiiert, sondern von Menschen mit Behinderungen und ihren Angehörigen selbst. 8

Konversionen

Seit den 1980er Jahren sind mit den Themen Menschenrechte, Wahlfreiheit, Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe zentrale Herausforderungen auch und gerade für die diakonische Arbeit mit behinderten Menschen gesetzt. Durch die UN BRK haben diese Aspekte noch einmal deutlich an Gewicht und Verbindlichkeit gewonnen. Die UN BRK beinhaltet spezifische Zu-Mutungen für Kirche und Diakonie – im Sinne von Konversionen, von Bekehrungen und Umwandlungen. Sie nötigt dazu, die eigene Geschichte kritisch zu reflektieren. Sie regt zu einem neuen Blick auf einschlägige biblische Texte und zu einer veränderten theologischen Wahrnehmung von Behinderung an.42 Ein neues Paradigma diakonischen Handelns beginnt sich herauszukristallisieren: Diakonie ist wesentlich Assistenz zu einem Leben in kommunikativer Freiheit. Dies schließt die Abkehr von patriarchalischer Fürsorge und die Hinwendung zu selbstbestimmter partnerschaftlicher Beteiligung ein. Assistenz im Blick auf das Grundbedürfnis nach Selbstbestimmung verbindet sich mit der Teilhabe an der Gemeinschaft. Der Bundesverband evangelische Behindertenhilfe hat 2008 ein „Konzept zur Konversion von Komplexeinrichtungen in der Behindertenhilfe“ vorgelegt und damit einer radikalen Veränderung diakonischer Praxis den Weg gewiesen. Das Prinzip der „Dezentralisierung“ sucht der Idee der Inklusion Rechnung zu tragen. Die nach Julius Disselhoffs Notruf 1859 gegründete 42

Vgl. den Beitrag von Klaus Eberl in diesem Band. Ansätze zu veränderten theologischen Wahrnehmungen finden sich in: Kirchenamt der EKD (Hg.), Es ist normal, verschieden zu sein.

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Anstalt „Hephata“ („Öffne dich“) schlug als eine der ersten evangelischen Anstalten in Deutschland diesen Weg konsequent ein. Das „Leit-Bild in einfacher Sprache“ macht exemplarisch deutlich, um was es dabei elementar geht: „Hephata hat nicht immer alles richtig gemacht. In Hephata sind vor allem zur Zeit der Nazis schlimme Dinge passiert. 1943 wurden Menschen mit Behinderung mit Bussen weggefahren. Manche dieser Menschen wurden von Nazis ermordet. Deswegen ist uns heute wichtig: – Jeder Mensch hat das Recht gut zu leben. – Jeder Mensch soll glücklich und frei sein können.“43

2014 bekräftigte die Konferenz Diakonie und Entwicklung das Ziel der UN BRK, „Barrieren für Teilhabe zu überwinden, Diskriminierungen abzubauen und gemeinsam Leben in Vielfalt zu ermöglichen.“44 Die Konferenz rief dazu auf, die Bemühungen zur Umsetzung der UN BRK zu intensivieren – in Deutschland, der Europäischen Union und weltweit. Damit sind immense Aufgaben verbunden – nicht zuletzt für Kirche und Diakonie. Der Blick in die Geschichte kann zum einen kritisch auf Einstellungen aufmerksam machen, die die Realisierung dieser Aufgaben im Sinne der UN BRK behindern. Deutungsmuster treten zutage, die in jeweils spezifischen historischen Kontexten wurzeln. Solche Muster werden kulturell tradiert und gehören zu den historischen Strukturen von langer Dauer. Sie können weiterwirken, auch über die Zeit hinaus, in der sie entstanden sind. Im Licht der Geschichte gewinnen die gegenwärtigen Aufgaben zugleich deutliche Konturen. Die geschichtliche Betrachtung zeigt schließlich auch, dass Kirche und Diakonie immer wieder in der Lage waren, sich zu verändern und sich neuen Herausforderungen zu stellen. Literatur Ahmann, Martina, Was bleibt vom menschlichen Leben unantastbar? Kritische Analyse der Rezeption des praktisch-ethischen Entwurfs von Peter Singer aus praktisch-theologischer Perspektive, Münster 2001. Aly, Götz, Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a.M. 2014. 43

Evangelische Stiftung Hephata, Leit-Bild in einfacher Sprache, 4. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Was willst du, dass ich Dir tun soll?, 1. 44

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Augustinus, Aurelius, Vom Gottesstaat, Buch 11 bis 22, aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme, eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen, München 1978. Bach, Ulrich, Durch Theologie behindert?, Junge Kirche 55 (1994) 335–338. Benad, Matthias, Eine Stadt für die Barmherzigkeit, in: Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998, hg. von Ursula Röper und Carola Jüllig, Berlin 1998, 122–129. Bodelschwingh, Friedrich von, dargestellt von Hans-Walter Schmuhl, Reinbek bei Hamburg 2005. Bösl, Elsbeth/Klein, Anne/Waldschmidt, Anne (Hg.), Disability History. Konstruktionen von Behinderung in der Geschichte. Eine Einführung, Bielefeld 2010. Braddock, David L./Parish, Susan L., An Institutional History of Disability, in: Handbook of Disability Studies, hg. von Gary L. Albrecht u.a.,Thousand Oaks 2001, 11–69. Bundesverband evangelische Behindertenhilfe (Hg.), Konzept zur Konversion von Komplexeinrichtungen in der Behindertenhilfe. Eine Handreichung für Mitgliedseinrichtungen des Bundesverbands evangelische Behindertenhilfe, Berlin 2008, online: http://www.beb-ev.de/files/pdf/stellungnahmen/200810_handreichung_konversion_komplexeinrichtungen.pdf, Zugriff am 03.12.2015. Disselhoff, Julius, Die gegenwärtige Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten in den christlichen Ländern. Ein Noth- und Hülferuf für die Verlassensten unter den Elenden an die deutsche Nation, Bonn 1857. Dörner, Klaus, Bürger und Irre: Zur Sozialgeschichte und Wissenschaftssoziologie der Psychiatrie, 3. Auflage, Hamburg 1995. Ellger-Rüttgardt, Sieglind Luise, Geschichte der Sonderpädagogik. Eine Einführung, München/Basel 2008. Evangelische Stiftung Hephata, Leit-Bild in einfacher Sprache, o.J., online: https://www.hephatamg.de/files/pdf/Leitbild_leichte_Sprache.pdf, Zugriff am 03.12.2015. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung, Was willst du, dass ich Dir tun soll? (Mk 10,51) Inklusion verwirklichen! Erklärung der Konferenz Diakonie und Entwicklung zu einer inklusiven Gesellschaft und zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, 2014, online: http://www.diakonie.de/media/2014-0403_Konferenz_EWDE_Erklaerung-Inklusion.pdf, Zugriff am 07.12.2015.

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Klaus Eberl

1.4 Aus theologischer Perspektive: Inklusion im kirchlich-diakonischen Selbstverständnis

Die Inklusionsdebatte ist eingebettet in einen umfassenden gesellschaftlichen Wandel. Aus theologischer Perspektive kommen dabei zentrale Aspekte eines protestantischen Freiheitsverständnisses neu zum Klingen. Martin Luther beschreibt den Menschen in der Dialektik von Freiheit und Dienstbarkeit. Die entscheidenden Sätze seiner Freiheitsschrift lauten: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“1 In dieser produktiven Spannung gewinnen auch theologische und diakonische Zugänge zum Inklusionsthema Konturen. Denn die Rechtfertigungsbotschaft impliziert eine Art geistliches Empowerment, indem allen Menschen trotz ihrer Verschiedenheit gleiche Würde und gleiche Teilhaberechte zugesprochen werden – eine wesentliche Voraussetzung für die Verbesserung der Lebenslagen von Menschen mit Behinderungen. Durch seine Gottbezogenheit befreit der christliche Glaube von der Notwendigkeit, fremde Normen und Erwartungen erfüllen zu müssen; er befreit auch von der Selbstverabsolutierung. Zugleich entwickelt er eine Vision solidarischer Gemeinschaft, in der gegenseitig und auf Augenhöhe Verantwortung füreinander wahrgenommen wird. Deshalb sind von Kirche und Diakonie im Zusammenhang der Inklusionsdebatte sowohl die individuelle Situation der Menschen als auch das gesellschaftliche Ganze in den Blick zu nehmen. Konturen einer künftigen diakonischen Kirche werden sichtbar. Kürzlich hat die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) den Beitrag des christlichen Glaubens für eine offene Gesellschaft hervorgehoben.2 Sie bezieht sich dabei auf Luthers Freiheitsschrift und auf Arbeiten Karl Poppers, dem es mit dem Begriff der „offenen Gesellschaft“3 um umfassende Demokratisierung und Teilhabe sowie 1

Luther, Freiheit eines Christenmenschen, 238ff. Vgl. EKD, Kundgebung „Frei und engagiert – in Christus“. 3 Vgl. Popper, Offene Gesellschaft. 2

Theologische Perspektive

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die Freisetzung kritischer Fähigkeiten der Menschen geht. Diese Veränderungsdynamik kann auch für die Inklusion behinderter Menschen fruchtbar gemacht werden. Damit ist das Feld beschrieben, auf dem sich diakonisches Handeln bewähren muss. Es wird sich einerseits orientieren an professionellen Standards Sozialer Arbeit und sie kritisch reflektieren, andererseits ihre spezifischen Prägungen als „Wesens- und Lebensäußerung der Kirche“ zur Geltung bringen und dabei auch gemeindediakonische Aspekte berücksichtigen. Den diakonischen Trägern geht es in der inklusiven Arbeit darum, mit „Herz und Mund und Tat und Leben“4 die Menschenfreundlichkeit Gottes erlebbar werden zu lassen. Im Focus stehen nicht nur Handlungskonzepte, sondern auch Haltungen der Akteure. Insofern müssen sich die vielfältigen Aktivitäten jenseits der Perspektive spezifischer Unterstützungsleistungen an ihrer Inklusionstauglichkeit messen lassen. Die theologische Profilierung erweist sich als kritisches Korrektiv einer in der herkömmlichen diakonisch-sozialen Arbeit verbreiteten Tendenz, die behinderte Menschen auf ihre Hilfsbedürftigkeit reduziert. Die Theologie kann den notwendigen Paradigmenwechsel von der Orientierung an Defiziten und passgenauen Versorgungsleistungen hin zur Ermöglichung selbstbestimmter und gleichberechtigter Teilhabe voranbringen. Für den theologischen Zugang ist es zunächst unerheblich, wie weit der Inklusionsbegriff gefasst ist. Bezieht er sich auf die Biographie eines jeden Menschen, kommen zugleich Fragen nach dem Schutz des ungeborenen Lebens und nach dem Sterben in Würde in den Blick. Umfasst der Inklusionsbegriff auch die Vielfalt der Weltgesellschaft, geht es zugleich um den interreligiösen und interkulturellen Dialog sowie den Konziliaren Prozess, d.h. um Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Damit verbunden sind auch Aspekte der Geschlechtergerechtigkeit, der Armutsbekämpfung und der Ressourcenverteilung. Bezieht sich der Inklusionsbegriff im engeren Sinne auf das Miteinander und die Teilhaberechte von Menschen mit und ohne Behinderungen, so markiert er die aktuellen öffentlichen Debatten um die Zukunft des Bildungssystems, der Stadtentwicklung, der Arbeitswelt, des Gesundheitssystems und der Behindertenarbeit. Gerade hier liegt traditionell der Schwerpunkt diakonischer Arbeit. Inklusion von Menschen mit und ohne Behinderungen ist gegenwärtig eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft, insbesondere auch für Kirche und Diakonie. Denn die Aufgabe, dass alle Men4

EKD, Herz und Mund und Tat und Leben.

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schen mit ihren individuellen Fähigkeiten und Ressourcen sowie mit ihren Defiziten und Begrenzungen einbezogen werden, löst eine umfassende Weiterentwicklung der Konzepte aus. Es geht um Wertschätzung von Vielfalt, die systemische Veränderungen zur Folge hat. Denn Inklusion ist die „Kunst des Zusammenlebens von sehr verschiedenen Menschen“.5 Unter dem Heterogenitätsgesichtspunkt sollen Absonderungen überwunden und gerechte Teilhabe ermöglicht werden. Zugleich werden frühere Strategien des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung einer kritischen Revision unterzogen. Denn nach der verbreiteten Praxis gesellschaftlicher Exklusion wurden seit Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere von der (Anstalts-) Diakonie Konzepte entwickelt und praktiziert, die behinderte Menschen individuell förderten und unterstützten – die allerdings mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Segregation verbunden waren. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden zunehmend integrative Ansätze verfolgt, die sich meist auf die individuellen Begrenzungen bezogen und nicht das systemische Ganze in den Blick nahmen. Damit erzeugten diese Konzepte einen erheblichen Anpassungsdruck bei behinderten Menschen. Mit dem Inklusionsansatz geht es nun nicht mehr um die Integration einer von der Normalität abweichenden Minderheit. Niemand soll auf Grund seiner Andersartigkeit separiert und in seinen Teilhaberechten beschnitten werden. Heterogenität ist der Regelfall. Dafür sollen entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. 1

Biblische Wahrnehmungen behinderter Menschen6

Sucht man in den Schriften des Alten und Neuen Testaments nach Impulsen zur Inklusion behinderter Menschen, ergibt sich ein paradoxes Bild. Der Widerstand gegen Leiden und Schmerzen, die Ergebung in Krankheit und Behinderung als gottgegebene Lebensbedingung und die Abwertung betroffener Personen werden nicht harmonisiert. Da Behinderung stets eine soziale Dimension hat, setzen die biblischen Texte häufig die in der antiken Gesellschaft üblichen Separierungsmuster und Deutungen voraus. Behinderung wird beschrieben als Strafe (2. Kön 5,27), als Fluch (2. Sam 3,29). Blinde Menschen lässt man nicht „ins Haus“ (2. Sam 5,8), Menschen mit Hautkrankheiten dürfen keinen Kontakt zu anderen haben (Num 5,2; Lk 17,12), psychische Behinderungen werden als Wirken von Dämonen, als 5 6

Evangelische Kirche im Rheinland, Da kann ja jede(r) kommen, 8. Vgl. Oeming, Theologischer Umgang mit Behinderung im Alten Testament.

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Besessenheit gedeutet (Mk 1,23). Auf den ersten Blick ist der Rückgriff auf die biblische Tradition ernüchternd und wenig hilfreich. Zugleich finden sich aber auch Texte, die sich in völlig gegensätzlicher Weise als „inklusionssensibel“ erweisen. Dem Zusammenhang von Schuld und Behinderung wird im Neuen Testament dezidiert widersprochen (Joh 9,3). Körperliche Einschränkungen oder andere Defizite hindern nicht daran, von Gott beauftragt zu werden. In der Mose-Berufung wird Behinderung als schöpfungsgemäße Gegebenheit geschildert (Ex 4,11) und Moses zum Pharao geschickt. Ferner wird ein achtsamer Umgang miteinander eingefordert: „Verflucht sei, wer einen Blinden irreführt auf dem Wege!“ (Dtn 27,18). Außerdem findet sich der Gedanke einer eschatologischen Überwindung von Behinderung in den neutestamentlichen Heilungsgeschichten. Wenn allerdings die Geschichten über den heilenden Jesus nicht ungewollte Vertröstungseffekte haben sollen, sind sie kritisch zu lesen und im Blick auf ihre Verkündigungsintention auszulegen. „Sie beweisen weder ein direktes Eingreifen Gottes, noch ein göttliches Durchbrechen von Naturgesetzen. Sie sind Protestgeschichten gegen Krankheit und Leid, gegen Vorurteile und Ausgrenzungen [...] Es sind Hoffnungsgeschichten voller Sehnsucht, dass diese Welt nicht so bleibt, wie sie ist.“7

Die Krankenheilungen und Dämonenaustreibungen geben Einblicke in die Lebenssituation behinderter Menschen, bezeugen Jesu Nähe zu ihnen und erzählen, wie Isolation, Stigmatisierung und Barrieren überwunden werden. Im Matthäusevangelium wird auf die Frage nach dem Wirken Christi summarisch geantwortet: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt.“ (Mt 11,5) Konkret heißt das: Menschen wie der blinde Bartimäus (Mk 10,46ff.) galten als unrein. Sein hartnäckiges Vertrauen zu Jesus durchbricht die Ausgrenzung. Bei der Heilung eines Gelähmten (Mk 2,1ff.) werden buchstäblich Mauern überwunden. Vier Männer klettern auf das Hausdach, um ihren Freund in die Nähe Jesu zu bringen. Die Heilung eines taubstummen Mannes (Mk 7,31ff.) beschreibt, unter welchen Rahmenbedingungen Menschen sich öffnen können, der Isolation entrinnen und wieder kommunikationsfähig werden. Die Heilung des „besessenen Geraseners“ (Mk 5,1ff.) beschreibt die schreckliche Lage eines Menschen, der wegen seiner psychischen Behinderung weitgehende Exklusion erfährt und „unter den Grabkammern“ lebt. Die Vertreibung der Dämonen kann als eine Satire der Befreiung verstanden werden, bei der die „Legion“ genannten Dämonen – sie 7

Kliesch, Der heilende Jesus und seine Wirkungsgeschichte, 101.

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erinnern nicht zufällig an die römischen Besatzungstruppen – in die Schweineherde fahren und den Abhang hinunter ins Meer stürzen. Der Mann wird geheilt, nachdem sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern. Am Ende der Geschichte steht allerdings kein Jubel, sondern eine inklusive Irritation. Ihr Urheber, Jesus, wird gebeten, das Land zu verlassen. Was besagen die Heilungswunder im Blick auf die Situation behinderter Menschen heute? Die neutestamentlichen Wunder sind Zeichen des in Jesus Christus anbrechenden Gottesreiches. Sie ausschließlich auf die Behebung von Krankheit und Leid zu beziehen, ginge an ihrer Intention vorbei. Deshalb ist auf einen differenzierten Heilungsbegriff zu achten. Vielfach hat der körperbehinderte Theologe Ulrich Bach darauf hingewiesen, dass die christliche Verkündigung darauf achten müsse, dass behinderte Menschen voraussichtlich nicht geheilt werden und wurden.8 Unter der Hoffnung, geheilt zu werden, könnten Menschen mit Behinderungen verpassen, ihr Leben, so wie es ist, anzunehmen. Es besteht offenbar eine biblisch-theologische Spannung9 zwischen der schöpfungstheologischen Akzeptanz der Behinderung bei der Moses-Berufung (Ex 4,11) und der eschatologischen Hoffnung auf Überwindung des Leidens. Die neutestamentlichen Wundergeschichten und die Vision von einem „neuen Himmel“ und einer „neuen Erde“ (Apk 21,1) erweisen sich als Gegenbilder zu konkret erfahrenem Leid und Schmerz. Nancy L. Eiesland, selbst von Geburt an behindert, unternimmt den interessanten Versuch, beide Aspekte miteinander zu verbinden, indem sie vom „behinderten Gott“10 spricht. Sie orientiert sich dabei an Jesu Erscheinung vor den Jüngern (Lk 24,36-39), denen der Auferstandene seine Wundmale zeigt. Mit dieser Selbstvorstellung Jesu erweise er sich als verwundeter, behinderter Gott. Die „Behinderung“ Jesu rückt ihn in solidarische Nähe zu Menschen mit Behinderungen und widerspricht falschen Deutungen der Behinderung als Strafe Gottes oder als Zeichen vertröstender Belohnung im Jenseits. Für Eiesland ist die Begegnung mit dem „behinderten Gott“ Quelle einer „Befreiungstheologie der Behinderung“, die eine Reihe ethischer Herausforderungen beinhaltet. Die US-amerikanische Religionssoziologin nennt vier zentrale Bereiche:11 „Gerechtes Überleben“ – weltweit sind in vielen Gesellschaften behinderte Menschen marginalisiert. „Gerechte Arbeit“ – behinderte Menschen haben es beson8

Vgl. Bach, Theologie nach Hadamar, 358. Vgl. Ebach, Biblische Erinnerungen, 98. 10 Eiesland, The Disabled God. 11 Vgl. Eiesland, Dem behinderten Gott begegnen, 12ff. 9

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ders schwer, sinnvolle Arbeit zu finden. „Intimität“ – Menschen mit Behinderungen erleben oft den Schmerz der Isolation und den Mangel an sexueller Intimität. „Medien“ – die Medien verbreiten häufig Klischees über behinderte Menschen als Mitleidsobjekte. „Dem ‚behinderten Gott’ begegnen bedeutet, Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderungen zu verwirklichen und das Risiko einzugehen, alte theologische Gewissheiten und Lebensweisen kritisch zu prüfen und neue zu entwickeln.“12 Denn der „behinderte Gott“ ist nach Eiesland ein Gott in solidarischen Beziehungen. Da Menschen mit Behinderungen eine soziale Minderheit sind, die von der Mehrheitskultur unterdrückt wird, ist Gott gegenwärtig an den Rändern der Gesellschaft. Er nimmt die Perspektive der Menschen mit Behinderungen an und stiftet im Rahmen einer Resymbolisierung befreiende Bilder zur Veränderung der bestehenden sozialen Ordnung. Der befreiungstheologische Ansatz Nancy L. Eieslands hat zu einem menschenrechtsbasierten Grundverständnis von Inklusion beigetragen und die Theologie für Forderungen der internationalen Bürgerrechtsbewegung behinderter Menschen anschlussfähig gemacht. Um einen tragfähigen Veränderungsprozess zu initiieren, ist es nötig, die verschiedenen Akteure in Kirche, Diakonie und Gesellschaft zusammenzuschließen. Das ist mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) gelungen. 2

Inklusion als menschenrechtliche Leitnorm

Eine neue Dynamik zur Umsetzung des Inklusionsansatzes und zur Weiterentwicklung von Teilhaberechten behinderter Menschen hat sich erst durch die UN BRK ergeben. Sie wurde 2009 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Damit wurde der Begriff Inklusion eingefügt in ein menschenrechtsbasiertes Grundverständnis von Behinderung. Die EKD-Orientierungshilfe bezeichnet Inklusion als „menschenrechtliche Leitnorm“13, die die „volle und wirksame Partizipation und Inklusion“14 von Menschen mit Behinderungen zum Ziel hat. Damit verbunden ist die Anerkennung als gleichberechtigte und gleichwertige Bürgerinnen und Bürger, die Verwirklichung der vollen gesellschaftlichen Teilhabe, die Achtung der Würde und Autonomie sowie der Respekt vor Unterschiedlichkeit. Der Staat verpflichtet sich – und mit ihm die zivilgesellschaftlichen Akteure wie die Kirche und ihre Diakonie – Rahmenbedingungen zu schaffen, 12

Eiesland, Dem behinderten Gott begegnen, 7. EKD, Es ist normal, verschieden zu sein, 14. 14 Vereinte Nationen, CRPD, Art. 3. 13

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unter denen Menschen mit Behinderungen in den vollen Genuss der Menschenrechte kommen können. Diese Entwicklung hin zu einer inklusiven Gesellschaft wird durch ein Monitoring des Deutschen Instituts für Menschenrechte begleitet. Denn die Einhaltung der Menschenrechte für behinderte Menschen bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Sie gehören zu dem Personenkreis, der es bei der Verwirklichung ihrer Teilhaberechte besonders schwer hat. Das Leben mit einer Behinderung stellt ein erhebliches Erschwernis in der Gestaltung der Lebensbeziehungen dar. Und darüber hinaus bestehen noch immer im Alltag behinderter Menschen vielfältige Barrieren. Menschen haben eine Behinderung als Gegebenheit ihres Daseins – aber sie werden auch behindert. Ihre Freiheit wird beschnitten. Im sozialen und kulturellen Paradigma von Behinderung schränken nicht nur die Wohn- und Lebensverhältnisse, die Rahmenbedingungen des Bildungssystems und die fehlenden Chancen auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch allgemeine Diskriminierungen und eine verfehlte Praxis der Wohltätigkeit die Teilhabemöglichkeiten ein. Bei der Umsetzung von Inklusion geht es nicht um Mitleid und Wohltätigkeit, sondern um die Einlösung von Rechten. Auch deshalb ist der menschenrechtliche Ansatz ein großer Fortschritt in den Debatten der letzten Jahre. Beide große Kirchen in Deutschland haben sich lange schwer getan, einen theologischen Zugang zu den Menschenrechten zu entwickeln.15 Das hängt mit der schleppenden Aufnahme des Gedankenguts der Aufklärung und einer kritischen Wahrnehmung der Französischen Revolution zusammen. Das änderte sich erst infolge der Schreckenserfahrungen mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus. Unter den Bedingungen einer zudem areligiös gewordenen Welt benötigte man eine Berufungsinstanz, die theologisch begründbar, aber auch nichtreligiös kommunizierbar war. Die völkerrechtlich vereinbarte Anerkennung der Menschenwürde wurde dabei zu einer Art säkularer Transzendierung der Grundrechte. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass im Kontext des Reformationsjubiläums die „Freiheit eines Christenmenschen“ zu einer Art Markenkern des Protestantismus geworden ist. Das evangelische Freiheitsverständnis wirft ein besonderes Licht auf die Menschenrechte. Hinsichtlich der Begründung der Inklusion als menschenrechtlicher Leitnorm scheint das von Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt entwickelte Grundmodell von Analogie und Differenz zwischen theologischen Aussagen und den Menschenrechten ertragreich zu sein. „Es fragt nicht nach der theologischen Begründung der Menschenrechte, weil diese Fragestellung weder der histo15

Vgl. Huber/Tödt, Menschenrechte.

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rischen Entwicklung noch den gegenwärtigen Geltungsanspruch der Menschenrechte gerecht wird; es fragt vielmehr nach dem Grund, auf dem ein christlicher Umgang mit den Menschenrechten beruht und von dem her sie theologisch verstanden werden können.“16 Es bestehen nämlich trotz der fundamentalen Differenz zwischen der Gerechtigkeit Gottes, die die „Freiheit eines Christenmenschen“ begründet und menschlicher Rechtsverwirklichung wichtige Analogien, die den Menschenrechten Profil geben können. Gerade im Kontext des Paradigmenwechsels, der durch den Inklusionsansatz nötig ist, können diese Impulse fruchtbar gemacht werden. 3

Gottebenbildlichkeit und die Würde des Menschen

Eine naheliegende Analogie besteht in der Beziehung zwischen der Menschenwürde und dem Glauben an die Gottebenbildlichkeit des Menschen. Das Wort Menschenwürde hat wohl aus diesem Grund bis heute einen Hauch des Transzendenten bewahrt, auch im säkularen Raum. Im Schöpfungsbericht der Priesterschrift wird zur Erschaffung des Menschen gesagt: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild das uns gleich sei“ (Gen 1,26). Mit Hinweis auf die dem Menschen zugetraute Verantwortungsübernahme für die Welt heißt es dann noch einmal unterstreichend: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau“ (Gen 1,27). Mensch ist in diesem Kontext ein Kollektivbegriff, zu dessen Wesen es gehört, dass er in Beziehungen lebt. Die Geschlechterrelation ist offensichtlich. Das sorgende Verhältnis zur übrigen Schöpfung kommt hinzu. Zugleich steht der Mensch nach Gen 1 in der fundamentalen Beziehung zu Gott, dem er das Leben verdankt. Man kann sagen, dass das Wort „Bild“ präzise die Rolle als von Gott gewolltes „Du“ beschreibt, dem Verantwortung für die Welt übertragen wird. Gerade das macht die Menschenwürde aus. Hier ist nicht von einer besonderen Leistung die Rede. Gemeint ist das Menschsein als solches, jenseits aller Unterschiede der Kultur, Religion, des Intellekts und der Körperlichkeit. Der Mensch als Gottes Ebenbild ist wunderbar begnadet. Jedem und jeder Einzelnen gilt unabhängig von der jeweiligen Befindlichkeit die Qualifizierung: „Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (Gen 1,31) Claus Westermann folgert mit Recht:

16

Huber/Tödt, Menschenrechte, 71.

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„Wo überhaupt von der Menschenwürde gesprochen wird, lebt etwas weiter von der biblischen Schöpfungsaussage, die in dem Satz expliziert wird, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde geschaffen habe.“17

Die Würde behinderter Menschen ist „kein Konjunktiv“, kein wünschbarer Charakter. Wenn sie eine unverfügbare und unverlierbare Schöpfungsgabe ist, gilt sie in jedem Fall vom Anfang bis zum Ende des Lebens unabhängig von Kriterien, Leistungsansprüchen, körperlichen, psychischen oder intellektuellen Eigenschaften. Und sie verwirklicht sich strukturell in Beziehungen – zu sich selbst, zum Mitmenschen, zu Gott. Eine Behinderung ändert daran nichts. Sie hat keinen qualitativen Charakter. Umso erstaunlicher ist es, wie in manchen theologischen Konzepten das Thema Behinderung verortet wird. Ulf Liedke unterscheidet vier typische Deutungen.18 Behinderung wird in der theologischen Anthropologie u.a. beschrieben als – Begabung und Charisma,19 – Ausdruck der Normalität des begrenzten und verletzlichen Lebens,20 – „auferlegte Last“, „Aufgabe“ und „Prüfung“,21 – „Manifestation der Gegenmacht Gottes“ und „Gestalt des Nichtigen“.22 Liedke verzichtet dagegen auf eine Sinndeutung der Behinderung und nennt sie neutral eine „Gegebenheit“. Dabei bezieht er sich ausdrücklich auf den Relationsgehalt der Gottebenbildlichkeit. „Das Menschsein mit einer Behinderung lässt sich vor diesem Hintergrund als Verwirklichung der Grundstruktur und als konkrete Gestalt des Menschseins in Beziehung verstehen. Behindert-Sein ist Menschsein, sonst nichts.“23 In diesem Zusammenhang ist auf eine interessante biblisch-theologische Facette hinzuweisen. Der Mensch ist Ebenbild eines „bildlosen“ Gottes. Gottebenbildlichkeit und Bilderverbot korrespondieren miteinander. Was zunächst paradox klingt, erweist sich als ausgesprochen hilfreich in der Inklusionsdebatte. Gott lässt sich nicht festlegen auf ein definiertes So-Sein. Er lässt sich nicht auf die Erfüllung fremder Erwartungen reduzieren. Das Bilderverbot (Ex 20,4) schützt in der Perspektive theologischer Anthropologie auch behinderte Menschen vor dem Zugriff einer Fiktion des Normalen, vor Erwartungen 17

Westermann, Schöpfung, 88. Liedke, Gegebenheit – Gabe – Begabung, 466–482. 19 Z.B. die These: Jede Behinderung ist auch eine Begabung. 20 Z.B. die These: Es ist normal, dass Menschen mit Beeinträchtigungen leben. 21 Z.B. die These: Behinderungen sind Bestandteil der erlösungsbedürftigen Welt. 22 Z.B. die These: Behinderung ist eine Gegenmacht, die es zu besiegen gilt. 23 Liedke, Inklusion in theologischer Perspektive, 37. 18

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an menschliche Leistungsfähigkeit, Unversehrtheit und Gesundheit. Es befreit zur Freude an der Vielfalt. Ist die Gottebenbildlichkeit des Menschen primär unter dem Beziehungsaspekt zu verstehen, so kommt der Gestaltung dieses Netzwerks gerade in der diakonischen Arbeit eine zentrale Bedeutung zu. Beziehungen haben ihren eigenen Wert. Deshalb sind Barrieren, die Beziehungen zwischen Menschen verhindern, so schmerzhaft. Gut gemeinte segregierende Konzepte der Behindertenarbeit oder Sondereinrichtungen des Bildungswesens geraten dabei trotz aller Verdienste ihrer hocheffizienten Förderung unter Legitimationsdruck. Das wird nicht nur durch die Impulse der UN BRK deutlich. Die sozialen Beziehungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen sind eben auch Ausdruck der Geschöpflichkeit des Menschen. Viele diakonische Einrichtungen haben sich schon im Sinne dieser Maßgabe weiterentwickelt. Dezentralisierung und Ambulantisierung sind Schlagworte einer Bewegung, die der selbstbestimmten Teilhabe behinderter Menschen zentrale Bedeutung zumisst. Das Anstaltssystem ist in Auflösung begriffen, Bildung geschieht in Lerngruppen mit starker innerer Differenzierung, Wohnen gelingt für behinderte Menschen immer häufiger in nachbarschaftlicher Umgebung mit Assistenz; und selbst in der Arbeitswelt fassen langsam inklusive Konzepte Fuß. Stets geht es um die Ermöglichung von Teilhabe, um Überwindung von Barrieren durch Beziehung, letztlich um die Verwirklichung der von Gott geschenkten Würde in der Gottebenbildlichkeit. 4

Die Trinität Gottes und das Lob der Vielfalt

Inklusion ist ein Beziehungsbegriff. Zugleich beschreibt die Theologie das Sein Gottes als Beziehungsgeschehen. Gott erschließt sich in dreifacher Gestalt als Vater, Sohn und Heiliger Geist, als Schöpfer, Versöhner und Vollender der Welt. Das christliche Verständnis des einen Gottes hat seine Pointe darin, dass die Kategorie des Anderen bereits innerhalb des Gottesbegriffs positiv zur Geltung gebracht wird. Die Trinität beschreibt eine Verschiedenheit in Gott selbst, die seine Einheit nicht beeinträchtigt; eine Einheit, die die Verschiedenheit lobt. Denn Gott ist nicht einsam, sondern in sich selbst höchst beziehungsreich. Gottes Gottsein vollzieht sich in der wechselseitigen liebevollen Hingabe von Vater, Sohn und Heiligem Geist. Der dreieinige Gott ist in „der Identität seines göttlichen Wesens eine personale Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins.“24 24

Jüngel, Die Wahrnehmung des Anderen, 214.

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Hier ist noch einmal die Gottebenbildlichkeit des Menschen zu beachten. In Entsprechung zum „vielfältigen Sein“ Gottes, in Entsprechung zur Trinität, ist auch die Existenz des Menschen zu deuten. Jeder Mensch spiegelt mit seinen vielfältigen Beziehung die Vielfalt Gottes wider. Insofern öffnet die Glaubensbeziehung zum dreifaltigen Gott die Tür zu einer Wertschätzung gesellschaftlicher Vielfalt. In der Liebe, die den Anderen in seinem Anderssein wahrnimmt und bejaht, entspricht der Mensch dem beziehungsreichen Sein Gottes. Das Bekenntnis zu dem dreieinigen Gott ermöglicht und gebietet eine menschliche Gemeinschaft gegenseitigen Andersseins. Gewiss ist Behinderung nur ein Aspekt gesellschaftlicher Heterogenität. Allerdings bedürfen Menschen mit Behinderungen zur Einbeziehung ihrer Potenziale passgenauer Formen der Assistenz und Förderung, die ihre Selbstbestimmung nicht einschränken. Eine inklusive Gesellschaft freut sich an der Vielfalt. Damit verbunden ist die Aufgabe, Unterschiedlichkeit zuzulassen und ethische Standards für gerechte Teilhabe zu formulieren. In diakonischen Leitfäden spricht man von der Notwendigkeit, heterogenitätssensible Konzepte zu entwickeln. Annedore Prengel versteht Heterogenität als „Zusammenhang von Verschiedenheit, Veränderlichkeit und Unbestimmtheit“25: – Menschen sind verschieden. Sie haben sehr unterschiedliche Ressourcen und Einschränkungen. Das begründet – anthropologisch betrachtet – keine Hierarchie. Im Rahmen der Wahrnehmung von Differenz genießen sie gleiche Freiheit. – Menschen verändern sich. Biographisch konzentrieren sich viele Unterstützungsbedarfe auf die Zeit unmittelbar nach der Geburt und am Ende des Lebens. Auch Behinderungen entstehen oft im Laufe des Lebens. Konkret muss in jeder Lebensphase von der Veränderlichkeit der Entwicklung ausgegangen werden. – Jeder Mensch ist mehr als die wahrgenommene Differenz. Ein Mensch, der eine Behinderung hat, ist auch Mann oder Frau, ist kreativ oder nüchtern, ist leidenschaftlich oder ruhig. Die Persönlichkeit eines Menschen hat viele Facetten. Damit stellt sich die Aufgabe, Vielfalt wertzuschätzen. Eine inklusive Gesellschaft entwickelt eine Willkommenskultur, in der jeder und jede mit unterschiedlichen Neigungen, Kompetenzen und Lebenserfahrungen erleben kann: Ich werde gebraucht. Ich kann mich einbringen. Ich kann entscheiden. Ich respektiere andere. Damit dies gelingt, sind spezifische Beteiligungs- und Mitwirkungsstandards gestaltet worden, die sich an der griffigen Forderung der Behindertenbewegung „Nichts über uns ohne uns“ orientieren. 25

Prengel, Heterogenität als Theorem der Grundschulpädagogik, 12.

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Die Wertschätzung Betroffener als Expert_innen in eigener Sache und als Motoren einer inklusiven Weiterentwicklung des Gemeinwesens wird in der biblischen Anthropologie durch das provokante Erwählungshandeln Gottes unterstrichen. Es orientiert sich nicht an den gängigen Auswahlkriterien. Vielmehr rücken andere Gesichtspunkte ins Zentrum: „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an“ (1.Sam 16,7). Ein typisches Motiv biblischer Berufungsgeschichten ist der Einwand der Erwählten selbst. Ihre Selbsteinschätzung ist: zu jung, ungeeignet, unsicher, behindert (Jer 1,6ff.). Gott lässt den Einwand nicht gelten. Die Freiheit, die er schenkt, wird allen Menschen zugetraut und zugemutet – ohne Ausnahme, ohne Sonderstatus. Die Paulusbriefe lassen z.B. erkennen, dass der Völkerapostel eine Sprachbehinderung hat. Sie schränkt ihn in der Kommunikation ein und führt wohl auch zu Abwertungen seiner Gegner. Dagegen kann Paulus auf die Zusage Gottes vertrauen: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2. Kor 12,9). Auch die Moses-Berufung (Ex 3f., s.o.) setzt bemerkenswerte inklusive Akzente. Moses wird die Rolle als Anführer seines Volkes zugewiesen, der die Befreiung Israels aus der Knechtschaft Ägyptens auf den Weg bringen soll. Er hat eine Sprachbehinderung. Deshalb glaubt er, er sei ungeeignet. Er befürchtet, dass die Aufgabe ihn überfordern wird. Die Berufungsgeschichte stellt diese Einwände in einen anderen, Freiheit eröffnenden Sinnzusammenhang. In der Gottesrede wird hervorgehoben, dass jeder Mensch Gottes Geschöpf ist, vielfältig begabt und darum geeignet, für sich selbst und für andere Verantwortung zu übernehmen. Auch eine Behinderung ist Teil der guten Schöpfung Gottes, eine Gegebenheit, die – unabhängig davon, ob sie als leidvolle Einschränkung erlebt wird oder nicht – zur Vielfalt des Daseins gehört. Gott fragt in dem zentralen Dialog der Berufungsgeschichte: „Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht? Habe ich’s nicht gemacht, der Herr?“ (Ex 4,11). Der Text gibt noch weitere interessante Hinweise eines biblischen Realismus. Die Behinderung Moses wird nicht relativiert, sie wird ernst genommen. Moses wird nicht geheilt. Er behält zudem seine Selbstzweifel. Allerdings wird Mosesʼ Bruder Aaron zu seiner persönlichen Assistenz. Aaron kann reden. Er redet anstelle seines Bruders. Mit dieser Unterstützung wird Moses zum Protagonisten der Befreiung Israels aus der ägyptischen Knechtschaft. So kann Moses die ihm zugewiesene Rolle wahrnehmen.

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In diesem Text kommt eine zentrale inklusive Option in den Blick, die Sigrid Graumann „assistierte Freiheit“26 nennt. Assistenz ermöglicht selbstbestimmte Teilhabe. Behinderte Menschen sind Subjekte des Gemeinwesens. Sie handeln für sich und für andere in der Freiheit, die ihnen geschenkt ist. Ihr Assistenzbedarf wertet sie nicht gegenüber anderen gesellschaftlichen Akteuren ab. Denn jeder Mensch ist auf Unterstützung und Hilfe angewiesen. Schon vor 400 Jahren formulierte der englische Prediger und Schriftsteller John Donne treffend „no man is an island“. Die Nähe der „assistierten Freiheit“ zum reformatorischen Freiheitsbegriff ist offensichtlich. Die Vision einer inklusiven Gesellschaft und Kirche wird durch eine differenzierende Unterscheidung von äußerer und innerer Freiheit sowie ihrer Grenze und Herausforderung im sozialen Miteinander gestützt. Freiheit und Dienstbarkeit sind eben zwei Seiten der gleichen Medaille. Der körperbehinderte Theologe Ulrich Bach hat immer wieder darauf hingewiesen, dass „das Defizitäre mit in die Definition des Humanum“ gehört. „Der Mensch ist ein defizitäres Wesen; als gutes Geschöpf Gottes ist er defizitär; wir dürfen dem Traum entsagen, mehr als ein Mensch zu sein.“27 Diese Akzentuierung biblischer Rede vom Menschen ist ein deutlicher Kontrast zu perfektionistischen Menschenbildern, die Behinderung als Abweichung von der Normalität deuten. Die Wahrnehmung der Normalität des begrenzten und verletzlichen Lebens verleiht der Debatte um Vielfalt, Abbau von Barrieren und Weiterentwicklung solidarischen Miteinanders in Kirche und Gesellschaft ihre Dynamik. Jeder Mensch macht die Erfahrung: Nicht alles gelingt, vieles geht verloren, Einsichten sind bruchstückhaft, Fähigkeiten begrenzt. Die schmerzhaften Brüche und Risse der Existenz, die Grenzhaftigkeit des Menschen, gehören zu jeder Biographie. Das kann dem Leben nicht die Würde nehmen. Menschliche Identität ist christlich verstanden ihrem Wesen nach fragmentarisch; und damit zugleich überraschend vielfältig und bunt. Eingebunden in die Vielfalt Gottes kann es gelingen, auch das eigene Bruchstück gebliebene Leben anzunehmen und in der Freiheit zu leben, die jedem Menschen zugemessen ist. Denn auch Gott wurde begrenzter, sterblicher Mensch und hat am Kreuz seine Liebe offenbart. In den Koordinaten des Kreuzes hat Gott sich verbunden mit Mensch und Welt. Er überwindet die Beziehungslosigkeit der Menschen, die in der Sprache der Bibel Sünde heißt, und befreit zu versöhnter Verschiedenheit. Darum drängt der Glaube an den Gekreuzigten aus dem Bereich des Heiligen in den Alltag der Welt, hat also 26 27

Vgl. Graumann, Assistierte Freiheit. Bach, Theologie nach Hadamar, 47.

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politische Wirkung. Das unterstreichen auch die Deutung der Inklusion als menschenrechtliche Leitnorm durch die Orientierungshilfe der EKD sowie theologische Zugänge des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) aus dem Bereich der Befreiungstheologie.28 Der ÖRK erinnert daran, dass Christus gekommen sei, um den Zaun abzubrechen (Eph 2,14) und Mauern der Vorurteile, Konkurrenz, Angst und Scham einzureißen. 5

Der Leib Christi und die inklusive diakonische Kirche

Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang Kirche und Diakonie? Sie haben ja eine doppelte Aufgabe. Einerseits stehen sie in den politischen Debatten parteilich für die Rechte behinderter Menschen ein. Sie bekräftigen damit die biblische „Option für die Schwachen“ (Mt 25,40) und engagieren sich für die gerechte Teilhabe aller. Ausgehend von Bonhoeffers wirkmächtigem Wort, dass die Kirche nur Kirche ist, wenn sie für andere da ist,29 wurden vielfach Konzepte entwickelt, die in der Anwaltschaft und im Engagement für „Arme, Kranke und Behinderte“30 ihre Stärke haben. Die Kirche ist gerade da ganz bei sich selbst, wo sie Verantwortung für die Welt übernimmt. Das allein kann allerdings keine ausreichende kirchlich-diakonische Antwort auf die Herausforderung Inklusion sein. Deshalb geht es ferner darum, Inklusion in den eigenen Strukturen und Handlungsfeldern umzusetzen und Menschen mit Behinderungen als Subjekte dieser Veränderungen ernst zu nehmen. Es geht darum, „Kirche mit (!) anderen“ zu sein. Das Gemeinwesen Kirche wird damit selbst zum Bewährungsort für Inklusion. Eine selbstkritische Betrachtung legt nahe, dass in Kirche und Diakonie eher Milieus dominieren, die ihre Stärke in der Fürsorge, im Engagement „für andere“ haben. Allerdings tendieren bürgerliche Milieus mit paternalistischen Strategien zu Abgrenzungen; nur selten gehören arme und behinderte Menschen selbst zum gemeindlichen Kernbereich. Ulrich Bach hat für dieses Phänomen die gegensätzlichen Metaphern von „Tribüne“ und „Arena“31 verwendet. In der „Arena“ wird auf Augenhöhe kommuniziert. Es gibt kein Oben und Unten, alle gehören inklusiv dazu. Das gemeinsame Ziel, die geschenkte Freiheit zu verwirklichen, steht im Zentrum. In der Perspek28

Vgl. ÖRK-Zentralausschuss, Kirche aller. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 415. Insbesondere Ernst Lange hat daraus eine Theorie kirchlichen Handelns entwickelt. 30 EKD, Engagement und Indifferenz, 95. 31 Bach, Theologie nach Hadamar, 133ff. 29

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tive der „Tribüne“ allerdings gelten Menschen mit Behinderungen als Schwache, die der Fürsorge bedürfen; sie sind Objekte der Nächstenliebe. Bach nennt das Apartheitsdenken, denn es besteht ein Riss zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen, Gesunden und Kranken, Starken und Schwachen. Wie kann der Riss überwunden werden, wie können Kirche und Diakonie lernen, sich von einer „Institution für“ zu einer „Institution mit“ zu entwickeln? Offenbar ist diese Herausforderung nicht neu. Die paulinische Ekklesiologie bedient sich des Bildes vom „Leib Christi“ (1. Kor 12), um die Trennung von Tribüne und Arena zu überwinden. Der Konflikt in Korinth, den Paulus auch in seiner Abendmahlstheologie bearbeitet, legt den Riss zwischen Barmherzigkeit und Fürsorge einerseits und Gerechtigkeit und Teilhabe andererseits offen. Die Kirche ist ihrem Wesen nach ein Kollektiv, sie ist „Christus als Gemeinde existierend“.32 In Sorge um den Zusammenhalt der vielfältigen Gemeinschaft aus Juden und Heiden, Reichen und Armen, Starken und Schwachen beschreibt Paulus deshalb die christliche Gemeinde als eine Ergänzungsgemeinschaft, in der das wechselseitige Geben und Nehmen der unterschiedlichen Glieder selbstverständliche Funktionen des einen Leibes Christi sind. „Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus“ (Gal 3,28). Im Leib Christi haben alle vielfältige Gaben und ebenso vielfältige Unterstützungsbedarfe. Niemand lebt für sich allein. Es kann im Horizont der Freiheit eines Christenmenschen keine Aufteilung zwischen Gebenden und Nehmenden geben. Auch die „schwachen Glieder“ sind unverzichtbar und leisten ihren spezifischen Beitrag zum Ganzen. Sie sind nicht Objekte der Nächstenliebe, die empfangen, was andere ihnen geben und was andere für sie entscheiden. Sie sind so frei, ihre Teilhaberechte einzufordern. Ohne ihre Begabungen ist die Kirche nicht ganz. Ulrich Bach spricht von „ebenerdiger Theologie“33, denn Inklusion braucht Augenhöhe in den Veränderungsprozessen. Auch in die Kirche muss das vertraute Motto der Behindertenrechtsbewegung Einzug halten: „Nichts über uns ohne uns!“ Die Analogie zum reformatorischen Priestertum aller Getauften ist nicht zufällig. Der unter dem Inklusionsanspruch notwendige Schritt von Barmherzigkeit und Fürsorge hin zu Gerechtigkeit und Teilhabe ist unter Umständen weit. Um Gemeinden in diesem Prozess zu unterstützen, ist vom Pädagogisch-Theologischen Institut der Evangelischen Kirche im Rheinland z.B. ein Index für inklusive Gemeindearbeit34 erarbeitet 32

Vgl. Bonhoeffer, Sanctorum Communio. Bach, Theologie nach Hadamar, 105. 34 Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland, Da kann ja jede(r) kommen. 33

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worden, der die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen und die Wahrnehmung ihrer Lebenslagen schärft, damit eine neue Willkommens- und Beteiligungskultur entsteht. Für die Diakonie ist die Entwicklung „ebenerdiger“ Konzepte nicht minder schwierig. Zwar ist für die großen diakonischen Unternehmen die Zeit der Anstalt längst vorbei und mit ihr die Zeit der geschlossenen Systeme, die durch Hierarchisierung, Fremdbestimmung und Sonderwelten gekennzeichnet sind. Aber der Paradigmenwechsel hin zu mehr Selbstbestimmung und Assistenz ist aufwendig. Nicht alle diakonischen Unternehmen sind gut darauf vorbereitet, entsprechend der menschenrechtlichen Leitnorm ambulante und unterstützende Dienste aufzubauen, zumal die Lage der „Mutterhäuser“ und die finanziellen Ressourcen unter dem Gesichtspunkt des notwendigen Wandels höchst unterschiedlich sind. Zugleich muss sich die Diakonie dem ökonomischen Wettbewerb im Sozialstaat stellen. Personalschlüssel und Pflegesätze bestimmen den Takt der diakonischen Arbeit. Die Sozialleistungssysteme als Grundlage für die Finanzierung der Inklusion machen es allerdings schwer, das eigene kirchlich-diakonische Profil sichtbar werden zu lassen. Im deutschen Sozialstaat begründet die Hilfsbedürftigkeit den Rechtsanspruch auf Hilfe. Damit bleiben Menschen mit Behinderungen stets Hilfeempfänger_innen, nicht Akteure auf Augenhöhe. Sie sind Klient_innen, nicht Glieder am Leib Christi. Die Defizitorientierung des Systems ist offensichtlich. Zugleich entsteht unter dem Diktat der Ökonomie ein ruinöser Kostensenkungswettbewerb der Träger Sozialer Arbeit, unter dem die notwendige inklusive Qualität massiv leidet. In einem „diakonischen Zwischenruf“ kritisiert Uwe Becker mit Recht die „Diskrepanz zwischen einer fulminanten Programmatik und ihrer fachlich desolaten Umsetzung.“35 Er zitiert in diesem Zusammenhang den amerikanischen Psychologen Julian Rappaport mit dem ernüchternden Urteil: „Having rights but no resources and no services available is a cruel joke.“36 Die verfasste Kirche und ihre Diakonie stehen somit vor der gleichen Herausforderung. Angesichts der realistischen Wahrnehmung, dass es nicht mehr darum geht, Menschen mit Behinderungen in das bestehende System einzubinden, sondern das System selbst inklusionstauglich zu machen, werden vielfach neue Handlungsoptionen durch die Zusammenarbeit von Kirche und Diakonie entwickelt. Dabei entdecken Kirche und Diakonie ihre je unterschiedlichen Kompetenzen und lassen eine Periode fortschreitender Entfremdung hinter sich. Be35

Becker, Behindert oder fördert Inklusion, 6. Rappaport, In praise of paradox, 13: „Rechte zu haben, aber über keine Mittel und Leistungen zu verfügen, ist ein grausamer Scherz.“ (eigene Übersetzung). 36

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sondere Beachtung finden gemeindediakonische Konzepte, die „nah dran“37 bei den Menschen sind. Unter dem Stichwort „Kirche findet Stadt“ entwickeln sich Quartiere und Nachbarschaften zu exemplarisch inklusionssensiblen Orten, in denen Kirchengemeinden und Diakonie einander ergänzend arbeiten: hier die Vernetzungskompetenz der Gemeinden und die Fähigkeit, Ehrenamtliche zu gewinnen, dort die Organisationskompetenz und Professionalität der Diakonie. Sonderwelten werden aufgelöst zu Gunsten gemeindeintegrierter Wohn- und Lebensmöglichkeiten. Gesichtspunkte des Normalisierungsprinzips und Aspekte von „Community Care“ finden Eingang in die Leitbilder. Die Trends der Ambulantisierung und Deinstitutionalisierung in der Inklusionsdebatte liefern weitere Anknüpfungspunkte, um ein neues Miteinander von Kirche und Diakonie einzuüben. Gemeinsames Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu entwickeln, in denen Menschen mit Behinderungen – wie alle anderen – ihr Menschenrecht auf gleichberechtigte Teilhabe einlösen können. Damit ist man noch weit entfernt von einer inklusiven Gesellschaft. Auch die Vision solidarischer Gemeinde, wie sie Paulus mit seiner Leib-Christi-Theologie beschreibt, wird nicht gedeckt durch die Realität volkskirchlicher Gemeinden. Dennoch gilt es, die Spannung von geglaubter und wirklicher Kirche fruchtbar zu machen. Denn die christliche Freiheitsbotschaft drängt auf ein Leben in Freiheit. Luthers Unterscheidung zwischen äußerem und innerem Menschen, zwischen Freiheit und Dienst, wehrt allerdings der naiven Auffassung, als ließe sich das Reich Gottes in unmittelbarer Identität mit den Verhältnissen unserer Wirklichkeit herbeiführen. „Eine wichtige Orientierung auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft gibt die Unterscheidung von Letztem und Vorletztem, die Unterscheidung des verantwortlich Machbaren und der Vision, die dem Machbaren Richtung gibt. Sie hilft uns, jetzt das Rechte zu tun und zu wagen.“38 Inklusion als menschenrechtliche Leitnorm kann zum zentralen Anstoß für einen gesellschaftlichen und kirchlich-diakonischen Entwicklungsprozess werden. Kirche und Diakonie sollten dafür „das Rechte tun und wagen“. Literatur Bach, Ulrich, Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar, Neukirchen-Vluyn 2006.

37 38

Vgl. Schäfer u.a., Nah dran. EKD, Orientierungshilfe Inklusion, 185.

Theologische Perspektive

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Becker, Uwe, Behindert oder fördert Inklusion? Eine Kritik an Irrwegen der Inklusionsdebatte, Düsseldorf 2014. Bonhoeffer, Dietrich, Sanctorum Communio. Eine dogmatische Untersuchung zur Soziologie der Kirche (1930), München 1969. Bonhoeffer, Dietrich, Widerstand und Ergebung, hg. von Eberhard Bethge, München 1970. Ebach, Jürgen, Biblische Erinnerungen im Fragenkreis von Krankheit, Behinderung, Integration und Autarkie, in: Handbuch Integrative Religionspädagogik, hg. von Annebelle Pithan, Gütersloh 2002, 98 ff. Eiesland, Nancy L., The Disabled God, Nashville/USA 1994. Eiesland, Nancy L., Dem behinderten Gott begegnen, in: Stephan Leimgruber u.a. (Hg.), Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, Münster 2001, 7ff. EKD, Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 1998. EKD, Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2014. EKD, Es ist normal, verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2014. EKD, Kundgebung „Frei und engagiert – in Christus. Christlicher Glaube in offener Gesellschaft“, 2. Tagung der 12. Synode der EKD, Bremen 11.11.2015. Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR), Da kann ja jede(r) kommen. Inklusion und kirchliche Praxis. Eine Orientierungshilfe, Düsseldorf 2013. Graumann, Sigrid, Assistierte Freiheit. Von einer Behindertenpolitik der Wohltätigkeit zu einer Politik der Menschenrechte, Utrecht 2009. Huber, Wolfgang/Tödt, Heinz Eduard, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, Stuttgart 1977. Jüngel, Eberhard, Die Wahrnehmung des Anderen in der Perspektive des christlichen Glaubens, in: Eberhard Jüngel, Indikative der Gnade – Imperative der Freiheit, Tübingen 2000, 205ff. Kliesch, Klaus, Blinde sehen, Lahme gehen. Der heilende Jesus und seine Wirkungsgeschichte, in: Johannes Eurich u.a. (Hg.), Inklusive Kirche, Stuttgart 2011, 101ff. Liedke, Ulf, Gegebenheit – Gabe – Begabung?, PT 98 (2009) 466– 482.

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K. Eberl

Liedke, Ulf, Inklusion in theologischer Perspektive, in: Ulf Liedke/ Ralph Kunz (Hg.), Handbuch Inklusion in der Kirchengemeinde, Göttingen 2013, 37. Luther, Martin, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: Martin Luther, Werke Bd. 1, hg. von Karin Borkamm und Gerhard Ebeling, Frankfurt a.M. 1982, 238ff. Oeming, Manfred, Zum theologischen Umgang mit Behinderung im Alten Testament, in: Johannes Eurich u.a. (Hg.), Inklusive Kirche, Stuttgart 2011, 81ff. ÖRK-Zentralausschuss, Kirche aller, Genf 2003. Prengel, Annedore, Heterogenität als Theorem der Grundschulpädagogik, Zeitschrift für Grundschulforschung 3/1 (2010) 12. Rappaport, Julian, In praise of paradox. A social policy of empowerment over prevention, American Journal of Community Psychology 9 (1981) 1–25. Schäfer, Gerhard K. u.a. (Hg.), Nah dran. Werkstattbuch für Gemeindediakonie, Neukirchen-Vluyn 2015. Vereinte Nationen, Convention on the Rights of Persons with Disabilities (CRPD). Resolution 61/106 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 13.12.2006. Westermann, Claus, Schöpfung, Stuttgart 1971.

Heinrich Greving/Petr Ondracek

1.5 Menschenrecht Inklusion – Betrachtungen aus heilpädagogischer Perspektive

Einleitung Am Beispiel der Heilpädagogik wird hier das Verhältnis zwischen dem akademisch „bearbeiteten“ und praktisch „gewachsenen“ Feld der Pädagogik und dem gesellschaftspolitischen Verlangen nach Implementierung der Inklusion(sphilosophie) dargestellt. Ein intensiver, theoretischer und methodologischer Diskurs ist notwendig, um das Selbstverständnis der (Heil-)Pädagogik im Zeitalter der Inklusion fortwährend zu prüfen, zu präzisieren und weiterzuentwickeln. Als „Zeitalter der Inklusion“ wird hier die Zeit betrachtet, in der die Inklusion ein gesellschaftliches, politisches und fachliches Thema ist. Eine pädagogische Perspektive auf Inklusion stellt eine deutliche Aufforderung an die Heilpädagogik – ebenso wie für alle anderen pädagogischen Berufe aus dem Spektrum der Sozialen Arbeit – dar, sich auf das Grundanliegen der allgemeinen Pädagogik zu besinnen, um in diesem Kontext die eigene, zielgruppenorientierte Theorie, Methodik und Praxis den Erfordernissen einer Inklusionsförderung konsequent anpassen zu können. Es ist ein Anliegen dieses Beitrags, diese Aufforderung aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten und damit die Komplexität der Implementierung bewusst zu machen. Zu diesem Zweck wird zunächst der Blick auf heilpädagogische Professionalität gerichtet, um sie im Rahmen ihrer möglichen Begründungen und Relevanzen für die Inklusion zu skizzieren. Die Ausführungen zur Inklusion werden anschließend um zwei praxisbezogene Hinweise ergänzt: erstens im Kontext einer Vernetzung von heilpädagogischen Praxisfeldern mit Themen der Inklusion sowie zweitens im Kontext des Studiums bzw. der Berufsausbildung in der Heilpädagogik.

124 1

H. Greving/P. Ondracek

Heilpädagogische Professionalität und Inklusion

Die Inklusion stellt nicht geringe Anforderungen an die Heilpädagogik als Profession. Auch wenn diese immer wieder einmal integrativ und inklusiv orientiert war, ist doch die Radikalität inklusiven Denkens deutlich dazu angetan, die grundlegende Orientierung der Heilpädagogik – also ihre „professio“, ihre „Berufung“ – neu zu kalibrieren. Heilpädagogik kann hierbei in einem gegliederten System von sieben Stufen oder Dimensionen gedacht werden, die alle im Hinblick auf die Konkretisierung von Inklusion zu überprüfen sind.1 Als Erstes ist die erkenntnistheoretische Dimension und Basis zu nennen, d.h., dass die Begründung einer Profession immer an eine erkenntnistheoretische Grundorientierung gebunden und auf diese bezogen ist. Wir haben uns dazu entschieden, eine konstruktivistische und humanistische Position zu beziehen, weil uns diese, in Bezug auf die Erklärungen für die aktuellen Prozesse im Sozialwesen als die relevanteste und anschlussfähigste erscheint. Konstruktivismus soll hierbei als eine Erkenntnistheorie verstanden werden, die versucht, den Prozess der Erzeugung der Vorstellungen von Welt und „Wirklichkeit“ zu begründen.2 Im Konstruktivismus wird nicht die Wirklichkeit vorgefunden und entdeckt, sondern sie wird durch den Betrachter und Handelnden selbst geschaffen, d.h. konstruiert. Wir geben folglich nie eindeutige und „wahre“ Wirklichkeiten, sondern immer nur unsere Wahrnehmungen, unsere Erfahrungen und Erinnerungen von „Wirklichkeit“ weiter. Welche spezifischen Impulse können nun vom Konstruktivismus für eine inklusiv ausgerichtete Heilpädagogik ausgehen? Grundsätzlich gilt: Jede sprachliche Setzung, jegliches Zeichen kann als Konstrukt verstanden werden. Um miteinander zu kommunizieren und zu leben, müssen wir die Hintergründe dieser – von uns Menschen gesellschaftskulturell, historisch bzw. individuell entwickelten – Konstrukte und Zeichen kennen und deuten. In diesem Sinne sind die etymologische Basis und die metatheoretischen Begründungen der Inklusion in und für die Heilpädagogik zu bestimmen. Des Weiteren können auch heilpädagogische Kategorien als Konstrukte verstanden werden: Geistige Behinderung, Körperbehinderung, Verhaltensauffälligkeiten oder Verhaltensbesonderheiten sind verbale und mentale Konstrukte, anhand derer wir versuchen, eine uns vielfach unbekannte Wirklichkeit ins Wort, in eine kommunizierbare Bedeutung und Verdeutlichung zu bringen. Ein sozialwissenschaftlich und konstruktivistisches Verständnis von Inklusion 1 2

Vgl. Greving, Heilpädagogische Professionalität, 22–30. Vgl. Palmowski, Konstruktivismus, 55.

Heilpädagogische Perspektive

125

sollte diese Konstruktionsprozesse auf möglichst allen Ebenen nachvollziehbar machen und so für Veränderungsprozesse aufbereiten. Dies gilt natürlich auch für die (konstruierten) Phänomene der Inklusion. Dass diese in nicht unerheblichem Maße auch politisch (aus-) gedeutet werden, zeigt sich u.a. daran, dass die deutsche Politik immer noch von einem sehr deutlich integrativ verfassten Inklusionsverständnis ausgeht – und so den Veränderungsdruck in Bezug auf bestehende Strukturen und Hierarchien zu umgehen sucht. Ein konstruktivistisches und humanistisches Verständnis der Inklusion, mit dem Fokus auf die pädagogische Orientierung der Heilpädagogik, hätte sich daher mit den Entstehungsprozessen der Begriffe und Leitmuster, der entwicklungsbezogenen Prozesse aller Beteiligten sowie den gesellschaftlichen Gestaltungen und Relevanzen zu beschäftigen. Diese müssten einem kritischen Diskurs aller Beteiligten unterworfen werden – hierbei käme den Menschen mit Beeinträchtigungen eine zentrale Rolle zu, da diese von den Konstruktionsprozessen am nachhaltigsten betroffen sind. Ein weiterer Komplex der erkenntnistheoretischen Begründung bezieht sich auf die Vernetzung von Konstruktivismus und Ethik in der Heilpädagogik: Grundlegende konstruktivistische Begriffe wie Autopoiese bzw. Selbstbestimmung, aber auch Ko-Konstruktion und Viabilität deuten darauf hin, dass der Mensch eine hohe Verantwortung für sich und den anderen trägt. Im Rahmen selbstbestimmter und gemeinsam ausgehandelter Kommunikationsprozesse und Verhaltensmuster müssen sich die Handlungspartner aneinander orientieren. Sie müssen professionell planen und nachvollziehen, welche Anteile für eine gemeinsam zu schaffende Wirklichkeit mit dem anderen geteilt werden können. Abhängigkeiten und Selbstbestimmungsprozesse, Bindungen und Lösungen des einzelnen Menschen sind somit nie von diesem allein zu leisten, sie stehen immer im Kontext des wechselseitig aufeinander verwiesen Seins. Gerade dieser Zusammenhang lässt sich humanistisch zutiefst begründen und im praktischen Vollzug humanen Handelns ausführen. Schließlich kann der Konstruktivismus auch im Hinblick auf die Didaktik und Methodik der Heilpädagogik Einiges leisten: so z.B. in der (Verhaltens-)Beobachtung und in der Kommunikation. Wenn der Satz von G. Bateson stimmt, dass alles Gesagte von einem Beobachter gesagt wird, so ist es genau dieser Beobachter, der auch die Situation, die er beschreibt, durch sein Dasein verändert und durch seine Wahrnehmung so auffasst, wie er und niemand anderes sie in diesem Moment auffassen kann. Dies wird in den Handlungsprozessen der Heilpädagogik kommuniziert, in Dokumenten analysiert und in (Diagnose-, Förder-, Assistenz-)Berichten weitergegeben. Ein nächster Aussagekomplex bezieht sich auf die Konstruktion, Re-Konstruktion

126

H. Greving/P. Ondracek

und De-Konstruktion von Lernen und Lernprozessen. Diese sollten am gemeinsamen Gegenstand durchgeführt werden. Lernen geschieht hier kooperativ in der Entwicklung von Interessenslagen, Abstimmungsprozessen und Wechselwirkungen zwischen kognitiven, emotionalen und sozialen Wahrnehmungen und Ausrichtungen. Ein dialogischer Sinn, also die Erfahrung, mit anderen gemeinsam in kommunikativen Prozessen Sinn zu generieren, gelingt folglich immer nur in ko-konstruktiven Prozessen – mit dem Fokus und der Spezifizierung einer humanistischen Handlungsweise. Als Zweites ist die historische Dimension zu skizzieren. In dieser werden die historischen Begründungen der Heilpädagogik ausgearbeitet. Heilpädagogik kann immer nur vor dem Hintergrund ihrer Geschichte verstanden und analysiert werden, wobei die Betrachtung dieser Geschichte ebenfalls vor dem Hintergrund erkenntnistheoretischer Prozesse, wie etwa die des Konstruktivismus, erfolgt. Immer, wenn die Heilpädagogik in ihrer Geschichte verstanden wird, wenn sie in ihr und durch sie begründet wird, sind Annahmen darüber notwendig, wie sie sich heute auswirkt, welche Aufgaben sich ihr stellen und wie sie gegebenenfalls auf diese reagiert. Die Geschichte der Heilpädagogik ist hierbei als zeithafte, zeitverhaftete und entworfene Historie zwischen allgemeiner Pädagogik und Medizin, zwischen Therapie und Erziehung, zwischen Gesellschaft und Person zu verstehen. Gerade die letztgenannte Dichotomie scheint wegweisend zu sein: Die Gesellschaft will im Rahmen ihrer Prozesse die Objektivierung des anderen Menschen, dieser soll als Gegenstand der Fürsorge versorgt werden, und das geschieht durch eine Person, also ein professionell handelndes Subjekt, das im Dialog mit einem anderen Subjekt diese Prozesse plant und umsetzt. Die Historie der Heilpädagogik kann aber auch als Geschichte ihrer Institutionen und Organisationen gelesen werden. So, wie die Heilpädagogik Familie bzw. Wohnen wahrnimmt bzw. wahrgenommen hat, war sie dazu in der Lage, hierfür Organisation zu bieten. Das geschah stets vor dem Hintergrund einer intensiven Vernetzung mit geistesgeschichtlichen und kulturellgesellschaftlichen Normen. Die Geschichte der Heilpädagogik ist aber auch immer eine Geschichte der Macht und der Ohnmacht, der Bemächtigung (evtl. durch andere) und des machtvollen Beharrens, eventuell im Kontrast zu Selbsthilfebewegungen. D.h., die Heilpädagogik hatte sich immer wieder neu zu beweisen, wobei es ihr häufig nicht gelang, die Bestrebungen aus dem Kreise der Menschen mit Behinderungen in ihren eigenen Kanon aufzunehmen, ohne hierbei die Menschen mit Behinderungen zu entmündigen und zu verohnmächtigen. Gerade diese Prozesse sind es, welche im Rahmen einer inklu-

Heilpädagogische Perspektive

127

siven Verfasstheit der Heilpädagogik kritisch reflektiert und verändert werden müssen, damit die Heilpädagogik nicht erneut in solche Fahrwasser gerät. Konkret muss es darum gehen, dass die Heilpädagogik viel intensiver als bislang die sog. Selbsthilfeorientierungen von Menschen mit Beeinträchtigungen wahrnimmt und mit ihnen kooperiert. Des Weiteren muss sich die Heilpädagogik den Prozessen und (Forschungs-)Ergebnissen der Disability Studies stellen und diese kritisch in ihre eigenen Professionsbestrebungen und -orientierungen aufnehmen. Und nicht zuletzt muss in der Heilpädagogik eine viel intensivere Realisierung der sog. Betroffenenperspektive in der Forschung, als dann konsequent umgesetzte partizipatorische Forschung, vorgenommen werden. Die Geschichte der Heilpädagogik als eher exklusionsspezifische Profession muss genauso auf den Prüfstand wie immer noch vorhandene aktuelle Tendenzen, die Heilpädagogik erneut als Medizin- oder Pflegehilfswissenschaft zu etablieren. Gerade in Bezug auf die pädagogische Arbeit mit alten Menschen mit Beeinträchtigungen und mit Menschen mit Mehrfachbehinderungen feiert diese Absicht neuerdings wieder fröhlich Urständ. Als Drittes ist die anthropologisch-ethische Dimension zu betrachten. Die Anthropologie stellt die Frage nach dem Menschen und die Ethik nach dem guten Leben aller Menschen. Es geht darum, die Frage nach der Art und Weise des Menschseins im Kontext einer Theorie der Moral zu beantworten. Auf die Heilpädagogik bezogen können folgende Fragen und Themen benannt werden: Welches Ziel steht im Mittelpunkt des konkreten Handelns in der Heilpädagogik, wonach hat sich diese strikt auszurichten? Wie kann dieser Prozess konkret gestaltet werden? Welche Möglichkeiten der Freiheit des Handelns, der Freiheit der Begründung des Handelns können hierbei genutzt und umgesetzt werden? Vor diesem Hintergrund ist nun nicht nur eine reine Pflichtethik, sondern vielmehr auch eine „Moral der Selbstverwirklichung“3 auszubilden. Es müssen ethisch begründete, moralische Momente, die auf Kommunikation, Kooperation und Konsens ausgerichtet sind, verwirklicht werden. Dies mag und sollte in einer Gesellschaft geschehen, die zurzeit eher monologisch, unkooperativ und auf Dissens angelegt zu sein scheint. Hierbei ist im ersten Schritt zu überprüfen, wie die Inklusion anthropologisch verfasst ist und welche Relevanzen sie für konkretes moralisches Handeln aufweist. In einem zweiten Schritt wäre dann zu klären, welche ethischen Perspektivierungen sie vorzunehmen in der Lage ist. Hierbei kann es dann u.E. zu einer Verbindung der konstruktivistischen The3

Vgl. Gröschke, Praktische Ethik der Heilpädagogik.

128

H. Greving/P. Ondracek

men mit denjenigen der Ethik kommen – so z.B. im Hinblick auf die zugrundeliegenden Menschenbildannahmen, die Selbstbestimmung des Menschen, die Passung wechselseitiger Handlungen. Die vierte Ebene, die semiotisch-sprachliche Dimension, stellt die engste argumentative Nahtstelle zu einer professionellen, auf die Inklusion ausgerichteten Heilpädagogik dar: Durch sie wird deutlich, womit professionelles Handeln in der Heilpädagogik geschieht und was die Handelnden im eigentlichen Sinne wollen. Die Heilpädagogik, wie jede andere Wissenschaft auch, benutzt und entwickelt Zeichen, sie setzt sich zeichensetzend mit ihrer Klientel und ihrem Feld auseinander. Sie spricht an und aus, benennt und konstruiert. Hierbei sind mehrere Themen bedeutsam. Zunächst ist die historische Begründungslage der Sprache nennen: Wie und in welchen Kontexten sind Begriffe und Inhalte wie z.B. „Behinderung“, „Beeinträchtigung“, „Eingliederungshilfe“ entstanden? Wie und wodurch bilden sich die Zeit und Zeitläufte in diesen jeweiligen Begriffen ab? Sind die aktuellen Begriffe im eigentlichen Sinne des Wortes noch stimmig oder bedeuten sie gegebenenfalls etwas völlig anderes? Wandelt sich in diesen Vorgängen nur die Sprache oder verändert sich auch die Botschaft? In diesem Kontext sollten auch die philosophischanthropologischen Begründungen zur heilpädagogischen Sprache dargelegt werden. Auch wenn dieses Themenfeld u.E. noch wenig erschlossen ist, muss damit begonnen werden, entlang einer historischen Entwicklungslinie der Heilpädagogik die Veränderungsmuster heilpädagogischer Grundbegriffe zu erforschen. Diese müssen in den Kontext der je aktuellen Nutzung gestellt werden, um hiervon mögliche Konsequenzen für die Entwicklung der Professionalisierung der Heilpädagogik abzuleiten. Dabei muss dann auch der Begriff der „Inklusion“ als eine heilpädagogische Begrifflichkeit wahrgenommen und gedeutet werden. Noch wichtiger sind aber die Worte und Zeichen, die dieses Feld sozusagen gestalten bzw. einbinden: die Art der Finanzierung heilpädagogischer Leistungen, die Stellung der Heilpädagogik in den unterschiedlichen Tarifsystemen sowie die generelle Verortung der Heilpädagogik im Gefüge sozial- und gesellschaftswissenschaftlicher Professionen. Schließlich sollte die Sprache in heilpädagogischen und pädagogischen Institutionen und Organisationen erforscht werden: Unterscheidet sich diese von der Sprache in Nicht-Organisationen? Unterscheiden sich unterschiedliche Organisationen hinsichtlich ihrer Realisation von Worten und Begriffen? Wie ist dieses wiederum vor historischem Hintergrund zu betrachten? Und wie wirken sich diese Prozesse auf die Vollzüge der Professionalisierung in der Heilpädagogik aus? Dass der Begriff der „Inklusion“ bzw. die Um-

Heilpädagogische Perspektive

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setzung desselben hierbei in hohem Maße relevant ist, muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. In einem fünften Schritt gilt es, die organisatorische Dimension zu erläutern. Diese gibt den Rahmen vor, in dem professionelle und pädagogische Beziehung und Begegnung stattfinden. Die Geschichte der einzelnen Organisationen prägt hierbei die potentiellen und aktualen Beziehungen zwischen den Menschen in diesen Organisationen. Für die Professionalisierung der Heilpädagogik unter der Perspektive der Inklusion spielen verschiedene Veränderungen der Organisation eine zentrale Rolle: von stationär zu ambulant, die Einführung des persönlichen Budgets, die sich deutlich und schnell verändernde Altersstruktur im Hinblick auf Einrichtungen für erwachsene Menschen mit Behinderungen etc. Hierbei muss vor allem auch die Organisationskultur der jeweiligen Einrichtung analysiert werden, da diese die grundlegenden Orientierungen der Organisation – und damit auch ihren Bewegungsspielraum im Hinblick auf aktuelle Veränderungsprozesse – festlegt. Dies gilt sicher auch und vor allem für sog. Komplexeinrichtungen, die bislang die gesamten Lebensprozesse von Menschen mit Beeinträchtigungen geregelt haben: Sie dürfen ambulante Unterstützungsleistungen nicht nur als weitere Produkte in ihrer Angebotspalette verstehen, sondern müssen die gesamte Organisation im Hinblick auf inklusive Postulate verändern. Dieser Transformationsprozess in den Einrichtungen betrifft auch die professionellen Rollen und die Beziehungsmöglichkeiten in allen heilpädagogischen Feldern, es werden ganz neue Anforderungen an diese gestellt. Heilpädagogik ist und wird hierbei immer mehr zu einer Dienstleistung; eine heilpädagogische Beziehung kann folglich von beiden Handlungspartnern als Dienstleistungsbeziehung erfahren werden, die sich vor einem sich permanent verändernden sozialpolitischen und ökonomischen Hintergrund vollzieht. Dies mögen folgende Beispiele verdeutlichen: die Möglichkeit oder Unmöglichkeit der Erziehung in der Altenhilfe, die Kommunikation in der Pflege, die Pädagogik in der Schule, dialogisches Handeln in der Assistenz. Letztlich wird es also darum gehen müssen, eine professionelle Authentizität und Konstanz zu leben – auch und gerade wenn die Institutionen und Organisationen der Gesellschaft (gesellschaftskonformes) Verhalten und Variabilität von den Handlungspartnern fordern. Als vorletzter Punkt sei die methodologische Dimension benannt: In welchem Kontext erfolgt methodisches Handeln, wie kann es erkenntnistheoretisch begründet werden und wohin führt es gegebenenfalls? Die Methoden (griech.: methodos „nachgehen, verfolgen“) sind als Wege zum Menschen hin zu verstehen und sind Bausteine von

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H. Greving/P. Ondracek

Konzepten. Konzepte stellen den größeren Rahmen und die sachlogischen Umfassungen der Methoden dar. Die greifbaren Elemente der Methoden wiederum sind die verschiedenen Techniken und Interventionsweisen. Vor diesem Hintergrund sind folgende Fragen für die Professionalität einer inklusionsorientierten Heilpädagogik zielführend: Wodurch werden in welchem Kontext heilpädagogische Methoden konstruiert? Dienen diese der Realisierung der Inklusion? Welches konkrete inklusive Handeln sollen sie begründen? Es geht hierbei immer um einen Diskurs der Bezüge zwischen Gesellschaft, Praxis und Methodologie. Zu konkretisieren und umzusetzen ist dieser in einer Realisierung und Reflexion dieser Bezüge in heilpädagogischen Konzepten, die wiederum auf einem heilpädagogisch relevanten Verständnis einer inklusiven Praxis beruhen. Die Annahmen einer methodologischen Dimension dienen also dazu, sowohl das Feld einer inklusiven Praxis der Heilpädagogik zu begründen und zu analysieren als auch heilpädagogische Konzepte und Methoden sowie Reflexionsprozesse zu prüfen und umzusetzen. Es wäre längerfristig zu untersuchen, ob und wie eine methodologische Basis der Inklusion gestaltet werden kann. Die letzte zu beschreibende Dimension stellen das Studium und die Ausbildung in der Heilpädagogik dar. Sie nimmt alle anderen Dimensionen auf, erforscht und reflektiert diese. Hierbei ist auf ein spezifisch heilpädagogisches Problem – bzw. auf ein spezifisch deutsches heilpädagogisches Problem – aufmerksam zu machen: die Einheitlichkeit bzw. Uneinheitlichkeit auf den Ebenen der Fachschulen/ Fachakademien, der Fachhochschulen und der Universitäten. Alle drei respektive vier Ausbildungsebenen führen zum Abschluss einer staatlich anerkannten Heilpädagogin bzw. eines Heilpädagogen; dennoch sind die Ausbildungen hinsichtlich ihres Umfangs, ihrer Länge, ihrer Intensität und ihrer methodischen Ausrichtung in hohem Maße unterschiedlich. Auch hierzu wäre nun eine inklusive Vorgehensweise vonnöten, um nicht unbotmäßige Prozesse zwischen diesen Ebenen lebendig werden zu lassen. Dennoch sei eine (vielleicht sogar provokante) Frage erlaubt: Wer bildet eigentlich die Heilpädagog_innen aus? Sind dies Heilpädagog_innen oder Vertreter_innen anderer Professionen (die sich intensiv heilpädagogisch weitergebildet haben)? Eine Lösung besteht evtl. darin, bei allen Beteiligten eine Kompetenzorientierung und eine Vernetzung mit der Praxis im Hinblick auf das praktische Handeln in den unterschiedlichen Feldern der Heilpädagogik zu bewirken. Gerade in einer Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen zur Reform der Studiengänge im Hinblick auf Bachelor- und Master-Programme bieten sich diese Kompetenzorientierungen an. Hierbei können dann auch die Orientierungen und

Heilpädagogische Perspektive

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Maßgaben des Berufs- und Fachverbandes Heilpädagogik e.V. zu Rate gezogen werden. Auf allen Ausbildungsebenen müssen sich Konkretisierungen zur Inklusion wiederfinden lassen. Aktuell gibt es hierzu schon Verlautbarungen und Positionspapiere der „Ständigen Konferenz von Ausbildungsstätten für Heilpädagogik“, die die Fachschulen und Fachakademien vertritt, sowie vom „Fachbereichstag Heilpädagogik“, also dem Zusammenschluss die Fachhochschulen für Heilpädagogik. Dieses Modell der sieben Dimensionen der Professionalisierung der Heilpädagogik kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Die erkenntnistheoretische Dimension, die historische Dimension und die anthropologisch-ethische Dimension bilden zusammen mit der semiotisch-sprachlichen Dimension die Grundlagen, die dafür genutzt werden können, heilpädagogische Erkenntnisse theoretisch zu verorten. Die semiotisch-sprachliche Dimension, die organisatorische Dimension, die methodologische Dimension und die Ausbildungsdimension dienen dazu, Konzepte im Rahmen der Heilpädagogik zu entwickeln, aus denen wiederum Methoden und Interventionsweisen für heilpädagogisches Handeln entstehen können. Alle sieben Dimensionen sind zentral, um heilpädagogische Kompetenzen zu realisieren, damit auch im 21. Jahrhundert Heilpädagogik als theoretisch fundierte Handlungswissenschaft gesellschaftliche Veränderungsprozesse mit der Ausrichtung auf die Inklusion zu initiieren sowie Persönlichkeitsbegleitung individuell kompetent wahrzunehmen in der Lage ist. Eine professionelle, inklusiv ausgerichtete Heilpädagogik bezieht sich immer auf spezifische Praxisfelder. Aus diesem Grund wird dieser Kontext im Folgenden konkreter beschrieben. 2

Heilpädagogische Praxisfelder und Inklusion

Da die wissenschaftlichen Forschungen und Weiterentwicklungen überwiegend medizinisch und psychologisch ausgerichtet waren, hat auch die Heilpädagogik lange Zeit auf eine orientierende Systematik gesetzt. Diese offenbarte sich in diagnostischer Unterteilung der zu unterstützenden Menschen in Symptome, Defekte und Kategorien. Das führte seit Ende des 19. Jahrhunderts zu immer weiteren Methoden, Ausdifferenzierungen und Spezialgebieten. Da die Behinderung medizinisch betrachtet weitgehend dem individual-pathologischen Paradigma verhaftet war, haben sich auch die pädagogischen Interventionsweisen stark am Defizitdenken, an Instruktionen, an besonderen Hilfen, an Anpassung und an funktioneller Ertüchtigung orien-

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tiert. Damit haben sich nicht nur die heilpädagogische Theorie, sondern auch die Handlungslehre und das gesamte System heilpädagogischer Praxisfelder auf diese Strategie eingestellt. Zwecks pädagogisch-therapeutischer Behandlung folgte dann der Ausschluss der Betroffenen aus ihrer soziokulturellen Umwelt und der Einschluss in spezialisierte Institutionen. Dort ging man von einer starken Führungsbedürftigkeit der zu unterstützenden Menschen aus. Somit war deren Außen- und Fremdsteuerung so gut wie vorprogrammiert. Mit der Folge, dass sowohl in der Lernorganisation und der Förderung als auch in der alltäglichen Betreuung helferdominante, oft autoritäre Strukturen und Verfahrensweisen herrschten. Zu einer Änderung dieser Sichtweise kam es in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Das theoretische Paradigma zu verändern war sicherlich nicht leicht, ging aber voran. Es wurden soziologisch, psychologisch und anthropologisch fundierte Konzepte erarbeitet, die den Menschen in seiner subjektiv-interaktionalen Entwicklungsfähigkeit und gesellschaftlich-sozialen Bezogenheit sahen. Ab den 70er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts wurden Förderung und Sicherung der Teilhabe von Menschen in beeinträchtigten Lebenslagen und sozialer Benachteiligung am Leben der Gesellschaft als eines der wichtigsten Anliegen des heilpädagogischen Handelns deklariert. Der damit verbundene Ansatz der Integration erforderte einen Paradigmenwechsel in der pädagogischen Theorie und Praxis – hin zur systemisch-ökologischen und konstruktivistischen Sichtweise. Diese begreift das Phänomen „Behinderung“ als soziale Konstruktion und kommt folglich nicht darum herum, entsprechende Strukturen und Haltungen sowie Methoden, Vorgehensweisen und Techniken für die (heil-)pädagogische Unterstützung von Menschen in beeinträchtigten Lebenslagen zu erarbeiten und zu nutzen. Um die Teilhabeförderung methodisch auszugestalten, hat die Didaktik-Methodik der Heilpädagogik die hierfür relevanten Konzepte der Normalisierung4 und des Empowerments in die heilpädagogische Handlungslehre übernommen. Diese Konzepte wurden – soweit dies in den sich immer noch als spezialisierte Welt verstandenen Institutionen und Organisationen möglich war – in der Praxis implementiert. Heute tritt die theoretische Heilpädagogik offen für das Recht aller Menschen ein, nicht ausgegrenzt zu sein und eine fortschreitende Vergesellschaftlichung in allen Lebensbereichen und -phasen zu erfahren.

4

Vgl. Bank-Mikkelsen, Das Normalisierungsprinzip; Nirje, Das Normalisierungsprinzip; Wolfensberger, Die Entwicklung des Normalisierungsgedankens.

Heilpädagogische Perspektive

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In einer anderen Situation befinden sich allerdings die Institutionen und Organisationen der heilpädagogischen Praxisfelder. Konfrontiert mit dem politisch-gesellschaftlichen Verlangen nach Implementierung der Inklusionsphilosophie in die alltägliche Unterstützung von Menschen in beeinträchtigten Lebenslagen und mit sozialen Benachteiligungen stehen sie vor einer echten Herausforderung. Die Inklusionsphilosophie toleriert nicht einfach Unterschiedliches. Sie unterstützt die Verschiedenheit und Individualität im Sinne völliger Gleichwertigkeit jedes Einzelnen. Es geht also keineswegs um eine „inkludierende Anpassung“ des Einzelnen an das von wenigen geschaffene inklusive System mit definierter „Normalität“ (das wäre falsch verstandene Inklusion). Die Unterstützung richtet sich nicht nur auf Beeinträchtigungen der einzelnen Person, sondern im Wesentlichen auf die strukturelle Beseitigung institutioneller, bildungspolitischer, baulicher, sozialer und wirtschaftlicher Barrieren. So wird die Behinderung als eine Dimension von Verschiedenheit – neben anderen! – begriffen, und nicht als eine zu verändernde Minusvariante von Normalität. Neben der Beseitigung der genannten Barrieren erfordert die Implementierung inklusiver Sichtweise in (heil-) pädagogischen Praxisfeldern vor allem eine Veränderung von Haltungen, Einstellungen und Menschenbildern ganzer sozialer Gemeinschaften/Institutionen/Organisationen. Da die Teilhabe am Leben der Gemeinschaft als ein Grundrecht betrachtet wird, sind jegliche Formen von ausschließenden Sondereinrichtungen mit diesem Recht nicht kompatibel. Inklusion in der Praxis bedeutet also eine Veränderung des Systems für alle und durch alle. Konkret bedeutet dies: – „Entinstitutionalisierung“ (d.h. weg von zentraler und hin zu mobiler Unterstützung am Lebensort sowie Umdefinierung der Einsatzund Einflussbereiche), – Auflösung der bisherigen finanziellen und logistischen (Macht-) Strukturen (d.h. Umschichtung der Finanzen, Erschließung neuer Geldquellen, Lockerung und Verteilung der institutionellen Macht u.ä.). Ebenfalls entsprechen die bisherigen (und immer noch bestehenden) institutionalisierten Arbeitsbedingungen nicht den Anforderungen einer gelebten Inklusion. Das gilt auch für die Selbstbilder und ihnen entsprechende Vorgehens- und Umgangsweisen bei den heilpädagogisch Tätigen. Schließlich kommen auch die zu unterstützenden Menschen nicht daran vorbei, ihre eigenen Selbstbilder und Gewohnheiten im Kontext einer inklusiven Lebenserfahrung zu erweitern bzw. zu verändern. Das alles zusammen bedeutet viel Arbeit und eine Neukalibrierung des gesamten Systems mit allen seinen Bestandteilen

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und Teilbereichen, was sicherlich zuerst verunsichert und als eine Belastung empfunden wird. Die Inklusion im institutionellen Berufsalltag zu etablieren, stellt für die heilpädagogischen Institutionen und Einrichtungen ein Problem dar. Sie tun sich schwer, die Implementierung von inklusiver Kultur und inklusiven Praktiken aktiv mitzugestalten. In solchen Situationen neigen Systeme bekanntlich dazu, ihre eigene Funktionsfähigkeit und Stabilität zu sichern. Sie besitzen und erproben die Fähigkeit, sich selbst erhalten, wandeln, erneuern zu können. Dieser Prozess wird auch Autopoiese genannt. Hierbei lässt sich ein Widerspruch zwischen dem starken gesellschaftlich-politischen Verlangen nach Inklusion und dem schwachen Umsetzungswillen der heilpädagogischen Praxissysteme erkennen. Vor diesem Hintergrund wird momentan in den heilpädagogischen Praxisfeldern des Öfteren mit Zögerlichkeit, Abwarten und nicht selten auch mit Lamentieren reagiert. Das ist in Anbetracht der subjektiv erlebten Unsicherheit und Belastung durchaus nachvollziehbar. Allerdings wird irgendwann der politisch-gesellschaftliche Druck so stark, dass den Institutionen und Organisationen nichts anderes übrig bleibt, als sich von der spezialisierten Sonderwelt zu einem Inklusion fördernden Bestandteil der allgemeinen Lebenswelt zu entwickeln. Um diese Herausforderung zu meistern, sind gezielte Aktivitäten in folgenden Bereichen geradezu unumgänglich: – Aus-, Fort- und Weiterbildung des bisherigen Fachpersonals (Bewusstsein inklusiver Gemeinschaft, Fachwissen, Implementierungs-Know-how), – Identifizierung ausschließender (exkludierender) und Inklusion hemmender Strukturen in der eigener Einrichtung, – Schaffung inklusiver Lebensfelder durch Umgestaltung von Einrichtungen und Lebensräumen im Sinne des Inklusionsgedankens auf den Praxisfeldern Familie, Bildung, Arbeit, Wohnen, Freizeit, Gesundheit, Kommunikation. Dies ist vor allem dann gut möglich, wenn auch das Selbstverständnis der Praxisfelder in die Richtung der inklusiven Philosophie erweitert wird. In diesem neuen Inklusionsrahmen hat auch das Spezielle und Besondere der heilpädagogischen Denk- und Handlungsweise einen wichtigen und berechtigten Platz. 3

Die heilpädagogisch Tätigen: Studium, Berufsausbildung und Inklusion

In Bezug auf die heilpädagogisch Tätigen lässt sich durchaus ein Widerspruch erkennen. Geht man davon aus, dass sie die Inklusionsför-

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derung und -sicherung als Bestandteil ihres fachlichen Selbstverständnisses verinnerlicht haben, dann bleibt ihnen die Umsetzung dieses Anliegens in der Praxis heute noch weitestgehend verwehrt. Denn sie beteiligen sich im Berufsalltag häufig immer noch daran, durch ihr fachliches Handeln das Bestehen der spezialisierten ausschließenden Systeme zu unterstützen. Es gibt bisher nur wenige Einrichtungen, die sich bereits stringent nach inklusiver Philosophie umgestaltet haben und in denen die heilpädagogisch Tätigen sich im Sinne der Inklusion fachlich und menschlich engagieren könnten. Schließlich verlangt es eine gehörige Portion an Mut, die Institution infrage zu stellen, in der man sein täglich Brot verdient. Das subjektive Selbstverständnis als Fachperson hängt eng zusammen mit der Motivation und der Zielsetzung der Tätigkeit. Diese beiden Aspekte sind ausschlaggebend dafür, was während der Berufsausbildung als wichtig und was als weniger wichtig bis gar nicht wichtig wahrgenommen wird. Die subjektiv als wichtig – also mit der persönlichen Zielsetzung kompatibel – eingestuften Inhalte und Kompetenzen werden aufgenommen, verinnerlicht, praktiziert, weiterentwickelt und kultiviert. Die anderen Inhalte und Kompetenzen werden pragmatisch-zweckmäßig gelernt, um die Prüfungen zu bestehen – und anschließend oft wieder vergessen. So ergeht es dann auch dem Thema „Inklusion“. Bevor sich die Inklusionsdebatte entwickelte, haben viele Studierende der Heilpädagogik nach wirksamen Methoden und Techniken der Förderung und Übung gesucht – in der Hoffnung, nach dem Studium mit einem gut gefüllten „Werkzeugkoffer“ in die Praxis zu gehen und dort als effiziente Unterstützer_innen zu wirken. Deshalb waren die Lehrveranstaltungen zu Ansätzen und Techniken der heilpädagogischen Einflussnahme auf Erleben und Verhalten von Menschen immer gut besucht. Die Verankerung des heilpädagogischen Handelns in das übergeordnete Anliegen einer „Entbeeinträchtigung“ zum Zwecke der Teilhabeförderung und -sicherung war zwar immer wieder Bestandteil der Lehrveranstaltungen, wurde aber von den angehenden Heilpädagogen und Heilpädagoginnen nicht immer in ihr eigenes Selbstverständnis als Fachperson aufgenommen. Mit der Folge, dass manches erlernte methodische „Werkzeug“ später im Berufsalltag eine Selbstzweckdynamik entwickelte und statt zur Teilhabeförderung des zu unterstützenden Menschen eher zur Wirksamkeitsbestätigung der Fachperson eingesetzt wurde. Die Inklusion ist somit zwar ein Anliegen gewesen, das evtl. im Selbstverständnis vorhanden, aber vornehmlich auf der Ebene von theoretischen Proklamationen verfügbar war. Offensichtlich auch deshalb, weil die Inklusion in dieser Zeit in der Gesellschaft so gut wie nicht thematisiert worden ist.

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Die Inklusionsphilosophie ist noch nicht geläufiger Bestandteil der gesellschaftlichen Wertehierarchie, obwohl schon viel für die Implementierung getan wird. Der Prozess einer Entwicklung von inklusiven Kulturen, Strukturen und Praktiken fängt gerade erst an. Neben den politisch-juristischen Vorgaben, wie z.B. die Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, sind es gerade die heilpädagogisch Tätigen, die von ihrem Aufgabenfeld her dafür prädestiniert sind, sich für ein Mehr an Inklusion im gesellschaftlichen Alltagsleben aktiv einzusetzen. Diese Aufgabe engagiert und überzeugend erfüllen können sie nur dann, wenn sie ihr Selbstverständnis als Fachperson um folgende Motivation erweitern: „Alles, was ich tue, muss auch der Förderung und Sicherung der Inklusion dienlich sein.“ Nicht nur die heilpädagogisch Tätigen sind für diese Erweiterung zuständig. Auch die Studien- und Ausbildungsstätten der Heilpädagogik stehen in der Pflicht, die Selbstkonzepte der angehenden Heilpädagogen und Heilpädagoginnen mit dem „Virus der Inklusion“ zu infizieren. Dies kann insbesondere durch die Vermittlung von relevanten Kompetenzen im Kontext der Aneignung des entsprechenden Theorie- und Methodenwissens gelingen. Hier sind die Ausbildungsstätten aufgefordert, innovative, disziplinübergreifende Studien-, Ausbildungs- sowie Weiterbildungs- und Fortbildungsgänge mit der Ausrichtung auf Inklusion und Partizipation zu konzipieren. Im Wesentlichen sollen die ausgebildeten Heilpädagogen und Heilpädagoginnen (neben den bisher als wichtig erachteten und vermittelten heilpädagogischen Kompetenzen – es geht ja um deren Erweiterung!) auch imstande sein, – ihr Fachwissen und die Erfahrung bezüglich Inklusion in die Öffentlichkeit, in die Behörden, in Vereine, in Parteien etc. zu bringen – durch Beratung, Planung, Projektentwicklung, Organisation von Zusammenarbeit, Management of Diversity etc. (Multiplikatorenkompetenz), – assistierende, personenzentrierte inklusive Maßnahmen in Form eines individuell zugeschnittenen Unterstützungspaketes, d.h. vom persönlichen Bedarf des Einzelnen ausgehend, zu initiieren, zu gestalten, begleitend umzusetzen und zu evaluieren (Empowermentkompetenz), – offene, flexible und temporär begrenzte Service- und Assistenzdiensten mit Wahlmöglichkeiten anzubieten – z.B. unterstütztes Wohnen, Arbeiten oder Freizeitgestaltung, Begleitung in Vereine etc. (Selbsthilfeförderungskompetenz), – Beziehungen und Netzwerke zwischen Personen und gesellschaftlichen Gruppierungen verschiedener ethnischer, religiöser, ökonomischer und sozialer Herkunft aufzubauen (Vermittlerkompetenz),

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– inklusive Maßnahmen z.B. durch kommunalpolitisches Engagement für System- und Strukturveränderungen (Deinstitutionalisierung) in der Gemeinde zu initiieren und sich für inklusive Ausgestaltung des Lebensortes von konkreten Personen in beeinträchtigten Lebenslagen einzusetzen, z.B. durch Verhandeln mit Politikern und/oder administrativen Vertretern (sozialpolitische Kompetenz), – mit Organisationen, Einrichtungen, Vereinen, Initiativen, aber auch einzelnen engagierten Personen zusammenzuarbeiten, die sich für Belange von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen einsetzen (interkulturelle Kompetenz). Die Vermittlung von hier aufgelisteten inklusionsrelevanten Kompetenzen bedeutet nicht, dass die heilpädagogisch Tätigen zu „gnadenlosen Inkludatoren“ mutieren müssten, die nichts mehr mit den traditionellen heilpädagogischen Vorgehensweisen zu tun haben. Vielmehr ist es wichtig, dass sie ihre methodischen „Werkzeuge“ in voller Bewusstheit einer übergeordneten Inklusionsdienlichkeit einsetzen. Einige sind vielleicht jetzt bereits imstande, diese Verankerung verwendeter Vorgänge und Techniken zu vollziehen, andere noch nicht. So kann man manche heilpädagogisch Tätigen in Verlegenheit bringen, wenn man sie bittet, ihr momentanes Handeln als Teilhabeförderung und -sicherung zu begründen, also eine klare Antwort auf die Frage zu geben: „Wie ist das, was du gerade machst, für die Inklusionsförderung deines Gegenübers dienlich?“ Hier offenbart sich ein deutlicher Nachholbedarf. Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt in einigen Artikeln und Absätzen Aufgaben dar, für deren Erfüllung die heilpädagogisch Tätigen mit ihrem „Mehr im qualitativen und quantitativen Sinne“ durchaus prädestiniert erscheinen. Selbstverständlich können und sollen hier auch Fachpersonen aus anderen Berufen der Sozialen Arbeit wirken – nur werden sie in bestimmten Situationen/Interaktionen dieses „Mehr“ vermissen. So steht z.B. in Artikel 23 Abs. 2 (Achtung der Wohnung und der Familie), dass Menschen mit Behinderungen in angemessener Weise bei der Wahrnehmung ihrer elterlichen Pflichten zu unterstützen sind. Hier öffnet sich Raum für heilpädagogische Tätigkeit im Rahmen von Familien unterstützenden Diensten (FUD). In Abs. 5 des gleichen Artikels verpflichten sich die Vertragsstaaten dazu, die Betreuung von einem Kind mit Behinderungen innerhalb der weiteren Familie zu gewährleisten, wenn die nächsten Familienangehörigen dazu nicht in der Lage sind. Falls dies nicht möglich ist, soll die Unterstützung des Kindes innerhalb der Gemeinschaft in einem familienähnlichen Umfeld gesichert werden. Hier öffnet sich Raum für heilpädagogische Tätigkeit im Rahmen des Pflegekinderwesens.

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Artikel 24 Abs. 2 c) und e) (Bildung) listen Aufgaben auf, für deren Erfüllung die heilpädagogische Denk- und Handlungsweise ausgesprochen vorteilhaft ist: Vorkehrungen für die Bedürfnisse des Einzelnen treffen sowie wirksame individuell angepasste Unterstützungsmaßnahmen anbieten. Hier öffnet sich Raum für die typisch heilpädagogische Art, Unterstützung im Rahmen von individueller Erfassung der Bedürfnislage zu konzipieren und durchzuführen. In Abs. 3 des gleichen Artikels steht die Verpflichtung, Menschen mit Behinderungen den Erwerb von lebenspraktischen Fertigkeiten und sozialen Kompetenzen zu ermöglichen, die ihre volle und gleichberechtigte Teilhabe an der Bildung und als Mitglieder der Gemeinschaft erleichtern. Hier öffnet sich Raum für die genuin heilpädagogische Unterstützung in Form von Förderung und Übung. In Abs. 4 des gleichen Artikels geht es darum, dass die Fachkräfte im Bildungswesen geeignete ergänzende und alternative Formen, Mittel und Formate der Kommunikation sowie pädagogische Verfahren und Materialien zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen verwenden sollen. Das ist durchaus ein traditionelles Feld für heilpädagogische Tätigkeit. In Artikel 26 (Habilitation und Rehabilitation) wird nach Habilitations- und Rehabilitationsdiensten und -programmen auf dem Gebiet der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste verlangt, die im möglichst frühen Stadium einsetzen und auf einer multidisziplinären Bewertung der individuellen Bedürfnisse und Stärken beruhen. Hier öffnet sich Raum für die heilpädagogische Unterstützung insbesondere in Form von Früh- und Entwicklungsförderung. 4

Schlussfolgerungen

Abschließend lassen sich folgende Aufgaben für die Präzisierung der (heil-)pädagogischen Theorie und Praxis im Kontext der aktuellen und zukünftigen Umsetzung der Inklusion auflisten: In der heilpädagogischen Theorie kann durchaus noch deutlicher die Zugehörigkeit zur „basalen Kernpädagogik“ hervorgehoben werden, wobei die eigene Besonderheit im quantitativen wie im qualitativen Sinne nicht versteckt, sondern gepflegt und im Hinblick auf eine heilpädagogische Professionalität kultiviert und ausgeformt werden muss. Die Didaktik/Methodik der Heilpädagogik als Handlungslehre ist in der Pflicht, die bisherigen und zukünftigen Handlungsansätze, -vorgänge und Interventionsformen in der Perspektive der Umsetzung der Inklusion zu prüfen, weiterzuentwickeln, zu modifizieren und aus

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dem Blickwinkel der Teilhabeförderung und -sicherung präzise zu begründen. Zugegeben – eine diesbezügliche Handreichung ist hier vonnöten. Es ist die Aufgabe der Vertreter-innen der Didaktik/Methodik der Heilpädagogik, sie zu erarbeiten. Auf dieser Basis kann dann das heilpädagogische Handeln gut in Einklang mit dem Inklusionsanliegen gebracht werden. Heilpädagogen und Heilpädagoginnen müssen (falls sie es noch nicht vollzogen haben) in ihr Selbstkonzept als Fachperson neben dem Bedürfnis nach Bestätigung eigener Effizienz auch den Aspekt der Inklusionszuträglichkeit aufnehmen – in dem Sinne: „In allem, was ich tue, versuche ich auch die Teilhabe meines Gegenübers am gesellschaftlichen Leben zu unterstützen.“ Die Praxisfelder in ihrer Gestalt als Träger, Spitzenverbände, Organisationen, Einrichtungen, Projekte u.ä. sollen die Vorgaben und Verordnungen der Politik nutzen, um die Inklusionsphilosophie zu beherzigen und die inklusive Kultur, Struktur sowie konkrete Praktiken aktiv zu implementieren. Diese müssen sich grundlegend verwandeln: von der spezialisierten Sonderwelt zu einem dezentral positionierten Unterstützungsfeld mit dem Ziel der umfassenden gesellschaftlichen Teilhabe. Literatur Bank-Mikkelsen, Niels Erik, Das Normalisierungsprinzip, Zur Fortbildung 2 (1972) 24–30. Greving, Heinrich, Heilpädagogische Professionalität. Eine Orientierung, Stuttgart 2011. Gröschke, Dieter, Praktische Ethik der Heilpädagogik. Individualund sozialethische Reflexionen zu Grundfragen der Behindertenhilfe, Bad Heilbrunn 1993. Nirje, Bengt, Das Normalisierungsprinzip – 25 Jahre danach, Vierteljahreszeitschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete 1 (1994) 12–32. Palmowski, Wilfried, Konstruktivismus, in: Heinrich Greving (Hg.), Kompendium der Heilpädagogik, Bd. 2, Troisdorf 2007, 55–66. Wolfensberger, Wolf, The Principle of Normalization in Human Services, Toronto 1974.

Hildegard Mogge-Grotjahn

1.6 Intersektionalität: theoretische Perspektiven und konzeptionelle Schlussfolgerungen

Vorbemerkung: Intersektionalität als theoretische Perspektive lässt sich nicht unmittelbar in Handlungsstrategien übersetzen. Da aber bekanntlich nichts so praktisch ist wie eine gute Theorie, erscheint es dennoch sinnvoll, sich mit dem intersektionalen Denken vertraut zu machen. Die wesentlichsten Aspekte dieses Denkens sind im Folgenden zusammengefasst – neun kurze Thesen dienen der Orientierung und werden jeweils näher begründet. In Punkt 10 werden Schlussfolgerungen zur praktischen Bedeutung dieser Theorie zur Diskussion gestellt. Punkt 11 stellt die „Claudius-Höfe“ in Bochum vor, ein Wohnprojekt, in dem intersektionales Denken in professionelles Handeln überführt worden ist. 1 Intersektionalität ist ein theoretisches Konzept, das nicht eindeutig zu bestimmen ist.1 Es ist im Kontext der Frauenbewegungen und der feministischen Wissenschaft entstanden, wird aber nicht mehr ausschließlich im Zusammenhang von Gender-Diskursen diskutiert. Die Ursprünge des Konzepts der Intersektionalität liegen in den Auseinandersetzungen um mehrfache Diskriminierung, die in den Frauenbewegungen ab den 1960er Jahren geführt wurden. Ausgangspunkt war die Kritik schwarzer Frauen an der Ausschließlichkeit, mit der bürgerliche weiße westeuropäische und überwiegend heterosexuelle Frauen ihre Diskriminierungserfahrungen in den Mittelpunkt aller feministischen Analysen stellten, ohne die spezifischen Diskriminierungen von Frauen unterschiedlicher Hautfarbe, Frauen mit Behinderungen, aber auch von lesbischen Frauen und Frauen in Armutslagen zu berücksichtigen. 1

Zu der Frage, ob „Intersektionalität“ die Bezeichnung für eine Theorie, ein Konzept oder eine Analyseperspektive ist und wie weit dem intersektionalen Denken ein Paradigmenwechsel zugrunde liegt, vgl. Walgenbach, Postscriptum.

Intersektionalität

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Zu Beginn dieser durchaus kontrovers geführten Debatten ging es darum, die mehrfachen Diskriminierungen überhaupt zu thematisieren und die Dominanz der westlich-weißen Frauen infrage zu stellen. Mehr und mehr wurde daraus auch eine Weiterentwicklung theoretischer Analyse-Instrumentarien. Die in der critical race theory beheimatete Feministin Kimberlé Crenshaw führte schließlich das Konzept der intersektionalen Diskriminierung in den Diskurs ein.2 Die Intersektionalitätsforschung als theoretische und empirische Weiterentwicklung der Geschlechterforschung fragte zunächst danach, in welchem Verhältnis und welchen Wechselbeziehungen die soziale Kategorie Geschlecht mit anderen Kategorien steht. Mehr und mehr wurde aber Geschlecht als alleiniger Fokus der Analyse aufgegeben, und es rückte die Vielschichtigkeit und Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Diskriminierungs-Dimensionen und Exklusions-Mechanismen in den Mittelpunkt des Interesses. Neben Geschlecht werden auch andere Strukturkategorien für die „Auseinandersetzung mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen nutzbar“ gemacht.3 Jede Analyse von Macht- und Herrschaftsverhältnissen bezieht sich auf unterschiedliche Ebenen der sozialen Wirklichkeit. Katharina Walgenbach4 differenziert zwischen der Ebene sozialer Strukturen, der institutionellen Ebene, den symbolischen Ordnungssystemen, den sozialen Praktiken und den von ihr so bezeichneten „Subjektformationen“. Am Beispiel der Kategorie „Geschlecht“ sei dies verdeutlicht: Geschlechterverhältnisse und -ordnungen sind im Arbeitsmarkt ebenso verankert wie in sozialstaatlichen Ordnungen; sie werden wirksam in Schulen, Parteien oder Religionsgemeinschaften und Kirchen; das öffentliche Reden über Geschlechterfragen trägt ebenso wie symbolische Darstellungen, beispielsweise in der Werbung, zur Herstellung und Legitimation von Ungleichheiten bei, etwa in Form von geschlechts„typischen“ Interaktionsregeln und Verhaltensweisen; nicht zuletzt ist die eigene Geschlechtlichkeit wesentlicher Bestandteil des Selbstkonzeptes und der Identität jeder einzelnen Person. 2 Das Konzept „Intersektionalität“ weist Überschneidungen mit weiteren Konzepten auf, die ebenfalls der Analyse von Vielfalt, Besonderheiten, Unterschiedlichkeiten und Ungleichheiten dienen: Diversity,

2

Vgl. Degener/Mogge-Grotjahn, „All inclusive?“, 64. Windisch, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit, 45. 4 Vgl. Walgenbach, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity, 66. 3

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Differenz, Heterogenität und Dominanz(kultur).5 Zugleich ist Intersektionalität eine eigenständige Analyse-Perspektive, die vor allem auf Machtverhältnisse und ihre mehrdimensionalen Begründungszusammenhänge ausgerichtet ist. Diversity und Heterogenität bezeichnen die vielfältigen Besonderheiten von Personengruppen, die über ihnen zugeschriebene Merkmale definiert oder auch konstituiert werden: Menschen mit oder ohne Behinderungen; hetero-, homo-, bi- oder transsexuelle Menschen; Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund; junge und alte Menschen. Aber auch innerhalb der jeweiligen Personengruppen und erst recht, wenn mehr als ein Merkmal als bedeutsam hervorgehoben wird, unterscheiden sich Menschen in ihren Fähigkeiten, Interessen und Identitätskonstruktionen. Handlungskonzepte, die auf Diversity und Heterogenität aufmerksam machen, verfolgen das Ziel der Anerkennung eben dieser Vielfalt und der Differenzen. So sollen beispielsweise die kulturelle Heterogenität in einer Schulklasse oder der gemeinsame Schulbesuch von Kindern mit und ohne Behinderungen oder die große Altersstreuung in einer Betriebsbelegschaft nicht als Belastung, sondern als Ressourcen gesehen werden, die es zu fördern oder auch zu nutzen gilt. Dies führt allerdings zu einer Paradoxie: Einerseits sollen Differenzen wahrgenommen und ihnen mit Wertschätzung begegnet werden, andererseits sollen sie überwunden werden, um Benachteiligungen und soziale Ungleichheiten aufzuheben. Gerade die Beachtung und Wertschätzung von Differenzen aber trägt auch zu ihrer Reproduktion bei. Den aus dieser Paradoxie entstehenden Herausforderungen wird sowohl in der gendersensiblen als auch in der interkulturellen Sozialen Arbeit große Aufmerksamkeit gewidmet.6 Der von Birgit Rommelspacher geprägte Begriff der Dominanzkultur fokussiert nicht das mögliche Potenzial der Differenz, sondern vor allem das in die jeweiligen Wahrnehmungs-, Beziehungs- und Kommunikationsmuster eingelassene Machtgefälle. Damit kommen auch Privilegierungen innerhalb diskriminierter Gruppen zum Vorschein, was sich u.a. am Beispiel der weißen Frauen aus privilegierten Schichten und ihren meist zugewanderten Haushalts- oder Pflegekräften zeigen lässt. Der „normativ gesetzte kulturelle Pluralismus

5

Vgl. Walgenbach, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity, und Rommelspacher, Dominanzkultur. 6 Vgl. hierzu Bretländer et al., Vielfalt und Differenz, sowie Eppenstein/Kiesel, Soziale Arbeit interkulturell.

Intersektionalität

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[muss] immer im Hinblick auf latente … Ungleichheitsstrukturen hinterfragt werden“.7 3 In der intersektionalen Analyse verbinden sich gender- und differenztheoretische Grundannahmen mit gesellschaftstheoretischen Kategorien und den Konzepten zur Analyse sozialer Ungleichheiten. Intersektionales Denken verbindet die Wahrnehmung und Achtung von Differenz und Vielfalt mit den strukturellen Verursachungen gegebener Macht- und Herrschaftsverhältnisse. Hierfür werden Grundannahmen aus unterschiedlichen Gesellschafts- und Ungleichheitstheorien übernommen. Diese Theorien befassen sich u.a. damit, wie in einer gegebenen Gesellschaft Ressourcen verteilt werden; welche Werte, Normen und Regeln in einer Gesellschaft gelten und wie sie zustande kommen; wie Konflikte entstehen und wie sie gelöst werden können; welche Verhaltensstandards in einer Gesellschaft gelten und was als „normal“ betrachtet wird; welche Vorstellungen vom „guten Leben“ es gibt und wer unter welchen Voraussetzungen am „guten Leben“ teilhaben kann. Da es nicht „die“ Gesellschafts- und Ungleichheitstheorie gibt, kann es auch nicht „die“ Antworten auf solche Fragen geben. Antworten unterscheiden sich erstens darin, welche Bedeutung der Ökonomie, dem Staat und der Religion beigemessen wird. Zweitens unterscheiden sich die Antworten in ihrem jeweiligen Bezug auf die Menschenrechte und die Menschenwürde sowie in demokratietheoretischer Sicht. Drittens bestehen Unterschiede darin, wie das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit gedacht wird und in welcher Weise persönliche Merkmale wie Geschlecht, Ethnizität, Alter für bedeutsam gehalten werden. Je nachdem, auf welche gesellschafts- und ungleichheitstheoretischen Positionen sich intersektionale Analysen beziehen, fallen auch ihre Grundannahmen unterschiedlich aus. Im Wesentlichen drehen sich die Kontroversen um diese drei Fragen:8

7

Staub-Bernasconi, Das Werk von Birgit Rommelspacher, 17. Beispielsweise entwickeln Nina Degele und Gabriele Winker ihr Modell einer Mehr-Ebenen-Analyse auf der Basis der vier Grundkategorien „Rasse“, „Klasse“, „Sexualität“ und „Körper“, während Helma Lutz und Norbert Wenning insgesamt 14 relevante Differenzkategorien herausgearbeitet haben – vgl. Winker/Degele, Intersektionalität als Mehrebenenanalyse, sowie Lutz/Wenning, Differenzen über Differenz. Zu den gesellschaftstheoretischen Grundsatzfragen vgl. Mogge-Grotjahn, Gesellschaftliche Ein- und Ausgrenzung. 8

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(a) Welche Kategorien sollen als zentral betrachtet werden („MasterKategorien“)? (b) Welchen (Master-)Kategorien soll warum der Status als „Strukturkategorien“ zuerkannt werden? (c) Gibt es überhaupt solche „Master-Kategorien“? 4 Strukturkategorien beziehen sich auf zentrale gesellschaftliche Funktionsbereiche9 wie z.B. Ökonomie, Politik oder Recht. Daraus ergeben sich Ungleichheitsgefüge, die auf dem Zugang zu Kapital, Erwerbsarbeit, Bildung, (sozial-)staatlichen Leistungen und Macht-Eliten beruhen. Diese Zugänge sind wiederum an soziale Herkunft und persönliche Merkmale geknüpft. Grundsätzlich sollen alle Menschen den gleichen Zugang zu Bildung, Einkommen, Teilhabe und Einfluss haben. Diese (Chancen-)Gleichheits-Maxime ist die normative Grundlage moderner Demokratien und lässt sich sogar juristisch einklagen. Aber faktisch sind die Wege für die einen geebnet und für die anderen erschwert, denn beim Zugang zu wichtigen Ressourcen werden ethnische, milieuspezifische, körperbezogene, religiöse etc. Merkmale von Personen wirksam. „Frauen und Männer sind gleich berechtigt“ – aber gesellschaftlich funktioniert das Geschlecht nach wie vor als „Platzanweiser“ im Gefüge der sozialen Ungleichheit. „Niemand darf wegen seiner oder ihrer Behinderung benachteiligt werden“ – aber Menschen mit Behinderungen haben nach wie vor ein wesentlich höheres Armutsrisiko als Menschen ohne Behinderungen. Die Erfahrung, dass die jeweiligen personalen Merkmale und Besonderheiten die eigenen Lebenschancen beeinflussen, oder auch „nur“ die Erwartung, dass dies so sein könnte, bleiben den betroffenen Menschen nicht äußerlich, sondern wandern in ihre Psyche ein und sind bedeutsam für ihre Identität. Deshalb sind „die Bedeutungshorizonte körperbezogener Differenzkriterien wie Gesundheit, ,Behinderung‘ und Alter häufig als Grundlage eigener Vergesellschaftungsformen […] zu interpretieren, die ihrerseits mit spezifischen Machtverhältnissen verbunden sind“.10

Bei der Frage, wie strukturelle und subjektbezogene Dimensionen von Ungleichheit (= Inequality) miteinander verschränkt sind, kommt dem Konzept des Habitus eine besondere Bedeutung zu. Menschen, 9

Vgl. Windisch, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit, 123. Windisch, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit, 124.

10

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die sich in ähnlichen sozialen Positionen befinden – aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer kulturellen Herkunft, ihres sozio-ökonomischen Status oder aufgrund anderer Merkmale und/oder aufgrund der Kombination mehrerer Merkmale –, gehören nach Pierre Bourdieu sog. „sozialen Feldern“ an, durch die ihre Handlungsmöglichkeiten bestimmt bzw. „gerahmt“ werden.11 Sie bilden einen gemeinsamen Habitus aus, der sich in Sprachstilen, Identitätskonzepten, Lebensentwürfen, ästhetischen Präferenzen, Verhaltensstandards und Körperpraktiken ausdrückt. Auf diese Weise „verkörpern“ sie ihre soziale Position und bringen das vorhandene Ungleichheitsgefüge immer wieder hervor. In Analogie zum Begriff des „Doing Gender“ kann man diese Prozesse als „Doing Inequality“ bezeichnen.12 5 Zu den Ursachen sozialer Ungleichheit und den Kategorien, die für die Prozesse des „Doing Inequality“ ausschlaggebend sind, werden innerhalb des intersektionalen Ansatzes unterschiedliche Positionen vertreten. Gemeinsam ist aber den Vertreter_innen des intersektionalen Konzeptes die Überwindung „additiver“ Diskriminierungsmodelle. Begriffs- und theoriegeschichtlich, historisch und aktuell sind folgende Kategorien als zentral für die Analyse von Macht- und Ungleichheitsverhältnissen unstrittig: gender; race (ethnicity); class (s. auch These 3). Auch body bzw. Körper wird weitgehend unstrittig als Zentral-Kategorie betrachtet.13 Wie aber Körper mit Geschlecht, Sexualität, Alter und Behinderung zusammengedacht werden kann/soll/ muss, ist umstritten. Zwar kann body bzw. Körper als „Master-Kategorie“ gedacht werden, aber weder Sexualität noch Behinderung können ohne Weiteres der Körper-Kategorie zugeordnet werden, da beide sich nicht einfach auf körperliche Dimensionen reduzieren lassen, sondern (auch) als sozial konstruiert betrachtet werden müssen.14 Ähnlich problematisch erscheint es, Alter ausschließlich dem Körper zuzuordnen. Je mehr Kategorien aber als eigenständige in das Intersektionalitätskonzept eingeführt werden, desto unbestimmter wird es, bis es schließlich in Gefahr gerät, zum bloßen „Et-Cetera“15 zu verkommen. 11

Vgl. Schütte, Armut wird sozial vererbt. Vgl. Mogge-Grotjahn, Körper, Sexualität und Gender, 143 f. 13 Auf die Schwierigkeiten präziser Bestimmungen dieser Begriffe und die unterschiedlichen Konnotationen im englischen bzw. deutschen Sprachraum kann hier nicht näher eingegangen werden. 14 Vgl. Mogge-Grotjahn, Körper, Sexualität und Gender. 15 Vgl. Walgenbach, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity. 12

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Entscheidend für den intersektionalen Ansatz ist es, dass es ihm – jenseits dieser Kontroversen – nicht um eine Addition von Ungleichheitsrisiken, Diskriminierungen und Exklusionsmechanismen geht, sondern um deren wechselseitige Verschränkung. Durch diese kommt es zu einer neuen und spezifischen „Qualität“: Die Betroffenen sind nicht „doppelt“ oder „dreifach“, sondern durch Wechselwirkungen verschiedener relevanter Unterscheidungsmerkmale diskriminiert – also nicht: „behindert“ und „türkischer Herkunft“ und „weiblich“, sondern „Frau türkischer Herkunft mit Behinderung“. Diese Grundannahmen der Intersektionalitätsforschung fasst Katharina Walgenbach in folgender Definition zusammen: „Unter Intersektionalität wird verstanden, dass historisch gewordene Machtund Herrschaftsverhältnisse, Subjektivierungsprozesse sowie soziale Ungleichheiten wie Geschlecht, Sexualität/Heteronormativität, Race/Ethnizität/ Nation, Behinderung oder soziales Milieu nicht isoliert voneinander konzeptualisiert werden können, sondern in ihren ,Verwobenheiten‘ oder ‚Überkreuzungen‘ (intersections) analysiert werden müssen. Additive Perspektiven werden überwunden, indem der Fokus auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Kategorien bzw. sozialen Ungleichheiten gelegt wird. Es geht demnach nicht allein um die Berücksichtigung mehrerer sozialer Kategorien, sondern ebenfalls um die Analyse ihrer Wechselwirkungen.“16

Schließlich bezieht Intersektionalität sich grundsätzlich nicht nur auf Diskriminierung und Ausschluss, sondern auch auf Privilegierungen, die durch die Wechselwirkungen von Merkmalen entstehen können. Beispielsweise ist eine „deutsche Frau mit Behinderung“ privilegierter als eine „Frau türkischer Herkunft mit Behinderung“, obwohl beide die Diskriminierungsmerkmale „weiblich“ und „behindert“ teilen. 6 Intersektionalität ist nicht nur ein theoretisches Konzept, sondern zugleich eine Leitlinie für das Handeln unterschiedlichster Akteure. Soziale Bewegungen, politische Akteure, Fachkräfte aus helfenden Berufen, kritische Wissenschaftler_innen verbinden Armutsfragen mit Behinderungsfragen, Fragen von Gender und von Heteronormativität mit Fragen von Migration und Ethnizität, Fragen von Demokratie, Menschenrechten und Partizipation mit der Forderung nach einem selbstbestimmten Leben für ALLE. Dies ist zugleich die inhaltliche Beschreibung eines qualitativen Verständnisses von Inklusion. 16

Walgenbach, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity, 54 f. (Hervorhebungen im Original).

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Der gemeinsame Begründungszusammenhang und die gemeinsame normative Grundlage von Intersektionalität und Inklusion ergeben sich aus dem Rekurs auf die Menschenrechte. Die Menschenrechtsperspektive fordert dazu heraus, eine inhaltliche und qualitative Bestimmung dessen zu versuchen, was denn ein „menschenwürdiges“ und somit „gutes“ Leben sei. Erst aus einer solchen Bestimmung heraus kann es eine sinnvolle Inklusions-Strategie geben: Wie ist denn die soziale Wirklichkeit beschaffen, zu der die Exkludierten gehören wollen oder sollen? Entsprechend gilt: Die reine Forderung nach Inklusion in bestehende Gesellschaften vergibt das gesellschaftskritische Potenzial, das Movens der vielen sozialen Bewegungen, die erst zu einer Intersektionalen Theorie und Politik geführt haben, und läuft Gefahr, den jeweiligen gesellschaftlichen Status quo zu rechtfertigen oder zumindest zu akzeptieren. Deshalb ist stets eine doppelte Perspektive erforderlich: „Ja“, es geht darum, an der bestehenden Gesellschaft teilhaben zu können, also auch an (Erwerbs-)Arbeit, am vorhandenen Bildungssystem, an den als „normal“ anerkannten Lebensformen. Und „Nein“: damit ist nicht die kapitalistische Leistungsgesellschaft, nicht das selektive Bildungssystem und nicht jede gesetzlich privilegierte Lebensform als von vornherein „gut“ oder anstrebenswert gerechtfertigt. (Nur) Dank dieser doppelten Perspektive kann die stillschweigende Hegemonie von „Normalbiografien“ und „Normalidentitäten“ (männlich, weiß, heterosexuell, voll erwerbstätig, nicht-behindert, leistungsfähig etc.) dekonstruiert werden.17 7 Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK) ist nicht aus einer intersektionalen Analyse entstanden, sondern aus einer „One-Issue-Bewegung“ von Menschen mit Behinderungen, die sich politisch und juristisch außerordentlich wirksam formiert hat. Ihre Durchsetzungskraft bezog und bezieht die UN BRK zum einen daraus, dass sie das Thema „Inklusion“ weitgehend für sich reklamieren konnte, und zum anderen aus ihrer Konzentration auf EIN Diskriminierungsmerkmal: das der Behinderung. Dies liegt in der Logik des UN-Menschenrechtssystems begründet, in dem jeweils EINE UN-Konvention zum Schutz vor Diskriminierung aufgrund EINES Merkmals ausgearbeitet und politisch umgesetzt wird.18 Trotzdem haben sowohl die Autor_innen der UN-Behinder17 Zum Themenbereich „inhaltliche Qualifizierung des Inklusions-Verständnisses“ vgl. Degener/Mogge-Grotjahn, „All inclusive?“. 18 Vgl. Prasad, Entweder Schwarz oder weiblich?

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tenrechtskonvention als auch die Urheber_innen anderer Konventionen die Wechselwirkungen der unterschiedlichen Diskriminierungen erkannt, und die UN selber sorgen durch „eine sukzessive Erweiterung der ursprünglich definierten Diskriminierungsmerkmale (dafür), dass auch jene UN-Dokumente aktuell bleiben und Diskriminierungsformen anerkannt werden, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht im […] Bewusstsein waren“.19

In Blick auf die UN BRK problematisiert Monika Windisch die starke Fokussierung auf das Merkmal Behinderung. Ihrer Auffassung nach sei es nur sehr begrenzt möglich, „behinderungspolitische Forderungen als gemeinsame Interessen einer relativ homogenen Randgruppe zu repräsentieren“, weil dadurch „Differenzen zwischen den Lebensrealitäten ,der‘ Menschen mit Behinderungen systematisch aus [geblendet werden] […] Auch Differenzmerkmale wie Rasse/Ethnie, Klasse, Geschlecht und Staatsbürgerschaft außer Acht zu lassen, bringt das Risiko mit sich, im Rahmen der Behindertenbewegung ausschließende Mechanismen weiterzuführen, die auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene verhindert werden sollen“.20

Damit werden, so Windisch, möglicherweise soziale Ungleichheiten außer Acht gelassen. 8 Auch wenn es sicher richtig ist, auf diese möglichen Verkürzungen hinzuweisen, enthält die Konvention selbst doch eine Reihe von Hinweisen auf die intersektionale Verschränkung der Exklusion qua Behinderung mit anderen Exklusions-Dimensionen.21 So formulieren die Urheber_innen der Konvention im Abschnitt „p“ der Präambel, dass sie „besorgt [sind; HMG] über die schwierigen Bedingungen, denen sich Menschen mit Behinderungen gegenübersehen, die mehrfachen oder verschärften Formen der Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen, ethnischen, indigenen oder sozialen Herkunft, des Vermögens, der

19

Prasad, Entweder Schwarz oder weiblich?, 139. Windisch, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit, 34. 21 Dem gesamten Punkt 8 liegt die sog. „Schattenübersetzung“ der UN BRK zugrunde, zitiert nach Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Die UN-BRK. 20

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Geburt, des Alters oder des sonstigen Status ausgesetzt sind“. Und im Abschnitt „q“ der Präambel wird zudem explizit darauf verwiesen, „dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen sowohl innerhalb als auch außerhalb ihres häuslichen Umfelds oft in stärkerem Maße durch Gewalt, Verletzung oder Missbrauch, Nichtbeachtung oder Vernachlässigung, Misshandlung oder Ausbeutung gefährdet sind“,

sodass in Abschnitt „s“ ausdrücklich darauf verwiesen wird, „dass es notwendig ist, bei allen Anstrengungen zur Förderung des vollen Genusses der Menschenrechte und Grundfreiheiten durch Menschen mit Behinderungen die Geschlechterperspektive einzubeziehen“.

Einige der in diesen Abschnitten der Präambel formulierten Hinweise auf intersektionale Aspekte tauchen in den konkreten Artikeln der Konvention wieder auf. So heißt es in Artikel 6 (1): „Die Vertragsstaaten anerkennen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderungen mehrfacher Diskriminierung ausgesetzt sind, und ergreifen in dieser Hinsicht Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass sie alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll und gleichberechtigt genießen können.“

Und Artikel 6 (2) formuliert: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Maßnahmen zur Sicherung der vollen Entfaltung, der Förderung und des Empowerments von Frauen, um zu garantieren, dass sie die in diesem Übereinkommen genannten Menschenrechte und Grundfreiheiten ausüben und genießen können“.

Ähnliche Gesichtspunkte greift Artikel 16 (5) wieder auf: „Die Vertragsstaaten schaffen wirksame Rechtsvorschriften und politische Konzepte, einschließlich solcher, die auf Frauen und Kinder ausgerichtet sind, um sicherzustellen, dass Fälle von Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch gegenüber Menschen mit Behinderungen erkannt, untersucht und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt werden.“

Schließlich wird in Artikel 25 auf die Bedeutung gender-sensibler Gesundheitsdienste verwiesen. Außer der Genderperspektive kommt – allerdings in einem sehr weit gefassten Verständnis – auch die intersektionale Kategorie von „race“ ins Spiel, wenn in Artikel 18 den Menschen mit Behinderungen ausdrücklich das Recht auf Freizügigkeit und Staatsangehörigkeit zugesprochen wird.

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Die Artikel 27 und 28 haben den angemessenen Lebensstandard und den sozialen Schutz zum Gegenstand und verknüpfen die Behinderungsdimension mit der Altersdimension und Aspekten der sozialen Ungleichheit. So fordert Artikel 27 b): „Menschen mit Behinderungen, insbesondere Frauen und Mädchen sowie älteren Menschen mit Behinderungen, den Zugang zu Programmen für sozialen Schutz und Programmen zur Armutsbekämpfung zu sichern;“

und die Artikel 28 c bis e setzen diese Forderungen fort: „c) in Armut lebenden Menschen mit Behinderungen und ihren Familien den Zugang zu staatlicher Förderung bei behinderungsbedingten Aufwendungen, einschließlich ausreichender Schulung, Beratung, finanzieller Unterstützung sowie Kurzzeitbetreuung, zu sichern; d) Menschen mit Behinderungen den Zugang zu öffentlich geförderten Wohnungsbauprogrammen zu sichern; e) Menschen mit Behinderungen gleichberechtigten Zugang zu Leistungen und Programmen der Altersversorgung zu sichern.“

9 Im Zuge der Ausarbeitung der UN BRK hat sich ein von manchen Akteur_innen gewollter und von ihnen vorangetriebener und auch theoretisch begründeter Paradigmenwechsel vom medizinischen zum sozialen Modell/Verständnis von Behinderung vollzogen. Aber der eigentliche Paradigmenwechsel besteht in der Formulierung eines menschenrechtlichen Behinderungsverständnisses, das eng mit Intersektionalität verbunden ist. Das medizinische Modell begreift Behinderung als schwere und langfristige, individuelle Beeinträchtigung. „Mentale, physische oder anatomische (Funktions)Störungen (impairment) werden […] als Ursache von Beeinträchtigungen und/oder Leistungsminderungen (disability) interpretiert und systematisch mit sozialen Benachteiligungen bzw. Diskriminierungen (handicap) in Verbindung gebracht.“22

Dieses Verständnis von Behinderung liegt gesetzlichen Leistungsansprüchen und der Praxis von Versicherungen zugrunde und ist in therapeutischen und rehabilitativen Handlungsfeldern ebenso verankert wie im Arbeitsmarkt und im Bildungssystem.

22

Windisch, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit, 27.

Intersektionalität

151

„Rechtlich begründete, individuelle Ansprüche auf Sozial- und Dienstleistungen, auf Assistenz und Unterstützung können in den meisten europäischen Staaten ausschließlich durch Bezug auf medizinische Diagnosen geltend gemacht werden.“23

Das soziale Modell dagegen hebt die soziale Konstruktion von Behinderung hervor: Nicht die Besonderheiten der betroffenen Personen stellen eine „Behinderung“ dar, sondern erst ihr struktureller Ausschluss von Partizipationschancen, die realen und symbolischen Barrieren, die mangelnde Assistenz hindern die als „behindert“ definierten Menschen an einem selbst bestimmten Leben. Theresia Degener betrachtet das soziale Modell von Behinderung als „bedeutsames Instrument […], um diskriminierende und repressive Strukturen zu analysieren“ und damit als „heuristische[n] Ausgangspunkt für eine rechtsbasierte, an Antidiskriminierung orientierte Behinderungspolitik.“24 Sie zeigt aber auch, dass die UN BRK nicht bei diesem sozialen Modell stehen bleibt, sondern teils implizit, teils explizit einen wesentlich weiter gehenden Paradigmenwechsel hin zu einem menschenrechtlichen Modell vollzogen hat. Mit der UN BRK sollten keine „Sonderrechte“ für im medizinischen Sinne als „behindert“ anerkannte Personen geschaffen, „sondern der allgemein anerkannte Menschenrechtskatalog auf den Kontext von Behinderung zugeschnitten werden, unter Berücksichtigung der Verschiedenheit, die Behinderung mit sich bringen kann“.25 10 Die praktische Umsetzung intersektionalen Denkens stößt an politische, rechtliche und professionelle Grenzen. Nicht trotzdem, sondern gerade deswegen ist die Auseinandersetzung mit Intersektionalität ein absolutes „Muss“ für die Entwicklung inklusionsförderlichen professionellen Handelns. Inklusion wird weder als politische Querschnittsaufgabe noch als gemeinsame professionelle Herausforderung und Aufgabe verschiedener Berufsgruppen wahrgenommen, sondern jeweils in unterschiedlichen funktionalen Systemen der Gesellschaft thematisiert. Entsprechend sind Hilfe-Ansprüche jeweils an EIN Merkmal bzw. EINE Beeinträchtigung oder EINE Problemlage geknüpft. Auch die Ausbildungs- und Studiengänge sind spezialisiert. Ihre Absolvent_innen finden sich aber häufig in den gleichen Tätigkeitsfel23

Windisch, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit, 31. Degener, Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell, 156 f. 25 Degener/Mogge-Grotjahn, „All inclusive?“, 65 f. 24

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dern wieder – in Kindertagesstätten und Schulen, in der Kinder- und Jugendhilfe, in ambulanten und stationären Einrichtungen der Behindertenarbeit. Dort haben sie nicht selten mit den Parallelstrukturen der Hilfesysteme und den spezialisierten professionellen Profilen zu kämpfen. In der Behindertenarbeit gibt es beispielsweise Expert_innenwissen zu Barrierefreiheit, aber nicht unbedingt zu Antirassismusarbeit, und Sozialarbeiter_innen, die mit Migrant_innen arbeiten, wissen zwar viel über interkulturelle Kommunikation und auch Einiges über Genderfragen, kaum aber etwas über Barrierefreiheit und Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Umso wichtiger ist es, intersektionales Denken systematisch in den Ausbildungs- und Studieninhalten und im professionellen Alltag zu verankern. Dies kann auf unterschiedlichste Weise geschehen: a) Das Einüben intersektionalen Denkens bei der rekonstruktiven Fallarbeit kann zu einem besseren Fallverstehen beitragen.26 b) Die multidisziplinäre Zusammenarbeit und Professionalisierung wird durch intersektionales Denken gestärkt; dies kann und sollte in den Curricula der einschlägigen Ausbildungen und Studiengänge deutlicher als bisher berücksichtigt werden. c) Es gibt bereits Modelle, Projekte und Hilfeleistungen, die darauf angelegt sind, die Reduktion von Klient_innen auf EINE „Besonderheit“ zu überwinden.27 26

Eindrucksvoll wird dies dokumentiert in Giebeler et al., Intersektionen von race, class, gender, body. Die Autor_innen beziehen diese vier Zentral-Kategorien der intersektionalen Analyse auf vier zentrale Handlungsfelder der Sozialen Arbeit: Jugend, Familien, Stadt und Transnationalisierung. Zu jedem dieser Handlungsfelder werden rekonstruktive Fallstudien vorgestellt, die jeweils zwei oder mehr der strukturellen Differenzkategorien umfassen. Dadurch gewinnen sie ein umfassendes und spezifisches Verständnis der jeweiligen Problemlagen. 27 Einige Beispiele: Der Bundesverband für körper- und mehrfachbehinderte Menschen berücksichtigt in seiner Arbeit auch die Belange von Menschen mit Migrationshintergrund. Er geht davon aus, dass von den etwa 16,5 Millionen Migrant_innen in Deutschland etwa jede zehnte Person mit Beeinträchtigungen lebt. Zahlreiche Informationsmaterialien und Hilfeleistungen sind deshalb mehrsprachig formuliert und gehen z.T. auch auf kulturelle Besonderheiten ein. Ebenso werden altersspezifische Bedürfnisse und Besonderheiten berücksichtigt. Das Netzwerk behinderter Frauen und Mädchen NRW verbindet in seiner Arbeit die Dimensionen Geschlecht und Behinderung zu spezifischen Hilfe-Angeboten. Vor allem die Gewalt-Problematik findet Berücksichtigung, da Mädchen und Frauen mit Behinderungen überdurchschnittlich oft von physischer, psychischer, sexualisierter und institutioneller Gewalt betroffen sind. Das Netzwerk will zur Enttabuisierung dieses Themas und zur Prävention beitragen und bietet spezifische Beratungsmöglichkeiten an. MOBILE – Selbstbestimmtes Leben Behinderter e.V. wendet sich gegen jede Form institutioneller und struktureller Fremdbestimmung behinderter Menschen und setzt vor allem auf die mehrdimensionale Ausgestaltung persönlicher Assistenz. Die Arbeit ist an der Selbstbestimmt-Leben-Idee und dem Konzept des Empowerments aus-

Intersektionalität

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d) Durch gemeinsame Anstrengungen von Akteur_innen aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und professionellen Hilfesystemen kann die Engführung von Rechtsansprüchen und Finanzierungsmöglichkeiten aufgebrochen und zugleich die zentrale (systemkritische) Frage der „Inklusion“ immer neu formuliert werden: Wie wollen wir leben, und in welche Gesellschaft wollen wir inkludiert werden? 11 Im Folgenden werden die „Claudius-Höfe“ in Bochum als ein aus intersektionaler Perspektive besonders interessantes Projekt vorgestellt.28 Es handelt sich um ein ökologisch nachhaltig gebautes Mehrgenerationenprojekt, in dem Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen, mit und ohne Migrationshintergrund und mit unterschiedlichen materiellen Ressourcen in verschiedenen Haushalts- und Familienformen leben. Hinter dem Bochumer Hauptbahnhof, in ruhiger und doch zentraler Lage, wurden 2012 die sog. „Claudius-Höfe“ fertiggestellt. In diesem „Dorf in der Stadt“, das um einen „Dorfplatz“ herum gebaut ist, wohnen derzeit etwa 200 Personen. Hierzu zählen zu etwa je einem Drittel Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, Erwachsene bis 60 Jahre und Erwachsene über 60 Jahre. Sie leben allein, in Familien oder Wohngemeinschaften. Während der größte Teil der Familien mit Kindern in Reihenhäusern wohnt, verteilen sich die übrigen Bewohner_innen auf Mietwohnungen unterschiedlicher Größe. Auch zwei studentische Wohngemeinschaften sowie vier Wohngemeinschaften des ambulant betreuten Wohnens für Menschen mit Beein-

gerichtet. Besonders berücksichtigt werden geschlechts-, alters- und auch migrationsspezifische Bedürfnisse. Als Mitglied des Diakonischen Werkes RheinlandWestfalen-Lippe bietet MOBILE etliche Projekte und Unterstützungsangebote im nordrhein-westfälischen Raum. Hotel plus – Hilfeform für Wohnungslose mit psychiatrischen Problemen hat sich auf die besonderen Bedürfnisse von Menschen spezialisiert, die sich selbst in erster Linie als Wohnungslose definieren und häufig im System der Obdachlosen und Nichtsesshaften untergebracht werden, durch psychische Erkrankungen dort aber nicht adäquat unterstützt werden können. Zugleich ist ihre Versorgung auch im Hilfesystem der Psychiatrie nicht zu gewährleisten. Durch die Kooperation aller beteiligten Ämter unter Federführung des Deutschen Roten Kreuzes ist es gelungen, wirksame Hilfen für Menschen zu etablieren, deren mehrdimensionale Problemlage nicht zu den eindimensionalen sozialstaatlichen Hilfesystemen „passt“. 28 Informationen zu den Claudius-Höfen auf: http://claudius-hoefe.mcs-bochum. de. Für persönliche Einblicke in das Leben in den Claudius-Höfen danke ich einem der Bewohner: Herrn Prof. Dr. Klaus Wengst.

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trächtigungen gehören zum „Dorf“. Alle Wohnungen sind barrierefrei und energie-effizient gebaut. Trägerin des Gesamtprojektes ist das Matthias-Claudius-Sozialwerk, das aus dem Förderverein der integrativen Matthias-Claudius-Gesamtschule in Bochum entstanden ist. Finanziert wurde das Projekt durch eine Stiftung. Zusätzlich sind Mittel des Bundes und aus der Wohnraumförderung des Landes NRW in die Finanzierung eingeflossen. Auf diese Weise kann ein Teil der gut 80 Wohneinheiten als geförderter Wohnraum an sozial schwächere Familien und Personen vermietet werden. Zum „Dorf“ gehören ein Bistro und ein Hotel, die jeweils als Inklusionsbetriebe Beschäftigungsmöglichkeiten für Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen bieten. Dem Hotel angeschlossen ist ein – ebenfalls inklusiver – Wäschereibetrieb. Der Pflegestützpunkt des Johanneswerks findet sich mitten im „Dorf“. Ferner sind Gewerberäume vermietet, u.a. an ein Fahrradgeschäft und ein Restaurant. Die Bewohner_innen der Claudius-Höfe können sich informell im öffentlichen Raum begegnen, beispielsweise auf Innenhöfen, in verschiedenen Gartenbereichen und auf Gemeinschaftsterrassen, auf einem Kinderspielplatz und im „Raum der Stille“. Für größere Veranstaltungen kann der „Claudius-Saal“ angemietet werden, dessen Einrichtung flexible Nutzungen ermöglicht. Außerdem steht ein großer Gemeinschaftsraum zur Verfügung (durch eine Umlage von den Mieter_innen finanziert), der von den Bewohner_innen in Eigenregie betrieben wird, aber auch für private Feiern angemietet werden kann. Seit dem 01.10.2014 arbeitet eine Diakonin als Inklusionsbeauftragte des Matthias-Claudius-Sozialwerks mit Arbeitsschwerpunkt in den Claudius-Höfen, um inklusive Freizeitangebote zu entwickeln und den Bau neuer sozialer Netzwerke voranzutreiben. Aber auch die privaten Initiativen vieler Mieter_innen sorgen dafür, dass die verschiedenen Bewohnergruppen nicht unter sich bleiben, sondern miteinander in Kontakt treten und gemeinsame Aktivitäten entwickeln. So gibt es ein „Klön- und Spiele-Café“, ein regelmäßiges Angebot für gemeinsames Abendessen, Ausflüge, Grillpartys, einen Stammtisch und einen Filmclub. Unter dem Gesichtspunkt der Inklusion besonders hervorzuheben ist der Kultur-Verein KU|KU|C, unter dessen Dach sich die Abteilungen ClaudiusTHEATER, ClaudiusWISSEN, ClaudiusKLÄNGE und ClaudiusEXTRA versammeln. Im ClaudiusTHEATER entwickeln und inszenieren unter Leitung eines aus Dritt- und Sponsorenmitteln finanzierten Theaterpädagogen Bewohner_innen mit und ohne Behinderungen Theaterstücke, die öffentlich aufgeführt werden. Die anderen KU|KU|CInitiativen dienen der Veranstaltung von Vorträgen, Vortragsreihen und Seminaren zu gesellschaftlich relevanten Themen im Bereich

Intersektionalität

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von Bildung und Wissenschaft und der Förderung von Musik, Malerei und Literatur. Für die Mieter_innen gibt es die Möglichkeit der Interessenvertretung und der Partizipation an den Entwicklungen der Claudius-Höfe über den jeweils für zwei Jahre gewählten Bewohnerrat, in dem alle Bewohnergruppen vertreten sind und der ein Mitspracherecht bei Neuvermietungen hat. Die Lage der Claudius-Höfe in einem zentralen Stadtquartier trägt außerdem dazu bei, dass es sich hier nicht um einen abgeschotteten Sozialraum, sondern um einen Teil des Gemeinwesens handelt – so gibt es gute Kontakte zu einer Bürgerinitiative des Stadtteils und zum ebenfalls im Stadtteil angesiedelten „Haus der Begegnung“. Literatur Attia, Iman/Köbsell, Swantje/Prasad, Nivedita (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015. Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hg.), Die UN-Behindertenrechtskonvention. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Darin: Schattenübersetzung, Berlin 2014. Bretländer, Bettina/Köttig, Michaela/Kunz, Thomas (Hg.), Vielfalt und Differenz in der Sozialen Arbeit. Perspektiven auf Inklusion, Stuttgart 2015. Claudius-Höfe Bochum, online: http://claudius-hoefe.mcs-bochum.de (Zugriff am 13.06.2016); Gesprächspartner: Prof. Dr. Klaus Wengst, Claudius-Höfe 14, 44789 Bochum. Degener, Theresia, Vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung, in: Iman Attia/Swantje Köbsell/Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 155–170. Degener, Theresia/Mogge-Grotjahn, Hildegard, „All inclusive“? Annäherungen an ein interdisziplinäres Verständnis von Inklusion, in: Hans-Jürgen Balz/Benjamin Benz/Carola Kuhlmann (Hg.), Soziale Inklusion. Grundlagen, Strategien und Projekte in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2012, 59–78. Eppenstein, Thomas/Kiesel, Doron, Soziale Arbeit interkulturell, Stuttgart 2008. Giebeler, Cornelia/Rademacher, Claudia/Schulze, Erika (Hg.), Intersektionen von race, class, gender und body. Theoretische Zugänge

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und qualitative Forschungen in Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit, Opladen/Berlin/Toronto 2013. Lutz, Helma et al. (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, 2. Auflage, Wiesbaden 2013. Lutz, Helma/Wenning, Norbert, Differenzen über Differenz – Einführung in die Debatten, in: dies. (Hg.), Unterschiedlich verschieden. Differenz in der Erziehungswissenschaft, Opladen 2001. Mogge-Grotjahn, Hildegard, Körper, Sexualität und Gender, in: Michael Wendler/Ernst-Ulrich Huster (Hg.), Der Körper als Ressource in der Sozialen Arbeit. Grundlegungen zur Selbstwirksamkeitserfahrung und Persönlichkeitsbildung, Wiesbaden 2015, 141– 156. Mogge-Grotjahn, Hildegard, Gesellschaftliche Ein- und Ausgrenzung. Der soziologische Diskurs, in: Ernst-Ulrich Huster/Jürgen Boeckh/Hildegard Mogge-Grotjahn (Hg.), Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung, 2. Auflage, Wiesbaden 2012, 45–59. Prasad, Nivedita, Entweder Schwarz oder weiblich? Zum Umgang mit Intersektionalität in UN-Fachausschüssen, in: Iman Attia/ Swantje Köbsell/Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 129–142. Rommelspacher, Birgit, Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin 1995. Schütte, Johannes, Armut wird „sozial vererbt“. Status Quo und Reformbedarf der Inklusionsförderung in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2013. Staub-Bernasconi, Silvia, Das Werk von Birgit Rommelspacher, in: Iman Attia/Swantje Köbsell/Nivedita Prasad (Hg.), Dominanzkultur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen, Bielefeld 2015, 13–20. Walgenbach, Katharina, Heterogenität – Intersektionalität – Diversity in der Erziehungswissenschaft, Opladen/Toronto 2014. Walgenbach, Katharina, Postscriptum: Intersektionalität – Offenheit, interne Kontroversen und Komplexität als Ressourcen eines gemeinsamen Orientierungsrahmens, in: Helma Lutz et al. (Hg.), Fokus Intersektionalität. Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes, 2. Auflage, Wiesbaden 2013, 266–277. Windisch, Monika, Behinderung, Geschlecht, soziale Ungleichheit. Intersektionale Perspektiven, Bielefeld 2014. Winker, Gabriele/Degele, Nina, Intersektionalität. Zur Analyse sozialer Ungleichheiten, Bielefeld 2009.

Uwe Becker

1.7 Inklusionsbarrieren – Anmerkungen zur drohenden Entpolitisierung eines Menschenrechtsprojekts

Es ist relativ still geworden um das Thema Inklusion. Verging in der Zeit bis zum Sommer 2014 kaum eine Woche, in der nicht in örtlichen oder überregionalen Medien über Praxis, Probleme oder Beispiele der Inklusion berichtet wurde, so findet sich inzwischen nur noch gelegentlich die eine oder andere Tagesnachricht auf den hinteren Plätzen. Nicht viel anders ergeht es beispielsweise dem insgeheim in Vorbereitung befindlichen Freihandelsabkommen TTIP, dessen skandalöse Intransparenz im September 2015 eine Viertel Million Demonstrant_innen in Berlin zusammengeführt hat. Aber mehr als eine Tagesmeldung war auch das nicht wert. Diese Verzehrung der öffentlichen Aufmerksamkeit für das Thema Inklusion wird auch dann gefördert, wenn das Konzept Inklusion in die Metaphorik einer besseren Gesellschaft entrückt wird, gleichzeitig aber an politischer Substanz verliert. Wenn weder die erforderlichen ökonomischen Ressourcen für dieses Projekt bereitgestellt werden noch nach dem Veränderungsbedarf der gesellschaftlich zentralen Logiken gefragt wird, läuft auch dieses Projekt Gefahr, moralisch zu versickern.1 Wenn die Straßenverkehrsordnung, das Strafrecht, das Steuer- oder Sozialrecht nicht ständig öffentlich thematisiert werden, ist das weder sonderlich spektakulär noch nimmt es diesen Regelungen ihre Wirkmächtigkeit. Denn das Recht besteht und setzt täglich seine Praxis durch einschlägige Rechtsprechung auch im Stillen. Was aber das Thema Inklusion anbelangt, so ist sein Rechtscharakter wesentlich fragiler und unbestimmter und insofern braucht es zivilgesellschaftliche Schubkraft, um sich rechtswirksame Grundlagen zu schaffen. Diese Fragilität hat mehrere formale und rechtsmaterielle Gründe.

1

Vgl. Becker, Inklusionslüge, 171.

158 1

U. Becker

Völkerrecht heißt nicht zwingend, dass das Recht beim Volk ankommt

Die juristische Primär-Quelle, auf die die Inklusionsdebatte, der Nationale Aktionsplan und die zahlreichen Landesaktionspläne Bezug nehmen, ist das am 13. Dezember 2006 durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedete „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“. Diese Behindertenrechtskonvention (UN BRK) ist Ergebnis eines Umdenkungsprozesses. Denn auch in den Vereinten Nationen wurde Behinderung als ein eher sozialpolitisches oder gar medizinisches Thema verortet. Folglich lag das zuständige Ressort in der Kommission für Soziale Entwicklung oder bei der Weltgesundheitsorganisation.2 Die Forderung nach einer verbindlichen Menschenrechtskonvention ist unter anderem auch fünf großen Nichtregierungsorganisationen von Menschen mit Behinderungen zu verdanken, die letztlich dazu führte, dass die Generalversammlung 2002 einen „Ad-hoc-Ausschuss für ein umfassendes und integrales Übereinkommen zum Schutz und zur Förderung der Rechte und Würde von Menschen mit Behinderungen“3 einsetzte. Vertreter und Vertreterinnen von NGOs, überwiegend Organisationen von Menschen mit Behinderungen, wirkten maßgeblich an der Redaktionsarbeit mit, ganz nach dem Motto „nothing about us without us“4. Folglich ist es, wie eine ihrer Mitautorinnen meint, bei diesem Vertrag gelungen, dass er nicht „von Stellvertreterprofessionen“, sondern „von Organisationen der Behindertenbewegung selbst errungen wurde“.5 Im Kern hat diese Konvention den umfangreichen Katalog der Menschenrechte, die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 Niederschlag gefunden haben, auf Menschen mit Behinderungen zugeschnitten. Sie markiert damit „einen Wendepunkt zum menschenrechtlichen Modell von Behinderungen“.6 Damit ist es gelungen, dass der Text entscheidend aus der Sicht derer verfasst ist, um deren Recht es primär in der UN BRK geht. „Die BRK wurde […] am 30. März 2007 von Deutschland unterzeichnet und durch ein Ratifizierungsgesetz am 21. Dezember 2008 als innerstaatliches Recht ab dem 26. März 2009 in Kraft gesetzt.“7

2

Vgl. Degener, Menschenrechtsschutz, 104. Degener, Menschenrechtsschutz, 105. 4 Degener, Menschenrechtsschutz, 110. 5 Degener, Behindertenrechtskonvention, 275. 6 Masuch, UN-Behindertenrechtskonvention, 246. 7 Masuch, UN-Behindertenrechtskonvention, 245. 3

Inklusionsbarrieren

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Dieses sozial- und – wie die Diskussion zeigt – besonders schulpolitisch als sehr zentral bewertetes Gesetz wurde „im deutschen Parlament nicht gerade würdevoll behandelt“.8 Denn laut Protokoll begann die parlamentarische Debatte erst nach 22 Uhr unter Tagesordnungspunkt 23 und weniger als 50 Abgeordnete fanden sich noch im Plenarsaal. „Im Gegensatz zu sämtlichen vorausgegangenen und nachfolgenden Tagesordnungspunkten wurde auf eine Aussprache völlig verzichtet. Die vorbereiteten Reden von Vertretern der verschiedenen Parteien wurden lediglich zu Protokoll gegeben (Anlage 19)“. 9

Nach Ablehnung zweier Änderungsanträge wurde das Gesetz einstimmig beschlossen. Otto Speck merkt dazu kritisch an, dass sich das Verständnis von Inklusion eigenartig auf die Schulpolitik verkürzt habe und dass offenbar viele Mitglieder des Deutschen Bundestages davon ausgegangen seien, „dass der politisch favorisierte ausschließlich gemeinsame Unterricht nur dadurch bewerkstelligt und finanziert werden kann, dass die Förderschulen abgeschafft werden“. Das sei nicht primär fachlich, sondern finanziell begründet, denn schulische Inklusion „sollte kostenneutral verwirklicht werden“.10 Das zeigt an, dass die UN BRK auf der Basis einer gewissen politischen Ahnungslosigkeit ratifiziert wurde, zumindest schien zu beruhigen, dass ein so „gutes Projekt“ doch keinerlei Mehrkosten verursacht. Vermutlich war es diesbezüglich „hilfreich“, dass viele Sätze der UN BRK rechtlich relativ unbestimmt wirken, was in der Natur von Menschenrechtskonventionen liegt, aber eben auch für ihre Umsetzung einen breiten Interpretationskorridor auftut. Folglich wird bis heute die Auslegung ihres Verständnisses im Einzelfall kontrovers diskutiert. Das betrifft vor allem und im Grundsätzlichen die Frage nach den aus der UN BRK resultierenden, individuell einklagbaren Rechtsansprüchen. Denn die UN BRK ist lediglich als ein einfaches Bundesgesetz in Kraft und hat keinen Verfassungsrang. Welche subjektiven Rechte Menschen mit Behinderungen vor deutschen Gerichten unter Berufung auf diese Behindertenrechtskonvention einklagen können, ist also noch nicht abschließend entschieden und wird in Einzelfällen vor den deutschen Sozialgerichten auszufechten sein.11 Solange aber die Rechtsgrundlage für konkret justiziable Anwendbar8

Vgl. Speck, Inklusionsdilemma. Vgl. Speck, Inklusionsdilemma. 10 Vgl. Speck, Inklusionsdilemma; vgl. den Beitrag von Theresia Degener in diesem Band. 11 Masuch, UN-Behindertenrechtskonvention, 247. 9

160

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keit nicht geschaffen wird, verbleibt eine „Konvention als völkerrechtlicher Vertrag gleichsam in der abgesonderten Sphäre des Internationalen“.12 Dann klingen Menschenrechtssätze deshalb so schön, weil sie zu nichts verpflichten und nichts kosten! So verwundert es denn auch nicht, dass die Bundesregierung in einer „Denkschrift“ zum Übereinkommen der Vereinten Nationen auf diesen Vorbehalt deutlich verwiesen hat. Dort heißt es: „Mit der Ratifizierung werden die Staatsverpflichtungen zur Erreichung des beschriebenen Ziels, der Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten, begründet. Diese Staatsverpflichtungen müssen in innerstaatliches Recht überführt werden. Subjektive Ansprüche begründet das Übereinkommen nicht. Sie ergeben sich erst aufgrund innerstaatlicher Regelung.“13

Die UN BRK schlägt aber auch selbst eine Brücke in den Nebel. In Artikel 4 Abs. 2 dehnt sie die Verpflichtung der Staaten zur Verwirklichung der „wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ von Menschen mit Behinderungen auf eine unbestimmte Zeitachse aus. Es gehe darum, „Maßnahmen“ zu treffen, „um nach und nach die volle Verwirklichung dieser Rechte zu erreichen“. „Maßnahmen“ – das klingt rechtlich ebenso unbestimmt, wie „nach und nach“ zwar eine progressive Entwicklung anzeigt, allerdings ohne auch nur den geringsten Grad der zeitlichen Präzision. Jurist_innen diskutieren inzwischen, inwieweit aus der Geltung der UN BRK auch die unmittelbare Anwendung resultiert, also inwieweit unter welchen Umständen das Völkerrecht auch im Volk ankommt. Im ersten ihrer fünfzig Artikel wird erklärt: „Zweck dieses Übereinkommens ist es, den vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern.“

Ihre allgemeinen Grundsätze werden in Artikel 3 entfaltet. Danach geht es unter anderem um die Autonomie und Freiheit von Menschen mit Behinderungen, um die Nichtdiskriminierung, um die „volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft“, die Chancengleichheit und – mit Blick auf die Kinder mit Behinderungen – um die Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten und „ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität“. Entsprechend weit sind auch in der Behindertenrechtskonvention die gesellschaftlichen und politischen Felder aufgeführt, um deren diskriminierungsfreie Ausgestaltung es geht: Das be12 13

Masuch, UN-Behindertenrechtskonvention, 251. Deutscher Bundestag, Denkschrift, 48.

Inklusionsbarrieren

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trifft unter anderem die volle und barrierefreie Teilhabe an allen Lebensbereichen, das heißt die öffentliche Verkehrs- und Infrastruktur, die Schulen und die öffentlichen Einrichtungen und Dienste (Artikel 9), die uneingeschränkt gleichberechtigte Anerkennung von Menschen mit Behinderungen als Rechtssubjekte (Artikel 12), die persönliche Freiheit und Sicherheit sowie die Freiheit von Folter, Ausbeutung, Gewalt und Missbrauch (Artikel 14–16), den Schutz der Unversehrtheit der Person (Artikel 17), das Recht auf Freizügigkeit und den Erwerb oder Wechsel einer Staatsangehörigkeit (Artikel 18), die freie Wahl des Aufenthaltsortes und der Art der Wohnform (Artikel 19), das Recht auf Bildung, insbesondere durch Gewährleistung eines integrativen (englisch: inclusive) Bildungssystems auf allen Ebenen (Artikel 24), das Recht auf Arbeit (Artikel 27), das Recht auf ein Höchstmaß an Gesundheit und auf „gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, einschließlich Chancengleichheit und gleichen Entgelts für gleichwertige Arbeit“ (Artikel 27) und das Recht auf Teilhabe am politischen, öffentlichen und kulturellen Leben (Artikel 29–30). Im Schlussteil der Konvention wird ausdrücklich fixiert, dass die unterzeichnenden Staaten sich verpflichten, die innerstaatliche Durchführung der Konvention zu überwachen. Mindestens alle vier Jahre ist ein Bericht über den Stand der Umsetzung vorzulegen, der von einem unabhängigen, internationalen Ausschuss geprüft werden soll. Lässt man die Breite der hier gelisteten Lebensund Daseinsbedingungen, deren inklusionspolitische Sicherung zu gewährleisten ist, auf sich wirken, so ist verwunderlich, dass sich das Thema in Deutschland prominent und nahezu reduziert auf die Debatte um die inklusive Beschulung fokussiert hat. 2

Inklusion – Hauptsache billig

Der „Aktionsplan der Landesregierung NRW“ unter dem Titel „Eine Gesellschaft für alle“, der sich die Umsetzung der UN BRK auf die Fahnen geschrieben hat, wirkt, wenn man genauer hinsieht, auch schon politisch sehr zurückhaltend konkret. Der damalige Arbeitsminister in NRW, Guntram Schneider, spricht in diesem Aktionsplan von einem „Perspektivwechsel“, einem „Leitbildwechsel“, der nur gelingen könne, wenn Inklusion als eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung begriffen wird, eine „neue Kultur inklusiven Denkens und Handelns“ zu etablieren.14 Damit hat er zweifellos Recht. Das alltägliche und auch allerorten sichtbare Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen ist hierzulande keine Selbstverständ14

Vgl. Die Landesregierung NRW, Aktionsplan.

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U. Becker

lichkeit. Fragt man aber weiter nach den aus diesen Worten des Ministers resultierenden politischen Effekten, so stößt man auf sehr weiche Äußerungen: Der Aktionsplan soll „Aufmerksamkeit“ erregen, „Impulse für neue Ideen und Diskussionen“ geben und das „Verständnis und Interesse“ für die „vielen Beeinträchtigungen, mit denen viele Menschen, Nachbarn und Fremde“ leben, wecken.15 Woraus resultieren diese politische Zurückhaltung und „Entpolitisierung“ des Themas, also sein Umschwenken in eine Art rhetorische Figur des Appells an die Zivilgesellschaft? Der Aktionsplan verbalisiert selbst die Grenzen seiner Umsetzung, wenn es heißt: Alle „Maßnahmen des Aktionsplans“ stehen „unter dem Vorbehalt verfügbarer Haushaltsmittel“. Welche verfügbaren Haushaltsmittel sind zu erwarten angesichts des Fiskalpaktes und der grundgesetzlich verankerten Schuldenbremse, die auch für die Bundesländer bedeuten, dass sie spätestens im Jahr 2020 keine Neuverschuldung mehr eingehen dürfen? Wie sollen die Länder und Kommunen wirksame und auch kostenaufwändige Inklusionsakzente setzen, wenn sie beispielsweise durch die anhaltende Flüchtlingsbewegung unerwartet hoch mit Ausgaben belastet sind? Um der Gefahr zu entrinnen, dass diese beiden inklusionspolitischen Fragen gegeneinander ausgespielt werden, wird die Diskussion zu führen sein, ob die Regelungen der Schuldenbremse, die 2009 im Bundestag wie auch mit Zweidrittelmehrheit im Bundesrat gebilligt wurden, wenigstens vorübergehend außer Kraft zu setzen sind. Einige wenige namhafte Vorstöße in diese Richtung blieben hingegen bislang ohne konstruktive Resonanz.16 Man wird aus guten Gründen zu befürchten haben, dass die gegenwärtige Politik der Austerität – also der Sparpolitik – diejenigen trifft, die ohnehin von Armut und Rückgang der Sozialleistungen betroffen sind.17 Und man wird mit Sicherheit davon auszugehen haben, dass keine zusätzlichen Leistungen der öffentlichen Hand, die nicht an anderer Stelle durch Einsparungen kompensiert werden, zur Wirkung kommen. Das betrifft auch alle Maßnahmen, die im Zuge der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention der öffentlichen Hand erhebliche Investitionen abverlangen müssten. Politisch muss also insistiert werden auf die Frage, wie und unter welcher Zuständigkeit die finanziellen Ressourcen zur Verfügung gestellt werden für die Gestaltung inklusiver Wohnquartiere, für die barrierefreie Zugänglichkeit des öffentlichen Raums, des öffentlichen Nahverkehrs und der öffentlichen Gebäude und Einrichtungen. Insbesondere Kommunen mit hohen

15

Vgl. Die Landesregierung NRW, Aktionsplan. Vgl. Schulz, Lockerung der Schuldenregelungen. 17 Vgl. Blyth, Wie Europa sich kaputt spart. 16

Inklusionsbarrieren

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Kassenkrediten stehen hier vor immensen Haushaltsfragen, und ihre Überforderung ist derzeit fiskalisch programmiert. Ein ausgesprochen skandalöser Missstand, über den lange Zeit auch im Zuge des immer noch nicht ausgearbeiteten Bundesteilhabegesetzes diskutiert wurde, ist zur Enttäuschung vieler immer noch geltend. Das betrifft im Kern die Zuordnung der Leistungen für Menschen mit Behinderungen zur sogenannten Sozialhilfe. Ein Leben mit Behinderung erfährt in unserer Gesellschaft eine Reihe von materiellen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Nachteilen. Die Leistungen der Eingliederungshilfe dienen diesem Nachteilsausgleich. Sie werden überwiegend auf der Rechtsbasis des Zwölften Sozialgesetzbuches für Menschen mit Behinderungen erstattet und haben sich innerhalb der letzten 15 Jahre auf eine Summe von jährlich 13,3 Milliarden Euro verdoppelt.18 Der Kostensenkungsdruck wird allerorten von den Kommunen, Ländern oder überörtlichen Sozialhilfeträgern beklagt. Sie klagen gegenüber den Leistungserbringern der Behindertenarbeit, letztlich aber gegenüber den Betroffenen selbst. Integration in den Arbeitsmarkt wird dabei angepriesen als das Rezept, um einerseits Effizienzkalküle der öffentlichen Hand einzulösen und andererseits für eine möglichst große Gruppe von Menschen mit Behinderungen die durch Arbeit finanzgestärkte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben selbstbestimmt zu ermöglichen. Wer allerdings als Mensch mit Behinderungen zu diesem Rezept der Integration in den ersten Arbeitsmarkt greift und wer dabei sogar zu den gut Verdienenden gehört, erfährt auf ernüchternde Art und Weise, was Subsidiarität, also die Verpflichtung zur Selbsthilfe, bedeutet. Denn die Ansprüche auf die Finanzierung der Eingliederungsleistungen werden mit den Einkommens- und Vermögensverhältnissen eines Menschen mit Behinderungen und seiner Familie verrechnet. Nach dem Zwölften Sozialgesetzbuch (§§ 82ff) wird detailliert geprüft, welche Leistungen danach von dem Betroffenen selbst zu erbringen sind. Viele Verbände der Leistungserbringer und auch der Verein von Juristinnen und Juristen mit Behinderung fordern daher, dass die Einkommenstatbestände unabhängig von der Eingliederungshilfe zu betrachten und, anders als die bisherige Regelung des Sozialrechts es zulässt, zumindest weitgehend nicht anzurechnen sind.19 Folglich wäre auch die im Zwölften Sozialgesetzbuch am Bedürftigkeitsprinzip orientierte Nachrangigkeit der Leistung (§ 2) für die Eingliederungshilfe auf den Prüfstand zu stellen. In der Regel verbleibt nämlich dem Erwerbstätigen, der Anspruch auf Eingliederungshilfeleistung hat, bei Anrechnung seines Einkommens maximal nur der doppelte Hartz18 19

Vgl. Fischer, Kosten für die Eingliederungshilfe. Vgl. Becker, Inklusion.

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IV-Regelsatz plus Mietaufwendungen als Selbstbehalt, und das erlaubte Sparguthaben wird restriktiv auf maximal 2.600 Euro begrenzt.20 Für diese Menschen ist die Altersarmut also gleich mit garantiert. Aus dieser Armutsfalle entrinnen nur die wenigsten Menschen mit Behinderungen, aber es ist derzeit offenbar kein Anzeichen da, diese Situation infrage zu stellen. Der Kostensenkungsdruck regiert allerorten die öffentliche Hand. Hier eine Lösung zu finden, wäre ein wirklich substantieller politischer und rechtsbasierter Schritt zur Inklusion – aber die Tatenlosigkeit und Zurückhaltung an dieser Stelle ist ein weiteres Indiz für die Entpolitisierung des Themas. 3

Das schulpolitische Inklusionsdilemma

Es ist auffällig, dass das Thema Inklusion nahezu reduziert wird auf die Frage der inklusiven Beschulung an Regelschulen. In eher technischer Manier spricht man in diesem Kontext auch gerne von Inklusions- beziehungsweise Exklusionsquoten. Inklusion, so die Logik, ist dann vollzogen, wenn Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf keine Förder-, sondern eine Regelschule besuchen. Richtig ist, dass es in Artikel 24 UN BRK heißt: „Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Vertragsstaaten ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen [...] Bei der Verwirklichung dieses Rechts stellen die Vertragsstaaten sicher, dass […] Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft, in der sie leben, Zugang zu einem integrativen, hochwertigen, unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben.“

Es geht also um die Gewährleistung eines integrativen oder besser inklusiven Bildungssystems, um das Recht für jeden Schüler und jede Schülerin zu eröffnen, eine Regelschule mit inklusivem Know-how zu besuchen, die auf ihre Bedarfe eingeht. Denn es heißt vorlaufend unter der Zielbestimmung dieses Artikels: Mit dem Ziel, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen.“ Die inklusive Beschulung steht also unter dem qualitativen Anspruch, dem Genüge zu leisten und sich damit der Aufgabe zu widmen, orientiert an den Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen, deren persönlichen Begabungen und Kompetenzen 20

Vgl. Hahn, Sozial? Hilfe, 3.

Inklusionsbarrieren

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optimal zur Entfaltung zu bringen. Dieser normative Anspruch an die Regelschule ist der eigentliche Maßstab für die legitime Rede von einer inklusiven Beschulung. Hier steht nicht, dass Schülerinnen und Schülern und deren Eltern, die diesen Anspruch eher in einer Förderschule eingelöst sehen und dort die bessere, die chancenreichere oder die geschütztere Lernsituation vorzufinden meinen, das Recht abgesprochen werden darf, sich für diese Schulen zu entscheiden. Mit Blick auf die bestehende „Qualität“ der inklusiven Regelbeschulung ist es gegenüber den Schülerinnen und Schülern einer Förderschule, ihren Eltern wie auch dem Lehrpersonal borniert, die Entscheidung für eine Förderschule als eine Exklusionsentscheidung zu etikettieren. Denn die Abwägung, an welcher Schule die Persönlichkeit und Kompetenz von Kindern mit Behinderungen optimal gefördert werden, wird nur dann für eine Regelschule ausfallen, wenn dort die pädagogischen Standards, das didaktische Know-how sowie die Ressourcenausstattung deutlich optimiert werden. Erforderlich ist daher eine Orientierung der föderalen Schulpolitik am pädagogischen Diskurs, der zu Recht danach fragt, was sich an den Schulen und am Schulsystem insgesamt ändern muss, damit Kinder und Jugendliche mit Behinderungen ihre Persönlichkeit frei und vollumfänglich gefördert zur Entfaltung bringen können. Eine derartige Ausrichtung der Schulpolitik käme zudem allen Schülerinnen, Schülern und auch dem Lehrpersonal zugute. Die Grabenziehung „Förderschule gleich Exklusion – Regelschule gleich Inklusion“ ist demnach simplifizierend und verbietet sich mit Blick auf die Qualität der inklusiven Regelbeschulung. Die Bertelsmann Stiftung hat Anfang September 2015 ihre jüngste Studie über die Qualität des inklusiven Bildungssystems in Deutschland veröffentlicht. Danach gehen von Zehntausend Kindern mit Förderbedarf etwa 67 Prozent im Bundesdurchschnitt in eine Kita, nur noch 47 Prozent besuchen eine Regelgrundschule, in die Sekundarstufe I kommen hingegen nur noch 29,9 Prozent. Der überwiegende Teil, nämlich fast 90 Prozent, gelangt auf die Hauptschule, gut 10 Prozent auf Realschulen oder Gymnasien, aber die wenigsten schaffen den Abschluss und noch weniger den Weg in eine Ausbildung.21 Was auffällt, ist die Tatsache, dass Kinder und Jugendliche in diesem Bildungsverlauf reihenweise die Erfahrung machen müssen, früher oder später aus dem System gekickt zu werden. Spätestens mit Blick auf die Ausbildung erkennen sie, dass das System den Zutritt zur Erwerbsarbeit verweigert. Das ist eine halbherzige Form der Inklusion, nämlich eine mit verzögerten und menschlich ungemein enttäuschenden und demoralisierenden Exklusionseffekten. Ausgrenzungsten21

Vgl. Bertelsmann Stiftung, Inklusion.

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U. Becker

denzen, die im dreigliedrigen Schulsystem besonders für Hauptschüler und -schülerinnen stigmatisierende Folgen haben, verschärfen sich nochmals für Jugendliche mit Behinderung.22 Wenn Inklusion im Bildungssystem gelingen soll, dann sind deutlich kleinere Klassen mit etwa 15 Schülerinnen und Schülern, multiprofessionelle Teams, eine stärker personen- und entwicklungsbezogene Pädagogik und natürlich Schulgebäude, die in jeder Hinsicht barrierefrei sind, alternativlos. Und schließlich ist die Etablierung eines öffentlich geförderten Ausbildungs- und Arbeitsmarkts unumgänglich, damit diejenigen, die als „leistungsgemindert“ kategorisiert werden und den Schritt in das Erwerbsleben vollziehen möchten, auch die Chance dazu erhalten. 4

Exklusion – Inklusion. Eine Semantik mit Schieflage

Die Auseinandersetzung über die Inklusion zeichnet sich nicht gerade durch eindeutige Klarheit aus, und der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich ihr Verlauf auch als Weg von der „Unkenntnis zur Unkenntlichkeit“ charakterisieren lässt.23 Das hat sicher eine praktische, handlungsbezogene Dimension. Denn Antworten auf die Fragen wann, durch welche Verordnung, Gesetzgebung und auf welcher finanziellen Basis Schritte der Inklusion vollzogen sind, sind keineswegs einhellig beantwortet und teilweise heftig umstritten. Es wäre aber ein Missverständnis, diese strittigen Aspekte und Unklarheiten lediglich auf einer handlungsbezogenen Ebene zu verorten. Es ist nicht nur unklar, wann Inklusion vollzogen ist, sondern auch, was Inklusion überhaupt bedeutet. Welches also sind die theoretischen Grundannahmen der Rede von der Inklusion?24 Schon die Übersetzung des Begriffs bietet ein naheliegendes räumliches Verständnis von Inklusion als gesellschaftlichem „Einschluss“, oder moderater formuliert, als gesellschaftlicher Einbindung an. Den Gegensatz dazu stellt dann der Zustand der Exklusion dar, der gesellschaftliche Ausschluss. Der räumlichen Vorstellung von einem Drinnen und Draußen entsprechen auch die Logiken der Rede von der Gesellschaft, die den Prozess der Inklusion betreiben soll, oder wie die damalige Arbeitsministerin Ursula von der Leyen im Nationalen Aktionsplan formuliert: „Wir wollen in einer Gesellschaft leben, in der alle Menschen mitmachen können.“25 Diese Formulierungen vermitteln eine gewisse Dramatik, als stünden Menschen mit Behinde22

Vgl. Quenzel/Hurrelmann, Bildungsverlierer. Hinz, Inklusion, 15. 24 Vgl. Becker, Inklusionslüge, 69. 25 BMAS, Unser Weg, 3. 23

Inklusionsbarrieren

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rungen jenseits gesellschaftlicher Teilhabe, als ginge es nun darum, ihnen endlich durch die Einbindung in das Regelschulsystem oder in den ersten Arbeitsmarkt diese Teilhabe zu vermitteln. Inklusion ist dann identisch mit der „einschließenden Teilhabe“ an den bestehenden Institutionen, den gesellschaftlich sozialisierenden Instanzen und ihren kulturellen Praktiken. Insofern muss gefragt werden, ob der Gebrauch von Begriffen wie „Teilhabe“ oder „Chancengleichheit“ in diesem Diskurs nicht allzu oft einer gewissen Naivität und Kritikabstinenz unterliegt, ohne diese Begriffe auch nur ansatzweise inhaltlich geschärft zu reflektieren. Die theoretischen Grundannahmen der in der Praxisdiskussion üblichen Semantik von „Inklusion und Exklusion“ scheinen aber keineswegs konsequent geklärt und durchdacht zu sein. Es muss auch theoretisch Rechenschaft darüber gegeben werden, was denn die inhaltlichen Kriterien für die Definition von Exklusion und Inklusion sind. Wenn man schon meint, eine solche Grenzziehung bestimmen zu können, dann ist auch die Frage zu beantworten, wo sie denn „verläuft“, diese Grenze zwischen „drinnen“ und „draußen“. Weder ist dieses Konstrukt legitimiert noch ist geklärt, wem diesbezüglich die Klärungskompetenz in Sachen Grenzziehung zusteht. Also, wer ist wann und aufgrund welcher Maßstäbe überhaupt legitimiert, zu definieren, dass Menschen aus der Gesellschaft „exkludiert“ oder auch nicht mehr „exkludiert“ sind? Die meist kreisförmig visualisierte Vorstellung von Gesellschaft, in der die Punkte außerhalb des Kreises die Exkludierten darstellen, bewirkt, dass „Exklusionen“ oder besser Ausgrenzungen im „Innenkreis“ der Gesellschaft keiner Thematisierung mehr bedürfen. Die Gesellschaft schottet sich von der kritischen Wahrnehmung der in ihr produzierten Prozesse der Ausgrenzung ab. Anders gesagt: Das hier transportierte Gesellschaftsbild lässt völlig außer Acht, welche Brüche, Ungleichheiten und sozialen Verwerfungen schon jetzt „innerhalb“ dieser Gesellschaft produziert werden. Sie tritt in diesem Bild als „unproblematische Einheit“ auf, was nichts anderes produziert als ihre eigene Mystifizierung.26 Inklusion wird dann quasi zum sakralen Akt der Vergesellschaftung, und die „Zugehörigkeit“ zur „Gemeinde“ der Inkludierten verkommt zur inhaltsleeren Metapher für Teilhabe und Wohlfahrt. Die Unzulässigkeit dieser Identifikation ist vielfach belegt: So bedeutet Inklusion beispielsweise im Regelschulsystem noch längst nicht, eine schulische Schlüsselqualifikation zu erlangen, die aber für die gesellschaftliche Teilhabe immer wieder als das zwingend zu passierende Eintrittstor beschrieben wird. Und die Teilnahme am Arbeitsmarkt führt noch längst nicht zu einem Leben jenseits von Armut oder Angewie26

Vgl. Kronauer, Exklusion, 20.

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senheit auf Sozialleistungen und ist auch nicht stetig garantiert. Letztlich kann der „Vollzug von Inklusion“ in Erfahrungen von Ausgrenzung umschlagen, wenn die Leistungsanforderungen im System den individuellen Fähigkeiten nicht entsprechen. Inklusion hebt eben nicht die gesellschaftlichen Selektions- und Sanktionsmechanismen auf.27 Erschreckend die Schilderung eines an schwerer Psychose erkrankten Mannes, der im Rahmen einer Diskussionsveranstaltung erklärte, dass das Schlimmste, was ihm widerfahren könne, die Einordnung in das Erwerbsfähigkeitsraster des SGB II wäre. Und er schilderte weiter, dass einer seiner besten und ebenfalls unter einer Psychose leidenden Freunde vom Rechtskreis des SGB XII in den Status der Erwerbsfähigkeit in die Zuständigkeit des SGB II geraten sei. Er habe dem Druck der aufgenommenen Arbeit nicht standgehalten und nach wenigen Monaten durch einen schweren Krankheitsrückfall bedingt Suizid begangen. Wenn man also schon im dichotomen Bild von „drinnen“ und „draußen“ verbleiben will, dann wäre jene Gesellschaft derer, die „drinnen“ sind und zur Teilhabe einladen, kritisch danach zu befragen, ob ihr Innenleben so gastfreundlich und attraktiv ist, dass man dieser Einladung gerne folgt. Es besteht die Gefahr, den „Raum der Inklusion“ nicht mehr kritisch mit Blick auf seine Ausgrenzungsdynamik zu inspizieren. Allein die Zugehörigkeit zu diesem Raum herzustellen, ist schon ein Akt der guten Tat, ohne kritisch zu sichten, welche normativen und auch ausgrenzenden Dynamiken sich hinter diesem Inklusionsvollzug verbergen. Nehmen wir die Diskussion über die konstant hohe Quote der Langzeitarbeitslosigkeit, die immer wieder begleitet wird von der Appellstruktur, diesen Menschen müssten wieder Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe eröffnet, also Inklusionsbrücken gebaut werden, weil sie ausgegrenzt seien. Richtig daran ist: Langzeitarbeitslose sind einerseits von der Arbeitswelt ausgegrenzt. Sie sind Menschen ohne Arbeit. Andererseits besteht ihre Zugehörigkeit zur Arbeitswelt gerade in dieser negativen und defizitären Definition. Sie sind Menschen ohne Arbeit. Sie gelten als beschäftigungsfähig, müssen ihre Arbeitsbereitschaft stetig unter Beweis stellen, haben Auflagen der Agentur für Arbeit zu erfüllen und beziehen schließlich eine Transferleistung, die ersatzweise bis zur Integration in Arbeit sozialrechtlich gewährt wird. Und schließlich: Das Niveau dieser Grundsicherung, so wird immer wieder politisch argumentiert, soll den Anreiz zur Arbeitsaufnahme sichern. Auf diese Weise werden Menschen in Arbeitslosigkeit bürokratisch, materiell und disziplinierend an die Welt der Arbeit gebunden, ohne ihr wirk27

Vgl. Wansing, Inklusion, 393.

Inklusionsbarrieren

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lich anzugehören. Die Paradoxie dieser „Teilhabe“ an der Arbeitswelt basiert auf ihrer Ausgrenzung, sie ist ausgrenzende Teilhabe. Die innere „Verbundenheit“ der Arbeitslosen mit dem Arbeitsmarkt, das „Teilhaben“ von Arbeitslosen am Arbeitsmarkt ist zugleich negativ bestimmt durch diesen Markt selbst. Die Arbeitslosigkeit ist bei vielen Betroffenen auch Resultat eines sich dynamisch ändernden Arbeitsmarktes, der steigende Flexibilität, hohe Mobilität und zunehmend höher qualifizierte Bildungsabschlüsse zu seinen Zugangsbedingungen erklärt. Der Arbeitsmarkt selbst, sein Anforderungsprofil und seine Leistungsverdichtung schaffen Arbeitslosigkeit. Dafür ist das Krankheitsbild des „Burnout“ ein um sich greifendes Indiz und nicht selten schaffen die davon Betroffenen nicht mehr die Wiedereingliederung in das Erwerbsleben und landen irgendwann in der prekären Situation der Erwerbsminderungsrente. Zugespitzt formuliert: Das Wesen dieser Arbeit produziert Wesen ohne Arbeit. Arbeit und Bildung sind zwar entscheidende Faktoren für Zugang zu und Verbleib in gesellschaftlicher Partizipation, aber das gilt für beide Richtungen: Wenn rund 6 Prozent der Schuljahresabgänger_innen den Bildungsabschluss nicht erlangen oder aber nur einen unqualifizierten Hauptschulabschluss, wenn die Erwerbsbiografie zwischen geringfügiger Beschäftigung, Stadien der Arbeitslosigkeit und dem Wiedereinstieg im Niedriglohnsegment dauerhaft variiert, dann erweist sich die pure Teilhabe an Bildung und an Arbeit gerade nicht als Faktor, der vor Ausgrenzung bewahrt. Im Gegenteil: Diese gesellschaftlichen Instanzen der Teilhabe wirken aufgrund ihrer Zugangsbarrieren selbst selektierend, klassifizierend und letztlich ausgrenzend. Es gibt auch Dynamiken ausgrenzender Teilhabe. Es gibt Institutionen der vermeintlichen „Inklusion“, die „Exklusion“ im erwähnten eingeschränkten und theoretisch fragwürdigen Sinne bewirken. Und es sind genau diese „exkludierenden Effekte“ jener Institutionen, die gelegentlich auch von Inklusionsbefürwortern nicht ausreichend erkannt und thematisiert werden. 5

Die Inklusionslügen – Plädoyer für die inklusionspolitische Wahrheit

Der Begriff „Inklusionslüge“ meint die vielschichtige Verschleierung der inklusionspolitischen Wahrheit. Diese Wahrheit ist zunächst einmal finanzieller Natur. „Inklusion“ ist nicht nur ein wertvolles, sondern auch ein kostenintensives gesellschaftliches Projekt. Wenn in der Schulpolitik wirklich Rahmenbedingungen geschaffen werden sollen, die sich an den Zielvorstellungen des Art. 24 UN BRK orientieren, dann heißt das schulpolitisch betrachtet, das Ganze neu den-

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ken und gestalten: Eine veränderte räumliche Infrastruktur, wesentlich kleinere Klassen von eher 15 statt 30 Kindern, permanente Gestaltung des Unterrichts durch eine pädagogische und eine sonderpädagogische Kraft, Supervision für die Lehrkräfte, Entwicklung neuer Curricula, Veränderung der Studiengänge und schließlich auch der Bruch mit dem dreigliedrigen Schulsystem und seiner problematischen Ausdifferenzierung bereits nach der vierten Klasse. Das betrifft finanzielle Ansprüche an die Kassen von Bund, Ländern und Kommunen. Es ist allerdings nirgends zu erkennen, dass diese Ressourcen überhaupt ansatzweise zur Verfügung gestellt werden. Im Gegenteil: Wir müssen – erstens – befürchten, dass während in Berlin die schwarze Null als Erfolg eiserner Sparpolitik gefeiert wird, Sozialleistungen auch für Menschen mit Behinderungen eher auf dem Prüfstand stehen und die Einsparungsfantasien der Sozialhilfeträger, wie man dem Kostendruck entrinnen kann, weiter intensiv bemüht werden. Insofern gilt zweitens, dass bei dem Thema Inklusion viele Kostenträger eher daran denken, wie die öffentlichen Ausgaben noch mehr als bisher reduzierbar sind und wie man auch die ökonomischen Verwertungsreserven von Menschen mit Behinderungen weiter abschöpfen kann. Schließlich und sehr grundsätzlich ist aber auch die gemeinhin verbreitete Vorstellung von „Inklusion“ sehr selbstgefällig und insofern verlogen, wenn sie unterstellt, wir könnten von intakten gesellschaftlichen „Innenräumen“ sprechen, in die nun alle „einzuladen“ sind. Diese gesellschaftlichen „Innenräume“ sind allerdings alles andere als gastlich. Sie sind, nehmen wir den Arbeitsmarkt, sogar ausgesprochen brutal, konkurrenz- und leistungszentriert. Sie stehen unter der Regentschaft eines flexiblen Kapitalismus, der die flexiblen Anpassungsleistungen an den Markt permanent als Bringschuld der Beschäftigten definiert. Und er hat es dabei verstanden, an gute Werte wie Autonomie, Souveränität und Freiheit anzuknüpfen und sie für die eigenen Interessen dienstbar zu machen. Die Fähigkeit, flexibel zu sein, feiert den Status einer anthropologischen Primärtugend. Ihre Entfaltung wirkt wie die selbstverständliche Einlösung menschlicher Daseinsbestimmung. Die gestaltende Sogkraft, die dieses zivilisatorische Leitwort in den letzten gut zwanzig Jahren gewonnen hat, wäre ohne den Charme verheißender Lebensentfaltung im flexiblen Dasein nicht denkbar gewesen.28 Mit steigenden Mobilitäts- und Flexibilitätsansprüchen, Verdichtung von Arbeit, sinkendem Lohnniveau besonders bei Berufseinsteiger_innen, Minderung der Rentenleistung bei gleichzeitiger Verlängerung der Lebensarbeitszeit setzt diese Form des flexiblen Kapitalismus ungebremst seine Erfolgsstory durch. Viele Menschen haben in diesem Raum bereits ihre „Aufenthaltslizenz“ 28

Vgl. Boltanski/Chiapello, Der neue Geist, 124; Negt, Arbeit, 172f.

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eingebüßt oder halten den dort vorfindlichen Bedingungen kaum mehr stand. Es muss daher auch und vor allem darum gehen, diese Ausgrenzungsdynamik ehrlich zu bilanzieren und ihre Ursachen zu beseitigen. Wenn Artikel 1 UN BRK betont, dass „Wechselwirkungen mit verschiedenen Barrieren“ Menschen mit Behinderungen „an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können“, dann muss inklusionspolitisch auch diskutiert werden, welche Barrieren von jener ökonomischen Logik aufgebaut und zementiert werden. Denn sie degradiert den Menschen zum Humankapital, transformiert Sozialstaatlichkeit in Investitionskalkulationen und bewertet den Einzelnen nach dem Maß seiner ökonomischen Zweckerfüllung, deren Zauberwort Erwerbsarbeit lautet. Wenn es den Verfechterinnen und Verfechtern der UN BRK gelänge, die sozialen Ausgrenzungen dieser Logik nicht nur aufzuzeigen, sondern sie auch anzuprangern, dann bekäme dieses Engagement inklusive Stoßkraft mit ökonomisch irritierendem Richtungswechsel. Das käme dann nicht nur einer Reihe von Menschen mit Behinderungen zugute, die ihr gelingendes Leben weder mit der Sozialisation im dreigliedrigen Schulsystem assoziieren noch mit der Teilhabe am Arbeitsmarkt, sondern es würde darüber hinaus auch eine veränderte Wertekultur als Inklusionsmaxime einfordern, die allen gilt, Menschen mit und ohne Behinderungen. Menschenwürde wäre dann nicht an Produktivität gemessen und Arbeitslosigkeit nicht als Humandefizit definiert. Die Differenzierung zwischen Erwerbsfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit wäre nach dieser Inklusionslogik konsequenterweise wegen ihrer diskreditierenden Zuschreibung von Behinderung zu streichen. So geriete das Projekt der Inklusion auf einen passierbaren Weg ins utopische Gelände.29 Denn diese Logik der Inklusion „pervertiert“ die Verhältnisse, sie „kehrt sie um“ und stürzt einen ökonomischen Mainstream, der wachsende Ungleichheit, Diskriminierung, Armut und Ausgrenzung produziert, vom Thron seiner kontrollierenden Regentschaft. Eine derartige inklusive Dimension, die maßgeblich, aber nicht allein von Menschen mit Behinderungen ausginge, würde das Gesicht dieser Gesellschaft auf eine provokant renitente Weise verändern. Inklusion wäre dann nicht jenes paternalistisch fehlverstandene Projekt, bei dem Menschen mit Behinderungen von der Gesellschaft in die Gesellschaft eingebunden werden. Vielmehr vollzöge sich etwas mit der Gesellschaft, weil Inklusion etwas ist, was (auch) Menschen mit Behinderungen aktiv an der Gesellschaft praktizieren.30 Das stellt gesellschaftliche Grundmechanis29 30

Vgl. Becker, Inklusionslüge, 187f. Vgl. Becker, Inklusionslüge,188.

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men radikal infrage und bewahrt der Inklusion die Provokation, die ihr recht verstanden zu eigen ist. Inklusion ist eben nicht der Einschluss in bestehende Systeme, die ihre Beharrungskraft permanent unter Beweis stellen, sondern Inklusion bedeutet den Zusammenschluss von Vielfalt, der jene Systeme von Grund auf ändert.  

Literatur Becker, Uwe, Die Inklusionslüge. Behinderung im flexiblen Kapitalismus, Bielefeld 2015. Becker, Uwe, Inklusion und Reform der Eingliederungshilfe: Forderungen der Leistungserbringer, Archiv für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit, 45/3 (2014) 62–67. Bertelsmann Stiftung, Inklusion in Deutschland. Daten und Fakten, Gütersloh 2015. Blyth, Mark, Wie Europa sich kaputtspart. Die gescheiterte Idee der Austeritätspolitik, Bonn 2014. Boltanski, Luc/Chiapello, Ève, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Unser Weg in eine inklusive Gesellschaft. Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, Berlin 2011. Degener, Theresia, Menschenrechtsschutz für behinderte Menschen. Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen, Vereinte Nationen 3 (2006) 104–110. Degener, Theresia, Die neue UN-Behindertenrechtskonvention aus der Perspektive der Disability Studies, Behindertenpädagogik 48 (2009) 263–282. Deutscher Bundestag, Denkschrift zu den Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderung, in: Deutscher Bundestag – 16. Wahlperiode, Drucksache 16/ 10808 (2008) 45–72. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalen, Aktionsplan der Landesregierung. Eine Gesellschaft für alle, Düsseldorf 2012. Hahn, Thomas, Sozial? Hilfe!, Süddeutsche Zeitung, 23.12.2013, 3. Hinz, Andreas, Inklusion im Bildungskontext: Begriffe und Ziele, in: Susann Kroworsch (Hg.), Inklusion im deutschen Schulsystem. Barrieren und Lösungswege, Berlin 2014, 15–25. Fischer, Konrad, Kosten für die Eingliederungshilfe explodieren, Wirtschaftswoche, 14.02.2012, online:

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www.wiwo.de/politik/deutschland/arbeitsmarkt-kosten-fuer-dieeingliederungshilfe-explodieren/6193018.html14.02.2014, Zugriff am 15.01.2014. Kronauer, Martin, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus, Frankfurt a.M./New York 2010. Masuch, Peter, Die UN-Behindertenrechtskonvention anwenden!, in: Christine Hohmann-Dennhardt/Peter Masuch/Mark Villiger (Hg.), Festschrift für Renate Jäger. Grundrechte und Solidarität. Durchsetzung und Verfahren, Kehl 2011, 245–263. Negt, Oskar, Arbeit und menschliche Würde, Göttingen 2001. Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hg.), Bildungsverlierer. Neue Ungleichheiten, Wiesbaden 2010. Schulz, Lockerung der Schuldenregeln in Flüchtlingskrise denkbar, Focus Online, 04.10.2015, online: http://www.focus.de/finanzen/news/wirtschaftsticker/schulzlockerung-der-schuldenregeln-in-fluechtlingskrisedenkbar_id_4990569.html, Zugriff am 04.11.2015. Speck, Otto, Das schulpolitische Inklusionsdilemma in Deutschland – Die Verabschiedung des Inklusionsgesetzes im Deutschen Bundestag und deren Folgen, Heilpädagogische Forschung 2 (2015), online: http://www.heilpaedagogischeforschung.de/ab1522.htm, Zugriff am 18.06.2015. Wansing, Gudrun, Inklusion in einer exklusiven Gesellschaft. Oder: Wie der Arbeitsmarkt Teilhabe behindert, Behindertenpädagogik 51 (2012) 381–396.

2 Handlungsfelder und Praxisimpulse

Irmgard Eberl/Klaus Eberl/Sigurd Hebenstreit/Michaela Moser

2.1 Inklusive Frühpädagogik

Im Vergleich zum Schulbereich nehmen die Kindergärten eine Vorreiterfunktion in der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder ein. Schon in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelten sich die ersten, elaborierten Projekte integrativer Bildung und Erziehung, und für die Mehrzahl behinderter Kinder ist es heute selbstverständlich, den Kindergarten im Wohnumfeld der Familie zu besuchen. Doch damit sind nicht alle Fragen, die die UNBehindertenrechtskonvention aufwirft, gelöst. Im Folgenden wollen wir (I) zunächst den Ist-Stand inklusiver Frühpädagogik anhand der aktuellen rechtlichen Situation und der statistischen Zahlen beschreiben, dann (II) auf konzeptionelle Grundlagen eingehen, indem wir integrative und inklusive Frühpädagogik miteinander vergleichen und zentrale Handlungsebenen benennen, weiterhin (III) ein Praxisbeispiel dokumentieren, das Anregungen für den Alltag bereithält, um abschließend (IV) wichtige Dokumente aus dem evangelisch-diakonischen Bereich zur inklusiven Frühpädagogik aufzuführen. 1

Ist-Stand

Zunächst geht es um die für inklusive Frühpädagogik bedeutsamen geltenden rechtlichen Bestimmungen und den aktuellen Stand sowie die zahlenmäßige Entwicklung von Inklusion und Exklusion. 1.1 Rechtliches Sozialgesetzesbücher definieren Anspruchsberechtigte, eröffnen Leistungen, legen institutionelle Verwaltungswege fest und bestimmen Institutionen zur Leistungserfüllung. Für die inklusive Frühpädagogik gilt, dass sie zwischen vielen verschiedenen Stühlen sitzt: Behindertenrecht, Kinder- und Jugendhilferecht und – auch für den frühpädagogischen Bereich – die Schulgesetze. Behindertenrecht: Mit Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) durch den deutschen Bundestag haben die dort

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I. Eberl/K. Eberl/S. Hebenstreit/M. Moser

festgelegten Normen Gesetzeskraft. Für den Bereich frühkindlicher Bildung sind die Artikel 7 und 24 von Bedeutung. Danach ergeben sich vier grundsätzliche Ansprüche: – das Recht jedes behinderten Kindes auf Bildung – das Recht auf inklusive Bildung auf allen Bildungsstufen – das Recht auf lebenslanges Lernen – das Recht auf „hochwertige“ Bildung Ziel eines inklusiven Bildungswesens ist es, „Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen.“1 Die UN BRK spricht dabei den frühpädagogischen Bereich nicht unmittelbar an, sondern legt mit der Verwendung des Wortes „Unterricht“ zunächst einen Schulbezug nahe. Doch die Rede ist vom „inklusiven Bildungssystem auf allen Ebenen“ und vom „lebenslangen Lernen“. Weiterhin ist die in Deutschland vorfindliche Grenzziehung zwischen dem frühkindlichen – sozialpädagogisch geprägten – Bereich und der Schule als Bereich formaler Bildung in vielen Staaten so nicht gegeben. Das SGB IX (Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen) regelt „heilpädagogische Leistungen für Kinder, die noch nicht eingeschult sind“ als eine der „Leistungen zur Teilhabe am Leben der Gemeinschaft“.2 Hinzu kommt die generelle Bestimmung, dass „bei Leistungen an behinderte oder von einer Behinderung bedrohte Kinder […] eine gemeinsame Betreuung behinderter und nichtbehinderter Kinder angestrebt“ wird.3 Im SGB XII (Sozialhilfe) wird geregelt, dass die heilpädagogischen Leistungen Bestandteil der Eingliederungshilfe sind:4 „Besondere Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und die behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern. Hierzu gehört insbesondere, den behinderten Menschen die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern.“5 Körperlich oder geistig behinderte Kinder in Kindergärten haben Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn festgestellt ist, dass sie zu dem Personenkreis gehören. Kinder- und Jugendhilferecht: Über die körperlich oder geistig behinderten Kinder hinaus erhalten auch seelisch behinderte Kinder Ein1

Art. 24 Abs. 1 b) UN BRK. § 55 Abs. 2 SGB IX. 3 § 19 Abs. 3 SGB IX. 4 § 541 SGB XII. 5 § 53 Abs. 3 SGB XII. 2

Inklusive Frühpädagogik

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gliederungshilfe, dann aber nicht aufgrund des SGB XII, sondern des SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfe). Diese kann auch in Kindergärten geleistet werden.6 Über diese spezielle Eingliederungshilfe hinaus gilt für alle Kinder das Recht auf einen Kindergartenplatz. Vom vollendeten ersten bis zum dritten Lebensjahr haben sie einen Anspruch auf einen Platz in einer Tageseinrichtung bzw. in der Kindertagespflege7 und ab dem dritten Lebensjahr auf einen Platz in der Tageseinrichtung8. Bezüglich der behinderten Kinder sagt SGB VIII, dass „Kinder mit und ohne Behinderung […], sofern der Hilfebedarf dies zulässt, in Gruppen gemeinsam gefördert werden sollen.“9 Mit dieser „Soll“-Formulierung wird inklusive Frühpädagogik als Regelfall beschrieben, aber auch eingeschränkt: Der Hilfebedarf darf ein bestimmtes Maß nicht überschreiten. Solch eine den Kindergartenanspruch relativierende Aussage findet sich ausschließlich bei behinderten Kindern, obwohl er sich auch für andere Gruppen denken ließe. Die Kindergartengesetze der Bundesländer führen die Bestimmungen des SGB VIII weiter aus, in NRW ist es das Kinderbildungsgesetz (KiBiz). Zunächst gilt hier ein Diskriminierungsverbot: „Die Aufnahme eines Kindes in eine Kindertageseinrichtung darf nicht aus Gründen seiner Rasse oder ethnischen Herkunft, seiner Nationalität, seines Geschlechtes, seiner Behinderung, seiner Religion oder seiner Weltanschauung verweigert werden.“10

In dem folgenden Paragraphen wird die Sollformulierung des SGB VIII bezüglich der behinderten Kinder übernommen, ohne auf den notwendigen Hilfebedarf zu verweisen: „Kinder mit Behinderungen und Kinder, die von einer Behinderung bedroht sind, sollen gemeinsam mit Kindern ohne Behinderung gefördert werden.“11 Aus dem folgenden Satz lassen sich dann Ansprüche, die über die soziale Integration hinausgehend auf inklusive Konzepte zielen, ablesen: „Die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen und von Kindern, die von einer Behinderung bedroht sind, sind bei der pädagogischen Arbeit zu berücksichtigen.“12

6

§ 35a Abs. 2 SGB VIII. § 24 Abs. 2 SGB VIII. 8 § 24 Abs. 3 SGB VIII. 9 § 22a Abs. 4 SGB VIII. 10 § 7 KiBiz. 11 § 8 Satz 1 KiBiz. 12 § 8 Satz 2 KiBiz. 7

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I. Eberl/K. Eberl/S. Hebenstreit/M. Moser

Schulgesetz: Neben Kinder- und Jugendhilfe sowie Sozialhilfe gilt es bezüglich behinderter Kinder im frühen Alter auch die Schulgesetze der Bundesländer zu beachten. So sieht das Schulgesetz NRW vor: „Kinder mit einer Hör- oder Sehschädigung werden auf Antrag der Eltern in die pädagogische Frühförderung aufgenommen. Sie umfasst die Hausfrüherziehung sowie die Förderung in einem Förderschulkindergarten als Teil der Förderschule oder in einer Kindertageseinrichtung mit Unterstützung durch die Förderschule.“13

In anderen Bundesländern gibt es (mit unterschiedlichen Bezeichnungen) neben Förderschulkindergärten für hör- oder sehgeschädigte Kinder solche Sondereinrichtungen auch für andere Behindertengruppen. Rechtlich gesehen finden wir im frühpädagogischen Bereich so – heilpädagogische Kindergärten, die gemäß SGB XII finanziert und ausgestaltet sind, – Förderschulkindergärten gemäß der Schulgesetze der Bundesländer und – Kindergärten, die behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam besuchen und für die sowohl die Sozialhilfe wie die Kinderund Jugendhilfe zuständig sind. Drei Problemkreise aus der vorgegebenen rechtlichen Struktur seien, diesen Abschnitt abschließend, benannt: Behinderte Kinder, die gemeinsam mit nichtbehinderten Kindern in einer Einrichtung sind, werden aus zwei unterschiedlichen Quellen (mit unterschiedlicher Historie, Professionalität, Verwaltungsstruktur etc.) gefördert: Kinder- und Jugendhilfe einerseits, Sozialhilfe andererseits. Für die Kindergartenträger ergeben sich daraus in der Praxis mancherlei Schwierigkeiten, die sich dann nochmals verkomplizieren, wenn neben dem überörtlichen Träger der Sozialhilfe, der für die teilstationären Eingliederungshilfen zuständig ist, zusätzlich noch ambulante Eingliederungshilfen (z.B. Frühförderung) in Frage kommen, für die der örtliche Sozialhilfeträger zuständig ist. In NRW erhält der Träger für die Aufnahme eines behinderten Kindes einerseits über das KiBiz die 3,5-fache Kindpauschale und zusätzlich – ohne Anspruchsrecht – einen pauschalen Betrag von 5.000 Euro pro behindertes Kind als Abgeltung der Ansprüche auf teilstationäre Eingliederungshilfe für maximal vier behinderte Kinder pro Kindergarten.14

13 14

§ 19 Satz 10 KiBiz. Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Richtlinie, Ziffer 5.1.1.

Inklusive Frühpädagogik

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Schon längere Zeit wird gefordert, im Kinder- und Jugendhilfegesetz die Ansprüche auf Eingliederungshilfe für alle behinderten Kinder (und Jugendlichen) zu regeln und so die Doppelstruktur von Kinderund Jugendhilfe einerseits und Sozialhilfe andererseits aufzuheben. Eine Umsetzung dieser Forderung wurde bislang noch nicht erreicht – auch deshalb, weil Behindertenverbände befürchten, dass damit eine Absenkung der erreichten Standards der Sozialhilfe verbunden wäre. Leistungen zur Förderung behinderter Kinder werden nur erbracht, wenn zuvor dem einzelnen zu fördernden Kind aufgrund eines im frühpädagogischen Bereich stark medizinisch geprägten Diagnoseverfahrens (im Gegensatz zur Schule, bei dem eine pädagogische Begutachtung im Vordergrund steht) eine Behinderung zugesprochen wurde. Diskutiert wird dies als „Ressourcen-Stigmatisierungs-Dilemma“: Es gibt zusätzliche Leistungen, aber um den Preis einer dem einzelnen Kind zugeschriebenen Stigmatisierung. Für die inklusive Frühpädagogik werden deshalb alternative Finanzierungsmodelle vorgeschlagen: Die zusätzlichen Gelder werden je nach den sozialen Bedingungen im Wohnumfeld den Einrichtungen zugeteilt, die sich verpflichten (und dafür ein inklusives Konzept vorweisen können), behinderte Kinder aufzunehmen. Nur in den Fällen, in denen die zusätzlichen Kosten aufgrund der Schädigung des Kindes besonders hoch sind (z.B. durch einen großen pflegerischen Aufwand), werden als Härtefallregelung weitere Gelder bewilligt (eine solche Härtefallregelung gibt es auch jetzt schon in den vollkommen individualisierten Förderverfahren15). 1.2

Quantitatives

Einheitliche Zahlen über die Entwicklung der Integrationsquote behinderter Kinder sind schwer zu erhalten, da die Erhebungsgrundlage variieren: Werden die Plätze für behinderte Kinder erhoben oder wird die tatsächliche Belegung erfasst; werden auch die Horte mit einbezogen; welche Definition von „Behinderung“ wird zugrunde gelegt (in Förderschulkindergärten der „sonderpädagogische Förderbedarf“, in Kindergärten und heilpädagogischen Kindergärten der Anspruch auf teilstationäre Eingliederungshilfe); wann wird eine „Behinderung“ festgelegt (bei der Geburt sichtbar oder erst wenn nach Eintritt in den Kindergarten eine Entwicklungsverzögerung auffällig und von der Einrichtung den Eltern nahegelegt wird, einen Antrag auf Eingliederungshilfe – und damit die Diagnose „Behinderung“ oder „drohende Behinderung“ – zu stellen)? 15

Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Richtlinie, Ziffer 5.4.

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1998 wurden 61,9 Prozent der institutionell betreuten behinderten Kinder in integrativen Einrichten betreut, in Sondereinrichtungen 38,1 Prozent. Dieser Anteil behinderter Kinder in integrativen Einrichtungen stieg 2002 auf 80,38 Prozent (ohne Berücksichtigung der Förderschulkindergärten, was das Bild deutlich verfälscht).16 Im gleichen Zeitraum wuchs der Anteil integrativer Einrichtungen um gut 25 Prozent (auf 9.825), während sich die Sondereinrichtungen um mehr als die Hälfte reduzierten (auf 334).17 2013 (Zahlen nach dem jüngsten Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“) zeigt sich der Trend, dass die Zahl der integrativen Kindergärten steigt (auf 17.300 = 35 Prozent aller Kindergärten) und die Zahl der Sondereinrichtungen abnimmt (auf 250).18 Die Inklusions- und Exklusionsquoten lassen sich mit den vorher genannten Zahlen nicht vergleichen, da es jetzt eine andere Berechnungsgrundlage gibt. Bezeichnet man die Gruppen, in denen behinderte Kinder nicht in der Mehrheit sind, als inklusive und die, in denen sie in der Mehrheit sind, als exklusive, dann ergibt sich eine Inklusionsquote von gut zwei Dritteln und eine Exklusionsquote von knapp einem Drittel.19 Die neuesten Zahlen der Bertelsmann Stiftung („Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2015“), die sich auf Zahlen aus 2014 beziehen, weisen für Deutschland einen Inklusionsanteil von 76 Prozent und einen Exklusionsanteil von 24 Prozent aus (7,5 Prozent Sondereinrichtungen und 16,5 Prozent Förderschulkindergärten). Auffällig sind die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern – im Extrem: In Brandenburg haben wir einen Inklusionsanteil von 100 Prozent, in Bayern liegt er mit 46,1 Prozent am niedrigsten. Deutlich unterschiedlich sind auch die Zahlen für Sondereinrichtungen einerseits und Förderschulkindergärten andererseits. Baden-Württemberg und Bayern betreuen um die 50 Prozent der behinderten Kinder in Förderschulkindergärten (und haben so gut wie keine Sonderkindergärten), während es in Niedersachsen sich andersherum darstellt: mit 43,8 Prozent ist hier der Anteil von Sonderkindergärten deutschlandweit am höchsten.20 Auch an dieser Stelle seien einige Problemkreise benannt: Ob Zweidrittel- oder Dreiviertel-Inklusionsquoten im frühpädagogischen Bereich – der Trend ist positiv, wenngleich sich über den Maß16

Vgl. Riedel, Zahlenspiegel 2005, 174 (eigene Berechnung). Vgl. Riedel, Zahlenspiegel 2007, 145. 18 Vgl. Autorengruppe, Bildung in Deutschland 2014, 168. 19 Vgl. Autorengruppe, Bildung in Deutschland, 169. 20 Vgl. Bock u.a., Länderreport, Tab. 40a. 17

Inklusive Frühpädagogik

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stab (Gruppen mit bis zu 50 Prozent behinderten Kindern werden als inklusiv gezählt) streiten lässt. Das Ziel, alle Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam zu erziehen, ist aber noch nicht erreicht, und es bedarf eines bewussten neuen Anlaufs, um auf Dauer einen bestimmten Kreis behinderter Kinder (Kinder mit Sinnesschädigungen oder schwerer behinderte Kinder) nicht dauerhaft auszuschließen. Der Kindergartenbesuch ist freiwillig, und in der Altersgruppe der drei- bis sechsjährigen Kinder besuchen bundesweit 94 Prozent ein frühpädagogisches Angebot.21 Dabei lässt sich rückblickend über die letzten Jahre ein relativ konstant bleibender Anteil an Kindern feststellen, der keinen Kindergarten besucht. Es gibt Indizien, dass dies vor allem Kinder mit sozioökonomisch ungünstigem oder Migrationshintergrund betrifft. Vermutet wird, dass auch behinderte Kinder anteilsmäßig eher nicht oder später als nicht behinderte Kinder in den Kindergarten kommen.22 Auf das „Ressourcen-Stigmatisierungs-Dilemma“ haben wir schon hingewiesen. Werden Kinder als „behindert“ klassifiziert, weil sich für die Einrichtung dadurch Ressourcen gewinnen lassen? Wir haben über persönliche Erfahrungen hinaus dafür keinen empirischen Beleg und verweisen deshalb an dieser Stelle auf eine Untersuchung aus dem Schulbereich. Andreas Kloth23 hat für NRW die Entwicklung der Zahlen von Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in Förderschulen und im gemeinsamen Unterricht untersucht. Dabei zeigt sich für die Grundschulen ein Anstieg der Förderquoten von 1991 bis 2012 von 2,6 Prozent auf 33,6 Prozent – eine Erfolgsgeschichte. Doch auf der anderen Seite zeigt sich, dass im gleichen Zeitraum auch der Anteil der Kinder, die eine Förderschule besuchten, gestiegen ist: von 3,64 Prozent auf 4,67 Prozent. Der scheinbare Widerspruch löst sich dadurch, dass von 1991 bis 2012 der Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf stark gestiegen ist: von 3,7 Prozent auf 7 Prozent – also fast eine Verdoppelung. Kloth zieht daraus den Schluss, „dass es sich bei den inklusiv beschulten Förderschülern […] um ‚neue Förderschüler‘ handelt.“24 In der integrativen Kindergartenarbeit zeigt sich ein verstärkter Anteil qualifizierter Fachkräfte (Heil-, Elementar-, Sozialpädagog_innen).25 Allerdings überwiegt auch in der Arbeit mit behinderten Kindern die Gruppe der Erzieher_innen. Der frühpädagogische Bereich 21

Vgl. Bock u.a., Länderreport, 7. Vgl. Autorengruppe, Bildung in Deutschland 2014, S. 177; Riedel, Zahlenspiegel 2007, 157. 23 Vgl. hierzu auch Klemm, Inklusion. 24 Kloth, neue Förderschüler, 12. 25 Vgl. Autorengruppe, Bildung in Deutschland 2014, 188f. 22

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bedarf insgesamt einer Professionalisierung und weitergehenden beruflichen Ausbildung. Dies gilt auch für die inklusive Arbeit, die verbindlicher Bestandteil einer hochwertigen akademischen Ausbildung für Kindergartenfachkräfte sein muss. 2

Konzeptionelles

Bevor wir nach dem Verhältnis von „Integration“ und „Inklusion“ fragen und einige konzeptionelle Fragen ansprechen, zwei Vorbemerkungen. Mit der Aufnahme behinderter und nicht behinderter Kinder in die gleiche Kindergartengruppe sind notwendige Voraussetzungen für inklusive Frühpädagogik geschaffen. Doch Aussonderungsprozesse behinderter Kinder können auch in integrativen Gruppen erfolgen – durch die Kinder, aber auch durch die exklusive Zuständigkeit einer Kraft für die Betreuung der behinderten Kinder. Weiterhin können solche Gruppen ihren inklusiven Auftrag verfehlen, wenn die pädagogischen Prozesse nicht ständig und bewusst auf das gemeinsame Spielen und Lernen behinderter und nicht behinderter Kinder ausgerichtet sind. Schließlich müssen die didaktischen Programme eine Arbeit auf hohem Niveau anbieten, um allen Kindern die besten Entwicklungsbedingungen zu bieten. So fordert die Deutsche UNESCOKommission eindringlich, „inklusive Bildung in qualitativ hochwertiger Form umzusetzen“26. Eine Entscheidung von Eltern, ihr Kind im wohnortnahen Kindergarten anzumelden, darf nicht mit Abstrichen an optimaler Förderung einhergehen. In Konzepten inklusiver Frühpädagogik finden sich häufig gleichlautende Formulierungen: „Es ist normal, verschieden zu sein“27, „keine Etikettierungen vornehmen“, „ein Gewinn für alle“, „egalitäre Differenz“ etc. Aber die Wahrnehmung gesellschaftlicher Realität zeigt, dass es nicht normal ist, verschieden zu sein; dass wir Etikettierungen benötigen, um Schneisen in das Chaos zu ziehen; dass unser Bildungssystem Gewinner und Verlierer produziert; dass Differenzen immer auch mit unterschiedlicher Macht und sozialer Platzierung zu tun haben. Konzepte, die auf Veränderung zielen, sollten Wunsch und Realität nicht verwechseln.

26

Vgl. Deutsche UNESCO-Kommission, Inklusion, 51. Das Zitat stammt von dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Seine Rede ist auch nach 22 Jahren noch lesenswert.

27

Inklusive Frühpädagogik

2.1

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Integration – Inklusion

Mit dem deutschen Text der UN BRK kam es zum Streit um die Begriffe „Integration“ und „Inklusion“. In der amtlichen Übersetzung heißt es: „[D]ie Vertragsstaaten [gewährleisten] ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen“.28 Gegen die Verwendung des Begriffs „integrativ“ wurden kritische Stimmen laut, und die Schattenübersetzung des „Netzwerk Artikel 3 e. V.“ formuliert deshalb: ein „inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen“29, was eine wörtliche Übernahme des offiziellen englischsprachigen Textes ist: „an inclusive education system at all levels“30. Ist mit dem neuen Wort „Inklusion“ eine neue Zielrichtung vorgegeben? War „Integration“ gestern und ist „Inklusion“ heute? Ist das neue Wort alter Wein in neuen Schläuchen? Es gibt Vorwürfe gegen die Integrationsbewegung, die sachlich nicht zutreffend sind, etwa die Behauptung, mit „Integration“ würde die Veränderungsnotwendigkeit alleine bei den behinderten Kindern gesehen, die sich an ein unverändert bestehendes Kindergartenprogramm anzupassen hätten, oder der Vorwurf, „Integration“ ziele lediglich auf das äußere Beisammensein behinderter und nicht behinderter Kinder. Auch wenn solche Vorwürfe angesichts elaborierter Konzepte der Integrationsbewegung31 nicht gerechtfertigt sind, lassen sich prinzipielle Unterschiede zwischen „Integration“ und „Inklusion“ aufweisen. Aus schulpädagogischer Perspektive hat Sander von „Inklusion“ als „optimierte und erweiterte Integration“32 gesprochen. Worin bestehen die Optimierung und Erweiterung? Sechs Punkte sollen an dieser Stelle herausgehoben werden:33 Behinderungen: In den ersten Ansätzen gemeinsamer Erziehung gab es den Begriff der „Integrationsfähigkeit“, eine Hürde, die überwunden werden musste, um in einen integrativen Kindergarten kommen zu können. Inklusion zielt aber auf das Recht jedes Kindes, an der gemeinsamen Erziehung teilzunehmen. Bei Kindern mit schwereren Schädigungen und ggf. hohem pflegerischen Aufwand mag dies eine Herausforderung für die Einrichtung sein, die notwendigen Rahmenbedingungen herzustellen. Nur: Dies ist eine vom Kindergarten zu 28

Art. 24 Abs. 1 UN BRK. Vgl. Vereinte Nationen, BRK-Schattenübersetzung. 30 United Nations, CRPD. 31 Vgl. Feuser, Gemeinsame Erziehung; Reiser u.a., Integrative Prozesse. 32 Sander, Inklusive Bildung, 7. 33 Aus schulischer Perspektive siehe hierzu die Gegenüberstellung von Hinz, Integration/Inklusion. 29

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leistende Aufgabe, derer man sich nicht durch neue Barrieren entledigen kann. Ansatzpunkt: Integration richtete ihre Aufmerksamkeit auf das einzelne behinderte Kind. Durch individuelle Unterstützung sollte es in die Lage versetzt werden, am gemeinsamen Geschehen teilzunehmen. Inklusion geht dagegen von einer systemischen Perspektive aus: Das gesamte System Kindergarten und alle in ihm tätigen Fachkräfte sind aufgefordert, allen Kindern so gerecht zu werden, dass sie sich bestmöglich entwickeln. Zielgruppen: Integration nahm eine Zweiteilung vor – behinderte und nicht behinderte Kinder. Aus Inklusionsperspektive geht es dagegen um vielfältige Formen der Heterogenität. Jedes Kind ist in verschiedener Weise mehreren der Diversitätskategorien zugeordnet, und Inklusion begegnet allen Formen der Ausgrenzung, weil der Bezugspunkt pädagogischen Handelns nicht mehr eine Vorstellung von „Normalität“ ist, sondern Unterschiedlichkeit der Normalfall der pädagogischen Gruppe ist. Inklusion hat so nicht nur die behinderten Kinder im Blick.34 Zielrichtung: Im integrativen Kindergarten stand die heilpädagogische Arbeit mit den behinderten Kindern im Vordergrund: Was benötigen sie an speziellen Hilfen und Unterstützungsmaßnahmen, damit ihr Anspruch auf Bildung und Förderung eingelöst wird? Inklusion geht dabei von einem anderen Behinderungsbegriff aus: Es sind die sozialen Barrieren, die ein Kind behindern. Im Mittelpunkt steht deshalb nicht die heilpädagogische Förderung (wenngleich sie wichtig ist), sondern die Suche nach und Beseitigung von Barrieren, die behinderte Kinder am gemeinsamen Spielen und Lernen hindern. Curricula: In der integrativen Erziehung gab es einen speziellen Förderplan, mit dessen Hilfe das behinderte Kind an die Gruppenprozesse herangeführt werden sollte oder Ersatz für Aktivitäten war, denen das behinderte Kind nicht folgen konnte.35 Inklusion meint dagegen 34

Die Berechtigung und positive Bedeutung dieses Punktes soll nicht bestritten werden. Allerdings ist auch auf die Gefahr hinzuweisen, dass dadurch behinderte Kinder aus dem Blickfeld geraten. Die Reduzierung von Inklusion auf das Thema „Behinderung“ in der öffentlichen Diskussion hat den Vorteil, dass hier die Interessen behinderter Kinder, die lange Zeit von gemeinsamer Erziehung und Bildung ausgeschlossen waren oder deren Bildungsrecht ganz ignoriert wurde, in den Mittelpunkt geraten. 35 Dieser pauschale Kritikpunkt trifft allerdings nicht auf die elaborierten Konzepte integrativer Kindergartenarbeit zu. So betont Feuser ständig, „die gemeinsame

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nicht „individuelle Curricula für Einzelne“, sondern „ein individualisiertes Curriculum für alle“36. Gemeinsame Erziehung und Bildung wären nicht möglich, wenn jedes Kind nur seinem eigenen Bildungsweg folgen würde. Es bedarf einer Einigung, was für alle verbindliche Bildungsziele und -inhalte sind, auch wenn in diesem gemeinsamen Rahmen für jedes Kind individuell nach Wegen und Möglichkeiten gesucht werden muss. Praxis: Der Inklusionsbegriff wird benutzt, um sich von einer schlechten integrativen Praxis abzugrenzen. Bleiben wir nur auf der Oberfläche des alltäglichen Einrichtungsjargons, dann zeigt das Reden von „I-Kindern“ und „I-Kräften“ nicht nur eine verwaltungstechnische Abkürzung, sondern auch, dass man von inklusiver Arbeit nichts verstanden hat. Auch das häufig auffindbare Wort „Einzelintegration“ offenbart dies: Etwas Einzelnes ist schwerlich integrierbar. Nun wird die Praxis nicht besser, wenn man einfach Wörter austauscht, und bei vielen neueren Konzeptionen gewinnt man den Eindruck, dass durch „suche und ersetze“ das alte Wort „Integration“ durch „Inklusion“ ersetzt wurde. Von „I-Kindern“ und „I-Kräften“ kann man dann – dank des gleichen Anfangsbuchstabens – weiter reden. Hilfreich ist es dagegen, wenn mit der Wortänderung die konzeptionelle Debatte um gemeinsame Erziehung und Bildung im Kindergarten neu belebt wird. Gegenwärtig – so der Eindruck – scheint sich der frühpädagogische Bereich im Gegensatz zur Schule auf den Lorbeeren der frühen Integrationsbewegung auszuruhen, verwaltungstechnische und finanzielle Probleme anzugehen, aber die konzeptionelle Debatte außen vor zu lassen. „Inklusive Frühpädagogik“ kann demgegenüber Anstoß sein, grundsätzliche pädagogische Fragen neu zu durchdenken. 2.2

Konzeptionelle Ebenen

Prengel hat zum Zweck der Analyse inklusiver frühpädagogischer Konzepte vier Ebenen unterschieden.37 Diese lassen sich auch auf die Konzeptionsentwicklung einer einzelnen Einrichtung beziehen. Institutionelle Ebene: Die Aufnahme behinderter Kinder in den wohnortnahen Kindergarten ist die notwendige, wenngleich nicht hinreiTätigkeit (Spielen/Lernen/Arbeit) am gemeinsamen Gegenstand/Produkt in Kooperation von behinderten und nichtbehinderten Menschen“ (Feuser, Integration). 36 Hinz, Integration/Inklusion, 12. 37 Vgl. Prengel, Inklusion, 28–36; vgl. dazu auch das Mehrebenenmodell zur Inklusionsentwicklung von Heimlich.

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chende Voraussetzung, damit inklusive Prozesse entstehen können. Auf allgemeiner Ebene haben wir aktuell das Problem, dass für Kinder unter drei Jahren nur ein unterrepräsentatives institutionelles Angebot zur Verfügung steht. Zu untersuchen sind auch Strategien, wie sich der relativ stabile Kern von gut fünf Prozent Kindern, die überhaupt keinen Kindergarten besuchen, erreichen ließe. Auf der Ebene der Konzeption der einzelnen Einrichtung stellen sich hier u.a. folgende Fragen: Präsentiert sich der Kindergarten sichtbar und offensiv nach außen auch als Einrichtung für behinderte Kinder? Ist die Einrichtung von seiner räumlichen Gestaltung und personalen Kompetenz auf die Aufnahme aller Kinder vorbereitet? Ist sie flexibel genug, um sich den Erfordernissen des konkreten Einzelfalls anzupassen? Beziehungsebene: Ein (behindertes) Kind mag institutionell in einem Kindergarten integriert sein und sich trotzdem tagtäglich als ausgeschlossen erfahren. Häufig wird hier auf die Offenheit, Neugierde, Vorurteilsfreiheit der Kinder gesetzt und ein scheinbar positives Kinderbild propagiert. Doch aus der Pädagogik Janusz Korczaks lässt sich lernen: Kinder sind Menschen, aber sie sind nicht die besseren Menschen. Wir finden in der Kindergruppe wichtige Ressourcen zur Einbindung und Solidarität, aber wir finden auch das Gegenteil: Ausschluss, Feindseligkeit, Gleichgültigkeit. Es kommt hier auf das Verhalten der Frühpädagog_innen an: Können sie soziale Prozesse so wahrnehmen, wie sie tatsächlich sind (und nicht, wie sie sein sollten)? Können sie ihren eigenen Umgang mit Sympathie und Antipathie, Nähe und Distanz wahrnehmen? Können sie für die Kinder Vorbilder für Teilhabe werden? Können sie ein ausgestoßenes Kind so unterstützen, dass es nicht gerade dadurch wieder zum Objekt von Ausgrenzung wird? Ein weiterer Gedanke sei hinzugefügt. Heimlich hat im Anschluss an Gronemeyer ausgeführt, dass „Teilhabe“ (im Sinne von Dabeisein) nicht ausreicht, sondern dass es auch um die aktive Mitgestaltung der sozialen Gemeinschaft geht. Gronemeyer spricht hier von „Teilgabe“: „Teilgabe meint, dass jedes Mitglied einer Gesellschaft seinen Beitrag zur Gestaltung des gesellschaftlichen Miteinanders in allen Fragen, die sein Leben betreffen, leisten kann.“38

38

Gronemeyer, in: Heimlich, Behinderung, 23.

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Jedes Kind (auch jeder Erwachsene) wird sich nur gesund entwickeln können, wenn es sich als selbstwirksam erfährt – für seine eigene Entwicklung und für die Gestaltung der Gemeinschaft. Didaktische Ebene: In den letzten Jahren haben alle Bundesländer Bildungspläne für den frühpädagogischen Bereich herausgegeben.39 Diese scheinen auf den ersten Blick ein buntes Bild zu zeigen, sie haben jedoch einen gemeinsamen Nenner: Unverbindlichkeit und Idealisierung. Die Liste möglicher Bildungsinhalte ist lang und deshalb beliebig: Jedes Thema scheint sich zu eignen, und jeder Frühpädagogin ist freigestellt, was sie aus dem bunten Strauß herausgreift. Von dem Bildungsbegriff und Menschenbild her zeigen sich – von Nuancen abgesehen – Gemeinsamkeiten: Bildung ist (in Humboldt’scher Tradition) „Selbstbildung“, und alle Kinder sind eigenmotiviert, weltoffen, phantasiebegabt etc. Pädagogisch wichtige Fragen aber bleiben ausgeblendet: Was tun, wenn ein Kind sich im Kreis zu bewegen scheint, wenn es nicht offen auf neue Erfahrungen zugeht, wenn es stereotyp wiederholt, was es kann? Welche aktiven Aufgaben hat die Frühpädagogin, um Selbstbildungsprozesse zu ermöglichen? Wenn die Bildungsinhalte beliebig erscheinen, was ist dann der „gemeinsame Gegenstand“ an dem „ALLE […] in Kooperation miteinander […] auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau […] in Orientierung auf die ‚nächste Zone ihrer Entwicklung‘ […] spielen, lernen […] und arbeiten“ können?40 Es gibt keine – den Standards der Schuldidaktik vergleichbare – Kindergartendidaktik: Alles geht – und damit geht häufig wenig; man folgt der Tradition der Einrichtung (und den Versprechungen kommerzieller Anbieter) oder dem, was die Situation des Tages mit sich bringt. Inklusive Frühpädagogik kann für die Kindergartenpädagogik insgesamt Herausforderung und Chance sein, verbindliche Standards einer Kindergartendidaktik zu entwickeln. Dabei kann sie auf reformpädagogische Konzepte der Montessori-, Waldorf- und Reggiopädagogik zurückgreifen. Professionelle Ebene: Mit der Anerkennung behinderter Kinder sind zusätzliche personelle Ressourcen verbunden, sodass (leider nur zum Teil) hochschulisch ausgebildete Fachkräfte in den Kindergarten kommen. Ihre Rolle ist zu klären: Immer noch werden sie zum Teil als diejenigen verstanden, die sich exklusiv um die behinderten Kinder zu kümmern hätten, vielleicht noch häufiger sehen sie selbst in exklusiver Förderung einzelner Kinder ihre Kompetenz. Inklusive Frühpädagogik kann so zuerst einmal bedeuten, den Anspruch auf 39 40

Ausführlicher hierzu vgl. Hebenstreit, Bildungs- und Erziehungspläne. Feuser, Thesen, 1f.

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das multiprofessionelle Erwachsenenteam zu beziehen. Über den internen Kreis hinaus sind die Kooperationen mit dem Umfeld wichtig. Bezüglich der behinderten Kinder kommen hier eine Reihe spezieller Dienste und Fachkräfte aus unterschiedlichen Professionen hinzu. Besondere Bedeutung haben dabei die Frühförderstellen, insbesondere die Interdisziplinären Frühförderstellen. Behinderte Kinder haben – neben dem Besuch des Kindergartens – ein Recht auf heilpädagogische Frühförderung, für die der örtliche Träger der Sozialhilfe zuständig ist (auch wenn es Kommunen gibt, die dieses Recht für Kinder in inklusiven Kindergärten einschränken wollen). Gerade unter der Perspektive „Inklusion“ ist es nicht die Aufgabe des Kindergartens und der Frühpädagog_innen, heilpädagogische Frühförderung mit seinem spezifischen Setting und seiner besonderen Aufgabenstellung zu betreiben. Sehr wichtig aber sind Kooperationen zwischen beiden Einrichtungen. Dabei können die Frühförderstellen sich zu Beratungs- und Entwicklungszentren für inklusive Frühpädagogik weiterentwickeln, wenngleich unterschiedliche Trägerschaften, rechtliche Rahmenbedingungen und administrative Zuordnungen dies nicht einfach machen. Inklusive Frühpädagogik ist kein glattes Programm, sondern bedarf der ständigen Auseinandersetzung mit grundsätzlichen Haltungen einerseits und der alltäglichen Kleinarbeit andererseits. Kron hat eine Reihe von Dilemmata benannt, auf die inklusive Frühpädagogik stößt, die es wahrzunehmen gilt und mit denen umzugehen ist – nicht in der Erwartung einfacher Lösungen.41 Auf einige solcher Widersprüche wurde auch hier schon hingewiesen: Stigmatisierung und Ressourcenerschließung; einheitliches, verbindliches Curriculum und Individualisierung, um allen Lernwegen Rechnung zu tragen; institutionelle Integration und interne Ausgrenzung. Kron stellt darüber hinaus die Frage nach dem „Verhältnis von Inklusion und Kompensation […]: Wird unter dem Gedanken der Inklusion die Frage kompensatorischer Erziehung vernachlässigt? Werden benachteiligte Kinder nur respektiert oder gibt es auch Versuche, Bildungs- und Erziehungsbenachteiligungen abzumildern oder auszugleichen?“42

Mit der idealistischen Wertschätzung von Heterogenität darf der realistische und kritische Blick auf deprivierende Lebensbedingungen, die Kinder behindern, nicht verloren gehen. Inklusive Frühpädagogik 41 42

Vgl. Kron, Heterogenität. Kron, Heterogenität, 4.

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hat auch die Aufgabe, hier Ausgleiche zu schaffen und auf Veränderungen zu drängen. 3

Schritte: Praxisbericht Kindertagesstätte „Rosengarten“

Wir haben versucht, die aktuelle Situation inklusiver Frühpädagogik darzustellen und notwendige Zielpunkte anzuführen. Im dritten Teil geht es um ein konkretes Praxisbeispiel, das zeigt, welche konkreten Wege gegangen werden können, um der Perspektive inklusiver Frühpädagogik näher zu kommen. Als Beispiel wird hier der Kindergarten „Rosengarten“ vorgestellt. In dessen Konzept wird der Inklusion ein herausgehobener Stellenwert zugeordnet: „In unseren Gruppen begegnen sich Kinder mit sehr unterschiedlichem Entwicklungsstand, Fähig- und Fertigkeiten. Kinder lernen, dass es normal ist, verschieden zu sein. In der gemeinsamen Erziehung geht es nicht darum, durch gezielte Förderung eine eher einseitige Anpassung des behinderten Kindes an das bestehende System zu erreichen. […] Das Maß unserer Arbeit ist nicht das stärkste und nicht das schwächste Kind – das Maß ist jedes einzelne Kind.“43

Die Kindertagesstätte „Rosengarten“ wurde im Jahr 2004 als zweigruppige Einrichtung vom Landschaftsverband mit einer sog. Regelgruppe und einer heilpädagogischen Gruppe genehmigt. Träger ist der Christliche Kindergartenverein Wassenberg e.V., eine Elterninitiative, die dem Diakonischen Werk als Spitzenverband angehört. Der Träger legte von Anfang an großen Wert darauf, die Kinder mit und ohne Behinderungen gemeinsam in zwei Gruppen zu fördern und zu betreuen. Es wurde ein inklusiver Bildungsort geschaffen. Die Einrichtung pflegt eine entsprechende Willkommenskultur, die die Beheimatung aller (!) Kinder in heterogenen Gruppen zum Ziel hat.44 Das alltagsbezogene Lernen ist darauf abgestimmt, dass jedes Kind seinem Entwicklungsstand entsprechend teilhaben kann und gefördert wird. In diesem Zusammenhang wird auch die Qualität der Einrichtung kontinuierlich weiterentwickelt. Der „Rosengarten“ ist mit dem „BETA-Gütesiegel“ zertifiziert.45 Dazu wurde ein QM46-Handbuch erarbeitet, das auch die inklusive Qualität der Arbeit beschreibt.

43

Christlicher Kindergartenverein Wassenberg, Kindertagesstätte Rosengarten, 13. Vgl. Jerg, Kindertageseinrichtungen. 45 Vgl. Diakonisches Institut, BETA-Bundesrahmenhandbuch. 46 QM = Qualitätsmanagement. 44

192 3.1

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Rahmenbedingungen

Die pädagogische Qualifikation und Fortbildung der Mitarbeitenden wird vom Träger gefördert. Im Team arbeiten staatlich anerkannte Erzieherinnen, Sozialpädagoginnen, Heilpädagoginnen, eine Logopädin und eine Physiotherapeutin. Die Gruppenleitungen haben eine Ausbildung zur Heilpädagogin, die Zweitkräfte eine entsprechende Zusatzqualifikation, ferner gibt es regelmäßig Praktikant_innen und bei Bedarf Integrationshelfer_innen. Es gehört zum Normalisierungsprinzip der Einrichtung, dass im hauswirtschaftlichen Bereich zwei Erwachsene mit psychischen Behinderungen beschäftigt sind. Durch das multiprofessionelle Team hat der „Rosengarten“ gute Rahmenbedingungen für seine Arbeit.47 Das gilt auch für die Räumlichkeiten, die durch Spielinseln und Gruppennebenräume in jeder notwendigen Weise Differenzierungen zulassen. Kinder können verschiedenen Aktivitäten nachgehen, ohne sich gegenseitig zu stören. Die Kinder, die im „Rosengarten“ Bildung, Betreuung und Erziehung erfahren, kommen zum größten Teil aus der direkten Umgebung, Kinder mit Behinderungen auch aus umliegenden Ortschaften. Sie werden teilweise von ihren Eltern gebracht und können vom Landschaftsverband Fahrgeld beantragen, oder sie bekommen mit besonderer Begründung einen Fahrdienst bewilligt. Das Lern- und Spielarrangement ist so ausgerichtet, dass in der Regel 16 Kinder im Alter zwischen zwei und sechs Jahren zu einer Gruppe gehören. Vier Kinder dieser Gruppe haben einen festgestellten besonderen Förderbedarf. Es werden Kinder mit sehr unterschiedlichen Beeinträchtigungen aufgenommen. Die Unterstützungsanforderungen beziehen sich auf Lern- und Sprachbehinderungen, körperliche und geistige Einschränkungen, Verhaltensauffälligkeiten und schwere Mehrfachbehinderungen mit entsprechendem Pflegebedarf. Bei aller Unterschiedlichkeit kennen die Kinder im Miteinander der Gruppe keine Differenzierung zwischen behindert und nicht behindert. Jedes Kind gehört dazu. Auch die Altersmischung trägt dazu bei, dass die unterschiedlichen Entwicklungsstände und Ressourcen aus der Kindperspektive eine untergeordnete Rolle spielen. Eltern sind Expertinnen und Experten ihres Kindes. Deshalb kann Elementarbildung nur in Erziehungspartnerschaft zwischen der Einrichtung und den Eltern gelingen. Der „Rosengarten“ legt großen Wert auf Elternbeteiligung. Sie ist schon in der Trägerkonstruktion angelegt.

47

Vgl. Bundesverband evangelischer Tageseinrichtungen, Gemeinsam aufwachsen.

Inklusive Frühpädagogik

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„Familie ist die erste und wichtigste inklusive Institution.“48 Eltern haben also bei der Anmeldung in der Kita schon Inklusionserfahrung. In Familien kann behinderten Kindern Unterstützung und Geborgenheit geschenkt werden. Hier können Kinder ihre Möglichkeiten und Grenzen erproben. Das ist eine große Herausforderung für Eltern und Geschwister. Wenn das behinderte Kind dann in einer Kita angemeldet wird, hat die Familie schon eine ermutigende oder belastende Inklusionsgeschichte hinter sich. In der Regel suchen Eltern in der Kita offene Ohren für ihre Sorgen, zuweilen Beistand, auch einen Ort, wo sie ihre Wut und Verzweiflung loslassen können. Das fordert die seelsorgliche Kompetenz der Mitarbeitenden oftmals heraus. Wichtig ist für das Team, den Eltern das „Rosengarten“-Konzept mit seinen differenzierten Angeboten nahezubringen. Jedes (!) Kind hat einen spezifischen Förderbedarf und muss am Bildungsgeschehen entsprechend teilhaben können. Darauf ist die gesamte Arbeit ausgerichtet. Alle Kinder werden nach der Aufnahme von den Erzieherinnen zu Hause besucht, um die Kinder besser auch in ihrem Umfeld kennenzulernen und Eigenschaften, besondere Bedürfnisse und medizinische Fragen zu klären. Regelmäßig werden Eltern auf ihre unterschiedlichen Mitwirkungsmöglichkeiten hingewiesen, die viele gerne wahrnehmen. Diese bestehen nicht nur in den Beratungs- und Entwicklungsgesprächen mit dem pädagogischen und therapeutischen Personal, sondern auch bei Kita-Veranstaltungen, Elternabenden, dem Elternbeirat und Vorstand. Zu Beginn eines jeden neuen Kindergartenjahres können die Eltern sich in Mithelfer-Listen eintragen, mit welchen Kompetenzen sie sich im Kindergartenalltag einbringen möchten. Es ist von großer Bedeutung, dass durch die Elternarbeit der inklusiven Kita auch Freundschaften und Unterstützungsnetzwerke entstehen können, die Eltern behinderter Kinder außerhalb ihres Milieus neue Perspektiven ermöglichen. 3.2

Der Alltag

Es ist noch früh am Morgen im „Rosengarten“. In der Eingangshalle ist es angenehm warm, leise Musik erfüllt den Raum, und es riecht nach frisch gebackenen Brötchen. Vor der großen Info-Tafel befindet sich eine Elternecke, in der zwei Mütter, die ihre Kinder zur Kita gebracht haben, noch ein wenig verweilen und sich austauschen. Tina49 und Sarah, deren Kindergartentag schon früh beginnt, bringen die selbst gebackenen Brötchen in die Gruppenräume. Dort hat be48 49

EKD, Es ist normal, verschieden zu sein, 86. Alle Namen sind geändert.

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reits eine Erzieherin begonnen, den Frühstückstisch zu decken. Eine kleine Blumenvase und hübsche Servietten zieren den runden Tisch, der für sechs Kinder gedeckt ist. Auf Esskultur wird hier Wert gelegt. Tim hat eine Entwicklungsverzögerung. Er ist feinmotorisch geschickt und hilft gern mit, indem er Obst- und Gemüsestücke schneidet. Eine Erzieherin deckt den Tisch. Paula ist im letzten Kita-Jahr. Sie stellt Glaskannen mit Mineralwasser, Milch und Tee dazu. Nun ist alles vorbereitet. Das Frühstück selbst zuzubereiten ist im Konzept des „Rosengartens“ verankert. So ist eine gesunde Ernährung gewährleistet und lebenspraktische Übungen sind mit inbegriffen. Der Frühstückstisch ist von 7:30 Uhr bis 10:15 Uhr gedeckt, die Kinder entscheiden selbst, wann sie frühstücken und mit wem. Inzwischen treffen immer mehr Kinder ein. Jedes Kind wird von seiner Begleitperson in den Gruppenraum gebracht, die Erzieherinnen begrüßen jedes eintreffende Kind. Pünktlich um 8:30 Uhr hält ein Taxi vor der Kita. Mia wird gebracht. Sie hat schwere körperliche und geistige Einschränkungen und hat vom Landschaftsverband den Fahrdienst für ihren Spezialrollstuhl genehmigt bekommen. Das erfordert leider ein aufwändiges Antragsverfahren, bei dem die Kita die Eltern fachlich berät. Mia erhält beim Frühstück Unterstützung von einer Therapeutin, die mit ihr regelmäßig eine Esstherapie durchführt. Die Physiotherapeutin ist wie die Logopädin fest angestelltes Mitglied des Teams. So ist es beiden möglich, neben Einzel- und Kleingruppentherapien in ihren Behandlungsräumen auch Therapie im Gruppenraum durchzuführen. Die therapeutische Unterstützung kann sich nach der aktuellen Befindlichkeit und den konkreten Bedürfnissen der Kinder richten. Die enge Zusammenarbeit zwischen sozialpädagogischen und therapeutischen Fachkräften hat sich sehr bewährt. Kleine Kinder unterscheiden nicht zwischen den Professionen. Ihnen ist nur wichtig, dass sie die Mitarbeitenden kennen. Leider wird im Bereich des Landschaftsverbandes Rheinland geplant, die therapeutischen Fachkräfte nicht mehr durch die Kita-Träger anzustellen, sondern die Therapie krankenkassenfinanziert über freie Praxen sicherzustellen. Das wäre ein großer Rückschritt der inklusiven Qualität. Während einige Kinder frühstücken, findet im Gruppenraum freies Spiel statt. Die Kinder entscheiden selbst, was und mit wem sie spielen möchten. Gegen 9:15 Uhr versammeln sich alle Kinder und Erzieherinnen zu einem Morgenkreis. Der Tag wird besprochen. Einige Kinder beschließen, sich mit Puzzlespielen zu beschäftigen. Im Kreativraum wird an einer Collage weitergearbeitet. Das derzeitige Gesamtprojekt ist „Die Schöpfung“. Heute soll eine Gemeinschaftsarbeit entstehen: Einige Kinder falten aus Papier bunte Pflanzen, die später aufgeklebt werden, ein Kind mit einer Hemiplegie streicht mit

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Hilfe der Heilpädagogin Farbe als Hintergrund auf eine Pappe. Das Eintauchen der Hand in Farbe entkrampft die Finger und fühlt sich offensichtlich angenehm an. Tina möchte heute nur beobachten. Sie sitzt aufmerksam am Basteltisch. Wieder andere Kinder sägen einen Holzrahmen für das Bild zurecht. Mia liegt auf besondere Kissen und Keile gebettet in der Ruheecke und schaut sich große Blumenbilder an, die ihr kleiner Freund Max zeigt. Jedes Kind kann teilnehmen, jedes auf seine Weise, manchmal mit therapeutischer oder technischer Hilfe. Zu diesem Zweck gibt es im „Rosengarten“ viele Hilfsmittel: Sprechwürfel und Symbolkarten, Orthesen, Stehtrainer, Verdickungen an den Griffen von Bestecken, Stiften und Pinseln, Mikrofone mit Verbindung zu Hörgeräten, Spezialstühle etc. Im Außenbereich der Einrichtung, der rollstuhlgerecht ist, befinden sich Spezialdreiräder u.a.m. Mit allen Sinnen können die Kinder beobachten, ausprobieren, experimentieren, erkunden und entdecken. Sie haben vielfältige Möglichkeiten, ihre Persönlichkeit zu entfalten und auf spielerische Weise wichtige Kompetenzen wie Selbständigkeit, Sozialverhalten und Kreativität zu erlangen. Der „Rosengarten“ verfügt über ein großes Außengelände mit einem Klettergerüst, einem Hochbeet, das auch körperbehinderten Kindern die Mitarbeit ermöglicht, einer Taststraße und einem Sandkasten mit Sprudelstein, der sich in eine Schlammkuhle verwandeln lässt. Die Kinder toben über die Wiese, sammeln mit vollen Armen das Herbstlaub und schichten es zu einem großen Blätterhaufen auf. Die Erzieherin legt Mia behutsam in die Blätter, die Kinder bringen immer mehr Blätter. Mia lacht ausgelassen. Am späten Vormittag sitzen alle Kinder im Kreis. Angeboten werden z.B. Singkreis, Spielekreis, Kinderkonferenz, Themenkreise, Gesprächskreis. Jedes Kind kann sich beteiligen, an Abstimmungen teilnehmen, Ideen einbringen, Lernwünsche äußern, Interesse bekunden, Abneigung zeigen. Je nach Behinderung auch durch Mimik, Gestik, Gebärden und Symbolkarten. Es ist Mittagessenszeit. Das Mittagessen wird täglich frisch gekocht. Die Kinder essen in ihren jeweiligen Gruppenräumen an mehreren Tischen. An jedem Tisch sitzt eine Betreuungsperson, die die Kinder unterstützt und begleitet. Nach dem Mittagessen folgt eine Zeit der Entspannung. Einige Kinder schlafen, andere beschäftigen sich mit Spielen. In einer Gruppe findet an diesem Nachmittag das interdisziplinäre Teamgespräch statt. Erzieherinnen und Therapeutinnen besprechen gemeinsam die Entwicklung der Kinder und ihre weitere Förderung. Die Kinder sind an diesem Nachmittag Gast in der evangelischen Kirchengemeinde. Der Seniorenkreis hat eingeladen, und die Kinder haben einen kleinen Tanz eingeübt. Alexa, ein kleines Mädchen mit

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geistiger Behinderung und heftigen Verhaltensauffälligkeiten, ist auch dabei. Die Erzieherinnen haben vorher diskutiert, ob Alexa teilnehmen soll. Es kann zu anstrengend für sie sein und dann zu plötzlichen heftigen emotionalen Ausbrüchen führen. Aber man hat sich geeinigt, sie mit ihrer Integrationshelferin mitzunehmen. Nach der herzlichen Begrüßung im Seniorenkreis stellen sich die Kinder mit einer Erzieherin zum Tanz auf. Die Kinder beginnen mit ihrer kleinen Vorführung. Als Alexa die Musik hört, löst sie sich von der Gruppe, bewegt sich in der ihr eigenen Art nach der Musik, hopst an den langen Tischreihen entlang, wirft ihre Arme in die Luft und tanzt selbstvergessen. Längst ist die Musik vorbei, die Kinder der Gruppe stehen vor dem Publikum, alle schauen Alexa zu. Da beginnen die Senioren zu klatschen, auch Alexa bleibt stehen und verbeugt sich. Alle Kinder sind stolz und fröhlich, am glücklichsten ist Alexa. Um 16:30 Uhr endet der Kita-Tag. Eltern holen ihre Kinder ab und nutzen diese Phase oft für informelle Gespräche mit den Mitarbeitenden. Oft haben sich Kinder schon verabredet, um auch danach noch miteinander zu spielen und sich zu besuchen. Zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen wird dabei nicht unterschieden. Das inklusive Klima ist deutlich spürbar. Auch unter den Eltern. Durch die intensive Beteiligung an der Kita-Arbeit haben sich bisweilen tragfähige Unterstützungssysteme entwickelt. 4

Inklusive Impulse in evangelischen Stellungnahmen

Die Kindertagesstätte „Rosengarten“, die in unserem Beitrag unter Inklusionsgesichtspunkten als praktisches Beispiel dient, steht im Zusammenhang christlicher Werteüberzeugungen und ist dem Diakonischen Werk angeschlossen. Insgesamt besuchen in Deutschland ca. 40 Prozent der überdreijährigen Kinder einen kirchlich getragenen Kindergarten. Konfessionelle Kindertageseinrichtungen haben mithin einen erheblichen Anteil an den frühkindlichen Bildungsangeboten. Abschließend soll gefragt werden, wie das Thema „Inklusion“ in kirchlichen, d.h. evangelischen Zusammenhängen zur Geltung gebracht worden ist und welche Impulse daraus erwachsen. Obwohl schon seit Mitte der 1980er Jahre in vielen evangelischen Kindertageseinrichtungen die gemeinsame Erziehung, Bildung und Betreuung für Kinder mit und ohne Behinderungen umgesetzt worden ist, fand das Thema nur spät Eingang in Stellungnahmen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu Bildungsfragen. Die Denkschrift „Maße des Menschlichen“ (2003) stellt das Thema Inklusion in den Zusammenhang sozialen Lernens, in eine „Kultur des

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Mitgefühls, der Barmherzigkeit und der Hilfsbereitschaft“.50 Zugleich wird betont, dass das Bildungssystem sich didaktisch im Umgang mit Vielfalt bewähren muss.51 Und die Erklärung des Rates der EKD zum Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen, „Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet“, aus dem Jahre 2004 bemerkt im Hinblick auf die Zukunftsperspektiven der Elementarbildung: „Zum evangelischen Selbstverständnis gehört ferner, Kinder mit Behinderungen in den Alltag der Kindertagesstätte zu integrieren.“52 Der späte Zeitpunkt der bildungspolitischen Stellungnahmen überrascht, zumal sich schon lange vorher inklusive bzw. integrative Konzepte zu einem Markenzeichen evangelischer Elementarbildung entwickelt hatten. Offenbar wurde der inklusive Paradigmenwechsel eher als diakonische Herausforderung begriffen53 und nicht als Bildungsthema. Mit der Ratifizierung der UN BRK im Jahre 2009 hat sich die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, das Bildungssystem grundsätzlich inklusiv umzugestalten. Auch im evangelischen Bereich bedurfte es des Impulses der UN BRK, um die Verpflichtung zu inklusiver Bildung neu in den Fokus des Interesses zu rücken. So konstatiert die EKD-Synode 2010 in ihrer Kundgebung zur Bildungsgerechtigkeit: „Noch immer herrscht in den Bildungseinrichtungen eine exklusive statt inklusive Bildung und Erziehung vor, welche die staatliche Verpflichtung im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht hinreichend berücksichtigt.“54

Zugleich beauftragte die Synode den Rat der EKD, eine Arbeitsgruppe ins Leben zu rufen, die das „Menschenrecht auf Inklusion“ theologisch bearbeitet und mit seinen praktischen Konsequenzen bedenkt. Inzwischen konnte man auch auf Vorarbeiten zu einer evangelischen Bildungsberichterstattung55 zurückgreifen. Dabei soll für Kinder in Tageseinrichtungen erfasst werden, ob sie Eingliederungshilfe aufgrund eines nachgewiesenen erhöhten Förderbedarfs erhalten. Es wird differenziert abgefragt, ob es sich um eine Maßnahme nach den §§ 53 und 54 SGB XII (körperliche oder geistige Behinderung) oder eine Maßnahme nach § 35a (seelische Behinderung) handelt. Der 50

EKD, Evangelische Perspektiven, 63. EKD, Evangelische Perspektiven, 94. 52 Evangelische Kindertageseinrichtungen, 78. 53 Vgl. EKD, Herz und Mund und Tat und Leben, 28ff. 54 EKD, Bildungsgerechtigkeit, auch die EKD-Orientierungshilfe „Kirche und Bildung“ aus dem Jahre 2009 stellt das gemeinsame Lernen von Kindern mit und ohne Behinderungen in den Horizont der Bildungsgerechtigkeit. 55 Vgl. Elsenbast u.a., Evangelische Bildungsberichtserstattung. 51

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evangelische Bildungsbericht 201256 legte dann erstmals belastbare Zahlen vor. Die evangelischen Einrichtungen weisen danach bei der Förderung von Kindern mit besonderem Förderbedarf aufgrund einer Behinderung mit 18 Prozent aller integrativ betreuten Kinder den zweitgrößten Anteil bei den nichtstaatlichen Trägern auf. Zwischen 2006 und 2010 ist der Anteil der Gruppen, in denen ein Eingliederungshilfegefühl gewährt wird, um 42 Prozent gestiegen. Behinderte Kinder werden zu 91 Prozent integrativ und zu 9 Prozent in Sondereinrichtungen betreut. Erst die 2014 veröffentlichte Orientierungshilfe „Es ist normal, verschieden zu sein“57 bedenkt konsequent den inklusiven Paradigmenwechsel unter dem Gesichtspunkt einer menschenrechtlichen Leitnorm. Neben theologischen Erwägungen bearbeitet der EKD-Text die unterschiedlichen Handlungsfelder und begreift Inklusion als Chance für Kirche und Gemeinde. Ein Kapitel befasst sich dezidiert mit dem Thema Erziehung und Bildung. Evangelische Kindertageseinrichtungen werden in diesem Zusammenhang als Motor inklusiver Entwicklung wahrgenommen. Unter dem Gesichtspunkt des Normalisierungsprinzips sind in vielen Gemeinden inklusive Regeleinrichtungen entstanden, die sich am Ziel gemeinsamer Bildung, Erziehung und Betreuung orientieren. Allerdings sind die institutionellen Rahmenbedingungen in den Bundesländern höchst unterschiedlich. „Gefordert ist eine pädagogische Konzeption, die ein Höchstmaß an Gemeinsamkeit und Individualität bietet. Eine wichtige Voraussetzung für inklusive Elementarpädagogik ist die Zusammenarbeit in einem interdisziplinären Team, das alle didaktischen, methodischen und therapeutischen Aspekte einbezieht. Inklusion ist kein statischer oder messbarer Zustand, der irgendwann erreicht ist, sondern ein dynamischer Prozess der täglich neu gelebt wird.“58 Stärker praxisorientiert sind Stellungnahmen aus der Evangelischen Kirche im Rheinland. Die Orientierungshilfe „Da kann ja jede(r) kommen“59 hat auch in anderen Landeskirchen Beachtung gefunden, weil sie einen inklusiven Qualitätsrahmen bietet, der wesentliche Impulse zum Gemeindeaufbau liefert. Der Rheinische Verband Evangelischer Kindertageseinrichtungen setzt diese Erkenntnisse mit „Hoffnung leben“60 in Anstöße zur Qualitätsentwicklung im Elementarbereich um.

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Vgl. Elsenbast u.a., Bildungsbericht 2012, 28. Vgl. EKD, Es ist normal, verschieden zu sein. 58 EKD, Es ist normal, verschieden zu sein, 100. 59 Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland, Inklusion. 60 Vgl. Rheinischer Verband, Qualitätsentwicklung. 57

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Ausführlich geht die Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder (BETA) auf die Herausforderungen inklusiver Pädagogik ein. In ihrem Positionspapier „Gemeinsam aufwachsen in evangelischen Kindertageseinrichtungen“61 werden ein christliches Grundverständnis inklusiver Pädagogik und Gelingensbedingungen gemeinsamen Lernens beschrieben. Das Positionspapier nennt elementare Kriterien für eine gemeinsame Erziehung, Bildung und Betreuung. Damit werden Eltern, Mitarbeitende, Träger, regionale Netzwerke und der Gesetzgeber gleichermaßen an ihre Verantwortung erinnert, eine Pädagogik der Vielfalt zu ermöglichen: „Für die Kindertageseinrichtungen bedeutet es, dass alle Kinder willkommen sind. Für die Fachkräfte bedeutet es, dass sie ihr professionelles Handeln reflektieren und kontinuierlich weiterbilden können und dabei durch Fachberatung unterstützt werden. Für die Eltern bedeutet es, dass sie in der Erziehungspartnerschaft mit den Fachkräften in ihrer Verantwortung für ihre Kinder unterstützt und gestärkt werden. Für die Träger bedeutet es, dass sie verlässliche Rahmenbedingungen und Finanzierungsmodalitäten als Rechtssicherheit vorfinden. Für die Politik bedeutet es, dass die UN-Kinderrechtskonvention und die UN-Behindertenrechtskonvention von Bund, Ländern und Kommunen verantwortlich umgesetzt werden und die Zusammenführung von Leistungen unter dem Dach der Kinder- und Jugendhilfe erreicht wird.“62

Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung, Bildung in Deutschland 2014 – Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zur Bildung von Menschen mit Behinderungen, Bielefeld 2014. Bock-Famulla, Kathrin/Lange, Jens/Strunz, Eva, Länderreport Frühkindliche Bildungssysteme 2015, Gütersloh 2015. Bundesrepublik Deutschland, Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen; vom 19.06.2001 zuletzt geändert durch Verordnung vom 31.08.2015 (SGB IX), online: http://dejure.org/gesetze/SGB_IX, Zugriff am 03.01.2016. Bundesrepublik Deutschland, Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe; vom 27.12.2003, zuletzt geändert durch Gesetz vom

61 62

Vgl. Bundesverband evangelischer Tageseinrichtungen, Gemeinsam aufwachsen. Bundesverband evangelischer Tageseinrichtungen, Gemeinsam aufwachsen, 55.

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21.12.2015 (SGB XII), online: http://dejure.org/gesetze/SGB_XII, Zugriff am 03.01.2016. Bundesrepublik Deutschland, Achtes Buch Sozialgesetzbuch – Kinder- und Jugendhilfegesetz – in der Fassung der Bekanntmachung vom 14.12.2006, zuletzt geändert durch Gesetz vom 28.10.2015 (SGB VIII), online: http://dejure.org/gesetze/SGB_VIII, Zugriff am 03.01.2016. Bundesrepublik Deutschland, Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK), online: http://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_ BGBl&start=//*%5b@attr_id=%2527bgbl208s1419.pdf%2527%5 d#__bgbl__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27bgbl208s1419.pdf %27%5D__1451723646791, Zugriff am 03.01.2016. Bundesverband evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder, Gemeinsam aufwachsen in evangelischen Kindertageseinrichtungen. Impulse für eine inklusive Pädagogik, Berlin 2012. Christlicher Kindergartenverein Wassenberg, Kindertagesstätte Rosengarten, unser Kindergarten stellt sich vor, online: http://www.kiga-rosengarten.de/pdf/Kiga_Konzept_2015.pdf, Zugriff am 03.01.2016. Deutsche UNESCO-Kommission, Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik, Bonn 2014. Diakonisches Institut für Qualitätsentwicklung im Diakonischen Werk der EKD, BETA-Bundesrahmenhandbuch, Berlin 2009. Elsenbast, Volker/Fischer, Dietlind/Schöll, Albrecht/Spenn, Matthias, Evangelische Bildungsberichterstattung. Studie zur Machbarkeit, Münster 2008. Elsenbast, Volker/Hallwirth, Uta/Pithan, Annebelle/Schöll, Albrecht/ Spenn, Matthias, Evangelischer Bildungsbericht 2012, Münster 2012. Evangelische Kirche im Rheinland, Da kann ja jede(r) kommen. Inklusion und kirchliche Praxis, Düsseldorf 2013. Evangelische Kirche in Deutschland, Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie, Gütersloh 1998. Evangelische Kirche in Deutschland, Maße des Menschlichen. Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft, Gütersloh 2003. Evangelische Kirche in Deutschland, Wo Glaube wächst und Leben sich entfaltet. Der Auftrag evangelischer Kindertageseinrichtungen, Gütersloh 2004.

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Dirk Nüsken/Hiltrud Wegehaupt-Schlund

2.2 Zur Reform der Erziehungshilfe oder: Der Inklusionsanspruch gilt allen Kindern und Jugendlichen

1

Einführung

Die Diskussion um die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK) wird in der Regel bezogen auf behinderte Kinder und Jugendliche geführt, weil diese Personengruppe im Titel enthalten ist und weil es offensichtlich naheliegt, beim Begriff „Inklusion“ sofort an behinderte Menschen zu denken. Diese können aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung häufig nicht am gesellschaftlichen Leben teilnehmen, etwa weil bauliche Vorrichtungen fehlen oder sie intellektuelle Anforderungen, die an sie gestellt werden, nicht erfüllen können. Grundsätzlich muss der Inklusionsbegriff aus unserer Sicht jedoch viel weiter gefasst werden, denn ausgehend von der UN-Menschenrechtskonvention sind alle Menschen gleich – und dies gilt auch mit Blick auf die UN BRK. Alle Menschen also, die in irgendeiner Form Ausgegrenzung erfahren – sei es aufgrund einer sichtbaren Behinderung, ihres sozialen Status oder auch aufgrund von Lern- und psychischen Behinderungen –, haben das Recht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Konsequenterweise greifen wir hier am Beispiel der Hilfen zur Erziehung eine notwendige Auseinandersetzung auf, um den Blick auf die Inklusion innerhalb der Kinder- und Jugendhilfe zu richten – hier besonders auf Kinder, Jugendliche sowie Eltern, die ambulant oder (teil-)stationär von Erziehungshilfeangeboten begleitet und betreut werden. Dazu stellen wir eingangs einige visionäre Thesen für eine inklusive Erziehungshilfe der Zukunft auf, die offensiv neue Strukturen und Konzepte umsetzt, damit Erziehungshilfe nicht länger auch Ausgrenzung und Exklusion bedeutet. In einem zweiten Schritt wird eine realistische Erhebung des derzeitigen Sachstandes bezogen auf konzeptionelle und rechtliche Rahmenbedingungen vorgenommen. Dies geschieht vor dem Hintergrund

Zur Reform der Erziehungshilfe

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eines zukünftig inklusiven SGB VIII, wie es zurzeit politisch im Blickfeld ist. Daran anschließend werden erste Schritte auf dem Weg zu einer inklusiven Erziehungshilfe dargestellt. Den Abschluss bilden einige Praxisbeispiele, die bereits eine inklusiven Erziehungshilfe oder wesentliche Aspekte dieser umsetzen bzw. zumindest erkennen lassen. In die beiden letztgenannten, eher praxisbezogenen Kapitel fließen Diskussionen der Projektgruppe Inklusion des Evangelischen Fachverbandes für Erziehungshilfe RWL ein, die sich 2014/2015 für ein Jahr mit der Frage einer inklusiven Erziehungshilfe auseinandergesetzt hat. Daneben wird auf die Erfahrungen von zwei Studienreisen des Fachverbandes nach Kopenhagen und Oslo zurückgegriffen, die unter der Fragestellung standen „Wie geht Inklusion?“. In diesen beiden Ländern wird Inklusion schon länger rechtlich, politisch und fachlich umgesetzt und vor allem in der Praxis erkennbar gelebt. 2

Die Vision einer inklusiven Erziehungshilfe

In diesem Beitrag soll nicht in erster Linie auf die Inklusion bzw. Integration von behinderten Kindern und Jugendlichen in die Angebote der Erziehungshilfe eingegangen werden, wie sie von einigen Leistungsträgern nach SGB VIII bzw. SGB XII bereits praktiziert wird. Vielmehr soll der Frage nachgegangen werden, wie die stationären, teilstationären und ambulanten Angebote der Erziehungshilfe für junge Menschen konzipiert werden müssten, damit sie als inklusiv bezeichnet und erlebt werden. Häufig rechtfertigen Anbieter von Erziehungshilfen ihre exklusiven und z.T. sehr spezialisierten Leistungen wie etwa Intensivgruppen damit, dass diese die Integration in die Gesellschaft zum Ziel hätten: Exklusionsgestaltung verfolgt hier somit das Ziel der Inklusionsermöglichung. Eine solche Sichtweise verhindert jedoch den selbstkritischen Blick auf die eigene Haltung, die Konzepte und Strukturen der aktuellen Erziehungshilfeangebote sowie die Entwicklung einer Vision für eine inklusive Erziehungshilfe. Daneben vermuten zahlreiche Einrichtungsvertretungen hinter dem politischen Ziel einer inklusiven Hilfestruktur in erster Linie ein Sparkonzept. Sieht man die ersten Entwicklungen hin zu einem inklusiven Schulsystem, so erscheint diese Skepsis durchaus berechtigt. Wie könnte – trotz aller Vorbehalte – die Vision einer inklusiven Erziehungshilfe aussehen? Mit der Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) und mit der Auseinandersetzung um den 8. Kinder- und Jugendbericht (1990), der die Überschrift „Bestrebungen und Leistungen der Jugendhilfe“ trug, sah es Anfang der 1990er Jahre so aus, als würde es

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einen Paradigmenwechsel in der Erziehungshilfe in Richtung Sozialraumorientierung und damit weg von einer eher individuell ausgerichteten Spezialisierung und Therapeutisierung geben. Auch § 1 des SGB VIII greift diese Reformabsichten auf, sodass demnach jeder junge Mensch „ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit“ hat. Jugendhilfe soll zu diesem Zweck junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen. Mit dieser grundsätzlichen Ausrichtung des rechtlichen Rahmens der Kinder- und Jugendhilfe steht also nicht nur der junge Mensch mit seinen Schwierigkeiten und Problemen im Fokus der Hilfen, sondern stets gerät auch der Kontext – die Familie und die Umwelt, in der der junge Mensch lebt – mit in den Blick. Förderungsbedarfe und Entwicklungsmöglichkeiten sind somit nie losgelöst von der Lebenswelt und der gesellschaftlichen Wirklichkeiten der Adressat_innen zu betrachten. Wie weiter zu zeigen sein wird, kommt ein solches Paradigma einem hier vertretenen Konzept von „Inklusion“ bereits nahe. Allerdings hat sich eine grundsätzliche Umorientierung der Erziehungshilfe bezogen auf eine Verantwortung in den Sozialraum hinein nur punktuell vollzogen. Hier können beispielsweise die am Integra-Projekt der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) beteiligten Kommunen Celle und der Landkreis Tübingen genannt werden. Das von 1998 bis 2003 von der IGfH durchgeführte Bundesmodellprojekt zielte zunächst in fünf Regionen – den Städten Celle, Erfurt, Dresden, Frankfurt (Oder) und dem Landkreis Tübingen – auf den Aufbau und die Etablierung einer Infrastruktur für Erziehungshilfen, die integriert, flexibel und sozialräumlich orientiert angelegt ist. Weitere sozialraumorientierte Konzepte bezogen auf die ambulanten Dienste finden sich zum Beispiel in den Kommunen Bochum und Siegen. Solchen Beispielen entgegen steht jedoch eine seit einigen Jahren zu beobachtende Entwicklung hin zu mehr Spezialgruppen. Nach wie vor wird ferner eine Diskussion um Formen geschlossener Unterbringung als einer ganz besonderen Form der Exklusion geführt und der Bedarf der Erziehungshilfe an Zusammenarbeit mit Psychiatrie und Justiz ist gravierend. Infolgedessen werden für die „besonders schwierigen Kinder und Jugendlichen“ – und das sind nicht immer nur die Fälle nach § 35a SGB VIII – immer mehr spezialisierte Angebote geschaffen und gesucht. Vor diesem Hintergrund erscheint es uns notwendig, normative Orientierungen der UN BRK aufzuzeigen und diese gleichsam als „An-



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forderungskriterien“ für die hier zunächst visionäre Entwicklung einer inklusiven Erziehungshilfe aufzunehmen.

2.1

Welche normative Orientierung gibt die UN BRK auf dem Weg zu einer Vision einer inklusiven Erziehungshilfe?

Artikel 7 der UN BRK erkennt an, dass Kinder mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen Kindern alle Menschenrechte und Grundfreiheiten beanspruchen können. Dementsprechend basiert der Artikel 7 Absatz 1 UN BRK auf Artikel 2 Absatz 1 UN-Kinderrechtskonvention. Bereits durch die UN-Kinderrechtskonvention ist anerkannt, dass Kinder eines besonderen Schutzes bedürfen. Dies gilt in besonderer Weise für Kinder mit Behinderungen. Aus diesem Grund sieht Artikel 23 der UN-Kinderrechtskonvention einen eigenständigen Artikel für die Rechte von Kindern mit Behinderungen vor. Soweit die Besonderheiten in den beiden Konventionen für Kinder mit Behinderungen. Artikel 7 Absatz 2 UN BRK erhebt das Kindeswohl zum vorrangigen Kriterium für Maßnahmen, die alle Kinder betreffen. Diese Maßgabe wiederholt und bekräftigt die Regelung des Artikels 3 Absatz 1 UNKinderrechtskonvention. Zur Präzisierung der Sicherung des Kindeswohls ist 2005 § 8a SGB VIII „Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung“ eingefügt worden. Mit den hier in Artikel 4 geforderten Vereinbarungen werden das Jugendamt wie in entsprechender Maßgabe auch freie Träger der Kinder- und Jugendhilfe verpflichtet, eine Gefährdungsanalyse vorzunehmen sowie zur Abwendung der Gefährdung tätig zu werden. Die Erlaubnis für den Betrieb einer Einrichtung ist ferner seit 2012 durch § 45 SGB VIII an die Gewährleistung der Voraussetzungen für das Wohl von Kindern und Jugendlichen gebunden. Das Recht des Kindes auf Mitbestimmung aus der UN-Kinderrechtskonvention findet sich auch in der UN BRK wieder. Zu den allgemeinen Verpflichtungen der Vertragsstaaten gehört nach Artikel 4 Absatz 3, dass die Vertragsstaaten bei der Umsetzung der UN BRK enge Beteiligungen mit Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern mit Behinderungen, über die sie vertretenden Organisationen führen und sie aktiv mit einbeziehen. In den §§ 8 und 45 SGB VIII sowie in den Regelungen zur Hilfeplanung gem. § 36 SGB VIII werden entsprechende Beteiligungsrechte seitens der Kinder- und Jugendhilfe normiert, und in den einschlägigen Konzepten der Träger der Erziehungshilfe finden sich entsprechende konzeptionelle Zugänge, z.T. auch explizite Partizipationskonzepte und -methoden wieder. Ob und in wie weit diese Normierungen eine entsprechende Praxis prägen, bleibt freilich zunächst offen. Hingewiesen sei an dieser Stel-

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le aber darauf, dass es eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben der Erziehungshilfe ist bzw. bleibt, Rahmenbedingungen und eine alltägliche Praxis (weiter) zu entwickeln, die Partizipation (und Beschwerdemöglichkeiten) zu einem selbstverständlichen Qualitätselement der Erziehungshilfe machen. Dazu bedarf es nicht zuletzt entsprechender zeitlicher Strukturen und einer dies ermöglichenden Finanzierung der Leistungen. Wenn in Artikel 23 Absatz 3 der UN BRK die Rechte von Kindern mit Behinderungen in Bezug auf das Familienleben auf Kinder mit seelischen Behinderungen bzw. mit Verhaltensauffälligkeiten übertragen werden, so bedeutet dies, dass die Vertragsstaaten unter anderem frühzeitig Informationen, Dienste und Unterstützung zur Verfügung stellen müssen, um zu vermeiden, dass Kinder vernachlässigt oder abgesondert werden. Für die Praxis der Erziehungshilfe heißt das, dass die Jugendämter Eltern noch besser informieren und Maßnahmen wie die Unterbringung in einer Wohngruppe für Kinder mit psychischen und sozialen Problemen so niedrigschwellig wie möglich gestaltet werden müssen. Weiterhin verbietet Artikel 23 Absatz 4 der UN BRK, dass eine Behinderung des Kindes oder der Eltern Grund für eine Trennung des Kindes von seinen Eltern ist, sofern sie nicht auf einer nachprüfbaren gerichtlichen Entscheidung der zuständigen Behörden zum Wohle des Kindes beruht. Auf die Erziehungshilfe übertragen bedeutet dies, dass eine Behinderung eines Kindes oder der Eltern bzw. eines Elternteils nicht (allein) ausreicht, um eine Aufnahme in einer stationären Einrichtung vorzusehen, selbst dann nicht, wenn die Eltern eine entsprechende Hilfe beantragen. Stets müsste eine gerichtliche Entscheidung mit Blick auf das Wohl des Kindes erfolgen. Ob dies gleichsam die Überprüfung einer Kindeswohlgefährdung gem. § 1666 BGB und § 8a SGB VIII bedeutet oder ob hier andere, der Bestimmung des Lebensmittelpunktes eines Kindes (mit Behinderung) angemessenere Kriterien zu entwickeln sind, ist der UN BRK nicht zu entnehmen. Absatz 5 des Artikels 23 UN BRK enthält den Grundsatz der weitest gehenden familiären bzw., wenn dies nicht möglich ist, der familienähnlichen Betreuung. Sofern nahe Familienangehörige nicht für das Kind sorgen können, soll mit allen Anstrengungen die Betreuung innerhalb der weiteren Familie gesichert werden. „Wenn das nicht möglich ist, soll die Betreuung innerhalb der Gemeinschaft in einem ,familienähnlichen Umfeld‘ gewährleistet werden.“1 Es ist davon auszugehen, dass mit dem Begriff „familienähnliches Umfeld“ auch die Unterbringung in Pflegefamilien bzw. sozialpädagogischen Pflegefamilien gemeint ist – im Gegensatz zu einer institu1

Praetor Intermedia UG, UN-Behindertenrechtskonvention.

Zur Reform der Erziehungshilfe

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tionellen Erziehung in Wohngruppen. Auch in diesem Zusammenhang fällt auf, dass etwa in Dänemark und Norwegen und damit in Staaten, die bereits länger eine inklusiven Jugendhilfe umsetzen, nur vergleichsweise wenige Heimgruppen, dafür aber mehr Pflegefamilien existieren, die von Fachkräften geführt bzw. professionell begleitet werden. Die hier aufgeführten und in den Rahmen der deutschen Erziehungshilfe gesetzten Grundsätze des Artikel 23 UN BRK führen hinsichtlich der Betreuung und Begleitung von Kindern und Eltern mit sozialen und familiären Problemen zu der visionären These: 2.2

Es ist normal, zwei Zuhause zu haben

Stationäre Erziehungshilfen wären sodann nicht mehr länger ein diskriminierender Lebensort. Gesellschaftlich und fachlich wäre es nunmehr akzeptiert, dass es familiäre Lebensumstände gibt, in denen es für Kinder angemessen und gut ist, an zwei Lebensorten zu leben, ähnlich wie das Kinder von geschiedenen Eltern auch oftmals praktizieren. Eine Betreuung etwa in einer Wohngruppe erfolgte hier im gleichen Stadtteil, in dem das Kind zuhause ist (und damit zuhause bleibt). Dem Kind/Jugendlichen wäre es aufgrund der kurzen Wege möglich, zwischen den beiden für ihn relevanten Lebensorten – ein entsprechendes Lebensalter vorausgesetzt – selbständig, in jedem Fall aber weitestgehend selbstbestimmt zu pendeln. Es fände räumlich kein Milieuwechsel statt, die Unterbringung in einer Wohngruppe bedeutete für das Kind/den Jugendlichen eben keine einschneidende Maßnahme in seiner Biographie, da der Stadtteil, die Schule, die Peergruppe weiterhin vorhanden und erreichbar wären und blieben. Damit wäre die Betreuung „innerhalb der Gemeinschaft in einem familienähnlichen Umfeld gewährleistet“ (UN-BRK Artikel 23 Absatz 5) – bei gleichzeitig ggf. notwendiger Beachtung einer möglichen Kindeswohlgefährdung. Die Unterbringung in einer solchen milieunahen Wohngruppe wäre sowohl für die jungen Menschen als auch für die Eltern und die gesamte Familie somit keine diskriminierende Maßnahme (mehr). Die Eltern fühlten sich nicht als Versager, weil ihr Kind nicht mehr bei ihnen leben kann. Für sie wäre es akzeptabel, dass das Kind zwischen zwei Orten pendelt. Sie fühlten sich als Eltern weiterhin wertgeschätzt, da ihre Anwesenheit und ihre Mitarbeit in der Wohngruppe erwünscht wäre, soweit sie dem Kindeswohl entsprechen. Ähnliche räumliche und konzeptionelle Rahmenbedingungen müssten auch bei einer Unterbringung von Familiensystemen gewährleistet sein. Zur Umsetzung des § 1 KJHG Absatz 3, Satz 4 und der Notwendigkeit, zum Wohl der jungen Menschen und ihrer Familien eine kinder-

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und familienfreundliche Umwelt zu erhalten und zu schaffen und damit auch Inklusion zu gewährleisten, könnte man als weiteres visionäres Ziel formulieren: 2.3

Hilfen zur Erziehung sind Mit-Gestalter von Sozialräumen

Dieser Grundsatz beinhaltet, dass nicht das einzelne Kind, der sozial auffällige, schulmüde, delinquente, aggressive junge Mensch im Mittelpunkt steht, sondern das Umfeld des jungen Menschen und seiner Familie. Das heißt, dass neben der systemischen Arbeit mit dem gesamten Familiensystem, wie es schon in zahlreichen Erziehungshilfeangeboten umgesetzt wird, die Aufgabe hinzu kommt, das Umfeld der Familie in den professionellen Blick zu nehmen. Dazu ist es notwendig, dass die Hilfen zur Erziehung alle wohnortnah angeboten werden und die Wege zu den Familien, der Schule und den Peergruppen kurz sind. Über eine gezielte Mitbeteiligung der Bürger_innen, z.B. durch Bürger-Cafés, werden die sozialen Strukturen verbessert. Hilfeangebote wie die Beratung der Jugendämter und Sozialämter und die Angebote für soziale Gruppenarbeit erfolgen aufgrund einer Geh-Struktur und nicht einer Komm-Struktur. Soziale Gruppenarbeit kann auch in Schulen und Kitas angeboten werden, die Beratungsstunden der Jugendämter/Erziehungsberatungsstellen in Bürger-Cafés und ähnlichen Arrangements. In der Konsequenz bedeutet das nichts anderes, als dass die Hilfen zu den Hilfesuchenden, in die Regeleinrichtungen und in die sozialen Treffpunkte kommen und nicht umgekehrt. Entsprechendes sehen auch die Forderungen der Jugend-und Familienministerkonferenz vom 21./22. Mai 2015 unter der Überschrift „Weiterentwicklung der Hilfen zur Erziehung“ vor.2 Insofern ist diese Idee nicht ausschließlich visionär, sondern bereits bedacht – nicht zuletzt auch schon im 8. Kinder-und Jugendbericht. Des Weiteren wäre zu sagen, dass Kinder- und Jugendliche, die in den Einrichtungen und Diensten der Erziehungshilfe betreut und begleitet werden, zu 60 Prozent aus Familien stammen, die von Transfereinkommen leben.3 Das heißt, ihre persönliche „Behinderung“ ist nicht immer offensichtlich zu sehen wie bei geistig oder körperlich behinderten jungen Menschen. Sie versuchen die Armut, in der sie zwangsläufig leben, oder die Probleme der Eltern wie Alkoholabhängigkeit oder psychische Krankheiten zu verstecken – sei es durch offensives, aggressives Verhalten, sei es durch Rückzug. Junge Menschen, die seelische und soziale Probleme haben, werden von der Ge2 3

Vgl. JFMK, TOP5: Weiterentwicklung und Steuerung. Vgl. Tabel/Fendrich/Pothmann, HzE-Bericht 2013, 47.

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sellschaft selten als Menschen wahrgenommen, die Probleme haben, sondern mehr als solche, die Probleme machen. Exklusive Schul- und Betreuungssysteme unterstützen diese gesellschaftliche Haltung. In der Vision einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe in einer inklusiven Gesellschaft werden diese Kinder nicht länger in Spezialsysteme ausgesondert, sondern sie werden weiterhin in den Regeleinrichtungen und in den Regelschulen mit besonderer Unterstützung gefördert und gestützt, sodass sie auch während der (zeitweise besonders) unterstützenden Betreuung Teil ihres bisherigen Bezugssystems bleiben. Mit einer solchen Form einer integrierten Beratung und Begleitung wird auch für die „normalen“ Kinder und Jugendlichen deutlich, dass es Probleme geben kann, die aber mit Hilfe bearbeitet und gelöst werden können. Es ist in Folge dessen kein Makel mehr, um Hilfe zu bitten. Inklusion ist also nicht nur eine Chance für ausgegrenzte Kinder und Jugendliche, sondern auch für solche, die nicht ausgegrenzt sind. Zu einem integrierten Hilfesystem im Sozialraum gehört schließlich auch, dass nicht nur Professionelle Hilfen anbieten, sondern dass auch ehemals Betroffene oder Menschen mit besonderen Fähigkeiten Expert_innen für Hilfestellungen werden können. Oftmals haben solche Semiprofessionellen oder Expert_innen durch eigene Erfahrungen einen einfacheren und zuweilen besseren Zugang zu den Hilfesuchenden, weil sie für die jeweilige Situation bzw. für das jeweilige Milieu z.B. bei Menschen mit (einem bestimmten) Migrationshintergrund aufgrund der eigenen Biographie wesentlich mehr Verständnis haben. Das heißt, dass die Hilfen zur Erziehung in dieser Vision eines gesamtgesellschaftlichen Konzeptes wesentlich niedrigschwelliger als bislang zu erreichen sind und konsequent nach dem Prinzip des Empowerment arbeiten. 3 Inklusionsrelevante Grundlagen und Entwicklungen der erzieherischen Hilfen Die eingangs vorgestellte Vision einer inklusiven Erziehungshilfe und der Blick auf die für die Erziehungshilfe relevanten normativen Orientierungen der UN BRK haben bereits einige skizzenhafte Hinweise zum Stand und zur Entwicklung der Konzepte, insbesondere aber der derzeitigen Praxis evoziert. Im Folgenden sollen der Entwicklungsstand der Konzepte und der Praxis nun systematisch fokussiert werden, um ausgehend von dieser Analyse abschließend Entwicklungen und Reformen aufzuzeigen, die hinsichtlich einer inklusiven Erziehungshilfe erforderlich sind.

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Angesichts eines sich zum jetzigen Zeitpunkt (Herbst 2015) andeutenden zukünftigen inklusiven SGB VIII und der im Kontext dieses Bandes relevanten Frage nach den Rahmungen und den zukünftigen Einzelnormen für Hilfen zur Entwicklung und Erziehung, sollen an dieser Stelle wesentliche Aspekte des derzeitigen Entwicklungsstandes der Erziehungshilfe mit Blick auf die Anschlussfähigkeit wie auch hinsichtlich von Widersprüchen einer inklusiven konzeptionellen und praktischen Gestaltung beschrieben und diskutiert werden. Der absehbare Gesetzgebungsprozess zur Einführung eines Leistungssystems für alle Kinder, Jugendlichen und ihre Familien – unabhängig davon, ob und welche Behinderung ggf. vorliegt – wird – im Falle der Realisierung – nicht nur dazu führen, dass bisher bekannte Leistungen (insbesondere des SGB XII) anders bzw. an anderer Stelle (von einem anderen Leistungsträger) erbracht werden, sondern führt paradigmatisch betrachtet in erster Linie zu nichts Minderem, als dass Heterogenität zur anerkannten Norm wird! Kein Kind gleicht demnach dem anderen, und Hilfeleistungen gleich welcher Form müssen dem individuellen Hilfebedarf entsprechen. Das ist für die Erziehungshilfe jedoch nicht neu. Fachkräfte in den Hilfen zur Erziehung arbeiten (zumindest prinzipiell) bereits jetzt mit Konzepten sowie der Erkenntnis und Haltung, dass jede Familie, jedes Kind und jede_r Jugendliche unterschiedlich ist und Hilfen nicht normiert bzw. standardisiert erbracht werden können und sollen. Die Achtung von Individualität und die Grenzen der Standardisierbarkeit von sozialen Dienstleistungen sind in der Erziehungshilfe und wohl in der gesamten Kinder- und Jugendhilfe ureigenes sozialpädagogisches Prinzip. Theoretische Begründungen dazu finden sich beispielsweise im vielzitierten Technologiedefizit personenbezogener Dienstleistungen4, in dienstleistungstheoretischen Zugängen5 und im für die Kinder- und Jugendhilfe zentralen Ansatz einer Alltags- und Lebensweltorientierung6. Dem entspricht auch die zentrale Philosophie des SGB VIII. Wie zuvor schon angeführt, wird bereits in § 1 Abs. 1 SGB VIII deutlich, dass jedes Kind Anspruch auf Entwicklung zu einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit hat. Ein Kind ist demnach zuallererst ein Kind und erhält aus diesem Grund ihm entsprechende Leistungen, wie sie verallgemeinert in Absatz 3 ausgeführt werden. Jugendhilfe soll demnach zur Verwirklichung des Rechts nach § 1 Abs. 1 SGB VIII

4

Vgl. Luhmann/Schorr, Das Technologiedefizit der Erziehung. Vgl. z.B. Olk et al., Soziale Arbeit als Dienstleistung; Oelerich/Schaarschuch, Der Nutzen sozialer Arbeit. 6 Vgl. z.B. Grunwald/Thiersch, Das Konzept Lebensweltorientierte Soziale Arbeit. 5

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„insbesondere 1. junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern und dazu beitragen, Benachteiligungen zu vermeiden oder abzubauen, 2. Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Erziehung beraten und unterstützen, 3. Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen, 4. dazu beitragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen.“

Auch wenn bekanntermaßen Leistungen für junge Menschen mit geistigen oder körperlichen Behinderungen bislang nicht im SGB VIII, sondern als Eingliederungshilfe im SGB XII geregelt sind, wird somit (zumindest grundsätzlich betrachtet) ein bereits bestehender inklusiver Anspruch der Kinder- und Jugendhilfe deutlich. Auf dieser Grundlage kann die Jugendhilfe, insbesondere auch die Erziehungshilfe, zudem entsprechende Konzepte und Erfahrungen vorweisen. Solche zeigen sich beispielsweise mit Blick auf die Bestimmung von Art und Umfang der Hilfe, die sich nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall richtet und unter Einbezug des engeren sozialen Umfeldes des Kindes oder der/des Jugendlichen erbracht werden soll (§ 27 Abs. 2 SGB VIII), oder hinsichtlich der Steuerung einer Hilfe durch ein individuelles Hilfeplanverfahren, in dem Feststellungen und regelmäßige Überprüfungen zum Bedarf, zur gewährten Art der Hilfe sowie zu den notwendigen Leistungen unter Beteiligung der Adressat_innen vorgeschrieben sind (§ 36 Abs. 2 SGB VIII). Mit Blick auf den Anspruch der UN BRK, Chancengerechtigkeit und Teilhabe in einem inklusiven Fördersystem zu ermöglichen, bieten die rechtlichen Normen der Erziehungshilfe somit zunächst einen generell tauglichen Rahmen zu einer solchen Teilhabe. Sollen erzieherische Hilfen zukünftig allen jungen Menschen und Familien gelten, so ist aber auf die quantitative und qualitative Erweiterung der Zielgruppe hinzuweisen. Die Frage danach, wie sich Erziehungsfragen lösen lassen, was dem Wohl eines Kindes dient und wie dieses ggf. gemäß der geltenden Verfahren zu schützen ist, ist dabei einerseits unabhängig von behinderungsbedingten Aspekten für jeden Einzelfall zu beantworten. Andererseits sind eben jene behinderungsbedingten Aspekte, Ursachen und deren Bedeutung für eine Erziehungshilfe (möglicherweise zukünftig für eine Teilhabe- oder Erziehungs- und Entwicklungshilfe) in den Blick zu nehmen, zu bewerten und hinsichtlich der geeigneten und notwendigen Leistungen zu berücksichtigen. Entsprechende sozial-, heil- und sonderpädagogische Diagnostiken wie die Entwicklung hinreichender Hilfeleistungen stellen jedoch eine neue Herausforderung dar. Hier können sowohl Leistungen

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der (bisherigen) erzieherischen Hilfen, wie Leistungen aus der (bisherigen) Eingliederungshilfe, als auch neu zu konzeptionierende Leistungsformen im Einzelfall angemessen sein. Durch die seit 1993 geltende „kleine Lösung“ verfügt die Kinderund Jugendhilfe hier zwar über Konzepte und Erfahrungen mit Bedarfen und Leistungen bei (drohender) seelischer Behinderung wie z.B. ADHS oder Delinquenz (gem. § 35a SGB VIII), nicht aber hinsichtlich von Hilfebedarfen im Kontext einer geistigen oder körperlichen Behinderung. In diesem Zusammenhang stellt sich auch die Frage nach den hilfeauslösenden Merkmalen: Sollen bisher getrennt betrachtete, partizipativ zu bestimmende Erziehungshilfebedarfe und ggf. die Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung (ebenfalls unter Einbeziehung der jungen Menschen und der Personensorgeberechtigten) so beibehalten werden? Ist die Praxis der medizinisch-gutachterlichen Feststellung von behinderungsbedingten Leistungsansprüchen weiterhin angemessen? So oder so entfielen mit der Zuständigkeit eines „inklusiven“ Leistungsträgers das Ringen um Diagnosen im Kontext von Zuständigkeitsklärungen und die Zuordnungsprobleme bei Mehrfachbehinderungen und/oder erzieherischen Hilfebedarfen. Für Eltern und für junge Menschen stellen diese Bestrebungen, Leistungen in einem sozialgesetzlichen Rahmen und bei einem Leistungsträger zu bündeln (Hilfen aus einer Hand), insofern einen großen Vorteil dar, als dass der Streit um Zuständigkeiten und das „Casemanagement in eigener Sache“ nicht länger die Praxis bestimmen würden. Jedoch sind auch die (bisherigen) erzieherischen Hilfen nicht frei von Selektions- und Exklusionsdynamiken, wie es beispielsweise der Blick auf entsprechende Spezialdienste innerhalb der HzE und (mangelnde) Übergangsgestaltungen am Ende von Hilfen für ältere Jugendliche und junge Volljährige zeigt. So wird im 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung darauf verwiesen, dass die Jugendämter der Fallzunahme und der steigenden Belastung im ASD (Allgemeiner Sozialer Dienst) zunehmend mit einer Auslagerung von Tätigkeiten und mit einer höheren Spezialisierung begegnen. Neben den traditionellen Spezialdiensten Jugendgerichtshilfe/Jugendhilfe im Strafverfahren und Pflegekinderdienst wurden demnach in den letzten zehn Jahren u.a. Krisendienste für den Kinderschutz, Spezialdienste für ambulante Eingliederungshilfen gem. § 35a SGB VIII und Spezialdienste für Trennungs- und Scheidungsberatung aufgebaut. Hinzu kommt die arbeitsteilige Erbringung von Diensten im Rahmen des Casemanagements einiger Jugendämter. Sie dienen – wie die zuvor genannten Spezialisierungen früher generalistisch erbrachter Fallarbeit – nicht nur der Entlastung der klassischen Bezirkssozialarbeit, sondern erzeugen zugleich neue systeminterne Diskontinuitäten

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und qualitativ nachteilige Schnittstellen der Leistungserbringung.7 Noch 1990 hatte der 8. Kinder- und Jugendbericht im Kontext eines Integrations- und Normalisierungsanspruches der Kinder- und Jugendhilfe von gegenteiligen Entwicklungen zu berichten gewusst: „Gegenüber solcher Spezialisierung und Absonderung intensivieren sich Anstrengungen zu Hilfsangeboten, die nicht mit dem Preis der Aussonderung bezahlt werden müssen, sondern intendieren, Hilfen für Menschen mit besonderen Problemen in den Kontext allgemeiner Hilfen zur integrieren – unbeschadet dessen, dass besondere und zusätzliche Anstrengungen und damit auch Dienstleistungen notwendig sind, die nicht in der Jugendhilfe ressortiert sind.“8

Hier fällt die konzeptionelle Entwicklung der Praxis somit hinter frühere Bestrebungen zurück. Gleiches gilt für die Spezialisierung, die sich angesichts einer zuweilen versäulten Struktur der Leistungen der §§ 28–35 SGB VIII9 grundsätzlich und zuletzt insbesondere im Kontext stationärer Erziehungshilfen gem. § 34 SGB VIII abzeichnet. Zwar liefern die Erfassungen der offiziellen Kinder- und Jugendhilfestatistik keine bundesweiten Daten zu solch differenzierten Entwicklungen. Regionale Erhebungen aus Baden-Württemberg10 und NRW11 wie auch entsprechende Diskurse12 weisen jedoch auf diese problematische Entwicklung hin. Zusammenfassend handelt es sich hier um die Entwicklung und Realisierung von Sondergruppen für junge Menschen, bei denen auf besondere Problemlagen und Hilfebedarfe verwiesen wird. Solche Spezial- oder Intensivgruppen bilden dann über die Leistungen einer Regelgruppe gem. § 34 SGB VIII hinausgehende Sondergruppen, die sich zumeist durch eine geringere Platzzahl, einen höheren Personalschlüssel und somit nicht zuletzt durch höhere Entgelte auszeichnen. Derartige Spezialisierungen sind nicht nur hinsichtlich entsprechender ökonomischer Rationalitäten lesbar.13 Sie führen neben einer Pathologisierung zugleich zu einer verstärkten Selektivität und zu Exklusionsdynamiken von Regelgruppen stationärer Hilfen. „Je spezialisierter ein System, desto mehr Unzuständigkeiten produziert es auch.“14 Auf die Funktion und Problematik der in die7

Vgl. BMFSFJ, 14. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, 293. BMJFFG, 8. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung, 88. 9 Vgl. Trapper, Erziehungshilfe, 301. 10 Vgl. Berner, Spezialisierung wider Willen. 11 Vgl. Knuth, Spezialisierung der stationären Erziehungshilfe. 12 Vgl. Baumann, Intensiv heißt die Antwort; Freigang, Spezialisierung; Fegert/ Wiesner, Hilfen für Kinder, Jugendliche und Familien. 13 Vgl. Peters, Spezialisierung der Erziehungshilfen? 14 Peters, Spezialisierung der Erziehungshilfen?, 152. 8

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sem Zusammenhang ebenfalls relevanten geschlossenen Unterbringung sei an dieser Stelle lediglich verwiesen.15 Neue eigenproduzierte Diskontinuitäten ergeben sich letztendlich durch entsprechende Abschiebepraktiken wie auch durch die oftmals zeitliche Befristung von Spezialleistungen und den somit bereits zu Beginn abzusehenden (weiteren) Maßnahmenwechsel. Auch hier zeigt sich, dass Impulse zur Gestaltung von flexiblen16 oder integrierten17 erzieherischen Hilfen nicht nur nicht weiterverfolgt wurden, sondern gegenläufige Entwicklungen festzustellen sind. Exklusionsrisiken im Kontext der erzieherischen Hilfen zeigen sich zudem an deren biografisch bedingtem Ende, d.h. dort, wo ältere Jugendliche und junge Volljährige eine stationäre Hilfe verlassen. Aufschlussreich erscheint hier der Vergleich der Erziehungshilfen für die einzelnen Altersgruppen. Die Daten (Stand 2012) zeigen zunächst einen Anstieg der HzE-Fallzahlen bis zum 9. Lebensjahr. Die 9-Jährigen, unmittelbar gefolgt von den 10-Jährigen, bilden zugleich auch die stärksten Jahrgänge bei der Inanspruchnahmequote. Deutliche Rückgänge sind bei beiden Datengrößen nach dem 16. Lebensjahr zu verzeichnen. Insbesondere zwischen dem 17. und 18. und dem 18. und 19. Lebensjahr sinken Fallzahlen und Inanspruchnahmequoten z.T. drastisch. Hilfen für ältere Jugendliche, vor allem aber für junge Volljährige werden (trotz expliziter rechtlicher Grundlage in § 41 SGB VIII) in merklich geringerem Umfang realisiert als Hilfen für andere Altersgruppen.18 Für junge Menschen, die in stationären Erziehungshilfen aufgewachsen sind bzw. die einen Teil ihrer Sozialisation hier erlebten, bedeutet dies in Konsequenz und im Unterschied zur altersgleichen Gesamtbevölkerung nicht nur, dass sie deutlich früher mit Selbständigkeitserwartungen konfrontiert werden. Sie geraten ferner in prekäre Übergänge in Ausbildung und Beschäftigung19 und werden (als nun Volljährige) selbstverantwortlich mit der möglichen Zuständigkeit verschiedener Sozialleistungsträger konfrontiert, die in der Praxis nicht selten zu „Verschiebebahnhöfen“ und zu mangelhafter Zusammenarbeit führen. Damit einher gehen entsprechende Exklusionsrisiken für „Care Leaver“. Notwendige kontinuitätssichernde Modelle eines „permanency planning“, eine bei Sievers et al.20 be15

Entsprechende Vertiefungen finden sich z.B. bei Hoops/Permien, „Mildere Maßnahmen sind nicht möglich“; Lindenberg, „Modern Talking“ und AG der IGfH, Argumente gegen Geschlossene Unterbringung. 16 Vgl. z.B. Klatetzki, Professionelles Handeln als Problemsetzung. 17 Vgl. z.B. Peters/Koch, Integrierte erzieherische Hilfen. 18 Vgl. Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik, Monitor Hilfen zur Erziehung, 16. 19 Vgl. Köngeter et al., Regionale Übergangsstrukturen. 20 Vgl. Sievers et al., Jugendhilfe – und dann?

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schriebene flexible Gestaltung von (u.a. auch reversiblen) Hilfearrangements oder auch die tragfähige Kooperation der Jugendhilfe mit Bildungsinstitutionen sind an dieser Stelle zwingend notwendig, soll ein inklusives Hilfekonzept beim Verlassen nicht solche Exklusionsrisiken befördern. Deutlich wird angesichts der hier skizzierten binnenproduzierten Spezialisierungen, Selektionen und den Exklusionsrisiken beim Übergang aus der Erziehungshilfe heraus, dass eine Chancengleichheit und Teilhabe in einem inklusiven Fördersystem auf einer inklusiven Ausrichtung der Erziehungshilfe, der Kinder- und Jugendhilfe insgesamt und der Übergänge im Anschluss basieren muss. 4

Grundlagen für den Veränderungsprozess hin zu einer inklusiven Erziehungshilfe-Einrichtung

Vor dem Hintergrund der Tätigkeit der Autorin als Referentin für Erziehungshilfe in der Diakonie RWL und der Begleitung von zahlreichen institutionellen Beratungsprozessen, Fachtagungen und Arbeitskreisen zu dem Thema Inklusion gehen wir im Folgenden zunächst auf die Veränderungsprozesse mit Blick auf die Erziehungshilfe-Einrichtungen freier, hier diakonischer, Träger ein und werden später den Blick auf das Gesamtsystem der Erziehungshilfe erweitern. Für den Prozess einer gesamtinstitutionellen Umgestaltung zu einer inklusiven Erziehungshilfeeinrichtung bedarf es zunächst der Erarbeitung einer gemeinsamen Grundhaltung, eines gemeinsamen Leitbildes mit allen Mitarbeitenden. Ein solches Leitbild sollte die Wertschätzung der Verschiedenheit auch im Sinne des biblischen Menschenbildes beinhalten. Die Erschaffung der Menschen in ihrer Vielgestaltigkeit als Ebenbilder Gottes verbietet es, bestimmte Merkmale als Ausdruck für Gottesnähe oder Gottesferne auszuweisen.21 Neben der Entwicklung fachlicher Kompetenzen durch externe Fortbildungen und/oder interne Arbeitskreise ist die kontinuierliche Reflexion in den Teams sowie mit der Gesamtleitung notwendig. Dabei geht es auch um die persönlichen Einstellungen, Visionen und Werte jedes einzelnen Mitarbeitenden und um die Anerkennung der Verschiedenheit in den jeweiligen Teams. Das Leitbild Inklusion muss in einem ständigen Reflexionsprozess lebendig gehalten werden. Dabei ist die eindeutige Grundhaltung sowohl des Trägers, der Leitung als auch aller Mitarbeitenden dazu von großer Bedeutung. Auf der Grundlage dieser gemeinsamen Haltung sind die inklusiven Konzepte für die Einrichtung zu entwickeln sowie die notwendigen 21

Vgl. Diakonie RWL, Auf dem Weg, 2.

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Methoden umzusetzen, um inklusiv mit den jeweiligen Menschen arbeiten zu können. Zum allgemeinen Konzept bzw. zu der fachlichen Grundhaltung könnte z.B. der Leitsatz gehören, dass keine Spezialgruppen vorgehalten werden, sondern stattdessen in den Regelangeboten Heterogenität gelebt wird. Nicht nur in Zeiten von vielen Aufnahmen unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge bzw. unbegleiteter minderjähriger Ausländer_innen sind die Methoden einer interkulturellen Pädagogik regelhaft umzusetzen. Das „Anderssein“ der jeweiligen jungen Menschen, die stationär oder ambulant in der Erziehungshilfe betreut und begleitet werden, wird akzeptiert und mit dem Konzept der internen Differenzierung gelebt. Diese fallbezogene Differenzierung führt dazu, dass es zu keiner Verlegung der jungen Menschen in Spezialeinrichtungen kommt in der Hoffnung, dass dort bessere Hilfen angeboten werden. Vielmehr werden interdisziplinäre Arbeitsformen vor Ort entwickelt, damit es nicht zu den für die Kinder/Jugendlichen sehr belastenden Verlegungen kommt. Dies kann gelingen, wenn konsequent ressourcenorientiert mit den jungen Menschen gearbeitet wird und ihnen mit ihrer Zustimmung passgenaue Hilfen angeboten werden. Neben diesen „weichen“ trägerbezogenen Faktoren für einen Umgestaltungsprozess hin zu mehr inklusiven Angeboten sind allerdings auch „harte“ Faktoren bezogen auf die Strukturen und Systeme der Hilfen zu beachten. Zur Schaffung von multi-professionellen Teams und notwendigen kleineren Betreuungssettings, um individueller arbeiten zu können, sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und das Leistungsrecht eine notwendige Voraussetzung. Daneben sind die Vernetzung und die enge Kooperation mit den bislang traditionell getrennten Systemen der Sozialverwaltung, der Jugendverwaltung, der Schule und der Arbeitsverwaltung politisch zu überwinden. Sicherlich hat die Erziehungshilfe bereits einige wichtige Ansätze in Bezug auf die Haltung sowie die Konzepte und Methoden für eine inklusive Grundhaltung umgesetzt. Immer mehr Einrichtungen arbeiten systemisch mit der gesamten Familie. Die Prinzipien Heterogenität, Individualisierung und Ressourcenorientierung sind in nahezu allen Konzepten als professionelle Leitgedanken zu finden. Darüber hinaus haben sich Träger bereits in den letzten Jahren in besonderer Weise auf den Weg hin zu mehr inklusiven Methoden und Angeboten gemacht. Einige Beispiele mögen das im Folgenden verdeutlichen. 4.1

Vernetzung Jugendhilfe – Schule

Wie die Praxis vieler Einrichtungen und Dienste zeigt, sind schulische Probleme von Kindern und Jugendlichen häufig der Auslöser

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für die Unterstützung durch eine ambulante, teilstationäre oder stationäre Erziehungshilfe. Lernschwierigkeiten und/oder soziale Auffälligkeiten in der Schule sind mit der häufigste Grund für den Kontakt zum Jugendamt und dem Ersuchen um Hilfe, sei es durch die Eltern oder durch die Lehrer. In dem Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz vom 22./23. Mai 2105 zur „Weiterentwicklung der Hilfen der Erziehung“ sind die Empfehlungen enthalten, eine stärkere Vernetzung und Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit den Regelangeboten wie z.B. den Schulen zu forcieren, um Erziehungshilfekarrieren zu vermeiden.22 Wie die Ergebnisse der Caritas-Bildungsstudie zeigen, ist auch grundsätzlich zu hinterfragen, ob das Vorhandensein der Förderschulen in der gesamten Schullandschaft dazu beiträgt, dass junge Menschen mit Lernschwierigkeiten durch dieses Schulsystem zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigt werden. Der Caritasverband hat aufgrund dessen, dass jede_r zwanzigste Schüler_in die Schule ohne Hauptschulabschluss verlässt, gemeinsam mit dem Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) eine Untersuchung über mögliche Zusammenhänge bezogen auf Arbeitslosigkeit, Jugendarbeitslosigkeit sowie der Quote der Schüler_innen an Förderund Sonderschulen und anderen wirtschaftlichen Faktoren vorgenommen. Die Studie zeigt eindeutig: Je mehr Schüler_innen es auf Förder- und Sonderschulen gibt, desto mehr Schüler_innen verlassen diese ohne Abschluss. Laut der Studie landen Schüler_innen in den Förderschulen häufig in der Sackgasse. Die Befürchtung ist, dass Förderschulen als Auffangbecken für Schüler_innen genutzt werden, die aus dem gewöhnlichen Schulsystem aufgrund sozialer Probleme aussortiert werden.23 Das Konzept „JanS – Jugendhilfe an Schule“ beinhaltet eine entsprechende Unterstützung von Grundschulen in Iserlohn. Die Ev. Jugendhilfe Iserlohn-Hagen begleitet dort mit diesem Konzept seit einigen Jahren 15 Grund- und zwei Förderschulen. Neben der erzieherischen Förderung werden unterschiedliche Angebote im Bereich der Gruppen- und Einzelarbeit durchgeführt. Daneben findet auch Beratung der Eltern und der Lehrer_innen statt. Für dieses Projekt wurden Plätze der teil-stationären Erziehungshilfe (Tagesgruppen) abgebaut und Erziehungshilfe in das Regelangebot Schule integriert.24 Neben dieser Unterstützung des Schulsystems durch Erziehungshilfeangebote sind auch andere Formen der Sonderbeschulung, die eine 22

Vgl. JFMK, TOP5: Weiterentwicklung und Steuerung. Vgl. Nienhaus, Deutschland, deine Schulversager. 24 Vgl. Diakonie Mark Ruhr, Jugendhilfe an Schulen. 23

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dauerhafte Exklusion vermeiden, möglich. Auf den Studienreisen des Evangelischen Fachverbandes für Erzieherische Hilfen RWL nach Dänemark und Norwegen konnten zwei Alternativen besichtigt werden. In Kopenhagen war die Sonderschule im jeweiligen Stadtteil angesiedelt und wurde nur von Kindern aus diesem Stadtteil besucht. Rein räumlich haben die Schulen mehr den Charakter eines Jugendtreffs als einer Schule. Die wenigen Kinder waren in kleinen Lerngruppen zusammengefasst. Die Aufenthaltsdauer war begrenzt, denn es war das primäre Ziel der schulischen Betreuung, die Kinder so bald wie möglich in das Regelschulsystem zu integrieren. In Norwegen wurde das Schulsystem anhand einer Metapher erklärt: Das große Schiff ist das gesamte Schulsystem. Wenn es Kinder schwer haben, sich im Unterricht auf diesem großen Schiff zu konzentrieren und zu beteiligen, wird für sie für einen gewissen Zeitraum ein „Beiboot“ aktiviert, auf dem mit besonderen Methoden (z.B. in Form einer Produktionsschule) die Motivation zum Lernen aktiviert wird. Die Schülerinnen und Schüler des Beibootes werden so schnell wie möglich wieder auf das Hauptschiff verlegt. Das norwegische Schulsystem sieht so aus, dass nur über die Regelschule das Schulsystem am Ende der Schulzeit verlassen werden kann. In beiden Ländern fand in diesen zeitweisen Sonderbeschulungen eine Vernetzung von Schule und Sozialpädagogik/Jugendhilfe durch entsprechende Fachkräfte statt. Ein weiteres Beispiel für eine besondere Form der „Integrativen Sonderbeschulung“ ist die „Waldklasse“ in Bern (Schweiz). Kinder mit sozialen Schwierigkeiten in der Schule werden für ein halbes Jahr zu einer Gruppe zusammengefasst, deren „Unterricht“ mit zwei Sozialpädagogen für sechs Monate im Wald stattfindet. Gefördert wird hier durch gemeinsame Aktionen und Projekte im Wald primär die soziale Kompetenz der Kinder. Die Kinder werden nach dem halben Jahr in den laufenden Unterricht ihrer Klasse ohne Schwierigkeiten integriert. 4.2

Inklusive Erziehungshilfe durch aktivierende und partizipative Elternarbeit

Das exklusive Angebot einer stationären Erziehungshilfe ist für die Kinder häufig verbunden mit der schmerzlichen Trennung von den Eltern. Häufig entsteht in diesem Prozess bei den Kindern das Gefühl, dass sie aufgrund ihres Verhaltens die Schuld an dieser Trennung haben. Dieses führt häufig zu Irritationen, Verwirrungen und dem Gefühl der Abwertung – sowohl bei den jungen Menschen als auch bei deren Eltern. Auch wenn häufig die Eltern aus verschiedensten Gründen nicht fähig sind, die Kinder kompetent zu erziehen, so

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leiden diese unter der Trennung und sie fühlen sich trotz allem loyal den Eltern gegenüber. Das hat zur Folge, dass sie sich nur schwer in die neue Umgebung einleben können und immer wieder das Ziel haben, nach Hause zu kommen. Diese Verweigerung führt häufig zu Abbrüchen der Maßnahmen. Selbst geplante Rückführungen ins Elternhaus verlaufen häufig problematisch, da an dem Erziehungsverhalten der Eltern nicht ausreichend gearbeitet worden ist. Werden allerdings die Eltern durch eine aktivierende und wertschätzende Elternarbeit und durch stärkere partizipative Möglichkeiten intensiver in den Erziehungsprozess der Kinder in den Wohngruppen integriert, bedeutet dies, dass für das Kind oder den/die Jugendliche_n, aber auch für die Eltern die Maßnahme weniger exkludierend wahrgenommen wird. Der Ansatz der „Systemischen Interaktionstherapie und -beratung“ (SIT) geht noch einen Schritt weiter. Er vertraut auf das Expertentum der Eltern und setzt diese als Semi-Professionelle in die Arbeit mit Eltern ein. Ziel des Ansatzes ist die Stabilisierung der elterlichen Präsenz und methodisch wird mit Elterngruppen gearbeitet, damit sich eine Solidarität der Eltern untereinander ergeben kann. Daraus entwickeln sich eine Art „Selbsthilfegruppen von Eltern für Eltern“, deren Kontakt auch über die Zeit der Erziehungshilfemaßnahme hinaus greift und langfristig stützt. Auf der Fachtagung des Ev. Kinderheim Herne, auf der das 10-jährige Bestehen des SIT-Ansatzes in dieser ambulanten und stationären Einrichtung gefeiert wurde, stellten zwei Mütter ihre Erfahrungen mit SIT vor. Sie betonten, wie hilfreich es ist, dass sie auch nach Beendigung des Heimaufenthaltes in bestimmten Krisensituationen immer wieder die anderen Eltern anrufen könnten und diese sie sofort verstehen und aufgrund der gemeinsamen Beratungen auch helfen könnten. Mit diesem Ansatz werden Eltern nicht ausgegrenzt, sondern vielmehr mit all ihren Ressourcen und Kompetenzen persönlich gestärkt und als Expert_innen in Sachen Erziehung eingesetzt und ihre Krisen für die Beratung anderer Eltern nutzbar gemacht.25 Das Projekt des Evangelischen Fachverbandes für Erzieherische Hilfen RWL „Partizipation von Eltern mit Kindern in stationären Erziehungshilfen“ hat mit den Eltern gemeinsame Werkstattgespräche durchgeführt. Es wurde deutlich, dass Eltern sehr viel mehr als bislang von Fachleuten gedacht in die Arbeit der Wohngruppe integriert werden können und weiterhin elterliche Aufgaben, wie z.B. die Arztoder Schulbesuche, gemeinsam mit dem Kind übernehmen können. Auch solche „kleinen“ Konzeptveränderungen verringern die Exklusivität des Wohngruppenangebotes und bieten stattdessen erste 25

Vgl. Rhein, Systemische Interaktionstherapie-/beratung.

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Schritte zum mehr Inklusion, da sich die Kinder nicht so massiv ausgegrenzt fühlen. 4.3

Schutz vor Ausgrenzung: Milieunahe Wohngruppen

Im Folgenden wird ein Konzept des Vereins stadtteilbezogene milieunahe Erziehung (sme e.V.) in Hamburg vorgestellt, das schon seit Mitte der 1980er Jahre eine milieunahe Heimerziehung umsetzt. Was im ersten Teil dieses Artikels als flächendeckende Vision vorgestellt wurde, wird hier in einem Stadtteil von Hamburg seit vielen Jahren praktiziert. Die Kinder/Jugendlichen in der Wohngruppe leben weiterhin in ihrem Kiez, besuchen weiterhin ihre Schulen, werden in Vereine und andere Aktivitäten integriert. Sie erleben also bei der Aufnahme in das Kinderwohnhaus keinen so massiven biographischen Bruch zu ihrer bisherigen Umgebung wie beispielsweise Kinder, die in einer anderen Stadt oder Region untergebracht werden. Sie bleiben auch nach ihrer Entlassung in der Regel im Kiez wohnen. Kern des Konzeptes ist die stationäre Arbeit im Milieu. Aufgrund der räumlichen Nähe können Eltern spontan in die Einrichtung kommen. Verpflichtend sind der Besuch eines Elternsonntags im Monat und die Teilnahme an regelmäßigen Elternabenden. Bei diesen Veranstaltungen wird auf gemeinsame Erlebnisse gesetzt. Konkurrenz zwischen Eltern und Mitarbeitenden ist wenig vorhanden, da die Eltern sehen, dass die Mitarbeitenden sich nicht an die Kinder klammern. Die Verantwortung für die Kinder bleibt bei den Eltern. Außerdem besteht eine „Haltung der Offenheit“: Mit Fällen von Kontaktverboten zwischen Kindern und Eltern bzw. unterschiedlichen Besuchskontakt-Regelungen wird offen umgegangen. Bei allem spüren die Eltern – laut Aussage einer Mitarbeitenden –, dass es auch um sie geht und nicht nur um die Kinder. Das Kinderwohnhaus sieht sich ergänzend zur Familie, nicht als Ersatz! Die Kinder leben in der Regel zwei bis drei Jahre im Kinderwohnhaus oder dauerhaft im Betreuten Wohnen. Es ist für die Kinder und Jugendlichen ein zweites Zuhause. Die Kinder selbst müssen sich entscheiden, wo sie ihren Lebensmittelpunkt haben wollen – ob zu Hause bei den Eltern oder im Kinderwohnhaus. Es wird immer wieder gegenüber den jungen Menschen betont, dass die Einrichtung ein „Zuhause auf Zeit“ ist. Mit den unterschiedlichen individuellen Perspektivenfragen wird offen umgegangen, und daraus ergeben sich laut Aussagen von Mitarbeitenden keine Probleme in der Gruppenarbeit. Die Erfahrungen zeigen, dass die Kinder mit diesen Ambivalenzen gut umgehen können, da sie offen besprochen werden. Falls es Kinder gibt, für die das Kinderwohnhaus nicht der richtige Ort ist, wird ein sorgsamer gemeinsamer Entscheidungsprozess eingeleitet.

Zur Reform der Erziehungshilfe

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Ehemalige können jederzeit in das Haus kommen, und es wird mit ihnen gearbeitet – falls notwendig. Wie die anwesenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter anlässlich einer Fachtagung und eines Besichtigungstermins betonten, gibt es weniger Krisen in der Arbeit aufgrund der engen Zusammenarbeit und Anbindung an die Eltern. Die Mitarbeitenden tragen somit die Verantwortung nicht allein, fühlen sich nicht so belastet. Es besteht bei den Kolleginnen und Kollegen eine intensive persönliche und fachliche Verbundenheit mit dem Konzept der Lebensweltorientierung nach Thiersch. Mit diesem Konzept kommen die jungen Menschen nicht mehr in das Heim, sondern das Heim, die Wohngruppe kommt zu den jungen Menschen ins Milieu, in den Stadtteil, was dem Grundsatz der Inklusion entspricht. Leider wird ein solches Konzept nur selten in Deutschland umgesetzt.26 Dass ein solches milieunahes stationäres Konzept auch mit einem ambulanten Team kombiniert werden kann, zeigt das Konzept „HüTN – Hilfen über Tag und Nacht“ der Evangelischen Gesellschaft in Stuttgart. Hier wird das milieunahe Konzept noch in der Wiese flexibilisiert, dass das Team neben der stationären Arbeit auch ambulante Begleitung anbietet und insofern die Hilfen sehr passgenau auf die jeweiligen Bedürfnisse der jungen Menschen und ihrer Familien abgestimmt werden können.27 4.4

Arbeit im Milieu auch mit den besonders schwierigen Jugendlichen – das Konzept der Multisystemischen Therapie (MST)

Die Multisystemische Therapie ist ein intensives, wissenschaftlich fundiertes Therapieverfahren für Kinder und Jugendliche, die bislang in anderen Hilfemaßnahmen aufgrund ihrer massiven Auffälligkeit häufig gescheitert sind sowie häufig delinquentes Verhalten zeigen. Das in den USA entwickelte Konzept wird in der Schweiz und Skandinavien schon längere Zeit umgesetzt und evaluiert. In Deutschland startet jetzt ein erstes Projekt für die Region Mainz. Das Konzept basiert auf einem multisystemischen Ansatz, der neben der Familie auch die Schule und die Peers der/des Jugendlichen einbezieht, um eine prosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen zu erreichen. Es handelt sich um ein aufsuchendes Konzept, welches lebensweltorientierte sozialpädagogische Hilfen mit der strategischen und strukturellen Familientherapie sowie der kognitiven Verhaltenstherapie verbindet. 26 27

Vgl. Kühn, Mitten in Hamburg. Vgl. Weißenstein, Liegt die Zukunft, 107ff.

224

D. Nüsken/H. Wegehaupt-Schlund

Die Erfolgsquoten dieses Ansatzes zeigen, dass auch Kinder und Jugendliche mit massiven Störungen des Sozialverhaltens nicht zwangsläufig in stationären Spezialeinrichtungen oder gar geschlossenen Einrichtungen untergebracht werden müssen, sondern auch ambulant intensiv in ihrem Umfeld betreut werden können.28 5

Abschließende Gedanken

Für die hier beschriebenen Umgestaltungsprozesse hin zu Angeboten der Erziehungshilfe, die als inklusiv bezeichnet werden können, bedarf es neben der hohen fachlichen und professionellen Motivation aller Beteiligten auch entsprechender struktureller und politischer Rahmenbedingungen. Inklusive Konzepte lassen sich nur in guter Zusammenarbeit von öffentlichen und freien Trägern und in angemessenen Finanzierungsmodellen und -volumina realisieren. Neben den ASD kommt hier auch der Jugendhilfeplanung und der Arbeit der Jugendhilfeausschüsse eine wichtige Rolle zu. Verwiesen sei explizit auch auf die notwendige Finanzausstattung der Kommunen. Diese ist keineswegs allerorten auskömmlich bzw. gesichert, wie der Blick auf die zahlreichen unter Haushaltssicherung stehenden Kommunen in NRW zeigt. Schließlich: „[Der] Abbau sozialer Ungleichheit bleibt eine zentrale Aufgabe der Institutionen der Bildung, Betreuung und Erziehung. Diese dürfen dabei ihren Anteil an institutionell erzeugten Ungleichheiten nicht unterschätzen.“29

Für diesen Prozess des Abbaus sozialer Ungleichheiten, der auch eine zentrale Aufgabe der Erziehungshilfe ist, und für den Aufbau von inklusiven professionellen Haltungen und Strukturen braucht es gemeinsame Visionen, Energien und Handlungsansätze zwischen Pädagogik, Politik und Verwaltung. Alle müssen bereit sein, diesen langen Weg zu gehen. Wenn alle wahrnehmen, dass Separation „nicht normal“ ist und soziale Ungleichheit fördert, befinden sie sich bereits auf dem Weg zur Inklusion.

28 29

Vgl. Henggeler et al., Multisystemische Therapie. BMFSFJ, 14. Kinder- und Jugendbericht, 420.

Zur Reform der Erziehungshilfe

225

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D. Nüsken/H. Wegehaupt-Schlund

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Zur Reform der Erziehungshilfe

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Hans-Jürgen Balz/Kathrin Römisch/Martin Weißenberg/Kurt-Ulrich Wiggers

2.3 Inklusion im Erwachsenenalter – Herausforderungen in den Bereichen Arbeit, Wohnen und Partnerschaft

1

Einleitung

Der Beitrag, entstanden in einer Zusammenarbeit von Hochschulund Praxisvertreter_innen, bewegt sich in einem Dreischritt auf Fragen der Inklusion im Erwachsenenalter zu. Im ersten Schritt geht es um das Erwachsenenalter, seine spezifischen Entwicklungsaufgaben und die Veränderungen des Erwachsenenalters im Kontext gesellschaftlicher Entwicklungen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich für Menschen mit und ohne Behinderungen grundsätzlich die gleichen Entwicklungsaufgaben stellen. Diese werden als Maßstab zur Analyse der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen in den Feldern Arbeit, Wohnen und Familienplanung und dabei insbesondere zur Beurteilung der Hilfesysteme, wie sie sich hierzulande derzeit darstellen, genutzt. Menschen mit Behinderungen haben das gleiche Recht auf ein gelingendes Leben – und dafür ist die Bewältigung der Entwicklungsaufgaben notwendig. Auf dieser Grundlage fragen sich die Autor_innen, welche besonderen Herausforderungen sich daraus entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) ergeben. Inklusion als Menschenrecht wird aktuell insbesondere im Bereich der Schule diskutiert, leider jedoch z.T. darauf reduziert. Auch wenn die Schule im Sinne einer Schule für Alle grundsätzlich als Schlüssel zur Inklusion gesehen werden kann, ist dies jedoch eine unangemessene Reduktion. Inklusion kann nur als gesamtgesellschaftliches Prinzip gelten und schließt somit das Erwachsenenalter ein. Im Erwachsenenalter ergeben sich andere Aufgaben. So wird das Thema Berufstätigkeit wohl eine der größten Herausforderungen in einer inklusiven Gesellschaft sein. Aber auch der Privatbereich im Sinn von Partnerschaft, Heirat, Familienplanung muss als zentraler Lebensbereich besondere Beachtung erhalten.

Inklusion im Erwachsenenalter

229

Deswegen erfolgt im zweiten Schritt eine Problembeschreibung zu zentralen Bereichen der Inklusion. Wir beziehen uns dabei auf die Felder Arbeit, Wohnen, Partnerschaft und Familie und fragen visionär nach Zwischenzielen und notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen. Als dritten Schritt verdeutlichen Leuchtturmprojekte innovative Ansätze und verweisen auf Voraussetzungen zum Gelingen von inklusiven Prozessen. Abschließend werden Kontroversen und Entwicklungstrends der Inklusion im Erwachsenenalter diskutiert. 2 2.1

Vision: Inklusion im Erwachsenenalter Entwicklungsaufgaben und Veränderungen des Erwachsenenalters

Wenn wir uns mit Inklusionsprozessen im Erwachsenenalter beschäftigen, so ist zu fragen, wodurch sich das Erwachsenenalter als Lebensabschnitt auszeichnet und welchen Veränderungen es in modernen Wissensgesellschaften unterliegt. Das Erwachsenenalter unterteilen Entwicklungspsychologen entsprechend der damit verbundenen zentralen Themen in das junge und mittlere Erwachsenenalter, das höhere Erwachsenenalter und das hohe Alter. Der Übergang vom Jugendalter in das Erwachsenenalter lässt sich nicht mit einer Altersangabe verbinden, sondern wird an dem Ausmaß der erlangten Selbständigkeit festgemacht. Im jungen Erwachsenenalter finden vielfältige biographische Weichenstellungen statt. Insbesondere die Berufsfindung, die berufliche Bildung und der Berufseinstieg sind in hochentwickelten Wissensgesellschaften von zentraler Bedeutung. Auch sind die Partnerwahl und die Familiengründung in diesem Lebensabschnitt angesiedelt. Freund und Nikitin sprechen von einer biographischen „Rushhour […], zu der multiple ressourcenintensive Rollen gleichzeitig in einem relativ kurzen Zeitraum verfolgt werden müssen.“1Als zentrale Kriterien für den Übergang vom Jugend- in das junge Erwachsenenalter fügen die Autoren die Volljährigkeit mit 18 Jahren, den erreichten Grad an Autonomie, den Eintritt ins Berufsleben und die Familiengründung an. Die persönliche Autonomie wird dabei an die emotionale und finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern, an das eigenständige Wohnen und die Übernahme der Verantwortung für die eigenen Entscheidungen und das Verhalten geknüpft.2 In diesem Sinne soll uns im Fol1 2

Freund/Nikitin, Junges Erwachsenenalter, 281. Vgl. Freund/Nikitin, Junges Erwachsenenalter, 260f.

230

H.-J. Balz/K. Römisch/M. Weißenberg/K.-U. Wiggers

genden die persönliche Autonomie in den Bereichen Bildung und Beruf sowie Wohnen und Partnerwahl beschäftigen. Das Erwachsenenalter untergliedert Erikson in seiner Entwicklungstheorie in drei psycho-soziale Stadien.3 In jedem Stadium gilt es, einen Konflikt zwischen widerstrebenden Tendenzen zu lösen. So hat der junge Mensch im frühen Erwachsenenalter einen psychischen Konflikt zwischen Intimität und Isolation zu bewältigen. Es geht darum, in der Partnerschaft eine neue Qualität von Verbindlichkeit, körperlicher Nähe und Vertrauen zu erproben, zu erlernen und sich damit zu arrangieren. Gleichzeitig ist eine Partnerschaft jedoch mit dem Aufgeben bzw. einem Verlust an Selbständigkeit und Souveränität verbunden. Insofern kann die Isolation hierfür eine Handlungsstrategie sein, wenn der Einzelne seiner Autonomie höchste Priorität einräumt und Ängste gegenüber dem Eingehen von (körperlich) nahen und emotional intensiven Beziehungen bestehen. Erikson sieht in der Isolation jedoch dauerhaft eine negative Verarbeitung der bestehenden Herausforderungen. Das zweite Stadium im fortgeschrittenen Erwachsenenalter charakterisiert nach Erikson der Konflikt zwischen Generativität und Stagnation. Hiermit verbinden sich Fragen nach der eigenen Nachkommenschaft. Eine konstruktive Verarbeitung sieht der Autor in der Entscheidung für die Elternschaft. Hier besteht für die Erwachsenen die Notwendigkeit des Verzichts auf die eigene spontane Bedürfnisbefriedigung. Die krisenhafte Verarbeitung dieses Konflikts besteht darin, die Elternschaft aufzuschieben und im Extremfall dann kinderlos zu bleiben. Im späten Erwachsenenalter angesiedelt ist der Konflikt zwischen Ich-Integration und Verzweiflung. Mit der Ich-Integration beschreibt Erikson das Akzeptieren der eigenen biographischen Erfahrungen, d.h., sich mit den Erfolgen und Misserfolgen zu arrangieren und diese als Teil in seine Identität zu integrieren. In der fehlenden Akzeptanz der eigenen Lebenserfahrungen und deren individuellen und sozialen Konsequenzen liegt für Erikson die Grundlage für Verzweiflung. Diese kann sich im individuellen Erleben zuspitzen, da in dieser Zeit bereits der körperliche Verfall und die Unumkehrbarkeit zahlreicher biographischer Entscheidungen erlebt werden.4

3 4

Vgl. Erikson, Insight and responsibility. Vgl. Berk, Entwicklungspsychologie.

Inklusion im Erwachsenenalter

231

Mit dem Durchlaufen jedes Stadiums sind spezifische Aufgaben verbunden, die der Erwachsene zu lösen hat. Einen deskriptiven Zugang liefert das Modell der Entwicklungsaufgaben von Havighurst. Der Autor will damit die Integration der körperlichen, psychischen und sozialen Entwicklung und der für die jeweiligen Altersabschnitte bestehenden gesellschaftlichen Erwartungen beschreiben. Dieses erstmalig 1972 formulierte Konzept wurde als entwicklungspsychologischer Orientierungsrahmen für Erzieher_innen in den USA entwickelt, um alterstypische gesellschaftliche Anforderungen und soziale Erwartungen zu beschreiben. Dreher und Dreher haben dieses Konzept anhand von Befragungen von Jugendlichen in Deutschland erstmalig adaptiert und empirisch beforscht.5 Entwicklungsaufgaben konkretisieren sich im Spannungsfeld zwischen individuellen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Anforderungen. Das Konzept der Entwicklungsaufgaben benennt in einer Generation typische biographische Zeitpunkte, Zeitspannen und -verläufe (z.B. Partnerwahl, Geburt des ersten Kindes), die die Anschlussfähigkeit einer Person begünstigen bzw. erschweren. Sie bilden einen normativen Orientierungsrahmen, der jeweils kultur- und generationsabhängig ist. Zentrale Entwicklungsaufgaben im jungen und mittleren Erwachsenenalter:6 „Junges Erwachsenenalter Lebenspartner finden Das Zusammenleben mit Partner lernen Gründung einer Familie Kinder aufziehen Ein Zuhause für die Familie schaffen Einstieg in den Beruf Sorge für das Gemeinwohl Aufbau eines gemeinsamen Freundeskreises (mit Lebenspartner) Mittleres Erwachsenenalter Körperliche Veränderungen des mittleren Erwachsenenalters akzeptieren und sich daran anpassen Befriedigende Leistung im Beruf erreichen und aufrechterhalten Eine dem hohen Alter angemessene Beziehung zum eigenen Lebensalter aufbauen Den heranwachsenden Kindern helfen, verantwortungsbewusste und glückliche Erwachsene zu werden

5

Vgl. Dreher/Dreher, Wahrnehmung. Havighurst, Developmental tasks, zitiert nach Wilkening/Freund/Martin, Entwicklungspsychologie, 82. 6

232

H.-J. Balz/K. Römisch/M. Weißenberg/K.-U. Wiggers

Eine Beziehung zum Ehepartner als eigenständigem Mensch aufbauen und aufrechterhalten Eine erwachsene Verantwortlichkeit im sozialen und gesellschaftlichen Bereich entwickeln Freizeitinteressen und Hobbys aufbauen“.

Von der Meisterung der Entwicklungsaufgaben hängt u.a. auch ab, ob eine Person sich in seiner individuellen Entwicklung eher „on time“, also im normorientierten Bereich, oder aber „off time“ befindet. Diese Zuordnung geht auf das von Neugarten formulierte Modell der „social clock“7 zurück, einer sozialen Uhr, die den Lebenslauf strukturiert. Danach führt die Verletzung der sozialen Norm zu einer sozialen Missbilligung. Auch Freund u. a. belegen in ihrer Studie, dass weiterhin eine vergleichsweise große Übereinstimmung in den sozialen Erwartungen besteht.8 Kritisiert wurde an der ursprünglichen Formulierung der Entwicklungsaufgaben, dass diese eine starke Orientierung an allgemeinen Standards und Normen der amerikanischen Mittelschicht aufweisen. Auch berücksichtige sie zu wenig die jeweiligen kulturellen und gesellschaftlichen Einflüsse und thematisiere nur ungenügend die interindividuellen Unterschiede, d.h., sie beschreibe die Entwicklungsaufgaben quasi als Entwicklungsnorm, welche dem Einzelnen einen nur eingeschränkten Spielraum lässt.9 Dennoch wirken die Entwicklungsaufgaben spätestens im Zusammenhang mit biologischen Veränderungen (z.B. körperliche Abbauprozesse, Menopause) und begrenzen damit die individuellen Optionen für die Familienplanung und berufliche Entwicklungsperspektiven. 2.2

Veränderungen des Erwachsenenalters in der modernen Wissensgesellschaft

In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Tendenz zu beobachten, dass normative Vorgaben für die einzelne Person weniger verbindlich werden und die zeitliche Schwankungsbreite der einzelnen Entwicklungsschritte größer wird (z.B. Zeitpunkt der durchschnittlichen Heirat, Heiratshäufigkeit, Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes). Es kommt zu einer Destandardisierung von Lebensläufen, d.h., es erfolgen durch die Gesellschaft, die Ursprungsfamilie, den Freundes- und Bekanntenkreis weniger Vorgaben (Gebote und Verbote) hinsichtlich

7

Vgl. Neugarten, Aging process. Vgl. Freund et al., Psychological consequences. 9 Vgl. auch Berk, Entwicklungspsychologie, 714f. 8

Inklusion im Erwachsenenalter

233

der Lebensführung, der Ausgestaltung von Familienleben, von Arbeit und Freizeit. Die Destandardisierung von Lebensläufen wird dabei durch eine vergrößerte statusbezogene und geographische Mobilität verursacht, die veränderten Arbeitsmarkterfordernisse, den zunehmenden Frauenanteil bei höherer Bildung, um nur einige wichtige Ursachenfaktoren zu nennen. Die Heterogenität der biographischen Entwicklungsverläufe erklären Wilkening et al. darüber hinaus mit der im Erwachsenenalter weiter bestehenden Veränderbarkeit von Fähigkeiten und Fertigkeiten durch Übung, biologische und andere externe Einflüsse (Plastizität; z.B. Übungseffekte durch spezifische berufliche Anforderungen) und der Tatsache, dass die mit den Veränderungen im Erwachsenenalter verbundenen Konsequenzen teilweise vielfältige Auswirkungen haben (Multifunktionalität; z.B. über die Elternschaft neu entstehende Kontakte zu anderen Eltern).10 Erwachsene sind in vielfältige soziale Kontexte eingebunden. Entsprechend der vielfältigen Anforderungen bilden sich verschiedene Teile der Persönlichkeit heraus (Berufs-, Familien-, Geschlechteridentität u.a.), von Keupp et al. als „Patchwork-Identität“ beschrieben.11 Dies erschwert zusehends eine widerspruchsfreie Identitätsbildung und erfordert häufig eine Neudefinition von persönlichen Wertigkeiten und Zielen.12 Parallel zu den gesellschaftlichen Einflüssen, die eine Destandardisierung der Entwicklungsverläufe begünstigen, nehmen Erwachsene ihr Leben zunehmend selbst als eine konstruktive Gestaltungsaufgabe wahr. So findet sich beispielsweise im Berufsleben ein verstärktes Streben nach Autonomie, Selbstverwirklichung, Sinnhaftigkeit und nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf.13 Autonomie lässt sich als ein Gefühl, ein eigenständig handelndes Individuum zu sein, beschreiben.14 Autonomie setzt das Vorliegen von Wahlmöglichkeiten, das Bewusstsein darüber und das Explorieren (Ausprobieren, besonders bedeutsam im Jugendalter) voraus. Erst durch dieses Explorieren können sich persönliche Entscheidungskriterien herauskristallisieren. Selbstbestimmtheit setzt eine Wahlfreiheit voraus, knüpft an einem individuellen Handlungsspielraum an und braucht eine Zurücknahme bzw. Verringerung der äußeren Kontrolle (durch engste Bezugspersonen). Auch benötigt es die Handlungskompetenz des Individuums zur Ausführung der gewünschten Tätigkeiten. 10

Vgl. Wilkening et al., Entwicklungspsychologie, 82f. Vgl. Keupp et al., Identitätskonstruktionen. 12 Vgl. auch Keupp, Wie leben Menschen? 13 Vgl. Collatz/Gudat, Work-Life-Balance. 14 Vgl. Berk, Entwicklungspsychologie, 546. 11

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Baltes et al. beschreiben die Veränderungen im Lebenslauf als eine Gewinn-Verlust-Balance, d.h. jede Entscheidungsmöglichkeit im Lebenslauf bedeutet auch eine Entscheidungsnotwendigkeit und führt dazu, dass sich die nicht gewählten Optionen verschließen.15So entscheidet sich beispielsweise eine Frau Mitte 30 für eine leitende Berufsposition in einem Betrieb. Dies führt jedoch zu einer erhöhten Arbeitsbelastung und evtl. auch zum Aufschieben des Kinderwunsches. Oder wenn ein junger Mensch sich für einen Studienweg entscheidet, so strebt er nach einem höheren Bildungsabschluss, nimmt damit im Vergleich zu berufstätigen Gleichaltrigen jedoch eine schlechtere finanzielle Situation und den Aufschub von Konsumwünschen hin. Eine weitere Veränderung im Lebenslauf in modernen Wissensgesellschaften besteht darin, dass sich neue Übergangsphasen zwischen den Altersabschnitten herausbilden. So finden wir eine zeitliche Vorverlagerung der Pubertät (körperliche Akzeleration) bei gleichzeitig verlängerter Abhängigkeit von den finanziellen Zuschüssen der Eltern (aufgrund verlängerter Schul- und Berufsausbildungszeiten). Arnett bezeichnet dies als aufkommendes Erwachsenenalter („emerging adulthood“), eine Übergangsphase zwischen Jugend- und Erwachsenenalter.16 Hier sei noch auf die veränderten Lebensformen im Erwachsenenalter neben der traditionellen bürgerlichen Kleinfamilie verwiesen. Es zeigt sich eine zunehmende Bedeutung von: – nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, – gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, – Wohngemeinschaften, – Single-Lebensformen und – Patchwork-Familien. Aufgrund seiner biographischen Bedeutung werden wir uns in den folgenden Ausführungen auf das frühe und mittlere Erwachsenenalter konzentrieren. Die zentrale Erkenntnisfrage ist dabei, wie sich die Voraussetzungen für das Durchlaufen der Entwicklungsaufgaben beim Vorliegen von individuellen Beeinträchtigungen auswirken und welche Strukturen und Angebote die soziale Teilhabe in den zentralen Feldern der Arbeit und des Wohnens fördern.

15 16

Vgl. Baltes et al., Life span theory. Vgl. Arnett, Emerging adulthood.

Inklusion im Erwachsenenalter

2.3

235

Biographische Herausforderungen für Menschen mit Behinderungen

Das Erwachsenenalter ist untrennbar mit der Stärkung der Autonomie und Selbstbestimmung verbunden. Hier sind Aspekte der persönlichen Gewissheit über die persönliche Einzigartigkeit und die Sicherheit, diese auch entfalten zu können, angesprochen. Wirklich erleben lässt sich dies für den Menschen jedoch nur, wenn die äußeren Voraussetzungen (Ermöglichungsbedingungen) und die Handlungskompetenz zur Umsetzung eigener Wünsche vorliegen. Wir gehen davon aus, dass Menschen mit Behinderungen dem Grunde nach mit identischen Entwicklungsaufgaben konfrontiert sind wie Menschen ohne Behinderungen. Dies lässt sich entwicklungspsychologisch belegen; auch stützt sich der Capability Approach von Martha Nussbaum17 auf diese Annahme.18 Wichtig erscheint eine Analyse der besonderen biographischen Anforderungen, die sich aus der vorliegenden Behinderung im sozialen Zusammenleben ergeben. Im Übergang zwischen Jugend- und Erwachsenenalter spielt das Erprobungs- und Explorationsverhalten eine besondere Rolle. Es ist entscheidend von der elterlichen Einflussnahme und der Rücknahme von Kontrolle und Behütung abhängig, ob Jugendliche mit Behinderungen autonome Erfahrungen machen und Sozialkontakte außerhalb der Ursprungsfamilie wahrnehmen können. Insofern sind bei dem Erwachsenwerden immer auch die Herkunftssysteme und deren Fähigkeit zur Transformation mitzudenken. Nur wenn die jungen Menschen Wünsche und Träume entwickeln und im Sinne der Selbstbestimmung eigene Wege suchen, erproben und gehen können, wird der Ablösungsprozess gelingen. Um die Eltern hierbei zu unterstützen, ist ein vertrauensvolles Beratungssetting von besonderer Bedeutung.19 Eine spezifische Problematik zeigt sich für Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf. Ihre Lebensentwürfe sind meist durch stärkere gesellschaftliche Begrenzungen und in der Art und im Umfang größeren Assistenzbedarf gekennzeichnet. Ihnen wird von der Umwelt häufig der Zugang zu Bildungs- und Arbeitssystemen verwehrt. Auch ergeben sich Erfordernisse für die Lebensgestaltung, die das soziale System nicht in den alltagsgewohnten Mustern und Abläufen (von Interaktion und Kommunikation) fortfahren lässt, eine zusätzliche Quelle von Umstellungs- und Kreativitätsanforderung.

17

Vgl. Nussbaum, Gerechtigkeit. Vgl. auch den Beitrag von Sigrid Graumann in diesem Band. 19 Vgl. Römisch, Lebensentwürfe. 18

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Die Lebensläufe behinderter Menschen sind immer noch stark institutionalisiert. Die behindertenpolitischen und -pädagogischen Entwicklungen der letzten Jahre führten zwar dazu, dass sich die stark an den Institutionen der Behindertenarbeit ausgerichteten Lebensläufe inzwischen wandeln und größere Möglichkeiten individueller Lebensführung bestehen. Hiermit geht jedoch auch das Erfordernis einher, das Leben zu gestalten und die Optionen in Lebenslauf selbstbestimmt und eigenverantwortlich zu planen. Visionär betrachtet, haben in einer inklusiven Gesellschaft alle Menschen das Recht, ihren Lebensplan zu entwickeln und dafür die Unterstützung zu bekommen, die sie benötigen.20 Bezogen auf die hier angesprochenen Lebensbereiche haben alle Menschen, unabhängig davon, ob sie eine Beeinträchtigung haben oder nicht und wie stark die Beeinträchtigung ist, das Recht auf eine unabhängige Lebensführung, was einschließt, sich den Wohnort und Wohnpartner_innen aussuchen zu können.21 Hieraus ergibt sich also in Zukunft die Notwendigkeit, die Angebotsstrukturen radikal umzubauen und noch stärker als bisher Gemeindenähe und Sozialraumorientierung zu berücksichtigen. Menschen mit Behinderungen haben das uneingeschränkte Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen,22 sodass ausreichend Angebote zur Begleiteten Elternschaft aufgebaut werden müssen. Die größte Herausforderung ergibt sich sicherlich aus dem Recht, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, und der Forderung nach einem offenen inklusiven Arbeitsmarkt.23 Die sich hieraus ergebende Chance auf eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt erfordert innovative Ideen, wie Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt in einem sehr leistungsorientierten Sektor an Arbeitsprozessen teilhaben können. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Aufrechterhaltung von Sonderwelten nicht konform ist mit der UN BRK und hierfür zukünftig Alternativen geschaffen werden müssen. Generell ist es wichtig, dass alle Menschen Lebensentwürfe verfolgen können, die „auf der Basis eines großen Erfahrungsschatzes und mit dem Wissen alternativer Lebensmodelle entwickelt werden. Die jungen Frauen und Männer müssen entsprechende Kompetenzen erlernen und festigen sowie die Chance bekommen, frei und informiert Lebenslaufoptionen abzuwägen. Dies entspräche den Forderungen nach Selbstbestimmung und Teilhabe.“24

20

Vgl. Balz/Benz/Kuhlmann, Soziale Inklusion. Art. 19 UN BRK. 22 Art. 23 UN BRK. 23 Art. 27 UN BRK. 24 Römisch, Lebensentwürfe, 195. 21

Inklusion im Erwachsenenalter

237

Es ist also zwingend erforderlich, Menschen die Kompetenzen zu vermitteln, eigene Entscheidungen zu treffen oder Möglichkeiten der unterstützten Entscheidungsfindung zu entwickeln, um die derzeit gängige Praxis der stellvertretenden Entscheidung durch Eltern, gesetzliche Betreuer_innen oder andere Betreuungspersonen abzulösen.25 Das Recht, eigene Entscheidungen zu treffen, und damit einhergehend auch das Recht, die falsche Entscheidung zu treffen, was unweigerlich zum erwachsenen Leben dazugehört, muss allen Menschen zugestanden werden. Da Bildung und Beruf die Basis für gleichberechtigte soziale Teilhabe bieten, möchten wir im Folgenden auf Fragen der Unterstützung von Menschen auf dem Weg in das Arbeitsleben eingehen. 3

Bestandsaufnahme

3.1

Bildung und Arbeit

3.1.1 Situation auf dem Arbeitsmarkt Die Herausforderungen durch Inklusion im Erwachsenenalter werden insbesondere in den Bereichen Bildung und Arbeit sichtbar. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen mit Behinderungen dem Grunde nach mit identischen Entwicklungsaufgaben konfrontiert sind und diese durchlaufen müssen, wie Menschen ohne Behinderungen. „Für behinderte Menschen ist es wie für alle anderen von hoher Bedeutung, sich selbständig durch eigene Arbeit ihren Lebensunterhalt zu sichern. Sie wollen ein normales Leben führen, indem sie die gleichen Chancen und Rechte in Bezug auf Ausbildung und Berufstätigkeit haben. Über die Existenzsicherung hinaus ermöglicht ihnen die Eingliederung ins Erwerbsleben aber auch, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben und dieses mitzugestalten, indem sie ihre Bedürfnisse und Anschauungen einbringen. Neben der finanziellen Absicherung wünschen sich Menschen mit Behinderungen auch, sich durch einen Beruf verwirklichen zu können und eine erfüllende befriedigende Tätigkeit auszuüben.“26

Deutschland verfügt über eine Reihe von gesetzlichen Regelungen, Beratungs-, Berufsbildungs- und Eingliederungsmaßnahmen, um die Arbeitsmarktsituation behinderter Menschen zu verbessern. So sind beispielsweise alle Betriebe ab 20 Mitarbeiter_innen verpflichtet, 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Personen zu be25 26

Art. 12 UN BRK. Arbeit und Behinderung, Bedeutung des Arbeitsplatzes.

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setzen. Erfüllen sie dies nicht, müssen sie eine Ausgleichsabgabe zahlen, was aber die Pflicht zur Beschäftigung nicht aufhebt. Die durchschnittliche Beschäftigungsquote lag 2012 bei 4,6 Prozent, wobei der öffentliche Dienst die Quote mit 6,6 Prozent eher übererfüllt, die Privatwirtschaft mit 4,1 Prozent jedoch darunter liegt.27 Die Ausgleichsabgabe, die die Betriebe leisten müssen, wird wiederum zur Finanzierung des Systems der beruflichen Rehabilitation verwendet. Bildlich gesprochen beißt sich damit die Katze in den Schwanz, da zwar die Ausgleichsabgabe der Forderung nach Erhöhung der Erwerbsquote behinderter Menschen Nachdruck verleihen soll, andererseits ist die Bundesregierung aber auf die Zahlungen der Ausgleichsabgabe zur Finanzierung von Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation angewiesen. Menschen mit Behinderungen sind, obwohl das System der beruflichen Rehabilitation in Deutschland sehr komplex und vielschichtig ist, immer noch deutlich seltener erwerbstätig als nichtbehinderte Menschen.28 Die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen lag 2012 bei 14,8 Prozent im Gegensatz zu 7,9 Prozent Arbeitslosigkeit bei nichtbehinderten Personen.29 Auch die Erwerbsquote ist deutlich niedriger als bei nichtbehinderten Personen, ca. 52 Prozent der schwerbehinderten im Vergleich zu 79 Prozent der nichtbehinderten Personen.30 Es gibt zudem noch Personengruppen, die ganz vom Allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen werden, insbesondere diejenigen, die in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) tätig sind, also vor allem Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen, die zwar beschäftigt, aber nicht im eigentlichen Sinne sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Es gibt noch einen Personenkreis, der nicht nur vom Allgemeinen Arbeitsmarkt, sondern auch von der Teilhabe in den WfbM ausgeschlossen wird. Ursächlich hierfür ist die gesetzliche Regelung des § 136 Abs. 2 SGB IX, wonach der Zugang zum Arbeitsbereich der WfbM daran gebunden ist, ein (nicht definiertes) „Mindestmaß wirtschaftlicher verwertbarer Arbeitsleistung“ erbringen zu können. Sofern „Werkstattfähigkeit“ scheinbar nicht vorliegt, folgt die Überleitung in sogenannte „tagesstrukturierende Angebote“ nach § 53 ff. SGB XII (Förderstätten u.Ä.). Hier sehen die Autor_innen, dass die Forderungen der UN BRK noch lange nicht erfüllt sind. Die folgenden Ausführungen skizzieren das System der beruflichen Rehabilitation in der Bundesrepublik. Der Bereich Bildung wird im 27

Vgl. BIH, Jahresbericht, 15. Vgl. BMAS, Teilhabebericht, 131ff. 29 Vgl. Antidiskriminierungsstelle, Zugang zum Arbeitsmarkt, 22. 30 Vgl. Pfaff et al., Lebenslagen, 236. 28

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Beitrag fokussiert auf den Teilaspekt beruflicher Bildung, da im bestehenden System erwachsenen Menschen mit erheblichen Behinderungen im Regelfall der Zugang zu schulischen Bildungseinrichtungen nicht möglich ist bzw. in den meisten Rehabilitationsfällen auch nicht angeraten erscheint. 3.1.2

Berufliche Bildung und Arbeit im System der Eingliederungshilfe Die Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen hat der Gesetzgeber im Neunten Sozialgesetzbuch verankert. Demnach erhalten „behinderte oder von Behinderung bedrohte Menschen […] Leistungen […], um ihre Selbstbestimmung und gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu fördern, Benachteiligungen zu vermeiden oder ihnen entgegenzuwirken“.31

Eine Behinderung liegt vor, wenn eine körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder die seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und dadurch die Teilhabemöglichkeit beeinträchtigt ist.32 Hier hat der Gesetzgeber die Abweichung vom typischen Lebensalter als definitorisches Kriterium eingebracht. Behinderung steht demnach immer auch im Kontext der lebensalterspezifischen Entwicklung. Um Menschen mit Behinderungen einen Zugang zu bzw. Rückgang in den Allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen, wurden verschiedene übergangsfördernde Instrumentarien eingerichtet (Integrationsprojekte, Integrationsfachdienste, Zuverdienstprojekte etc.). Die folgende Aufzählung bietet dazu einen Überblick: – Angebote der Agentur für Arbeit: Unterstützte Beschäftigung, Berufsbildungswerk, Reha-bvB – Leistungen der Integrationsämter: Beschäftigung Allgemeiner Arbeitsmarkt mit intensiver Unterstützung (Arbeitsassistenz/Integrationsprojekte, Integrationsfachdienste) – Leistung der Eingliederungshilfe: Werkstätten für behinderte Menschen, Zuverdienstprojekte

31 32

§ 1 SGB IX. § 2 Abs. 1 SGB IX.

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Leistungen zur beruflichen Rehabilitation werden für behinderte Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung dem Allgemeinen Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehen, insbesondere in WfbM erbracht. 3.1.3 Leistungen zur beruflichen Rehabilitation in WfbM Um das Recht auf berufliche Teilhabe auch für Menschen mit Behinderungen umsetzen zu können, wurden in den 1960er Jahren die WfbM eingerichtet, die in § 136 SBG IX gesetzlich verankert wurden. WfbM bieten heute für mehr 300.000 Menschen mit Behinderungen Beschäftigung und Arbeit. WfbM gestalten Arbeitsprozesse derart, dass sie auch von Menschen mit Behinderungen mehr als drei Stunden täglich durchgeführt werden können. In der Regel (rund 80 Prozent) arbeiten die behinderten Beschäftigten in WfbM in Vollzeit zwischen 35 und 39 Stunden wöchentlich. Sie erhalten zumeist Grundsicherungsleistungen oder eine Erwerbsminderungsrente und ein Arbeitsentgelt aus den Produktionserlösen der Werkstätten. Zum Personenkreis des § 136 Abs. 1 Satz 2 SGB IX zählen Menschen, die faktisch voll erwerbsgemindert sind i.S.d. § 43 Abs. 2 SGB VI. Voll erwerbsgemindert sind (demnach) Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des Allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Nicht erwerbsfähig sind i.S.d. § 8 Abs. 1 SGB II.: „Erwerbsfähig ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des Allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein.“

Sowohl im SGB II (Grundsicherung für Arbeitssuchende) als auch im SGB VI (Gesetzliche Rentenversicherung) hat der Gesetzgeber die Dreistundenregelung eingesetzt. Wer dem Allgemeinen Arbeitsmarkt aufgrund von Behinderung weniger als drei Stunden täglich zur Verfügung steht, kann einen Anspruch auf eine Beschäftigung in einer WfbM geltend machen. Zu unterscheiden sind in den WfbM das Eingangsverfahren (max. drei Monate) und der Berufsbildungsbereich (max. 24 Monate), die eine Eignungsfeststellung und Qualifizierung zum Ziel haben, und der Arbeitsbereich, dem nachfolgend dauerhaften Beschäftigungsbereich in der WfbM. In WfbM arbeiten behinderte Beschäftigte mit nicht behinderten Beschäftigten zusammen, die als Gruppenleiter_innen, Mitarbeiter_innen des sozialen Dienstes, Arbeitsvorbereiter_innen, Verwaltungsmitarbeiter_innen den organisatorischen Rahmen stellen. In der Re-

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gel arbeiten auch die Gruppenleiter_innen in den Produktionsprozessen aktiv mit und tragen damit zu den Produktionserlösen bei. Bei der Betrachtung von Zu- und Abgängen von behinderten Beschäftigten ist festzustellen, dass nur wenigen Menschen ein Wechsel in den Allgemeinen Arbeitsmarkt dauerhaft gelingt. Nur rund 0,4 Prozent der Beschäftigten wechseln zu einem späteren Zeitpunkt in ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Separation setzt dabei schon früh ein: Mit dem Eintritt in eine Förderschule ist für viele Schüler_innen der Weg in eine Werkstattbeschäftigung vorgezeichnet. Zwar gelingt einigen Schüler_innen die Teilnahme an Maßnahmen wie der Unterstützten Beschäftigung, einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme für Rehabilitanden etc., nur wenigen gelingt dann aber eine dauerhafte Einmündung in ein Beschäftigungsverhältnis auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt. WfbM-Beschäftigte können auch außerhalb der Werkstatt im Rahmen eines Außenarbeitsplatzes in Betrieben des Allgemeinen Arbeitsmarktes beschäftigt werden. Dazu schließt die WfbM mit dem Betrieb einen entsprechenden Vertrag, in dem sich der Betrieb zur monatlichen Zahlung eines Entgeltes an die WfbM verpflichtet. Die WfbM begleitet den Außenarbeitsplatz in dem jeweiligen Betrieb und gestaltet den Arbeitsplatz entsprechend den Bedürfnissen des Menschen mit Behinderungen. 3.1.4

Herausforderungen des Erwachsenenalters im Kontext von WfbM Betrachtet man die Entwicklungsaufgaben des Erwachsenalters33 im Kontext der Rahmenbedingungen einer WfbM, so wird deutlich, dass WfbM sowohl günstige als auch hinderliche Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Sie bieten den Beschäftigten zunächst einmal eine im besten Fall sinnstiftende Tätigkeit und einen festen Arbeitsplatz. Der Berufseinstieg ist in WfbM ein geregeltes Verfahren und mündet im Regelfall in ein Dauerbeschäftigungsverhältnis. Damit einher gehen auch verbindliche monatliche Zahlungen an die Beschäftigten, sodass mit den, wenn auch bescheidenen, finanziellen Mitteln verbindlich geplant und ggf. ein eigener Hausstand eingerichtet werden kann. Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass die Verdienstmöglichkeiten in einer WfbM ausgesprochen gering sind und die Menschen in der Regel zusätzlich auf Grundsicherung angewiesen sind. Hinzu kommt, dass Menschen, die Eingliederungshilfe erhalten, keine größeren Beträge ansparen dürfen, sodass größere private Anschaffungen kaum möglich sind. 33

Siehe Abschnitt II.1.

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Schwierig ist außerdem der Spagat zwischen pädagogischem und wirtschaftlichem Auftrag, den die WfbM zu leisten haben. Die allgemeinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die Konkurrenzen aus den Billiglohnländern führen zu erschwerten Auftragslagen in den WfbM. Die Tätigkeiten sind zudem stark eingeschränkt, was nicht allen Beschäftigten ein wirkliches Wahlrecht ermöglicht und nicht allen Kompetenzen der Beschäftigten gerecht wird. Weiterhin ist in Bezug auf das Privatleben festzustellen, dass sich die sozialen Bezüge innerhalb der Peers in den Werkstätten vollziehen; dabei werden jedoch selten Freundschaften und Beziehungen zwischen behinderten und nicht behinderten Beschäftigten eingegangen. Da auch die Formen und Arten von Behinderung sich innerhalb einer WfbM häufig deutlich unterscheiden, finden auch hier Selektionsprozesse statt. Andererseits ermöglicht der wechselseitige Kontakt von Menschen mit Behinderungen, dass Freundschaften und Beziehungen bei ähnlicher Interessenlage eingegangen werden. Dies kann bei der Findung von Partnerschaften hilfreich sein. Auch wenn die Bundesregierung der Meinung ist, dass WfbM auf einem inklusiven Arbeitsmarkt ihre Berechtigung haben, bleibt es notwendig, ihre segregierende Wirkung herauszustellen. WfbM bieten den Beschäftigten zwar dauerhafte Arbeitsplätze, diese lassen sich mit Arbeitsplätzen auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt jedoch nicht vergleichen. Bei der Staatenprüfung des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde Deutschland in den Concluding Observations empfohlen, diese schrittweise abzuschaffen, da es höchst fraglich ist, ob diese mit der UN BRK vereinbar sind. WfbM passen als Rehabilitationseinrichtungen Arbeitsplätze den Bedürfnissen der behinderten Beschäftigten an und stellen Arbeitsprozesse gezielt auf die jeweiligen Bedürfnisse um. Es gilt, vermehrt Anstrengungen zu unternehmen, um auch auf dem Allgemeinen Arbeitsmarkt Rahmenbedingungen für die Beschäftigung behinderter Menschen zu schaffen. Die zunehmende Zahl von betriebsintegrierten Arbeitsplätzen von WfbM zeigt, dass dafür Wege gefunden werden können. WfbM sind Experten für die Anpassung von Arbeitsprozessen und können diese Fachexpertise auch auf Arbeitsplätze im Allgemeinen Arbeitsmarkt übertragen. Im Hinblick auf das Wunschund Wahlrecht und den Anspruch auf eine unabhängige Lebensführung sind die Bestrebungen zu erhöhen, mehr Arbeitsmöglichkeiten im Allgemeinen Arbeitsmarkt einzurichten.

Inklusion im Erwachsenenalter

3.2

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Privatleben

Im Folgenden geht es um biographische Entwicklungsanforderungen im Bereich des Privatlebens. Die konkret angesprochenen Entwicklungsaufgaben beziehen sich auf die Loslösung vom Elternhaus, auf Partnerschaft und Nachkommenschaft. Beschrieben werden diese Fragen exemplarisch für Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. 3.2.1 Loslösung vom Elternhaus und Auszug Bei der Entwicklung von Eigenständigkeit den eigenen Eltern gegenüber kann es für behinderte Menschen zu besonderen Erschwernissen kommen. Hier spielt einerseits die behinderungsbedingte Abhängigkeit eine Rolle, andererseits aber besonders auch die sozial bzw. gesellschaftlich hergestellte Abhängigkeit.34 Vermutlich ziehen Menschen mit (kognitiven) Beeinträchtigungen deswegen erst später von zu Hause aus als nicht behinderte Menschen, wobei die Zahlen hierzu nicht ganz eindeutig sind. Laut verschiedener Studien leben zwischen 40 und 60 Prozent der erwachsenen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen noch im Elternhaus.35 Da auch nicht behinderte Jugendliche nicht direkt mit Vollendung des 18. Lebensjahrs ausziehen, kann die Wohnform für die Jüngeren wohl grundsätzlich als angemessen gelten. Kritisch zu betrachten sind jedoch die Familienstrukturen, in denen die behinderten Söhne und Töchter bis ins hohe Erwachsenenalter leben, da das Risiko besteht, dass sie hier eine erhöhte Fremdbestimmung in den Bereichen Freizeit, Sexualität und Zukunftsplanung erleben36 und das Wahlrecht auf die Wohnform und die Wohnpartner_innen nicht erfüllt ist.37 Die Wohnlandschaft für den Personenkreis, der nicht mehr im eigenen Elternhaus lebt, wird immer noch durch stationäre Einrichtungen dominiert. Das bedeutet größere Wohnheime bis hin zu Komplexeinrichtungen, obwohl seit einigen Jahren der generelle Grundsatz in § 13 SGB XII verankert ist, ambulanten und teilstationären Leistungen gegenüber den vollstationären Leistungen den Vorrang zu geben. In den letzten Jahren sind die Zahlen der Menschen, die im ambulant betreuten Wohnen leben, deutlich gestiegen. Der Teilhabebericht weist einen deutlichen Anstieg der Anzahl der Empfänger_innen von Hilfen zu einem selbstbestimmten Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten in den Jahren 2006 bis 2010 aus, der besonders stark im Bereich der ambulant betreuten Hilfen in einer eigenen Wohnung aus34

Vgl. Dederich, Abhängigkeit, 143. Vgl. Stamm, Erwachsene im Elternhaus, 9; Schäfers/Wansing, FUH, 123. 36 Vgl. Seifert, Wohnen, 378. 37 Art. 19 UN-BRK. 35

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fiel. Innerhalb von vier Jahren hat sich deren Anzahl von knapp 67.000 im Jahr 2006 auf fast 128.000 im Jahr 2010 nahezu verdoppelt. Aber auch die Zahlen der Menschen im stationären Wohnen steigen kontinuierlich an. Insofern liegt hier kein zwingender Beweis für eine kontinuierliche Ambulantisierung vor.38 Zudem kann man davon ausgehen, dass insbesondere Menschen mit psychischen Erkrankungen ambulant betreut werden; Menschen mit kognitiven und körperlichen Beeinträchtigungen hingegen werden weiterhin größtenteils in stationären Einrichtungen betreut.39 Insgesamt lässt sich also vermuten, dass Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen von diesen positiven Entwicklungen des Systems eher ausgeschlossen bleiben.40 Begründet liegt dies insbesondere im sogenannten Mehrkostenvorbehalt. Die Kostenträger finanzieren eine ambulante Sozialhilfeleistung nämlich nur, wenn diese Leistung nicht mit „unverhältnismäßigen Mehrkosten“ gegenüber einer „zumutbaren“ stationären Leistung verbunden ist.41 Das bedeutet, dass die ambulanten Leistungen für Personengruppen mit höheren Unterstützungsbedarfen für die Kostenträger eher unattraktiv erscheinen, weil diese Bedarfe innerhalb von Wohnheimen häufig finanziell kostengünstiger abgedeckt werden können als in individuellen Wohnformen. In diesem Zusammenhang sei dringend auf die Gefahr hingewiesen, dass diese als „Restgruppen in den Institutionen“42 verbleiben, womit ggf. erhebliche Einschränkungen der Lebensqualität einhergehen können. Die meisten Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen leben also immer noch in Wohnformen, die verhältnismäßig wenig Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit ermöglichen. Die Forderung der UN BRK nach der freien Wahl der Wohnform und der Wohnpartner_innen ist nicht für alle Personengruppen erfüllt. Die Wohngruppen entsprechen in der Regel nicht einer selbst gewählten Wohngemeinschaft, sondern werden eher pragmatisch zusammengesetzt. Die Selbstbestimmungsmöglichkeiten werden in den Wohneinrichtungen immer noch durch bestimmte Regeln erschwert, wie Übernachtungsverbote, Alkoholverbote etc. Auch wenn sich die Bedingungen in den letzten Jahren erheblich verbessert haben, verfügen immer noch nicht alle Bewohner_innen über Einzelzimmer, eigene

38

Vgl. BMAS, Teilhabebericht, 315. Vgl. ZPE, Selbständiges Wohnen, 190. 40 Vgl. Fornefeld, Ausschluss, 401. 41 Vgl. § 13 Abs. 1 Satz 3 SGB XII. 42 Dalfert, Parallelgesellschaften, 124. 39

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245

Schlüssel oder die Möglichkeit, sich ihren Zimmernachbarn auszusuchen.43 3.2.2 Partnerschaft und Familie Weitere zentrale Entwicklungsaufgaben im Erwachsenenalter stellen das Finden eines Lebenspartners und die Gründung einer eigenen Familie dar. Diese beiden Entwicklungsaufgaben sind für viele Menschen mit Beeinträchtigungen aufgrund verschiedenster Faktoren erschwert. Behinderte Menschen leben seltener in Partnerschaften als nicht behinderte Menschen, wie der Teilhabebericht deutlich macht.44 Hier ist jedoch anzumerken, dass es sich bei der im Teilhabebericht erfassten Personengruppe insbesondere um die Personen handelt, die einen Schwerbehindertenausweis haben, ansonsten jedoch in der Regel in Privathaushalten leben. Es sind also vielfach Personen, die nicht von Geburt an eine Beeinträchtigung haben und die nicht in Institutionen leben. Es kann davon ausgegangen werden, dass sich die Partnersuche bei Personen mit (kognitiven) Beeinträchtigungen noch deutlich schwieriger gestaltet. Einen Anhaltspunkt liefern die Ergebnisse der Studie zu Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen. Hier wurde deutlich, dass die Frauen mit Beeinträchtigungen, die in Institutionen leben, deutlich seltener in Partnerschaften leben, deutlich seltener verheiratet und häufiger kinderlos im Vergleich zu Frauen in der Allgemeinbevölkerung sind.45 Besonders schwierig gestaltet sich die Entwicklungsaufgabe Gründung einer eigenen Familie. Seit der Einführung des Betreuungsgesetzes, in dem die Sterilisation einwilligungsunfähiger Menschen geregelt wurde, haben die meisten Frauen zwar theoretisch die Möglichkeit, sich selbstbestimmt für oder gegen Kinder zu entscheiden, praktisch werden sie aber durch verschiedenste Maßnahmen immer noch daran gehindert. Dies geschieht durch die teilweise immer noch herrschende pauschale Verhütungspraxis in Einrichtungen. So wurde in der bereits angesprochenen Studie deutlich, dass Frauen mit kognitiven Beeinträchtigungen häufig, auch ohne ihr Wissen, Kontrazeptiva (häufig das 3-Monats-Depot) einnehmen, sogar wenn sie gar keinen Partner haben.46 43

Vgl. BMFSFJ, Frauenstudie Kurzfassung, 38; Jeschke et al., Sexuelle Selbstbestimmung, 237f. 44 Vgl. BMAS, Teilhabebericht, 71. 45 Vgl. BMFSFJ, Frauenstudie, Endbericht, 51. 46 Vgl. BMFSFJ, Frauenstudie Kurzfassung, 40f.; Jeschke et al., Sexuelle Selbstbestimmung, 248.

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Auch sei in diesem Zusammenhang auf die Vorbehalte der Gesellschaft und teilweise auch der Professionellen hingewiesen. Ein immer noch häufig herangezogenes Argument ist die potentielle Behinderung des Kindes.47 Hieran zeigt sich zum einen, dass auch das Fachpersonal nicht immer über ausreichend Wissen verfügt, da Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung nicht zwingend eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Vererbung der Behinderung aufweisen. Man kann eher von einer erhöhten Gefahr des Eintretens einer Entwicklungsverzögerung ausgehen, wenn keine ausreichende Förderung stattfindet.48 Andererseits drückt sich darin sehr deutlich aus, dass Behinderung in unserer Gesellschaft nicht erwünscht ist, was impliziert, dass auch die potentiellen Eltern selbst nicht erwünscht sind. Auch wenn sich immer häufiger Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ihren Kinderwunsch erfüllen, wird immer noch nur ein sehr geringer Teil überhaupt Eltern.49 Leider ist bisher immer noch kein flächendeckendes Unterstützungsangebot vorhanden, obwohl es mittlerweile einige Einrichtungen gibt, die diesen Personenkreis professionell begleiten. Eltern müssen häufig Umzüge in Kauf nehmen, um mit den Kindern weiter zusammenleben zu können und um eine Fremdunterbringung der Kinder zu vermeiden. Nicht nur auf dieser Ebene erfahren Frauen wenig Unterstützung. Auch auf gesetzlicher Ebene werden die Bedürfnisse behinderter Eltern nur wenig berücksichtigt. Trotz der Forderung der UN BRK auf freie Entscheidung über Zeitpunkt und Anzahl von Kindern, also auf das Grundrecht auf selbstbestimmte Familiengründung, sind Menschen mit Beeinträchtigungen weitaus häufiger von staatlichen Eingriffen in die elterliche Sorge betroffen, obwohl der Staat durch den Auftrag zum besonderen Schutz von Familien dazu verpflichtet ist, Familien alle möglichen Mittel zur Aufrechterhaltung des Familienstandes zur Verfügung zu stellen.50 Bis zur Einführung des SGB IX hatten behinderte Eltern in Deutschland keinerlei Rechte.51 Im SGB IX wurde dann aber festgelegt, dass „den besonderen Bedürfnissen behinderter Mütter und Väter bei der Erfüllung ihres Erziehungsauftrages [...] Rechnung getragen“ wird.52 Auch wenn es verschiedene Möglichkeiten für behinderte Eltern gibt, an Hilfsmittel und Leistungen zu gelangen, um ihre Kinder selbstständig zu versorgen, ergeben sich Schwierigkeiten in der Eindeutigkeit der gesetzlichen Bestimmungen. Vor allem sind die Zu47

Vgl. Jeschke et al., Sexuelle Selbstbestimmung, 251. Vgl. Prangenberg, Elternschaft, 39. 49 Vgl. Lenz et al., Familie leben, 29. 50 Vgl. Heinz-Grimm, Sorgerecht, 318. 51 Vgl. Zinsmeister, Diskriminierung, 115. 52 § 9 Abs. 1 Satz 3 SGB IX. 48

Inklusion im Erwachsenenalter

247

ständigkeiten nicht abschließend geklärt.53 Beispielsweise ist nicht eindeutig geregelt, ob nun die Eingliederungshilfe oder die Kinderund Jugendhilfe für die gemeinsame Unterbringung von geistig behinderten Eltern und ihren Kindern zuständig ist.54 4 4.1

Umsetzung Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungsschritte

Derzeit lassen sich in der gesellschaftlichen Debatte und auch sozialpolitisch begrüßenswerte Entwicklungsschritte hin zu einer inklusiveren Gesellschaft erkennen. Die WfbM beispielsweise versuchen durch betriebsintegrierte Arbeitsplätze oder Außenarbeitsplätze Werkstattbeschäftigten die Möglichkeit zu bieten, in einem Betrieb des ersten Arbeitsmarktes einer Tätigkeit unter den Bedingungen eines Werkstattarbeitsplatzes nachzugehen (behinderungsgerechte Arbeitsplatzgestaltung, individualisierte Anleitung, angemessenes Arbeitstempo etc.). Betriebsintegrierte Arbeitsplätze bieten die Möglichkeit, dort zu arbeiten, wo alle arbeiten,55 auch wenn die individuelle Arbeitsleistung eingeschränkt ist. Minderleistungen werden kompensiert. Betriebe geben häufig die Rückmeldung, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen sich positiv auf das Betriebsklima auswirkt. Auch in den Bereichen des Wohnens und des Familienlebens gibt es erhebliche Fortschritte für eine gemeindenahe, unabhängige Lebensführung.56 Konzepte wie die Sozialraumorientierung57 werden auf die Lebenslagen behinderter Menschen übertragen, um die Angebotsstrukturen fortwährend weiterzuentwickeln. Konzepte zur Elternassistenz und Begleiteten Elternschaft werden immer weiter ausgebaut, um Familienleben zu ermöglichen und Artikel 23 UN BRK gerecht zu werden. Um diese positiven Entwicklungsschritte deutlicher zu machen, werden im Folgenden Beispiele guter Praxis aus den Lebensbereichen Arbeit und Privatleben vorgestellt.

53

Vgl. Bieritz-Harder, Gleichstellung, 26ff. Vgl. Zinsmeister, Behinderte Eltern, 170ff. 55 Vgl. Art. 27 UN BRK. 56 Art. 19 UN BRK. 57 Siehe dazu auch den Beitrag von Siegfried Bouws, Christiane Grabe, Stefan Schache und Kristin Sonnenberg in diesem Band. 54

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4.2

Entwicklungsschritte im Bereich von Arbeit und Bildung – Leuchtturmprojekte

4.2.1

Caput Redaktion – Arbeits- und Qualifizierungsangebot für Menschen mit schwersten mehrfachen Behinderungen (Artikel 27 UN BRK) Die Idee für das Lifestyle-Magazin Caput entstand in den Iserlohner Werkstätten aus dem Bedarf heraus, für motorisch stark beeinträchtigte Menschen mit einem hohen Maß an intellektuellen Fähigkeiten anforderungsgerechte Arbeits- und Qualifizierungsangebote zu generieren, die in den Iserlohner Werkstätten tätig waren, die jedoch nicht kognitiv beeinträchtigt sind. Nach der Herausgabe einer werkstattinternen Zeitschrift und eines ersten Buches „Glasknochen sucht Therapiehund – Wie man in Deutschland behindert wird“ entstand die Idee, ein eigenes Magazin zu konzipieren, das von den Redakteuren selbst als „Soziales Reportage- und Lifestyle-Magazin“ beschrieben wird und mittlerweile in einer Auflage von 1.500 Exemplaren 4 Mal jährlich erscheint. Die Redakteure entwickeln gemeinsam mit der Redaktionsleitung selbst die Ideen für die Artikel, recherchieren und schreiben die Artikel. 4.2.2 Medienkompetenz – das Projekt PIKSL (Artikel 9, 19, 21, 27 UN BRK) Ausgehend von der Tatsache, dass Menschen mit geistiger Behinderung bisher wenig oder kaum Zugang zu Internet und neuen Medien haben und diese bisher für diese Gruppe kaum barrierefrei gestaltet sind, möchte das Projekt PIKSL (Personenzentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben) der In der Gemeinde leben gGmbH (IGL) „moderne Informations- und Kommunikationstechnologie für Menschen mit und ohne Behinderung zugänglich machen und weiter entwickeln“.58 Weiterführende Ziele sind hierbei ganz entsprechend der UN BRK die Erhöhung von Teilhabemöglichkeiten, die Reduzierung der Abhängigkeit von professioneller Unterstützung und die Förderung eines selbstbestimmten Lebens. Zentral im Projekt PIKSL ist das PIKSL-Labor in Düsseldorf-Flingern. Hier arbeiten Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam mit Hochschulpartnern am Umgang mit digitalen Barrieren und entwickeln hierfür Lösungen und innovative Ideen.59 Es geht einerseits um den Aufbau von Medienkompetenzen durch Workshops und Schulungen, die im PIKSL-Labor an verschiedene Gruppen wei58 59

Freese/Mayerle, Digitale Teilhabe, 382. Vgl. Freese, Digitale Barrieren, 50.

Inklusion im Erwachsenenalter

249

tergegeben werden, wie z.B. an Seniorengruppen. Andererseits geht es um „interdisziplinäre Forschungs- und Entwicklungsarbeit zum Abbau von Barrieren. Der Kommunikationsort PIKSL-Labor schafft die Schnittstelle zwischen Besuchern und Kooperationspartnern, um stigmatisierungsarme Lösungen nach den Kriterien eines ‚universellen Designs‘ zu erarbeiten.“60

Besonders hervorzuheben ist der Aspekt des Expertentums in eigener Sache. Menschen mit Behinderungen sind hier „Expert_innen im Abbau von Komplexität. Sie verfügen über Erfahrungswissen im kreativen Umgang mit Barrieren und bringen dieses Wissen in die gemeinsame Arbeit mit Fachleuten und Studierenden aus verschiedenen Disziplinen ein, um soziale und technische Innovationen anzustoßen.“61

Ein weiteres Ziel ist, dass „die aktive Beteiligung der Nutzerinnen und Nutzer […] mittelfristig auch finanziell anerkannt werden. Ein Konsortium mit Fachleuten aus Forschung, Entwicklung, Design und Sozialwesen begleitet PIKSL seit Projektbeginn 2010. Das langfristige Ziel ist es, Erkenntnisse aus dem Projekt PIKSL zu nutzen, um damit nachhaltige Geschäftsmodelle für die Behindertenhilfe zu entwickeln.“62

4.2.3

Sozialpolitische Partizipation in WfbM am Beispiel von Werkstatträten (Artikel 21, 29 UN BRK) Die Interessensvertretung von Werkstattbeschäftigten nehmen gewählte Werkstatträte wahr. Ihre Aufgaben, Rechte und Pflichten sind in der Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO) geregelt. In fast allen Bundesländern haben sich Landesarbeitsgemeinschaften der Werkstatträte konstituiert. Die Bundesvereinigung der Werkstatträte (BVWR) vertritt die Interessen von rund 300.000 behinderten Beschäftigten in WfbM und ist damit eine der größten demokratisch legitimierten Selbstvertretungsgremien auf Bundesebene. Thematisch geht es den Werkstatträten um die Ausdehnung von Mitbestimmungsrechten von behinderten Beschäftigten in WfbM und um die politische Auseinandersetzung zu Themen, wie zum Beispiel die Mindestlohngesetzgebung. Die BVWR arbeitete in der AG Bundesteilhabegesetz zur Vorbereitung des angestrebten Bundesteilhabegesetzes mit. 60

Freese, Digitale Barrieren, 51. Freese, Digitale Barrieren, 51. 62 Vgl. www.piksl.net. 61

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4.3

Entwicklungsschritte im Bereich des Privatlebens – Leuchtturmprojekte

4.3.1 Das Appartementhaus Weitmar (Artikel 19 UN BRK) Ein innovatives Wohnkonzept, das den Ansprüchen an ein inklusives Leben auch für Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Beeinträchtigungen gerecht werden möchte, ist das Appartementhaus Bochum-Weitmar. Es wurde in der Zusammenarbeit zwischen der Diakonie Ruhr und dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) entwickelt. Das Wohnprojekt verfolgt das Ziel, Menschen mit sehr hohem Unterstützungsbedarf ein möglichst selbständiges, aber vor allem selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung zu ermöglichen. Mittels moderner Technik (Ambient Assisted Living), wie individuell angepasste Bedienelemente, wird das selbständige Verlassen und Betreten des Hauses und der eigenen Wohnung gesichert. Auch andere Dinge des alltäglichen Lebens, wie Lichtquellen, Rollos, Steckdosen, Fernseher, Audiogeräte etc., werden über ein BUS-System gesteuert.63 Das Appartementhaus verfügt über 16 Wohnungen, die so barrierearm wie möglich gestaltet sind, und liegt mitten im Stadtteil Weitmar in Bochum. Die dort lebenden Menschen bewohnen jeweils allein für sich eine Wohnung und sind eigenständige Mieter_innen. Für die Betreuung steht rund um die Uhr die Diakonie Ruhr zur Verfügung, die Auswahl von ambulanten Pflegediensten können die Mieter_innen selbst treffen. Hierdurch wird es Menschen ermöglicht, in eigenen Wohnungen zu leben, die normalerweise in klassischen stationären Wohnformen betreut werden. 4.3.2

Persönliche Zukunftsplanung und Teilhabebegleitung des Sozialwerks St. Georg (Artikel 19 UN BRK) Ein innovatives Instrument zur individuellen Lebensplanung, die nicht an bestehenden Institutionen ausgerichtet wird, ist das Konzept der Persönlichen Zukunftsplanung.64 „Die persönliche Zukunftsplanung ist eine Planungsmethode, deren Ziel es ist, ausgehend von den Wünschen eines Menschen mit Unterstützungsbedarf, der Hauptperson, ein Bild einer wünschenswerten Zukunft zu entwerfen und Wege zu ihrer Realisierung zu finden. Sie konzentriert sich auf die Fähigkeiten und Stärken der Hauptperson, und anders als bei den gängigen Hilfeplanverfahren handelt es sich um einen von der Hauptperson und ihr nahe stehenden Menschen initiierten längerfristigen Prozess.“65 63

Vgl. Sundermann, Teilhabe. Vgl. z.B. Doose, I want my dream. 65 Lindmeier, Soziale Netzwerke, 101. 64

Inklusion im Erwachsenenalter

251

Neben anderen Methoden ist dabei die persönliche Zukunftskonferenz eines der Kernelemente. Hier überlegt die Person gemeinsam mit einem Unterstützerkreis, wie ihre berufliche und private Zukunft aussehen kann. Hier stehen Wünsche und Träume im Mittelpunkt, der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Es wird aber auch konkret überlegt, wie diese in die Realität umgesetzt werden können. Mit einem ähnlichen Element arbeitet das Sozialwerk St. Georg, ein soziales Dienstleistungsunternehmen für Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung. Diese führten im Rahmen der Umsetzung des Konzepts „Qualität des Lebens“ ein neues Berufsbild ein, nämlich den Teilhabebegleiter. Die Teilhabegleiter_innen arbeiten einrichtungsübergreifend und unterstützen die Klient_innen außerhalb des normalen Betreuungsdienstes dabei, ihre „persönliche Entwicklung und Zukunft selbstbestimmt zu planen und Maßnahmen zur Erreichung der geplanten Ziele aufzustellen.“66 Insbesondere Großeinrichtungen kann das Konzept „Qualität des Lebens“ und die Einführung von Teilhabebegleitung bei innovativen Schritten im Rahmen der Inklusion hilfreich sein. 4

Resümee – eine kritische Einschätzung

Zunehmend wird deutlich, dass die in der Vergangenheit von der Zivilgesellschaft stark separierten Angebote der Eingliederungshilfe die behinderungsbedingten Barrieren nicht aufheben konnten. Behinderung war nur in speziellen Einrichtungen sichtbar, was zu einer zusätzlichen sekundären (Umwelt-)Behinderung führte. Die Gesellschaft war bisher wenig bis gar nicht geübt im Umgang mit behinderten Menschen. Der Blick galt zunächst der Behinderung; Kompetenzen wurden dem behinderten Menschen kaum zugestanden, geschweige denn erkannt. Es bleibt zu hoffen, dass der kontrovers diskutierte Prozess der schulischen Inklusion den Dialog von Menschen mit und ohne Behinderungen fördert und damit Barrieren abbaut. Außerdem lässt sich das Problem des „Underachievement“, einer systematischen Verhinderung von Entwicklungsanforderungen für Menschen mit Behinderungen aufgrund der Schonräume der Behindertenarbeit, nur auf diese Art angehen.67 Der Weg zur Umsetzung der UN BRK ist noch weit, da das System der Eingliederungshilfe behinderter Menschen aus einer Fürsorgementalität erwachsen ist. Diese wird heute an vielen Stellen insbesondere von den Nutzer_innen als bevormundend empfunden. Nicht die 66 67

Sozialwerk St. Georg, Lebe lieber selbstbestimmt, 29. Vgl. Eberhardt/Grüber, Teilhabe in der Kommune.

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gesellschaftliche Teilhabe stand dabei bisher im Vordergrund der Betrachtung der Angebotsentwicklung, sondern der Schutz- und Fürsorgegedanke. Fachleute wussten bisher immer besser, was für den Menschen mit Behinderungen gut ist. Der behinderte Mensch als Experte in eigener Sache ist ein Paradigma, das insbesondere mit der Ratifizierung der UN BRK neu definiert wurde. Kritisch kann in diesem Zusammenhang auch die Interessenlage der Wohlfahrtsverbände im Kontext der Inklusion diskutiert werden. Insbesondere gilt es, kritisch zu fragen, ob die Wohlfahrtsverbände als sich selbst erhalten wollende Systeme die Inklusion im Sinne ihrer Interessen instrumentalisieren und damit wirkliche Inklusion behindern. Eine wirkliche Veränderung der bisherigen Strukturen ließe sich vielleicht über ein Bundesteilhabegeld oder besser noch ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle erwirken, da dies Menschen mit Behinderungen in den Stand versetzt, als vollwertige Kund_innen am Marktgeschehen teilzunehmen. Dies hätte unmittelbaren Einfluss auf das Angebot (z.B. Qualität zu günstigem Preis, flächendeckende Verfügbarkeit). Zentral sind dann auch noch zwingend notwendige gesetzliche Veränderungen, wie die Abschaffung des Mehrkostenvorbehalts, die Klärung der Zuständigkeiten bei der Geburt von Kindern und die Überarbeitung der Konstruktion der Werkstatt(un)fähigkeit. Neben der Zurverfügungstellung von institutionellen Angeboten zur Inklusion braucht es in dem jeweils individuellen Prozess der Teilhabe die persönliche Klärung von Lebenszielen und Bedürfnissen, um eine individuelle Passung zwischen individuellen Erfordernissen und Angeboten einzuschätzen. Von besonderer Wichtigkeit für die Klärung der persönlichen Lebensentwürfe ist die unabhängige personenzentrierte Beratung. Nur so kann an der Klärung der individuellen Bedürfnisse und Lebensziele gearbeitet werden. Neben den Angeboten der Wohlfahrtsverbände ist eine Stärkung der Selbstorganisationskultur der Menschen mit Behinderungen (im Sinne von Empowerment und Selbsthilfe-Kulturen) notwendig, um die Gruppeninteressen in der Öffentlichkeit und im politischen Raum zu vertreten. So müssen Mitwirkungsgremien wie der Klientenrat (für Kunden des Ambulant Betreuten Wohnens) oder die Werkstatträte selbstverständlich sein. Träger sollten sich nicht „anwaltlich für ihre Anvertrauten“ einsetzen, sondern Anwälte bezahlen, die Menschen mit Behinderungen vor Gerichten vertreten. In diesem Zusammenhang ist auch die Rolle der gesetzlichen Betreuer_innen (insbesondere wenn Eltern diese Aufgabe übernehmen) kritisch zu beleuchten, die häufig noch Einfluss auf die alltägliche Lebensführung nehmen, obwohl sie eigentlich nur

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für die rechtliche Vertretung zuständig sind. Immer noch treffen sie Entscheidungen stellvertretend für die behinderten Menschen. Es gilt, dass die unterstützte Entscheidungsfindung selbstverständlich wird. Hier müssen vor allem die Eltern, die häufig die Funktion der gesetzlichen Betreuung übernehmen, aufgeklärt und unterstützt werden. Bei den verstärkten Bemühungen um Inklusion kommt es durch verstärkten Kontakt mit Vielfalt hoffentlich zu einer weiteren Normalisierung des Umgangs mit Behinderungen. In den Schulen und anderen Bildungseinrichtungen verstärkt sich der Kontakt zwischen Kindern mit und ohne Behinderungen, und so nimmt auch das Wissen um verschiedene Beeinträchtigungen in der Bevölkerung zu. Ob dies dann (quasi) automatisch eine größere dauerhafte Kontaktdichte zur Folge haben wird, muss offen bleiben. Studien sind erforderlich, die empirisch erforschen, welche Faktoren zu einem längerfristigen Kontakt von Menschen mit und ohne Behinderungen beitragen. Dieser Wissenszuwachs wirkt sich auch unweigerlich auf die Angebotsstrukturen aus, weil die heranwachsende Generation, die inklusiv beschult wird, sicherlich mit anderen Forderungen an den Arbeitsmarkt und an die private Lebensgestaltung herantreten wird. Große Möglichkeiten bietet natürlich auch der technische Fortschritt. So kann der Einsatz assistiver Technologie zu höherer Autonomie beim Leben und Wohnen im Quartier führen. Es scheint, als gebe es derzeit die Tendenz eines Technologie-Transfers von Reha-Mitteln auf den allgemeinen Markt. So nutzt beispielsweise das E-Bike, von denen es aktuell 1,6 Millionen in Deutschland gibt, die Technologie von E-Rollstühlen. Auch das Internet bietet neue technologische Wege, um Kommunikationsbarrieren abzubauen, Informationen verfügbar zu machen und Kontakte zu knüpfen. Weiterer Forschungsbedarf An mehreren Stellen unseres Beitrags wurden weitergehende Forschungsbedarfe aufgezeigt. So beispielsweise zu den Einflussfaktoren bei Ablösungsprozessen behinderter Jugendlicher von ihren Eltern oder den Assistenzfaktoren von kognitiv beeinträchtigten Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder. In diesen Studien gilt es, Kriterien inklusiver Forschung zu realisieren, um auch hier die Menschen mit Behinderungen zu Expert_innen in eigener Sache zu machen.68 In diesem Sinne ist auch das vorgestellte Medienprojekt PIKSL als innovativ hervorzuheben. Bei der Analyse des Standes einer inklusiven Forschung in Deutschland kommen Buchner, Koenig und Schuppener zu der kritischen 68

Vgl. Walmsley/Johnson, Inclusive Research.

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Einschätzung, dass die Forschung – anders als beispielsweise in England – noch wenig entwickelt ist.69 Dies liegt ihrer Meinung nach u.a. an Berührungsängsten der Forschenden gegenüber partizipativ angelegten wissenschaftlichen Studien. Unter Gesichtspunkten inklusiver Forschung gilt es, bereits bei der Formulierung der Forschungsfrage Menschen mit Behinderungen zu beteiligen und sie auch im weiteren Verlauf der Forschung bei der Datenerhebung und –auswertung als kompetente Partner_innen zu sehen.70 Dieses Ziel verfolgt auch das Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) mit seinem Forschungsprojekt AKTIF (Akademiker_innen mit Behinderung in die Teilhabe- und Inklusionsforschung) unter der Leitung von Theresia Degener, in dem behinderte und nicht behinderte Wissenschaftler_innen gemeinsam forschen. Ein inklusionsrelevanter Forschungsbedarf leitet sich aus dem Artikel 31 UN BRK ab, der die Vertragsstaaten zur Forschung über die Lebenssituation behinderter Menschen und die Weiterentwicklung der Inklusion verpflichtet. Buchner et al. heben als chancenreichen Ansatz für inklusive Forschung die Einbeziehung der Selbstvertretungsorganisationen behinderter Menschen hervor.71 Diese können als kompetente Auftraggeber und verlässliche Kooperationspartner bei der Durchführung von Forschungsvorhaben wichtige Beiträge leisten. Hierdurch lässt sich die Forschung auch als gemeinsamer Lernprozess über Fragen der Verbesserung der Dienstleistungsangebote für Menschen mit Behinderungen (unter Einbeziehung der Nutzer_innen) und zum Zusammenleben von behinderten und nicht behinderten Menschen gestalten. In der Vielfalt der inklusiven Konzepte und Projekte gilt es, zu einer Klärung von Standards und Grundsätzen im nationalen und idealerweise auch im internationalen Vergleich beizutragen. So haben Eberhard und Grüber in ihrem Beitrag Grundsätze für inklusive Teilhabeprojekte im kommunalen Leben formuliert und diese für eine Anzahl von Teilhabeprojekten geprüft.72 Eine besondere Herausforderung bildet dabei die Nachhaltigkeit der zumeist als zeitlich befristete Modellprojekte ins Leben gerufenen Projekte. In diesem Sinne ist es wichtig, Kooperationspartner und Unterstützer im regionalen Raum zu finden, die die gewonnenen Erkenntnisse und entstandenen Angebote verstetigen. In Deutschland bewegt sich so Einiges. Anbieter machen sich auf den Weg, entwickeln Konzepte und Lösungen. Nicht alles gelingt, und 69

Vgl. Buchner/Koenig/Schuppener, Gemeinsames Forschen, 4ff. Vgl. Walmsley/Johnson, Inclusive Research. 71 Vgl. Buchner et al., Gemeinsames Forschen, 9 72 Vgl. Eberhard/Grüber, Teilhabe in der Kommune, 12ff. 70

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vieles ist noch lange keine Inklusion. Festzuhalten ist aber am Ende: Richtige Inklusion ist es erst, wenn es nicht mehr draufsteht, sie aber dennoch funktioniert. Literatur Antidiskriminerungsstelle des Bundes, Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen, Berlin 2013. Arbeit und Behinderung, Die Bedeutung des Arbeitsplatzes für Menschen mit Behinderungen, 2104, online: http://www.arbeitundbehinderung.at/de/chancen_nutzen/bedeutun gvonarbeit.php, Zugriff am 04.09.2015. Arnett, Jeffrey J., Emerging adulthood: A theory of development from the last teens through the twenties, American Psychologist, 55 (2000) 469–480. Baltes, Paul B./Lindenberger, Ulman/Staudinger, Ursula M., Life span theory in developmental psychology, in: William Damon/ Richard M. Lerner (Hg.), Handbook of child psychology: Vol. 1. Theoretical models of human development, 6th ed., New York 2006, 569–664. Balz, Hans-Jürgen/Benz, Benjamin/Kuhlmann, Carola (Hg.), Soziale Inklusion. Grundlagen, Strategien und Projekte in der Sozialen Arbeit, Wiesbaden 2012. Berk, Laura E., Entwicklungspsychologie, 3. aktualisierte Auflage, München 2005. Bieritz-Harder, Renate, Neue Chancen der Gleichstellung durch das SGB IX. „Besondere Bedürfnisse“ behinderter Frauen im Sinne des § 1. S. 2 SGB IX. Selbstbestimmung, Teilhabe am Arbeitsleben, Elternschaft, 2001, online: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/PdfAnlagen/PRM-23950-Broschure-Neue-Chancen-derGle,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf, Zugriff am 04.09.2015. Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen (BIH), Jahresbericht, Hilfen für schwerbehinderte Menschen im Beruf, Münster 2013/2014. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen, Bonn 2013. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland, Kurzfassung, Berlin 2012.

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H.-J. Balz/K. Römisch/M. Weißenberg/K.-U. Wiggers

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Inklusion im Erwachsenenalter

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Inklusion im Erwachsenenalter

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Silke Gerling/Helene Ignatzi

2.4 Wohnen und Leben im Alter – mit und ohne Behinderung

1

Zielgruppenbestimmung – wer ist gemeint?

Die Forderung der Vertragsstaaten nach Entwicklung und Etablierung wirksamer, geeigneter und nachhaltiger Maßnahmen zur Förderung der Selbstbestimmung und Sicherung sozialer Teilhabe für alle Menschen, bekommt vor dem Hintergrund der stetig wachsenden Zahl älterer und hochaltriger Menschen in Deutschland eine neue gesellschaftspolitische Dimension. Noch nie gab es in der deutschen Geschichte so viele ältere Menschen wie heute. Mit einem Anteil alter Menschen (65+) von 20,7 Prozent war 2010 der demografische Wandel in Deutschland im Vergleich zu den anderen EU-Ländern am weitesten fortgeschritten und wird um das Jahr 2035 voraussichtlich seinen Höhepunkt erreichen.1 Einerseits eröffnet diese Entwicklung für den Einzelnen und für die Gemeinschaft neue Chancen und Möglichkeiten. Bedingt durch den Anstieg von Pflegebedürftigen, insbesondere Demenzkranken und älteren Menschen, die seit ihrer Geburt eine Behinderung haben, stellt sie andererseits die Sozialpolitik und die Gesellschaft sowie die Träger sozialer Dienstleistungen vor neue Aufgaben und große Herausforderungen. „Zum ersten Male in der menschlichen Geschichte haben auch in wachsender Zahl behinderte Menschen die Chance, alt zu werden, weil die Lebenserwartung sich der Nichtbehinderter nähert oder gar angleicht.“2

Dadurch haben sie zum ersten Mal die Chance, eine eigenständige Altersphase zu erleben, mit all ihren Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten, wie Menschen ohne Behinderungen. Sie werden mit den Verlusten, die diesen Lebensabschnitt kennzeichnen, ebenso wie Menschen ohne Behinderungen konfrontiert. Im Zuge der allgemeinen altersbedingten körperlichen und kognitiven Abbauprozesse 1

Vgl. Statistisches Bundesamt, Im Blickpunkt: Ältere Menschen in Deutschland und der EU, 13. 2 Tews, Behindertenpolitik für ältere Menschen mit geistiger Behinderung, 12.

Wohnen und Leben im Alter

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steigt auch für sie das Risiko, weitere bzw. neue Einbußen durch Chronifizierung von Erkrankungen zu bekommen, die zu Multimorbidität und letztlich zu Pflegebedürftigkeit führen und damit zur Verfestigung der ohnehin schon vorhandenen Ausgrenzung durch die z.B. angeborenen Behinderungen. Das Altern kann für den Einzelnen bezogen auf diese Aspekte eine neue Gefahr der Ausgrenzung und Einschränkung der Selbstbestimmung und Teilhabe bedeuten. Es stellen sich daher vor dem Hintergrund der UN BRK folgende Fragen: Wer fällt unter die UN-Konvention? Gehören ältere Menschen mit altersbedingten Behinderungen ebenso dazu wie ältere Menschen mit ererbten, früh oder spät erworbenen Behinderungen, wie z.B. mit einer geistigen Behinderung? Davon ist auszugehen, denn die UN BRK gilt „für alle Menschen mit Behinderungen“3. Doch wie können dann noch Pflegeheime gerechtfertigt werden? Müssen nicht „segregierende“ Wohnformen generell abgeschafft werden? Müsste pflegebedürftigen Personen mit ausschließlich altersbedingten Behinderungen dann nicht auch persönliche Assistenz oder persönliches Budget als „Eingliederungshilfe“ zustehen, wenn für ihre individuelle Pflegebedürftigkeit das Pflegegeld nicht ausreicht? Gibt es in dem Zusammenhang eine besondere Vulnerabilität (im Sinne einer Gefährdung der Menschenrechte) von älteren Menschen mit ererbten, früh oder spät erworbenen Behinderungen? Ausgehend davon, dass die UN BRK bei der Zielgruppendefinition keine Unterscheidung bezogen auf Behinderung vornimmt, erscheint es als besonders wichtig, die Gruppe der älter werdenden Menschen und Älteren im Kontext von Behinderung etwas genauer zu betrachten. Dabei ist es von zentraler Bedeutung, die Besonderheiten dieser immer heterogener werdenden Gruppe – bezogen auf Lebenslagen, Lebensläufe und Lebensformen – zu berücksichtigen sowie individuellen Lebensgeschichten, kulturellen und ethnischen Zugehörigkeiten, Schicht,- Milieu- und Geschlechtszugehörigkeiten dieser Personen mit einzubeziehen. Eine Differenzierung der Personengruppe Ältere ist für die Umsetzung der Forderungen der UN BRK in der Praxis von enormer Bedeutung, denn sie könnte gegebenenfalls die Umsetzung der notwendigen Schritte erleichtern, indem sie konkretisiert und zielgruppengenauer bestimmt werden.

3

Art. 1 UN BRK.

262 2

S. Gerling/H. Ignatzi

Selbstbestimmtes, inklusives Leben älterer Menschen (mit und ohne Behinderungen) in unserer Gesellschaft – eine Vision

Die folgende visionäre Vorstellung von einem inklusiven, selbstbestimmten Leben der älteren Menschen wurde losgelöst vom gegenwärtigen Entwicklungsstand in der Alten- und Behindertenarbeit entwickelt, ebenso ungeachtet aller rechtlichen Bestimmungen auf EUund nationaler Ebene. Berücksichtigt wurden jedoch die Wünsche und Bedürfnisse der meisten Älteren, so lange wie möglich im vertrauten Umfeld verbleiben zu können, auch wenn sie auf Unterstützung und Pflege angewiesen sind. Diese orientiert sich am Lebensqualitätsmodell des Kuratoriums Deutscher Altershilfe (KDA), das die Bedarfslagen der älteren Menschen in den Fokus nimmt und im Sinne von Inklusion auch andere Zielgruppen berücksichtigt. Ergänzt wurden Ziele, die im Rahmen der Erarbeitung des Ansatzes für die KDA-Quartiershäuser entwickelt wurden, um eigene Handlungsvorschläge der beiden Verfasserinnen. Nach dem KDA-Lebensqualitätsmodell muss die Stärkung der Lebensqualität und des Selbstbestimmungsrechts älterer Menschen in allen Handlungs- und Lebensbereichen vollzogen werden: „Sinn: Grundbedürfnisse: Sicherheit: Wohnen: Soziale Kontakte: Gesundheit: Arbeit: Selbstverwirklichung:

Warum lebe ich? Gibt es eine höhere Macht? Was gibt meinem Leben Sinn? Woran habe ich Freude? Was motiviert mich? wie z.B. Atmung, Nahrung, Wärme, Kleidung, Schlaf körperlich, materiell, finanziell Ausstattung, Barrierefreiheit Kinder, Partner, Freunde, Nachbarn etc. Krankheit, medizinische und pflegerische Begleitung Familienarbeit wie z.B. Betreuung der Enkel, Urenkel, Haus- und Gartenarbeit, Handarbeit, Handwerk etc. Entfaltung der Talente, Hobbys […]“.4

Dabei bestimmt der ältere Mensch den Stellenwert der einzelnen Handlungsbereiche und die Art sowie den Umfang der Maßnahmen, die zur Sicherung und Förderung seines Wohlbefindens beitragen sollen.5 Des Weiteren soll nach KDA das Umfeld so lebenswert gestaltet werden, dass ältere Menschen mit und ohne Behinderungen möglichst 4 5

Michell-Auli, Denkansatz und Innovationen für eine moderne Altenhilfe, 5. Michell-Auli, Denkansatz und Innovationen für eine moderne Altenhilfe, 5.

Wohnen und Leben im Alter

263

lange in ihrem gewünschten Zuhause wohnen bleiben können. Hier werden grundlegende Rahmenbedingungen benötigt, wie z.B. die Entwicklung von Quartieren, die die Teilhabe dieser Menschen ermöglichen. Die folgenden Ziele nach Michell-Auli sollen die notwendige Struktur für das Umfeld vorgeben, um letztlich diese Lebensqualität sicherzustellen: Ziel: Ein wertschätzendes gesellschaftliches Umfeld zu schaffen, in dem Menschen für sich selbst und füreinander Verantwortung übernehmen und das Anderssein von Menschen mit Behinderungen tolerieren, sei es von Menschen mit geistiger oder/und körperlicher Behinderung oder von z.B. Menschen mit Demenz. Mögliche Handlungsansätze: Gezielte Aufklärungskampagnen und effiziente Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit aller Altersgruppen sind mögliche Präventions- und Interventionsmaßnahmen zur Herausbildung einer positiven Haltung und Einstellung gegenüber Menschen mit Handicaps. Sie tragen dazu bei, dass das Anderssein und das Verhalten dieser Menschen akzeptiert und verstanden wird, wie z.B. das Verhalten von Menschen mit Demenz oder einer anderen Erkrankung bzw. Behinderung. Das vermeintlich „unsinnige“ Verhalten Demenzkranker bekommt auch für die anderen Gesellschaftsmitglieder einen Sinn, wodurch der Umgang mit ihnen erleichtert wird. Ältere Menschen mit Behinderungen nehmen als Expert_innen aktiv an Veranstaltungen und Maßnahmen teil, indem sie z.B. bei geplanten kommunalen Umbaumaßnahmen und sonstigen beabsichtigten Veränderungen im Quartier mitbestimmen und sich an den angestoßenen Prozessen, ihren Möglichkeiten nach, aktiv beteiligen. Ziel: Sicherung tragfähiger familiärer und freundschaftlicher Beziehungen sowie die Stärkung nachbarschaftlicher Beziehungen. Mögliche Handlungsansätze: Im Alter verändern sich die sozialen Beziehungen eines Individuums. Menschen mit angeborener oder später erworbener Behinderung müssen entweder ihr Zuhause verlassen, in dem sie von ihren Eltern versorgt wurden, weil diese selbst alt geworden sind und ihre elterlichen Aufgaben nicht mehr bewältigen können und in eine stationäre Einrichtung umziehen oder nach Beendigung der Erwerbstätigkeit oder bei fortschreitender Pflegebedürftigkeit gegebenenfalls in eine andere soziale Einrichtung wechseln. Sie verlieren damit nicht nur ihre vertraute Umgebung, ihr Zuhause, sondern auch zum Teil ihre sozialen Beziehungen. Ebenso verändern sich mit zunehmendem Alter die sozialen Beziehungen bei Menschen mit einer Normalbiografie, durch den Wegzug der Kinder aus der Hausgemeinschaft, den Tod einer nahestehenden Person, wie der

264

S. Gerling/H. Ignatzi

Partnerin/des Partners, oder den Verlust der Kontakte zu Arbeitskolleg_innen durch den Eintritt in den Ruhestand oder zu den Nachbar_innen durch den Umzug ins Betreute Wohnen oder in ein Altenund Pflegeheim. Diese Verluste müssen kompensiert werden, um eventuell drohender Einsamkeit und/oder Isolation vorzubeugen. Neue Kontakte können zu Unterstützungspotenzialen und somit zu einer weiteren Säule im gesamten Hilfesystem vor Ort ausgebaut werden. Begegnungen im Quartier und der Ausbau von neuen Netzwerken, die Heranführung der Älteren an die neuen Medien wie Internet oder die Schaffung von Möglichkeiten zur Teilnahme an sozialen und kulturellen Aktivitäten, durch adäquate Begleitung und Betreuung, sind denkbare Maßnahmen. Diese müssen unter der Maßgabe von Interdisziplinarität und Interkulturalität in enger Kooperation aller Dienstleister im Quartier, vor allem aber der Alten- und Behindertenarbeit, gewährleistet werden. Ziel: Errichtung und Bau barrierefreier Wohnungen und Häuser, die ein langes Verbleiben im häuslichen Umfeld ermöglichen, sowie die Bereitstellung bedarfsgerechter Wohnangebote in der vertrauten Umgebung, für den Fall, dass das Verbleiben im Zuhause nicht realisierbar oder erwünscht ist. Mögliche Handlungsansätze: Mit dem fortschreitenden Alter kommt es in der Regel zur Einschränkung der Mobilität, weshalb barrierefreies Wohnen im Kontext sozialer Teilhabe und Selbstbestimmung immer mehr an Bedeutung gewinnt. Eine barrierefreie Ausstattung der Wohnung bzw. des Hauses sollte gewährleistet werden, auch wenn dazu Umbaumaßnahmen notwendig sind. Langfristig sollte der Wohnungsbau grundsätzlich „barrierefrei“ ausgerichtet sein. Menschen, die seit ihrer Geburt auf Hilfe und Pflege durch Dritte angewiesen sind, sollen die Möglichkeit bekommen, in ihrem selbstgewählten Zuhause, wo auch immer es ist, bleiben zu können. Hierzu bedarf es seitens der Leistungsträger sowie der Leistungsanbieter wie z.B. der Behinderten- oder Altenarbeit einer konzeptionellen Anpassung an die jeweiligen Bedarfe, sowohl in Bezug auf das Pflegekonzept als auch auf die Rahmenbedingungen. Denkbar ist hierbei auch z.B. eine persönliche Assistenz für Menschen mit altersbedingten Einschränkungen oder die 24-Stunden-Betreuung für Menschen mit angeborener oder später erworbener Behinderung durch qualifizierte und sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, die den Verbleib im Zuhause sichern können. Sollte der Verbleib in der eigenen Häuslichkeit nicht möglich sein, so ist ein Umzug in eine selbstgewählte andere adäquate Wohnung bzw. Einrichtung innerhalb der vertrauten Umgebung zu gewährleisten.

Wohnen und Leben im Alter

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Ziel: Entwicklung einer generationengerechten und barrierefreien Infrastruktur, mit öffentlichen Verkehrsmitteln, Toiletten, Einkaufs-, Erholungs- und Freizeitmöglichkeiten, die über Grünflächen und Sitzgelegenheiten verfügen, um allen Generationen die Nutzung des öffentlichen Raumes zu ermöglichen. Mögliche Handlungsansätze: Eine generationen- und bedarfsgerechte räumliche Infrastruktur ermöglicht und fördert die Gemeinschaft. Nur wenn Zugangsbarrieren zum öffentlichen Raum gänzlich abgeschafft werden – hier sind nicht nur bauliche oder technische Voraussetzungen gemeint, sondern auch Zugänge, die eine Teilhabe erschweren oder sogar verhindern, z.B. Sprachbarrieren, Vorurteile und diskriminierende Einstellungen und Haltungen – und eine neue barrierefreie und bedarfsgerechte Infrastruktur geschaffen wird, können auch ältere Menschen vom öffentlichen Raum profitieren und somit ein Teil der Gemeinschaft bleiben. Älteren Menschen, die Unterstützung durch Begleitpersonal benötigen, muss dieses zur Verfügung gestellt werden. Ziel: Aufbau eines bedarfsgerechten Hilfe-Mix mit vielfältigem Angebot, wie z.B. Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags, beim Pflegebedarf, haushaltsnahe Dienste und Fahrdienste, eine enge Zusammenarbeit zwischen professionellen Hilfs- und Unterstützungsleistungen und der freiwilligen Arbeit (Ehrenamt). Mögliche Handlungsansätze: Ein bedarfsgerechter Hilfe-Mix mit vielfältigem Angebot unter Einbezug des Haupt- und Ehrenamtes kann im Falle von Hilfe- und Pflegebedarf das Verbleiben in der Häuslichkeit unterstützen. Vor allem bei Menschen mit angeborener oder später erworbener Behinderung, die von Geburt an auf Unterstützung angewiesen sind, soll mit einem zusätzlichen Hilfe-Mix durch Haupt- und Ehrenamt das Verbleiben in ihrem Zuhause – wo auch immer es für diese Personen ist – gesichert werden. Die gewohnte individuelle Tagesstruktur des älteren Menschen darf dabei nicht beeinträchtigt und durch die Leistungserbringer vorgegeben werden. Wichtig ist es dabei, dass der ältere Mensch selbst entscheidet, wann er aufsteht oder zu Bett geht, zu welcher Tageszeit er seine Mahlzeiten einnimmt, ob und wann er sein Zuhause verlässt, ob und an welchen Freizeitaktivitäten er teilnimmt oder von wem und wann er pflegerisch versorgt werden möchte. Dies gilt auch für ältere Menschen, deren Zuhause eine soziale Einrichtung der Alten- oder Behindertenarbeit ist. Hier müssen Wege gefunden werden, die die individuelle Tagesstruktur der Bewohner_innen wahren. Ziel: Errichtung einer Anlaufstelle für wohnortnahe Beratung und Begleitung im Quartier, die die Nutzung präventiver Angebote und

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bedarfsgerechter Hilfen sicherstellt, indem sie die Älteren und die Menschen mit Behinderungen über das vorhandene Leistungsspektrum und die für sie in Frage kommenden Unterstützungsleistungen informiert und berät, wie diese zu beziehen und zu finanzieren sind. Mögliche Handlungsansätze: Eine Anlaufstelle in Form eines Informations-, Beratungs- und Bildungszentrums, in dem niedrigschwellige Begegnungen möglich sind, soll allen Menschen im Quartier oder Stadtteil, unabhängig von Alter, kulturellem Hintergrund, Geschlecht, Milieu- und Schichtzugehörigkeit, zur Verfügung stehen. Voraussetzung ist ein interkulturelles, multiprofessionelles und interdisziplinär ausgerichtetes Beratungsteam, das seine Beratungsleistung bei Bedarf auch in der häuslichen Umgebung sicherstellt. 3

Das Altern der deutschen Bevölkerung

Der kontinuierliche Anstieg der Lebenserwartung bei Geburt6 sowie der Anstieg der durchschnittlichen mittleren und ferneren Lebenserwartung und das anhaltende Geburtenniveau von durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau7 werden zukünftig noch stärker die Altersstruktur der deutschen Bevölkerung verändern.8 Besonders hervorzuheben ist die Entwicklung der Hochaltrigkeit (80 Jahre und älter). Ihre Zahl steigt kontinuierlich und wird Mitte der 2050er Jahre voraussichtlich 6 Millionen erreichen.9 Mit der Zunahme der Zahl der Hochbetagten steigt auch die Zahl der Menschen in Deutschland, die auf Pflege angewiesen sind. Bis zum Jahr 2020 wird die Zahl auf rund 2,9 Millionen und im Jahr 2030 auf 3,37 Millionen Pflegebedürftige steigen.10

6

Laut statistischen Ermittlungen beträgt die Lebenserwartung bei Geburt im Durchschnitt der Jahre 2006 bis 2008 für Jungen 77,2 und für Mädchen 82,4 Jahre und wird sich bis 2030 auf 81,2 bzw. 85,4 Jahre erhöhen; vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder Demografischer Wandel in Deutschland, 14. 7 Gemäß der Vorausberechnung des Statistischen Bundesamtes wird auch künftig für Deutschland von einer durchschnittlichen Kinderzahl von 1,4 Kindern je Frau pro Kalenderjahr ausgegangen. Auch wird das Durchschnittsalter, in dem die Frauen Kinder bekommen, bis zum Jahr 2020 um etwa 1,6 Jahre ansteigen und danach konstant bleiben; vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Demografischer Wandel in Deutschland, 11. 8 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Demografischer Wandel in Deutschland, Heft 1, 11. 9 Vgl. Statistisches Bundesamt, Im Blickpunkt: Ältere Menschen in Deutschland und der EU, 12. 10 Vgl. Statistische Ämter des Bundes und der Länder, Demografischer Wandel in Deutschland, Heft 2, 27.

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Mit zunehmendem Alter steigt das Risiko, an einer Demenz zu erkranken. Besonders betroffen davon sind 90-Jährige und Ältere. Bei ihnen steigt der Anteil auf über 30 Prozent. Bis zum Jahr 2050 wird die Zahl der Demenzkranken von derzeit 1,5 Millionen auf voraussichtlich 3,0 Millionen ansteigen, sollte kein Durchbruch in der Prävention und Therapie gelingen.11 Ebenso gehören die Singularisierung und die ethnische Differenzierung zu weiteren relevanten demografischen Trends. Die Anzahl der Einpersonenhaushalte stieg um 4,4 Millionen, von 11,9 Millionen (1991) auf 16,3 Millionen (2011), mit einer Verschiebung des Familienstandes von Verwitweten hin zu Ledigen.12 Der Anteil der 65-Jährigen und älter mit Migrationshintergrund betrug 2010 1,479 Millionen.13 Eine konkrete Aussage über die Anzahl von Menschen mit Behinderungen kann aufgrund der vielfältigen und individuellen Behinderungsbilder nicht getroffen werden. Zudem sind die gesetzlich vorgeschriebenen Statistiken untereinander nicht kompatibel. Die vergleichenden Untersuchungen zur Altersstruktur von Menschen mit Behinderungen und der Gesamtbevölkerung weisen aber darauf hin, dass im Hinblick auf die Lebenserwartung und den Hilfebedarf die Unterschiede gemessen an den durchschnittlichen Zahlen nicht so groß sind.14 In Westfalen-Lippe wird in den nächsten 20 Jahren die Anzahl Erwachsener mit einer geistigen Behinderung von ca. 27.000 in 2010 auf ca. 38.000 in 2030 steigen. Dies entspricht dem Anteil an der Allgemeinbevölkerung von 0,32 Prozent im Jahr 2010 und von 0,47 Prozent im Jahr 2030.15 4

Das Altern des Individuums

Das Altern ist ein offener Prozess, der lebenslang stattfindet und sich auf verschiedenen Ebenen des Individuums, wie der physischen (körperliche Veränderungen), psychischen (kognitive Veränderungen) und sozialen Ebene (z.B. Veränderungen von sozialen Beziehungen) vollzieht (Multidimensionalität). Er verläuft in unterschiedlichem Ausmaß und Tempo (Multidirektionalität) und hat nicht nur eine, sondern mehrere Ursachen (Multikausalität).16 Sowohl Verluste als auch Ge11

Vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft e. V., Das Wichtigste. Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen, 1. 12 Vgl. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Bevölkerungsentwicklung, 63. 13 Vgl. Schimany et al., Ältere Migrantinnen und Migranten, 99. 14 Vgl. Landschaftsverband Westfalen-Lippe, Herausforderung Menschen mit Behinderungen im Alter, 6. 15 Vgl. Dieckmann et al., Vorausschätzung der Altersentwicklung, 65. 16 Vgl. Wahl/Heyl, Gerontologie – Einführung und Geschichte, 16.

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winne sind kennzeichnend für die Phase „Alter“. Sie prägen die Lebenssituationen älterer Menschen und sind im hohen Maße von Entscheidungen, die zu früheren Zeitpunkten im Leben getroffen wurden, oder von Ereignissen, die stattgefunden haben, wie z.B. eine angeborene oder im weiteren Verlauf des Lebens erworbene Behinderung, beeinflusst. Dadurch befinden sie sich „[…] im Spannungsfeld zwischen dem gegenwärtigen Handeln, individuellen Lebensläufen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die einem fortlaufenden Wandel unterworfen sind.“17 Der Mensch hat auch im Alter, wie in den Phasen zuvor, Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Nach Havinghurst ist es die Anpassung an die nachlassende Gesundheit, Pensionierung, vermindertes Einkommen, an den Verlust einer nahestehenden Person durch Tod oder die Übernahme neuer sozialen Rollen und der Aufbau altengerechten Wohnens.18 Diese qualitativen Veränderungen, die durch das Altern entstehen können, stellen für jedes Individuum (mit und ohne Behinderungen) gewisse Herausforderungen dar, die es bewältigen muss. Ob das Ausmaß der Entwicklungsaufgaben und die Art und Weise, wie ihnen begegnet wird, von einer angeborenen oder später erworbenen Behinderung abhängt, soll anhand des Altwerdens beider Personengruppen „ältere Nichtbehinderte“ und „behinderte“ Ältere deutlich werden. Im Folgenden wird zunächst der Fokus auf die Personengruppe „ältere Nichtbehinderte“ gelegt. Im weiteren Verlauf wird der Prozess des Altwerdens bei Menschen mit einer angeborenen oder später erworbenen Behinderung erläutert. Im Alter treten vermehrt psychophysische Veränderungen und Funktionseinbußen auf. Hierzu zählen unter anderem Beeinträchtigungen der Sinnesorgane, wie z.B. des Sehens und Hörens oder Beeinträchtigungen in der Mobilität und Motorik. Vor allem aber nimmt mit zunehmendem Alter die Multimorbidität zu, die im höheren Alter häufig zur Pflegebedürftigkeit19 führt. Zu den wichtigsten Ursachen der Pflegebedürftigkeit gehören – laut Studie zu Wirkungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes des TNS Infratest Sozialforschung – körperliche Einschränkungen in allen Pflegestufen. Starke Sinnesbe17

Motel-Klingebiel, Sozialer Wandel und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, 103f. 18 Vgl. Klott, Theorien des Alters und des Alterns, 37–70. 19 In der deutschen Sozialen Pflegeversicherung (§ 14, Abs. 1 SGB XI) ist der Begriff der Pflegebedürftigkeit folgendermaßen definiert: „Pflegebedürftig im Sinne dieses Buches sind Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße (§ 14) der Hilfe bedürfen.“ (www.gesetze-im-internet.de, Zugriff am 14.09.2015) .

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hinderungen und schwere geistige Behinderungen oder sonstige seelische Erkrankungen, vorwiegend in der Pflegestufe III, sowie starker geistiger Abbau, steigen mit zunehmender Pflegestufe an. Dies schränkt zunehmend die Alltagskompetenz der Personen ein, die infolge dessen nicht mehr in der Lage sind, ihren Alltag ohne fremde Hilfe zu bewältigen. Neben einem Unterstützungsbedarf in der Grundpflege und hauswirtschaftlicher Versorgung steigt auch der Bedarf an Betreuung, Beaufsichtigung und Anleitung.20 In der Regel nimmt bei Pflegebedürftigen auch der Bedarf an nächtlicher Unterstützung bzw. Betreuung zu. Dieser steigt mit zunehmender Pflegestufe. 29 Prozent aller Pflegebedürftigen benötigen fast jede Nacht pflegerisch-betreuerische Hilfen. 46 Prozent der Pflegebedürftigen mit anerkannter erheblich eingeschränkter Alltagskompetenz sind jede Nacht auf Unterstützung angewiesen.21 Hierzu gehören insbesondere Menschen mit Demenz. Der kontinuierliche Verlust des Gedächtnisses und weiterer kognitiver Funktionen sowie die Veränderung der Persönlichkeit bei einer Alzheimererkrankung schränken die Alltagskompetenz der Erkrankten stark ein und sind die wichtigste Ursache für Autonomieverlust und Pflegebedürftigkeit im Alter. Infolge dessen stellt die Alzheimererkrankung eine besondere Herausforderung für die Pflegenden dar, im Besonderen für die Angehörigen. Sie versuchen dem Wunsch der Pflegebedürftigen, in der eigenen Häuslichkeit trotz Pflegebedürftigkeit zu verbleiben, um ihr Leben individuell und möglichst selbstbestimmt gestalten zu können, nachzukommen. Dieser Wunsch ist in der Regel nur mit Unterstützung der ganzen Familie unter Einbeziehung weiterer Unterstützungsdienste realisierbar, wie z.B. der ambulanten Pflegedienste, Tages- und Kurzzeitpflege, haushaltsnahen Dienstleistungen oder sogar der 24-Stunden-Betreuung. Im Jahr 2005 erhielten rund 92 Prozent der Pflegebedürftigen Unterstützung aus der Familie oder Bekanntschaft. Dies belegt, dass das Unterstützungssystem „Familie“ nach wie vor die tragende Säule in der häuslichen pflegerischen Versorgung ist. Studienergebnisse aus 2010 belegen, dass überwiegend enge Familienangehörige wie etwa (Ehe-) Partner_innen, Töchter, Schwiegertöchter und Söhne (Tendenz steigend) die pflegerische Hauptverantwortung für die pflegebedürftige Person übernehmen. Sie wird in der Regel entweder von einer einzigen oder von mehreren Personen erbracht, von denen etwa ein Drittel 65 Jahre und älter ist.22 20

Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Abschlussbericht zur Studie „Wirkungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes“, 23. 21 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Abschlussbericht zur Studie „Wirkungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes“, 25. 22 Vgl. Bundesministerium für Gesundheit, Abschlussbericht zur Studie „Wirkungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes“, 27.

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Erfahrungsgemäß stellt die häusliche Pflege für die Pflegenden eine enorme psychische sowie physische Belastung dar und erfordert von ihnen oft ein überdurchschnittliches Engagement sowie kontinuierliche Präsenz, insbesondere dann, wenn sich der Grad der Pflegebedürftigkeit und der damit einhergehende pflegerische Zeitaufwand erhöht. Häufig bedarf es dann einer 24-Stunden-Verfügbarkeit der Pflegenden und in der Regel auch der Bereitschaft zur Übernahme der gesetzlichen Betreuung für die pflegebedürftige Person. Nicht alle Pflegenden können und wollen diesen Anforderungen gerecht werden. Die immer stärker werdende Individualisierung, die Auswirkungen der Globalisierung, die unter anderem mit größeren Mobilitätserfordernissen im beruflichen Bereich einhergehen, der Wandel der Familien- und Lebensformen sowie die immer noch in unzureichendem Umfang vorhandenen Konzepte zur Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Pflege lassen den Trend zum Absinken der Pflege- und Fürsorgepotenziale der Familienangehörigen erkennen. Diese Entwicklung und das Fehlen adäquater und finanzierbarer Versorgungsangebote der Dienstleister im häuslichen Pflegesektor veranlassen Familien mit Pflegebedürftigen, nach bezahlbaren individuellen Lösungen für die Sicherstellung der häuslichen Pflege zu suchen. Viele von ihnen sehen derzeit in der 24-Stunden-Betreuung durch südost- und osteuropäische Pflegekräfte eine adäquate Lösung für ihre prekäre Pflegesituation. Der Altersprozess der Menschen mit Behinderungen verläuft gleich dem der Menschen ohne Behinderungen. So wird von einer Person mit geistiger Behinderung als einem alten Menschen gesprochen, wenn: „er im späten Erwachsenenalter Anzeichen körperlicher Alterung zeigt wie graue Haare, faltige Haut und schwächere Kondition; sein Tempo und womöglich die Qualität seiner Selbstständigkeit abnehmen und der geistig behinderte Mensch das Bedürfnis nach einem ruhigeren Leben hat (das ist nicht per se ein ruhiges).“23

Die sich daraus ergebenden Anforderungen werden von Menschen mit Behinderungen und ohne Behinderungen jedoch unterschiedlich bewältigt. Altersbedingte Erkrankungen treten bei Menschen mit Behinderungen häufiger und früher auf. So kann der Altersprozess bei Menschen mit Trisomie 21 bereits mit 40 Jahren beginnen, der durch die Beeinträchtigung an den Augen, Ohren oder der Schilddrüse erkennbar wird. Menschen mit Trisomie 21 erkranken häufiger an einer Demenz als die übrige Bevölkerung. Zudem wird eine Demenzer23

Bleeksama, Mit geistiger Behinderung alt werden, 27.

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krankung bei Menschen mit Behinderungen häufig sehr spät diagnostiziert.24 Der Alterungsprozess bei Menschen mit einer geistigen Behinderung kann bereits mit 55 Jahren eintreten, d.h. zehn Jahre früher als bei Menschen ohne eine solche Beeinträchtigung. Aus der Praxis weiß man jedoch, dass solche Altersgrenzen für amtliche Regelungen zwar brauchbar sind, für die Betreuungs- und Pflegepraxis jedoch keinen Sinn ergeben. Der Alterungsprozess vollzieht sich für Menschen mit geistiger Behinderung ebenso wie für Menschen ohne Behinderungen individuell, was den Zeitpunkt, das Tempo und das Ausmaß betrifft. Wie Menschen mit einer geistigen Behinderung den Entwicklungsaufgaben bzw. den qualitativen Veränderungen, die das Altern mit sich bringt, begegnen oder wie sie diese annehmen bzw. bewältigen, lässt sich nicht eindeutig beantworten, denn sie nehmen die Welt anders wahr und verfügen über viel mehr Fähigkeiten als andere. Und es gibt erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Menschen mit Behinderungen. Jeder erlebt die altersbedingten Veränderungen auf seine Art und Weise und geht damit anders um als andere.25 Menschen mit angeborenen Behinderungen sind vom Verlust ihrer sozialen Rollen im Alter, sei es durch das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben oder durch Umzug z.B. in eine Einrichtung, in gleicher Weise betroffen wie Menschen mit altersbedingter Behinderung. Viele können den Rollenverlust jedoch nicht wie Menschen mit altersbedingter Behinderung kompensieren, die neue Aufgaben und Rollen, wie z.B. die Großelternrolle oder die des/der freiwilligen Helfer_in, übernehmen. Dies ist ihren Biografien geschuldet, die sich von anderen Biografien in vielen Punkten unterscheiden. Charakteristisch für Lebensverläufe von Menschen z.B. mit einer geistigen Behinderung sind die ungünstigen räumlichen Voraussetzungen, die ihr Leben begleiten. Häufig leben sie mit mehreren Personen in einem Zimmer. Nur 38 Prozent von ihnen bewohnen derzeit ein Einzelzimmer. Die Möglichkeit, soziale Kontakte außerhalb ihrer Wohngemeinschaft zu knüpfen, waren viele Jahrzehnte stark eingeschränkt. Demzufolge führen viele von ihnen ein Singledasein. Über 90 Prozent bleiben lebenslang ohne feste Partnerschaft. Restriktive Regeln des Zusammenlebens beschränkten bis in jüngste Zeit intime Kontakte. Die Form des Zusammenlebens in einer Zweck- und Zwangsgemeinschaft führt oft zu Spannungen und Konflikten, sodass selten stabile und tragfähige Freundschaften entstehen. Die Auswirkung einer solchen „untypischen“ Biografie zeigt sich im Alter in der drohenden Vereinsamung oder fehlenden emotionalen Bindung durch das Leben in 24 25

Vgl. Ackermann, Demenz bei Menschen mit Behinderungen, 1. Vgl. Bleeksama, Mit geistiger Behinderung alt werden, 26f.

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einer Wohngruppe. Das Leben im Alter unter strengen Reglements führt häufig zu großen Unsicherheiten bezogen auf das Treffen eigener Entscheidungen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung besonders im Alter, wenn altersbedingte Einschränkungen hinzukommen und die Pflegebedürftigkeit voranschreitet, in ihren Lebenschancen besonders beschränkt sind.26 Bei Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung, die zuhause leben, sinken mit zunehmendem Alter die Pflegepotenziale innerhalb ihrer Familien. Das fortgeschrittene Alter der Eltern, die in der Regel die Versorgung ihrer Kinder lebenslang übernommen haben, aber im Zuge des Älterwerdens selbst Einschränkungen erleiden, zwingt deren inzwischen ältere Kinder zum Umzug in ein Heim. In der Regel sind aber diese Einrichtungen noch nicht im ausreichenden Maße darauf vorbereitet, den Senior_innen die nötige Assistenz und ein Zuhause zu bieten.27 Menschen mit Behinderungen erfahren außerdem weniger medizinische Diagnostik. Das medizinische Versorgungssystem hat wenig Erfahrung mit einer geistigen Behinderung. Komplexe Zusammenhänge sind in einer einfachen Sprache zu übersetzen, für die Diagnostik ist das soziale Umfeld hinzuzuziehen, die Selbsteinschätzung des Patienten ist nur bedingt möglich. Das psychiatrische Versorgungssystem hat ebenfalls wenig Erfahrung mit Menschen mit Behinderungen. Bei der Behandlung in den Krankenhäusern werden Menschen mit Behinderungen von Angehörigen oder Mitarbeitenden der Einrichtungen begleitet, da der Krankenhausalltag sich bis dato nur sehr schlecht an die besonderen Anforderungen der Menschen mit Behinderungen ausrichten kann. Von besonderer Bedeutung ist für ältere Menschen mit einer geistigen Behinderung ein Tagesstrukturangebot, da sie häufig nicht in der Lage sind, den Tag selbständig zu strukturieren. Regelmäßig wiederkehrende Abläufe geben ihnen Sicherheit und Orientierung im Alltag.28 Ob sich für diese Personengruppe aufgrund ihrer Lebensverläufe und ihrer besonderen Erfahrungen im Alter besondere Bedürfnisse ergeben, muss noch geprüft werden. Feststeht aber ein zusätzlicher Unterstützungsbedarf, der bei Pflegebedürftigkeit auftritt. Zusammenfassend lässt sich einschätzen, dass für beide der beschriebenen Personengruppen das Alter ein Risiko für eine mögliche Exklusion darstellen kann, dem entgegengewirkt werden muss. 26

Vgl. Wacker, Wohn-, Förder- und Versorgungskonzepte, 69–75. Vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Alt und behindert, 6. 28 Vgl. Seidel, Bedarfsgerechte Versorgung von erwachsenen Menschen mit geistiger und mehrfacher Behinderung. 27

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Fallbeispiel Manfred Heine

Im Rahmen eines Fortbildungsprojektes zur Entwicklung eines Palliativversorgungskonzeptes wurde mit Manfred Heine eine Patientenverfügung erarbeitet. Mein Wille – Patientenverfügung In der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen heißt es: „Menschen, die Hilfe und Pflege benötigen, haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen und dürfen in ihrer Lebenssituation in keiner Weise benachteiligt werden.“29 Die Charta weist darauf hin, dass der Wunsch des sterbenden Menschen an die erste Stelle zu stellen ist. Der unverbindlichen Charta steht die verbindliche UN BRK zur Seite, die in Artikel 25 allen behinderten Menschen das Recht auf diskriminierungsfreie und respektvolle, die Autonomie und Würde des Einzelnen berücksichtigende medizinische Versorgung gewährt. Alles ist zu tun, damit der Sterbende die letzte Phase des Lebens so würdevoll und schmerzfrei wie eben möglich erleben kann. Dazu sind alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die den Vorstellungen des sterbenden Menschen entsprechen. In einer früheren Phase des Lebens ist über die Gestaltung der letzten Phase nachzudenken und die entsprechenden Wünsche sind zu dokumentieren. Im Rahmen einer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht können diese Willensbekundungen niedergeschrieben werden. Nur wenige Vorlagen oder Ratgeber bereiten das komplexe Thema in einer einfachen Sprache auf. Eine übersichtlich und grafisch gestaltete Patientenverfügung, mit wenig Text, vielen Bildern, Symbolen und Piktogrammen hat der Förderverein für Menschen mit geistigen Behinderungen e.V. in Bonn entwickelt. Die Broschüre trägt den Titel „Zukunftsplanung zum Lebensende: Was ich will!“30 Mit Hilfe dieser Broschüre thematisiert das Heinrich-Held-Haus, eine Pflegeeinrichtung für Menschen mit und ohne geistige Behinderungen in der Stadt Essen, bereits bei Einzug eine_r Bewohner_in diese Lebensphase. Einer der Bewohner ist Manfred Heine (Name geändert), der als erstes von vier Kindern seiner mittlerweile verstorbenen Eltern in Berlin geboren wurde und 2015 seinen 72. Geburtstag feierte. Er lebt seit 62 Jahren in der Stadt Essen und war bis zu seinem 17. Lebensjahr in der Familie integriert. Manfred Heine hat eine geistige Behinderung. Er hat nie eine Schule oder Werkstatt für Menschen mit Behinderungen besucht. 2008 zog er erstmals in eine stationäre Einrichtung der Ein29

Vgl. BMFSFJ, Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, 6. Vgl. Förderverein für Menschen mit geistigen Behinderungen e. V., Willenserklärung.

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gliederungshilfe. Bis dahin lebte und arbeitete er auf einem Bauernhof. Der Kontakt zu seiner Familie ist nie abgebrochen, eines seiner Geschwister ist als sein gesetzlicher Betreuer tätig. Manfred Heine mag den Kontakt zu anderen Menschen und zu Tieren und liebt es, sich in der Natur aufzuhalten. Er führt gerne Gespräche, besucht kulturelle und besonders gerne kirchliche Veranstaltungen. Selbst musiziert er an der elektronischen Orgel, malt in einer Kunstwerkstatt Bilder, hört Kirchenmusik. Laute Situationen sind ihm unangenehm. Er hat in seiner Patientenverfügung festgehalten, dass er in seiner alten Heimat Berlin den Alexanderplatz besuchen möchte. Ebenso möchte er noch einmal zu seiner Schwester in der Nähe von Hannover reisen. Manfred Heine ist mobil, hat einen Unterstützungsbedarf, der dem der Pflegestufe 1 entspricht. Er beschäftigt sich im Garten mit den Sträuchern und Kleintieren, hilft in der Einrichtung bei Transporten oder Botengängen. Sehr konkrete Vorstellungen hat Manfred Heine in Bezug auf seine letzten Lebensstunden. Das betrifft vor allem den Moment, kurz bevor sein Herz aufhört zu schlagen: Diesen möchte er ohne Musik im Beisein seines Bruders erleben, der ihm die Hand hält; und er möchte mit einem Pastor beten. Jährlich wird mit Manfred Heine seine Patientenverfügung thematisiert, ob lebensverlängernde Maßnahmen eingeleitet werden sollten, wenn sein Gesundheitszustand dies erfordert. Er bringt zum Ausdruck, dass sein Herz nach einem Stillstand nicht zum Schlagen gebracht werden soll, auch möchte er nicht über einen Schlauch mit Nahrung oder Getränken versorgt werden. Manfred Heine möchte nicht verbrannt werden. Im Sarg will er seine Kleidung tragen und ein Kreuz halten. Bei der Bestattung soll ruhige Musik gespielt werden, seine Verwandten und Freunde werfen rote Rosen in das Grab. Er möchte bei seinen Eltern, auf demselben Friedhof begraben werden. Auf dem Grab sollen Blumen wachsen und ein großer Grabstein stehen. Alle Gegenstände aus seinen Schränken erhalten die Geschwister. Die von ihm gemalten Bilder sollen im Heinrich-Held-Haus verbleiben. Dass das Leben irgendwann zu Ende geht, ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Nach den Erfahrungen des Heinrich-Held-Hauses begreifen Menschen mit geistigen Behinderungen dies als natürlichen Teil des Lebens. Viele Menschen ohne Behinderungen lehnen die Thematisierung ab und setzen sich erst damit auseinander, wenn ein konkreter Anlass dazu geben ist.

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Wohnformen, gesetzliche Rahmenbedingungen, Angebotsstruktur

Die vorhandene Wohnstruktur für Ältere mit Einschränkungen, ältere Pflegebedürftige, Ältere mit besonderem Betreuungs- und Unterstützungsbedarf oder für ältere Menschen mit angeborenen oder später erworbenen Behinderungen sowie deren Weiterentwicklung ist in Deutschland maßgeblich durch gesetzliche Bestimmungen, wie z.B. die Soziale Pflegeversicherung (SGB XI), die Behindertenhilfe (SGB IX) und die Sozialhilfe (SGB XII) geprägt.31 2013 wurden 1,86 Millionen (71 Prozent) der 2,6 Millionen Pflegebedürftigen im Sinne des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) zu Hause versorgt. 1,25 Millionen von ihnen wurden ausschließlich durch Angehörige und 616.000 durch Angehörige und ambulante Pflegedienste gepflegt.32 Wie viele der zu Hause versorgten Pflegebedürftigen durch ost- und südosteuropäische Pflegekräfte im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung versorgt wurden, ist bisher nicht bekannt. Nach Schätzungen der Bundeszentrale für politische Bildung waren es 2009 etwa 100.000, von denen etwa nur 2 Prozent sozialversicherungspflichtig „regulär“ beschäftigt waren.33 Für viele Familien mit einer pflegebedürftigen Person ist diese Option eine attraktive Lösung, die in der Flexibilität, Verfügbarkeit der Arbeitskräfte und Finanzierbarkeit dieser Leistung begründet ist.34 Dieses Pflegemodell entlastet pflegende Angehörige und verzögert oder verhindert sogar den Heimeinzug, der im Vergleich hierzu teurer ist. Höchst problematisch allerdings sind die bisher unzureichende oder sogar fehlende soziale Absicherung dieser Pflegependlerinnen, ihre prekäre Lebenssituation und die fehlende gesellschaftliche Anerkennung ihrer Leistung.35 Durch den Vorrang der häuslichen Pflege (§ 3 SGB XI) unterstützt die Pflegeversicherung mit ihren Leistungen die Pflegebedürftigen sowie die Pflegenden, um den Pflegebedürftigen einen möglichst langen Verbleib in der vertrauten Häuslichkeit gewährleisten zu können. Der Leistungsanspruch der Pflegebedürftigen orientiert sich derzeit noch an ihrem individuellen Pflegebedarf, aufgrund der Zuordnung zu einer der drei Pflegestufen (§ 15). Dieser umfasst Pflegesachleistungen, Pflegegeld für selbst beschaffte Hilfen sowie Pflegemittel und technische Hilfen. 31 Vgl. Bundesministerium für Justiz und für Verbraucherschutz, Gesetze im Internet, online: http://www.gesetze-im-internet.de/, Zugriff am 14.09.2015. 32 Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, 5. 33 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Migration und Bevölkerung. 34 Vgl. Kondratowitz von, Die Beschäftigung von Migranten/innen in der Pflege, 422. 35 Vgl. Ignatzi, Häusliche Altenpflege zwischen Legalität und Illegalität, 409.

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Ferner gewährt die Pflegeversicherung Leistungen bei Verhinderung der Pflegeperson (§ 39 SGB XI), Leistungen der Tages- und Nachtpflege (§ 41 SGB XI), wenn die häusliche Pflege nicht in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann, und die Leistungen der Kurzzeitpflege (§ 42 SGB XI). Seit 2002 haben Pflegebedürftige in der häuslichen Pflege mit einem erhöhten Bedarf an Hilfe- und Betreuungsleistungen Anspruch auf zusätzliche Betreuungsleistungen (§ 45b SGB XI). Die Unterstützung der Pflegepersonen durch die Pflegeversicherung bezieht sich auf die Entrichtung der Beiträge an die zuständigen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, der gesetzlichen Unfallversicherung für die Dauer der Pflegetätigkeit und das Angebot der unentgeltlichen Teilnahme an Pflegekursen (§ 45 SGB XI). Des Weiteren gibt es professionelle Wohnangebote für Ältere in Kombination mit Pflegeleistungen. Hierzu zählen Seniorenwohnhäuser, Seniorenwohnanlagen oder Betreutes Wohnen/Service-Wohnen mit folgenden Konzepten: – Wohnanlagen, in denen über Büros bzw. eine Beratungs- oder Servicestelle externe haushaltsnahe Dienstleistungen bis hin zur ambulanten Pflege organisiert werden, – Wohnanlagen, in denen das hauseigene Personal die ambulanten pflegerischen Leistungen erbringt, – Wohnanlagen mit integriertem stationären Pflegebereich, – Wohnanlagen in Kooperation mit einer Pflegeeinrichtung, die über eine stationäre Pflege verfügt. – Wohnstifte bzw. Seniorenresidenzen sind weitere mögliche Wohnformen. Sie sind frei finanziert und in der Regel überdurchschnittlich gut ausgestattet mit einem exklusiven Angebotsspektrum. Das umfasst Appartements und/oder kleinere Wohnungen mit der Möglichkeit, ambulante Pflege in der Wohnung oder auch vollstationäre Pflegeleistungen in einem abgegrenzten Bereich in Anspruch nehmen zu können. Wohn-, Haus- und Nachbarschaftsgemeinschaften – hierbei wird unterschieden zwischen Gemeinschaften, in denen die Bewohner_innen über eigenständige Wohnungen verfügen und trotzdem mit anderen in räumlicher Nähe leben (Hausgemeinschaft) oder mit ihnen benachbart sind (Nachbarschaftsgemeinschaft), und solchen, die über ihren persönlichen Wohnbereich, jedoch über keine abgeschlossene Wohnung verfügen (Wohngemeinschaft). Eine gemeinsame Wohnung können sich z.B. ältere, körperlich oder psychisch/kognitiv beeinträchtigte Menschen wie Demenzerkrankte teilen. 36 36

Vgl. Kompetenznetzwerk WOHNEN, Übersicht über Wohnformen im Alter,

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Eine der geläufigsten Wohnformen im Falle, dass die Pflege zu Hause nicht mehr gesichert werden kann, ist die stationäre Altenhilfeeinrichtung, das sogenannte Alten- und Pflegeheim. 2013 sind 764.000 (29 Prozent) der 2,6 Millionen Pflegebedürftigen in 13.000 Pflegeheimen von 685.000 Beschäftigten versorgt worden.37 Hierzu gewährt die Pflegeversicherung Leistungen der vollstationären Pflege (§ 43 SGB XI) sowie Leistungen für Menschen mit erheblichem allgemeinen Betreuungsbedarf, wie demenzbedingten Fähigkeitsstörungen, geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen (§ 45a SGB XI). Weitere Finanzierungsmöglichkeiten bestehen, bei Bedarf, über die Sozialhilfe (SGB XII). Menschen, die seit ihrer Geburt eine Behinderung haben, stehen folgende Wohnformen zur Verfügung: eine Einzelwohnung mit Betreuung, die um einen Tagespflegeheimplatz ergänzt werden kann, oder Wohngruppen und Wohnheime im Rahmen der Eingliederungshilfe. Ihre Inanspruchnahme hängt von vielen Faktoren ab, wie z.B. vom Grad der Behinderung und dem daraus resultierenden Unterstützungsbedarf, dem zur Verfügung stehenden Unterstützungsnetzwerk (Familie, Freunde) und der finanziellen Lage der betroffenen Person. Feststellbar ist, dass die Struktur und die Mitarbeitenden der Eingliederungshilfe unzureichend auf nachhaltige Pflegefälle eingestellt und Mitarbeitende der Pflege auf Menschen mit einer geistigen Behinderung nicht hinreichend vorbereitet sind. Von besonderer Bedeutung ist dies, da Menschen mit Behinderungen auf die Hilfe von außen angewiesen sind. Der sie umgebende Personenkreis muss die Erscheinungsformen des Alterungsprozesses wie auch die behinderungsbedingten Einflüsse kennen und darauf reagieren können. Pflegerisch ausgebildete Mitarbeitende nehmen gesundheitliche Risiken wahr und ziehen Rückschlüsse aus Verhaltensänderungen.38 Eine umfassende Begleitung pflegebedürftiger Menschen mit komplexen Behinderungen durch nur eine Profession kann nach Tiesmeyer nicht geleistet werden. Zunehmend beschäftigen Einrichtungen und Dienste der Eingliederungshilfe Mitarbeitende mit einer Pflegeausbildung ergänzend zu den pädagogischen Fachkräften. Die Heilerziehungspflege bildet Mitarbeitende in den Bereichen der Eingliederungshilfe und Pflege aus. Eine weitere Reaktion auf die Schnittstelle zwischen Pflege und Eingliederungshilfe ist die Leitlinie: Behandlungspflege in der Behindertenhilfe39 und die daraus resultierenden Fortbildungen zur Beratenden Pflegefachkraft, deren 37

Vgl. Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, 5. Vgl. Tiesmeyer, Pflege im Alter bei Menschen mit geistigen Behinderungen. 39 Vgl. Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe e.V., Behandlungspflege in der Behindertenhilfe. 38

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Aufgabe es ist, die pädagogischen Mitarbeitenden in den Einrichtungen und Diensten in pflegerischen Belangen zu schulen oder fachliche Empfehlungen zur Versorgung vorzunehmen. Die zögerliche Angebotsentwicklung ist im Zusammenhang mit der deutschen Geschichte zu sehen. 70 Jahre nach dem Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten wird die Gruppe von älteren Menschen mit geistiger Behinderung bedeutender, die – ganz der sonstigen Population entsprechend – im Alter vermehrt pflegebedürftig wird. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind in (stationären) Einrichtungen der Eingliederungshilfe im § 43a SGB XI auf höchstens 266 Euro pro Monat pauschaliert. Einrichtungen der Eingliederungshilfe haben pflegequalifizierte Mitarbeitende vorzuhalten, anderenfalls ist eine adäquate Versorgung der Menschen mit Behinderungen nicht zu gewährleisten. Für Bewohner_innen des Betreuten Wohnens stellt sich die Situation allerdings anders dar: Durch den sozialrechtlich veränderten Status dieses Personenkreises können auch Leistungen nach SGB V (gesetzliche Krankenversicherung) in Anspruch genommen werden. Somit kann in der Phase des eigenständigen Wohnens auch auf ambulante pflegerische Dienstleistungen zurückgegriffen werden. Entsteht dann doch die Notwendigkeit einer stationären Unterbringung, ergeben sich aufgrund der verbesserten Ressourcenlage dieser Bewohnergruppe gegenüber Bewohner_innen stationärer Einrichtungen häufig weniger integrationserschwerende Besonderheiten, da diese mit dem jeweiligen Grad der geistigen Behinderung korrelieren. Die Entwicklung neuer, innovativer Wohnformen findet größtenteils durch die Anpassung und Weiterentwicklung des Pflegeversicherungsgesetzes (SGB XI) statt. Dies ist einer der Gründe für die Entstehung neuer alternativer Wohnformen in den vergangenen Jahren, wie z.B. der Ambulanten Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz, als Ergänzung zum herkömmlichen Wohnen in den Alten- und Pflegeheimen. Auch beeinflusst die Weiterentwicklung der Pflegeversicherung (SGB XI) das Leistungs- und Angebotsspektrum für Ältere. Die seit der Einführung der Pflegeversicherung durchgeführten Reformen – 2008: Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG), 2012: Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG), 2015: Pflegestärkungsgesetz I – haben zur Leistungsverbesserung, insbesondere bei Menschen mit Demenz geführt. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von niedrigschwelligen Betreuungsangeboten für Demenzkranke sowie Beratungs- und Bildungsangeboten für Angehörige. Ein Vorreiter auf diesem Gebiet ist das Land Nordrhein-Westfalen mit der Landesinitiative Demenz-Service NRW. Im Fokus dieses Regionalentwicklungsnetzwerkes stehen

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die Verbesserung der häuslichen Situation von Menschen mit Demenz und die Unterstützung der Angehörigen durch Informationsund Qualifizierungsangebote sowie Angebote zur kleinräumigen Strukturentwicklung und Netzwerkarbeit. 40 Eine weitere Verbesserung der Leistungen ist mit der Einführung des Pflegestärkungsgesetzes II geplant. Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff mit fünf Pflegegraden soll dem individuellen Unterstützungsbedarf jedes Einzelnen gerechter werden. Insgesamt ist die gesetzliche Pflegeversicherung allerdings als ergänzende Leistung zu verstehen, als „Teilkaskoversicherung“, die die Kosten für die Pflege nicht umfassend abdecken kann. In welcher Form und welchem Umfang Menschen mit angeborener oder später erworbener Behinderung nach Einführung des Pflegestärkungsgesetzes II davon profitieren können, wird man abwarten müssen. Erfahrungen aus der Praxis zeigen jedoch, dass es bereits jetzt durchaus Nachteile für Menschen gibt, die bisher Eingliederungshilfe erhalten haben, z.B. Menschen mit einer psychiatrischen Problematik. Es passiert wohl zunehmend, dass sie in die Pflegeversicherung „geschoben“ werden. Wegen des völlig unterschiedlichen beruflichen Selbstverständnisses von Pflege und Sozialer Arbeit fällt dann Hilfe zur Inklusion weitgehend weg. Um es zuzuspitzen: Klienten von Sozialarbeitern werden zu Patienten. Im ersten Fall werden sie bei einer möglichst selbstbestimmten Alltagsbewältigung unterstützt, im zweiten Fall besorgen die Alltagsbewältigung die Pflegekräfte für sie. Aufgrund des Vorrangs von Leistungen aus der Pflegeversicherung vor Leistungen der Eingliederungshilfe bringt das für viele Menschen mit Behinderungen deutlich weniger Inklusion und Selbstbestimmung mit sich. Für ältere Menschen, die einen Unterstützungsbedarf haben, aber nicht als pflegebedürftig im Sinne des SGB XI anerkannt sind, stehen stadtteilorientierte bzw. quartiersbezogene Angebote der Offenen Altenarbeit gemäß der Altenhilfe (§ 71 SGB XII) zur Verfügung. Die Leistungserbringer sind in der Regel die Wohlfahrtsverbände und Kommunen. Zu den üblichen Leistungen der Seniorenbüros, Zentren 55plus, Begegnungsstätten, Service-Zentren etc. gehören Information, Beratung, Vermittlung und Begegnung in den Bereichen: Wohnen, Kultur, Bildung, bürgerschaftliches Engagement, Freizeit, neue Medien etc. im Sinne von Selbstbestimmung, Selbstorganisation, Aktivierung und Teilhabe. Den Konzeptionen der stadtteilorientierten bzw. quartiersbezogenen Begegnungsstätten bzw. Seniorenbüros nach stehen deren Angebote grundsätzlich allen Senior_innen zur Verfügung, unabhängig von Geschlecht, Konfession, ethnischer Zugehörigkeit, Bildungsniveau und Weltanschauung. Teilhabe ermögli40

Vgl. Landesinitiative Demenz-Service NRW, Ziele der Landesinitiative.

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S. Gerling/H. Ignatzi

chen bzw. fördern gehört neben der Stärkung von Selbstorganisation und Selbstbestimmung sowie der Förderung bürgerschaftlichen Engagements zu den wichtigsten Zielen der Anlaufstellen für Senior_innen. Wie stark die Angebote von Menschen mit angeborener oder später erworbener Behinderung frequentiert werden, lässt sich noch nicht eindeutig belegen. Erfahrungsgemäß bedarf die Heranführung dieser Personengruppe an die Angebote der Offenen Altenarbeit einer stärkeren Verzahnung zwischen der Altenarbeit und der Behindertenarbeit und konkreter Ideen in Bezug auf die Ausrichtung der Aktivitäten sowie eine adäquate personelle Ausstattung und entsprechende Qualifikation der Mitarbeiter_innen, die z.B. im Rahmen von Projektarbeit umgesetzt bzw. erprobt werden könnten. Außerdem müssen Zugangsbarrieren minimiert bzw. vollständig abgeschafft werden. Es ist bekannt, dass nicht alle Begegnungsstätten, Seniorenbüros etc. barrierefrei gebaut und ausgestattet sind, was die Zugänge und die räumliche Ausstattung, wie z.B. „Behinderten WC“, betrifft. Sozialhilferechtlich werden ältere Menschen mit Behinderungen immer wieder mit dem Vorrang der Eingliederungshilfe oder Pflegeversicherungen konfrontiert, verbunden mit der Frage, inwieweit die Pflegebedürftigkeit die Eingliederungschancen in den Hintergrund stellt. 7

Erfahrungen mit einem Modellprojekt zum Leben von Menschen mit Behinderungen im Alter

Angebote für pflegebedürftige ältere Menschen mit Behinderungen fallen regional sehr unterschiedlich und stets kritisch hinterfragbar aus: Sie können in spezialisierten Wohneinrichtungen im Rahmen der Eingliederungshilfe bei Trägern mit einer sehr hohen Anzahl von Plätzen insgesamt bestehen, aber auch durch eine Verteilung der Menschen im Alter auf konventionelle Pflegewohnheime im regionalen Netz der Altenhilfe gekennzeichnet sein. Dies zieht häufig weitere Probleme nach sich, die aus der spezifischen und eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit der Menschen mit geistiger Behinderung ableitbar sind. Einige ambulante Pflegedienste haben ihr Angebot an den Fähigkeiten der Menschen mit Behinderungen orientiert. Sie bieten neben der pflegerischen auch die hauswirtschaftliche Versorgung und tagesstrukturierende Angebote an. Die ambulanten Pflegedienste der Lebenshilfe in Mülheim und Bonn haben ihr Angebot in einfacher Sprache beschrieben.41 41

Vgl. Lebenshilfe Mülheim, Pflege; Lebenshilfe Bonn, Ambulanter Pflegedienst.

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Heinrich-Held-Haus In Trägerschaft des Diakoniewerks Essen stehen mehr als 20 stationäre Einrichtungen mit über 1.150 Wohnplätzen in der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfe, der Wohnungslosen- und Gefährdetenhilfe sowie der Altenhilfe. Zahlreiche ambulante Dienste bieten zusätzlich vielfältige Beratungsmöglichkeiten und Hilfeleistungen an. Im Jahr 2002 diskutierte das Diakoniewerk die Wohn- und Betreuungsproblematik derjenigen Senior_innen mit geistiger Behinderung, bei denen pflegerische Aspekte im Vordergrund der notwendigen Hilfsmaßnahmen standen und dringend zu lösen waren. Anlass gab unter anderem das Heinrich-Held-Haus als eine von vier Einrichtungen der stationären Eingliederungshilfe, das mit 47 Plätzen nicht mehr dem geforderten baulichen und räumlichen Standard entsprach. In Vorbereitung zur Konzeptionierung eines Neubaus wurde die Altersentwicklung der Menschen mit Behinderungen in allen stationären Einrichtungen des Diakoniewerks betrachtet. Die deutliche wachsende Anzahl der älteren Bewohner_innen beförderte den Entschluss, ein Angebot für pflegebedürftige Menschen mit geistiger Behinderung im Alter zu entwickeln. Erste Gespräche zu den Konzeptideen erfolgten mit dem Landschaftsverband Rheinland, den Pflegekassen und der Kommune im Jahr 2002. Die Umwidmung der bis dahin SGB XII refinanzierten Einrichtung in eine SGB-XI-Pflegeeinrichtung wurde 2005 vorgenommen. 2008 bezogen 23 Menschen mit einer geistigen Behinderung und Pflegestufe 1 die neu gebaute stationäre Pflegeeinrichtung im Stadtteil Essen-Überruhr. Für die 24 jüngeren Bewohner_innen entstand ein Neubau im Rahmen der Eingliederungshilfe im Stadtteil Altendorf. Das Heinrich-Held-Haus als Pflegeeinrichtung richtet sich an 80 Personen mit und ohne geistige Behinderung. Pflege und Betreuung werden nach dem Hausgemeinschaftskonzept durchgeführt, wobei jeweils 10 Bewohner_innen eine Hausgemeinschaft bilden. Die Erscheinungsformen der Beeinträchtigungen der Bewohner_innen sind sehr vielfältig und reichen von leichter Pflegebedürftigkeit bis zu sehr schwerer Pflegebedürftigkeit, bei 60 Bewohner_innen in Verbindung mit geistigen Behinderungen und weiteren körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen. Aufgrund ihres hohen Alters weisen die Bewohner_innen der Einrichtung auch dementielle Veränderungen auf, die einer gezielten Förderung und Begleitung bedürfen. Neben der aktiven Gemeinschaftlichkeit, die in der jeweiligen Wohnküche, in küchenbezogenen Tätigkeiten und der Ausgestaltung des Zuhauses stattfinden kann, werden auch im therapeutischen Bereich Maßnahmen vorgehalten. Hierzu gehören beispielsweise die Mög-

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lichkeit des Snoezelens, musiktherapeutische Unterstützung, aber auch Ausflüge und Bewegungsangebote. Wichtig sind dabei auch die Angebote, die vielen Bewohner_innen aus der ehemaligen Eingliederungshilfe vertraut sind wie Spielen, Basteln und die Gestaltung eines sinnvollen Tagesablaufs. Für das Pflege- und Betreuungskonzept bedeutet dies, dass gemeinsame Teams gebildet werden und die Aktivitäten beider Dienste aufeinander abgestimmt und zu einem sinnvollen Ganzen verknüpft werden. Leitend sowohl für die Pflege als auch für die soziale Unterstützung ist dabei; ein weitgehend selbstbestimmtes Leben der einzelnen Bewohner_innen zu fördern. Hervorzuheben ist, dass keine Zäsur oder Ausgrenzung von Fachlichkeit erfolgt – im Gegenteil: Es kristallisiert sich eine bedarfsorientierte Mischung der verschiedenen Traditionen von Pflege und Behindertenarbeit unter Beachtung der gebotenen Multiprofessionalität heraus. Ein Teil der Mitarbeitenden, die bereits in der alten Einrichtung den Menschen mit Behinderungen zur Seite gestanden hatten, verblieb im Heinrich-Held-Haus. Sie integrierten neben der Fachlichkeit ihre biografischen Kenntnisse zu den einzelnen Bewohner_innen in die neue Arbeitsform. Angesichts dessen, dass altersbedingte Erkrankungen bei Menschen mit Behinderungen häufiger und früher auftreten, sind der Aufnahme im Heinrich-Held-Haus bestimmte Kriterien vorgeschaltet: 1. Der pflegerische Hilfebedarf hat im Vordergrund der Lebenssituation der aufzunehmenden Person zu stehen. 2. Eine Werkstatttätigkeit besteht bei den Menschen mit Behinderungen nicht mehr. 3. Die aufzunehmende Person muss durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet worden sein und eine Pflegestufe zugesprochen bekommen haben. 4. Bei den aufzunehmenden Personen sollte es sich um Senior_innen handeln, das heißt, das numerische Alter muss eine Zuordnung zu dieser Gruppe zulassen. Dies ist im Einzelfall gegebenenfalls mit dem Kostenträger zu klären. Der Alltag des Heinrich-Held-Hauses als stationäre Pflegeeinrichtung stellt Menschen mit einer geistigen Behinderung denen ohne eine solche Beeinträchtigung gleich, ohne ihre Besonderheiten zu negieren. In diesem Zusammenhang ist positiv hervorzuheben, wie wechselseitig konstruktiv stimulierend sich die Gemeinschaft zwischen Menschen mit und ohne geistige Behinderung im Alter auf das Zusammenleben und die Atmosphäre im Haus auswirkt. Das Heinrich-Held-Haus wurde im Rheinland als Modellprojekt konzipiert und zwischenzeitlich in vielen Regionen in vergleichbarer Weise betrieben. Die Praxis zeigt, dass die Verzahnung der Eingliederungshilfe mit der Altenpflege ein Schritt im Sinne der UN BRK

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ist, wobei die Herausforderungen der UN BRK für die stationäre Altenarbeit noch wenig diskutiert wurden. Literatur Ackermann, Andreas, Demenz bei Menschen mit geistiger Behinderung, 2006, online: http://www.beb-ev.de/files/pdf/2006/eu_berlin/2006-0504_Ackermann.pdf, Zugriff 23.2.2016. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Demenz-Report. Wie sich die Regionen in Deutschland, Österreich und der Schweiz auf die Alterung der Gesellschaft vorbereiten können, Berlin 2011. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung, Alt und behindert. Wie sich der demografische Wandel auf das Leben von Menschen mit Behinderung auswirkt, Berlin 2009, online: http://www.berlininstitut.org/fileadmin/user_upload/Alt_behindert/Alt_und_behind ert_online.pdf, Zugriff am 22.02.2016. Bleeksma, Marjan, Mit geistiger Behinderung alt werden. Übersetzung aus dem Niederländischen, deutsche Bearbeitung und Vorwort: Regina Humbert, 3. Auflage, Weinheim/München 2009. Statistische Ämter des Bundes und der Länder (Hg.), Demografischer Wandel in Deutschland, Heft 2, Auswirkungen auf Krankenhausbehandlungen und Pflegebedürftige im Bund und in den Ländern, Wiesbaden 2010, online: http://www.statistikportal.de/StatistikPortal/demografischer_wandel_heft2.pdf, Zugriff am 21.04.2016. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung, Bevölkerungsentwicklung 2013. Daten, Fakten, Trends zum demografischen Wandel, Wiesbaden 2013, online: http://www.bibdemografie.de/SharedDocs/Publikationen/DE/Bros chueren/bevoelkerung_2013.pdf?__blob=publicationFile&v=12, Zugriff am 15.06.2015. Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Abschlussbericht zur Studie „Wirkungen des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes“. Bericht zu den Repräsentativerhebungen im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit von TNS Infratest Sozialforschung, München 2011, online: http://www.tnsinfratest.com/SoFo/_pdf/2011_Abschlussbericht_Wirkungen_des _Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes.pdf, Zugriff am 14.09.2015.

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Siegfried Bouws/Christiane Grabe/Stefan Schache/ Kristin Sonnenberg

2.5 Mosaiksteine inklusiver Sozialraum„Begleitung“

Mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN BRK) tritt ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag in Kraft, der umfassend und gleichsam detailliert die Lebenssituation von (behinderten) Menschen in den Fokus nimmt, die an der vollen gesellschaftlichen Teilhabe gehindert werden. Der Konvention liegt ein Verständnis von „Behinderung“ zugrunde, das erstmals rechtliche Bedeutung erlangt: ein soziales Erklärungsmodell, das Behinderung nicht nur als medizinische, individualisierte Kategorie beschreibt, sondern v.a. auf komplexe Wechselwirkungen mit einstellungs- sowie umweltbedingten Barrieren verweist. Dies ist in der UN BRK richtungsweisend und fordert dementsprechend die Entwicklung inklusiver Strukturen sowie die Gestaltung und Unterstützung einer inklusiven Gesellschaft, in der zunehmend soziale Ausgrenzung und Diskriminierung abgebaut werden sollen. Da liegt es nahe, eben jenen Fokus zu erweitern und zu vertiefen und demzufolge nach Gestaltungsmöglichkeiten und -bedingungen des Sozialraums und des Gemeinwesens zu fragen. Eine beabsichtigte Gestaltung des Sozialraumes sowohl auf politischer als auch gesellschaftlicher Ebene stellt eine notwendige Voraussetzung einer barrierefreien Teilhabe im Gemeinwesen dar. Mit der Zentrierung auf das „Soziale“ – soziale Beziehungen und Bezüge sowie Lebensraum – geht keine Vernachlässigung personenzentrierter Überlegungen einher, vielmehr nur eine konzeptuelle Entscheidung, die ihre Begründung u.a. in den Begriffen der Barrierefreiheit und der Teilhabe findet. Im folgenden Beitrag werden unterschiedliche Aspekte einer (inklusiven) Sozialraumentwicklung – vorerst als ordnender Begriff verwandt – beleuchtet. Aus der Darstellung und Kritik bestehender Perspektiven und Auffassungen wird schnell deutlich, dass nicht von einem, und noch weniger von dem inklusiven Sozialraum gesprochen werden kann. So findet auch keine Konkretion eines solchen Sozialraums statt. Vielmehr wird der inklusive Sozialraum mit Schulz-

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S. Bouws/C. Grabe/S. Schache/K. Sonnenberg

Nieswandt1 und Wegner2 als Ziel und auch als Utopie verstanden, der richtungsweisend gesetzt ist (unhintergehbar) und verantwortlich angestrebt werden sollte. Es wird im Verlauf deutlich werden, dass von der Idee einer Machbarkeit und Herstellung inklusiver Sozialräume Abstand genommen wird und vielmehr auf grundlegende Bedingungen und Voraussetzungen im komplexen Prozess einer inklusiven Gestaltung bzw. Begleitung verwiesen wird. Wenn auch kein inklusiver Sozialraum unmittelbar herzustellen ist, so können doch mittelbar durch Projekte und Angebote Bedingungen geschaffen werden, die in diesem Sinne die Entstehung und Entwicklung eines inklusiven Sozialraums begünstigen. Zwei abschließende Projekte unterstreichen diesen Gedanken und illustrieren die Vorgehensweise. 1

Gemeinwesen – Quartier – Sozialraum?

Der sozialen Perspektive wird immer wieder die Vernachlässigung bzw. auch Bagatellisierung personaler, individueller Besonderheiten vorgeworfen, wobei durch diese kritischen Hinweise wohl eher das komplexe Gefüge deutlich wird, dem man sich nur durch viele und eben sich unterscheidende Perspektiven nähern kann. Der Bedeutung des Sozialraums sind sich aber alle Seiten bewusst, sodass der Notwendigkeit und/oder Möglichkeit der Gestaltung und Entwicklung eines Sozialraums seit den 1990er Jahren immer mehr Relevanz zugesprochen wurde. Mit dem prägenden Schlagwort „Vom Fall zum Feld“ läuteten Hinte, Litges und Springer diesen paradigmatischen Wechsel v.a. in der Sozialen Arbeit ein.3 Unentschieden blieb jedoch, wer die Verantwortung für die Gestaltung solcher sozialen Räume hat – diskutiert werden hier mitunter die Zivilgesellschaft und der Staat. In der aktuellen Debatte werden die Begriffe Gemeinwesenarbeit, Quartiersmanagement und Sozialraumorientierung teilweise synonym benutzt. Somit vermischen sich unterschiedliche Intentionen und Ziele bzw. es entsteht die Gefahr, dass diese verschwinden und die Sozialraumorientierung im Sinne eines Abbaus sozialstaatlicher Verantwortung instrumentalisiert wird bzw. ein unreflektierter Einsatz verbunden mit einem verkürzten Verständnis den Abbau sozialer Leistungen fördert.4 Diese Gefahr besteht, wenn im Gemeinwesen Aufgaben von Bürgerinnen und Bürgern übernommen werden, die der Sozialstaat nicht mehr wahrnehmen will. So fordern Dahme und 1

Vgl. Schulz-Nieswandt, Der inklusive Sozialraum. Vgl. Wegner, Erneuerte Sozialität. 3 Vgl. Hinte/Litges/Springer, Soziale Dienste. 4 Vgl. Dahme/Wohlfahrt, Der Sozialraum als Rettungsanker. 2

Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Wohlfahrt, sich dafür einzusetzen, weiterhin am Bedarf zu planen, sodass nicht „[…] die Kassenlage Maßstab der Gestaltung von Hilfeprozessen“5 wird. Hier wird ein wichtiger Querverweis deutlich: Die Realisierung von Inklusion setzt ein entsprechendes Finanzierungskonzept voraus, an dem der Staat sich maßgeblich zu beteiligen hat, zivilgesellschaftliches Engagement reicht allein nicht aus. Wohlfahrt weist auf die Gefahr hin, die Verantwortlichkeit für die Bewältigung zentralstaatlich verursachter Probleme in die Mobilisierung der bürgerschaftlichen Ressourcen zu verschieben.6 Gemeinsam ist den drei Begriffen Gemeinwesen, Quartier und Sozialraum, dass sie in der Regel über einen territorialen Bezug (Stadtteil, Nachbarschaft) definiert werden. Für das Gemeinwesen gilt ferner, dass es einen „sozialen Zusammenhang von Menschen“7 bezeichnet, der ebenfalls über „[…] Interessen und funktionale Zusammenhänge (Organisation, Wohnen, Arbeit, Freizeit) oder kategoriale Zugehörigkeit (Geschlecht, Ethnie, Alter) vermittelt ist bzw. darüber definiert wird.“8

Weiterhin umstritten ist die Definition und damit verbunden die mögliche Beeinflussung der Gestaltung des sozialen Raumes. Unterschieden werden territorial bestimmte Räume und soziale bzw. sozial-strukturelle Prozesse aus der Perspektive des Subjektes. Stövesand und Stoik fassen die Diskussion in ihrem Beitrag so zusammen, dass Raum sozial hergestellt wird, strukturierend wirkt und somit durch Gesellschaft strukturiert wird.9 Raum ist dann immer Sozialraum. Ergänzend hierzu ist auf die Auslegung von Kessl zu verweisen, der auf die unterschiedlichen Lesarten von Sozialraum hinweist und diese untersucht hinsichtlich (1) Lokalitätstraditionen sozialer Bewegungen, (2) sozial-idealistischen Re-Vergemeinschaftungstraditionen (Wunsch nach bürgerschaftlichem Zusammenhang im Nahraum/Sozialraum) und (3) einer Perspektive der kritischen Sozialen Arbeit, die machttheoretisch analytisch hinterfragt, wie neo-soziale Re-Regulierungsstrategien sich auf die Subjekte auswirken und wie soziale Konflikte, die im Nahraum aufbrechen, wieder an die politische Ebene zurückvermittelt werden können.10 Im ursprünglichen Sinne richtet sich Gemeinwesenarbeit ganzheitlich auf die Lebenszusammenhänge von Menschen, „Ziel ist die Verbes5

Dahme/Wohlfahrt, Der Sozialraum als Rettungsanker, 70. Vgl. Wohlfahrt, Sozialraumorientierung, 252. 7 Stövesand/Stoik, Gemeinwesenarbeit,16. 8 Stövesand/Stoik, Gemeinwesenarbeit,16. 9 Vgl. Stövesand/Stoik, Gemeinwesenarbeit, 25ff. 10 Vgl. Kessl/Maurer, Soziale Arbeit, 119f. 6

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serung von materiellen (z.B. Wohnraum, Existenzsicherung), infrastrukturellen (z.B. Verkehrsanbindung […]) und immateriellen (z.B. Qualität sozialer Beziehungen, Partizipation, Kultur) Bedingungen unter maßgeblicher Beteiligung der Betroffenen.“11 Sie umfasst immer sowohl sozial bzw. lokalpolitisches als auch kollektives Engagement und geht zurück auf Jane Addams Ende des 19. Jahrhunderts. Staub-Bernasconi fasst die Kritik der Vermischung von Begriffen und Konzepten eindrücklich zusammen: „Dass ihre [Jane Addams] Konzeption von kritisch-professioneller Sozialer Gemeinwesenarbeit kaum Berührungspunkte mit dem hat, was man heute als Quartiersmanagement oder Sozialraumorientierung bezeichnet und ihre Forderungen nach grundlegender Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse hochaktuell, weil uneingelöst sind, dürfte offensichtlich sein.“12 Ein Versuch der Abgrenzung der Begriffe und damit verbundenen Zielsetzung lautet: Quartiersmanagement ist als eine Variante der sozialraumorientierten Sozialen Arbeit zu sehen, die aufgrund der Einbettung in kommunalpolitische Steuerungsstrategien eine geänderte Ausrichtung bekommt: „Es geht jetzt nicht (mehr) um das Verhältnis von Sozialraum und Individuum als Gegenstand sozialarbeitsbezogener Fallbearbeitung, sondern um Sozialarbeit als Bestandteil einer auf soziale Räume bezogenen Stadt- und Verwaltungspolitik.“13 Dabei geht der Begriff des Sozialraums (social area) auf wohnquartiersbezogene stadtsoziologische Forschungen in den USA in den 1920er und 1950er Jahren zurück14 und wird zur Beschreibung von sozialräumlicher Verteilung von Wohnstandorten und Segregation von gesellschaftlichen Gruppen in Wohngebieten oder Wohnquartieren genutzt, ist also ein bestimmter territorialer (städtischer) Raum, in dem beispielsweise empirisch Ungleichheiten nachgewiesen werden können. Weitere analytische Kategorien neben der Konzentration einer bestimmten Gruppe sind materielle Gegebenheiten eines Wohngebietes, dialektische Wechselwirkungen zwischen Lebenslagen der Bewohner_innen und der Herausbildung bestimmter Milieus oder Subkulturen, welche die „sozialen Beziehungen untereinander und die sozialen Wandlungsprozesse nachhaltig positiv oder negativ prägen. Insbesondere für sozial benachteiligte und wenig mobile Gruppen in benachteiligten Wohnquartieren gilt, dass die Lebensbedingungen im Wohngebiet insgesamt die Entwicklungschancen und Sozialisationsbedingungen nachhaltig negativ prägen.“15 11

Stövesand/Stoik, Gemeinwesenarbeit, 21. Staub-Bernasconi, Integrale Soziale Demokratie, 42. 13 Wohlfahrt, Sozialraumorientierung, 243. 14 Vgl. Krummacher et al., Soziale Stadt, 12. 15 Krummacher et al., Soziale Stadt, 12. 12

Inklusive Sozialraum-Begleitung

291

Hieraus entstanden ist die Konsequenz, Maßnahmen zur Bekämpfung sozialer Ungleichheit verstärkt sozialraumorientiert und kleinräumig auszurichten. Umstritten ist hingegen noch, so Krummacher et al., ob im Zeitalter der Digitalisierung und Entgrenzung von Arbeitsmärkten die Zusammenhänge nicht deutlich komplexer und raumungebundener sind und sozialrechtlich abgesicherte Einzelfallhilfen zugunsten der Sozialraumorientierung und einem damit verbundenem Sparkonzept abgebaut werden.16 Vor dem Hintergrund der seit den 1980er Jahren entstehenden Armutsquartiere in Städten steht die Thematik von „Sozialspaltung“ und die „kleinräumig-sozialräumliche Verfestigung von Armutsspiralen“17 im Interesse von Analysen und es entstehen Programme zur Entwicklung von Städten, wie z.B. „Soziale Stadt“18. Bund, Länder und Kommunen sind angesprochen, vorhandene Interventionsformen auf den Ebenen zentraler sozialstaatlicher Interventionen, länderspezifischer Interventionen (wie z.B. der Landeswohnungspolitik) und der Ebene kommunaler Stadtentwicklung zu verändern. Diese unterschiedlichen Akteure auf verschiedenen Ebenen sind gleichermaßen von der Umsetzung der UN BRK betroffen und müssen hier, ähnlich wie bei der Armutspolitik, eine gemeinsame Strategie entwickeln. 2

Entwicklung eines inklusiven Sozialraums

Für die Operationalisierung solcher Strategien hat Hinte methodische Prinzipien für sein sogenanntes Fachkonzept Sozialraumorientierung aufgeführt, die nicht mechanistisch als Handlungsanleitung, sondern vielmehr als Orientierung, „als Bojen [zu verstehen sind], an denen man sich orientiert und die gleichzeitig Spielraum lassen.“19 Es sind Prinzipien, die eine gewisse Haltung deutlich werden lassen, sodass Lebenswelten gestaltet und Möglichkeiten kreiert werden können und die Menschen vor Ort selbstständig und selbstwirksam ihre eigene Lebenssituation verbessern: – Orientierung an Interessen und am Willen – Unterstützung von Eigeninitiative und Selbsthilfe – Orientierung an Ressourcen – zielgruppen- und bereichsübergreifendes Arbeiten 16

Vgl. Krummacher et al., Soziale Stadt, 13f. Krummacher et al., Soziale Stadt, 9. 18 1999 angelaufenes Gemeinschaftsprogramm von Bund, Ländern und Kommunen für Stadteile mit besonderem Entwicklungsbedarf (vgl. Krummacher et al., Soziale Stadt, 10). 19 Hinte/Treeß, Sozialraumorientierung, 45. 17

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– Kooperation und Koordination20 Konkret für die Entwicklung eines inklusiven Gemeinwesens haben Rohrmann et al. in ihrem Forschungsprojekt und der daraus entstandenen Publikation „Inklusive Gemeinwesen planen. Eine Arbeitshilfe“21 fünf Dimensionen herausgearbeitet, die eine hohe Relevanz für einen solchen Prozess bergen: – Partizipation und Selbstvertretung von Menschen mit Behinderungen – Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung für die Idee der Inklusion – Gestaltung einer barrierefreien Infrastruktur – inklusive Gestaltung von Bildungseinrichtungen und anderer Einrichtungen für die Allgemeinheit (Vereine, Museen, Theater, Verwaltung usw.) – Planung und Entwicklung flexibler und inklusionsorientierter Unterstützungsdienste22 Die Autoren weisen darauf hin, dass das Thema Inklusion im Sozialraum, in der Kommune angekommen sei, dass aber die konkrete Bedeutung der UN BRK und v.a. die damit verknüpften Fragen der Umsetzung noch erhebliche Unsicherheit hervorrufen, sodass einleitend unterstrichen wird, dass es „für den Weg zum inklusiven Gemeinwesen […] kein Patentrezept“ gäbe.23 Eine Analyse aus dem Jahr 2003 aus der Perspektive der Stadtentwicklung, die im Kontext interdisziplinärer Forschung entstand, hat sich damit beschäftigt, sowohl für die Raumplanung als auch für die Soziale Arbeit Möglichkeiten und Grenzen der Sozialraumorientierung zu benennen, Diskurse sowie Ambivalenzen zu verdeutlichen und Antworten zu finden für Veränderungen und Umbrüche, Spaltungen in den Sozialräumen und Wirkungen von Steuerungsstrategien. Dabei ist die folgende Erkenntnis zentral: „Generell gilt: Sozialraumorientierung beschreibt nur eine [Hervorhebung im Original] Handlungsebene sozialer Stadtentwicklungspolitik. Sie bildet kein Zauber-Instrument zum Abbau gesellschaftlich verursachter Ungleichheit und Benachteiligung. (Sozial-)Politische Leitziele, Macht- und Mehrheitsfragen ersetzt Sozialraumorientierung natürlich nicht. Es ist eine Binsenweisheit, dass diese erstritten werden müssen.“24

20

Vgl. Hinte/Treeß, Sozialraumorientierung. Vgl. Rohrmann et al., Inklusive Gemeinwesen planen. 22 Vgl. Rohrmann et al., Inklusive Gemeinwesen planen, 25. 23 Rohrmann et al., Inklusive Gemeinwesen planen, 19. 24 Krummacher et al., Soziale Stadt, 14. 21

Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Es wird hier deutlich, dass im Kontext einer Gestaltung eines (inklusiven) Sozialraums weder ein Rezept noch eine klare Handlungsanleitung noch eine Idee der Machbarkeit oder eines Zauberinstruments vorherrschen, sondern eine eher nüchterne und „realistische“ Einschätzung begrenzter Wirkmöglichkeiten, denn: „Negative Folgen marktvermittelter und gesellschaftlicher Ungleichheit und Sozialraumspaltungen lassen sich nicht durch kommunales Stadtteil- und Quartiersmanagement weg reparieren.“25 Allerdings sollten diese Bescheidenheit und der Zweifel an der eigenen Wirkkraft nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sozialraumorientierung als eine neben anderen Handlungsebenen entscheidende Entwicklungsimpulse setzen kann; und vielmehr noch beinhaltet diese Sichtweise die grundlegende Annahme, dass ein Sozialraum, ein Gemeinwesen, eine Kommune etc. nicht „einfach“ machbar, bzw. herstellbar sind. Eine solche sozialraumorientierte Herangehensweise kann Bedingungen schaffen, Impulse setzen, Engagement fördern und den Willen explizieren usw.; sie kann aber nicht von klaren kausalen Zusammenhängen ausgehen und Forderungen und Änderungsvorhaben „funktionalistisch“ umsetzen. Und auch für die Umsetzung der Forderungen der UN BRK gilt: „Die in der Konvention notwendigerweise abstrakten, universell gültigen Menschenrechte sperren sich von ihrer Anlage her gegen eine gleichsam mechanistische Umsetzung.“26 In diesem Sinne scheint es vielleicht auch ratsam, in Anlehnung an systemisch-therapeutische Grundsätze von Sozialraum-„Begleitung“ als professionelle Aufgabe und Handlung zu sprechen. Diese nicht-mechanistische Sicht prägt mittlerweile die unterschiedlichen „Instrumente“ zur Initiierung und Unterstützung inklusiver Entwicklungsvorhaben, wie sie in den verschiedenen Indizes zu finden sind.27 Sie gelten als eine strukturierende Möglichkeit, sich anhand eines umfangreichen Fragenkatalogs selbst infrage zu stellen, um durch eine so stattfindende Analyse Missstände aufzudecken und diese im inklusiven Sinne umzugestalten. Die Dreiteilung der Dimensionen in inklusive Praktiken, inklusive Strukturen und inklusive Kulturen ist dabei richtungsweisend und zentral. Die Abkehr von „Machbarkeitsvorstellungen“ wird v.a. in der dritten Neuauflage des Index für Inklusion sehr deutlich,28 wenn auf die zunehmende Wichtigkeit inklusiver Werte (Dimension: inklusive Kultur) und ihrer Bedeutung verwiesen wird sowie auf die Notwendigkeit von externen 25

Krummacher et al., Soziale Stadt, 231. Rohrmann et al., Inklusive Gemeinwesen planen, 24. 27 Vgl. Booth/Ainscow, Index for Inclusion; Boban/Hinz, Index für Inklusion; Booth et al., Index für Inklusion; MSJG, Inklusion vor Ort. 28 Vgl. Booth/Ainscow, Index for Inclusion. 26

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Prozessbegleitern.29 Mit einer Steigerung der (Selbst-)Reflexivität zielen die Indizes, explizit sichtbar im kommunalen Index in den Abschnitten „Ich mit Mir“ und „Ich mir Dir“ (bspw. Reflexion – Haltung – Prägung),30 auf die Bereitschaft, innezuhalten und sich anhand von Leitabschnitten infrage zu stellen. Mit dieser Vorgehensweise wird die Wichtigkeit der oben genannten Prinzipien unterstrichen, da sie „Interesse und Wille“ sowie „Eigeninitiative und Selbsthilfe“ (s.o.) in den Vordergrund stellen. Allerdings, und das wird auch bei Rohrmann deutlich, hängt die erfolgreiche Umsetzung der UN BRK und deren Planung „sehr stark von Interessengruppen ab, die eine Bereitschaft für strukturelle Veränderungen zeigen und sich dafür einsetzen“,31 sodass in Arbeitshilfen, Programmen und Initiativen nur von einer Ermutigung der Menschen gesprochen wird, sich auf einen inklusiven Wandelprozess einzulassen.32 Dass dieser von inklusiven Werten getragen wird und von übergreifenden normativen Grundlagen, wie Selbstbestimmung, Teilhabe, Partizipation oder Barrierefreiheit bestimmt ist, macht alle geplanten Wandelprozesse inklusiver Einrichtungen und Sozialräume usw. spannungsreich. Es gilt, grundsätzlich zwischen Eigenem und Anderem zu vermitteln, zwischen Selbstreflexivität/Willen und normativen Vorgaben, zwischen dem, was ich gutheiße und vertrete (Haltung, Interesse), und dem, was als „gut“ eingefordert wird. In diesem Zusammenhang ist auch die zweite Dimension „Sensibilisierung und Bewusstseinsbildung für die Idee der Inklusion“ von Rohrmann et al. einzuordnen (s.o.). Ohne dieses Spannungsverhältnis moralphilosophisch weiter zu entfalten, soll auf die Schwierigkeit bei Gestaltungen von Sozialräumen hingewiesen werden, die Menschen vor Ort in ihrer jeweiligen Lebenssituation ernst zu nehmen und als gleichwertige Dialogpartner anzuerkennen, gleichsam aber Vorstellungen einer „richtigen“, normativ begründeten Gestaltung zu fordern. Die notwendige Berücksichtigung des Willens, der Eigeninitiative, der Selbstwirksamkeit bei der Gestaltung eines inklusiven Sozialraums und der Entstehung einer inklusiven Kultur, kann sich – nicht notwendigerweise – an inklusiven Vorstellungen brechen. Es ist also der spannungsreiche Spagat anzugehen, Selbstreflexivität und Haltung anzusprechen, etwas höchst Individuelles und Nichtmachbares,33 und gleichzeitig die Verankerung inklusiver Werte als normative Vorgabe zu fordern. Wegner wird in diesem Zusammenhang noch deutlicher, indem er mit Schulz29

Vgl. Boban/Hinz, Index für Inklusion. Vgl. MSJG, Inklusion vor Ort. 31 Rohrmann et al., Inklusive Gemeinwesen planen, 26. 32 Vgl. Rohrmann et al., Inklusive Gemeinwesen planen, 26. 33 Vgl. Schache, Leibliche Reflexivität, 332. 30

Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Nieswandt34 formuliert, dass „inklusionsgetriebene Entwicklung vernetzter Sozialräume eine kulturelle Entwicklungsaufgabe des Menschen“ sei;35 im feinen Unterschied zu Schulz-Nieswandt, der festhält, die Entwicklung inklusiver Sozialräume sei auch eine kulturelle Entwicklungsaufgabe des Menschen.36 Denn „herausgefordert sind die mentalen Modelle, die kollektiv geteilten Denkstile […], die Routinen des Alltags, die liebgewonnen Gewohnheiten, die verdinglichten Vorstellungen von Selbstverständlichkeit, die kulturellen Deutungsmuster und Handlungsorientierungen, die jeweiligen Gleichgewichte von Eigensinn und Gemeinsinn, von Geschmack und Respekt, von Toleranz und Selbstpositionierung usw.“37

Es wird deutlich, dass in der Entwicklung und Gestaltung inklusiver Sozialräume – und daher auch besser: in der Begleitung – immer auch kulturelle Anliegen, Vorstellungen und Haltungen richtungsweisend und v.a. relevant sind, die zudem als Tiefenstrukturen eines Gemeinwesens unterhalb der manifesten Verhaltensdisposition „nur zu erahnen“ sind.38 Nach Wegner bedeutet Inklusion vor allem eins: den Abschied von Normalitätsstandards. Inklusion setze voraus, dass „Menschen sich in ihrer völligen Unterschiedlichkeit und zum Teil irritierenden Andersartigkeit gegenseitig anerkennen und nicht nur leben lassen, sondern sich gegenseitig zu einem vollen Lebensgenuss verhelfen.“39 Das setzt allerdings grundlegend voraus, dass sich die etablierte Normalitätskultur, und hier in Funktion von Quartiersmanagern, Sozialraumplanern, Gemeinwesenarbeitern u.a., über ihre dominierenden, hegemonialen und binären Codierungen sozialer Ordnungen hinwegsetzt und partizipativ Sozialraum-Begleitung angeht. 3

Inklusive Sozialraum-Begleitung in der Praxis

In diesem überaus spannungsreichen Feld bewegen sich auch die konkreten Praxisbeispiele. Sie zeigen die große Bandbreite auf zwischen top-down-gesteuerten Prozessen, zwischen Gestaltung von Strukturen und konzeptuellen Überlegungen, bspw. für Fort- und Weiterbildungen, und bottom-up-initiierter Schaffung von Erfahrens34

Vgl. Schulz-Nieswandt, Der inklusive Sozialraum. Schache, Leibliche Reflexivität, 324. 36 Vgl. Schulz-Nieswandt, Der inklusive Sozialraum, 35. 37 Schulz-Nieswandt, Der inklusive Sozialraum, 35. 38 Vgl. Schulz-Nieswandt, Der inklusive Sozialraum. 39 Schache, Leibliche Reflexivität, 323. 35

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und Erprobungsräumen; sie zeigen die unterschiedlichen Wege auf von individuellen Problemlagen hin zur Notwendigkeit struktureller Umgestaltung, von gesellschaftlichen Analysen hin zur Umsetzung in konkrete Praxis; sie zeigen eindringlich, wie groß der Austragungsort gesellschaftlicher Umbrüche und Entwicklungen gedacht werden muss und wie im Kleinen begonnen werden sollte. 3.1 Das Evangelische Zentrum für Quartiersentwicklung der Diakonie RWL – Think Tank, Lernplattform und Netzwerk zur Gestaltung von Transformationsprozessen und zur Förderung von sozialer Innovation in Diakonie und Kirche, Quartier und Nachbarschaft Demografischer Wandel, Wirtschaftswandel, Klimawandel, fortschreitende Individualisierung und Heterogenisierung von Lebenslagen und Lebensstilen, die Gleichzeitigkeit von Wachstums- und Schrumpfungsprozessen und damit verbunden zunehmende Standortdisparitäten, Unsicherheit bezüglich vertrauter Sicherungs- und Finanzierungssysteme und traditioneller Verantwortlichkeiten, Umbau gesetzlicher Grundlagen (bspw. Bundesteilhabegesetz), Veränderung gesellschaftspolitischer Leitbilder (Stichworte Ambulantisierung und „Inklusion“) – wir leben in Zeiten tiefgreifender, global, regional und lokal wirkender Wandlungsprozesse, deren Ausgang kaum absehbar ist. Kirche und Diakonie sind hiervon in vielfacher Weise betroffen hinsichtlich veränderter Nutzer- und Mitarbeiterstrukturen, neuer gesetzlicher und finanzierungsrelevanter Rahmenbedingungen, einem wachsendem Spannungsverhältnis zwischen christlichem Auftrag und unternehmerischen Notwendigkeiten. Austragungsort vieler dieser Entwicklungen ist der soziale Nahraum, das erlebbare persönliche Lebens- und Wohnumfeld. Nicht von ungefähr wird daher seit einigen Jahren der Blick auf neue/alte Fachkonzepte wie Gemeinwesenarbeit/Sozialraumorientierung gelenkt, werden Quartier und Nachbarschaft als zentrale Aktionsorte (auch im Rahmen von Förderprogrammen von EU, Bund, Land, Stiftungen) identifiziert und neue, stark zivilgesellschaftlich besetzte Akteursbündnisse skizziert. Passgenau hierzu ist das Leitbild „Sorgende Gemeinschaft – Caring Community“40eingebracht worden, das zugleich beflügelt und Alarmglocken läuten lässt. „Mehr Care – Ja!“ – aber nicht in erster Linie als Bewältigungsstrategie gegen Überalterung, leere öffentliche Kassen, Fachkräftemangel, sondern ganz im ursprünglichen Sinne von Diakonie und Kirche als Chance zur Rückgewinnung des Sozialen in Zeiten eines Primats von 40

Vgl. Klie, Potenziale des Alterns.

Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Partikularinteressen. „Care“ verstanden als gemeinsames Ringen und Sorgen um das Gemeinwohl ist dann viel mehr als ein neues Altenhilfekonzept oder die Erweiterung der individuellen Hilfeplanung in der Behindertenarbeit um Aspekte des Sozialraumes. Es geht um soziale Innovation – individuell, unternehmensbezogen und gesamtgesellschaftlich – gestalt- und spürbar im konkreten Lebens- und Arbeitsumfeld und hier operationalisiert durch das Fachkonzept Sozialraumorientierung. Sozialraumorientierung als neues (altes) unternehmerisch-strategisches Leitprinzip setzt an bei der Rücknahme von primär einrichtungsbezogenem Denken, der Öffnung in den Sozialraum, ins Quartier mit zielgruppenübergreifenden Konzepten, der Konversion von konzentrierten Angeboten und Standorten von Komplexeinrichtungen. Es bedeutet die Bereitschaft, Konkurrenz und Wettbewerb zugunsten von Kooperation und Partnerschaft zu verringern, sich an der vehementen Einforderung entsprechender Rahmenbedingungen zu beteiligen (und damit mehr Politik zu wagen), sich auf neue Akteure und fremde Welten einzulassen (Lebenswelten und Fachdisziplinen), und es bedingt die Bereitschaft zur Beteiligung auf Augenhöhe. Hierzu müssen nicht nur gewachsene Hierarchien hinterfragt, sondern auch Kontroll- und Steuerungsverluste zugunsten gemeinsamer Gestaltungsprozesse hingenommen werden – in einem Klima des Vertrauens auf das Gelingen hochkomplexer Prozesse, wie sie die Gestaltung einer Caring Community oder auch die Quartiersentwicklung darstellen. Diakonie und Kirche werden sich mehr als bisher als starke Akteure in der sozialen Stadt- und Regionalentwicklung, insbesondere auch beim Thema „Wohnen“, aufstellen und profilieren müssen. Dies setzt auf unternehmerischer Ebene erhebliche Veränderungsprozesse im Hinblick auf Aufgabenbereiche, Haltungen, Stellenprofile, Einbeziehung bürgerschaftlichen Engagements und damit auf die Organisations- und Personalentwicklung insgesamt voraus. Ebenso ist ein erweiterter Verbandsarbeitsbegriff erforderlich, im Sinne – einer strategisch-fachlichen Weiterentwicklung eines zukunftsgerichteten Verständnisses diakonisch-kirchlichen Arbeitens (von der Zukunft her entwickeln), – der politischen Lobbyarbeit und des gesellschaftlichen Diskurses zur Förderung entsprechender Rahmenbedingungen, – des Aufbaus von verbandsübergreifenden Lern- und Vernetzungsplattformen (Klugheit des Systems nutzen) und – der Begleitung und Unterstützung modellhafter Entwicklungs- und Umsetzungsprozesse von Akteuren vor Ort (ausgehend von „Labo-

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ren der Zivilgesellschaft“41: Geschichten des Gelingens in die Welt bringen und gesellschaftliche Transformationsprozesse befördern). Nicht nur im Rahmen der Umsetzung von Inklusion geht es in der Sozialen Arbeit und den zugrunde liegenden Konzepten immer weniger um ein Entweder-oder (ambulant – stationär, spezialisiert – zielgruppenübergreifend, fallbezogen – budgetorientiert, global – regional – lokal, steuernd – gestaltend, vorgebend – partizipativ), sondern um der jeweiligen Situation und Herausforderung angemessene Kombinationen, um integrative, flexible, auch temporäre Lösungen und um lernfähige, experimentier- und fehlerfreundliche Strukturen und Systeme. Zunehmend findet die Arbeit an Schnittstellen statt – unterschiedliche Zielgruppen, unterschiedliche Rechts- und Finanzierungsgrundlagen, unterschiedliche Kosten- und Leistungsträger. Erforderlich hierfür sind stärker intersektionell und intradisziplinär ausgerichtete, projektorientierte, dialogische Bearbeitungsstrukturen und -methodiken und die Intensivierung der Zusammenarbeit mit anderen (fachfremden) Akteuren. Beschrieben werden kann dieses Verständnis diakonisch-kirchlicher Arbeit auf Unternehmens- und auf verbandlicher Ebene mit dem Begriff des „Hybriden“. Beispielhaft für diese Form der Verbandsarbeit steht das Evangelische Zentrum für Quartiersentwicklung. Das Zentrum ist ein Kooperationsprojekt des Evangelischen Erwachsenenbildungswerkes der rheinischen Landeskirche und des Spitzenverbandes Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe – hervorgegangen aus dem Zentrum für innovative Seniorenarbeit (ZIS) und basierend auf dem NRW Modellprojekt WohnQuartier4 (2008–2011). „Wir können uns noch so bemühen […], die besten städtebaulichen Voraussetzungen für das Zusammenleben zu schaffen. Wenn uns die Fähigkeit des friedlichen und nachbarschaftlichen konstruktiven Zusammenlebens […] verloren geht, dann nützt auch die physische Qualität der Stadt letztlich nichts. Das bedeutet nicht mehr und nicht weniger, die lokale Gesellschaft in die Problemstellungen und in die Erörterung von Handlungsoptionen soweit wie immer möglich mitzunehmen und zu beteiligen. […] Städte brauchen, besonders in schwierigen Zeiten […] eine im Zusammenwirken und Zusammenstehen geübte Stadtgesellschaft“42,

so die Worte des Planers Gerhard Curdes, der schon vor gut zwanzig Jahren proklamierte, dass die Zeiten eher schwieriger geworden sind. Das Zusammenstehen und -wirken haben wir eher wenig geübt. Im Mittelpunkt der Arbeit des Evangelischen Zentrums für Quartiersentwicklung stehen daher Partizipation und Selbstorganisation – bei der 41 42

Vgl. Welzer, FUTUR ZWEI. Curdes, Stadtstruktur.

Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Begleitung von Modellvorhaben, der Vermittlung von Methoden und Techniken zur „Inklusiven Quartiersentwicklung“ und der Gestaltung von verbandsübergreifenden Lernplattformen und Innovationsnetzwerken. Eingebunden in ein interdisziplinäres Referentennetzwerk werden Beratungskonzepte, Lernformen und Methoden an den Schnittstellen Altenarbeit – Behindertenarbeit – Engagementförderung – Jugendarbeit und Soziales – Planen und Bauen – Bildung und Kultur eingesetzt, so inklusiv wie möglich. Sie sollen das Heraustreten aus Mustern, Rollen und Haltungen fördern und damit größere Handlungsfreiräume eröffnen. Auch hier kommt dem Quartier als Erfahrungsraum, Ort für gesellschaftlichen Diskurs, Experimentierfeld, Möglichkeitsraum, eine entscheidende Rolle zu. Dafür braucht es die Entdeckung inspirierender Rückzugs-, Entschleunigungs- und Entwicklungsorte und die Anwendung der besten Konzepte und Methoden für zugleich niedrigschwellige, milieu- und kulturspezifische und vor allem tiefergehende Formen der Kommunikation und Partizipation – wie sie bspw. in der systemischen Beratung, der ästhetischen Praxis nach Beuys, der Tiefenökologie und der humanistischen Psychotherapie entwickelt worden sind. Beteiligungsangebote, die an der Oberfläche bleiben, erzeugen oberflächliche und „bewährte“ Ergebnisse. Notwendig ist jedoch eine grundlegende Auseinandersetzung mit den Grenzen und Möglichkeiten eines „guten Lebens für Alle“ – gegen Alternativlosigkeit und Politik- und Kirchenverdrossenheit. Gute Quartiere sind Lernorte, die diese Auseinandersetzung beflügeln, Sinnhaftigkeit und Selbstwirksamkeit vermitteln und die lokalen Pioniere eines neuen Miteinanders vernetzen. Thematischer Schwerpunkt des Evangelischen Zentrums für Quartiersentwicklung ist die Förderung sozialer Innovation und von Inklusion – in Nachbarschaft, Quartier, Region, in der Stadt und auf dem Land – individuell und institutionell – bspw. im Hinblick auf – zeitgemäße Formen bürgerschaftliches Engagements und einen neuen Profi-Laien-Mix, – Konzepte für Teilhabe, Empowerment und Teilhabe (Community Organizing, Recovery, Peer-Counseling etc.); inklusive Wohnund Beschäftigungsmöglichkeiten, – Organisationsformen, die Partizipation, Vernetzung und Kooperation fördern (bspw. Genossenschaftsmodelle), – den Umbau von Komplexstandorten in soziale Quartiere für alle, den Umgang mit dysfunktionalen/nicht mehr zeitgemäßen Bestandsimmobilien (Kirchen, Gemeindezentren, Wohnheime …), – die Zusammenarbeit mit Akteuren des (sozialen) Wohnungsbaus, die Entwicklung tragfähiger Mischfinanzierungskonzepte. Einstiegs- und Umsetzungsmöglichkeiten für Kirchengemeinden und soziale Einrichtungen werden sowohl in konkreten Beratungsprozes-

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sen vor Ort als auch im Rahmen von Langzeitqualifizierungen, Intensivseminaren, Coachings und Netzwerktreffen aufgezeigt, inspiriert von kreativen Querdenkern und Schatzsuchern wie Joseph Beuys, Pina Bausch oder Lucius Burckhardt. Insbesondere das Innovationskonzept von Otto Scharmer befruchtet und durchdringt die Arbeit. So sind Beratungen und Fortbildungen an den sozialen Techniken seiner „Theorie U“ ausgerichtet, die viele Anregungen zur Gestaltung von Veränderungsprozessen, zur Überwindung von Denkbarrieren, zur Erweiterung des organisationsbezogenen und systemischen Wissens und des Methodenrepertoires enthält. Frei nach Paul Tillich – „Der eigentliche Ort der Entwicklung ist das Experiment an der Grenze“ – werden gemeinsam mit Künstler_innen Erfahrungs- und Erprobungsräume kreiert und Orte besucht, an denen Zukunft zumindest in Segmenten schon ausprobiert und vorgelebt wird – ein anderes Miteinander in Wohnprojekten, in integrativen Arbeits- und Bildungsstätten, in innovativen Versorgungsnetzwerken, in bürgerschaftlich organisierten Zukunftsinitiativen. Mit Projekten der inzwischen mehr als 200 Teilnehmer_innen der Fortbildungen, den begleiteten Modellprojekten und Initiativen vor Ort, den Besucher_innen von Vorträgen und Workshops wird so schwerpunktmäßig im Verbandsbereich der Diakonie RheinlandWestfalen-Lippe, aber auch bundesweit an der Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses für inklusive, solidarische, menschliche Quartiersentwicklung und damit am Entstehen einer „Willkommensund Ankommenskultur für soziale Innovation“ mitgewirkt. 3.2

Inklusive Quartiersentwicklung – Perspektiven und Praxis eines diakonischen Leistungsanbieters im Rheinland

In Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit gibt es seit jeher eine rege Diskussion um Quartiere und Sozialräume, die es zu fördern, zu stärken, zu entwickeln gilt. Konzentrierte sich diese Diskussion in den 1980er Jahren auf sog. soziale Brennpunkte, die durch hohe Arbeitslosigkeit, Armut, Kriminalität und Kindeswohlgefährdungen gekennzeichnet waren, hat der Prozess unter dem Leitgedanken der Sozialraumentwicklung seit vielen Jahren bereits eine offene und erfreulicherweise diskriminierungsfreie Perspektive eingenommen. Sozialräume werden gemeinhin als dynamische Interaktionsflächen, als vernetzte, durch Wechselwirkungen sozialer Beziehungen gekennzeichnete Orte verstanden. Ein gemeinsames Verständnis über die genauen geografischen Dimensionen solcher Sozialräume gibt es bislang aber nicht. Um der Frage nach Beförderungs- und Benachteiligungsdimensionen inklusiver Sozialraumentwicklungen wirksam nachzuspüren zu können, muss man sich in kleinsten räumlichen Di-

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mensionen bewegen: Nicht Stadtteile oder Siedlungen, sondern Straßenzüge und Mehrparteienwohnhäuser, kleinste städtische oder dörfliche Zusammenhänge und Strukturen sind Orte, in denen inkludierende oder exkludierende soziale Realitäten sichtbar werden. Mit einem solchen Verständnis lassen sich beim Neukirchener Erziehungsverein, wie bei einer Vielzahl anderer Unternehmen und Initiativen der freien Wohlfahrtspflege auch, Prozesse, Projekte und Entwicklungen identifizieren, die als Mosaiksteine inklusiver Sozialraumentwicklungen verstanden werden können. 3.2.1 Historische Dimensionen „Die Familien sind die von Gott gebauten Erziehungsanstalten“,43 formulierte der Gründer des Neukirchener Erziehungsvereins 1845 in seinem ersten Bericht und begründete damit die konzeptionelle Ausrichtung des neuen Vereins. Entlang dieser Maxime und abweichend vom tradierten Anstaltssystem vermittelte der Verein verwaiste, verarmte und vagabundierend herumziehende Kinder und Jugendliche fortan rheinlandweit in Pflegefamilien. Die ausschließliche Konzentration auf Familien als natürliche Sozialisierungsressourcen wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch zunehmend schwieriger. Die Lebenszusammenhänge in Familien, historisch geprägt durch das unmittelbare Zusammenleben mehrerer Generationen in einer landwirtschaftlichen Erwerbskultur, wandelten sich in der durch die Industrialisierung beeinflussten Epoche mehr und mehr zu kleinen Lebensgemeinschaften mit der Folge, dass immer weniger Familien für die Betreuung von Kindern oder Jugendlichen gewonnen werden konnten. Der enormen Anzahl unversorgter Kinder musste deshalb mit zusätzlichen Betreuungskapazitäten begegnet werden, sodass ab den 1880er Jahren parallel zu den Pflegefamilien größere Anstalten bzw. Heime entstanden. 3.2.2 Die Entwicklung eines Wohnverbundsystems zur Versorgung von Menschen mit Teilhabeeinschränkungen Ab 1990, als Heime oder Anstalten – verstanden als Komplexeinrichtungen mit bis zu 100 Betreuungsplätzen – jugendhilfepolitisch längst nicht mehr opportun waren und der Erziehungsverein seine stationären Angebote überwiegend in kleineren Versorgungseinheiten organisierte, entstanden erstmals auch Betreuungsformen für Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Teilhabeeinschränkungen, die diese dezentrale Prägung aufgriffen. Heute präsentiert sich der Geschäftsbereich als Verbundsystem mit einer Kapazität von 130 Plätzen und etwa der gleichen Anzahl ambulant versorgter Klient_in43

Bräm, Vorläufiger Prospectus, 2.

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nen in NRW und Berlin als Netz solitärer, städtisch weitgehend integrierter Wohngruppen und Wohnheime, in denen jeweils sechs bis maximal zehn Bewohner_innen zusammenleben, während ambulante Klient_innen in der Regel in selbst angemietetem Wohnraum betreut werden. Für alle Betreuungsformen gilt ein umfassender Selbstversorgermodus. Diese konzeptionelle Vorgabe erzeugt kontinuierliche Kontakte im unmittelbaren und weiteren Sozialraum dieser Gruppen: Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Teilhabeeinschränkungen sind täglich im Dorf und in der Stadt unterwegs, nutzen die öffentlichen Nahverkehrsmittel, erwerben Lebensmittel, Bekleidung und Dinge des täglichen Bedarfs und nehmen je nach persönlichem Bedürfnis an Brauchtum und Kultur ihres Sozialraums teil. Sie wohnen in Häusern oder Apartments neben „normalen“ Mietern oder Eigentümern und sind so allesamt Akteure in einem steten Aushandlungsprozess mehr oder minder gelingender nachbarschaftlicher Beziehungen. Seit den 1980er Jahren konzentriert sich der Erziehungsverein zudem auf präventive, lebensfelderhaltende, ambulante Leistungen der Jugendhilfe. An inzwischen 12 Standorten im Rheinland (NRW) wurden sukzessive regionale Präsenzen entwickelt, sogenannte „Büros Ambulante Hilfen“, die flexible, familienunterstützende, systemische und psychotherapeutische Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe anbieten. Über die Infrastruktur dieser Büros werden seit 2005 mit unterschiedlicher regionaler Ausprägung auch ambulante Leistungen für Menschen mit Teilhabeeinschränkungen organisiert. Gruppenangebote, als Erfahrungs- und Übungsfeld sozialer Interaktionsprozesse für Jugendliche und Familien mit Unterstützungsbedarf, spielen im Leistungskatalog dieser Büros eine bedeutsame Rolle, weil ein weitgehend sozial verträgliches Zusammenleben in Familien, Lebensgemeinschaften, im Freundeskreis und in nachbarschaftlichen Beziehungen nur mit hinreichend ausgeprägter sozialer bzw. empathischer Kompetenz gelingen kann. Die Vielfalt der Leistungsangebote dieser Büros erzeugt ein breites Spektrum von Kund_innen und Klient_innen und weckt häufig auch das Interesse von Bürgerinnen und Bürgern aus der Nachbarschaft. Gelegentlich ergeben sich aus solchen zufälligen Kontakten zwischen Mitarbeiter_innen, Klient_innen und Bürger_innen regelmäßigere Treffen und Besuche. Wenn möglich, können die Räumlichkeiten der Büros auch von Gruppen und Vereinen aus dem Stadtteil genutzt werden, sodass die Entstehung kommunikativer und interaktiver Netzwerke in den Sozialräumen auch durch die Mitarbeitenden der Büros als Akteure im Sozialraum unterstützt wird.

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3.2.3 Quartiersentwicklung in Berlin: Projekt Mehrkonzepthaus Ambulante, auf die Betreuung teilhabegehinderter Menschen in der eigenen Wohnung ausgerichtete Konzepte stehen seit einigen Jahren insbesondere in urbanen Zentren vor einem großen Problem: Wohnraum ist seit jeher ein intensiv bewirtschafteter Markt. Vor dem Hintergrund der Kapitalmarktentwicklungen der letzten Jahre ist der Mietwohnungsbau zu einem bevorzugten Feld wirtschaftlicher Investments geworden mit der Folge, dass Wohnraum in zentralen städtischen Lagen immer knapper und teurer wird. Erhebliche Mietsteigerungen haben die ehemals bunte Vielfalt unterschiedlichster gesellschaftlicher Gruppierungen in Teilen mancher Städte nachhaltig verändert und dort eine neue soziale Realität geschaffen. Wohnraum in attraktiven Lagen ist zum Statussymbol avanciert, das sich in „angesagten“ Quartieren nur noch finanzstarke Bürger und Bürgerinnen leisten können, nicht aber Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind. Bürger_innen mit durchschnittlichen Einkommen kommen hier als Bewohner_innen immer weniger, Menschen, die auf Transferleistungen angewiesen sind, kaum noch vor. Dieser Verdrängungseffekt führt dazu, dass sich Mieter_innen mit geringeren ökonomischen Ressourcen anderen Quartieren zuwenden, mit der Folge, dass dort nun zunehmend homogene, hier allerdings von Armut geprägte Stadtteile entstehen. Dem sozialhilferechtlichen Grundsatz „ambulant vor stationär“ steht heute aus diesen Gründen vielfach ein Wohnungsmarkt gegenüber, der kaum noch Wohnraum für die strikten Mietobergrenzen des Sozialhilferechts vorhält. Die damit einhergehenden Ausgrenzungen erzeugen eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem in der UN BRK formulierten Recht auf freie, selbstbestimmte Wahl des Wohnortes und der damit verbundenen Assistenzform einerseits und der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Teilhabeeinschränkungen andererseits. Am Beispiel Berlins lässt sich dieser fortschreitende Prozess anschaulich illustrieren: Konnte man hier bis vor wenigen Jahren noch relativ günstig auch in zentrumsnahen Stadtteilen Wohnraum anmieten, hat sich dies, u.a. bedingt auch durch den Verkauf einer Vielzahl landeseigener Liegenschaften an Investoren, inzwischen deutlich verändert: Die Mietpreise in Innenstadt- oder innenstadtnahen Quartieren haben ein Niveau erreicht, das die Mietobergrenzen für Grundsicherungsleistungen erheblich übersteigt. Anträge auf Übernahme von Mietkosten werden für diese Stadtteile daher regelmäßig abgelehnt. Folgende Beispiele aus der Praxis des Neukirchener Erziehungsvereins zeigen exemplarisch, wie unmittelbar sich dies auf die Lebensbiografien von Menschen mit Teilhabeeinschränkungen auswirkt: Eine junge Frau mit der Diagnose Autismus kehrt nach erfolgreicher Berufsausbildung in Bayern in ihre Heimatstadt Berlin zurück und

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möchte hier künftig mit ambulanter Betreuung allein leben. Viele Wochen sucht die gesetzliche Betreuerin erfolglos nach bezahlbarem Wohnraum. Um die drohende Obdachlosigkeit zu vermeiden, vermittelt sie ihre Klientin schließlich in eine vollstationäre Einrichtung. Eltern stehen vor der Entscheidung, ihre erwachsenen Söhne und Töchter weiter im eigenen Haushalt zu versorgen, weil kein Wohnraum für ambulante Maßnahmen zur Verfügung steht. Eltern nehmen ihre erwachsenen Kinder wieder in den eigenen Haushalt auf, weil eine vorangegangene stationäre Maßnahme bei Erreichung des 21. Lebensjahres endet und die Überleitung in eine ambulante Maßnahme nicht möglich ist, weil Wohnraum nicht zur Verfügung steht. Inzwischen hat das Land Berlin verschiedene Initiativen ergriffen, um in möglichst allen Stadtteilen Berlins wieder kostengünstigeren Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Eine Maßnahme besteht darin, einzelne landeseigene Liegenschaften künftig nicht mehr dem freien Wohnungswirtschaftsmarkt zuzuführen, sondern zu günstigeren Konditionen an Träger der freien Wohlfahrtspflege zu veräußern, wenn diese dort soziale und nachhaltige Wohnprojekte realisieren. 2014 nutzte der Erziehungsverein die Möglichkeit, eine Liegenschaft im Stadtteil Pankow zu erwerben, um dort ein Wohnprojekt für Menschen mit Autismusspektrumsstörungen zu entwickeln. In einem zentrumsnahen, belebten Kiez mit sehr guter Infrastruktur werden in einem typischen Stadthaus in drei Geschossen stationäre und ambulante Betreuungsformen entstehen, die sich speziell an Menschen mit Autismusspektrumsstörungen richten. In den übrigen zwei Geschossen sind kleinere Mietwohnungen und Apartments vorgesehen. Konzeptionell keineswegs spektakulär, dennoch ungewöhnlich an diesem Projekt ist der Umstand, dass ein diakonisches Unternehmen zum Investor wird, um kostengünstigen Wohnraum in einem Quartier schaffen zu können, in dem hohe Mieten eine Zugangsbarriere für teilhabeeingeschränkte Menschen erzeugen. Ausgangspunkt für dieses Wohnkonzept ist die betriebswirtschaftlich ambitionierte Idee, die Mietkonditionen innerhalb des Hauses so zu gestalten, dass Mieter_innen mit Grundsicherungsanspruch in einem Stadtteil mit hohen Mieten trotz strikter Mietobergrenzen Wohnraum angeboten werden kann. Dies kann nur mithilfe eines Subventionsmodells gelingen, in dem „normale“, nicht teilhabegehinderte Mieter_innen höhere Mieten in Kauf nehmen, um die Mietkosten der teilhabeeingeschränkten Mieter_innen absenken zu können. Die Verknüpfung eines städtisch attraktiven Wohnquartiers mit einer auf Solidarität abstellenden Mietkonfiguration könnte zu einem spannenden Monitor für ein Quartiersentwicklungskonzept werden, in dem die inkludierende Energie eines Sozialraums sichtbar wird, oder eben nicht.

Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Abschließende Gedanken zur Umsetzung gesellschaftlicher Teilhabe im Gemeinwesen

In der wissenschaftlichen Diskussion ist die Kontroverse zwischen Möglichkeiten und Grenzen der Gestaltung inklusiver Gemeinwesen und Sozialräume gerade um den Begriff der Sozialraumorientierung deutlich. Unsere Praxisbeispiele zeigen zum einen, dass es eine Verbindung zwischen den Forderungen nach staatlich-politischer Unterstützung durch Finanzierung, rechtlicher Rahmung und kommunaler Zusammenarbeit der Akteure gibt. Ein Ansatzpunkt sind die Menschen, die zusammenleben und dieses Zusammenleben gestalten. Auf dieser Ebene sind ein reflexives Hinterfragen gelebter Praxis auf der Ebene der betroffenen Bürgerinnen und Bürger sowie der professionell Handelnden notwendig. Damit verbunden sind politische Verantwortlichkeiten und die Forderung nach entsprechenden sicheren Finanzierungen und Rahmen (Gesetze), die die Umsetzung der Anforderungen aus der UN BRK möglich machen und dem entstehenden Bedarf entsprechen. Das heißt konkret, dass entsprechende Verantwortlichkeiten klar geregelt sein und Mittel zur Verfügung gestellt werden müssen, um gesellschaftliche Teilhabe aller zu realisieren und gesellschaftlich verursachte Ungerechtigkeit abzubauen. Denn gesellschaftliche Verursachungszusammenhänge von Armut sind nicht im Gemeinwesen zu lösen. Eine „(Re)Territorialisierung des Sozialen“44 und Tendenzen zum politisch forcierten Abbau sozialer Rechte und übergreifender Sicherungen auf nationalstaatlicher Ebene müssen als solche erkannt, benannt und kritisiert werden.45 Die Praxisbeispiele haben gezeigt, dass Entwicklungsimpulse, eine veränderte Haltung, ein stärkeres Bewusstsein für notwendige Transformationsprozesse initiativ sein können. Sie müssen begleitet sein durch politische Lobbyarbeit und konkrete Vernetzungen der unterschiedlichen Akteure. Entsprechende fachliche Konzepte können die Gestaltung von Sozialräumen und die Begleitung der Menschen in ihren sozialen Nahräumen unterstützen. Literatur Boban, Ines/Hinz, Andreas, Index für Inklusion. Lernen und Teilhabe in der Schule der Vielfalt entwickeln, Halle-Wittenberg 2003.

44 45

Vgl. Kessl/Otto, Soziale Arbeit. Vgl. Stövesand/Stoik, Gemeinwesenarbeit.

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S. Bouws/C. Grabe/S. Schache/K. Sonnenberg

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Inklusive Sozialraum-Begleitung

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Beate Hofmann/Olaf Maas/Karen Sommer-Loeffen/Christine Stoppig

2.6 Professionalität und ehrenamtliches Engagement – neue Perspektiven durch Inklusion

Das Inklusionsparadigma verändert Zugänge und Konzepte von Professionalität und Ehrenamt. Die Rollen zwischen beruflich Tätigen und Menschen mit Behinderungen werden neu und anders verteilt; ehrenamtliches Engagement wird zu einem Begegnungsort von Menschen mit und ohne Behinderungen. Die Dekonstruktion scheinbar klarer Konzepte und die darin enthaltenen Chancen und Herausforderungen wollen wir im Folgenden beschreiben. 1 1.1

Begriffsklärungen Ehrenamt

Für das Phänomen ehrenamtlicher Tätigkeit werden derzeit in Deutschland verschiedene Begriffe verwendet, die unterschiedliche Aspekte des Engagements betonen:1 – Ehrenamt (moralischer Anspruch und funktionaler Aspekt) – Freiwilligenarbeit oder freiwilliges Engagement (motivationsorientiert) – Bürgerarbeit oder Bürgerschaftliches Engagement (als Kernbegriff der Zivilgesellschaft) – Gemeinwohltätigkeit (zielorientiert) – Selbsthilfe oder Initiativarbeit (arbeitsformorientiert) – Volunteering (als international gebräuchlicher Begriff) Auch im Raum von Kirche und Diakonie beschreiben Ehrenamtliche ihre Tätigkeit mit diesen verschiedenen Begriffen.2 In den zahlreichen Gesetzen und Richtlinien, die die einzelnen Landeskirchen und Landesverbände der Diakonie in den letzten Jahren verabschiedet 1

Vgl. Roß, Warum freiwilliges Engagement (wieder) ein Thema ist, 11. 48 Prozent der im Bereich von Kirche und Religion Engagierten bezeichnen ihre Tätigkeit als Ehrenamt, während 38 Prozent sie als Freiwilligenarbeit sehen und 14 Prozent andere Begriffe wie Bürgerengagement, Initiativen- und Projektarbeit oder Selbsthilfe dafür verwenden, vgl. Seidelmann, Evangelische engagiert, 10.

2

Professionalität und Ehrenamt

309

haben, werden als zentrale Kennzeichen ehrenamtlichen Engagements Tätigkeiten benannt, die – in Kirche und Diakonie (Ort des Engagements), – freiwillig (Motivation), – unentgeltlich (Gratifikation), – außerhalb von Familie und Nachbarschaft (Organisation) ausgeführt werden. In der Praxis ergeben sich dabei zahlreiche Unschärfen. So ist im kirchlichen Raum die Grenze zwischen Teilnahme und Mitarbeit oft schwer zu ziehen, z.B. bei Chören oder bei der Freizeitgestaltung in der Jugendarbeit. Außerdem gibt es immer häufiger Engagierte, die eine geringe Entlohnung für ihr Engagement erhalten. Manche Ehrenamtliche sind z.B. darauf angewiesen, eine Aufwandsentschädigung für ihren Einsatz bei einer Freizeitfahrt zu erhalten, da sie sonst die laufenden Kosten für ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten könnten. Sie brauchen diese Art finanzieller Unterstützung, um sich ihr freiwilliges Engagement „leisten“ zu können. Umgekehrt versuchen manche Organisationen, durch die Zahlung von Honoraren Engagierte stärker an sich zu binden und die Verlässlichkeit sowie die Weisungsmöglichkeiten durch anstellungsähnliche Verhältnisse zu steigern.3 Engagierte bewegen sich in einem Dreiecksverhältnis: Sie tun etwas im Auftrag einer Organisation im Gemeinwesen für Dritte und sie tun das nicht einfach als Nachbarschaftshilfe oder zur Selbsthilfe, sondern zum Nutzen anderer, ohne dabei sich selbst völlig zu vergessen, denn auch sie suchen durch ihr Engagement Sinn, Freude, Kontakt und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. 1.2

Professionalität

Ist schon der Begriff „Ehrenamt“ schwer zu fassen, so ist es im Kontext dieses Kapitels noch schwieriger zu klären, was unter Professionalität zu verstehen ist. Der Begriff beschreibt aus handlungstheoretischer Perspektive nach Dieter Nittel eine „besondere Qualität einer personenbezogenen Dienstleistung“4. Diese Qualität wird sowohl im Blick auf Kompetenzen als auch im Blick auf die Differenz 3

Die Landesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege in NRW hat 2012 deutlich Position für die Unentgeltlichkeit im Engagement bezogen, wohl wissend, dass Anspruch und Realität auseinanderdriften. Die Einrichtungen begrüßen trotz aller Schwierigkeiten diese klare Positionierung, weil sie sie als hilfreiche Orientierung und Klärung wahrnehmen, vgl. Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen/Arbeitsausschuss Bürgerschaftliches Engagement, Positionspapier zur Monetarisierung. 4 Nittel, Von der Profession zur sozialen Welt, 48.

310

B. Hofmann/O. Maas/K. Sommer-Loeffen/C. Stoppig

zu anderen Professionalitäten definiert und impliziert eine hohe Fähigkeit zur Reflexion beim Rollenträger. Burkhard Müller beschreibt „Professionalisierung“ als Verberuflichung, während „Profession“ auf erreichte Standards eines Berufs verweise. „Professionalität“ verlange dagegen Entwicklungskriterien, die sowohl als selbst-kritische Maßstäbe als auch als Legitimation fachlicher Ansprüche nutzbar seien.5 Es gibt eine lange Diskussion über die Frage, inwieweit soziale Arbeit eine Profession ist und was die Kriterien dieser Professionalität sein könnten.6 Aus den Definitionen ergeben sich im Blick auf die Arbeit von und mit Menschen mit Behinderungen mehrere Fragen: Was könnten die Maßstäbe von Professionalität in diesem Bereich sein? Ist Professionalität an die berufliche Rolle gebunden oder gibt es auch Professionalität bei Ehrenamtlichen? Worin liegt die Professionalität in der Arbeit mit Ehrenamtlichen? Heilpädagogik als Beruf für die Arbeit mit Menschen mit Behinderungen ist ein sehr junges Feld. Heinrich Greving beschreibt die Professionalität in der Heil- und Behindertenpädagogik als „persönliches Projekt“, das nicht nur auf die Tätigkeiten in der Arbeitswelt Bezug nimmt, sondern auch das Verhältnis in den Blick nimmt, das der Einzelne zwischen seiner Person und den Erwartungen der Gesellschaft entwickeln muss.7 Etwas konkreter in der Beschreibung von Kriterien und Kompetenzbereichen ist die „Ständige Konferenz für Ausbildungsstätten für Heilpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland (StK)“.8 Unter dem Leitbegriff „Personenzentrierung“ werden mehrere Aspekte von Professionalität in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen beschrieben: – Partizipation und Teilhabe: Hierzu gehört die „Assistenz bei der Erschließung von Lebenswelt“ und die Begleitung von Menschen „mit dem Ziel, Vertrauen in ihre Umwelt und ihre eigenen Fähigkeiten zu fassen.“9 – Anwaltschaft und Solidarität: Das impliziert die Ermittlung persönlicher Bedürfnisse und ggf. deren stellvertretende Kommunika5

Vgl. Müller, Professionalität, 955. Vgl. Heiner, Professionalität in der Sozialen Arbeit; Schicke, Organisationsgebundene pädagogische Professionalität, 70–87; Becker-Lenz et al., Professionalität in der Sozialen Arbeit. 7 Vgl. Greving, Heilpädagogische Professionalität, 19; Greving operiert hier im Anschluss an Bourdieu mit dem Begriff des „Habitus“. 8 Vgl. Ständige Konferenz für Ausbildungsstätten für Heilpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland, Inklusion und Heilpädagogik. 9 Ständige Konferenz für Ausbildungsstätten für Heilpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland, Inklusion und Heilpädagogik, 24. 6

Professionalität und Ehrenamt

311

tion sowie die kritische Analyse gesellschaftlicher und institutioneller Rahmenbedingungen. – Inklusive Erziehung und Bildung: Entsprechende Konzeptionen verfolgen das „Prinzip der Entwicklungsorientierung, der Interaktionsorientierung, der Situations- und Ressourcenorientierung mit dem Ziel, eine neue Form des Miteinanders zu gestalten, in denen Prozesse des Voneinander-Lernens möglich werden.“10 – Sozialraum und Case-Management: Darunter verstehen die Mitglieder der StK vor allem die Fähigkeit zu Netzwerkbildung im Sozialraum. – Persönlichkeitskompetenz und Begegnung: Zu diesem Feld gehören die Fähigkeit zu differenzierter Reflexion der eigenen Person und die Verarbeitung der eigenen Erfahrungen. Diese Eckpunkte zeigen, dass im Bereich der Professionalität bestimmte Wissensbereiche angesprochen sind, aber auch persönliche Fähigkeiten, die nicht an eine berufliche Rolle gebunden sind. So bleibt nun genauer zu diskutieren, inwieweit solche Merkmale von Professionalität an berufliches Handeln geknüpft sind oder ob sie auch im ehrenamtlichen Handeln erkennbar sind. Zu überlegen ist, wie sich im Zusammenwirken von beruflich und ehrenamtlich Mitarbeitenden Professionalitätsansprüche verändern. 1.3

Zum Miteinander von Ehrenamt und Professionellen

Im Rahmen einer inkludierenden Haltung vermischt sich die Professionalität der Ehrenamtlichen mit der der Hauptamtlichen. Professionalität misst sich nicht mehr an der Bezahlung. Auch Beruflichkeit ist nicht mehr das entscheidende Kriterium für Professionalität. Ehrenamtliche bringen ihr eigenes professionelles Profil mit. Birgit Hoppe konstatiert, dass nicht mehr die Aufteilung der Tätigkeiten aufgrund des Status, bezahlter oder unbezahlter Mitarbeitender zu sein, entscheidend sei, sondern das Erreichen des gemeinsamen Ziels, z.B. durch Netzwerke Geborgenheit in einem Stadtteil zu entwickeln.11 Ehrenamt wird darum in diesem Beitrag nicht als Gegensatz zu Professionalität verstanden; der Hauptunterschied liegt darin, dass Engagierte außerhalb ihrer regulären beruflichen Bezüge agieren. Und Engagement bezieht sich nicht nur auf Ehrenamt in der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen, sondern auch auf Engagement von Menschen mit Behinderungen als Ausdruck ihrer Teilhabe an der Gesell10 Ständige Konferenz für Ausbildungsstätten für Heilpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland, Inklusion und Heilpädagogik, 25. 11 Vgl. Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin, Jahresbericht 2000, 35.

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schaft. Denn Inklusion bedeutet: Alle können sich engagieren und an der Zivilgesellschaft teilhaben, egal, ob sie eine Behinderung haben oder nicht. 2 Dynamisierung durch Inklusion – Veränderungen im Verhältnis von Professionalität und Ehrenamt? 2.1 Das Verhältnis von Professionalität und Ehrenamt im Wandel der Zeiten – Behindertenhilfe im Umbruch Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Gründung großer diakonischer Einrichtungen die Betreuung und Bildung von Menschen ermöglicht, die bis dahin am Rande der Gesellschaft standen. Diese Einrichtungen sind im 20. Jahrhundert zu professionell arbeitenden Organisationen mit zum Teil hoher Spezialisierung weiterentwickelt worden. Der Aufbau von Organisationen der Behindertenarbeit, der Pflege und der Sonderbeschulung waren große Errungenschaften, sie haben ihre historischen Verdienste. Sie waren und sind ein wichtiger Beitrag zur Integration, denn sie haben zu einem neuen Bewusstsein im Blick auf die Unterstützungsnotwendigkeiten und den besonderen Förderbedarf und zu der notwendigen Professionalisierung der Angebote geführt.12 Gleichzeitig haben sie aber eine ausgegrenzte Sonderwelt begründet. Die Arbeit für und mit behinderten Menschen ist dabei immer an Weltanschauungen, Grundeinstellungen und Menschenbilder gebunden gewesen. Die Gründerväter (und -mütter) der Diakonie wollten ihnen Lebensraum geben, Mediziner sie heilen, Pädagogen sie erziehen und Therapeuten den Entwicklungsstand bestimmen und verändern. Das alles geschah unter dem Einfluss der jeweiligen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Sichtweisen und Rahmenbedingungen. Die Geschichte institutioneller Behindertenarbeit liest sich wie ein Buch, in dem Menschen alles sein durften: oft nur nicht sie selbst. So wie sie waren, waren sie defizitär, entwicklungsbedürftig, nicht normal.13 In den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts haben Selbsthilfeverbände und Vereinigungen von Betroffenen zunehmend ihre eigenen Vorstellungen und Bedürfnisse artikuliert und sich sehr kritisch mit der Lebenssituation behinderter Menschen auseinandergesetzt. Sie forderten die Durchsetzung ihrer Rechte auf Teilhabe an der Ge12

Vgl. Kaspar, Großeinrichtungen, 231–242. Im anglo-amerikanischen Raum und in Skandinavien begann diese Diskussion bereits in den 1960er Jahren, in Deutschland erst sehr viel später. Vgl. von Daniels/ Degener/Jürgens, Krüppel-Tribunal; Mayer/Rütter, Abschied vom Heim.

13

Professionalität und Ehrenamt

313

sellschaft außerhalb von Großeinrichtungen.14 Insgesamt hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Kirche und Diakonie in ihrer Behindertenarbeit verstärkt zu neuen Orientierungen gelangen müssen und dabei zu einer grundlegenden Revision bezüglich ihres Menschenbildes und ihrer theologischen Verantwortung im Hinblick auf die Gestaltung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens aufgerufen sind. Neue Praxisprojekte alternativen Wohnens auch für Menschen mit geistigen und schweren Behinderungen wurden versuchsweise realisiert. Kirche und Diakonie, so wurde gefordert, sollten Gemeinde und Gemeinwesen im Hinblick auf die Zusammengehörigkeit aller Menschen in konkrete und verbindliche Formen des Zusammenrückens zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen führen. Das Ganze mündete in Forderungen, die Klaus von Lüpke15 1994 prägnant zusammengefasst hat: Zusammenleben – ohne Aussonderung, Struktur- und Kulturarbeit statt „Behindertenarbeit“. Betrachtet man die Entwicklung der institutionellen Behindertenhilfe der letzten 150 Jahre, so hat sich das Verständnis von Professionalität im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen im gesellschaftlichen Kontext maßgeblich gewandelt. Während in den großen Anstalten der Gründerzeit Professionalität und das Verständnis von Fachlichkeit weitgehend isoliert hinter Anstaltsmauern stattgefunden haben und die Gesellschaft und damit auch das Ehrenamt ausgegrenzt waren, kann man feststellen, dass über Dezentralisierung und Ambulantisierung die Möglichkeiten der Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen häufiger werden. Durch kleine Wohnheime in „normalen“ Wohnvierteln und durch das Wohnen und Leben mit Unterstützung in der eigenen Wohnung gehören Menschen mit Behinderungen zunehmend zum Gemeinwesen, zum Sozialraum. Ehrenamtlich Tätige finden hier – anders als in geschlossenen Anstalten – ein Betätigungsfeld, was auch konzeptionell immer bedeutsamer wird.

14

Gerade in der Selbsthilfebewegung gab es Schriften, die z. T. unveröffentlicht geblieben sind. Zu den Standardwerken zählen: Windisch/Miles-Paul, Selbstbestimmung Behinderter. Von großer Bedeutung für die Entwicklung in den späten 1990er Jahren war auch die Interessenvertretung „Selbstbestimmt leben“ in Deutschland – ISL e. V. 15 Klaus von Lüpke war Leiter des Behindertenreferats des Evangelischen Stadtkirchenverbandes in Essen, Autor zahlreicher Schriften und Initiator von Praxisprojekten, vgl. von Lüpke, Nichts besonderes.

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2.2

Die Wirkung von Inklusion auf das Verhältnis von Professionalität und Ehrenamt

Der Anspruch von Inklusion und deren Umsetzung lässt sich einfach formulieren: Jeder Mensch mit Behinderung oder einer Benachteiligung, welcher Art auch immer, soll die Wahl haben, dort zu leben, zu wohnen, zu arbeiten und zu lernen, wo alle anderen Menschen es auch tun. Was einfach klingt, ist in der Umsetzung schwierig: Inklusion als Leitidee zwingt zunächst zu einem Wandel in der Gestaltung sozialer Unterstützungsleistung: Aus der Fürsorge und eher beschützenden Versorgung wird Unterstützung einer individuellen Lebensführung sowie Unterstützung des Gemeinwesens. Inklusion ist bei weitem noch nicht erreicht, wenn Menschen mit Behinderungen in einer Gemeinschaft mit anderen leben oder wenn ausreichend spezielle Angebote für diesen Personenkreis zur Verfügung stehen. Es geht vielmehr um die Gestaltung eines individuellen Lebensentwurfs und um die Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen in die normalen Alltags- und Lebensvollzüge einer Gesellschaft, einschließlich der Möglichkeit für sie, eigene Fähigkeiten einzubringen. Wesentliches Grundmoment ist hierbei die selbstverständliche Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderungen insbesondere in der Nachbarschaft, bei der Arbeit und bei Freizeitaktivitäten.16 Während der bisher verwendete Begriff der Integration eine Anpassung behinderter Menschen an bestehende Strukturen beinhaltet und Integration die vorherige Aussonderung quasi voraussetzt, geht Inklusion über dieses Verständnis hinaus. Zum einen sind damit strukturelle Veränderungen gemeint, die eine Aussonderung gar nicht erst notwendig machen, und zum anderen bezieht sich der Begriff nicht nur auf Menschen mit Behinderungen, sondern auch auf andere bisher marginalisierte und diskriminierte Gruppen. Das Verhältnis von hauptamtlich und ehrenamtlich Tätigen wird im Hinblick auf Menschen mit Behinderungen durch Inklusion grundlegend verändert. Während in einer frühen Phase der professionell Tätige meinte zu wissen, was gut und richtig und fachlich geboten ist, auch ohne Einbeziehen des Menschen mit Behinderung, setzt sich in einer weiteren Phase die Beteiligung von Menschen mit Behinderungen in dem Prozess der Ermittlung eines Bedarfs und einer angemessenen Hilfe durch. Im Zuge dieser Entwicklung kommt den ehrenamtlich Tätigen zunehmend Bedeutung zu. Zunächst hat man sie lediglich geduldet oder als „gesellschaftliches Feigenblatt“ genutzt,

16

Vgl. hier auch das umfassende Standardwerk von Heinen/Lamers, Geistigbehindertenpädagogik als Begegnung.

Professionalität und Ehrenamt

315

dann durchaus kompensatorisch eingesetzt, d.h. durch die Übernahme bestimmter Tätigkeiten und Aufgaben. Ehrenamtlich Tätige werden heute in einem erweiterten Verständnis von Professionalität und Fachlichkeit komplementär in eine Gesamtzielsetzung einbezogen. Letztlich ist es eine Frage der Konzeption, der Haltung und des Verständnisses, von wem und wie der Stellenwert des Ehrenamtes und der ehrenamtlich Tätigen im Gesamtprozess der Begleitung von Menschen mit Behinderungen definiert wird. 2.3

Führen Inklusion und neue Fachlichkeit zu einem Bedeutungsverlust für die hauptamtlich Tätigen? Konsequenzen

Die Leitidee der Inklusion, die selbstverständliche Teilhabe von Menschen mit Behinderungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, wirkt immer deutlicher direkt in die Praxis der Arbeit mit Menschen mit Behinderungen hinein. Diesem Konzept kann nicht wie bisher mit einer Optimierung traditioneller Arbeitsweisen begegnet werden, sondern für die Behindertenarbeit, aber auch für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen generell bringt es Erneuerung und einen grundlegenden Perspektivwechsel mit sich. Viele Jahrzehnte sind Konzepte und Unterstützungssysteme für Menschen mit Behinderungen maßgeblich von Trägern und Einrichtungen der Behindertenarbeit, von Politik und Kostenträgern bestimmt worden. Diese Praxis ist spätestens seit Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen durch die deutsche Bundesregierung obsolet. Stattdessen ist eine umfassende Partizipation erforderlich, die Menschen mit Behinderungen eine Stimme verleiht und ihr Recht auf Selbstbestimmung respektiert. Zentrale Bedeutung hat die Frage, wie Teilhabeprozesse hergestellt und organisiert werden können. Und es gibt diese Verpflichtung nun auf allen Ebenen. Hier ist noch enorm viel Arbeit in Bezug auf veränderte Haltungen und Einstellungen bei allen Akteuren zu leisten. Es geht darum, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen für das Entstehen eines inklusiven Gemeinwesens. Es ist ein strukturierter Gesamtprozess zu organisieren, der mit dem übergreifenden und nicht sektoral ausgegrenzten Austausch aller Akteure beginnt. Das ist nicht nur eine Frage der Sozialpolitik; dazu gehört unverzichtbar auch gesellschaftspolitisches Engagement von hauptamtlich und ehrenamtlich Tätigen. Entsprechend müssen sich Professionelle grundsätzlicher mit ihrer Rolle und mit dem Verhältnis von Professionalität und Ehrenamt in einem sich verändernden gesellschaftlichen Kontext beschäftigen. Da Inklusion als ein gesamtgesellschaftliches Querschnittsprojekt zu verstehen ist und nicht nur die sozialen Dienstleistungen gefragt sind,

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bekommt die Aufgabe der professionell Tätigen noch einmal eine ganz andere Zielrichtung. Zunächst muss es darum gehen, die Zusammenarbeit von professionellen Diensten sowie das, was das Ehrenamt und ehrenamtlich Tätige bieten, und die Möglichkeiten in den Sozialräumen und den Quartieren miteinander zu verbinden. Von den hauptamtlich Tätigen sind darüber hinaus vielfältige Prozesse der weiteren Umprofessionalisierung im Hinblick auf ihre Rolle als Katalysatoren der Mitgestaltung von Teilhabeprozessen zu erwarten. Sie müssen sich als Manager verstehen, die Teilhabemöglichkeiten erschließen und inklusive Begegnungen initiieren. Damit werden sie zu Inklusionsagenten und Unterstützern von Menschen mit Behinderungen und ermöglichen deren Beteiligung an Mitgestaltungsprozessen. Die Leitidee der Inklusion beinhaltet die Vision, dass das Gemeinwesen bereit und dazu fähig sein muss, alle Menschen, die anders sind, anzunehmen. Um dies zu erreichen, muss vorab eine Stärkung der Zivilgesellschaft über ein gezieltes Empowerment des Gemeinwesens erfolgen. Über Bürgerplattformen oder vergleichbare Methoden kann erreicht werden, dass die Bürgerinnen und Bürger für ihre eigenen Belange eintreten und ihre Lebensbedingungen ausgestalten. Bei Menschen mit Behinderungen, die an diesen Prozessen teilhaben möchten, würde sich der Perspektivwechsel bereits im Prozess selber ergeben: Menschen mit Behinderungen wären nicht mehr im Sinne der Integration Ziel der professionellen Eingliederungsbemühungen, sondern selbstverständlicher Teil des bürgerschaftlichen Gesamtprozesses. Kernaufgabe des veränderten professionellen Handelns wäre, einen solchen Stärkungsprozess des Gemeinwesens einzuleiten und dann darin Menschen mit und ohne Behinderungen zur selbstverständlichen Teilhabe an diesem Prozess zu befähigen.17 3

Ehrenamtliches Engagement aus inkludierendem Blickwinkel

Menschen mit Behinderungen wollen im Zeitalter der Inklusion nicht mehr nur Empfänger_innen von Hilfeleistungen sein, sie möchten selbst aktiv werden und sich mit einbringen. Beispiel 1: Die Bahnhofsmission Essen leistet schon seit Jahren Umsteige-, Einsteige- und Aussteigehilfe für Menschen, die unterwegs 17

Zu den Themen Quartiersentwicklung und inklusiver Sozialraum vgl. das Konzept der örtlichen Teilhabeplanung von Albrecht Rohrmann und Johannes Schädler im Siegener Zentrum für Planung und Evaluation sozialer Dienste (ZPE), außerdem Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, Kommunaler Index für Inklusion.

Professionalität und Ehrenamt

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sind. Sie berät, begleitet und unterstützt die, die aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr weiter wissen. Sie gibt Informationen und vermittelt in das Hilfesystem der Stadt. Dies geschieht mit einem Team von etwa 30 Mitarbeitenden. Seit einiger Zeit engagieren sich drei Ehrenamtliche mit Behinderungen in der Bahnhofsmission. Und seitdem hat sich für alle Beteiligten viel verändert: für das Team, für die Nutzer_innen und für die Engagierten mit Handicap. Die Nutzer_innen erleben hoch motivierte Engagierte, die mit großer Freude, Ernsthaftigkeit und Pflichtbewusstsein Hilfestellungen anbieten. Sie bauen eigene Vorurteile ab und lassen sich so bereichern. Das Team hat neue Mitarbeitende gefunden. Es sind auch neue Bereiche des Engagements entstanden wie z.B. die Tandembegleitung in der Zusammenarbeit mit Menschen mit Behinderungen. Alle lernen voneinander und miteinander. Aus Sicht der Organisation bzw. der Leitung bedeutet eine inkludierende Haltung, die wirklich lebendig gefüllt wird, eine Veränderung der Organisation. Diese öffnet sich und lässt sich verändern. Sie lebt Authentizität. Die Idee multipliziert sich. Ein Engagierter mit Behinderung berichtet auch in anderen Bahnhofsmissionen von seinem Einsatz in Essen, übernimmt dort exemplarisch Dienste und trägt dadurch die Botschaft gelebter und lebensvoller Inklusion weiter. So geschieht gelebte Inklusion, die allen Beteiligten gut tut. Beispiel 2: „Ausstellungswächter“ bei der ARKA Kunstwerkstatt auf der Zeche Zollverein in Essen Das Projekt besteht seit 2010, dem Kulturhauptstadtjahr für die Ruhrmetropole. In diesem Zusammenhang ist die Idee entstanden, dass Menschen mit und ohne Behinderungen gemeinsam als Ausstellungsbetreuer_innen ehrenamtlich tätig sind. Sie begrüßen und zählen die Ausstellungsbesucher_innen, weisen auf Informationsbroschüren und das Gästebuch hin, achten darauf, dass die Kunstwerke nicht berührt werden, und stehen den Besucherinnen und Besuchern zur Seite, falls sie Fragen haben. Die Ehrenamtlichen erhalten vor Beginn der Ausstellung eine Einführung in die gezeigten Kunstwerke, sodass sie selbst auch etwas zu den Bildern erzählen können. Diese persönliche Aneignung erhöht die Identifikation mit den jeweiligen Ausstellungen und eröffnet Gespräche mit den Ausstellungsbesucher_innen über das Gezeigte. Zu den Verantwortlichen der ARKA Kunstwerkstatt sind inzwischen persönliche Bindungen entstanden. Die anfängliche enge Begleitung der Einsätze durch eine Hauptamtliche aus der Behindertenarbeit ist nicht mehr nötig. Über die Jahre hat sich eine konstante und stabile Gruppe herausgebildet.

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Beispiel 3: Co-Mitarbeiter_innen in der Gemeindearbeit und auf Freizeiten In der Aktion Menschenstadt, dem Behindertenreferat der Ev. Kirche in Essen, können sich Menschen mit Behinderungen schon seit vielen Jahren ehrenamtlich in der gemeindlichen Arbeit engagieren: Eine Gruppe von Menschen mit und ohne Behinderungen bereitet seit über 30 Jahren (!) die inklusiven Gottesdienste des Kirchenkreises miteinander vor. Die Themen werden im Gespräch erarbeitet, verschiedene Akteure übernehmen Aufgaben im Gottesdienst selbst (Gebete, Lesungen, Fürbitten, Anspiele etc.). Auch im Team, das die inklusive Konfirmandenarbeit gestaltet, sind Mitarbeitende mit Behinderungen dabei. Dabei handelt es sich um ehemalige Teilnehmende am Konfirmandenunterricht. Sie haben oft ein gutes Gespür für die Bedürfnisse der Konfirmandinnen und Konfirmanden und gleichzeitig eine große Unbekümmertheit darin, auch mal völlig unpädagogisch zu agieren, was das Miteinander sehr bereichert. Außerdem nehmen erfahrene ehrenamtliche Freizeitleitungen inzwischen auch Mitarbeitende mit Behinderungen in ihr Freizeit-Team auf. Im Vorfeld ist es dabei wichtig, dass genaue Verabredungen getroffen werden, welche Aufgaben übernommen werden können und welche nicht. Allen drei Beispielen ist gemeinsam, dass sich Menschen mit Behinderungen ehrenamtlich für andere engagieren. Die Faktoren für das Gelingen werden in den folgenden Abschnitten beschrieben. 3.1

Eine dialogische Haltung oder: Wie Beziehungen das Leben bereichern können

Es geht beim Engagement und vor allem bei einem inkludierenden Engagement um Beziehungen, wie die Bahnhofsmission Essen zeigt: Hier engagieren sich Menschen mit und ohne Behinderungen im Tandem. Es sind Beziehungen und Freundschaften im Team entstanden, Netzwerke haben sich gebildet, Menschen mit Beeinträchtigung und Menschen ohne sichtbare Beeinträchtigung lernen voneinander und lernen sich kennen: – Die Engagierten entdecken sich selbst und wachsen am Anderen. Gerade die Menschen, an denen wir uns reiben, die uns durch ihr Anders-sein herausfordern, geben uns die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. – Potenziale, Stärken, Fähigkeiten entfalten sich in Beziehungen und Gemeinschaften, in denen sich jeder einbringen kann und in denen der Einzelne geschätzt wird.18 Genau dies passiert in dem Essener 18

Vgl. Hüther, Was wir sind.

Professionalität und Ehrenamt

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Beispiel. Einer der Engagierten mit Handicap übernimmt die Rolle des Botschafters für die Idee der Zusammenarbeit und trägt sie in andere Einrichtungen. – Gemeinsam etwas tun schafft Verbundenheit. Gemeinsam die Aufmerksamkeit auf ein Thema richten, schafft Zugehörigkeit und Miteinander. Was brauchen Beziehungen, damit sie wachsen, wie es in Essen passiert? Was braucht Engagement in einem unterschiedliche Menschen umfassenden Kontext? – Respekt vor den anderen, Ehrlichkeit und Echtheit, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Zuhören – Angstfreiheit statt Konkurrenz; nur mit Wertschätzung und in Freiheit können Menschen sich entfalten. – Beziehungen brauchen eine Haltung, die auch mit Unsicherheit, Unverfügbarkeit, Unkalkulierbarkeit und Unvollkommenheit umgehen kann und sie vielleicht sogar lieben lernt. – Eine Balance zwischen Ordnung einerseits und hoher Flexibilität andererseits sind in einer Beziehung nötig. Erzwungene Anpassung lässt Menschen verkümmern. – Vertrauen und Zutrauen in die eigenen Möglichkeiten und die der anderen: „Du schaffst das“, „Wir trauen Dir das zu“, „Und da, wo du Hilfe brauchst, bekommst Du sie“. Das sind die zutrauenden Kernaussagen. – Die Nahrung für Beziehungen kommt von innen, aus einer echten, wertschätzenden und dialogischen Haltung. Inkludierendes Ehrenamt kann nur dann gelingen, wenn alle Beteiligten Zeit und Raum haben, sich gegenseitig kennenzulernen: Um sich gegenseitig gut einschätzen zu können und ggf. ungewöhnliche Verhaltensweisen einordnen zu können; um Absprachen so zu treffen, dass sie auch wirklich eingehalten werden können. Menschen mit und ohne Behinderungen leben oft in sehr verschiedenen Lebenswelten. Deshalb sind Begegnung und Dialog so entscheidend: Im Gespräch kann man dem Gegenüber die eigene Lebenswelt erklären und dem/der anderen dadurch verständlich machen. Eine dialogische Haltung in der Ehrenamtsarbeit hilft, dem/der anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Gerade in der Anfangszeit eines Projekts müssen immer wieder Gelegenheiten geschaffen werden, miteinander ins Gespräch zu kommen. Das stabilisiert die Beziehungen und gibt allen Beteiligten genügend Sicherheit, um gemeinsam aktiv werden zu können.

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3.2

Eine systematische Ehrenamtsarbeit oder: Wie Klarheit löst, befreit und einen Rahmen gibt

Damit die Dynamik einer alle inkludierenden Haltung für alle fruchtbar wird, bedarf es im Engagement eines systematischen und klaren Rahmens19 und klarer Strukturen: Feste Absprachen, klare Verantwortlichkeiten und Ansprechpartner, damit sich alle gut orientieren können, sind unerlässlich. Diese Absprachen sollten schriftlich festgehalten werden, in übersichtlicher Form und wenn möglich mit Symbolen und Piktogrammen. Nicht alle Ehrenamtlichen können gut lesen und schreiben! Haftungsfragen und Fragen zur Aufsichtspflicht müssen bei Ehrenamtlichen mit Behinderungen, die oft auch unter gesetzlicher Betreuung stehen, gesondert im Blick gehalten werden, da für sie andere Regelungen gelten können. Dabei spielt der/die Koordinator_in als Brücke zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen eine wichtige Rolle. Er/sie ist Vermittler_in zwischen zwei Systemen, die mit ihrem je eigenen Professionalitätssystem arbeiten. Seine/ihre Rolle hilft, die Professionalität im Ehrenamt weiterzuentwickeln. Einerseits braucht gelingendes Engagement professionelle Begleitung. Andererseits hat Engagement selbst ein professionelles Profil; durch Engagement gewinnen Engagierte ein professionelles Profil. Die Professionalität beschreibt sich durch Klarheit der eigenen Rolle, durch das Wissen um das Aufgabenprofil, um die Qualifizierung für das Engagement, die Fähigkeit zur Selbstreflexion und durch Werte, die sich an der Würde und Stärkung eines jeden Menschen orientieren. 3.3

Das eigene Hilfeverständnis: Ressourcen blitzen überall auf

Inklusion bedeutet, dass sich jede und jeder einbringen kann. Die Vielfalt ist die Norm und Inklusion basiert auf einer an den Ressourcen der Menschen orientierten Haltung. Im Folgenden sind einige Fragen zusammengestellt, die den Blick auf die Schätze, die Ressourcen öffnen: – Welche ehrenamtliche Aufgabe passt zu einer bestimmten Person? – Welche Stärken, welche Grenzen bringt sie mit ein? – Welche Aufgaben können in Extremsituationen zu einer Überforderung führen? – Welche Einsatzorte sind aufgrund der Klientel schwierig?

19

Bausteine für gelingende Beziehungs- und Ehrenamtsarbeit bietet die Ehrenamtsspirale, vgl. Frantzmann/Seommer-Loeffen/Woltering, Ehrenamt, 9.

Professionalität und Ehrenamt

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Zu einer inklusiven Ehrenamtsarbeit gehört ein realistischer Blick darauf, was jemand leisten kann bzw. wo sein Engagement auch schwierig werden kann. Zur dieser ehrlichen Bestandsaufnahme gehört auch die Frage, ob Aufgaben ggf. so modifiziert werden können, dass sie dann machbar sind, oder ob es Unterstützungsmöglichkeiten gibt. Aus diesen Überlegungen heraus ist die Idee der „TandemTeams“ entstanden: Je ein_e Ehrenamtliche_r mit und ohne Behinderungen übernehmen gemeinsam eine Aufgabe. In diesem Zweierteam kann man sich gegenseitig gut beraten. Außerdem hat man die Möglichkeit, einzelne Aufgaben zu delegieren. Im Tandem ist immer eine zweite Person an der Seite, die Sicherheit geben kann. Je nach Aufgabe und Ehrenamtserfahrung kann ein Tandem auch aus zwei Menschen mit Behinderungen bestehen, die sich gegenseitig unterstützen. Bei der Qualifizierung der Ehrenamtlichen ist das Einüben von bestimmten Situationen durch Rollenspiele o.ä. hilfreich, um verschiedene Verhaltensmöglichkeiten auszuprobieren und dadurch mehr Sicherheit im Ehrenamt zu gewinnen. Dadurch kann deutlich werden, welche Situationen gut gemeistert werden können und welche nicht. Das unterstützt den Einsatz der Ehrenamtlichen entsprechend ihrer Ressourcen. 3.4

Das professionelle Profil des Ehrenamtes

Ehrenamt ist eine eigene Form von Professionalität. Sie zeigt sich in folgenden Elementen: – Das Bekenntnis zu einem Engagement bzw. einer Tätigkeit umfasst Standards, Werte, fachliches Wissen, umsichtiges Verhalten in den verschiedenen Situationen, Reflexionsfähigkeit z.B. durch die Teilnahmebereitschaft an Fortbildungen etc. – Das Bekenntnis zu einer Tätigkeit bezieht sich auf die Haltung, die innere Einstellung, z.B. auf Verhaltensweisen in Konfliktsituationen: Kann ich von mir selbst absehen und das große Ganze im Blick behalten? Wie gehe ich mit Niederlagen um? Ein gutes Beispiel liefern Konfliktsituationen mit Teammitgliedern: Bin ich in der Lage, auch die Position des Anderen zu sehen? Gelingt es mir, von der Metaebene aus auch auf mein eigenes Verhalten zu schauen? Kann ich das gemeinsame Ziel gegebenenfalls trotz persönlicher Verletztheiten im Blick halten? – Werte wie Zuverlässigkeit, Fairness, Integrität, Redlichkeit, Ehrlichkeit, Offenheit beschreiben Professionalität. – Professionell handeln bedeutet, Verantwortung für die persönliche Reife und psychische Gesundheit, z.B. Klärung eigener Bedürfnisse, Transparenz (das was ich sage, tue ich) zu tragen.

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– Mut zur eigenen Überzeugung ohne Verbissenheit und Zivilcourage prägen Professionalität. 4

Fazit, Ausblick und Vision: Was verändert sich durch eine inklusive Ehrenamtsarbeit?

Die Rollen von Nutzer_in und Engagierten verändern sich. Waren früher Menschen mit Behinderungen Nutzer_innen, so erleben sie jetzt ihre vielen Ressourcen und Fähigkeiten und werden selber Helfende. Sie übernehmen eine Verantwortungsrolle. Polarisierungen werden aufgehoben. Neben dem Rollenwechsel vom Nutzer zum selber Engagierten verändert sich auch das Verhältnis zwischen Nutzer und Engagiertem. Der Nutzer bleibt nicht mehr „Objekt“ der Fürsorge, sondern wird dabei unterstützt, sich selber zu organisieren. Freiwilliges Engagement beinhaltet ein großes Maß an Selbstbestimmung. Das gilt auch für Inklusion: Jede/-r bringt sich im Rahmen ihrer/seiner Möglichkeiten mit den eigenen Bedürfnissen und Ideen ein. Um Überforderung zu vermeiden, braucht es gute Begleitung. Die Rolle der Hauptamtlichen verändert sich: Sie sind eher Moderierende, Begleitende als „Macher“. Nicht zuletzt verändert sich die Gesellschaft durch inklusive Ehrenamtsprojekte: Durch die Beispiele, in denen Menschen mit Behinderungen ehrenamtlich tätig sind, wird deutlich, dass sich in inklusiven Zusammenhängen die Perspektive ändert: Menschen mit Behinderungen können sich für das Wohl der Gemeinschaft einsetzen und ihren Teil dazu beitragen. Sie werden als aktive Mitgestalter_innen von Wirklichkeit wahrgenommen. Die Übernahme ehrenamtlicher Tätigkeiten durch Menschen mit Behinderungen ermöglicht einen Perspektivwechsel aller Akteure und bedeutet eine nochmalige Überprüfung des Verständnisses von Professionalität und Ehrenamt. Um das jedoch zu ermöglichen, ist die konsequente Infragestellung einer überkommenen professionellen Haltung als Ausgangspunkt zwingend notwendig. Die inklusive Perspektive zwingt zum Überdenken der klassischen Hilfekonzepte. Aus Fürsorge, bei der aktive und passive Rolle eindeutig zugeordnet sind, wird eine ressourcenorientierte Haltung, die ein gleichberechtigtes Miteinander ermöglichen soll. Spannend bleibt dabei die Frage, ob eine Begegnung auf Augenhöhe wirklich immer realisierbar ist. Ob es nicht Abhängigkeiten, Angewiesenheiten und auch persönliche Begrenzungen gibt, die genauso wahr- und ernst genommen werden müssen. Inklusion und inklusive Ehrenamtsarbeit darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen mit Behinderungen oft einen Unterstützungsbedarf haben. Der Blick muss eher in-

Professionalität und Ehrenamt

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klusiv geweitet werden: Menschen mit Behinderungen haben einen Unterstützungsbedarf und gleichzeitig sind sie vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft, die etwas einzubringen haben. Unterstützungsbedarf und Engagement sind gut miteinander vereinbar, wenn beides professionell begleitet wird unter der Maßgabe, dass der Mensch mit Behinderung nicht automatisch zum Fürsorgeobjekt wird, sondern mal Empfänger einer – vielleicht auch ehrenamtlich erbrachten – Unterstützungsleistung, mal aber auch als Ehrenamtlicher selbst als Unterstützender tätig werden kann. Das Beispiel der Bahnhofsmission Essen unterstreicht, welche Kraft entsteht, wenn Menschen mit Behinderungen sich engagieren, sowohl für das Team und für den Nutzer des Engagements als auch für den Engagierten selber. Vom hauptamtlich Tätigen fordert dies ein flexibles Rollenverständnis: Mal agiert er als Moderator von Ehrenamtsprozessen, mal als Initiatorin von inklusiven Begegnungen oder als Unterstützerin von Menschen mit Behinderungen, um ihnen ihre Beteiligung an anderen Mitgestaltungsprozessen zu ermöglichen. Der Hauptamtliche reagiert auf die Gegebenheiten und Anforderungen, die sich ihm stellen. Seine eigene Pläne und Vorstellungen treten zunächst in den Hintergrund. Seine Professionalität zeigt sich also insbesondere dadurch, dass er auf das geplante Erreichen von eigenen Zielen verzichtet und stattdessen alle Beteiligten – ob haupt- oder ehrenamtlich, ob mit oder ohne Behinderungen – gleichberechtigt in den jeweiligen Prozess einzubinden versteht. Auf diesem Weg wird Inklusion zu einer neuen Erfahrung von Geben und Nehmen, von Teilhabe und Teilgabe. Literatur Arbeitsgemeinschaft der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege des Landes Nordrhein-Westfalen/Arbeitsausschuss Bürgerschaftliches Engagement, Positionspapier zur Monetarisierung im bürgerschaftlichen Engagement, Düsseldorf 2012. Becker-Lenz, Roland/Busse, Stefan/Ehlert, Gudrun/Müller-Hermann, Silke, Professionalität in der Sozialen Arbeit. Standpunkte, Kontroversen, Perspektiven, 3. Auflage, Wiesbaden 2013. Daniels, Susanne von/Degener, Theresia/Jürgens, Anders, KrüppelTribunal, Menschenrechtsverletzungen im Sozialstaat, Köln 1983. Frantzmann, Heinz/Sommer-Loeffen, Karen/Woltering, Ursula, Ehrenamt. Das Qualitätshandbuch Freiwilligenmanagement am Beispiel Diakonie und Kirche, Düsseldorf 2007. Greving, Heinrich, Heilpädagogische Professionalität, Stuttgart 2011.

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B. Hofmann/O. Maas/K. Sommer-Loeffen/C. Stoppig

Heinen, Norbert/Lamers, Wolfgang, Geistigbehindertenpädagogik als Begegnung, Düsseldorf 2000. Heiner, Maja, Professionalität in der Sozialen Arbeit. Theoretische Konzepte, Modelle und empirische Perspektiven, Stuttgart 2004. Hüther, Gerald, Was wir sind und was wir sein könnten, 6. Auflage, Frankfurt a. M. 2013. Kaspar, Franz, Großeinrichtungen als Lebens- und Begegnungsraum, in: Norbert Heinen/Wolfgang Lamers (Hg.), Geistigbehindertenpädagogik als Begegnung, Düsseldorf 2000, 231–242. Lüpke, Klaus von, Nichts besonderes: Zusammenleben und Arbeiten von Menschen mit und ohne Behinderung, Essen 1994. Mayer, Anneliese/Rütter, Jutta (Hg.), Abschied vom Heim. Erfahrungsberichte aus Ambulanten Diensten und Zentren für selbstbestimmtes Leben, München 1988. Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft (Hg.), Kommunaler Index für Inklusion. Arbeitsbuch, 1. Auflage, Bonn (o.J.). Müller, Burkhard, Professionalität, in: Werner Thole (Hg.), Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch, 4. Auflage, Wiesbaden 2012, 955–974. Nittel, Dieter, Von der Profession zur sozialen Welt pädagogisch Tätiger? Vorarbeiten zu einer komparativ angelegten Empirie pädagogischer Arbeit, ZfPäd 57 (2011), 40–59. Roß, Paul-Stefan, Warum freiwilliges Engagement (wieder) ein Thema ist, in: Barbara Hanusa/Gerhard Hess/Paul-Stefan Roß (Hg.), Engagiert in der Kirche. Ehrenamtsförderung durch Freiwilligenmanagement, Stuttgart 2010, 11–46. Schicke, Hildegard, Organisationsgebundene pädagogische Professionalität, Berlin 2010. Seidelmann, Stephan, Evangelische engagiert – Tendenz steigend. Sonderauswertung des dritten Freiwilligensurveys für die evangelische Kirche, Hannover 2012. Ständige Konferenz für Ausbildungsstätten für Heilpädagogik in der Bundesrepublik Deutschland, Inklusion und Heilpädagogik. Position der StK zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung, Ravensberg 2012. Stiftung Sozialpädagogisches Institut Berlin – Walter May – gemeinnützige Stiftung (Hg.), Jahresbericht 1999/2000, Berlin, online: http://www.stiftung-spi.de/download/stiftung/ jahresberichte/jb_2000.pdf, Zugriff am 16.11.2015. Windisch, Matthias/Miles-Paul, Ottmar (Hg.), Selbstbestimmung Behinderter. Leitlinien für die Behindertenpolitik und -arbeit, Kassel 1991.

Dieter Kalesse/Helene Skladny

2.7 „Kunst kennt keine Behinderung.“ Kunst und Inklusion: Theorie und Praxis am Beispiel der Arbeit des Ateliers Strichstärke

Das Autorenteam setzt sich mit der Thematik „Kunst und Behinderung“ auseinander. In einer Bestandsaufnahme geht es im ersten Teil um die Verhältnisbestimmung von Kunst und Inklusion. Die Frage, inwieweit Kunsttherapie und Outsider-Art den Forderungen der UNBehindertenrechtskonvention (UN BRK) entsprechen, wird mit Joseph Beuys These „Jeder Mensch ist ein Künstler“ konfrontiert und kritisch diskutiert. Im zweiten Teil folgt ein ausführlicher Bericht der Arbeit des Ateliers Strichstärke. Hier werden die Aspekte des ersten Teils anhand einer Konzeptbeschreibung und zahlreicher Experteninterviews aufgegriffen und aus der Sicht der Praxis beleuchtet. 1

Kunst und Behinderung – Versuch einer Bestandsaufnahme

Dass Kunst und Inklusion zusammengehören, scheint weitgehend Konsens zu sein. Kunstprojekte aller Genres vom Theater über Musik, Bildende Kunst oder Tanz sind mehr und mehr in der kulturellen Öffentlichkeit präsent. Bis hinein in die Lokalpresse hat sich dazu ein gängiger Bild- und Texttypus herausgebildet. Unter Schlagzeilen wie „Kunst schafft Brücken“ oder „Behinderte Künstler stellen aus …“ wird meist euphorisch geschildert, dass hier genau das gelingt, was sonst in der Gesellschaft so schwierig erscheint: nämlich praktizierte Inklusion. So viel propagierte Selbstverständlichkeit sollte als Erfolg gewertet werden, kann aber auch skeptisch machen. Warum, so fragt man sich, ist es gerade das Medium „Kunst“, das die Forderungen der UN BRK scheinbar mühelos erfüllt? Etwa, weil der in diesen Kontexten viel zitierte Ausspruch von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“ gilt? Weil behinderte Menschen besonders kreativ sind? Ist es die der Kunst zugesprochene „therapeutische“ Wirkung? Oder verschwinden im gemeinsamen künstlerischen Gestalten alle

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D. Kalesse/H. Skladny

Barrieren und kann darin endlich Kommunikation auf Augenhöhe gelingen? Es lohnt sich, hier genauer nachzufragen. 1.1

Kunst als Therapie

Fragt man nach den Ursprüngen der institutionellen Verbindung von „Kunst und Behinderung“, stößt man zu allererst auf einen Kontext, der auf den ersten Blick entschieden gegenläufig zu der Hauptforderung der UN BRK steht, nämlich dem Paradigmenwechsel vom medizinischen zum menschenrechtlichen Modell von Behinderung. Karl-Heinz Menzen beschreibt anschaulich, wie bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts erste Versuche unternommen wurden, Psychiatriepatient_innen nun nicht mehr durch massive körperliche Zwangsmaßnahmen wie „Aderlass, Kaltwassergüsse oder Elektroschock“ zu therapieren, sondern „angesichts der krampfartigen Affekte, der sog. Hysterien, Gartenarbeit für die unteren Stände, gepflegte Unterhaltung für die oberen Stände und Atelierarbeit für den Mittelstand“1 zu empfehlen. Es ging hauptsächlich darum, durch künstlerische Tätigkeiten Psychiatriepatienten zu beschäftigen, wobei noch keine „Therapieerfolge“ im eigentlichen Sinne erwartet wurden. Bis heute trifft man auf klischeehafte Assoziationen, die mit kunsttherapeutischen Methoden verbunden werden: Bilder von Therapiesettings, „kuschelige“ bis „esoterische“ Kreativwerkstätten und Selbstfindungsseminare – Maßnahmen, die in der Regel einer Überprüfung ihrer intersubjektiven therapeutischen Nachweisbarkeit nicht standhalten können. Aber auch der Begriff der „Kunst“ ruft aufgrund seiner Vieldeutigkeit und seines inflationären Gebrauchs latent Skepsis hervor. Trotz dieser Vorbehalte haben sich kunsttherapeutische Verfahren mittlerweile in ein breites Spektrum von professionellen Ansätzen ausdifferenziert und etabliert. Wie lässt sich Kunsttherapie definieren? „Bei allen Unterschieden in den Ansätzen: Kunsttherapie ist ein ressourcen-, erlebnis-, handlungs- und beziehungsorientiertes therapeutisches Verfahren, bei dem die Potenziale der bildenden Kunst zur Entfaltung kommen und eine Hilfe beim Bewältigen von Leiden, Krisen, Krankheit darstellen. Die schöpferischen Kräfte eines Menschen werden in der therapeutischen Begegnung (re-)aktiviert – im Sinne einer Stärkung von Selbstheilungskräften und einer identitätsstiftenden Selbstregulierung.“2

Die Bandbreite der Einsatzmöglichkeiten der bildnerisch darstellenden Ausdrucksformen reicht von neurologischen Behandlungsfeldern 1 2

Menzen, Szene, 26. Mechler-Schönach/von Spreti, „FreiRaum“, 163.

Kunst und Inklusion

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wie z.B. der Therapie schwerer Traumata, des Verlustes raumzeitlicher Wahrnehmung über die Arbeit am Selbst-Beziehungs- und Körpererleben.3 Weiterhin sind kunsttherapeutische Verfahren längst nicht mehr auf medizinalpraktische Anwendungsgebiete beschränkt, sondern haben sich auf unterschiedliche soziale Felder ausgeweitet. Die Anerkennung der Kunsttherapie als eigenständiges (und eigenwilliges) Verfahren hat den seit jeher auf ihr lastenden Legitimationsdruck deutlich gemildert. Doch gerade die berechtigte Forderung nach Professionalisierung und Anerkennung als wirksames Therapieverfahren kann dazu führen, dass sie ihrer Eigentlichkeit beraubt wird: nämlich der konsequenten Ermöglichung des freiheitlichen Ausdrucks. Pathologisierung und soziale Kontrolle wären das Gegenteil. Peter W. Rech – Beuys-Schüler, Kunstpädagoge und Gründer der Ausbildungsstätte Kölner Schule für Kunsttherapie – merkt in seiner „Soziologie der Kunsttherapie“ kritisch an, dass Kunsttherapie immer der Gefahr der „sublime(n) Exploitation sozialer Stigmatisierungen“4 unterliege. Mit anderen Worten: Da die Qualität in der Arbeit mit sinnlichen Ausdrucksmitteln und Symbolen gerade in ihrer intuitiven Erfassung und ihrem freiheitlichen Ausdruck liegt, entzieht sie sich einer Objektivierbarkeit im Sinne der Festlegung von „wahr – falsch“ und vor allem von: „krank – gesund“. Darin besteht ihre Stärke und gleichzeitig der Grund, warum das Feld der Kunsttherapie mit so vielen Missverständnissen und Vorbehalten behaftet ist. Rech formuliert dies folgendermaßen: „Die Kunsttherapie ist also grundsätzlich erst dann ‚verkehrt‘, wenn sie sich selbst nicht mehr im Wege steht.“5 Hiermit laufen kunsttherapeutische Verfahren einerseits Gefahr, sich selber zu inflationieren, da der Begriff ungeschützt ist. Anderseits liegen gerade in der Offenheit dieser Verfahren große Potenziale. Nach Mechler-Schönach und von Spreti entsteht in der Kunsttherapie ein „Freiraum“6 als ein zusätzlicher Beziehungsraum, als „das Dritte“7. Somit werden alternative Formen des Ausdrucks, der Reflexion und Selbstdarstellung ermöglicht, nämlich: „sinnlich-ästhetisches Erleben von Spielraum, das Erleben von Ressourcen, das Erleben schöpferischer Prozesse, Möglichkeiten des Ausdrucks und der Befreiung, Möglichkeiten des Sichtbar-Werdens von Individualität, Möglichkeiten des Probehandelns, Möglichkeit zur Änderung, Möglichkeit er-

3

Vgl. Menzen, Kunsttherapie, 31f. Rech, (+) Kunst (-) Therapie , 72. 5 Rech, (+) Kunst (-) Therapie , 72. 6 Mechler-Schönach/von Spreti, „FreiRaum“. 7 Mechler-Schönach/von Spreti, zitiert nach: Wildermuth, Der aktuelle Stellenwert, 39. 4

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D. Kalesse/H. Skladny

weiterter Wahrnehmung, Möglichkeit zusätzlicher Kommunikation, Möglichkeit der Erkenntnis“8.

Dieser „Freiraum“ kann somit auch Barrieren in Bezug auf Behinderung außer Kraft setzen. In diesem Kontext ist Folgendes festzuhalten: – Kunsttherapeutische Verfahren sind zum einen dem Bereich Habilitation und Rehabilitation zuzuordnen. Dabei geht es darum, „Menschen mit Behinderungen in die Lage zu versetzten, ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten […] zu erreichen und zu bewahren“ (Artikel 26 UN BRK. Sie sind abzugrenzen von der kulturellen Teilhabe im Sinne des Artikel 30). – Die Methoden und Verfahren der Kunsttherapie haben sich seit ihren Anfängen professionalisiert. Neben dem medizinisch-therapeutischen Ansatz haben sie sich auf soziale Kontexte ausgeweitet. Kunsttherapie kann durch bildnerische, symbolisch-mehrdeutige, intuitive, gestaltende und sinnliche Verfahren für Menschen mit und ohne Behinderungen Möglichkeiten der Selbstreflexion, des Ausdrucks, der Kommunikation und der Heilung bereitstellen. – Kunsttherapeutische Settings sind von Kunstprojekten zu unterscheiden. Kunst kann allerdings auch dann „heilsam“ sein, wenn es gar nicht um „Therapie“ geht – und dies sowohl für Menschen mit und ohne Behinderungen. 1.2

Die inkludierten „Outsider“

Der wohl prominenteste Patient, der von der Hinwendung der Psychiatrien zu gestalterischen Beschäftigungen profitierte, ist Vincent van Gogh. Er malte um 1889 im Garten der psychiatrischen Klinik Saint-Paul-de-Mausole im südfranzösischen Saint-Rémy Bilder, die heute auf dem Kunstmarkt schwindelerregende Preise erzielen. So hat sich neben der medizinisch, psychologisch und therapeutischen Sicht auf den Einsatz künstlerischer Verfahren bei Menschen mit temporären oder dauerhaften psychischen Beeinträchtigungen – wiederum im Kontext der Psychiatrie – ein weiterer Aspekt von Kunst und Behinderung herausgebildet: der der sogenannten OutsiderKünstler. Auf den ersten Blick ein offensichtlich sprachliches Paradox, jedenfalls, sobald man es als Indiz für „Kunst und Inklusion“ ins Feld führt. Es wäre interessant herauszufinden, warum van Gogh 8

Mechler-Schönach/von Spreti, zitiert nach: Wildermuth, Der aktuelle Stellenwert, 40.

Kunst und Inklusion

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einer der wenigen Künstler ist, der – trotz Psychiatrieaufenthalte und offensichtlicher psychischer Beeinträchtigungen – als „Künstler“ und nicht als „Outsider“ in die Kunstgeschichte einging. Man kann sich fragen, ob seine Beeinträchtigung nicht „massiv“ genug war, um ihn als „Outsider“ einzuordnen. Oder ist der Grund darin zu suchen, dass seine künstlerischen Leistungen dem Bereich des als wahnhaft geltenden künstlerischen Genies zugeordnet wurden? Bis heute hält sich hartnäckig das Klischee der „ver-rückten“ Künstler, aber auch umgekehrt das der künstlerisch veranlagten „Verrückten“. Die Verbindung von Kunst und (insbesondere geistiger und psychischer) Behinderung geht vor allem auf das Werk des Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn zurück, der im Jahr 1922 seinen Band „Die Bildnerei der Geisteskranken“ herausgab. Er hatte seit 1919 ca. 5.000 Werke von Menschen aus Psychiatrien gesammelt. Diese Arbeiten zeichneten sich seiner Auffassung nach dadurch aus, dass sie, obwohl sie jenseits künstlerischer Ausbildung oder professioneller therapeutischer Anleitung spontan entstanden sind, eine außergewöhnliche Ausdruckskraft und individuelle Gestaltsprache aufwiesen. Mit großem Einfühlungsvermögen und Bewunderung für diese Bildsprache stellte Prinzhorn in seinem Band „Zehn Meister“ seine Sammlung vor. Dabei ging es ihm darum, „eine Spielart menschlicher Entäußerung in ein Gesamtbild des Seins unter dem Begriff eines ursprünglichen Gestaltungsdranges einzuordnen.“9 Das heißt, dass Prinzhorn in diesen Werken eine unverstellte Ausdruckskraft erkannte, die außergewöhnliche, autonome künstlerische Qualitäten besitzt. Und es war gerade die „ver-rückte“, unkonventionelle Bildsprache, bezogen auf die Themenwahl, symbolische Verdichtung, eigenwilligen Darstellungsweisen, Farbwahl, Perspektive usw., die in einer Zeit an Bedeutung gewann, in der die (normalen) Künstler_innen händeringend auf der Suche nach neuen authentischen künstlerischen Ausdrucksformen waren. Sie wurden bei drei Gruppen fündig: den Kindern, den Naturvölkern und den Psychiatriepatient_innen. Ihre unmittelbare Gestaltsprache sollte die Überwindung eines bürgerlich-akademischen Kunstbegriffs voranbringen und leistete damit Starthilfe für einen künstlerischen Wandel in einer durch Industrialisierung, Modernisierung und komplexe gesamtgesellschaftliche Umbrüche radikal veränderten Lebenswelt. „Künstler wie Paul Klee, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso, vor allem die Surrealisten um Max Ernst und André Breton identifizierten sich radikal mit der Schaffensweise und den Bildwelten dieser kulturellen Außen-

9

Prinzhorn, Bildnerei der Geisteskranken, 7.

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D. Kalesse/H. Skladny

seiter, die einen völlig neuen Blick auf die Welt und die Gründe der menschlichen Seele eröffneten.“10 Eine traurige Berühmtheit erfuhr ein Teil der von Prinzhorn gesammelten Werke, als sie 1937 im Zuge der nationalsozialistischen Verfolgung von Künstlerinnen und Künstlern der Moderne in München als Beleg für „Entartete Kunst“ missbraucht wurden. Im Jahr 1945 begann der Künstler Jean Dubuffet systematisch nach Kunst von sogenannten „Außenseitern“ zu suchen. Er war überzeugt, dass sich gerade in den Werken von Menschen jenseits des Kunstbetriebs eine kraftvolle und authentische Gestaltsprache, eine „Art Brut“ findet. Dubuffet und seine Mitstreiter waren fasziniert von den bildnerischen Ordnungsversuchen, der oftmals als bedrohlich erfahrenen Innenund Außenwelt, den verschlüsselten Symbolen, Imaginationen, parallelen Bildwelten und kreativen Lösungen der aufgrund ihrer intellektuellen oder psychischen Andersartigkeit als „Außenseiter“ Bezeichneten. Ähnlich wie die Künstler_innen der „Klassischen Moderne“, die auf der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für das Lebensgefühl der Zerrissenheit ihrer Zeit waren und bei der „Bildnerei der Geisteskranken“ fündig wurden, ging es nun darum, eine adäquate künstlerische Sprache für den Neubeginn nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs zu finden. Dabei wies Dubuffet konsequent auf die qualitative Unterschiedslosigkeit künstlerischer Werke von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen hin. Wenn es jedoch so ist, dass Kunst der „Outsider“ Qualität und Innovationskraft besitzt, die der Kunst der „Insider“ um nichts nachsteht, könnte man dann nicht auf eine Etikettierung verzichten? Aus welchem Grund ist diese Kunst zwingend mit der Beeinträchtigung ihrer Erschaffer_innen in Verbindung zu setzen? Geht es darum, die Künstlerinnen und Künstler zu schützen? Sind die Werke nur aufgrund der spezifischen Behinderung verstehbar? Unterscheiden sie sich (also doch!) von denen „normaler“ Künstler_innen? Stehen die Faszination des Nichtnormalen, des „Ver-rückten“, der Psychosen etc. im Zentrum? Ist der Kunstmarkt an derlei Zuschreibung interessiert, da sich „Outsider Art“ besonders gut verkaufen lässt? Geht es um Heroisierung? Oder steckt gar ein uneingestandener „Behindertenbonus“ nach dem Motto „Obwohl alle Künstler behindert sind, haben sie dennoch schöne Werke geschaffen“ dahinter? Folgende Überlegungen sind bei der Betrachtung dieser Fragen einzubeziehen: – Prinzhorn selbst hat das Bild des von jedweden künstlerischen Gestaltungskriterien sowie inhaltlichen Intentionen unbeeinflussten Psychiatriepatienten mitgeprägt, indem er davon ausging, dass 10

Mecherlein, Outsider Art, 1.

Kunst und Inklusion

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diese Künstler_innen „unbewusst“ arbeiten, also letztendlich ihre Beeinträchtigung die Voraussetzung ihrer Kunst ist. Dass die damalige spezielle Situation der Psychiatrien tatsächlich im Kontext des Kunstschaffens ihrer Patient_innen zu sehen ist, steht außer Frage. Jeglicher gesellschaftlicher Rechte und Teilhabe beraubt, bot die Flucht in die Kunst vielen Patient_innen die einzige Möglichkeit, sich auszudrücken und die Welt in sich zu ordnen. Das galt natürlich nur für jene Patient_innen mit künstlerischer Begabung und Neigung. Somit hatte Prinzhorn zwar die Werke als Kunst erkannt, sie aber gleichzeitig auf einen bestimmten Typus eingegrenzt. Prinzhorns Erbe ist demnach – bei aller Anerkennung – neu zu überdenken und hinsichtlich ihrer einseitigen Festschreibung zu entmystifizieren. – Trotz der Entdeckung der ersten „Outsider“ blieb die Anerkennung im Sinne einer Gleichwertigkeit (van Gogh ausgenommen) in der Regel aus. Vor allem haftet ihren Werken eine gewisse Instrumentalisierung an und zwar dann, wenn sie erstens zwecks diagnostischer Befunde im medizinisch Kontext verblieben, da sie hinsichtlich der Pathologie ihrer Erschaffer_innen beforscht wurden. Zweitens, wenn die Werke – wie oben geschildert – als bloße Inspirationsquellen oder gar „Kopiervorlagen“ benutzt wurden. Und drittens, wenn die Werke von Künstler_innen mit Beeinträchtigung ausschließlich dann von Interesse waren und sind, weil sie das Etikett „behindert“ tragen. Grund dafür können sowohl Formen klischeehafter Typisierung, Voyeurismus bis hin zur Heroisierung behinderter Künstler_innen sein. – In den letzten Jahren ist eine neue Entwicklung zu beobachten. Beinahe könnte man von einer diametralen Trendwende sprechen. Werke von „Outsidern“ sind mehr und mehr gefragt und stehen hoch im Kurs. Sie finden sich in renommierten Kunstausstellungen, wie z.B. der Biennale in Venedig. Dort, und das ist der eigentliche Erfolg, werden sie nicht mehr als „Outsider“ gekennzeichnet, sondern fügen sich selbstverständlich in die Reihen renommierter Gegenwartskunst ein. Diese Werke haben aufgrund ihrer hohen künstlerischen Qualität ihren Platz. Weiterhin entstanden Ateliers, in denen Künstler_innen mit Behinderung professionell arbeiten können (z.B. „Die Schlumper“, „Atelier Goldstein“, „Direct Art Gallery“). Um die letzte Hürde auf dem Weg zur Anerkennung der künstlerischen Arbeit von Menschen mit Behinderungen zu nehmen, wäre ein kritischer Umgang mit dem Etikett „Outsider“ erforderlich, das eine Barriere darstellt, die in der Kunst nicht existiert.

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D. Kalesse/H. Skladny

„Jeder Mensch ist ein Künstler.“11 – Beuys auf dem Prüfstand

Dieser berühmte Satz wird im Kontext von „Kunst und Inklusion“ in der Regel reflexartig zitiert. Doch ist wirklich jeder Mensch ein Künstler? Der inflationäre und unkritische Gebrauch des Beuys-Zitats läuft Gefahr, Kunst zu banalisieren, zu entkräften oder auf den Bereich der erholsamen Freizeitbeschäftigung zu reduzieren. Wenn alles Kunst und jeder Künstler ist, ist Kunst beliebig und – nicht nur im Kontext der UN BRK – entbehrlich. Was also hat Joseph Beuys mit der These, dass jeder Mensch ein Künstler ist, gemeint, und was hat er damit nicht gemeint? Während eines Interviews erläutert er, wie er seine These versteht: „Ich spreche von der Kreativität und Selbstbestimmung – von der Möglichkeit, die in jedem Menschen liegt, sich selbst zu bestimmen.“ Auf den Einwurf der Interviewerin, „(in der Kunst) können Sie sozusagen machen was Sie wollen“, interveniert Beuys entschieden, indem er feststellt: „Nein, nein! Wenn man sich nicht an eine innere Gesetzmäßigkeit der Dinge hält, dann wird niemals eine Qualität daraus entstehen – also niemals eine Gestalt.“12 Nach Beuys ist Kunst keinesfalls voraussetzungslos. Sie fordert die Einhaltung der „inneren Gesetzmäßigkeit der Dinge“, denn nur so entstehen „Qualität“ und „Gestalt“. Was er damit meint, wird in einem weiteren Zitat deutlich: „Kunst kann man lernen, eine gewisse Begabung wird wohl Voraussetzung sein, aber Fleiß gehört dazu. Kunst kommt von Kunde, man muss etwas zu sagen haben, auf der anderen Seite aber auch von Können, man muss es sagen können. Und dann Sinn für Proportionen, für Masse, Formsinn, Gleichgewicht. Natürlich ist das subjektiv. Aber es gibt keine Möglichkeit, Urteile zu fällen außerhalb des Subjekts.“13

Kunst ist das Produkt sinnlicher Gestaltsprache. Sie ist für all diejenigen barrierefrei, die sich auf ihre inneren Gesetzmäßigkeiten einlassen. Die jeweilige „Grammatik“ funktioniert nach komplexen Regeln. Diese gelten, wenn auch in ganz unterschiedlicher Hinsicht, für alle künstlerischen Sparten, seien es: Musik, Literatur, Tanz, Theater oder Bildende Kunst. Beuys war nicht nur Aktionskünstler, sondern auch Bildhauer. Hierbei hatte er es mit „Proportion, Masse, Formsinn und Gleichgewicht“ zu tun. Auch bei seiner Aktionskunst galten bestimmte Gestaltkriterien, die Form und Inhalt ästhetisch miteinander 11 Dieser Satz geht zurück auf eine Grundsatzrede mit dem Titel „Reden über das eigene Land: Deutschland“, die Beuys kurz vor seinem Tod am 20. November 1985 in den Münchner Kammerspielen hielt. Vgl. Beuys, Sprechen über Deutschland, 13. 12 Bodemann-Ritter, Joseph Beuys, 115. 13 Zit. n. Mäckler, 1460 Antworten, 17.

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in Beziehung setzen. Sie umfassen einen differenzierten Umgang mit Material, Kontrasten, inneren Bildern, gesellschaftlichen Bezügen, sinnlichen Assoziationen usw. Im Gegensatz zu Sprachgrammatiken sind künstlerische „Grammatiken“ allerdings nicht normativ. Sie entziehen sich in der Regel einem statischen „Richtig oder Falsch“, folgen aber dennoch, wie Beuys es nennt, inneren Gesetzmäßigkeiten. Diese zu erkennen und zu fördern, erfordert Ernsthaftigkeit und Anstrengung und vor allem Expertentum im jeweiligen Genre. Um es mit einem weiteren, Karl Valentin zugesprochenen Künstlerzitat auszudrücken: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ Das gilt sowohl für die Produktion als auch für die Rezeption von Kunst. Potentiell jedoch, so die Auffassung von Beuys, kann sich jede und jeder mit ihren inneren Gesetzmäßigkeiten vertraut machen. Als „behindert“ in Bezug auf Kunst wäre demnach einzuordnen, wer dazu nicht in der Lage ist. Anders ausgedrückt: Die vielfältigen künstlerischen Gestaltsprachen setzen gängige Kategorien von „behindert und nicht behindert“ oder „normal und ver-rückt“ außer Kraft bzw. haben streng genommen gar nichts mit ihnen zu tun. Folgende Beispiele sollen dies verdeutlichen: „Wir sind ganz einfach Musikerinnen, die eine Behinderung haben“, so die Gitarristin des Duos „blind & lame“. Die körperlichen Beeinträchtigungen der Künstlerinnen spielen für die Qualität und Ausdruckskraft ihrer Musik keinerlei Rolle. Allein an ihr möchten sie gemessen werden. Dass diese Selbstverständlichkeit noch nicht in der Gesellschaft angekommen ist, ist dem Duo bewusst. Wie offensiv und auch humorvoll sie mit den Klischees umgehen, die ihnen als Musikerinnen mit körperlichen Behinderungen entgegengebracht werden, zeigt nicht nur ihr Bandname. Und so positionieren sie sich in einem Interview mit Isabell Pfaff selbstbewusst: „Denn wir sind nicht die fröhlichen Behindis, die drolligerweise jetzt auch noch Musik machen.“ DanceAbility wurde in 1987 von Alito Alessi und Karen Nelson initiiert. Diese zeitgenössische Tanzform setzt auf die vielfältige Gestaltsprache der unterschiedlichen Körper und ihrer tänzerischen Kommunikation – und zwar jenseits von normierten Bewegungsstandards und den damit verbundenen Körperkonzepten. Das Kriterium – um mit Beuys zu sprechen: die „innere Gesetzmäßigkeit der Dinge“ – liegt allein in der Erarbeitung einer individuellen tänzerischen Gestaltsprache. Das erfordert: Authentizität, Kreativität, Körpergefühl, Bereitschaft zum Kontakt und Training. Mehr nicht – aber auch nicht weniger.

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D. Kalesse/H. Skladny

Der sehenswerte Film „Verrückt nach Paris“ aus dem Jahre 2002 handelt von drei Bewohner_innen eines Behindertenheims, die sich auf eigene Faust nach Paris absetzen. Dargestellt werden sie von zwei Schauspielern und einer Schauspielerin des Bremer „Atelier Blaumeier“, das im Jahr 2015 mit dem Diversity Preis ausgezeichnet wurde. In einer Szene dieses turbulenten dramatisch-komischen Roadmovies ist eine Theateraufführung zu sehen. Erwachsene Menschen mit einer geistigen Behinderung führen in kindischen Kostümen auf einer mit Pappbäumen und Hexenhaus versehenen Bühne „Hänsel und Gretel“ auf. Die Hauptprotagonistin Hilde, gespielt von Paula Kleine, bricht während der Aufführung aus ihrer (von der Heimleitung aufgezwungenen) Rolle der Gretel aus, ballt die Fäuste und beginnt eindrucksvoll das Publikum zu beschimpfen. Diese Schlüsselszene karikiert und entlarvt ein Verständnis von „inklusivem Theater“, das weder Teilnehmer_innen, Zuschauer_innen noch das Metier „Theater“ annähernd ernst nimmt. Während des Hamburger Kirchentags 2013 fand zum Motto „Soviel du brauchst“ in einer Messehalle eine kleine Kunstausstellung des Ateliers Strichstärke statt. Objekte, Zeichnungen, Malereien und Mischtechniken waren dort professionell gehängt und zusammengestellt. Zwei Dinge fielen auf: die künstlerische Qualität und die große Bandbreite an unterschiedlichsten Gestaltsprachen. Sie reichten von filigranen Bleistiftzeichnungen bis hin zu kraftvollen, großformatigen abstrakten Werken. „Hier kann erst einmal jeder machen, was er will“, so die Leiterinnen Barbara John und Yvonne Klaffke. Aber, und das ist das Entscheidende, die Teilnehmer_innen werden in ihrem Gestaltungswillen ernst genommen, unterstützt und – sofern sie es wünschen – professionell gefördert. Dabei geht es keinesfalls um einen, wie auch immer ausgeprägten Leistungsdruck, im Gegenteil. Es geht vielmehr darum, was Beuys mit der „inneren Gesetzmäßigkeit der Dinge“ beschreibt. Im Folgenden soll das Atelier Strichstärke vorgestellt werden.

Kunst und Inklusion

2 2.1

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„Live meets art“: das Atelier Strichstärke der Evangelischen Stiftung Hephata – ein Praxisbeispiel14 Das Atelier

Kunst kann provozieren. Kunst kann bewegen. Kunst kann akademisch sein. Kunst kann autodidaktisch sein. Was Kunst auch immer ist, sie ist eine Art der Kommunikation. Besonders spannend wird Kunst, wenn sie von Menschen geschaffen wird, die über dieses Medium in Kommunikation mit der Welt treten, ihre Gefühle, Ansichten und Eindrücke in Form von Bildsprache auf den Weg zum Betrachter schicken. Diese Möglichkeit bietet die Evangelische Stiftung Hephata Wohnen gGmbH Menschen mit einem sogenannten Handicap seit 1997. In einem großen Raum auf dem Stiftungskerngelände an der Rheydter Straße in Mönchengladbach begannen damals Barbara John und Yvonne Klaffke mit dem Angebot an Hephata-Nutzer_innen, in ihrer Freizeit zu malen. Nach kurzer Zeit kristallisierte sich eine Gruppe von Teilnehmer_innen heraus, die sich regelmäßig traf, um künstlerisch tätig sein zu können. Für diese Gruppe entstand die Bezeichnung „Strichstärke“. Die beiden Mentorinnen vermittelten unterschiedliche Techniken künstlerischen Gestaltens (Malen mit unterschiedlichen Farben – Tempera, Acryl, Öl, Kreide, Farbstifte; Zeichnen; Radierungen; auf unterschiedlichen Materialien in unterschiedlichen Größen), bestärkten jeden Teilnehmenden in der eigenen Art der Darstellung und setzten hier und da minimale Impulse zur Unterstützung. Mehr und mehr entwickelten die Teilnehmenden jeweils ihren eigenen Stil und ihre individuelle Bildsprache. Zum Angebot für die Gruppe gehörte und gehört auch der Besuch von Ausstellungen und Museen – verbunden mit dem Ziel, die Wahrnehmung zu schulen sowie neue Impulse aufzunehmen und damit die persönlichen Möglichkeiten auszubauen. Anliegen des Atelier Strichstärke ist: autodidaktisch arbeitenden Künstler_innen die Möglichkeiten zu schaffen, unter den gleichen Bedingungen auszustellen, wie sie die sogenannten etablierten Künstler_innen haben, und die Werke der Autodidakten nach Stilrichtungen zu bezeichnen und nicht nach Biografien. Erste Projekte und Ausstellungen entstanden: – 2002 „Europa“, Aktion am Museum Abteiberg, Mönchengladbach

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Weiterführend: Abschlussbericht zum Euregio-Projekt „kunst verbind(e)t“; Evangelische Stiftung Hephata, So viel du brauchst.

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– 2003 „Gefühle“, Frauenprojekt im Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, Mönchengladbach – 2006 „Barrieren“, Aktion Grundgesetz, Theaterplatz, Mönchengladbach – 2007 „Farbsaiten“, Musikschule Mönchengladbach und Rheydt – 2009 „Grafiken und Malerei“, Gemeindezentrum DüsseldorfOberbilk – 2010 „Books Writing – Books Painting“, Transnationales Schreibprojekt, Ev. Christuskirche, MG – 2011 „dichterbij“, deutsch-niederländisches Projekt im EuregioHaus, Mönchengladbach Die letztgenannte Ausstellung mit Werken von Künstler_innen aus dem Atelier Strichstärke und Künstler_innen aus niederländischen Ateliers im Euregio-Haus gab den Impuls, ein im Rahmen von Intereg IV gefördertes Euregio-Projekt unter dem Titel „kunst verbind(e)t“ für die Jahre 2013 und 2014 aufzulegen. Gesetztes Ziel war, über das Medium künstlerischen Gestaltens in Workshops, an denen Deutsche und Niederländer mit und ohne Handicap teilnahmen, die Inklusion zu fördern. Angeleitet wurden die Workshops von lokal bekannten Künstler_innen unter Begleitung der Mitarbeiterinnen des Ateliers. Nicht nur aufgrund der UN BRK stellte sich die Hephata Wohnen gGmbH Anfang 2011 auch die Frage, ob das Atelier auf dem ehemaligen Stiftungskerngelände/„Anstaltsgelände“ noch richtig platziert sei.15 Die Antwort war im April 2011 der Umzug in ein Ladenlokal in der Citypassage der Fußgängerzone des Mönchengladbacher Stadtteils Rheydt. Dieser Umzug in ein Ladenlokal bedeutete wesentliche Veränderungen: Ab jetzt trifft sich die Gruppe im öffentlichen Raum – nicht mehr ungesehen auf einem von der Öffentlichkeit abgelegenen Gelände. Werke können in den Schaufenstern präsentiert werden und wirken damit sozusagen en passant auf die Bürgerinnen und Bürger, die durch die Ladenpassage gehen. Die Bevölkerung wird aufmerksam, es entsteht Publikumsverkehr, über den Verkauf von Werken entsteht auch Dialog zwischen den Bürger_innen und den Künstler_innen. Die Künstler_innen des Ateliers wirken auch mit bei Aktionen des „Citymanagements“ (Zusammenschluss der Einzelhändler vor Ort) zur Gestaltung der Rheydter Fußgängerzone, d.h., sie werden in den Sozialraum eingebunden und dort als Part-

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Hephata hat bereits 1995 damit begonnen, seine Arbeit zu dezentralisieren. Seit 1995 – damals 542 „Bewohner_innen“ auf dem Kerngelände in MG – sind mehr als 400 Personen in die Stadt MG in „normale“ Wohnviertel umgezogen. Heute leben auf dem Kerngelände noch knapp 100 Menschen mit Handicap.

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ner_innen akzeptiert. Die Werke werden im Rahmen einer Artothek auch gegen Bezahlung auf befristete Zeit zum Verleih angeboten. Seit 2014 haben sich für die Künstler_innen des Ateliers zwei neue Bereiche aufgetan: Zum einen ist es durch das Bekanntwerden dazu gekommen, dass Bilder aus dem Atelier als Designvorlage für Verpackungen (Weißblechdosen) der Industrie umgesetzt wurden; bis dato insgesamt fünf Werke. Der bislang größte Auftrag umfasst die Produktion von 35.000 Dosen, die im deutschsprachigen Raum (d.h. auch in Österreich und Schweiz) Verwendung finden. Zum anderen haben Künstlerinnen und Künstler des Ateliers ganz im Sinne von Empowerment Anleiterfunktionen übernommen. Erstmalig 2014 leiteten sie beim Jugendcamp der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR) junge Menschen an, unter dem Titel „Kunstspuren“ aus Funden in der Natur Werke zu gestalten. Dieser „Rollentausch“ weg vom Klischee, dass es immer die Menschen mit Behinderungen sind, die Anleitung benötigen, war eine wesentliche Erfahrung sowohl für die Jugendlichen wie für die Künstler_innen. In 2015 wurde diese Arbeit fortgesetzt, die Künstler_innen leiteten in einem Projekt des HephataBerufskollegs Studierende der Heilerziehungspflege an und beim Kindergottesdiensttag der EKiR in Solingen sogenannte Kindergottesdiensthelfer_innen.

Abb. 1 Künstler_innen im Atelier Strichstärke

Dennoch bleibt für die Künstler_innen ihre Zeit im Atelier und bei den Projekten Freizeit. Das Atelier ist also nicht, wie bei anderen Institutionen, in eine sogenannte „anerkannte Werkstatt für Menschen

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mit Behinderungen“ eingebunden. Dies trägt aus Sicht des Autors gerade zur Qualität der Arbeit des Ateliers Strichstärke bei, weil damit ein „Produktions-Druck“ und eine „willkürliche“ Zuordnung von Menschen mit Behinderungen ausgeschlossen bleiben. Im Umkehrschluss führt dieser qualitative Anspruch leider aber dazu, dass das Atelier sich nicht aus den eigenen Einnahmen finanzieren kann und in seiner Existenz davon abhängt, dass die Evangelische Stiftung Hephata dieses Angebot aus Spendengeldern mitträgt. Von 2011 bis heute fanden weitere Ausstellungen statt, die hier aufzulisten zu weit führte. Hingewiesen sei lediglich noch auf eine Ausstellung zum Titel des 34. Deutschen Evangelischen Kirchentages 2013 „Soviel du brauchst“ in Hamburg, bei der Werke von „anerkannten“ Künstler_innen aus dem Rheinland zusammen mit Werken von Künstler_innen aus dem Atelier Strichstärke gezeigt wurden – natürlich ohne diese speziell zu etikettieren. Im Weiteren sollen nun die Nutzer_innen und Mentorinnen des Ateliers selbst zu Wort kommen: 2.2

Die Künstler_innen

Derzeit nutzen gut 20 Personen im Alter zwischen 25 und 71 Jahren das Angebot des Atelier Strichstärke. Drei dieser Personen stellen wir hier vor: 2.2.1 „… habe ich nach der Arbeit gemalt, so aus dem Kopp, naturmäßig. Ich sehe mir viel in der Natur an und speichere das.“ Helmut Schneider Herr Schneider, Sie sind 1954 in Wuppertal geboren und werden seit Jahrzehnten von Mitarbeitenden der Stiftung Hephata begleitet. Sie leben allein in einer eigenen Wohnung im sogenannten ambulant betreuten Wohnen in Mönchengladbach. Inzwischen sind Sie Rentner, in Ihrer Freizeit sind Sie im Atelier Strichstärke aktiv. Was bedeutet Ihnen das Malen, wann haben Sie damit begonnen, wo malen Sie? Ich male seit Kindheit an, schon in der Hephata-Schule habe ich gemalt. Da habe ich mal vier Bilder vom Walfisch und Jonas gemalt, da hat Frau Stöver mich gelobt. Als ich als Hausmeister gearbeitet habe, habe ich nach der Arbeit gemalt, so aus dem Kopp, naturmäßig. Ich sehe mir in der Natur viel an und speicher das … Malen entspannt und macht Spaß. Wenn ich Ihre Arbeiten sehe, würde ich diese der naiven Malerei zuordnen. Seit wann sind Sie im Atelier dabei?

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Seit 2002. Ich habe da Frau John meine Bilder gezeigt, die ich zuhause gemalt habe. Dann hat sie mich eingeladen, ins Atelier zu kommen. Damals hatten wir noch den Raum über der Schreinerei.

Abb. 2: Werk von Helmut Schneider

Was ist Ihnen bei der Arbeit im Atelier wichtig? Unter Leuten sein, mit denen ich auch reden kann. Und Anregungen holen. Inzwischen mache ich auch bei der Schreibwerkstatt mit. Bei einem Schreibwettbewerb in Bielefeld habe ich einen Preis bekommen. Der Text kommt in ein Buch.16 Es ist gut, dass wir das Atelier haben. Möchten Sie mit Ihren Werken etwas Bestimmtes ausdrücken oder erreichen? Ich finde die Werke nach meinem Ermessen gut. Das merkt man ja auch daran, wenn andere sich daran erfreuen. Es freut mich, wenn es anderen gefällt, dann habe ich immer mehr Lust … Ausdrücken oder erreichen? Nein! Was war für Sie ganz persönlich während Ihrer bisherigen Jahre im Atelier ein wichtiges Ereignis? 16

Vgl. 5. Literaturwettbewerb des Vereins „Die Wortfinder“, Bielefeld 2015.

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Das war die Sache mit dem Kölner Dom, wo wir eingeladen waren zur Führung und danach den Kölner Dom gemalt haben. Oder in Hamburg der Kirchentag, die Ausstellung selbst und dann mal zu sehen, was andere da machen. Und da mit Leuten zu reden über das Bild, das man gemalt hat. Der Präses hat sich mit einem Schreiben bei mir selbst persönlich bedankt, das habe ich zuhause … Und noch die Malaktion beim Turmfest.17 Was wünschen Sie sich für die Zukunft bezogen auf Ihre Arbeit und auf das Atelier? Dass das Atelier noch lange bleibt. Da gehe ich gern hin. Barbara und Yvonne sind super, da kann man was lernen. 2.2.2

„Kunst ist für mich ein Ausdruck ohne Worte.“ Mathilde Dorothea Cremer

Frau Cremer, in Mönchengladbach 1958 geboren, haben Sie die Schule mit dem Abitur abgeschlossen und haben danach „auf“ Lehramt studiert und anschließend ein zweites Studium der Sozialpädagogik absolviert. Nach einer Erkrankung arbeiteten Sie ab 1999 in den Hephata Werkstätten. Seit 2011 sind Sie Rentnerin. Sie leben in einer eigenen Wohnung und werden dort, wie man es landläufig bezeichnet, „ambulant betreut“ von der Diakonie Mönchengladbach. Was bedeutet Ihnen das Malen, wann haben Sie damit begonnen, wo malen Sie? Für mich ist Malen ein Ausdruck meiner inneren Stimmung. Seit Kindesbeinen male ich. In der Schule habe ich kleine Engel auf den Heftrand gemalt, wenn es mir zu langweilig war, zum Beispiel im Mathematikunterricht. Das war dann sehr zum Ärger meines Mathematiklehrers, aber zur Freude meiner Kunstlehrerin. Ich male zuhause kleine Werke, so DinA4-Format, mit Filzstiften und mit Tuschestiften. Im Atelier male ich auf größeren Formaten. Ihre Arbeiten ordne ich der expressiven Malerei zu, die meisten zugleich auch der sakralen Kunst, und einige sind so anders als die Mehrzahl der Werke, die Sie malen, dass ich diese gar nicht zuordnen kann. Seit wann sind Sie im Atelier dabei? In den Hephata Werkstätten habe ich Frau Anja Weiß kennengelernt, mit ihr bin ich befreundet. Sie malt auch. Über Anja Weiß habe ich 2005 Bärbel Esser kennengelernt, eine Künstlerin aus Düsseldorf, die damals auch bei der Stiftung Hephata Malkurse angeboten hat. 2012 17

Anmerkung des Autors: Gemeint ist das Stadtfest in MG-Rheydt mit bis zu 20.000 Besucher_innen.

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ist die Arbeit von Frau Esser dann ins Atelier Strichstärke übergewechselt und Frau Esser ist in Rente gegangen, seitdem bin ich im Atelier dabei. Was ist Ihnen bei der Arbeit im Atelier wichtig? Im Atelier kann ich auf großen Formaten malen. Mir macht der GroßKlein-Wechsel Spaß, und die großen Formate kann ich ja allein nicht transportieren. Mir ist auch die Gemeinschaft wichtig, dass ich mit anderen Ideen austauschen kann. Durch Frau John und Frau Klaffke lerne ich neue Techniken, zum Beispiel die Schwammtechnik. Die Ideen kommen aus mir selbst.

Abb. 3: Werk von Mathilde D. Cremer

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Möchten Sie mit Ihren Werken etwas Bestimmtes ausdrücken oder erreichen? Ja, Kunst ist für mich ein Ausdruck ohne Worte. Ein Ausdruck meiner inneren Stimmung. Ich möchte die Information rübergeben, dass Bibellesen Spaß macht, dass die Bibel die Frohe Botschaft ist. Ich möchte auch ernste Dinge zeigen, die heute das Leben betreffen. Ich scanne meine Bilder auch und sende diese per Mail an Leute. Was war für Sie ganz persönlich während Ihrer bisherigen Jahre im Atelier ein wichtiges Ereignis? Die Technik der Radierungen mit Bärbel Esser haben mir viel Spaß gemacht. Das Tolle war, dass ich dann die verschiedenen Drucke, die entstanden sind, unterschiedlich kolorieren konnte. So ließen sich unterschiedliche Wirkungen erzielen. Mir ist wichtig, dass ich meine Bilder – heute per Mail – an viele Menschen weit streuen kann. Was wünschen Sie sich für die Zukunft bezogen auf Ihre Arbeit und auf das Atelier? Dass ich weiter im Atelier dabei sein kann. Ich kann nicht in die Zukunft schauen, ich weiß nicht, ob ich im Alter immer noch malen kann oder ob meine Hände dann vielleicht zittern. Ich muss die Zeit nutzen, solange ich das kann. 2.2.3

„Deswegen ist es auch so, dass etwas aus meiner persönlichen Geschichte in das Malen reinrutscht.“ Marco Houben

Herr Houben, 1977 geboren arbeiten Sie derzeit im Lager der Hephata Werkstätten. Dort gehört es zu Ihren Aufgaben, LKWs zu entladen und Waren in die Arbeitsgruppen zu transportieren. Sie arbeiten aber auch in der Retourenkontrolle am PC. Sie sind zuhause aufgewachsen und leben heute in einer Wohngemeinschaft zusammen mit sieben weiteren Personen. Was bedeutet Ihnen das Malen, wann haben Sie damit begonnen, wo malen Sie? Malen ist für mich inzwischen Teil meiner Persönlichkeit, über das Malen kann ich mich besser ausdrücken als mit Worten. Ich habe schon früher zuhause bei meiner Familie gemalt. Dann habe ich mich über den Besuch von Kursen und über Bücher weiterentwickelt. Heute male ich überwiegend in meinem Zimmer in der Wohngemeinschaft, im Atelier und, wenn es die Zeit erlaubt, auch bei der Arbeit. Ihr Stil ist der Comicstil, manche Ihrer Zeichnungen sind auch vergleichbar mit Karikaturen. Seit wann sind Sie im Atelier dabei?

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Seit 1998 bin ich im Atelier dabei. Zuerst waren wir eine Malgruppe auf dem Dachboden im Wohnheim Brunnenstraße, dann haben wir uns zu einem Atelier entwickelt.

Abb. 4: Werk von Marco Houben

Was ist Ihnen bei der Arbeit im Atelier wichtig? Durch das Malen im Atelier kann ich mich gut entfalten, auch Techniken weiterentwickeln. Mir bedeuten die Menschen im Atelier was. Der Kontakt mit den Leuten ist mir sehr wichtig. Es ist ein anderes Gefühl als zuhause malen, es tut mir gut. Als ich mit Malen zuhause angefangen habe, waren die Umstände problematisch. Malen hat mir geholfen, mit Dingen klarzukommen. Ich konnte dadurch auch viel abschalten. Deswegen ist es auch so, dass etwas aus meiner persönlichen Geschichte in das Malen reinrutscht. Das auszuschalten ist gar nicht so einfach. Möchten Sie mit Ihren Werken etwas Bestimmtes ausdrücken oder erreichen?

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Im Grunde genommen mache ich das für mich selber, um mich selber weiterzuentwickeln. Was war für Sie ganz persönlich während Ihrer bisherigen Jahre im Atelier ein wichtiges Ereignis? Es gibt viele Ereignisse, die mir wichtig gewesen sind: Als es noch ein Sommerfest gab, habe ich Portraits gemalt. Das fand ich gut, wenn ich Zuschauer hatte, das hat mich angespornt. Bei der Malaktion beim Kirchentag in Stuttgart war es eine neue Erfahrung, so viele Leute um mich herum zu haben. Das hat bei mir den Eindruck hinterlassen: Ich trau mich mehr, aus mir herauszukommen, ich bin nicht mehr so aufgeregt. Wir machen ja auch viel mit anderen Leuten oder Schülern. Es ist eine schöne Erfahrung, junge Menschen anzuleiten, Kenntnisse zu vermitteln, macht mir Spaß. Was wünschen Sie sich für die Zukunft bezogen auf Ihre Arbeit und auf das Atelier? Dass das Atelier bestehen bleibt, dass es sich finanzieren lässt. Auch dass der Raum bleibt oder dass wir einen größeren Raum bekommen, in dem wir mehr Bilder aufhängen können. Persönlich, dass ich mich weiterentwickeln kann. Ich lerne ja immer neue Dinge im Atelier, neue Techniken. Und ich lerne neue Leute kennen. 2.2.4

Die Mentorinnen

Frau John, Frau Klaffke, ohne Sie ist das Atelier Strichstärke nicht denkbar. Sie haben die Arbeit aufgebaut, Sie haben eine starke persönliche Beziehung zu den Nutzerinnen und Nutzern. Ihr hoher professioneller Anspruch korrespondiert mit der Entwicklung und der Anerkennung, die das Atelier erfährt. Bitte sagen Sie ein paar Sätze zu Ihrer jeweiligen Vita: John: Nach dem Abschluss meines Textildesignstudiums 1981 an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach arbeitete ich mehrere Jahre als Designerin und Coloristin in verschiedenen Textildruckereien. Diese Tätigkeit hat mich damals selten ausgefüllt, da sie wenig Raum für eigene Ideen und deren Umsetzung ließ. Wichtig waren die Trends der Saison und der Umsatz eines Colorits oder Designs in der laufenden Produktion. Ich fragte mich, in welchen Bereichen ich mein künstlerisches Talent im sozialen Berufsfeld sinnvoller einsetzen könnte, und nahm eine Assistentenstelle in der Kunst- und Ergotherapie der Landesklinik Rheydt an. Diese zweijährige Arbeit machte mir deutlich, wie heilsam schöpferisches Tun auf den Menschen wirken kann. Danach absolvierte ich die Ausbildung zur Heilerzie-

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hungspflegerin bei der Evangelischen Stiftung Hephata und arbeite seit 1997 im Ambulant Betreuten Wohnen. Da mir das kreative Tun mit den Klienten auch weiterhin wichtig erschien – der Zugang zu den Menschen öffnet sich auf andere Weise als nur in der Alltagsbegleitung – bot ich einigen interessierten Klienten in ihrer Freizeit Kunstkurse an. Berufsbegleitend absolvierte ich dann eine dreijährige Weiterbildung zur „Kunst-, Gestaltungs- und Soziotherapeutin“, da ich die Notwendigkeit sah, auch psychisch behinderte Menschen professioneller begleiten zu können. Klaffke: Als ich 1993 begann, in der Stiftung Hephata zu arbeiten, nahm ich zeitgleich an der Hochschule Niederrhein auch mein Studium zur Sozialpädagogin auf. Dies war auch der Zeitpunkt, an dem ich erstmalig einen intensiven Umgang mit sogenannten „geistig – und/oder psychisch behinderten“ Menschen hatte. Bereits während dieser Zeit begann ich, kreativ mit den Menschen zu arbeiten, da ich bemerkte, dass neben den therapeutisch positiven Effekten auch eine künstlerische Ausdrucksweise entstand. Ich förderte Klienten, wo ich besondere Fähigkeiten und Potenziale entdeckte, und leitete sie in der Technik der Aquarellmalerei an. Kleine Aquarelle und Seidenbilder entstanden. 1998 arbeitete ich dann mit einer Kollegin – Frau John – zusammen, die ebenfalls mit einigen Menschen künstlerisch/ therapeutisch tätig war. Wir fingen damals schon an, kleine Ausstellungen zu organisieren, und kulturelle Ausflüge und Museumsbesuche sollten den Teilnehmenden andere und neue Einblicke ermöglichen. Dabei war immer wieder ein großer Spagat zwischen pädagogischer, organisatorischer und anleitender Arbeit zu bewältigen. Sind Sie Anleiterinnen? Bitte beschreiben Sie Ihr Rollenverständnis bezogen auf Ihre Arbeit im Atelier. John: In meiner Arbeit sehe ich mich zunächst als Übermittlerin künstlerischer Arbeitsmethoden. Gerade am Anfang sollten die Teilnehmer das Handwerkszeug für künstlerisches Tun kennenlernen, erproben und eigene Vorlieben für Material und Methoden entwickeln. Jede und jeder soll seiner Vorliebe nachgehen. Aufgaben werden von mir gestellt als Angebot, als Hilfestellung, nicht als Rezept oder Vorschrift. Ich verstehe mich auch als Mentorin bei der Suche nach einer eigenen Bildsprache, beim Aufspüren und bei der Förderung künstlerischer Begabung. Wichtig ist mir das Zulassen einer eigenschöpferischen Tätigkeit aufgrund dieser Begabung ohne Bewertung. Als Anleiterin ist es mein Bestreben, das Sehen zu schulen und auch die Teilnehmer aufzufordern, Sichtweisen anderer zu sehen und zu verstehen, um sich auch im Miteinander von der Breite der Möglichkei-

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ten inspirieren zu lassen. Den Freiraum und die eigene Position finden lassen und den Menschen darin zu bestärken, eigene Wege zu gehen, ist wichtiger Bestandteil meiner Arbeit. Ein anderer wichtiger Aspekt meiner Rolle ergibt sich oft im Gruppenkontext: Psychische Probleme mancher Teilnehmer erzeugen Spannungen, die im akuten Fall einer lösungsorientierten Gesprächsführung bedürfen. Hier gilt es, die Einzelfälle konkret zu bearbeiten und später auch im Team mit den jeweiligen Bezugsmitarbeitern des Wohnbereichs nachhaltig weiter dranzubleiben. Klaffke: Mit der zunehmenden Bekanntheit des Ateliers und dem Verständnis, das Atelier als Teil der freien Kulturszene der Stadt zu sehen, bekommt stärker als bisher Öffentlichkeitsarbeit eine Bedeutung. So verstehen Frau John und ich uns – wo es notwendig ist – immer deutlicher auch als Vermittlerinnen und Kontaktpersonen zwischen den Künstlern des Ateliers und kulturell interessierten Bürgerinnen und Bürgern. Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit erreichen, was ist Ihre Zielsetzung? Klaffke: Ich glaube ja, dass es mehrere „Wirklichkeiten“ gibt und dass die Kunst eine davon ist. Kunst ist immer auch ein Medium, um aufmerksam zu machen, und dies setzt Toleranz und Offenheit voraus. Somit ist da, wo Kunst zu sehen ist, auch immer der Spiegel einer Gesellschaft zu sehen. Da wo Offenheit und Toleranz nicht vorhanden sind, wird es kaum eine provokante Kunst geben, noch eine Kunst, die vielseitig ist, und erst recht keine von Randgruppen. In der heutigen Zeit, in der alles schnelllebiger und hektischer geworden ist, besteht die Gefahr, den Blick auf das Wesentliche zu verlieren. Das Schöne an den Werken aus unserem Atelier ist, nach meiner Meinung, dass es den Künstlern häufig gelingt, den Blick auf das für sie Wesentliche zu reduzieren und damit auch dem Betrachter diesen Blick wieder zu öffnen. Augenblicke werden eingefangen! Das Wort „Wirklichkeit“ beinhaltet ja auch das Wort wirken. So „wirkt“ diese Kunst in die Gesellschaft hinein. Da, wo das passiert, nimmt man die Menschen hinter ihren Werken ernst. John: Bei all der Vielfalt an entstandenen Arbeitsfeldern im Atelier ist es mein oberstes Ziel geblieben, den Menschen Freude, Spaß und Entspannung durch kreatives Tun zu bereiten. Diese Aspekte tragen zu einem wichtigen Ziel meiner Arbeit bei, nämlich dem heilenden Effekt jedes künstlerischen Tuns. Schon längst ist die Teilnahme an den Angeboten des Ateliers für Menschen mit Behinderungen nicht mehr reine Freizeitbeschäftigung, sondern ein wichtiger Teil ihres Lebens. Ein Ziel der Atelierarbeit und der dabei entstehenden Öff-

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nung des sozialen und kulturellen Raums ist auch die Hebung des Bildungsniveaus der Teilnehmer. Ein weiteres wichtiges Ziel unserer Arbeit ist es, die den Künstlern des Ateliers eigene Bildsprache der Öffentlichkeit in würdigender und wertschätzender Art und Weise näher zu bringen, ohne dass diese Art der künstlerischen Sprache mit einem eigenen, neuen Ausdruck definiert und etikettiert werden müsste. Atelierarbeit seit mehr als 18 Jahren; was war für Sie in dieser Zeit ein eindrückliches, prägendes Erlebnis? John: Vier Herren des Ateliers zogen – ausgestattet mit Skizzenblock, Bleistift und Anspitzer – in den nahegelegenen Park, von mir mit der Aufgabe versehen, genau hinzusehen, wahrzunehmen und festzuhalten, was jeden einzelnen interessiert. Das könnte die achtlos hingeworfene Plastiktüte einer Schülerin ebenso sein wie die Spuren einer Ameisenstraße auf dem Sand oder der brüchige Fensterklappladen der an den Park grenzenden alten Villa. Zunächst unsicher und mit vagem Gefühl ließen sich die Herren Minute um Minute mehr ergreifen vom Sehen, Erkennen, Zeichnen. Keine fragenden Blicke mehr, nur noch freies Arbeiten im Hier und Jetzt, dabei die Eindrücke der Gegenwart im jeweils eigenen Stil festzuhalten. Nach einer knappen Stunde verließen die Herren den Park, jetzt erhobenen Hauptes, stolz, die Scheu vor dem weißen Papier überwunden zu haben. Klaffke: Es sind zwei einfache Sätze, die mich sehr beeindruckt haben und mir zeigen, welch hohe Bedeutung die Arbeit im Atelier für die Teilnehmenden hat: „Jetzt fühle ich mich endlich dazugehörig“, vertraute mir ein Mann an, der seit einigen Jahren im Atelier mitarbeitet und allein in seiner Wohnung lebt. „Jetzt kann ich endlich richtiger Künstler sein“, positionierte sich ein anderer.“ [Fotos: © Udo Leist; Abdruck der Kunstwerke mit freundlicher Genehmigung der Künstler_innen.]

Literatur Abschlussbericht zum Euregio-Projekt „kunst verbind(e)t“; Hephata 2015. Beuys, Joseph, Sprechen über Deutschland, unveränderte Neuauflage,Wangen/Allgäu 2002.

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Bodemann-Ritter, Clara (Hg.), Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler, Gespräche auf der documenta 5/1972 , 6. Auflage, Berlin 1997. Evangelische Stiftung Hephata (Hg.), Soviel du brauchst – künstlerischer Kommentar, Inklusiv – HephataMagazin 32 (April 2013). Mäckler, Andreas (Hg.), 1460 Antworten auf die Frage: Was ist Kunst?, Köln 2000. Mecherlein, Klaus, Outsider Art, online: http://www.euward.de/html/de/outsider_art.htm, Zugriff am 24.04.2016. Mechler-Schönach, Christine/Spreti, Flora von, „FreiRaum“ zur Praxis und Theorie der Kunsttherapie, Psychotherapeut 50/3 (2005), 163–178. Menzen, Karl-Heinz, Kunsttherapie in der Sozialen Arbeit: Indikationen und Arbeitsfelder, Basel 2013. Menzen, Karl-Heinz, Szene der Kunst- und Ausdruckstherapien in Europa – Entwicklung, Systematik und aktuelle Situation, in: Wulf Rössler/Birgit Matter (Hg.), Kunst- und Ausdruckstherapien – Ein Handbuch für die psychiatrische und psychosoziale Praxis. Konzepte, Methoden und Praxis der klinischen Psychiatrie, Stuttgart 2013, 25–34. Pfaff, Isabell, Wir sind nicht die fröhlichen Behinderten, FAZ, 06.04.2014, online: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/musikbandblind-lame-wir-sind-nicht-die-froehlichen-behinderten12865882.html, Zugriff am 24.04.2016. Prinzhorn, Hans, Bildnerei der Geisteskranken, 7. Auflage, Heidelberg 2011. Rech, Peter W., (+) Kunst (-) Therapie. Soziologie der Kunsttherapie, Berlin 2007. Wildermuth, Matthias, Der aktuelle Stellenwert von Kunsttherapie in einer Kinder- und Jugendpsychiatrie aus medizinischer, kinderund jugend-psychiatrischer Sicht, in: Harald Gruber/Barbara Wichelhau (Hg.), Kunsttherapie mit Kindern und Jugendlichen. Aktuelle Bezüge aus klinischen und sozialen Anwendungsfeldern, Berlin 2011, 31–57.

Margret Osterfeld

2.8 Selbstbestimmung, Inklusion und rechtliche Betreuung – Herausforderung oder gordischer Knoten?

Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN BRK), von der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2009 ratifiziert, stellt eine besondere Herausforderung für die Versorgungssysteme der Alten- und Behindertenpflege wie auch der Psychiatrie dar. Noch ist die Praxis in manchen Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege und der psychiatrischen Kliniken für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen weit von dem entfernt, was von der UN BRK an Normen vorgegeben wird: Selbstbestimmung und Inklusion. Es gilt, die Praxis psychiatrisch legitimierter Freiheitsentzüge und Zwangsmedikationen zu minimieren, worauf kürzlich die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen für Menschen mit Behinderungen, Catalina Devandas-Aguilar, und der Sonderberichterstatter für Gesundheit, Dainius Puras, nachdrücklich hinwiesen.1 Das Betreuungsrecht wurde bereits 1990 vom Deutschen Bundestag für den Schutz der Freiheitsrechte von Menschen mit seelischen Behinderungen geschaffen; es wird jedoch vielerorts missbraucht, um überkommenen therapeutischen und pflegerischen Handlungsroutinen den Anschein der Legitimität zu geben. Der häufigen Praxis der ersetzenden Entscheidungsfindung durch Betreuer setzt die UN BRK die Forderung nach „unterstützter Entscheidungsfindung“ entgegen. Schon früh hat sich die Diakonie mit einer Handreichung2 der Herausforderung der UN BRK im Spannungsfeld zur psychiatrischen Praxis angenommen. Dieser Beitrag3 beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie weit das Betreuungsrecht ein Instrument der assistierten Entscheidungsfindung ist, und wirft dabei auch einen Blick auf die

1

Vgl. OHCHR, Dignity must prevail. Vgl. Diakonie Deutschland, Freiheits- und Schutzrechte. 3 Danken möchte ich Wolf Crefeld für seine Unterstützung bei der Erstellung dieses Textes. Viele der hier niedergeschriebenen Gedanken und auch manche Formulierungen stammen von ihm. 2

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stationäre Heimversorgung seelisch oder psycho-sozial behinderter Menschen. 1

Die Rechte psychisch beeinträchtigter Menschen besonders schützen

Menschen mit schweren psychischen oder intellektuellen Beeinträchtigungen, seien diese angeboren, durch Unfall, Krankheit oder eine Demenz bedingt, besitzen die gleichen Rechte wie jeder andere Mensch. Sie haben das Recht auf Selbstbestimmung und freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf körperliche Bewegungsfreiheit und Privatsphäre. Benötigen sie zum Beispiel medizinische Behandlung, gilt auch für sie, dass ihnen die Ärzte deren Absichten angemessen erklären. Erst ihr Einverständnis in die mit ihnen besprochene Behandlung legitimiert diese. Dies alles ergibt sich ebenso aus den in unserer Verfassung (Grundgesetz) festgelegten Grundrechten wie aus der UN BRK. Doch Gesetze setzen sich nicht von selbst durch, und längst nicht alle in Feldern der Psychiatrie, der Pflege oder in der rechtlichen Betreuung Tätige haben bis heute begriffen, wie sehr sich ihre Haltung, Denkweise und Praxis ändern müssen, damit ihr Dienst am Mitmenschen und an der Gesellschaft auch menschenwürdig und behindertenrechtskonform gestaltet ist. Die Frage, wer über eine Krankenhausbehandlung, den Umzug in ein Heim oder gar die mechanische oder chemische Fixierung entscheidet, spielt dabei eine Schlüsselrolle. Zweifellos können schwere psychische Störungen und geistige Behinderungen die Fähigkeit zu einem sozial akzeptierten und umweltkompatiblen Verhalten erheblich beeinträchtigen, weil die betroffenen Menschen die Bedeutung einer Situation oder eines Sachverhalts und deren Folgen subjektiv anders bewerten oder aber nicht zu einem entsprechenden, als vernünftig anerkannten Handeln willens oder in der Lage sind. Ihr subjektiver Realitätsbezug ist anders als das, was von der Allgemeinheit als realitätsgerecht bezeichnet wird. Daraus können sich gelegentlich schwerwiegende Gefahren für ihr eigenes Wohl (Leben, Gesundheit usw.), aber auch für andere Menschen und das menschliche Zusammenleben (öffentliche Ordnung) ergeben. Falls solche Gefahren nicht mit milderen Mitteln als durch Eingriffe in die höchst persönlichen Rechte abzuwenden sind, bedürfen diese der Legitimation vermittels gesetzlicher Regelungen, über deren Anwendung im konkreten Fall dann ein Gericht zu entscheiden hat. Auf der Ebene der Bundesländer werden zur Abwendung solcher Gefahren die Psychisch-Kranken-Gesetze oder Unterbringungsgesetze im Rahmen des Ordnungs- und Polizeirechtes genutzt. Sie regeln nicht nur den Anspruch auf Hilfen, sondern auch die Voraussetzun-

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gen für freiheitseinschränkende Eingriffe. Regelungen zum Freiheitsentzug bei seelischer Behinderung in Zusammenhang mit strafbaren Handlungen enthält ferner das Strafgesetzbuch und die Maßregelvollzugsgesetze der Länder. Dagegen soll das Betreuungsrecht, das ebenfalls Regelungen zu freiheitseinschränkenden Maßnahmen enthält, ausschließlich dem Wohl betreuter Personen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen dienen. In der juristischen Literatur wird es als Fürsorge bezeichnet, dessen materieller Teil im BGB4 zu finden ist. Im Vordergrund steht hier die Unterstützung von Menschen, die aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung für sie existenziell bedeutsame Angelegenheiten vorübergehend oder langfristig nicht selbst besorgen können. Doch enthält das Betreuungsrecht auch Bestimmungen für Eingriffe in die persönlichen Freiheitsrechte zum Schutz der betreuten Person. Wenn immer wieder mal über menschenunwürdige Vorkommnisse oder Zustände in Einrichtungen der Kranken-, Alten- oder Behindertenarbeit zu berichten ist, handelt es sich zweifellos um entwürdigende oder erniedrigende oder gar um rechtswidrige Sachverhalte. Doch ihre Rechte einzuklagen, dazu sind die Betroffenen meist nicht in der Lage, weil es ihnen in ihrem Zustand ebenso an den notwendigen Fähigkeiten wie auch an sozialem Rückhalt fehlt, um ihren Beschwerden Geltung zu verschaffen. Sozialwissenschaftliche Untersuchungen haben den regelhaften Charakter aufgezeigt, mit dem psychisch beeinträchtigte Menschen in Einrichtungen besonderen Risiken rechtswidriger Eingriffe ausgesetzt sind, und damit die Notwendigkeit ihres besonderen gesellschaftlichen Schutzes begründet.5 Für einen solchen Schutz bedarf es verantwortungsbewusster, fachlich kompetenter Leitungen und Mitarbeiter_innen in den sozialen und medizinischen Einrichtungen und Diensten, denen Inklusion ein Ziel ist. Auch wirksam arbeitende Betroffenen- und Angehörigenorganisationen als Selbstvertretung, deren Sicht als Erfahrungsexpert_innen der Sicht von Expert_innen durch Profession gleichwertig ist, und Beschwerdestellen, die von Einrichtungen und deren Trägern unabhängig und leicht zugänglich sind, sollen die Rechte der beeinträchtigten Menschen schützen. Parlamentarische Beauftragte und gesetzlich geregelte Besuchskommissionen, die advokatorische Unterstützung der Betroffenen bei gerichtlichen Verfahren durch kompetente Verfahrenspfleger_innen oder eine vom betroffenen Menschen dazu bevollmächtigte Vertrauensperson dienen dem individuellen Rechtsschutz ebenso wie die rechtlichen Betreuer_innen. 4 5

§ 1896 ff. BGB. Vgl. Pelikan, Besonderer Rechts- und Persönlichkeitsschutz.

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Für den Fall krankheitsbedingter Handlungsunfähigkeit gab es schon im Altertum Regelungen, wonach eine andere Person das Recht erhielt, für den betroffenen Menschen stellvertretend dessen Rechte und Interessen wahrzunehmen. Ähnlich kann seit 1992 ein Gericht, wenn dies nach den Umständen im Einzelfall im Interesse einer behinderten oder kranken Person erforderlich ist, für festzulegende Aufgabenbereiche einen Betreuer bestellen. Dieser hat die von ihm betreute Person bei der Besorgung ihrer Angelegenheiten ihren eigenen Bedürfnissen gemäß zu unterstützen. Nur soweit die betreute Person trotz dieser Assistenz notwendige Entscheidungen nicht treffen kann (weil sie z.B. bewusstlos ist), darf der rechtliche Betreuer für diese stellvertretend handeln. Es kann dabei um die Regelung der Finanzen, den Umgang mit Behörden und Sozialleistungsträgern, um Wohnangelegenheiten oder um die Sicherstellung ausreichender gesundheitlicher Versorgung gehen. Betreuung soll ausschließlich der Unterstützung und Interessenwahrnehmung der betreuten Person dienen. Deshalb sollen Entscheidungen im Einverständnis mit der zu betreuenden Person getroffen werden. Ist sie zu einer realitätsgemäßen Kommunikation krankheitsbedingt nicht in der Lage, so hat ihr Betreuer von ihrem mutmaßlichen Willen ausgehend zu entscheiden und dabei frühere Äußerungen oder Verfügungen zu berücksichtigen. Rechtliche Betreuung meint also Unterstützung und nicht Bevormundung. Das muss betont werden, denn die seit 1992 geltende Betreuung wird auch heute noch häufig als modernisierte Form der alten Vormundschaft missverstanden, sodass betreute Menschen nicht selten einen stigmatisierenden und ausgrenzenden Umgang erfahren. So passiert es oft, dass Bankangestellte oder Ärzte eine Entscheidung des Betreuers fordern, obwohl die betreute Person zu der erwarteten Entscheidung offensichtlich selbst in der Lage ist. Auch Formulierungen wie „jemanden unter Betreuung stellen“ bringen eine dem alten Entmündigungsrecht verhaftete Einstellung zum Ausdruck, obwohl die Grundsätze des Betreuungsrechts6 eigentlich eine Beziehung zwischen betreutem Menschen und seinem Betreuer „auf Augenhöhe“ nahelegen. Die im 19. Jahrhundert eingeführte Entmündigung mit der nachfolgenden Vormundschaft für Volljährige bedeutete eine Entrechtung, Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung der Betroffenen. Da die Entmündigung öffentlich bekannt zu machen und ins Strafregister (!) einzutragen war, wurden entmündigte Menschen öffentlich an den Pranger gestellt. Man behandelte sie, als seien sie rechtlos. Ihr Vormund verfügte nach eigenem Ermessen über ihr Vermögen und ihren Aufenthaltsort und konnte die Aufnahme in eine Anstalt be6

§ 1901 BGB.

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stimmen. „Unter Kuratel gestellt“ zu werden, galt nicht als Akt der Hilfe, sondern als gesellschaftliche Schande. In einem Drama Gerhard Hauptmanns wird sie als der „bürgerliche Tod“ der betroffenen Menschen bezeichnet. 2

Die Selbstbestimmung psychisch beeinträchtigter Menschen stärken

Die rechtliche Betreuung soll dagegen ausschließlich dem Schutz und der Hilfe für solche volljährigen Personen dienen, die aufgrund einer schweren, in der Regel psychischen bzw. geistigen Behinderung ihren Interessen und Rechten nicht selbst Geltung verschaffen können. Betreuer_innen nehmen damit einen sozialstaatlichen Auftrag wahr.7 Sie sind in den Worten des Bundesverfassungsgerichts „Vertrauensperson des fürsorgenden Staates“ in den bei ihrer gerichtlichen Bestellung bezeichneten Aufgabengebieten. In diesem Aufgabenbereich sollen sie dem Willen und den Interessen der betreuten Person Geltung verschaffen und diese so unterstützen, dass sie soweit wie möglich für ihre Angelegenheiten selbstbestimmt handlungsfähig ist. Darüber hinaus haben Betreuer_innen die Aufgabe, ihre Klient_innen davor zu schützen, dass sie wegen eines gestörten Realitätsbezugs durch ihr Verhalten sich selbst schädigen.8 Tätigkeiten der Therapie oder der Pflege gehören nicht zu den Aufgaben einer Betreuerin, doch kann es im Bedarfsfall zu ihren Pflichten gehören, im Interesse des von ihr betreuten Menschen für notwendige soziale, medizinische und pflegerische Hilfen oder die Dienstleistungen eines Rechtsanwalts oder Steuerberaters zu sorgen. Zu ihrer Aufgabe kann es auch gehören, die Rechte ihres Klienten gegenüber Sozialleistungsträgern, Behörden und anderen Dienstleistenden zur Geltung zu bringen. Hier ist das Betreuungswesen durchaus inklusionsfördernd, es sichert die rechtliche Handlungsfähigkeit geistig-seelisch beeinträchtigter Menschen. 3

Der Weg zur rechtlichen Betreuung

Mehr als 1,3 Million volljährige Menschen in Deutschland sind von einem gerichtlichen Betreuungsverfahren betroffen. Jährlich werden mehr als 200.000 Betreuungen von den Betreuungsgerichten für die

7 8

Vgl. Schulte, Betreuung. Vgl. Lipp, Betreuung.

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betroffene Person erstmalig angeordnet.9 Dabei treffen wir auf erhebliche regionale Schwankungen. Etwa 60 Prozent der gerichtlich bestellten Betreuer_innen arbeiten ehrenamtlich – in der Regel sind sie Angehörige des betreuten Menschen. Die etwa 12.000 berufsmäßig tätigen Betreuer_innen sind oft Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, daneben werden Rechtsanwälte, Verwaltungsfachkräfte und Menschen mit anderen beruflichen Qualifikationen als Betreuer bestellt. Die meisten der berufsmäßig tätigen Betreuer_innen arbeiten als Selbständige, andere als Angestellte eines Betreuungsvereins oder auch einer Betreuungsbehörde. Obwohl Betreuungen oft hohe Anforderungen an das Fachwissen und die Erfahrung der Betreuer_innen stellen, existieren keinerlei Vorschriften für eine fachliche Mindestqualifikation berufsmäßig tätiger Betreuer_innen. Schon die Bestellung eines Betreuers ist ein Eingriff in die Rechte der betroffenen Person, da Betreuer in den vom Gericht bestimmten Aufgabenbereichen als Vertreter ihrer Klienten rechtlich verbindliche Erklärungen für die betreuten Personen abgeben können. So dürfen sie in deren Namen für diese dann verbindliche Verträge abschließen oder in Maßnahmen der Pflege und Therapie einwilligen. Manche Heimunterbringung kommt so gegen den Willen der betreuten Person zustande, obwohl es in einer behindertengerechten, inklusionsorientierten Gesellschaft mildere Mittel der ambulanten Hilfe und Unterstützung gibt. Dies wirft ein erstes Schlaglicht darauf, dass das Betreuungsrecht in der Praxis auch die Exklusion fördern kann. Beantragen kann eine Betreuung zwar nur die betroffene Person selbst, aber andere Personen oder Behörden können beim zuständigen Gericht ein Betreuungsverfahren anregen. In diesen Fällen muss das Gericht von Amts wegen den Informationen nachgehen und erforderlichenfalls ein Betreuungsverfahren einleiten. Nur wenn sie aus wichtigen Gründen tatsächlich erforderlich ist und andere mildere Hilfen im konkreten Fall für eine Problemlösung nicht geeignet sind, darf eine Betreuung eingerichtet werden. Die hohen Betreuungszahlen der Vergangenheit mögen teilweise auch auf mangelnde Prüfung der Gewichtigkeit und der Verfügbarkeit milderer Mittel zurückzuführen sein. Hier sind die eingangs erwähnten Handlungs- und Haltungsänderungen nötig, wenn das Betreuungsrecht ein zeitgemäßes Erwachsenenschutzrecht bleiben soll. Die Voraussetzungen für die Bestellung eines Betreuers sind in § 1896 BGB geregelt. Danach muss eine psychische Störung oder eine Behinderung festzustellen sein, als deren Folge die betroffene Person bestimmte (evtl. auch alle) ihrer Angelegenheiten nicht besorgen kann. Für Menschen mit einer Körperoder Sinnesbehinderung kann eine Betreuung in Betracht kommen, 9

Vgl. Deinert, Betreuungsrecht-Lexikon.

Inklusion und rechtliche Betreuung

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wenn sie wegen der Besonderheiten ihrer behinderungsbedingten Lage nicht selbst im notwendigen Umfang kontrollieren können. Der Betreuer kann vom Gericht mit sehr speziellen, aber auch mit umfangreichen Aufgabenkreisen betraut werden, so zum Beispiel mit der Regelung von Wohnungsproblemen, mit der Verwaltung einzelner oder auch umfangreicher Vermögensangelegenheiten oder aber auch nur mit der Kontrolle eines früher von der betreuten Person bestellten Bevollmächtigten für die Besorgung bestimmter Angelegenheiten. Häufig werden Betreuer für die Sorge um die Gesundheit oder für die Bestimmung des Aufenthaltsortes bestellt. Interviews mit Betroffenen haben gezeigt, dass, auch wenn die Tätigkeit eines Betreuers insgesamt als hilfreich erlebt wird, das belastende Gefühl bleibt, dass ein anderer Mensch in persönliche Bereiche eingreifen kann und damit die Chancen eingeschränkt sind, über sein eigenes Leben selbst zu bestimmen. Das Betreuungsrecht schreibt deshalb Grundsätze für die Betreuungsführung vor, um der betreuten Person Schutz vor vermeidbaren Eingriffen in ihre Autonomie zu bieten.10 4

Das Verhältnis zwischen einem Betreuten und der betreuenden Person

Betreuer_innen haben die Aufgabe, die persönliche Beziehung zwischen der betreuten Person und ihnen so zu gestalten, dass sie über angemessene Kenntnisse der Wünsche, des Willens und der Bedürfnisse ihrer Klient_innen und deren Vorstellungen vom eigenen Leben verfügen, denn danach und nicht nach eigenen Wertvorstellungen haben sie ihre Betreuungsarbeit auszurichten. Der Grundsatz der persönlichen Betreuung schließt die Verpflichtung ein, dass Betreuer_innen anstehende Entscheidungen mit der betreuten Person soweit wie möglich besprechen. Nur so lässt sich der Grundstein für eine unterstützte Entscheidungsfindung des Menschen mit Behinderung legen. Falls dies nicht möglich ist – z.B. weil der Klient bewusstlos ist – sollen sie seinen mutmaßlichen Willen beispielsweise aus früheren Gesprächen mit ihm oder aus Gesprächen mit Angehörigen erschließen. „Persönliche Betreuung“ im Sinne des Betreuungsrechts bedeutet allerdings nicht, dass der Betreuer hauswirtschaftliche, pflegerische oder therapeutische Dienste – z. B. eine Art „Betreutes Wohnen“ – zu leisten hätte. 10

§ 1901 BGB.

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Rechtliche Betreuer_innen müssen sich darum bemühen, dass die betreute Person über ihre Angelegenheiten soweit wie möglich selbst entscheiden kann. Dazu ist oft nicht mehr als eine Beratung erforderlich. Das Betreuungsrecht schafft so den in Artikel 12 der UN BRK formulierten „Zugang zu der Unterstützung, [...] die sie bei der Ausübung ihrer Rechts- und Handlungsfähigkeit gegebenenfalls benötigen.“ Wo immer diese Form der unterstützten Entscheidungsfindung dank entsprechender Bemühungen der Betreuerin oder des Betreuers um eine Verständigung möglich ist, dürfen Betreuer_innen nicht anstelle ihrer Klient_innen entscheiden. Doch leider sieht die betreuungsrechtliche Praxis vielerorts anders aus. In letzter Konsequenz bedeutet dies, dass rechtliche Betreuer_innen sich entbehrlich machen müssen, wo immer dies im Interesse der betreuten Person möglich ist. Dazu gehört auch, eine Beendigung der Betreuung bei Gericht anzuregen, wenn diese nicht mehr erforderlich ist. Wenn die Meinungen auseinandergehen – z. B. ob das Ersparte für eine Ferienreise oder für neue Möbel ausgegeben wird –, soll der Betreuer die Wünsche der betreuten Person respektieren, solange für diese daraus kein wesentlicher Schaden zu erwarten ist. Hier wird die professionelle Haltung des Betreuers wichtig. Leider gibt es im Betreuungswesen keinerlei Kontrolle, ob Betreuer_innen darauf achten, dass sie nicht aufgrund einer unreflektierten Übertragung eigener Maßstäbe auf das Leben der betreuten Person ohne Notwendigkeit in die Autonomie der betreuten Person eingreifen. Sie haben die nicht immer einfache Aufgabe, die Bedürfnisse eines anderen Menschen und dessen Erwartungen an sein Leben zu ermitteln. Von Betreuer_innen wird also Empathie gefordert, auch gerade dann, wenn der Klient seine Bedürfnisse kaum oder vielleicht gar nicht explizit auszudrücken vermag. Rechtliche Betreuung ist in methodischer Hinsicht eine Form sozialer Einzelhilfe, deren Grundsätze wie Akzeptanz, Empathie und authentisches Verhalten auch hier gelten. 5

Entscheidungen gegen den Willen des betreuten Menschen

Betreuer_innen können vom Gericht die Aufgabe erhalten, sich um die gesundheitlichen Angelegenheiten des Klienten zu sorgen. Dazu kann die Unterstützung des Klienten bei der Feststellung seines Hilfebedarfs gehören, aber auch Aufgaben des Managements der Hilfen, die von ärztlichen, pflegerischen sowie anderen therapeutischen und sozialen Diensten zu leisten sind. Betreuer_innen haben dann deren Leistungen im Interesse ihres Klienten zu kontrollieren und erforderlichenfalls für deren Koordination zu sorgen.

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Eine weitere Pflicht ergibt sich daraus, dass medizinische Behandlungen rechtlich nur unter der Voraussetzung zulässig sind, dass der Patient zuvor über deren Notwendigkeit, die möglichen Folgen und verfügbare Alternativen aufgeklärt worden ist und er aufgrund dieser Informationen eingewilligt hat. Dabei ist er in einer Weise aufzuklären, die seinen intellektuellen Fähigkeiten angemessen ist. Kann ein seelisch-geistig behinderter Mensch die Bedeutung der von ihm zu entscheidenden Behandlungsmaßnahmen und die Folgen seiner Einwilligung oder deren Verweigerung nicht erkennen und danach handeln, muss auch die rechtliche Betreuungsperson mit der Aufgabe der Gesundheitssorge ärztlich aufgeklärt werden. Sie hat dazu beizutragen, dass ihr Klient über die ärztlich vorgesehene Behandlung angemessen beraten wird. Führt solch eine eingehende Unterstützung bei seiner Entscheidungsfindung nicht zu dem ärztlich gewünschten Ergebnis der Einwilligung in die medizinische Behandlung, so hat zunächst die Betreuerin nach ihrer entsprechenden Aufklärung durch die Ärzte stellvertretend über die Behandlung zu entscheiden. Über das Ausmaß der aktuellen krankheits- oder behinderungsbedingten Einwilligungsunfähigkeit sollten Ärzte und Betreuungspersonen Einvernehmen erzielen, die Ärztin hat sie sorgfältig zu dokumentieren und auch über weniger eingreifende Maßnahmen zu informieren. Einwilligungsunfähigkeit muss sorgfältig von Behandlungsunwilligkeit unterschieden werden, denn auch ein Mensch mit Behinderung hat wie jeder andere das Recht, eine medizinisch indizierte Behandlung abzulehnen. Deutlich wird, wie hoch die ethischen und praktischen Anforderungen an einen Betreuer werden können, wenn er sich als Vertreter des Wunsches und des Willens seiner Klienten sieht. Ist der rechtlich betreute Mensch aufgrund der Schwere seiner psychischen Beeinträchtigung nicht einwilligungsfähig und bleibt bei seiner Ablehnung, so spricht man von der Behandlung gegen den Willen. Die rechtliche Betreuungsperson hat dazu die Genehmigung eines Gerichtes einzuholen; der § 1906 Abs. 3 BGB regelt ausführlich die Voraussetzungen für eine solche. Im Jahr 2013 wurde dieser Absatz unter Bezug auf die UN BRK ausdrücklich schärfer gefasst. Diese Vorschriften gelten auch für Menschen, die wegen einer psychischen Behinderung im Heim untergebracht sind. Doch die gesetzlichen Schutzmechanismen des Betreuungsrechts versagen weitgehend in Alten- und Pflegeheimen. Schon seit Jahren ist bekannt, dass Bewohner_innen dort oft mit Psychopharmaka ruhiggestellt werden. Aktuell weisen der Betreuungsrichter Kirsch und der Gerontopsychiater Hirsch11 darauf hin, dass die verbreitete Praxis, alte Menschen durch Medikamente in ihrem Bewegungsdrang ein11

Vgl. Kirsch/Hirsch, Freiheitsentziehung durch Medikamente.

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zuschränken, um den Pflegeaufwand zu minimieren, durch das Betreuungsrecht nicht legitimiert ist. Auch dies ist eine gerichtlich genehmigungspflichtige Freiheitsbeschränkung, eine „chemische Fixierung“. Oft werden jedoch die Betreuer_innen und Bevollmächtigten nicht ausreichend über den Anlass informiert, die Entscheidung wird einfach zwischen Pflegeteam und behandelndem Arzt getroffen. Die gerichtliche Kontrolle solcher Zwangsmedikation wird so vom Heim unterlaufen. Anders liegt der Fall, wenn ein seelisch behinderter Menschen aufgrund seines psychischen Zustands die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme nicht erkennen kann und deshalb die Behandlung ablehnt, obwohl ihm dadurch ein erheblicher gesundheitlicher Schaden droht. Zu dessen Abwendung ist dann zunächst nach § 1906 BGB die Krankenhauseinweisung durch den Betreuer und ggf. in einem zweiten Schritt die Zwangsmedikation erforderlich. Voraussetzung ist, dass die Abwendung des erheblichen gesundheitlichen Schadens durch keine andere, mildere dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden kann und der zu erwartende Nutzen deutlich die von der Maßnahme zu erwartenden Beeinträchtigungen überwiegt. In solchen Fällen hat die Betreuerin darüber zu entscheiden, ob die Behandlung gegen den Willen ihres Klienten erfolgen soll. Stimmt sie zu, so bedarf ihre Einwilligung noch der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Ist der Betreuer verhindert, kann das Gericht selbst die Einwilligung zur medizinischen Behandlung geben. Geht es um Angelegenheiten wirtschaftlicher Natur, so können sich Konflikte daraus ergeben, dass die betreute Person und ihr Betreuer gegensätzliche Erklärungen in einer Angelegenheit abgeben. Bei einem gedeihlichen Verhältnis zwischen beiden führt dies in der Praxis nur selten zu ernsthaften Problemen. Wo aber aus Konflikten dieser Art erheblicher Schaden für den Betreuten zu erwarten ist, kann das Betreuungsgericht insbesondere bei Vermögensangelegenheiten einen Einwilligungsvorbehalt beschließen. Danach kann die betreute Person in diesem Bereich nur noch wie ein beschränkt geschäftsfähiger Jugendlicher handeln: Folgenschwere Verträge, die sie abschließt, werden dann erst nach Zustimmung des Betreuers gültig. 6

Justizförmigkeit oder Sozialpolitik für das Betreuungswesen

Die Verantwortung für die Eignung der Betreuer_innen und deren sorgfältige Aufgabenwahrnehmung trägt hauptsächlich das Gericht. Es führt die Rechtsaufsicht über die Tätigkeit der Betreuer_innen, wozu es sich von jedem Berufsbetreuer regelmäßig einen Bericht

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vorlegen lässt. Der Umgang des Betreuers mit dem Vermögen des Klienten kann so überprüft werden. Doch angesichts der großen Verantwortung der Betreuer_innen für die konkrete Lebenslage ihrer Klient_innen reichen ausschließlich rechtsaufsichtliche Verfahrensweisen nicht für die Sicherstellung der Qualität der Personensorge und des angemessenen Umgangs mit dem Klienten. Der Justiz fehlen wirksame, humanwissenschaftlich fundierte Kenntnisse und Methoden, wie sie eher der Sozialen Arbeit eigen sind, um auch die Qualität der von den Betreuer_innen zu leistenden Personensorge zu beurteilen. Auch kommt es vor, dass Richter zu wenig Kenntnis über mildere Mittel zur medizinisch vorgeschlagenen Behandlung haben und dem Rat des Arztes zur Zwangsmedikation rasch folgen. Zu einer Beschwerde, wenn hier ein Betreuer versagt, sind aber viele der Betreuten nicht in der Lage, und bisher gibt es kaum niedrigschwellige außergerichtliche Beratungs- und Beschwerdestellen. Dieser ausgeprägt justizförmige Charakter der Betreuung begünstigt die häufigen und vom Behindertenrechtsauschuss der Vereinten Nationen wiederholt kritisierten stellvertretenden betreuungsrechtlichen Entscheidungen. Unbestritten kann, wie auch in der Kinder- und Jugendhilfe manche Eingriffe der Entscheidung durch ein Familiengericht bedürfen, auch über die Erforderlichkeit einer Betreuung nur ein Gericht entscheiden, denn sie stellt einen Eingriff in höchstpersönliche Rechte dar. Doch Betreuung ist ein komplexes Hilfesystem Sozialer Arbeit für kranke oder behinderte Menschen, das zu seiner Wirksamkeit ebenso infrastruktureller Regelungen bedarf, wie wir sie für die Kinder- und Jugendhilfe im Sozialgesetzbuch finden. Die ausgeprägte Justizförmigkeit war von den „Müttern“ und „Vätern“ des Betreuungsgesetzes nicht beabsichtigt. Vorgesehen waren im Gesetzgebungsverfahren vielmehr Regelungen für die Infrastruktur zur Verwirklichung der Ziele des Betreuungsrechts im Sozialgesetzbuch, z.B. im Rahmen des Behindertenrechts. So bleibt auch heute noch in der Diskussion, die Betreuung im Sozialrecht zu verankern. Zumindest sollte es, wie Lesting fordert, ein Vollzugsrecht für die betreuungsrechtliche Unterbringung geben.12 Andernfalls wird die Zahl psychiatrisch legitimierter Freiheitsentzüge und geschlossener Heimplätze nur weiter wachsen und die Inklusion psycho-sozial behinderter Menschen ein nie erreichbares Ideal bleiben. Menschen mit Behinderungen werden in einer Leistungsgesellschaft leicht benachteiligt und diskriminiert und verfügen über wenig Einfluss auf das gesellschaftliche Geschehen. Um den Zielen des Betreuungsrechts Geltung zu verschaffen ist eine aktive Sozialpolitik erforderlich, denn nach wie vor erleben viele Betroffene Betreuung als 12

Vgl. Lesting, Vollzug ohne Vollzugsrecht.

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Instrument zur Legitimation von Zwangsmaßnahmen, deren Notwendigkeit längst nicht immer überzeugend dargelegt wird. Gesetzliche Normen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen sind notwendig; doch in der politischen Verantwortung des Staates liegt auch die praktische Umsetzung jedes Gesetzes. Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung und Honorarprofessor des Rechts, hat wiederholt engagiert Kritik daran geübt, wie die Politik mit dem Betreuungsrecht umgeht: „Ich halte das Betreuungsgesetz immer noch, 23 Jahre nach seinem Inkrafttreten, für eine der größten legislativen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte. ,Betreuen statt entmündigen‘ – das war und ist ein gutes Motto für Hunderttausende, für Millionen von Menschen. Das neue Recht vom 1. Januar 1992 wollte die rechtliche Geringschätzung der Menschen beenden, es wollte und will persönliche Betreuung an die Stelle anonymer Verwaltung und Verwahrung setzen. Das Betreuungsrecht hat das alte Vormundschaftsrecht abgelöst, die Entmündigung abgeschafft und es dem Richter aufgegeben, für die spezifische Erkrankung eine individuelle Betreuungslösung zu finden. Es sollte ein Leuchtturm-Gesetz sein – und der Leuchtturm sollte den Weg nicht zum Vorfriedhof, sondern zu einem würdigen Leben im Alter weisen. Das Betreuungsgesetz von 1992 war das richtige Signal zur richtigen Zeit, aber die Zeit hat es nicht begriffen. Das Betreuungsgesetz war ein Gesetz, das rechtzeitig die Probleme erkannte, die auf die Gesellschaft zukommen. Aber: Es wurde und wird kaputt gespart. Ein gutes Gesetz leidet unter politischer Geringschätzung.“13

Derzeit wird die Sorge um ein leistungsfähiges Betreuungswesen, das seinen Aufgaben gerecht wird, von Ort zu Ort und von Bundesland zu Bundesland mit sehr unterschiedlicher Sorgfalt wahrgenommen. Mancher vom Justizministerium eines Bundeslandes vorgelegte Aktionsplan zur Qualitätssicherung der rechtlichen Betreuung erweckt den Eindruck, dass die Landespolitik der Verwirklichung des Geistes des Betreuungsrechts und der Inklusion wenig Bedeutung beimisst und eher Einsparpotenziale erwägt. Gar nicht erst thematisiert wird die Frage, wie oft das Instrument der rechtlichen Betreuung lediglich dazu genutzt wird, ersetzende Entscheidungen eines Betreuers zu legitimieren, obwohl im Sinne Artikel 12 UN BRK eine assistierte Entscheidungsfindung unter den konkreten Umständen des Einzelfalls sehr wohl möglich ist. Tatsächlich ist die Umsetzung des Betreuungsrechts (die Sorge, dass seine Ziele in der sozialen Realität Wirklichkeit werden) mit den Zuständigkeiten der Justizressorts eines Bundeslandes nur sehr begrenzt möglich. Die Verwirklichung seiner Ziele ist vielmehr in hohem Ma13

Prantl, Menschenwürde im deutschen Sozialstaat: Geteiltes Recht?

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ße eine sozial- und gesundheitspolitische Aufgabe, die hauptsächlich den Bundesländern und Kommunen obliegt. Der an der Entstehung des Betreuungsgesetzes von 1990 maßgeblich beteiligte Münchener Sozialrechtler Bernd Schulte kritisierte auf der Jahrestagung des Bundesverbandes der Berufsbetreuer 2014, dass die für das Soziale zuständigen staatlichen Ressorts sich den entsprechenden Aufgaben zu wenig gestellt haben. Rechtliche und soziale Betreuung seien nicht nur zusammen zu denken, sondern auch konzeptionell zusammenzuführen und gemeinsam umzusetzen. Die wichtigsten Akteure am Ort sind neben dem Betreuungsgericht die in der kommunalen Gesundheits- und Sozialverwaltung angesiedelte örtliche Betreuungsbehörde, die örtlichen Betreuungsvereine und die selbständig tätigen Berufsbetreuer_innen. Um das örtliche Betreuungswesen wirksam zu gestalten, sollten sie in Form einer örtlichen Arbeitsgemeinschaft zusammenarbeiten. Die Aufgaben der beim Sozialamt, Jugendamt oder Gesundheitsamt organisatorisch angebundenen Betreuungsbehörden sind im Betreuungsbehördengesetz (BtBG) geregelt. Sie sollen Betreuer_innen beraten, unterstützen und für deren Fortbildung sorgen sowie mit betreuungsrelevanten örtlichen Organisationen zusammenarbeiten. Ferner sollen sie darüber informieren, dass man vorsorgend für den Fall, eines Tages selbst der Hilfe eines Betreuers zu bedürfen, einer Vertrauensperson entsprechende Vollmachten erteilen kann, die damit anstelle eines Betreuers wirken wird (Vorsorgevollmacht). Ferner haben die Betreuungsbehörden mit der Kompetenz einer Fachbehörde das Gericht bei der Durchführung seiner Aufgaben zu unterstützen. Dazu gehört insbesondere, dass sie für die gerichtliche Entscheidung relevante Sachverhalte wie z.B. familiäre und finanzielle Situation der Betroffenen ermitteln und dem Gericht für eine Betreuertätigkeit geeignete Personen vorschlagen. Betreuungsvereine, die in der Regel einem Spitzenverband der Wohlfahrtspflege angehören, sollen sich insbesondere für die Gewinnung und Unterstützung ehrenamtlicher Betreuer_innen engagieren. Ihre Mitarbeiter_innen sind auch selbst als Betreuer_innen tätig. Berufsmäßig tätige Betreuer_innen arbeiten meist selbständig, wobei sie sich öfter zu einem gemeinsamen Betreuungsbüro zusammenschließen, um sich in einer Art Teamarbeit gegenseitig zu unterstützen. Soweit ein Klient als mittellos angesehen wird, erhalten sie das Entgelt für ihre Arbeit nach gesetzlichen Regelungen vom Gericht. Leider gibt es bis heute keinerlei verbindliche Qualitätsstandards für die Arbeit von Berufsbetreuer_innen. Es wird nicht statistisch erfasst, wie häufig der einzelne Betreuer auf sein Stellvertreterrecht zurückgreift und Zwangsmaßnahmen gegen den behinderten Menschen veranlasst.

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Die Anwendungspraxis des Betreuungsrechts als diakonische Aufgabe

Menschen, die auf diakonische Hilfen angewiesen sind, leben oft mit einer psychiatrischen Diagnose und nicht wenige auch mit einer gerichtlich bestellten Betreuung. Nicht nur schizophren genannte Menschen, auch solche mit einer Suchterkrankung, einer Demenz oder einer schweren Persönlichkeitsstörung sind Klient_innen der Angebote der Diakonie. In deren Hilfesystem sind diese Menschen mit seelischen Behinderungen den Bereichen der „Hilfen für Personen in besonderen sozialen Situationen“, der „Behindertenhilfe“ sowie in der „Altenhilfe“ und in der „Krankenhilfe“ zugeordnet. Als einer der größten Arbeitgeber der Freien Wohlfahrtspflege bietet die Diakonie mit mehr als 400.000 hauptamtlich Beschäftigten und rund 700.000 ehrenamtlich Tätigen nach eigenem Bekunden 1.051.123 Betreuungsplätze und Betten.14 Der Begriff „Betreuungsplätze“ bezieht sich hier auf die diakonische Fürsorge, nicht auf die in diesem Text beschriebene rechtliche Betreuung. Hinter diesen Zahlen verstecken sich sowohl psychiatrische Kliniken und Krankenhausabteilungen als auch Heimeinrichtungen, Tagesstätten und Behindertenwerkstätten. Nicht zu vergessen sind die Betreuungsvereine, viele von ihnen sind in diakonischer Trägerschaft. Die schon eingangs erwähnte Handreichung „Freiheits- und Schutzrechte der UN-Behindertenrechtskonvention und Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie“ befasst sich ausführlich mit den Problemen der betreuungsrechtlichen Praxis.15 In allen diesen diakonischen Arbeitsfeldern begegnen wir Menschen mit einer rechtlichen Betreuung als besonderer Form der Hilfe zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Wenn all die diakonischen Mitarbeiter_innen dem Paradigmenwechsel der Inklusion aller Menschen mit Behinderungen entsprechend den Schutz ihrer Rechte und insbesondere ihre Unterstützung bei Wahrnehmung ihres Selbstbestimmungsrechts in den Vordergrund stellen und die rechtlichen Betreuer_innen in die Pflege- und Behandlungsplanung als Sachwalter der Klient_innen einbeziehen, ist ein großer Schritt zu einer inklusiven Gesellschaft getan. Gerade bei Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen scheint es aber erhebliche Hindernisse für diesen Paradigmenwechsel zu geben. Vielerorts besteht auch bei Professionellen immer noch die Tendenz, die betroffenen Menschen bevormundend und besserwissend im Sinne einer patriarchalisch agierenden Fürsorge zu behandeln. Rechtli14 15

Vgl. Diakonie Deutschland, Zahlen und Fakten. Vgl. Diakonie Deutschland, Freiheits- und Schutzrecht, 14ff.

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che Betreuung wird dann als eine modernisierte Form der Vormundschaft gehandhabt. So drängen manche Heimeinrichtungen auf die Bestellung einer rechtlichen Betreuung, weil dann der behinderte Mensch mit seiner Wohn- und Lebenssituation leichter zu verwalten ist. Und nicht wenige Ärzte verhandeln nicht mit einem psychisch beeinträchtigten Menschen über dessen Therapie, obwohl dieser dazu in der Lage wäre, sondern fordern von dessen Betreuer, dass dieser vertretungsweise und den Vorstellungen der Ärzte entsprechend entscheide.16 Rechtlich betreute Menschen sind in manchen Kliniken oder Heimen auf Gedeih und Verderb dem Willen der Mitarbeitenden und ihres Betreuers unterworfen – ihr Leben wird von der Institution gestaltet und ihr Wille oft nicht mehr gehört. Auch wenn die unzureichende Finanzierung der Betreuungsvereine, oft in diakonischer Trägerschaft, ihre wichtige Berater- und Vermittlerfunktion behindert und auch die fachlich kompetente Unterstützung ehrenamtlicher Betreuer_innen deshalb vielerorts desolat oder überhaupt nicht existent ist, gibt es inzwischen durchaus sehr ermutigende Beispiele, dass und wie Engagement für Inklusion zu einer Änderung der Praxis führen kann. Dass zivil- und menschenrechtliches Engagement erfolgreich Inklusion unterstützen kann, zeigt eindrucksvoll der „Werdenfelser Weg“17 zur Vermeidung freiheitseinschränkender Pflegemaßnahmen. Schon 2007 nahmen sich der Leiter der Betreuungsstelle im Werdenfelser Land, Josef Wassermann, und der Betreuungsrichter des zuständigen Amtsgerichtes, Sebastian Kirsch, vor, „durch gemeinsame Verantwortungsübernahme und konsequente intensive Einzelfallbetrachtung“ möglichst viele „freiheitsentziehende Automatismen in der Altenpflege“ zu durchbrechen. Ihr Schritt richtete sich gegen die Praxis, in vielen Pflegeeinrichtungen, verwirrte Menschen zu fesseln, um Sturzunfälle ihrer Patient_innen zu verhindern, und hat das Ziel, durch Professionalität und Kommunikationsoptimierung die Entscheidungsprozesse zu verbessern.18 Zu einer solchen „unterbringungsähnlichen Maßnahme“ haben die Heime eine betreuungsgerichtliche Genehmigung einzuholen. Nach dem Werdenfelser Weg bestellte das Gericht dazu einen pflegekompetenten Verfahrenspfleger, der in diesem Verfahren als Interessenvertreter des Pflegebedürftigen Pflegelösungen vorschlägt, die einen Verzicht auf eine Freiheitsbeschränkung ermöglichen. Inzwischen nutzen immer mehr Gerichte, Regionen und Heimeinrichtungen diesen Werdenfelser Weg mit dem eindrucksvollen Ergebnis, dass in den letzten Jahren die 16

Vgl. hierzu Osterfeld, Ein Jahrhundertwerk wird volljährig, 2012. Vgl. Kirsch/Wassermann, Werdenfelser – Das Original. 18 Kirsch, zitiert nach: Kirsch/Wassermann, Werdenfelser – Das Original. 17

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Häufigkeit der Genehmigung von Fixierungen deutlich zurückgeht: von ca. 100.000 Fällen im Jahr 2010 auf etwa 55.000 Fälle im Jahr 2014.19 Es ist ausdrücklich zu begrüßen, dass sich der Werdenfelser Weg jetzt auch der Reduktion medikamentöser Fixierung zuwendet20 und dass inzwischen etwa 190 Städte und Landkreise ihre Arbeitsweise an dieses Modell angleichen. Auch das Regenbogenhaus, eine Wohnstätte für Menschen mit geistigen und mehrfachen Behinderungen, geht bereits seit 2009 neue Wege. In einem Modellprojekt konnte dort die für diese Menschen häufige Verordnung von Psychopharmaka bei etlichen Bewohner_innen deutlich reduziert oder ganz abgesetzt werden.21 Ein ähnliches Ziel verfolgte die Entwicklung eigener Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika22 bei den psychiatrischen Diensten von Bethesda St. Martin. Während vielerorts die Einnahme von Psychopharmaka noch erzwungen wird, praktiziert diese Einrichtung den Grundsatz: „Die Einnahme von Neuroleptika ist keine Bedingung für die Inanspruchnahme unserer Dienste.“  Klare Leitlinien im Rahmen des Qualitätsmanagements der Einrichtungen und Dienste der Freien Wohlfahrtspflege fördern die Minimierung von Maßnahmen gegen den Willen der Betroffenen.   Eine weitere Initiative der letzten Jahre dient ebenfalls menschlicherer Behandlungsweisen in Einrichtungen und Diensten für psychisch beeinträchtigte Menschen. „Experten aus Erfahrung“ oder auch kurz „EX-IN-ler“23 nennen sich Menschen, die selbst Erfahrungen als psychiatrische Patient_innen erlebt haben und sich in einem der deutschlandweit verfügbaren EX-IN-Kursen zum Genesungsbegleiter qualifiziert haben. Zahlreiche dieser Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen sind inzwischen Mitarbeiter_innen in psycho-sozialen Einrichtungen, Kliniken oder Betreuungsvereinen und tragen mit ihrem erfahrungsbasierten Wissen dazu bei, dass die Behandlung, Betreuung oder Beratung der Klient_innen dort verständnisvoll und den Menschenrechten entsprechend erfolgt. Schon in der Handreichung heißt es dazu: „Geschulte Genesungsbegleiterinnen und -begleiter, die nach einer EX-INAusbildung in (sozial-)psychiatrischen Einrichtungen mitarbeiten, bringen 19

Kirsch/Hirsch, Freiheitsentziehung durch Medikamente nach § 1906 Abs. 4 BGB; vgl. dazu auch Deinert, Datei. Betreuungszahlen; Lesting, Vollzug ohne Vollzugsrecht. 20 Vgl. Wassermann, Vermeidung medikamentöser Fixierung. 21 Vgl. PSW GmbH Sozialwerk Behindertenhilfe, Ich will mich. 22 Vgl. Bethesda St. Martin gGmbH, Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika. 23 Engl.: Experienced-Involvement = Einbeziehung Psychiatrieerfahrener, vgl. www.ex-in.de.

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aufgrund der Psychiatrieerfahrung und der damit einhergehenden Themen in ihrem Leben viel Wissen und Einfühlungsvermögen mit. Sie können in einem Team bei Aggression, Gewalt und Zwang oft eine sensible ,Dolmetscher- und Vermittlerfunktion‘ zwischen der Betroffenensicht und der Sicht der Professionellen übernehmen.“24

Ihr Expertentum aus Erfahrung kann häufig helfen, Zwangsmaßnahmen zu vermeiden. In Köln wurde 2011 von so ausgebildeten Genesungsbegleiter_innen der bundesweit tätige IdEE-Verein gegründet. Schon sein Name ist Programm, die Abkürzung steht für „Inklusion durch Experten aus Erfahrung“. Der Verein wirkt in der allgemeinen Öffentlichkeit und in der Fachöffentlichkeit darauf hin, dass Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen ihren Platz inmitten der Gesellschaft einnehmen können, ohne ausgrenzenden Maßnahmen ausgesetzt zu sein. Der Verein setzt sich unter anderem dafür ein, dass die Ausbildung zum Genesungsbegleiter arbeitsrechtlich anerkannt wird. So können Menschen mit psychiatrischen Diagnosen in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden,25 womit eine wichtige Forderung der UN BRK zur Umsetzung kommt. Auch bei der Verabschiedung von Rechtsvorschriften, Konzepten und Programmen zur Umsetzung und Überwachung der UN BRK sollten Erfahrungsexpert_innen regelmäßig beteiligt werden. Dies hilft sicher, die ersten schmalen Wege zur Inklusion zu verbreitern und zu selbstverständlichen Routen zu machen. Aktuell steht ein neues Bundesteilhabegestz vor der Verabschiedung. Auch das SGB IX, das sich mit den Rechten von Menschen mit Behinderungen befasst, soll novelliert werden. Ob dadurch aber all die vielen Schnittstellen zwischen den verschiedenen Sozialgesetzbüchern und die Umsetzung in der Praxis zu einer Qualitätsverbesserung für Menschen mit seelischen Behinderungen wird, bleibt abzuwarten; über die aktive Partizipation dieser Personengruppe im Gesetzgebungsverfahren ist nichts bekannt. Der Behindertenrechtsausschuss der Vereinten Nationen kritisierte im Rahmen der Staatenberichtsprüfung26 deutlich die häufige ersetzende Entscheidungsfindung nach Betreuungsrecht und die Häufigkeit der psychiatrisch legitimierten Freiheitsentzüge. Diese sind in Deutschland weitaus häufiger als strafrechtliche Freiheitsentzüge. Das Recht auf Freiheit wird rasch missachtet, sobald ein psychiatrisch-diagnostisches Etikett einen Menschen auf seine Krankheit reduziert und eine weiche Nebelwand der Fürsorge menschenrechtliche Normen verschleiert. Es ist nicht mehr 24

Diakonie Deutschland, Freiheits- und Schutzrechte, 26. Vgl. Jahnke, Einmal Psychiatrie und zurück. 26 Vgl. CRPD, Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands. 25

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zeitgemäß, wenn das Betreuungsrecht zur ersetzenden Entscheidungsfindung genutzt wird, und es bleibt zu hoffen, dass in den verschiedenen diakonischen Arbeitsfeldern Modelle der unterstützten Entscheidungsfindung entwickelt werden. Die Haltung der in der Diakonie tätigen Menschen und ihr Engagement können dazu beitragen, dem Geist des Betreuungsrechtes, der Unterstützung bei der Entscheidungsfindung wieder mehr Raum zu geben. Durchaus erhob schon das Betreuungsrecht die „Rechtsfähigkeit“ der betreuten Person im Gegensatz zur alten Vormundschaft zur neuen Norm. Solange aber nur Begriffe in professionellen Diskurs geändert werden, die Einwilligungsfähigkeit ebenso wie die Entscheidungsfähigkeit aufgrund psychiatrischer Denkmodelle und der daraus konstruierten Diagnosen professionell abgestritten wird, so lange ist auch das Betreuungsrecht ein Weg zu Exklusion und Diskriminierung. Grundlegende christliche Werte und Menschenrechte werden ausgehöhlt. Die beiden eingangs zitierten Sonderberichterstatter für Gesundheit und für Behinderungen fassten es in klare Worte: „Ohne die Freiheit von Gewalt und Misshandlung, ohne Autonomie und Selbstbestimmung, ohne Inklusion in die Gesellschaft und Teilhabe bei der Entscheidungsfindung, wird die inhärente Würde der Person zu einem leeren Konzept.“27 Literatur Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD), Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands, Vereinte Nationen CRPD/C/DEU/CO/1, 13. Mai 2015, nicht-amtliche Übersetzung der Monitoring-Stelle zur UNBehindertenrechtskonvention, online: http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/monitoringstelle-un-brk/staatenberichtspruefung/abschliessendebemerkungen/abschliessende-bemerkungen-im-wortlaut/, Zugriff am 22.04.2016. Bethesda St. Martin gGmbH (Hg.), Leitlinien für den Umgang mit Neuroleptika, September 2010, online: http://www.stiftungbethesda.de/psybepp/llneuroleptika.pdf, Zugriff am 22.04.2016. Deinert, Horst, Datei Betreuungszahlen, in: Online-Lexikon Betreuungsrecht, online: http://www.bundesanzeiger-verlag.de/betreuung/wiki/Datei: Betreuungszahlen.gif, Zugriff am 22.04.2016. 27

Siehe Fn. 1, Übersetzung zitiert nach Osterfeld, Menschenrechte und mitgestaltete Anspruchsrechte..

Inklusion und rechtliche Betreuung

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Diakonie Deutschland/Evangelischer Bundesverband/Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V., Freiheits- und Schutzrechte der UN-Behindertenrechtskonvention und Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie, 2013, online: http://www.diakonie.de/media/Text-02_2013_Freiheits-undSchutzrechte.pdf, Zugriff am 22.04.2016. Diakonie Deutschland, Zahlen und Fakten, online: http://www.diakonie.de/zahlen-und-fakten-9056.html, Zugriff am 22.04.2016. Jahnke, Bettina, Einmal Psychiatrie und zurück – ein Erfahrungsbericht, in: Theresia Degener/Elke Diehl (Hg.), Handbuch Behindertenrechtskonvention, Bonn 2015, 248–252. Kirsch, Sebastain/Wassermann Josef, Werdenfelser – Das Original, online: http://werdenfelser-weg-original.de, Zugriff am 22.04.2016. Kirsch, Sebastian/Hirsch, Rolf D., Freiheitsentziehung durch Medikamente nach §1906 Abs. 4 BGB, BtPrax 1 (2016). Lesting, Wolfgang, Vollzug ohne Vollzugsrecht – Zur fehlenden gesetzlichen Grundlage des Vollzugs der zivilrechtlichen Unterbringung, R&P 28 (2010),137–141. Lipp, Volker, Betreuung: Rechtsfürsorge im Sozialstaat aus betreuungsrechtlicher Perspektive, in: Ergebnisse des 9. Vormundschaftsgerichtstags, Betrifft Betreuung, Band 8, Eigenverlag des Vormundschaftsgerichtstag, Bochum 2005. Osterfeld, Margret, Menschenrechte und mitgestaltete Anspruchsrechte, in: Aktion psychisch Kranke e.V. (Hg.), Dokumentation der APK-Jahrestagung („Selbsthilfe – Selbstbestimmung – Partizipation“) in Berlin am 3./4. November 2015, Tagungsband 42, Köln 2016. Osterfeld, Margret, Ein Jahrhundertwerk wird volljährig, in: Wolf Crefeld/Thomas Klie/Hans-Joachim Lincke (Hg.), Pioniere des Betreuungsrechts, Bochum 2012, 117–120. Pelikan, Jürgen M., Besonderer Rechts- und Persönlichkeitsschutz für psychiatrische Patienten, in: Bundesministerium der Justiz (Hg.), Rechtsfürsorge für psychisch Kranke und geistig Behinderte. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Jusitz Band 20, Wien 1984. Prantl, Heribert, Menschenwürde im deutschen Sozialstaat: Geteiltes Recht?, Vortrag bei der Jahrestagung 2015 des Bundesverbandes der Berufsbetreuer, gekürzte Fassung: bdbaspekte Heft 106 (2015) 19–20, vollständig online: http://bdb-ev.de/191_Vortrag_Prof._Dr._Heribert_Pra.php? site_suche=1, Zugriff am 22.04.2016.

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PSW GmbH Sozialwerk Behindertenhilfe, Ich will mich – Pilotprojekt zur Entmedikamentisierung von Psychopharmaka, online: www.ichwillmich.de, Zugriff am 22.04.2016 Schulte, Bernd, Betreuung: Rechtsfürsorge im Sozialstaat aus sozialrechtlicher Perspektive, in: Ergebnisse des 9. Vormundschaftsgerichtstags, Betrifft Betreuung, Band 8, Eigenverlag des Vormundschaftsgerichtstag, Bochum 2005. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner (OHCHR), Dignity must prevail, Pressemitteilung 10. Oktober 2015, online: http://www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx? NewsID=16583&LangID=E, nicht authorisierte Übersetzung, online: http://www.apk-ev.de/projekte/psychiatrie-und-menschenrechte/, Zugriff am 22.04.2016. Wassermann, Josef, Vermeidung medikamentöser Fixierung – Ansätze, Grundsätze und Ergebnisse des 3. Fachtages Werdenfelser Weg, BtPrax 1 (2016) 17f.

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2.9 Stellvertretung und Zwang aus der Betroffenenperspektive

Heute erleben viele Mitmenschen – seien sie nun körperlich, geistig oder seelisch behindert – das „unter Betreuung Stehen“ als Entmündigung. Ihre Erfahrungen mit der Praxis des Betreuungsrechts lassen den ursprünglichen Geist der ehemals hochgelobten Reform vollends vermissen. In dieser beklagenswerten Situation hat sich durch das 2009 in Kraft getretene Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN BRK) ein neuer Horizont aufgetan – zumindest erhoffen die Betroffenen eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation. Die optimistischen Erwartungen, dass durch die UN BRK die Probleme des Betreuungsrechts, die dieses intern nicht zu lösen vermag, überwunden werden können, sind – wenn der intendierte Bewusstseinswandel greift – berechtigt. Damit die in der UN BRK eingeforderte Inklusion auch im Feld der Psychiatrie realisiert wird, gilt es, sie publik zu machen, um das zukünftige Handeln in den verschiedenen sozial-diakonischen Arbeitsfeldern behindertenrechtskonform zu gestalten. Die UN BRK hat Verbesserungen eingeleitet: den Abbau verschiedenster Barrieren für körperlich Behinderte, Sinnesbeeinträchtigte oder auch geistig Behinderte; Persönliches Budget und Infrastrukturmaßnahmen. Im Gegensatz hierzu werden die Bemühungen der psychisch Behinderten um ebenbürtige Teilhabe an der Gesellschaft noch kaum wahrgenommen. Selbst innerhalb der Behindertenverbände finden die Themen der Psychiatrieerfahrenen, etwa der Anspruch auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit, kaum unterstützenden Rückhalt. Die Personengruppe der psychisch Kranken – neuerdings „psychosozial Behinderte“ – umfasst Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose, die gemäß ICD 10 als dement, schizophren und/oder depressiv erfasst werden. Diesen gar nicht so wenigen Menschen wird im Gegensatz zu angeborenen bzw. durch Unfall verursachten Fällen der Status der Behinderung künstlich aufgebürdet.

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Ihre vormaligen Anstrengungen, sich in die Gesellschaft zu integrieren, wurden psychiatrisch durch eine entsprechende Diagnose und Therapie unterbrochen; dabei wird das Risiko eingegangen, dass sich über eine mögliche Chronifizierung eine dauerhafte psycho-soziale Behinderung ergibt. In diesem Prozess kann und wird ihnen auch eine gesetzliche Betreuung aufgenötigt, welche – in Form und Inhalt – nun ebenfalls die Lebensentfaltung – psycho-sozial – behindert. Ich möchte jetzt auf das Betreuungsrecht, sein aktuelles Sein und sein gesetzliches Sollen, abheben, um daraufhin – ebenfalls aus der Perspektive des Psychiatrieerfahrenen – das Konzept der Einwilligungsfähigkeit zu reflektieren, das gegenwärtig eine Lösung der betreuungsrechtlich internen Anwendungsprobleme verhindert. Hier würde die UN BRK Abhilfe schaffen, wäre sie denn tatsächlich schon in unserem Kontext als assistierende Betreuung in der Realität etabliert. Bei der Bestellung einer Betreuung muss laut § 1896 BGB neben einer Behinderung oder Krankheit ein zusätzlicher, sonst nicht abzuhelfender Handlungsbedarf bestehen. Ihre problemlose Einrichtung kann aber auch als leicht erreichbares Mittel zum Zwecke anderer Interessen missbraucht werden: Vor allem in der Psychiatrie – so kann ich berichten – wird die Betreuung nicht selten dazu verwendet, den Widerstand von therapieunwilligen Patient_innen zu brechen und so eine Behandlung reibungslos durchzuführen. Meiner Erfahrung nach reicht dem Betreuungsrichter dabei oft eine vom behandelnden Arzt erstellte Diagnose der Einwilligungsunfähigkeit aus, um eine Betreuung auch gegen den ausdrücklichen Willen des Patienten anzuordnen. Der Betreuer, so meine Erfahrung, stimmt dann einer Unterbringung und medizinischen Behandlung ohne Vorbehalt zu, mitunter ohne den Betreuten gesehen und dessen persönliches Wohl erkundet zu haben. Diese Methode erlaubt es dem behandelnden Mediziner, sich seine eigenen Fälle zu sichern. Der als Patient Missbrauchte verzweifelt, denn selbst die vorgesehene Instanz, die hier Willkür verhindern soll, der Betreuungsrichter, segnet, oft auch ohne die Mühe, sich einen persönlichen Eindruck vom Betroffenen zu machen oder sich gar über den Sachstand näher zu informieren, nicht nur die Betreuung, sondern auch jede als notwendig deklarierte Behandlungsmaßnahme ab. Selbst wenn nach der Entlassung aus der Klinik der betreuungsrechtliche Handlungsbedarf nicht mehr aktuell vorliegt, wird, wohl auch der ambulanten Fortsetzung der Therapie geschuldet, die errichtete Betreuung sehr oft aufrecht erhalten, was – neben einer ständigen „Überwachung“ – Unselbständigkeit, die bis zur Hilflosigkeit reichen kann, kultiviert. Findet sich der einmal psychisch Behinderte viel-

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leicht sogar im geschlossenen Heim wieder, so muss er feststellen, dass er auch dort kein wirkliches Interesse an seiner Selbständigkeit – der Entwicklung seiner persönlichen Fähigkeiten und die Anwendung seiner Lösungskompetenzen – vorfindet. So kann eine Betreuung, ist sie einmal ins Werk gesetzt, lebenslange Abhängigkeiten provozieren, die es notwendig werden lassen, dass sie beibehalten wird. Dabei stehen für den Betroffenen doch häufig – nachdem er durch die Betreuung zum Objekt degradiert wurde – der gesamte bisherige Lebensentwurf, der an den gesellschaftlichen Vorgaben gescheitert ist, und die zukünftige Biographie, die in fremde Hände gelegt wird, zur Disposition: Die jedem zuerkannte Selbstbestimmung wird für den psycho-sozial behindert Gemachten uneinholbar. Der durch das Gesetz – § 1901 BGB – alles entscheidende Orientierungspunkt einer jeden Betreuung wie aller daran Beteiligten wäre primär das individuelle, subjektiv bestimmte Wohl des Betroffenen: Ihm wird demnach, wenn kein Handlungsnotstand vorliegt, erlaubt, im Rahmen seiner Fähigkeiten sein Leben nach eigenen Wünschen und Vorstellungen zu gestalten. Der gesetzliche Vertreter steht infolgedessen, je nach Aufgabenkreis, in der Pflicht, die tatsächlichen Interessen seines Schützlings zu vertreten. Um dieser Vorgabe Genüge zu tun, ist es erforderlich, dass der Betreuer sich ein umfassendes Bild bezüglich der tatsächlichen Vorstellungen und Überzeugungen seines Schützlings – dessen Wertmaßstäben und Lebensausrichtung – verschafft, um im Akutfall in seinem Sinne entscheiden zu können. Ein wirklicher Dialog über das individuelle Wohl des Betreuten braucht dabei nicht nur Zeit, sondern es wäre auch zu empfehlen, ein Ergebnis schriftlich festzuhalten: Die Patientenverfügung ist eine freiwillige Vorgabe und würde im Kontext der Betreuung eine Handlungsgrundlage bereitstellen. Sie bildet die wirkliche Selbstbestimmung rechtswirksam und am besten ab. Deshalb würde es durchaus Sinn machen, den Betreuer per Gesetz darauf zu verpflichten, eine solche mit seinem Schützling abzufassen. Existiert kein schriftliches oder mündliches Zeugnis seines Willens, muss der Betreuer sich so entscheiden, wie es sein Mündel mutmaßlich selbst getan hätte. Den Entscheidungsraum eines einwilligungsfähigen Betreuten gilt es, in seinen abgesteckten Grenzen – die auch eine gewisse Freiheit zur Krankheit und Erfahrungen des Scheiterns einschließen – vom gesetzlichen Vertreter zu respektieren: Letzterer sollte keinesfalls seine persönliche Wertsetzungen für ein gutes und gelingendes Leben als das Wohl des Schützlings auf diesen projizieren, denn sonst ergeben sich paternalistische Abhängigkeiten und fatale Blockaden eigener Bemühungen des Betreuten. Um das Potenzial des Abhängigen zu

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fördern, braucht es die Motivation, sich auf ihn einzulassen, unterstützt durch die pragmatische Einsicht, dass die Anzahl der Betreuten, um ihnen die erforderliche Aufmerksamkeit geben zu können, begrenzt ist. Bei einer offensichtlichen Selbstgefährdung seines Klienten tritt der Betreuer gegenüber Ärzten und Richtern in Erscheinung: Er veranlasst im Regelfall eine Unterbringung und muss unter Berücksichtigung aller relevanten Fakten die bestmögliche Behandlung bewilligen. Dabei wird als therapeutisches Ergebnis immer wieder auch das Wiederherstellen der Einwilligungsfähigkeit selbst angestrebt, was der Betreuer, ohne vorher sicherzustellen, ob sein Schützling dies möchte, ausnahmslos unterstützt; der Betreute muss dabei notwendig von eigenen und eigensinnigen Zielsetzungen Abstand nehmen, die unbeachtet bleiben oder die es sogar zu überwinden gilt. Die eigenen Wünsche des Patienten zum Ob und Wie der Behandlung – die rein formal auch gegen die ärztlichen Empfehlungen ausfallen dürfen – bleiben unbeachtet, denn: Besteht hier eine Betreuung, so wird ausschließlich auf die Entscheidung des gesetzlichen Vertreters zurückgegriffen – die Frage, ob hier freier Wille gegeben ist oder nicht, stellt sich dabei gar nicht mehr: Die allein gestellte Autorität des Betreuers verhindert eine gleichberechtigte Teilhabe. Bei einer durch die psychische Krankheit verursachten Selbstschädigung wird der Betreuer eine Zwangseinweisung einleiten. Dazu ist er laut § 1906 BGB, die Einwilligung durch das Betreuungsgericht vorausgesetzt, berechtigt. Diese wird ggfs. unverzüglich durchgeführt und deshalb oft erst nachträglich durch das Betreuungsgericht gebilligt. Dies alles geschieht unter den Prämissen, dass dringender medizinischer Handlungsbedarf besteht und dem Mündel aktuell die Einwilligungsfähigkeit fehlt. Die Kriterien, wann interveniert werden soll, sind insgesamt sehr vage, weshalb ihre Anwendung, ob ihrer Notwendigkeit, oft konfliktreich und umstritten ist. Um hier Fehler zu vermeiden, reicht meist schon der Verdacht aus, dass selbstschädigendes Verhalten vorliegt, um das Einweisungsprocedere einzuleiten. In der Klinik angekommen, wird der Betroffene unmittelbar medikamentös versorgt, sodass er – noch bevor eventuell nachträglich überprüft werden kann, ob tatsächlich Gefahr im Vollzug war – schnell sediert wird und damit unfähig ist, sein Anliegen noch zu artikulieren. Dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit folgend hat das Gericht die Aufgabe, formal zu bestätigen, ob die vom Betreuer behauptete Einschränkung der Einwilligungsfähigkeit sowie der Grad seiner Gefährdung und die Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens die Restriktionen der Freiheitsrechte, inklusive des Rechts auf Krankheit, rechtfertigen. Dabei sollen auch die negativen Auswirkungen der Unterbringung

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sowie die Alternativmöglichkeiten hinsichtlich des zu erwartenden Heilerfolges bedacht werden. Meinen Erfahrungen gemäß wird dabei die gesetzliche Pflicht zur Hinzuziehung eines externen Sachverständigen so gut wie nie, die Bestellung eines Verfahrenspflegers zur Wahrung der Interessen des Betroffenen nur teilweise erfüllt. Auch und gerade die Sorgfaltspflicht des Betreuers im Hinblick auf Zustimmung oder Ablehnung zu Behandlungsmaßnahmen, die seitens der Klinik vorgeschlagen werden, lässt allermeist sehr zu wünschen übrig. Hier genügt es eben nicht, den Betreuten nur an der Eingangstür zur Psychiatrie abzugeben. Ich möchte nun die Kriterien, wann ein Wille als frei zu erachten ist, also Einwilligungsfähigkeit vorliegt – aus der Sicht der DGPPN1 – zusammengefasst darstellen, um daraufhin die Problematik zu reflektieren, die aus diesem fähigkeitsbasierten Prinzip der Selbstbestimmung resultiert: 1. Zunächst muss ein Informationsverständnis vorliegen, d.h., dass die aufzuklärende Person die relevanten Inhalte, über die es zu entscheiden gilt, und die damit verbundenen Risiken und Nutzen versteht. 2. Dann sollten diese Informationen auf die eigene Lebenssituation bezogen werden können: Das Urteilsvermögen vermittelt jene mit den eigenen Werten und Interessen, um angesichts der Alternativen und Folgen eine Entscheidung vorzubereiten. 3. Dabei müsste auch die Einsichtsfähigkeit anerkennen, dass eine psychische Krankheit mit Behandlungsbedarf vorliegt und dass die Möglichkeit einer Behandlung besteht und angeboten wird. 4. Daraufhin braucht es die Fähigkeit, sich im Lichte der bestehenden Optionen zu entscheiden und dies zum Ausdruck zu bringen. Diese Kriterien für die Feststellung der Einwilligungsfähigkeit lassen vergessen, dass jede Entscheidung sich in den Spannungsfeldern von Einzigartigkeit und Generalisierbarkeit, Person und Situation, Außensicht und Innenwahrnehmung vollzieht bzw. in diesem Dazwischen in Anwesenheit eines Anderen vollziehen sollte. Freier Wille ist – 1 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychologie und Nervenheilkunde (DGPPN), Achtung der Selbstbestimmung und Anwendung von Zwang bei der Behandlung von psychisch erkrankten Menschen: Das normative Konzept der Selbstbestimmungfähigkeit, Pressemitteilung vom 23.09.2014, http://www.dgppn.de/presse/pressemitteilungen/detailansicht/article/307/achtungder.html, Zugriff am 28.02.2016.

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nach obiger Eingrenzung und eigener Erfahrung, denselben aberkannt zu bekommen – denn auch nur die „freiwillige“ Bereitschaft, sich einer fremden Weltdeutung zu öffnen, mit dem Zweck, von ihr ergriffen zu werden, wobei eine Zustimmung zum herangetragenen Konstrukt vorausgesetzt wird, das im Bekenntnis zu dieser Weltsicht endet. Das heißt: Man ist in eine Situation gestellt, dem entsprechen zu müssen, was von einem erwartet wird, wobei man das, was dem gegenüberstehend selbst gewollt werden kann – diese Selbstsetzung, genannt Authentizität – als pathologisch übergangen wird. Die faktische Aberkennung der Einwilligungsfähigkeit ist als Drehund Angelpunkt der verschiedenen Anwendungsprobleme auszuweisen: Bei einer mangelnden Voraussetzung der Erforderlichkeit etwa wird die Errichtung einer Betreuung durch die Unterstellung des fehlenden Willens durchgedrückt. Beim Bestehen einer solchen gibt sie dem Betreuer die Autorität, vom Modus der auf Augenhöhe stattfindenden Assistenz bzw. Unterstützung in den der Stellvertretung bzw. der ersetzenden Entscheidungsfindung wechseln zu können, was jeden betroffenen Lebensbereich auf sein Wohlwollen hin begrenzt. Die ihm übertragene Entscheidungskompetenz findet in Einwilligungsvorbehalten, je nach überantworteten Aufgabenbereichen, ihre dauerhafte Entsprechung. Dieser bei einer Betreuung potenziell immer drohende Austausch des Grundmodus – Unterstützung in Stellvertretung – beruht allermeist allein auf der persönlichen Beurteilung der Willensfähigkeit des Mündels durch den gesetzlich Verantwortlichen. Dieser hat per Gesetz – analog zur „Kompetenz“ der Psychiater – die Ermächtigung, den Geisteszustand seines Schützlings folgenreich zu beurteilen. Dabei ist er – vor allem als Berufsbetreuer – in eine Doppelrolle eingespannt: Er hat zum einen als Ansprechpartner für das Wohl seines Schützlings einzutreten, indem er ihm Hilfestellung – auch Rechtsbeistand – gibt, sich nach dessen eigenen Wünschen und Vorstellungen zu entwickeln. Diese Autonomie, als lediglich ein Aspekt des Wohls, wird jedoch zum anderen durch das stellvertretende Entscheiden und Handeln – rechtlich legitimiert – ausgehebelt: Ab dem Moment, in dem der Betreuer den Eindruck gewinnt, dass fehlende Einsichtsfähigkeit vorliegt, hat er die generelle Macht, in den ihm anvertrauten Aufgabenkreisen – sogar ggf. ohne das „Mündel“ darüber in Kenntnis setzen zu müssen – nach eigenem Gutdünken zu walten. Als ein „Organ“ des Betreuungsgerichts sichert der Betreuer als Ordnungsinstitution – zumindest indirekt – die Interessen des Staates nach vereinheitlichter Gesellschaft und sich darin entwickelnder Moral: Auffällig Gewordene werden durch den Betreuer im Blick behalten, um sie im Ausnahmefall schnell und unkompliziert der vorgesehenen Behandlung zuzuführen. So wird das Gemeinwohl mit dem

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des Einzelnen, der für sich gute Gründe haben kann, darin nicht aufzugehen, vermittelt. Der sich dabei de facto vollziehende Zwang wird von der nicht direkt involvierten Mitwelt kaum wahrgenommen. In seinem staatlich legitimierten Auftrag rennt der Betreuer mit den von ihm angeordneten Zwangsmaßnahmen bei institutionellen Aufsichts- und Kontrollinstanzen offene Türen ein: Das selbstverständliche Abnicken egal welcher Maßnahme und von allen aktiv Beteiligten entwickelt eine Eigendynamik, sodass Zwang bisweilen sinnlos um seiner selbst Willen eingesetzt wird. Die Inanspruchnahme von Zwang spiegelt denn auch deutlich den Ordnungsauftrag der Psychiatrie wider, auch wenn sie das von sich weist. Dass Betreuung missbraucht wird, liegt auch am ungehinderten Agieren der Verantwortlichen. Die Gefahr, dass Betreuung zur potenziellen Falle verkommt, wächst proportional zur steigenden Anzahl von bestehenden Betreuungen: Sie können nicht mehr hinreichend überwacht werden. Je nach Anwendungssektor, etwa bei der Vermögenssorge, können ganze Existenzen ihrer Grundlage beraubt und so zerstört werden, ohne dass dies systematisch unterbunden oder als Entrechtung gewertet wird, da – um in dieser Logik zu bleiben – die Zwangsbetreuten schon im Vorfeld geschäftsunfähig gewesen zu sein scheinen. Bei all diesen Sonderbefugnissen untersteht das Handeln des Betreuers den zugesicherten Grundrechtsgarantien des Staates, die den Einzelnen auch vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt schützen sollen: Das ist namentlich ein Leben in Würde, Selbstbestimmung, Freiheit der Person, körperlicher Unversehrtheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Diese Rechte brauchen zur Aufhebung ihrer Gültigkeit ebensolche gewichtigen Gesetze, die in einer Güterabwägung dann den Grad ihrer Relativierung bestimmen, wobei selbst dabei der Wesenskern der Grundrechte noch erkennbar bleiben soll. Der Betreute hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das heißt: Wird nun eine psychische Krankheit akut, dann steht der Staat in der Fürsorgepflicht, für eine Gesundung zu sorgen, was aktuell noch als Zwangsbehandlung erduldet werden muss. Fast ausnahmslos ist es eine skandalöse Umdeutung des jeweiligen Inhalts der Grundrechte, auf die hin der Zwang gegen seelisch Behinderte gerechtfertigt erscheint: Das Leben in Würde wird ihm versagt, weil er in seiner Psychose als würdelos eingestuft wird und nur im Versuch ihrer „Heilung“, der sich über jede Würde erhebt, ihm im Ergebnis ein würdevolles Leben zurückgegeben werden kann. Das Recht auf Autonomie wird Fremdbestimmung aufgeopfert, weil der Betroffene sich angeblich nicht selbst bestimmen kann. Ihm wird paradoxerweise durch den legitimierten Einsatz von Zwang seine Freiheit genommen, um ihm genau diese – in Form einer freien Willensbildung – wieder zurückzugeben.

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Das Gleiche gilt für die körperliche Unversehrtheit – diese wird hier verletzt, um sie dort zu schützen. Die Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet für einen seelisch Behinderten nichts anderes, als dass er vermeintlich den Zwang erleiden muss, der seine Gleichheit, die ihm krankheitsbedingt abgesprochen wird, wieder herstellt – alle solcherart motivierten Maßnahmen verwehren ihm letztlich eine jedem sonst zuerkannte Eigenständigkeit. Diese Rechtsbeugungen können im Falle einer Betreuungserrichtung jedermann betreffen. Sie findet im Zwang bei Betreuung, Einweisung und Behandlung ihre konsequente Inanspruchnahme: Einmal in die „Mühle“ gezwungen, schließt sich der Kreis für den Einwilligungsunfähigen, und sein Leben bleibt bestimmt durch Fremdentscheidungen und Zwangserfahrungen. Natürlich kann es Menschen geben, die tatsächlich nervenärztliche Hilfe brauchen und auch nutzen wollen, um ihr Leid zu lindern. Aber bei vielen wird dieses erst durch Fremdbeurteilung provoziert oder verstärkt, wobei alle, die in der Psychiatrie „aufschlagen“, der Gefahr ausgesetzt werden, ihre Lebensführung dauerhaft zu verlieren und als Rechtssubjekt unterzugehen. Die aufgeworfenen Probleme der Betreuungspraxis werden sich, wenn am Ansatz der Einwilligungsfähigkeit festgehalten wird, nicht befriedigend auflösen lassen. Die UN BRK lehnt mit Artikel 12 dieses Grundkonzept des freien Willens und damit die stellvertretende Betreuung von vorne herein ab. Dies bestätigte bzw. konkretisierte der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mehrmals und unmissverständlich. Die bei konsequenter Realisierung der UN BRK sich einstellenden Lebensvoraussetzungen für psycho-sozial Behinderte würden sich demnach – im Verzicht auf Zwang und Ausschluss – radikal verbessern: Da ihre Eigenverantwortung weniger diskriminiert würde, könnte bei ihnen der verloren gegangene Integrationswille wieder geweckt und gefördert werden. Sie wären ohne die Traumatisierungen durch Zwangserfahrungen in ihrer Motivation gestärkt, eigene Schritte in die inklusive Gesellschaft zu setzen, um sich letztlich in ihr „unbehindert“ zu bewegen, was als ihr Anteil an der Inklusion notwendige Voraussetzung derselben ist. Würde psycho-sozial Behinderten das öffentliche Leben nicht mehr vorenthalten – und umgekehrt der Gesellschaft nicht die mentale Vielfältigkeit – so wäre in der gleichberechtigten Teilhabe miteinander und der freien Wirkung aufeinander Inklusion verwirklicht, da auch niemand mehr im Nachhinein der Gesellschaft wieder zugeführt werden müsste.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Balz, Hans-Jürgen, Prof. Dr., Diplom-Psychologe, Professor für Psychologie mit den Schwerpunkten Diagnostik und Beratung, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Becker, Uwe, Prof. Dr., Professor für Diakoniewissenschaft, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Bouws, Siegfried, Diplom-Pädagoge, Neukirchener Erziehungsverein, Geschäftsführung Behindertenhilfe und Verbund Ambulante Hilfen, Herkweg 8, 47506 Neukirchen-Vluyn, [email protected] Degener, Theresia, Prof. Dr., Professorin für Recht und Disability Studies, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Eberl, Irmgard, ehem. Leiterin der Kita Rosengarten, Wassenberg, BETAAuditorin, In den Benden 27, 41849 Wassenberg, [email protected] Eberl, Klaus, Pfarrer, hauptamtliches Mitglied der Kirchenleitung und Leiter der Abteilung Bildung im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche im Rheinland, Vizepräses der EKD-Synode, In den Benden 27, 41849 Wassenberg, [email protected] Gerling, Silke, Leitung Geschäftsbereiche Diakoniewerk Essen, gemeinnützige Senioren- und Krankenhilfe GmbH Diakoniewerk Essen, gemeinnützige Behindertenhilfe GmbH, Bergerhauser Str. 17, 45136 Essen, [email protected] Grabe, Christiane, Diplom-Ingenieurin, Referentin für Psychiatrie und Inklusive Quartiersentwicklung, Evangelisches Zentrum für Quartiersentwicklung, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V., Pflege, Alten- und Behindertenarbeit, Lenaustr. 41, 40470 Düsseldorf, [email protected] Graumann, Sigrid, Prof. Dr. Dr., Professorin für Ethik, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected]

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Greving, Heinrich, Prof. Dr. habil., Katholische Hochschule NW, Abt. Münster , Piusallee 89, 48147 Münster Hebenstreit, Sigurd, Prof. [email protected]

Dr.,

Ardeystraße

155,

58453

Witten,

Herderich, Harald, Magister in Philosophie und Psychiatrieerfahrener, gegenwärtig: Persönlicher Assistent, [email protected] Hofmann, Beate, Prof. Dr., Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel, Institut für Diakoniewissenschaft und Diakonie-Management, Lehrstuhl für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement, Remterweg 45, 33617 Bielefeld Ignatzi, Helene, Dr., Professorin für Handlungslehre und Methoden der Sozialen Arbeit, Diplom-Sozialarbeiterin, Diplom-Sozialgerontologin, Ev. Hochschule Nürnberg, Bärenschanzstr. 4, 90429 Nürnberg, [email protected] Kalesse, Dieter, Diakon und Kommunikationswirt, Leiter der Abteilung Kommunikation der Evangelischen Stiftung Hephata, Mönchengladbach, Projektverantwortung für das Atelier Strichstärke, [email protected], www.strichstaerke.eu, www.hephata-mg.de Maas, Olaf, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Geschäftsbereichsleitung Pflege, Alten- und Behindertenarbeit (bis 1.8.2015), Lenaustraße 41, 40470 Düsseldorf Mogge-Grotjahn, Hildegard, Prof. Dr., Professorin für Soziologie am Fachbereich 1: Soziale Arbeit, Bildung und Diakonie, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Moser, Michaela, Leiterin der Kita Rosengarten, Wassenberg, Schulstraße 1, 41849 Wassenberg, [email protected] Nüsken, Dirk, Prof. Dr., Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected] Ondracek, Petr, Prof. Dr., Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum Osterfeld, Margret, Ärztin, Mensch mit psychiatrischen Diagnosen, Mitglied im UN-Unterausschuss und in der Nationalen Stelle zur Prävention

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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von Folter und Misshandlung, Aktion psychisch Kranke e.V., Oppelner Straße 130, 53119 Bonn Römisch, Kathrin, Prof. Dr., Professorin für Heilpädagogik mit dem Schwerpunkt Begleitung von Menschen mit Behinderungen im Erwachsenenalter, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Schache, Stefan, Prof. Dr. phil., Professor für Heilpädagogik/Inklusive Pädagogik, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected] Schäfer, Gerhard K., Prof. Dr. theol. habil., Professor für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft, Rektor, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Immanuel-Kant-Str. 18–20, 44803 Bochum, [email protected] Skladny, Helene, Prof. Dr., Professorin für Soziale Arbeit/Künstlerische Bildung, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected] Sommer-Loeffen, Karen, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe e.V., Bahnhofsmission, Ehrenamt und ambulante Hospizarbeit, Geschäftsbereich Soziales und Integration, Lenaustraße 41, 40470 Düsseldorf Sonnenberg, Kristin, Prof. Dr. päd., Professorin für Soziale Arbeit, Methoden- und Konzeptentwicklung, Ev. Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected] Stoppig, Christine, Aktion Menschenstadt/Behindertenreferat im Kirchenkreis Essen, Referatsleitung, III. Hagen 39, 45127 Essen Wegehaupt-Schlund, Hiltrud, Referentin für Erziehungshilfe, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Friesenring 32, 48147 Münster, [email protected] Weißenberg, Martin, M.A., Diplom-Sozialarbeiter, Diplom-Sozialwirt, Referent für Arbeit in der Behindertenarbeit und Psychiatrie, Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe, Friesenring 32–34, 48147 Münster, [email protected] Wiggers, Kurt-Ulrich, Diplom-Religionspädagoge, Geschäftsführer, In der Gemeinde leben gGmbH, Ludwig-Erhard-Allee 14, 40227 Düsseldorf, [email protected]