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German Pages XIII, 249 [255] Year 2020
C U LT U R A L A N I M A L S T U D I E S
Friedrich Jaeger (Hg.)
Menschen und Tiere Grundlagen und Herausforderungen der Human-Animal Studies
BAN D 9
Cultural Animal Studies Band 9 Reihe herausgegeben von Roland Borgards, Frankfurt, Deutschland Wissenschaftlicher Beirat Michaela Fenske, Würzburg, Deutschland Sabine Nessel, Berlin, Deutschland Stefan Rieger, Bochum, Deutschland Mieke Roscher, Kassel, Deutschland Jessica Ullrich, Nürnberg, Deutschland Martin Ullrich, Nürnberg, Deutschland Markus Wild, Basel, Schweiz
iere erfreuen sich derzeit eines bemerkenswerten gesellschaftlichen wie wissenT schaftlichen Interesses. Diese akute Relevanz der Tiere korrespondiert mit einer neuen Sensibilität für Fragen eines verantwortlichen und nachhaltigen Umgangs mit der Natur. Als zuständig für diesen Themenbereich galten traditionell die Naturwissenschaften. Doch im Zeitalter des Anthropozäns verlieren solche Zuständigkeiten ihre Plausibilität: Tiere werden, wie z. B. auch das Klima oder der Meeresspiegel, zum validen Gegenstand kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. So hat sich unter dem Label der Cultural Animal Studies eine Forschungshaltung entwickelt, in der die Frage nach den Tieren auf drei Ebenen fruchtbar gemacht wird. Erstens geht es um eine Pluralisierung dessen, was zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Kulturen als Tier beschrieben wird. Zweitens werden insbesondere die Künste (Literatur, Film, Theater, Bildende Kunst, Musik) daraufhin untersucht, mit welch formativer Kraft sie das Mensch-Tier-Verhältnis mitgestalten und wie Tiere ihrerseits als Koproduzenten kultureller Artefakte verstanden werden können. Und drittens arbeiten diese Forschungen daran, die Anschlussstellen zwischen einer neuen kulturwissenschaftlichen Tiertheorie auf der einen Seite und einer sich derzeit entfaltenden, naturwissenschaftlichen New Ethology zu erkunden. Die Reihe Cultural Animal Studies versammelt Monographien und Tagungsbände, die sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit der Geschichte, der Theorie und der Kunst der Tiere auseinandersetzen. Die Reihe richtet sich an das gesamte interdisziplinäre Spektrum der Cultural Animal Studies, von den Literatur-, Geschichts-, Bild-, Film-, Medien- und Musikwissenschaften bis zu Tierphilosophie, Tiertheorie, Biotheorie, Wissenschaftsgeschichte und Ethnographie. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/16328
Friedrich Jaeger (Hrsg.)
Menschen und Tiere Grundlagen und Herausforderungen der Human-Animal Studies
Hrsg. Friedrich Jaeger Dortmund, Deutschland
ISSN 2662-1835 ISSN 2662-1843 (electronic) Cultural Animal Studies ISBN 978-3-476-05515-6 ISBN 978-3-476-05625-2 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: Cedarberg, San-Felsmalerei, Republik Südafrika © akg-images/Africa Media Online/Graeme Williams/South Photos Planung/Lektorat: Ute Hechtfischer J.B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Vorwort
Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die im März 2018 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen unter dem Titel Brauchen die Kulturwissenschaften einen Animal Turn? Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Probleme der Human-Animal-Studies stattgefunden hat. Ich danke meinen damaligen Mitveranstaltern Gudrun Gersmann von der Universität zu Köln und Heinrich Theodor Grütter vom Ruhr Museum in Essen nicht allein für ihre Mitwirkung bei der Vorbereitung und Ausrichtung dieser Tagung, sondern für eine über mehrere Jahre andauernde fruchtbare und freundschaftliche Zusammenarbeit in dem von uns gemeinsam entwickelten Veranstaltungs-, Publikations- und Ausstellungsprojekt Mensch und Tier im Ruhrgebiet. Aus diesem Projekt und dem mit ihm verbundenen Arbeitskreis ist neben dem vorliegenden Band und einem breiten Veranstaltungsprogramm auch die im Juli 2019 eröffnete Ausstellung Mensch und Tier im Revier im Ruhr Museum in Essen hervorgegangen. Der von Heinrich Theodor Grütter und Ulrike Stottrop herausgegebene Ausstellungsband Mensch&Tier im Revier (Klartext-Verlag Essen 2019) dokumentiert auf einer beeindruckenden Materialbasis die ganze Vielschichtigkeit des Themas. Weitere Publikationen und Ausstellungen mit anderen Themenschwerpunkten werden 2020 und 2021 im LWL-Industriemuseum Zeche Hannover sowie im LVR-Industriemuseum Textilfabrik Cromford folgen. Britta Weber vom Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen danke ich für die umsichtige Koordination der Projektarbeit und Ute Schneider sowie Julika Griem als Direktorinnen des KWI für die finanzielle Unterstützung des Instituts, die die Ausrichtung der Tagung erst möglich gemacht hat. Den Autorinnen und Autoren danke ich zum einen für ihre anregenden Beiträge, die das Thema aus ganz unterschiedlichen Perspektiven ausleuchten und zum anderen für die Geduld, mit der sie den Entstehungsprozess des Bandes begleitet haben. Und nicht zuletzt danke ich Roland Borgards für die Aufnahme des Bandes in die von ihm herausgegebene Buchreihe Cultural Animal Studies sowie Ute Hechtfischer, Anja Dochnal und Ferdinand Pöhlmann vom Verlag J. B. Metzler für die sorgfältige verlegerische und redaktionelle Betreuung der Publikation. Essen im Februar 2020
Friedrich Jaeger
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung. Die Human-Animal Studies als Herausforderung der Kulturwissenschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Friedrich Jaeger 1 Ein Animal Turn der Kulturwissenschaften? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Die Ebene der kulturwissenschaftlichen Ontologie. . . . . . . . . . . . . . . . . 6 3 Auswirkungen auf die kulturwissenschaftliche Epistemologie . . . . . . . . 9 4 Methodische und methodologische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 5 Handlungs- und sozialtheoretische Implikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 6 Moralphilosophische Folgen der neueren Tierrechtsdebatte . . . . . . . . . . 13 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Menschen und andere Lebewesen. Eine Ontologie jenseits des anthropischen Denkens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Wolfgang Welsch 1 2
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Inwiefern könnte ein animal turn für die Kulturwissenschaften nützlich sein? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Der Mensch: konstitutiv mit Tierischem verwoben . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.1 Wir tragen zahlreiche Errungenschaften der animalischen Evolution in uns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.2 Wir Menschen bestehen nicht nur aus Menschlichem, sondern aus einer Vielzahl anderer Lebewesen. . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Human-animalisches Konkubinat: nicht nur somatisch, sondern auch ökologisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Das anthropische Prinzip – die Malaise des modernen Denkens. . . . . . . 28 Gegenoptionen schon innerhalb der Moderne – und ihre Vergeblichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4.1 Leibniz: gradualistischer Monismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 4.2 Diderot 1769: Sensualistischer Monismus – Abrücken vom anthropischen Prinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4.3 Idealismus und Romantik: Überwindung des Dualismus von Natur und Geist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 4.4 Sperrriegel Naturwissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
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Über die alten Dualismen hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Eine strikt relationale Ontologie (à la Whitehead) – Relationalität, Netzcharakter, Allverbundenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 6.1 Relationalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 6.2 Netzcharakter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 6.3 Aktivität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 6.4 Allverbundenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Cultural Animal Studies zwischen neuer Tiertheorie und New Ethology . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Roland Borgards 1 Anthropologische Differenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2 Anthropozentrismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3 Anthropomorphismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 4 Die drei A, revidierte Fassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Animal Turn, Tierphilosophie und Animal Mainstreaming . . . . . . . . . . . . 57 Markus Wild 1 Drei Wenden in der Philosophie: Kant, Wien, Kognition. . . . . . . . . . . . . 58 2 Tierphilosophie als Animal Turn in der Philosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . 62 3 Animal Turn und Animal Mainstreaming. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Forschungsumwelten der Tierforschung. Methodologische und ethische Implikationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Kristian Köchy 1 2
Vom ökologischen Ansatz zu Forschungsumwelten. . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Das Fallbeispiel: Wolfgang Köhlers Schimpansenforschung. . . . . . . . . . 78 2.1 Forschende und Erforschte sind in Wechselbeziehung zueinander stehende Lebewesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 2.2 Notwendiger Rekurs vom Erforschten auf die Forschenden. . . . . . 81 2.3 Umweltintentionalität als Verbindung zu Tieren als Selbst-Anderen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Human-Animal Studies als Hermeneutik. Methodische Grundlagen und Forschungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Mieke Roscher 1 2
Human-Animal Studies als Methode: Zwischen Repräsentation, Aktion und Relation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Inklusive Geschichtswissenschaften: Tiergeschichte als historische Praxeologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98
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3 Körper von Gewicht: Quellen neu gelesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 4 Schlusswort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 Handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität. Eine vergleichende Skizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Rainer E. Wiedenmann 1 2
Mensch-Tier-Sozialität: zwei sozialtheoretische Problembezüge . . . . . . 113 Handlungstheoretische Konzeptuierungen von Mensch-TierSozialverhältnissen: Abriss einer typologischen Verortung. . . . . . . . . . . 117 3 Tierliche Agency im Spiegel der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4 Der Animal Turn als Testfall soziologischer Multiparadigmatizität. . . . . 131 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Traditionen der Tierethik und ihre aktuelle Bedeutung für die Human-Animal Studies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Gary Steiner 1
Das anthropozentrische Vorurteil der heutigen Tierrechtsphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2 Die geschichtlichen Wurzeln des anthropozentristischen Vorurteils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3 Kritik des anthropozentrischen Vorurteils. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 4 Möchten Tiere, dass wir sie ausnutzen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 5 Dürfen wir Tiere (fr)essen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 Tiere im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Carolin Raspé 1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2 Der Status Quo im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.1 Tierschutzgesetzgebung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 2.2 Zivil- und Verfassungsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 3 Aktuelle Forschungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3.1 Tierliche Rechtsgüter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3.2 Die rechtliche Abwägung tierlicher und menschlicher Interessen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.3 Tiere als Rechtspersonen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 4 Aktuelle Rechtspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4.1 Exekutive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 4.2 Judikative. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 5 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168
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Politische Gerechtigkeit für Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Bernd Ladwig 1 2 3 4 5 6 7 8 9
Das aristotelische Gegenstandsverständnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Allgemeine Gerechtigkeit für Tiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Verteilende Gerechtigkeit und assoziative Pflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Kooperation nach Rawls und die Ausbeutung von Tieren . . . . . . . . . . . . 178 Können Tiere mit uns kooperieren?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Mark Coeckelberghs Sozialphilosophie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Laura Valentini über Gerechtigkeit für Hunde. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 Zwei Einwände gegen das Kooperationskriterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Unterwerfung als Grundlage assoziativer Gerechtigkeitspflichten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 10 Wie politisch sollte die Philosophie der Tierrechte sein?. . . . . . . . . . . . . 189 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 Braucht die Ethik einen animal turn? Bioethische Würde- und Tötungsdiskurse im Zeichen des Speziesismusvorwurfs. . . . . . . . . . . . . . . 193 Heike Baranzke 1
Die Idee universaler Menschenwürde im Lichte wechselnder Handlungskontexte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 2 Differenzen zwischen neuer und alter Tierrechtsdebatte im Licht des marginal case-Arguments. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 3 Vom angeborenen Menschenrecht zum biologistischen Leistungsrecht – Michael Tooley’s interesseethischer Personbegriff als gamechanger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 4 Begründungstheoretische Paradoxien der Tierrechtsbewegung. . . . . . . . 202 5 Die reflexionsphilosophische Unverzichtbarkeit der Mensch-Tier-Differenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Mensch und Vogel. Eine ambivalente Mensch-Tier-Beziehung im Zeichen des Karnismus. Von der antiken Ornithomantie zur politischen Ornithologie der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Hans Werner Ingensiep 1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 2 Das evolutionär-anthropologische Vorspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 3 Vogelkult im Alten Ägypten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 4 Vogelpolitik in Mythos und Religion bei Griechen und Römern. . . . . . . 217 5 Vogelmetaphorik im Dienst der christlichen Religion. . . . . . . . . . . . . . . 221 6 Vogelkunde, Wissenschaft und Tierethik in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . 222 7 Beziehungshilfen ab 1900 – Vogelliebe, Kamerajäger und Vogelschutz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226
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8 Der Eisvogel als Beziehungsikone bis in die Gegenwart. . . . . . . . . . . . . 229 9 Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Tiere als Individuen. Eigennamen und Porträts von Tieren. . . . . . . . . . . . 237 Thomas Macho 1 Eigennamen der Tiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 2 Porträts individueller Tiere. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 3 Little John. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 4 Ein Bild vom Distelfink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248
Autorenverzeichnis
Heike Baranzke, Lehrbeauftragte für Theologische Ethik an der Bergischen Universität Wuppertal Roland Borgards, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Frankfurt a. M. Hans Werner Ingensiep, Professor für Philosophie und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Duisburg-Essen Friedrich Jaeger, Senior Fellow am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen Kristian Köchy, Professor für Theoretische Philosophie an der Universität Kassel Bernd Ladwig, Professor für politische Theorie und Philosophie an der Freien Universität Berlin Thomas Macho, Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) der Kunstuniversität Linz in Wien Carolin Raspé, Anwältin für öffentliches Recht in München Mieke Roscher, Juniorprofessorin für Sozial und Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung des Tier-Mensch-Verhältnisses an der Universität Kassel Gary Steiner, Professor für Philosophie an der Bucknell University in Lewisburg, Pennsylvania Wolfgang Welsch, emeritierter Professor der Philosophie an der Universität Jena Rainer E. Wiedenmann, apl. Professor für Soziologie an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt Markus Wild, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Basel
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Einleitung Die Human-Animal Studies als Herausforderung der Kulturwissenschaften Friedrich Jaeger
Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber als Mensch unersetzlich! Johannes Rau*
Wie im Vorwort bereits erwähnt, geht der vorliegende Band auf eine Tagung zurück, die im März 2018 am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen unter dem Titel Brauchen die Kulturwissenschaften einen Animal Turn? Theoretische Grundlagen und konzeptionelle Probleme der Human-Animal-Studies stattgefunden hat. Die Veranstaltung ging seinerzeit der Frage nach, in welchen Hinsichten dieses neue Forschungsfeld die Kulturwissenschaften herausfordert und ihre theoretisch-methodische Basis verändert. In den folgenden Beiträgen wird dies unter verschiedenen Gesichtspunkten entfaltet, hier geht es einleitend zunächst darum, die Ausgangsüberlegungen und Forschungsmotive der Tagung noch einmal in ihrem Zusammenhang vorzustellen.
1 Ein Animal Turn der Kulturwissenschaften? Die Frage, ob man in den Kulturwissenschaften aktuell von einem Animal Turn sprechen könne (Ritvo 2007; Wiedenmann 2019), entzündet sich an der bemerkenswerten Konjunktur der Human-Animal Studies (HAS) in den *Dieses vielfach überlieferte Bonmot Johannes Raus über seinen Hund Scooter, den bislang einzigen First Dog in der Geschichte der Bundesrepublik, ist im Laufe der Jahre zu einem geflügelten Wort geworden, das uns mit seiner scherzhaft anthropomorphisierenden Stoßrichtung zugleich ins Zentrum dieses Bandes führt. F. Jaeger (*) Kulturwissenschaftlliches Institut, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_1
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vergangenen Jahren (einführend Borgards 2016; DeMello 2012; Kalof 2017; Kompatscher u. a. 2017; Roscher 2009; Shapiro 2008). Mit ihnen ist ein neues, interdisziplinär aufgefächertes Forschungsfeld entstanden, in dem die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren untersucht werden. Wenn sich kulturwissenschaftliche Debatten auf diese Weise um bestimmte Themen verdichten, steht die Frage im Raum, ob es sich dabei nur um eine vorübergehende intellektuelle Mode handelt, die wieder verschwinden wird, ohne wissenschaftsgeschichtlich relevante Spuren zu hinterlassen, oder ob wir es mit einer langfristig wirksamen Innovation zu tun haben, die die Grundlagen kulturwissenschaftlicher Disziplinen nachhaltig verändert (grundsätzlich zu Fragen kulturwissenschaftlicher Turns vgl. Bachmann-Medick 2006). Lässt sich also von einem Animal Turn in den gegenwärtigen Kulturwissenschaften sprechen? Im Hinblick auf diese Frage sollen im Folgenden die Konsequenzen der HAS für die theoretischen Grundlagen der Kulturwissenschaften erörtert werden. Insgesamt gesehen lassen sich drei Voraussetzungen für die Durchsetzung von Cultural Turns ausmachen: 1.1 Auffällig ist zunächst ihre Interdisziplinarität, denn solche kulturwissenschaftlichen Wenden vollziehen sich gewöhnlich nicht allein innerhalb bestimmter Fächer, sondern im Zusammenwirken unterschiedlicher Disziplinen, ohne dass dabei deren fachliche Besonderheiten verloren gehen. Stattdessen werden von der Warte des jeweiligen Fachs die Perspektiven anderer Disziplinen erschlossen und auf die eigenen Forschungsansätze im Sinne der methodischen Pluralisierung bezogen. Dies verbindet sich häufig mit einer Internationalisierung von Debatten, was für eine rasche Ausbreitung von Turns über nationale Wissenschaftsgrenzen hinweg sorgt. Zugleich entstehen auf der institutionellen Ebene neue Forschungsinfrastrukturen, die das Profil bestehender Disziplinen ergänzen, sei es in Form von Fachzeitschriften, Buchreihen, Handbüchern, Lexika oder durch den Aufbau neuer Forschungsnetzwerke und universitärer Studiengänge. Dies alles findet in den neueren HAS bereits ausgiebig statt, so dass sich in diesem ersten Punkt durchaus wichtige Voraussetzungen einer kulturwissenschaftlichen Wende konstatieren lassen.1
1Für
diese infrastrukturellen Entwicklungen seien hier nur einige Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum genannt: Als wichtige Zeitschriften siehe zum einen Tierethik. Zeitschrift zur Mensch-Tier-Beziehung, sowie Tierstudien; als Buchreihen siehe die Reihe Human-Animal Studies im transcript Verlag sowie die Reihe Cultural Animal Studies im Metzler Verlag; als Handbuch vgl. Borgards 2016 sowie als Lexikon Ferrari/Petrus 2015. Wichtige Forschungsnetzwerke repräsentieren die Human-Animal Studies-Forschungsgruppe an der Universität Innsbruck; der Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal Studies in Berlin; sowie der LOEWESchwerpunkt Tier-Mensch-Gesellschaft: Ansätze einer interdisziplinären Tierforschung an der Universität Kassel. Als einschlägigen Studiengang siehe schließlich am Messerli-Institut in Wien das Interdisziplinäre Masterstudium Mensch-Tier-Beziehung. – Neben einer Einführung in die Grundlagen, Forschungskonzepte, Methoden und Leitthemen der HAS finden sich weiterführende Hinweise auf wichtige institutionelle und forschungsorganisatorische Infrastrukturen in Kompatscher u. a. 2017, 224–264.
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1.2 Ein weiteres Merkmal von Cultural Turns besteht in ihrer gesteigerten Aufmerksamkeit für aktuelle Problemlagen. In ihnen kommt die „ewige Jugendlichkeit“ zum Ausdruck, die Max Weber speziell den historischen Disziplinen zuerkannt hat, denen „der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt“ (Weber 1985, 206). Auch auf dieser lebensweltlichen Ebene spricht vieles dafür, dass wir es mit einer ernstzunehmenden Wende der kulturwissenschaftlichen Forschung zu tun haben. Denn das wissenschaftliche Interesse, das Mensch-Tier-Beziehungen derzeit zukommt, lässt sich allein unter Berücksichtigung aktueller politischer Prozesse und gesellschaftlicher Entwicklungen erklären. Mit ihnen gehen neue Orientierungsbedürfnisse einher, die derzeit an die Kulturwissenschaften adressiert werden. Zahlreiche öffentliche Auseinandersetzungen weisen darauf hin, dass das Verhältnis von Menschen gegenüber Tieren angesichts sich verschärfender Umweltkrisen als zunehmend problematisch wahrgenommen wird und neu gerechtfertigt werden muss. In bisher unbekanntem Ausmaß steht unser Nutzungsanspruch gegenüber Tieren als solcher infrage (Sezgin 2014). Davon zeugen nicht allein die politischen Konflikte um Tierschutz und Tierrechte (Petrus 2013; Amir 2018) oder die wachsende Kritik an Tierversuchen (Borchers/Luy 2009) und industrieller Massentierhaltung (Wolfschmidt 2016), sondern auch der Protest gegen den Verlust an Biodiversität durch den Klimawandel oder die Zerstörung natürlicher Umwelten (Schlatzer 2011) sowie die Trends zu veganen Lebensstilen (Schorcht/Linnemann 2001; Foer 2019; zu den kulturanthropologischen Bezügen des Fleischkonsums vgl. ferner Baranzke 2000 sowie Mellinger 2000). Das real existierende Mensch-Tier-Verhältnis ist zum Skandal geworden und die Kontroversen um die heute noch dominierenden Praktiken der Tiernutzung verweisen auf einen beginnenden Kulturwandel, aus dem den HAS relevante Fragestellungen und Forschungsthemen zuwachsen. Als diese sich in den 1990er Jahren von den US-amerikanischen Cultural Studies ausgehend international verbreiteten, galten sie vielen Vertretern etablierter Kulturwissenschaften zunächst als eine Spielwiese von Intellektuellen, die leichtfertig eine Beschäftigung mit Tieren der ernsthaften kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den eigentlichen Herausforderungen der Humanwelt vorzogen. Inzwischen setzt sich jedoch vermehrt die Einsicht durch, dass mit den Beziehungen zwischen Menschen und Tieren ein zentraler Baustein desjenigen menschlichen Naturverhältnisses zur Debatte steht, das die Voraussetzungen und die Zukunftsfähigkeit moderner Lebensformen grundsätzlich infrage stellt (Gesing u. a. 2019; Descola 2011 und 2014). Stimmt diese Diagnose, dann haben sich die HAS inzwischen von einem esoterischen Randthema in den Kernbereich kulturwissenschaftlicher Problemstellungen vorgearbeitet. 1.3 Jenseits der interdisziplinären Struktur und der lebenspraktischen Relevanz von Cultural Turns lässt sich ein dritter Aspekt ins Zentrum rücken: Sofern sie erfolgreich sind, betreffen und transformieren sie stets auch die theoretischen Grundlagen kulturwissenschaftlicher Disziplinen. Im Mittelpunkt steht im Fall der HAS die Frage, ob sich die gewöhnlich stark anthropozentrisch geprägte
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enkstruktur tradierter Kulturwissenschaften um Perspektiven erweitern lässt, die D – im Sinne einer Kulturwissenschaft des Lebendigen2 – der Bedeutung von Tieren stärker gerecht werden. Vollzieht sich also in den verschiedenen Strömungen der Mensch-Tier-Forschung ein grundlegender Wandel des kulturwissenschaftlichen Denkens, der es nahelegt, von einem Animal Turn zu sprechen? Zur Herleitung und Begründung dieser Ausgangsfrage ist zunächst etwas weiter auszuholen. Why Look at Animals? – Warum sehen wir Tiere an?, so lautete der Titel eines Essays, den der britische Kulturwissenschaftler und Künstler John Berger im Jahre 1980 in der Aufsatzsammlung About Looking veröffentlichte (Berger 1980 bzw. in deutscher Übersetzung Berger 2015). Dieser Text besitzt bis heute großen Einfluss auf die Mensch-Tier-Forschung, weil er die Geschichte der visuellen Wahrnehmung und der kulturellen Symbolisierung von Tieren in den Mittelpunkt kulturwissenschaftlicher Betrachtungen rückte und von ihnen ausgehend auf die sozialen Praktiken und den historischen Wandel von Mensch-Tier-Verhältnissen schloss. Anhand der Repräsentationsgeschichte von Tieren unterschied Berger seinerzeit – grob zusammengefasst – zwei Stadien des Mensch-Tier-Verhältnisses: Von der Steinzeit bis zum Ende der Vormoderne kam Tieren zunächst die Rolle eines existentiellen Gegenübers des Menschen zu, was in den frühen Höhlenmalereien (Guthrie 2005) ebenso seinen Ausdruck fand wie später in den hochkulturellen Mythologien, Religionen und Künsten (Zerling/Bauer 2012; Linzey 2009; Remele 2018), mit den Worten Bergers: „Das Tier befand sich zusammen mit dem Menschen im Zentrum der Welt“ (Berger 2015, 163). Der amerikanische Paläoanthropologe Paul Shepard hat in seinem Buch The Others. How Animals Made Us Human anhand der Frühgeschichte der Mensch-Tier-Beziehung gezeigt, in welcher ko-evolutionären Konstellation sich der Homo Sapiens in einer gemeinsam mit den Tieren bevölkerten Welt zum modernen Menschen entwickelt hat. Menschen sind – so seine These – in der symbiotischen Beziehung mit Tieren überhaupt erst zu Menschen geworden: Our species and our best observers emerged in watching the Others, participating in their world by eating them and being eaten by them, suffering them as parasites, wearing their feathers and skins, making tools of their bones and antlers, and communicating their significance by dancing, sculpting, performing, imaging, narrating, and thinking them. (Shepard 1996, 11)
2Auf
den Begriff des Lebendigen zielt z. B. auch die Strömung der „Animate History“ als einer erweiterten Geschichtswissenschaft, die um die Bedeutung der Tiere weiß und sie heuristisch und epistemologisch in Rechnung stellt (Krüger u. a. 2014). – Nimmt man die Kategorie des Lebendigen ernst, befindet sich jedoch bereits ein neuer Turn in Wartestellung, der hier nur angedeutet werden kann. Demnach handele es sich bei dem „Zoozentrismus“ des Animal Turn ebenfalls – wie bereits im Falle des von ihm attackierten Anthropozentrismus – um eine „epistemologische Unzulänglichkeit“, indem er die Bedeutung der Pflanzen für die Reproduktion menschlicher Lebensformen unterschlägt. Daher sei er durch den nun anstehenden Plant Turn (Coccia 2018, 15 f., 155) zu erweitern, um zu einer epistemologisch tragfähigen „anthropology beyond the human“ zu gelangen (Kohn 2013).
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Noch die öffentlichen Tierprozesse des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in denen Tieren wegen des Verstoßes gegen die soziale Ordnung der Prozess gemacht wurde, künden in vermittelter Form von dieser vormodernen, durch Menschen und Tiere gleichermaßen repräsentierten Welt (Dinzelbacher 2006; Fischer 2005). Die zweite Phase des Bergerschen Periodisierungsmodells begann, als mit der cartesianischen Umdeutung von Tieren zu seelenlosen Automaten sowie mit den Rationalisierungsprozessen des entstehenden Kapitalismus die ursprüngliche Gemeinschaft von Menschen und Tieren zerbrach (zur Ideengeschichte von Tieren im menschlichen Denken vgl. Linnemann 2000; Ingensiep/ Baranzke 2008; mit besonderem Blick auf die Scala Naturae und die Chain of Beings in der Frühen Neuzeit vgl. Feuerstein-Herz 2007). In der Folge schieden Tiere als wesentliche Bezugsfiguren aus dem „innersten Kreis der menschlichen Umgebung“ aus (Berger 2015, 163). Sie wurden stattdessen zu anonymen, kulturell bedeutungslosen Randfiguren moderner Gesellschaften, die entweder in ihrer exotischen Wildheit in Wunderkammern, Menagerien und Zoos (Ash 2008; Baratay/Harduin-Fugier 2000; Reinert 2016; Rothfels 2002) ausgestellt, als Konkurrenten bei der Erschließung von Lebensräumen und natürlichen Ressourcen verdrängt und ausgerottet (Isenberg 2000), oder aber als Nutztiere in Zuchtbetrieben oder Schlachthäusern gesellschaftlich exterritorialisiert wurden (Carlson 2001; Burt 2006). Auf der einen Seite gerieten sie zur bloßen Ware innerhalb eines industriell durchrationalisierten und auf Effizienz getrimmten Kreislaufs von Züchtung, Mast, Schlachtung und Verbrauch (Wolfschmidt 2016). Auf der anderen Seite gelang ihnen der Aufstieg zu Pets (Fudge 2008; Grier 2006), d. h. zu emotional aufgeladenen Haus- und Gefährtentieren (Buchner-Fuhs 1998), sofern sie von Menschen als Luxusgüter bzw. als Objekte der Zuneigung und Liebe (Baranzke 2004; Eitler 2014), des Vergnügens oder sportlicher Ambitionen (Schmitz 2018b) anerkannt wurden. Während Tiere bis in die Vormoderne im Zentrum der menschlichen Welt standen, sind sie heute an den Rand gerückt. Die Tiere, die uns in evolutionsgeschichtlicher Perspektive nicht zuletzt aufgrund ihrer Unersetzlichkeit im Prozess gesellschaftlicher Arbeit und Reproduktion erst zu Menschen gemacht haben, stehen nicht mehr für sich selbst. Sie sind nur noch Zeichen für den Menschen und nicht mehr in ihrer gleichzeitigen Gleichheit und Ungleichheit Wesen eigenen Rechts (Borgards 2015, 162). Zuletzt hat Ulrich Raulff diesen Funktionsverlust von Tieren in seiner Studie Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung rekonstruiert: als einen Abstieg des Pferdes vom unverzichtbaren Arbeits- und Nutztier, ohne das die Ausbildung komplexer staatlicher Strukturen, das Führen von Kriegen und die Entstehung von Großreichen weltgeschichtlich unmöglich gewesen wären, zu einem ‚nutzlosen‘ Luxusgut und Sportgerät. In diesem Sinne nennt er das Pferd auch einen „Besiegten der jüngsten Geschichte“. Sein Abstieg besiegelt das Ende der agrarisch geprägten Welt, in dem sich einer der dramatischsten Brüche menschlicher Geschichte seit der neolithischen Revolution verbirgt. Der sechstausendjährige kentaurische Pakt endete endgültig im 20. Jahrhundert und
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F. Jaeger während die eine Partei, der menschliche Teil der alten Allianz, kurzlebige Bündnisse mit Maschinen aller Art, Automobilen, Flugobjekten und mobilen Rechnern, einging, wechselte die andere als Sport- und Therapiegerät, Prestigesymbol und Assistenzfigur der weiblichen Pubertät in den historischen Ruhestand. (Raulff 2015, 11 f. und 17)
Sind jedoch die aktuellen kulturwissenschaftlichen Debatten zum Verhältnis zwischen Menschen und Tieren ein Indiz dafür, dass Bergers Zweiphasenmodell des Mensch-Tier-Verhältnisses durch eine dritte Phase ergänzt werden muss? Erlauben sie einen neuen Blick auf den Stellenwert von Tieren in menschlichen Gesellschaften, indem sie die Frage aufwerfen, inwieweit sich Tiere nicht allein als ‚Objekte‘ menschlicher Interessen und Projektionen, sondern auch als ‚Subjekte‘, d. h. als moralisch zählende Wesen begreifen lassen (vgl. zur Bedeutung von Eigennamen und Porträts von Tieren in diesem Zusammenhang den Beitrag von Thomas Macho in diesem Band; vgl. ferner Raspé 2013), denen bestimmte Rechte zustehen, die auf unverwechselbare Weise mit Menschen interagieren und einer erneut verflochtenen Welt von Menschen und Tieren angehören (Baranzke 2014; Brensing 2013; Schmitz 2018a; Ullrich 2008; vgl. hierzu auch die Beiträge von Baranzke, Raspé, Steiner und Wild in diesem Band)? Derartige Fragen der HAS betreffen in mehreren Hinsichten die theoretischen Grundlagen der Kulturwissenschaften. Fünf Gesichtspunkte seien im Folgenden näher erläutert.
2 Die Ebene der kulturwissenschaftlichen Ontologie Ein wichtiger Aspekt betrifft zunächst die Frage einer kulturwissenschaftlichen Ontologie: Die Geschichte der Geistes- und Kulturwissenschaften zeigt sich bis heute geprägt durch die anthropozentrische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur (Koschorke 2009; zu den Denkformen des Anthropozentrismus vgl. Steiner 2005; Welsch 2015; vgl. ferner die Beiträge von Roland Borgards, Gary Steiner und Wolfgang Welsch in diesem Band). Auf dem Höhepunkt der historistischen Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert heißt es bei Johann Gustav Droysen in diesem Sinne: Nicht die Natur hat Geschichte, aber sie wird geschichtlich, […] wo der Mensch hinkommt mit seiner Qual. Also die Eigenschaft, Stoff für unsere Wissenschaft zu sein, finden wir da, wo die Dinge das Gepräge von Menschenhand und Menschengeist erhalten haben, wo sie gleichsam durch die menschliche Persönlichkeit hindurchgegangen, in den Bereich ihres Wollens und Erkennens gezogen, gleichsam von der ätzenden Schärfe des menschlichen Geistes, wie flüchtig immer, berührt worden sind. Geschichtlich interessiert uns an ihnen nichts als eben diese menschliche Signatur, die ihnen gegeben ist. (Droysen 1977, 13)
Das Ende des Historismus hat an dieser Denkfigur im Prinzip nichts geändert, vielmehr ist sie mit Max Webers Kulturbegriff zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf einflussreiche Weise erneuert worden. So heißt es in seiner Wissenschaftslehre:
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„;Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens“ (Weber 1985, 180). Und über Weber hinaus ist diese Unterscheidung zwischen einer sinnhaften, wertbesetzten und bedeutungsvollen Sphäre der Kultur und einer in sich sinn-, wert- und bedeutungslosen Natur bis heute gültig geblieben (Descola 2011 und 2014). Die sich mit dem Ausbruch des Anthropozäns (Renn/Scherer 2015), bzw. mit dem Beginn der Industrialisierung dramatisch verschärfenden Umwelteinflüsse menschlichen Handels stellen jedoch die Degradierung der Natur zu einer „sinnlosen Unendlichkeit“ und damit zu einer unbeschränkt instrumentalisierbaren Sphäre infrage. Die kulturwissenschaftliche Bedeutung dieses Vorgangs ist erheblich, was sich im Rahmen eines begriffsgeschichtlichen Exkurses zur Entstehung des Kulturbegriffs näher erläutern lässt (ausführlicher hierzu Jaeger 2008 mit den entsprechenden Nachweisen): Eine Gemeinsamkeit bisheriger Kulturbegriffe bestand – bei allen Unterschieden im Einzelnen – darin, dass die am Anfang aller Kultur stehende Aneignung der Natur durch den Menschen als uneingeschränkt legitim galt. Seit seiner Entstehung in der römischen Antike verwies der Begriff cultura auf diejenigen Elemente der Wirklichkeit, die nicht von Natur aus existieren, sondern durch Menschen hervorgebracht werden. Das lateinische Verb colere sowie seine Substantivierungen in Form von cultus oder cultura meinten im Kontext der römischen Agrargesellschaft ursprünglich die landwirtschaftliche Bearbeitung von Land (cultura agri), die Pflege des Gartens (horti cultura) oder eben die Domestikation und Zucht von Tieren (animal agricultura). Mit diesen Tätigkeiten wurde die natürliche Welt menschlichen Zwecken unterstellt. Erst später weitete sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs cultura auch auf die geistige Ebene aus, so dass Kultur zunehmend als Einheit materieller und ideeller Faktoren der menschlichen Lebensführung verstanden wurde. Ciceros Begriff der cultura animi belegt diese Erweiterung des semantischen Feldes, wobei sich drei Übertragungsbereiche ausmachen lassen: Zum einen kommen Aspekte der Erziehung und Persönlichkeitsbildung ins Spiel, die den griechischen Gedanken der paideia aufgreifen. Ferner erweitert sich der Bedeutungsgehalt auf den Bereich von Tugenden, Wissenschaften und Künsten, die der Normierung und Verfeinerung von Lebensformen oder aber der Gewinnung von Wissen dienen. Und nicht zuletzt gewinnt Kultur auch eine religiöse Dimension und erstreckt sich auf die rituelle und kultische Verehrung der Götter. Diese Entwicklungen verweisen auf die Vorstellung, dass Geschichte als Kulturprozess in dem Moment beginnt, in dem der Mensch anthropozentrisch die Natur seinen Interessen anverwandelt und daraus einen Nutzen zieht, der ihm erst die Entwicklung größerer staatlicher und gesellschaftlicher Gebilde ermöglicht. In diesem Sinne nannte Marx in der Deutschen Ideologie die zielgerichtete Produktion des materiellen Lebens die „erste geschichtliche Tat“ des Menschen (Marx/Engels 1969, 28). Angesichts der dramatischen Gegenwartserfahrungen anthropogener Umweltkrisen und einer die Grundlagen menschlicher Lebensformen im Zeichen des
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Klimawandels insgesamt infrage stellenden Naturzerstörung verliert jedoch diese bislang kulturkonstitutive Legitimität menschlicher Naturaneignung offenbar an Plausibilität. Sie erweist sich in ihrer bisherigen Form als nicht fortsetzungsfähig und es gibt Anzeichen dafür, dass dies für den Kulturbegriff nicht folgenlos bleibt. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine Konjunktur von Theorieansätzen beobachten, die die Grenzen zwischen Natur und Kultur, Subjekt und Objekt, Menschen und Dingen neu ausloten. In den vergangenen Jahren sind von Bruno Latour und anderen Vorstellungen einer politischen Ökologie entwickelt worden, die den Tieren und den Dingwelten der Natur in ihrem Verhältnis zur menschlichen Kultur eine neue Bedeutung beimessen (Latour 2018). Im Zentrum dieser Ansätze steht die Frage, wie sich „Natur und Gesellschaft, Menschen und Nichtmenschen, Individuen und Kollektive zu einem neuen Gefüge zusammensetzen lassen“ (Descola 2014, 11). An die Stelle tradierter Subjekt-Objekt-Dualismen tritt die relationale Vorstellung eines Netzwerks von Menschen und nichtmenschlichen Wesen, die in Interaktionsbeziehungen zueinander mit verteilten Rollen stehen – mit den Worten Latours: Ich wollte den alten Gegensatz von Subjekt und Objekt hinter uns lassen. Der isolierte Geist und die kalten, toten Dinge, das ist eine Unterscheidung, die sich Descartes, Kant und der modernen Wissenschaft verdankt, aber sie ist überholt. Die Dinge sind zu Hybriden, zu Mischwesen geworden. Menschen und Dinge sind ja ineinander verschränkt. Wir hängen von ihnen ab, sie wirken auf uns ein. Und bilden mit uns gemeinsam Kollektive. (Latour 2000, 3)
Ähnliche Vorstellungen machen sich im Bereich der Geschichtswissenschaften bemerkbar. Dafür stehen die bereits erwähnten Bestrebungen, den Anthropozentrismus in Richtung einer Animate History, einer Geschichte des Lebendigen zu transformieren, die die Natur nicht mehr als das Andere der Kultur ausgrenzt, sondern inkludiert (Krüger u. a. 2014). Auch die Literaturwissenschaftlerin Eva Horn verbindet in Anknüpfung an den Begriff des Anthropozäns die Erfahrung aktueller ökologischer Krisen mit der Idee einer neuen kulturwissenschaftlichen Ontologie: Denken im Bewusstsein des Anthropozäns muss […] darauf zielen, menschliche Lebensformen und nichtmenschliches Sein als gemeinsamen Zusammenhang zu verstehen. Klimapolitik oder Schutz von Artenvielfalt im Anthropozän sind dann nicht mehr nur Ziele, die dazu dienen, die Lebenswelt des Menschen dauerhaft zu bewahren oder zukünftige Kosten zu vermeiden […] Vielmehr muss eine sinnvolle Klimapolitik die nichtmenschliche Welt der Lebewesen, der Landschaften, des Klimas, der Ozeane und der Wasserzyklen zu eigenständigen Werten erklären, die in sich schutzwürdig sind“ (Horn 2017, 14)
Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Bedeutungsaufladung der Natur zu einer Wertsphäre eigenen Rechts nicht nur die Grundlagen gesellschaftlicher Naturverhältnisse (Laux/Henkel 2018), sondern auch den Kulturbegriff der Kulturwissenschaften auf grundlegende Weise erweitert und transformiert.
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3 Auswirkungen auf die kulturwissenschaftliche Epistemologie Darüber hinaus berühren die HAS unter zwei Gesichtspunkten die epistemischen und epistemologischen Grundlagen der Kulturwissenschaften. Der eine Aspekt betrifft die tierphilosophische Frage nach dem „Geist der Tiere“ (Perler/Wild 2005a; Lurz 2009; Andrews/Beck 2018) und die damit verbundenen Konzepte anthropologischer Differenz (vgl. hierzu die Beiträge von Roland Borgards und Markus Wild in diesem Band; aber auch Wild 2006 und 2016). Als Ergebnis wissenschaftlicher Forschung breitet sich derzeit die Einsicht aus, dass Tiere über eine komplexere kognitive, subjektive und soziale Welt verfügen, als uns bislang bewusst war (Bekoff u. a. 2002). Bisher dominierende Unterscheidungen zwischen Menschen und Tieren, die kategorisch auf das Fehlen von Sprache und Vernunft (vgl. dazu die Textsammlung von Schütt 1990); von Selbstbewusstsein und Autonomie; von Leidens- und Empfindungsfähigkeit; von Reziprozität und Moral; von Sterblichkeitswissen und Geschichtsbewusstsein und nicht zuletzt von politischem Handeln und gesellschaftlicher Solidarität auf der Seite der Tiere verweisen, weichen zunehmend neuen Konzepten einer Scala Naturae, die Tiere stärker in den Horizont unserer politischen, sozialen und moralischen Welt einbeziehen. Nüchtern konstatiert der Neurobiologe Randolf Menzel, der viele Jahre zum „Geist der Biene“ geforscht hat: „Früher haben Menschen zwischen sich selbst und den Tieren ein sehr steiles Gefälle gesehen. Heute erscheint uns dieser Niveauunterschied geringer. Und folglich erweitern wir den Geltungsbereich unserer Moral“ (Menzel 2015, 28). In solchen Positionen kommt zum Ausdruck, dass auch in den HAS die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren keineswegs negiert werden. Jedoch dominiert nicht mehr die kategorische Unterscheidung von Mensch und Tier im Singular, die dann nachträglich durch das Zugeständnis einzelner Parallelen entschärft wird. Vielmehr liegt der Akzent auf den gemeinsamen evolutionsgeschichtlichen Ursprüngen und einer sich daraus ergebenden grundsätzlichen Ähnlichkeit von Menschen und Tieren auf vielen Ebenen – eine Ähnlichkeit, die dann als Kontrastfolie konkreter Unterscheidungsoperationen dienen kann und im Lichte fortschreitender empirischer oder experimenteller Forschung revidierbar bleibt (vgl. hierzu den Beitrag von Markus Wild in diesem Band). Die anthropologische Differenz im Singular wird auf diese Weise zu einer Vielfalt von Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen Menschen und Tieren pluralisiert. Aus dem scharfen Schwert der einen Differenz wird ein erfahrungsoffenes Konzept und flexibles Netz einzelner Differenzierungen (vgl. hierzu den Beitrag von Roland Borgards in diesem Band). Aus Sicht der HAS ist es daher von entscheidender Bedeutung, „nicht von vornherein eine Kluft zwischen Tieren und Menschen aufzureißen und den Tieren prinzipiell einen Geist abzusprechen. Die entscheidende Frage sollte nicht lauten, ob Tiere einen Geist haben, sondern welche Art von Geist sie haben“ (Perler/Wild 2005b, 73 f.).
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Während dieser Aspekt der anthropologischen Differenz vor allem die geistigen, kulturellen oder moralischen Fähigkeiten von Tieren betrifft, bezieht sich der zweite Aspekt einer neuen kulturwissenschaftlichen Epistemologie eher auf unser Wissen über Tiere. Hier geht es also um den mit den HAS verbundenen Wandel der Denkstile sowie um die Vielfalt der Forschungsprogramme (Böhnert u. a. 2016), die nicht allein in den klassischen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, sondern darüber hinaus in den Bio- und Agrarwissenschaften (Hoy 2009; Busch/Kunzmann 2005), aber auch in der Verhaltens- und Kognitionsforschung (Andrews 2015) an Bedeutung gewinnen. Auch diese epistemologischen Entwicklungen und Milieus mit ihren diversen Akteuren werden im Kontext der HAS derzeit reflektiert und zu konkreten interdisziplinären Forschungsdesigns ausgearbeitet.
4 Methodische und methodologische Konsequenzen Dies verweist bereits auf die methodischen bzw. methodologischen Fragen, die insbesondere die Ebene der kulturwissenschaftlichen Heuristik und die empirische Arbeit mit den Quellen betreffen (vgl. hierzu den Beitrag von Mieke Roscher in diesem Band). Welche neuen Quellenbestände lassen sich im Kontext der HAS erschließen bzw. auf welche Weise lassen sich alte Quellen auf neue Weise zur Sprache bringen? Verbindet sich mit ihnen überhaupt eine neue Methodologie des kulturwissenschaftlichen Denkens, die es erlaubt, das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren neu in den Blick zu rücken?3 Methodisch unumstritten dürften in diesem Zusammenhang Forschungsansätze sein, die die Beziehungen zwischen Menschen und Tieren als ein innovatives Forschungsfeld in den klassischen Themenkanon der Kulturwissenschaften integrieren. Dabei geht es etwa um die Symbolisierung von Tieren in Religion und Künsten (vgl. hierzu die verschiedenen Beiträge in Borgards 2016, 195–270; ferner Zerling/Bauer 2012; Jacob-Friesen 2011); ferner um ihre Rolle in den Medien (Rieger 2016; Zahlmann 2014) und in der politischen Ikonographie (von der Heiden/Vogl 2007); um die emotionale Bedeutung der Gefährtentiere; und nicht zuletzt um den Stellenwert von Nutztieren (Nieradzik 2016; Nowosadtko 1998) in der Landwirtschaft bzw. im Krieg (Pöppinghege 2009), bei der menschlichen Eroberung der Natur oder bei der Entstehung von Staaten und Imperien. In diesen Kontext gehört auch die bereits erwähnte weltgeschichtliche Bedeutung des Pferdes (Raulff 2015), die Reinhart Koselleck dazu veranlasst hat, eine Periodisierung der menschlichen Geschichte in ein Pferdezeitalter sowie in dessen Vor- und Nachgeschichte vorzunehmen (Koselleck 2005, 161). Auch bei Kosellecks Theorem der „Sattelzeit“ liegen die hippologischen Hintergründe auf
3Zu
den „Methoden interdisziplinärer Tierforschung“ siehe inzwischen: Forschungsschwerpunkt „Tier-Mensch-Gesellschaft“ 2016 sowie Böhnert u. a. 2016.
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der Hand, handelte es sich doch in der ursprünglich militärischen Bedeutung des Terminus um diejenige Zeitspanne, die es für das Satteln der Pferde braucht, bis der Ritt – in diesem Falle also der Aufbruch der neuzeitlichen Schwellengesellschaften Europas in die Moderne – losgehen konnte. Kontroverser wird es jedoch, wenn sich die Mensch-Tier-Forschung jenseits repräsentationstheoretischer Ansätze neu aufzustellen versucht, um Tiere nicht mehr zu „glücklosen Trägern symbolischer Projektionen“ (Latour 2007, 25) zu degradieren, sondern als Subjekte aus Fleisch und Blut sowie als Beteiligte geschichtlicher Prozesse zu begreifen. In diesem Falle geht es um die Frage, ob die Speziesschranke des kulturwissenschaftlichen Denkens überwunden und die damit verbundene Grenze zwischen Natur und Kultur methodisch verschoben werden kann. Historisch gesehen war die Unterscheidung zwischen Kultur und Natur schon immer im Fluss. Die Grenze zwischen ihnen – und damit die methodische Trennung von Sciences und Humanities – erweist sich bis heute als ein umkämpftes Terrain mit ständigen Grenzverschiebungen (Koschorke 2009). Ein gutes Beispiel dafür bietet die Geschichte des historischen Denkens. Hier lassen sich Geländegewinne der Kultur verzeichnen, indem in verschiedenen Schüben Phänomene der ‚Natur‘ zu solchen der ‚Kultur‘ methodisch transformiert und damit gewissermaßen ‚humanisiert‘ worden sind – z. B. in Gestalt von Barbaren, Sklaven, Frauen, Unterschichten oder den sogenannten ‚Völkern ohne Geschichte‘ (Wolf 1986), denen erst im Zuge historiographisch umkämpfter Innovationen der Status geschichtlicher Akteure und vollwertiger Kulturwesen zugestanden worden ist.4 Diesen Tendenzen der Kulturalisierung standen jedoch stets Bestrebungen einer Naturalisierung von Mensch, Kultur und Gesellschaft gegenüber. Dies zeigen nicht allein die materialistischen und positivistischen Strömungen des 19. Jahrhunderts, sondern auch die Debatten des 20. Jahrhunderts um Soziobiologie, Hirnforschung und Willensfreiheit (Wilson 1975; Pauen/Roth 2008). Die HAS stellen diese fließende Grenze zwischen Natur und Kultur erneut auf den Prüfstand, indem sie das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren in den Fokus rücken. Lässt sich also eine Mensch-Tier-Forschung realisieren, die Tiere nicht als bloße Objekte menschlicher Anthropomorphisierungen (vgl. dazu Daston/Mitman 2005 sowie den Beitrag von Roland Borgards in diesem Band), Nutzungsinteressen (Grimm 2012), Repräsentationen (Rothfels 2002) und Erzählungen versteht, sondern als Akteure eigenen Rechts im Rahmen einer gemeinsamen, miteinander verflochtenen Geschichte? Die Zeitschrift History and Theory hat diese Frage mit einem Band zu dem Thema Does History need Animals? (History and Theory 2013) inzwischen theoriefähig gemacht und aus unterschiedlichen methodischen Perspektiven beleuchtet.
4Ähnlich argumentiert Anne Peters mit Blick auf die „Verschiebung der juristischen Grenze“ in der Rechtsgeschichte sowie auf die damit verbundene Entwicklung des „human-animal gap“ (Peters 2015).
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Die Gegenfrage dazu würde jedoch lauten: „Do Animals need History?“ und sie verweist auf das methodische Problem, dass sich Tiere bekanntlich nicht am Diskurs der Kulturwissenschaften beteiligen und daher auch sich und ihre Geschichte nicht selbst erzählen können. Damit stellt sich die Frage, wie ihnen im Rahmen eines Animal Turn stellvertretend eine Stimme und Bedeutung zu geben ist, die die Schwelle zwischen Natur und Kultur und den damit notwendig verbundenen Anthropozentrismus zwar nicht aufhebt, jedoch reflexiv zur Geltung bringt (vgl. hierzu die Beiträge von Roland Borgards und Markus Wild in diesem Band, die eine ähnliche Unterscheidung zwischen einem epistemologischen und einem substanziellen Anthropozentrismus vornehmen) und damit auch Tieren als nicht sprachfähigen Wesen eine kulturelle Signatur verleiht. Ein methodisches Angebot dazu könnte aus dem Kontext der Disability Studies (Waldschmidt 2017 und 2020) kommen, wo anhand von Menschen mit Behinderungen entsprechende Konzepte einer Sichtbarmachung des Ausgegrenzten, einer stellvertretenden Versprachlichung von Interessen und einer treuhänderischen Wahrnehmung von Rechten entwickelt werden. Die Frage, ob sich derartige Konzepte auch für eine Kulturwissenschaft des Lebendigen und für eine Integration von Tieren in die Welt der Kultur methodisch fruchtbar machen lassen, stellt eine aktuelle Herausforderungen der HAS dar (vgl. hierzu bereits die Überlegungen in Donaldson/ Kymlicka 2013, 136–142).
5 Handlungs- und sozialtheoretische Implikationen Die Frage, wie sich Tiere jenseits ihres bloßen Objektstatus kulturwissenschaftlich denken lassen, betrifft ebenfalls die Ebene der Handlungs- und Sozialtheorie (vgl. hierzu den Beitrag von Rainer Wiedenmann in diesem Band sowie bereits Wiedenmann 2009). Auf ihr entscheidet sich, inwieweit Tieren Handlungsmächtigkeit und Interaktionsfähigkeit zuerkannt werden kann (Roscher 2016 und 2018). Inzwischen existieren vielfältige Versuche, Tieren in ihrer Relation zu Menschen eine anspruchsvollere Bedeutung als Akteuren und Interaktionspartnern einzuräumen als bisher (Böhm/Ullrich 2019). Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang die bereits erwähnte Akteur-Netzwerk-Theorie mit ihrer Intention, „Objekte zu Beteiligten einer Handlung [zu] machen“ (Latour 2007, 123; vgl hierzu auch Knappett/Malafouris 2008; Roßler 2016). Im Zentrum seiner Sozialtheorie stehen nicht mehr sinnhafte und intentionale Handlungen von Menschen, sondern Wirkungsketten zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren, die sich zu ‚symmetrischen‘ Handlungskollektiven vergemeinschaften (Latour 2008; vgl. hierzu auch Despret 2013). Auch Hartmut Böhmes Versuch, in der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe des Fetischismus zu einer, wie er es nennt, „anderen Theorie der Moderne“ zu gelangen, liegt ein Verständnis des Sozialen zugrunde, das die tradierten Dichotomien von Natur und Kultur, von Subjekt und Objekt zu überwinden sucht, indem sie die Grenzen eingeschliffener handlungs- und gesellschaftstheoretischer Denkmuster benennt:
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Unsere Handlungstheorien gehen durchweg davon aus, dass Handlungen als motivierte und intentionale Aktionen Subjekten zugerechnet werden können, die ihrerseits in intersubjektiven Verflechtungen leben, in deren Kontext sie ihre Motive, Interessen und Rechtfertigungen von Aktionen aushandeln können […]. Handlung ist ein Humanprivileg. Es hat Vergesellschaftung zur Voraussetzung und zur Folge – und zur Gesellschaft gehören nur solche Entitäten, die bewusst, intentional und multioptional handeln können, als Subjekte adressierbar und Personen sind, also Menschen. In Gesellschaft – ‚unter uns‘ – haben Tiere, Apparate, Dinge, Einrichtungen, weil sie nicht über Personalität verfügen, nichts zu sagen. Gesellschaft ist immer human society. (Böhme 2006, 73)
Auch Tim Ingolds Intention einer „anthropology beyond humanity“, die Tiere zu „sentient beings engaged in the tasks of carrying on their own lives“ aufwertet (Ingold 2013, 5), zielt in eine ähnliche Richtung. Tiere sind demnach nicht mehr allein ‚für uns‘, wie es der uns vertraute anthropozentrische Standpunkt tradierter Kulturwissenschaft will, sondern ‚an und für sich selbst‘. Sie werden nicht allein als Subjekte ihres Lebens, sondern auch als Teilhaber einer gemeinsamen Welt von Menschen und Tieren wahrnehmbar. Der von Donna Haraway und anderen geprägte Begriff der Companion Animals oder auch der Companion Agents (Haraway 2003; Despret 2013) bringt diese Formen „humanimalischer Sozietät“ (Wiedenmann 2009) konzeptionell zum Ausdruck. In zahlreichen Einzelstudien zu verschiedenen Tierarten ist diese miteinander verflochtene Geschichte zwischen Menschen und Tieren bereits herausgearbeitet worden (vgl. exemplarisch Cockram/Wells 2018; speziell zum Verhältnis zwischen Menschen und Vögeln vgl. den Beitrag von Hans-Werner Ingensiep in diesem Band). Die heuristischen Perspektiven, aber auch die konzeptionellen Probleme einer solchen gemeinsamen Geschichte des Lebendigen herauszuarbeiten, gehört ebenfalls zu den intensiv diskutierten Aufgaben der HAS (Burns/Paterson 2014).
6 Moralphilosophische Folgen der neueren Tierrechtsdebatte Der letzte Aspekt betrifft schließlich die moralphilosophischen und tierrechtlichen Diskussionen, die derzeit im Kontext der Mensch-Tier Forschung geführt werden (Ach/Borchers 2018; Grimm/Wild 2016; Schmitz 2014; vgl. hierzu auch die Beiträge von Carolin Raspé, Bernd Ladwig und Gary Steiner in diesem Band). In ihnen wird das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren unter fünf Gesichtspunkten neu bedacht, die sich in den vergangenen Jahren gewissermaßen als die Big Five der neueren Tierethik herauskristallisiert haben: Erstens stehen die moralischen Implikationen der erwähnten Vorstellungen anthropologischer Differenz zur Debatte (Wild 2006 und 2016); zweitens steht die Frage im Raum, in welcher Form und innerhalb welcher Grenzen sich unser Nutzungsanspruch gegenüber Tieren und ihren Lebensräumen rechtfertigen lässt (Schaber 2018; Donaldson/ Kymlicka 2013, 224–557; Porcher/Estebanez 2019; Sezgin 2014); drittens kreisen die Debatten um die Leidensfähigkeit von Tieren und die daraus für uns folgenden Pflichten zur Leidensvermeidung und zur Sicherstellung ihres Wohlergehens (Ach
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2018a; Appleby u. a. 2011; Wawrzyniak 2019); im Fokus stehen viertens die moralischen Dilemmata des Tötens von Tieren (Fudge 2006; Visak/Garner 2016) und die damit verbundenen Konsequenzen für unsere Ernährungspraxis (Ach 2018b; Foer 2019); und fünftens schließlich stellt sich die Frage nach den Rechten von Tieren und danach, wie sie menschlicherseits sichergestellt werden können (Diehl u. a. 2019; Ladwig 2020; Raspé 2013; Stucki 2016). Die kontroversen Debatten um diese Fragen weisen darauf hin, dass traditionelle Antworten ihre Evidenz verloren haben und dass aus alten Selbstverständlichkeiten drängende Orientierungsprobleme geworden sind. Unser Verhältnis zu Tieren bedarf daher einer neuen moralischen Rechtfertigung und rechtlich-politischen Begründung. Insgesamt sind die neueren Debatten um Tierrechte sowie um den moralischen Status von Tieren, wie sie durch Peter Singer mit seinem erstmals 1975 erschienenen Klassiker Animal Liberation (Singer 1982) ausgelöst worden sind, durch eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen geprägt (vgl. hierzu auch den Beitrag von Heike Baranzke in diesem Band). Vereinfachend lassen sich jedoch zwei Grundströmungen identifizieren: Auf der einen Seite stehen Positionen, die im Sinne des Antispeziesismus (Denkhaus 2018), also der Überwindung bisheriger Speziesschranken zugunsten eines stärkeren moralischen Egalitarismus, die Unterschiede zwischen Menschen und Tieren abmildern und auf diese Weise eine „nächste Stufe der moralischen Evolution“ erreichen wollen (Brensing 2013). Andere Positionen halten dagegen an der kantianischen Prämisse fest, dass Recht und Moral an die conditio humana und damit an vernünftige, ihr Handeln bewusst reflektierende und normierende Wesen gebunden bleiben. Aus einer solchen Perspektive lassen sich Tiere und andere Phänomene der Natur nicht als Subjekte von Eigenrechten verstehen, vielmehr gehe es darum, eine Bioethik als Fürsorge- und Verantwortungsethik zu konzipieren, die „die Beschränkung der philosophischen Ethiktradition auf symmetrische Beziehungen zwischen Gleichen aufbricht und asymmetrische Beziehungen zwischen hinsichtlich ihrer Vernunftausstattung und […] Moralfähigkeit Ungleichen zu integrieren vermag“ (Baranzke 2009, 28; vgl. hierzu auch Ladwig 2020). Hier taucht erneut das Asymmetrie-Problem auf, das sich bereits unter methodischen Gesichtspunkten abgezeichnet hat. Diese Asymmetrie ist ein Zeichen dafür, dass die HAS nicht etwa, wie ihnen bisweilen unterstellt wird, eine Relativierung des Menschen und seiner Menschenrechte gegenüber den Tieren und ihren Tierrechten betreiben.5 Tierwürde nimmt der Menschenwürde nichts, sondern stützt und erweitert sie, indem sie gerade in der moralischen Anerkennung von Asymmetrien im Sinne eines „expandierenden Humanismus“ (Ingensiep 2006) neue Möglichkeiten von Humanität ermöglicht. Die Frage, wie mit dieser Asymmetrie zwischen Menschen und Tieren moralisch, rechtlich und politisch umzugehen ist und welche Differenzierungen sich dabei vornehmen lassen, lässt sich abschließend am Beispiel der Kontroversen um das Buch Zoopolis von Donaldson und Kymlicka (2013)
5Ausführlicher
zum Verhältnis zwischen Menschenrechten und Tierrechten im Kontext einer „Philosophie der Menschenwürde“ vgl. auch Ladwig 2010.
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erörtern. In Reaktion auf dieses Buch haben sich die tierrechtlichen Debatten in den letzten Jahren auf die Frage staatsbürgerlicher Rechte von Tieren zugespitzt. Verbunden ist dies mit einer stärker politiktheoretischen Ausrichtung der neueren Tierethik, die sich zunehmend auch den konkreten, lebenspraktischen Problemen der Realisierung von Tierrechten zuwendet (Garner/O’Sullivan 2016; Ladwig 2018 und 2020). Angesichts der Kontroversen, die sich an der Frage der Bürgerrechte für Tiere entzündet haben, hat Ladwig eine wichtige Differenzierung vorgenommen. Sie besagt, dass Tieren sinnvoll nur ein Anspruch auf Mitgliedschaft an unserer sozialen, politischen und kulturellen Welt, nicht aber auf staatsbürgerliche Rechte zuerkannt werden kann: Faktisch sind domestizierte Tiere Teil dieses [unseres] Wir, und sie tragen durch ihre Aktivitäten auch zu dessen Beschaffenheit bei. Sie sollten darum auf der Objektseite der Regelungen, die wir für dieses Wir finden, grundsätzlich gleichberechtigt vorkommen. […] Wir und wir allein sind dazu aufgerufen, das Gemeinwesen, dem Menschen und Tiere angehören, möglichst gerecht zu gestalten. Domestizierte Tiere sind keine normativ zurechnungsfähigen Mitgestalter des Gemeinwesens, auf das sie einwirken und in dem sie sich bewegen. Sie sind an dem Gemeinwesen als solchem gar nicht interessiert, weil sie keinen Begriff von ihm haben. Folglich können sie sich auch nicht als dessen Bürger begreifen. […] Das objektive Interesse domestizierter Tiere umfasst nur den Mitgliedschaftsaspekt, nicht auch den Mitgestaltungsaspekt unseres Bürgerstatus. (Ladwig 2014, 43)
Dieser Aspekt der Mitgliedschaft könnte sich schließlich als dasjenige Element erweisen, das die erwähnten fünf Aspekte der HAS miteinander verschränkt. Mit der Frage nach Mitgliedschaft geht es darum, ob und ggf. auf welche Weise sich eine kulturwissenschaftliche Denkform entwickeln und begründen lässt, die sich Tieren gegenüber inklusiv verhält. Doch handelt es sich – um zur eingangs gestellten Frage zurückzukehren – dabei nur um einen kurzlebigen Trend, um ein bloßes Surfen auf der aktuellsten Welle intellektueller Moden, oder aber um einen wirklichen Cultural Turn, der langfristig etwas Grundlegendes in den Kulturwissenschaften bewirkt? Auch wenn sich eine eindeutige Antwort auf diese Frage derzeit vielleicht noch nicht abzeichnet, lässt sich eines bereits sagen: Jenseits der Tradition religiöser Paradiesvorstellungen verkörpert die utopische Denkfigur einer versöhnten Welt der Naturwesen (Borchers 2018; Bruckner/Kallhof 2018) ein tief sitzendes Grundmotiv kulturtheoretischer Überlegungen. Wie heißt es doch bei Friedrich Schiller in seinem Brief an Gottfried Körner vom 23.02.1793: Die Schönheit oder vielmehr der Geschmack betrachtet alle Dinge als Selbstzwecke und duldet schlechterdings nicht, dass eins dem andern als Mittel dient oder das Joch trägt. In der ästhetischen Welt ist jedes Naturwesen ein freier Bürger, der mit dem Edelsten gleiche Rechte hat, und nicht einmal um des Ganzen willen darf gezwungen werden, sondern zu allem schlechterdings konsentieren muss.6
6Schiller
1980, 421. – Ich verdanke die Kenntnis dieses Zitats der Lektüre von Wolfgang Welschs Buch Homo Mundanus (Welsch 2015, 593, Anm. 70).
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Lässt sich der utopische Überschwang dieser biopoetischen Idee versöhnter Naturwesen (vgl. hierzu auch Weber 2018) in konkrete Forschungsperspektiven übersetzen? Nicht zuletzt an dieser Frage dürfte sich die Berechtigung eines Animal Turn in den Kulturwissenschaften entscheiden. Denn die Erfolgsaussichten einer neuen kulturwissenschaftlichen Strömung hängen nicht zuletzt davon ab, inwieweit es ihr gelingt, aktuelle, lebenspraktisch relevante Fragen zu stellen und mit den sich aus ihnen ergebenden Forschungsergebnissen etwas empirisch sichtbar zu machen, was von vorherigen Perspektiven aus nicht sichtbar war. Vor dieser Aufgabe stehen derzeit auch die Human Animal Studies.
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„Theory has gone to the birds … And to apes, dogs, and horses“ Weil 2010, 1
1 Inwiefern könnte ein animal turn für die Kulturwissenschaften nützlich sein? Gehen wir von der Leitfrage der Tagung aus: „Brauchen die Kulturwissenschaften einen Animal Turn?“ Meine Antwort lautet: Schaden kann ein solcher animal turn gewiss nicht. Aber ausreichen wird er auch nicht. Warum das so ist, möchte ich im Folgenden erklären. Zunächst: Warum sollten die Kulturwissenschaften einen animal turn benötigen? Wovon sollte dieser sie befreien? Die Antwort lautet einhellig: vom Anthropozentrismus, von der Anmaßung, in allem vom Menschen ausgehen und alles auf den Menschen zurückführen zu wollen. Schön und gut. Aber die Kulturwissenschaften gehen doch gar nicht vom Menschen aus! Kulturwissenschaft ist doch etwas anderes als Anthropologie! Die Kulturwissenschaften thematisieren die Vielfalt von Kulturen, nicht die Einfalt des Menschen. Allerdings: Gerade so kann durch die Hintertür doch wieder ein Anthropozentrismus hereinkommen, denn Kultur in einem nennenswerten Umfang und kumulativem Modus gibt es nur beim Menschen. Daher feiert die humane Exklusivität, wie die philosophische Anthropologie sie stets proklamiert hat, im Medium der Kulturwissenschaften fröhliche Urständ. Wo alles einer kulturellen Perspektive überantwortet wird, rückt erneut der Kulturtäter par excellence, der Mensch, ins Zentrum.
W. Welsch (*) Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_2
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Das könnte ein animal turn gewiss kurieren. Denn erstens würde dabei deutlich, dass es schon im Tierreich mehr an kultureller Differenzierung und kultureller Findigkeit gibt, als man gemeinhin annimmt (Whiten/Boesch 2001). Zweitens würde man erkennen, dass tierische und menschliche Kulturtätigkeiten keineswegs ganz verschieden sind. In beiden Fällen geht es zunächst um Lebenssicherung unter Risikobedingungen, also um etwas Notwendiges; und in einem zweiten Schritt dann um Luxuriöses, um Optimierung, Capricen und Spleens – man denke nur an die Entwicklung von ästhetischem Sinn und ästhetischen Praktiken im Tierreich, wo in der sexuellen Selektion das Regime der Stärke zunehmend durch das der Schönheit und Extravaganz abgelöst wurde, und an die menschlichen Moden und Kulturevents.1 Drittens käme in den Blick, dass die menschliche Existenz nicht eine von den anderen Lebewesen abgeschottete und separierte Existenz ist, sondern stets die Form einer human-animalischen Koexistenz hat.
2 Der Mensch: konstitutiv mit Tierischem verwoben Zunächst sei der letztere Gesichtspunkt etwas breiter ausgeführt.
2.1 Wir tragen zahlreiche Errungenschaften der animalischen Evolution in uns Wir Menschen kommen aus der Evolution (ausführlich dazu Welsch 2012b sowie in Kurzform Welsch 2012c). Wir sind nicht, wie der Hauptstrom der traditionellen Anthropologie (von Pythagoras bis Scheler) unterstellt hat, vom Himmel gefallen, sondern sind Produkte der Evolution und beruhen insofern auf einer immensen animalischen Vorgeschichte. Jeder von uns bezeugt das. Denn im embryonalen Stadium haben wir alle nicht als Menschlein begonnen, sondern wir sahen zunächst wie ein Fisch aus, dann wie ein Amphibium, daraufhin wie ein Molch oder Salamander, anschließend wie ein säugerähnliches Reptil, und erst Ende der achten Woche ließ sich erahnen, dass ein Mensch im Entstehen ist. Der menschliche Embryo durchläuft in seiner ontogenetischen Entwicklung den gesamten phylogenetischen Weg, der evolutionär zu uns Menschen geführt hat – den Weg von den Fischen über die Amphibien und die Reptilien bis zu den Säugern – im Zeitraffer noch einmal.2 Man sollte sich gelegentlich eine evolutionäre Karte der menschlichen Anatomie vor Augen führen. Auf ihr wären, von einzelnen Teilen unseres Körpers ausgehend, die langen Linien zu verfolgen, die zur Ersterfindung unserer Organe oder
1Charles
Darwin hat dies 1871 in The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex breit ausgeführt. Vgl. dazu Welsch 2012a. 2Vgl. Haeckels „biogenetisches Grundgesetz“ wonach „die Ontogenie […] eine kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenie“ darstellt (Haeckel 1866, 300).
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Fähigkeiten zurückreichen. Da sähe man z. B., dass der Blutkreislauf evolutionär schon vor gut 600 Mio. Jahren erfunden wurde, das zentrale Nervensystem vor 590 Mio. Jahren, die Lungenatmung vor ca. 380 Mio. Jahren und das beidäugig koordinierte Sehen – alles für unser Dasein existentielle Errungenschaften – vor über 220 Mio. Jahren. Andere, für uns ebenso wichtige Erfindungen wie Immunabwehr und Sexualität sind – mit gut 2 Mrd. Jahren – gar noch älter als die genannten. Und von diesen animalischen Ersterfindungen führt eine direkte Linie zu uns Homines sapientes, die wir erst seit ca. 200.000 Jahren existieren. In der Evolution wurde nämlich eine einmal gemachte Erfindung im Allgemeinen nicht noch einmal – etwa kürzer, raffinierter oder effizienter – nachgemacht, sondern sie wurde grundsätzlich beibehalten und in den später entstehenden Individuen erneut ausgeprägt und allenfalls artspezifisch modifiziert. So ist z. B. das Auge in der Evolution nur einmal erfunden worden. Zwar haben sich daraufhin unterschiedliche Typen von Augen entwickelt – etwa das Wirbeltierauge im Unterschied zum Insektenauge –, aber bei allen Lebewesen, die Augen besitzen, beginnt die Augenbildung noch immer durch dasselbe Regulator-Gen, das schon für das Urauge verantwortlich war. – So zehren wir alle von uralten Erfindungen – von animalischen, nicht humanen Erfindungen. Die Phylogenese liegt nicht hinter uns, sondern wohnt uns inne, sie formt noch immer einen jeden von uns. Die alten evolutionären Wege müssen in der Ontogenese eines jeden Individuums deshalb noch immer gegangen werden, weil die stammesgeschichtlich jüngeren Gene, um wirksam zu werden, auf die Expression der älteren Gene angewiesen sind: Diese haben eine unverzichtbare Vorbereitungs- und Stimulationsfunktion für die neueren Gene, daher kann das jeweils nächste Stadium nicht ohne einen phasenweisen Durchlauf des früheren Stadiums erreicht werden. Wir bergen in uns die Hox-Gene von Drosophila, das Kollagen der Quallen, die Lernmechanismen der Schnecken, das Objektwissen der Primaten usw., usf. Wir sind mit diesen anderen Wesen verwandt, wir zehren von ihrer evolutionären Erbschaft.
2.2 Wir Menschen bestehen nicht nur aus Menschlichem, sondern aus einer Vielzahl anderer Lebewesen Aber sind wir dann, wenn erst einmal die Ontogenese und weite Teile unserer Epigenese abgeschlossen sind, sind wir als Erwachsene nicht endlich ganz einfach die Individuen, die wir sind? Natürlich erneut nicht. Und wiederum schon einfachhin biologisch nicht. Man könnte meinen, unsere Identität sei durch das Genom von Homo sapiens und im Besonderen durch den Genmix unserer Eltern bestimmt. Aber unsere Genmatrix ist bei weitem nicht bloß human, sie ist sogar zum größten Teil nicht-human, ist animalisch. Denn wir sind nur im Verbund mit einer Vielzahl von Mikroorganismen lebensfähig. Unzählige Bakterien besiedeln unsere Haut, bewohnen unseren Mund, unseren Darm und selbst unsere Lunge. Eine realistische Betrachtung des Genoms, das uns ausmacht, muss daher auch das Genom dieser Bakterien in Rechnung stellen. Und da sind die Zahlenverhältnisse schier unglaublich.
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Maximal 10 % unseres Hologenoms sind human, der Rest ist bakteriell. Wir bestehen aus etwa 10 Billionen Zellen, aber auf und in uns befinden sich etwa zehnmal so viele Bakterien. Und wenn man die uns ebenfalls bevölkernden Viren hinzunimmt, erkennt man, dass unser Humangenom sogar deutlich weniger als 10 % von uns Menschen ausmacht. Auch unsere DNA ist zum Teil viral geprägt. Ein Fünftel schreibt sich von Viren her, die vor langer Zeit für unsere Vorfahren tödlich waren, bis es gelang, diese infektiösen Elemente als neues und nützliches Erbgut einzugemeinden. Wie menschlich also, oder anders gefragt: wie animalisch sind wir? Wir sind von unserer ganzen evolutionären Genese her animalisch multipel, versammeln die Errungenschaften zahlreicher Lebewesen in uns und zehren davon. Und wir sind buchstäblich nur durch die Symbiose mit zahllosen uns bevölkernden Bakterien und Viren lebensfähig, bedürfen ihrer Kooperation. Wir sind essentiell ein animalischer Verbund. Im Übrigen sind wir nicht nur nicht rein-menschliche, und auch nicht bloß multipel-animalische, sondern sogar kosmisch-anorganische Wesen: 92 Prozent der Elemente, aus denen wir bestehen, wurden in Sternen erzeugt. Wir besitzen nicht nur eine menschliche und eine animalische, sondern auch eine stellare Natur. (Franziskus hatte Recht.)
2.3 Human-animalisches Konkubinat: nicht nur somatisch, sondern auch ökologisch Darüber hinaus sind wir nicht nur an uns selbst, sondern auch in all unseren Umweltbeziehungen mit Tierischem untrennbar verwoben. Unsere Welt ist ein gigantischer Zoo. Lebewesen (zōa) überall. Ein einziges Gramm Erdboden kann bis zu einer Milliarde Bakterienzellen mit einer Diversität von einer Million Arten enthalten. Hinzu kommen Pilze, Nematoden, Protozoen usw. Gehen wir in den für uns sichtbaren Bereich über, so finden wir schier überall Pflanzen. Und natürlich jede Menge an Tieren, von Insekten über Vögel bis hin zu unseren Haustieren und zahlreichen Wildtieren. Der wichtige Punkt ist dabei, dass diese Lebewesen in unserer Umwelt nicht nur vorhanden sind, sondern dass sie Akteure sind, welche die Gestalt dieser Umwelt mitprägen. Sie sind nicht einfachhin neutrale Vorkommnisse in der Umwelt, sondern aktive Gestalter derselben. Alle Lebewesen sind aktiv. Sie sind von ihrer Konstitution her Selbstbetreiber. Und sie können das nur sein, indem sie auf ihre Umwelt einwirken (etwa durch Verbrauch von Umweltressourcen oder durch eine Veränderung ihres Habitats und allgemein durch Interaktionen mit anderen Lebewesen). Auch wir Menschen sind Akteure in diesem großen Verbund, diesem Zoo der Lebewesen. Und wir sind, ebenso wie die anderen Lebewesen, ebenfalls von den Wirkungen und Folgen der Zoo-Gesamtaktivität betroffen. Beispielsweise wurde unsere Existenz (wie die der anderen Atmer auch) nur dadurch möglich, dass vor ca. 2,5 Mrd. Jahren Cyanobakterien anfingen, die Erdatmosphäre mit Sauerstoff aufzuladen (den es vorher nicht gegeben hatte); und
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wir sind heute noch immer auf die Sauerstoffproduktion durch pflanzliche Photosynthese angewiesen. Oder nehmen wir das Beispiel der Korallenriffe: Millionen von nur einige Millimeter großen Steinkorallen scheiden ein Außenskelett aus Kalk ab, und dadurch entsteht ein imposanter neuer Lebensraum für eine Vielzahl anderer Lebewesen (Algen, Schwämme, Seeigel, Garnelen, Krebse, Fische) – und ein Eldorado für menschliche Freizeitaktivitäten (mit all den Ambivalenzen eines Eldorados). Generell: Unsere Umwelten, ja die Gestalt der Erde insgesamt sind weithin ein biogenes Produkt, sind das Ergebnis mannigfacher und miteinander verzahnter Aktivitäten von Lebewesen. Gewiss: Den Anfang hatten, mit der Bildung des Sonnensystems vor ca. 4,6 Mrd. Jahren, kosmische Prozesse gemacht. Aber seit der Entstehung des Lebens (die dann schon sehr früh, nämlich bereits vor nahezu 4 Mrd. Jahren erfolgte) haben auch biotische Effekte das Antlitz der Erde geprägt. Nicht erst der Mensch tut das seit gut 250 Jahren, wie das Schlagwort vom „Anthropozän“ es zum Ausdruck bringt (Welsch 2018), sondern die Erdgeschichte stellt weithin ein „Zoozän“ dar, ist durch die Aktivitäten von Lebewesen mitbestimmt.3 Als (vor ca. 400 Mio. Jahren) die ersten Tiere an Land gingen, hat das die Vegetation drastisch verändert. Oder Tiere spielten bei der Versteppung von Landstrichen eine beträchtliche Rolle. Und noch unsere Kulturgeschichte weist etliche animalische Konditionierungen auf. Hunde haben die Ausbildung der komplexen sozialen Strukturen des Menschen befördert, und selbst die Laus hat einen Beitrag zur Französischen Revolution geleistet (Oeser 2004; Chaline 2014, 158 f.). Wir führen unser Leben also in einer von zahllosen anderen Lebewesen bevölkerten und geprägten Umwelt. Und ebenso, wie wir auf diese Lebewesen einwirken, unterliegen wir auch umgekehrt ihren Wirkungen – von unseren Existenzgrundlagen angefangen (wir können uns nur von anderen Lebewesen ernähren; das gilt, manchmal leider übersehen, selbst für den strengsten Vegetarier) über diverse Annehmlichkeiten (der Gesang der Vögel erfreut uns und hat manche Komponisten von Mozart bis Messiaen inspiriert) bis hin zu diversen Gefahren (Epidemien oder die Tatsache, dass heute Wildschweine in die Randzonen von Städten eindringen). Tiere sind nicht das Andere. Sie sind unsere Symbionten, unsere Gefährten, unsere Mit- oder Gegenspieler, unsere Kohabitanten. Wir alle sind Teil einer einzigen Population – der Gemeinschaft der Lebewesen. Nur scheinbar führen wir unser Leben in einer menschlich abgekapselten Welt; in Wahrheit leben wir in
3„Indeed,
the overall picture that emerges from our planet’s long history is one of interaction between organisms and environments. […] eventually, life expanded and diversified to become a planetary force in its own right, joining tectonics and physical chemistry in the transformation of air and oceans“ (Knoll 2003 5). „[…] life has not evolved on a static planetary surface. Rather, life and environments have evolved together throughout our planet’s history, inexorably linked by the biogeochemical cycles in which both participate“ (ebd., 31). Vgl. auch Lovelock 1979.
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einer Umwelt, die milliardenmal mehr Lebewesen als Menschen umfasst und die ohne deren Aktivitäten eine ganz andere wäre.4 Aus den genannten drei Gründen – weil animalische Errungenschaften unsere Konstitution bestimmen; weil wir somatisch nur im Verbund mit Billionen von Mikroorganismen lebensfähig sind; und weil unsere Welt eine gemeinsame Welt von Menschen und zahllosen anderen Lebewesen und ein Produkt ihrer wechselseitigen Aktivität ist – ist es unmöglich, auch nur halbwegs realistisch vom Menschen zu sprechen, ohne zugleich von vielen anderen Lebewesen zu sprechen. Eine reine Anthropologie wäre eine Sackgasse; Wahrheit kann sie nur im Kontext einer Zoologie erlangen (Wolfe 2003; Böhme u. a. 2004; Daston/Mitman 2005). Wenn wir endlich anfingen, uns solcherart realistisch zu verstehen, also uns unserer vielfältigen animalischen Verbundenheiten nicht nur abstrakt bewusst zu sein, sondern uns konkret und basal demgemäß zu begreifen und zu verhalten, so wäre unglaublich viel gewonnen. Wir wären schon auf uns selbst blickend ganz offen für die animalische Welt. Wir müssten dafür nicht erst ideologische Gräben überspringen und nachträgliche Akrobatik betreiben.
3 Das anthropische Prinzip – die Malaise des modernen Denkens Das traditionelle Denken aber war von einer kategorischen Unterscheidung zwischen Mensch und Tier behext. Schon in der Antike galt die Rationalität als Alleinstellungsmerkmal des Menschen, das ihn absolut über das Tierreich hinausheben sollte.5 Für das neuzeitliche Denken traten Mensch und Tier dann noch weiter auseinander. Die Tiere sollten nämlich nicht einmal mehr animalia, also mit Seele (anima) begabte Wesen, sondern nur noch mechanische Automaten sein. Sie fielen – im Zug der Cartesischen Dichotomie von res cogitans und res extensa – nicht nur aus der Sphäre der Rationalität, sondern noch aus der der Lebendigkeit heraus. So radikal neu war das neuzeitliche Naturverständnis. Aus Natur war, im
4Wie
die tierische Erbschaft noch unsere Kultur durchwirkt, wäre ein eigenes Thema. Hier sei nur eine Äußerung von Wittgenstein erwähnt: „In aller großen Kunst ist ein WILDES Tier: gezähmt“ (Wittgenstein 1984, 502.). 5Aristoteles allerdings konnte sich selbst in Sachen Vernunft gradualistisch äußern: „Auch bei den meisten anderen Geschöpfen nämlich finden sich Spuren seelischer Gesinnung, deren Abwandlungen nur beim Menschen deutlicher hervortreten. Denn auch für Zahmheit und Wildheit, Sanftmut und Gefährlichkeit, Tapferkeit und Feigheit, Furchtsamkeit und Frechheit, Entschlossenheit und List, und für Überlegungen der Vernunft (diánoia) gibt es bei vielen von ihnen ein Gegenstück, wie wir es auch für die Körperteile feststellen konnten. Nur im Grade unterscheiden sie sich vom Menschen und der Mensch von den andern Geschöpfen – manches ist beim Menschen, manches bei den Tieren besser entwickelt –, während für anderes wenigstens Entsprechungen vorliegen“ (Aristoteles, Historia animalium VIII 1, 588 a 18–25). Und Skeptiker wie Sextus Empiricus ebneten den Unterschied zwischen Menschen und Tieren durch die These ein, dass die Erfahrungen und Gegenstände von Lebewesen generell durch ihre arttypische physiologische Konstitution bedingt seien (Sextus Empiricus 1968, 106 [I 54]).
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Unterschied zu den antiken und mittelalterlichen Konzeptionen, welche die Natur als Stätte eines weltlichen oder göttlichen Logos verstanden hatten, ein Reich bloßer Ausdehnung, Materialität, Mechanik geworden – absolut geistlos und noch des klassischen weltlichen Pendants zu Geist, der Lebendigkeit beraubt. Damit war zugleich auf der anderen Seite der Geist (der einst als das innerste Prinzip der Natur gegolten hatte) zu einem strikt naturexternen Prinzip geworden, und infolgedessen war dann auch der Mensch, als das klassische Geistwesen, zum Weltfremdling geworden. Daraus ergab sich schließlich mit Notwendigkeit, was ich das „anthropische Prinzip“ nenne, nämlich das Leitaxiom der Moderne, wonach in allem vom Menschen auszugehen und alles auf den Menschen zurückzubeziehen sei. Diderot hat dieses Axiom 1755 erstmals formuliert: „Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss.“6 Da der Mensch – dem neuen Unverhältnis von Geist und Natur entsprechend – mit der Welt kein gemeinsames Maß hat, kann er gar nicht anders, als in allem von sich selbst auszugehen und alles auf sich zurückzubeziehen. Über einen Sinn der Welt vermögen wir nichts zu sagen. Denn als prinzipielle Weltfremdlinge kennen wir die Welt nicht. Wir können sie nur von uns aus mit Sinn begaben und so eine Welt für uns aufbauen. Daher der tiefsitzende Konstruktivismus des modernen Denkens. Auch die Kulturwissenschaften waren lange Zeit davon betroffen.7 Im Übrigen beachte man, dass diese moderne Position von allen vorangegangenen Versionen des Anthropozentrismus deutlich unterschieden ist. Eine Zentralstellung des Menschen hatte sich antik aus der Ordnung des Kosmos oder mittelalterlich aus Gottebenbildlichkeit und Schöpfungsauftrag des Menschen ergeben – also jeweils von nicht-menschlichen Instanzen (Logos, Gott) her. Das anthropische Prinzip der Moderne hingegen stellt eine gleichsam nackte, eine allein vom Menschen ausgehende und einzig auf die conditio humana gegründete Version von Anthropozentrismus dar. Natürlich ist dieser Anthropismus dann auch für unser Verhältnis zu den Tieren ausschlaggebend gewesen: ihm zufolge können wir die Tiere (wie alles andere auch) nur nach unserer Façon verstehen, und wir können und dürfen sie daher
6Diderot 1961, 187. – Siehe auch: „L’homme est le terme unique d’où il faut partir, & auquel il faut tout ramener“ (Diderot 1976, 213). 7Auch die Kulturwissenschaften folgen dem anthropischen Prinzip, wenn sie erklären, dass „das moderne Konzept von Kulturwissenschaft auf der Einsicht beruht, dass es nur ein Apriori gibt, das historische Apriori der Kultur“ (Böhme u. a. Hartmut u. a.: Orientierung Kulturwissenschaft. 2000, 106). Dabei wollen sie mit dieser Perspektive nicht nur aktuell, sondern auch all-inclusive sein: Noch die Natur soll gänzlich ins Human- bzw. Kulturkorsett gezwängt werden. Natur, so erklärt man, wird „nicht mehr als vorgegebene Wirklichkeit verstanden, sondern als kulturell konstruiert erkannt“ (ebd.). Erst kürzlich zeichnet sich eine bußfertige Zukehr zu realistischen Aspekten ab. Beispielsweise hat Helmut Lethen für die Anerkennung realer Evidenzen plädiert. Und neuerdings meint auch Hartmut Böhme, dass man „keineswegs […] einen universellen Konstruktivismus“ vertreten müsse, und er warnt „vor der Weltlosigkeit mancher heute vertretener konstruktivistischer Positionen“ (Böhme 2017, 17 bzw. 19).
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auch ganz nach unserer Façon behandeln. Das gilt von Descartes‘ Selbstlob, sein Denken sei nicht grausam gegenüber den Tieren, sondern entlaste die Menschen „von dem Verdacht, mit dem Verzehr oder dem Töten von Tieren ein Verbrechen zu begehen“ (Descartes, 1897–1913, 278 f.), bis zu Thomas Nagels epistemischer Skepsis, sich in eine Fledermaus hineinversetzen zu können (Nagel 1979).
4 Gegenoptionen schon innerhalb der Moderne – und ihre Vergeblichkeit Bevor ich einen Ausweg aus dieser modernen Malaise skizziere, will ich noch darauf hinweisen, dass das moderne Denken (und damit ergänze und korrigiere ich manche meiner früheren Ausführungen zu dieser Thematik) keineswegs unisono und auf immer an dieser zutiefst dualistischen Auffassung des Verhältnisses von Welt und Mensch festhielt, die nur einen radikalen Anthropismus als gangbaren Weg erscheinen ließ. Vielmehr kam es im philosophischen Raum schon früh zu deutlichem Unbehagen gegenüber diesem Dualismus und zu Versuchen, ihn auf die eine oder andere Weise auszuhebeln.
4.1 Leibniz: gradualistischer Monismus So begab sich beispielsweise schon der Dualist Leibniz8 (den dieser Dualismus etwa zur Gedankenakrobatik einer prästabilierten Harmonie nötigte) auf den Weg zu einem gradualistischen Monismus (wo bereits die Materie belebt sein sollte9 und wo unendliche Schritte von den petites perceptions bis zur vollkommenen göttlichen Einsicht führen sollten).10
8Zuvor
hatte bereits Spinoza mit seiner Interpretation der beiden Substanzen als Modi einer einzigen Substanz einen wichtigen Schritt in Richtung Monismus getan. 9„[…] toute la nature est pleine de vie“ (Leibniz 1882, 598). 10Hinsichtlich des Verhältnisses von Mensch und Tier führt dieser Gradualismus Leibniz zu Aussagen der folgenden Art: „Jede Vollkommenheit oder Unvollkommenheit der Kreatur hat ihren Wert, aber einen unendlichen Wert hat keine. […] Es gibt keine Substanz, die vor Gott unbedingt verächtlich oder unbedingt wertvoll wäre. […] Sicherlich misst Gott einem Menschen größeren Wert bei als einem Löwen, und trotzdem weiß ich nicht, ob man mit Sicherheit sagen kann, Gott zöge einen einzigen Menschen der ganzen Löwengattung in jeder Hinsicht vor: aber selbst wenn dies der Fall wäre, so ergibt sich daraus noch lange nicht, dass das Interesse einer gewissen Zahl von Menschen die Rücksichtnahme auf eine weitverbreitete Unordnung unter unzähligen Geschöpfen überwiegen würde. Diese Ansicht wäre ein Überbleibsel jener alten, so verrufenen Maxime, dass alles nur dem Menschen zuliebe erschaffen sei“ (Leibniz 1996, 166 f. [118]).
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4.2 Diderot 1769: Sensualistischer Monismus – Abrücken vom anthropischen Prinzip Und Diderot, der 1755 das anthropische Prinzip ausgerufen hatte, schlug bereits 14 Jahre später ganz andere Töne an. Gegen den Cartesischen Dualismus proklamierte er einen sensualistischen Monismus: „Vom Floh bis zum empfindenden lebendigen Molekül, dem Ursprung von allem, gibt es keinen Punkt in der Natur, der nicht leidet und genießt“;11 das Empfindungsvermögen ist „eine allgemeine und wesenhafte Eigenschaft der Materie“.12 Hier nimmt ein neues Bild der Welt Gestalt an. Die Abgrenzungen in der Natur sind nur vordergründig. Durch Empfindungsfähigkeit ist alles verbunden und miteinander verwandt. Auch der Mensch ist in die große Gemeinsamkeit einbezogen, steht der Natur nicht als Sonderwesen gegenüber: „Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral ist mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze mehr oder weniger Tier. Es gibt keine scharfe Abgrenzung in der Natur … […] Und ihr redet von Individuen, ihr armseligen Philosophen! lasst eure Individuen! […] Es gibt keine, nein, es gibt keine! … Es gibt nur ein einziges großes Individuum, das ist das Ganze!“ (Diderot 1953b, 454). – Diderot lässt das neuzeitliche Trennungsdenken und das anthropische Prinzip hinter sich. Er war nicht nur der dessen Herold, sondern auch sein erster Renegat.
4.3 Idealismus und Romantik: Überwindung des Dualismus von Natur und Geist In der Goethezeit wurden die Versuche, über den Dualismus hinauszugelangen, immer zahlreicher. Kant rückte (in der Kritik der Urteilskraft von 1790) gegenüber dem physikalischen Mechanismus das Organische in den Vordergrund. Schiller entwickelte 1793 in den Kallias-Briefen die Auffassung, dass die Natur die ursprüngliche Sphäre der Freiheit darstellt und dass die Schönheit der Natur an den Menschen appelliert, ebenfalls frei zu werden.13 Goethe suchte den Dualismus zwischen Erfahrung und Idee zu überwinden: Erkenntnis, die von wirklicher
11Diderot
1953b, 455. – Schon 1765 hatte Diderot erklärt: „Selon moi, la sensibilité, c’est une propriété universelle de la matière“ (Diderot 1931, 299). 12Diderot 1953a, 417. – Die These einer Sensibilität der Materie fungierte als Hauptangriffspunkt gegen den charakteristischen Dualismus. Auslöser war die 1689 von Locke aufgeworfene Frage, ob es eine denkende Materie gebe (Locke 1976, 188 [IV.III.6]. Als Erster hat dann La Mettrie 1745 diese Frage uneingeschränkt positiv beantwortet und der Materie Empfindungsfähigkeit zugeschrieben (La Mettrie 1774, 66 [6] und 69 [7]. 13„Jedes schöne Naturwesen“ ist „ein glücklicher Bürger, der mir zuruft: Sei frei wie ich“ (Schiller 1980, 425). Vgl. dazu ausführlicher: Welsch 2016.
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Anschauung ausgeht, kann ihm zufolge bis zur Schau von Ideen gelangen.14 Schelling proklamierte eine ursprüngliche Einheit von Natur und Geist.15 Novalis wandte sich gegen den Usus, „von einer abgesonderten Menschheit“ zu sprechen: „Gehören Thiere, Pflanzen und Steine, Gestirne und Lüfte nicht auch zur Menschheit und ist sie nicht ein bloßer Nervenknoten, in den unendlich verschiedenlaufende Fäden sich kreutzen. Lässt sie sich ohne die Natur begreifen –? ist sie denn so sehr anders, als die übrigen Naturgeschlechter?“16 – Man sieht insgesamt: Der neuzeitliche Dualismus sollte überwunden und der Mensch endlich nicht mehr als weltfremdes Sonderwesen, sondern als Naturwesen inmitten von anderem Naturseiendem begriffen werden.
4.4 Sperrriegel Naturwissenschaft Aber durchschlagender Erfolg war diesen Bemühungen nicht beschieden. Das haben die Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts verhindert. Sie verfolgten eine rigid-mechanistische Physik, die ganz dem Cartesischen Ansatz entsprach. Ein Paradebeispiel dafür ist Emil du Bois-Reymond, der einflussreiche Physiologe und Rektor der Berliner Humboldt-Universität. Während die soeben erwähnten Optionen darauf drängten, die Natur als lebendig und geistaffin zu sehen, beharrte du Bois-Reymond auf einer strikt materialistisch-mechanistischen Naturbetrachtung und lehnte jegliche vitalistische Tendenz ab. Bezeichnend für seine Gegenstellung zu den Optionen der Goethezeit ist seine polemische Rektoratsrede an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin vom 15.10.1882 Goethe und kein Ende (du Bois-Reymond 1883). Erst die Physik des 20. Jahrhunderts hat dann auf ihre Weise das getan, was zuvor Aufklärer, Idealisten und Romantiker versucht hatten. Die Quanten- und die Relativitätstheorie führten die mechanistischen Dekrete ad absurdum. Mikrozustände sind nicht determiniert, sondern erst unter Einwirkung nehmen sie diesen oder jenen Wert an; und dass wir Ort und Impuls eines Elektrons nicht gleichzeitig bestimmen können, erklärt sich schlicht daraus, dass wir diese Zustände ja nicht einfach neutral beobachten können, sondern durch Messung bestimmen müssen, wobei jede Messung aber unweigerlich einen (auf dieser Mikroebene nennenswerten) Eingriff bedeutet, also eine physikalische Einflussnahme darstellt. Der
14Vgl.
seine berühmte Bemerkung gegenüber Schillers Skepsis (Jena 1794): „das kann mir sehr lieb sein, dass ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe“ (Goethe 1976, 541). 15Ihm zufolge ist es die Aufgabe der Naturphilosophie zu zeigen, dass Natur Geist in unbewusster Form ist (Schelling 1860). 16Novalis 1983, 490. Ähnlich hieß es schon bei Herder in einem frühen Entwurf aus der Königsberg-Rigaer Zeit: „In welcher Welt war ich, ehe ich hierher p./Was werde ich sein/Zusammenhang der Geschöpfe; große Geister/Vielleicht empfinden die Pflanzen, wie wir/Ich bin ein Thier gewesen“ (Herder 1909, 655 [Nachwort des Herausgebers]).
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Experimentator steht dem physikalischen Geschehen nicht neutral gegenüber, sondern ist in es verflochten. Und die Relativitätstheorie hat den Alltagsdualismus von Masse und Energie aus den Angeln gehoben. Theorien der Selbstorganisation und der Emergenz schließlich lassen uns erahnen, wie Geist in einem langen Steigerungsprozess aus anfänglichen Phänomenen der Selbstbezüglichkeit (wie sie schon bei der Bildung von Galaxien und Atomen vorliegen) hervorgegangen sein könnte (Welsch 2012b, 876–886). – Geist und Natur, so könnte man die Lehre dieser neueren naturwissenschaftlichen Theorien zusammenfassen, bilden eine Einheit, und wir Menschen sind nicht Weltfremdlinge, sondern sind in die Prozesse der Natur und der Evolution verflochten – und zwar auf der gesamten Wegstrecke der kosmischen, biotischen und kulturellen Evolution.
5 Über die alten Dualismen hinaus Ich denke, dass es die Agenda des heutigen Denkens ist, generell die alten Dualismen hinter sich zu lassen. Im Blick auf den Menschen bedeutet dies, ihn nicht länger zu einem Wesen sui generis zu stilisieren, sondern als ein Wesen inmitten der anderen Lebewesen und des Seienden insgesamt zu betrachten. Das befördert und verlangt eine Vielzahl emotionaler wie begrifflicher Revisionen. Wir müssen das Konvolut unserer Einstellungen und Überzeugungen verändern. Denn es basierte auf den alten Dualismen. Mit dem Zusammenbruch dieser Basis aber werden auch die darauf errichteten Gebäude hinfällig. Man muss umbauen und neu bauen. Mit ein paar Retuschen ist es nicht getan. Es bedarf vielmehr grundsätzlicher kategorialer Revisionen (Berleant 2011). Das betrifft Konzepte wie Person und Seele, Menschlichkeit und Natürlichkeit, oder ethische Fragen wie das Verhältnis zu Tieren, politische Fragen wie die Verantwortung für die Umwelt in einer globalisierten Welt – und ebenso sind Fragen der Religion, der Ökonomie oder der Individualität, Souveränität und Solidarität betroffen. Im Kontext dieser Umstellung kommt den Animal Studies gewiss große Bedeutung zu. Sie geben uns viele Gemeinsamkeiten und auch wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Mensch und Tier zu erkennen. So gesehen, ist der animal turn für die Kulturwissenschaften ein Segen – er führt sie über linguistische, soziale und kulturalistische Engführungen hinaus. Aber die Erweiterung auf die Perspektive der Tiere genügt nicht. Es braucht den Blick auf die Situiertheit unserer kulturellen Tätigkeit im gesamten Kreis der Lebewesen – und sogar noch darüber hinaus. Denn unsere Welt schließt nicht nur Kulturelles und nicht bloß Organisches ein, sondern auch das Anorganische gehört dazu. Wir Menschen stehen im gesamten Strom der Evolution – gemäß ihrem, wie zuvor gesagt, vollen Umfang als kosmische, biotische und kulturelle Evolution. Jede Betrachtung, die das verkürzt, ist defizitär. Daher meine ich, dass der animal turn – wie immer wichtig – nur ein Schritt ist, dem weitere Extensionen folgen sollten.
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6 Eine strikt relationale Ontologie (à la Whitehead) – Relationalität, Netzcharakter, Allverbundenheit Die Ontologie, die mit all diesen Umstellungen und Forderungen kongruiert, ist eine Ontologie grosso modo Whiteheadschen Typs. Also eine Ontologie, die auf vier Prinzipien basiert: Relationalität, Netzcharakter, Aktivität und Allverbundenheit (Welsch 2012b, 858–876 und 894–897).
6.1 Relationalität Zunächst zur Relationalität. Relationen sind den Dingen nicht äußerlich, sondern innerlich. Relationen treten nicht zu einem substantiellen Wesensbestand hinzu, sondern konstituieren ihn.17 Für gewöhnlich denken wir anders. Wir meinen, ein Seiendes sei zuerst einmal es selbst und stehe erst sekundär in Relationen. Aber in Wahrheit sind die Dinge das, was sie sind, nicht aus sich selbst, nicht an sich. Ansichsein ist der große Irrtum im Alltag wie in der Philosophie. Ein jedes Seiende ist, was es ist, durch die Prozesse, die zu ihm geführt haben und durch die Relationen, in denen es steht. Nimmt man diese vermeintlich externen Bedingungen weg, so verdampft das scheinbare Ansich augenblicklich. – Ich will dafür ein paar Beispiele anführen. Gemeinhin glaubt man, Wasser sei von sich aus flüssig. Das ist ein Irrtum. Wasser ist unter bestimmten Temperaturbedingungen flüssig, unter anderen ist es festes, gefrorenes Eis, und unter noch einmal anderen löst es sich in Dampf auf. Die Eigenschaften des Wassers sind nicht einfachhin Wassereigenschaften, sondern Verbund-Eigenschaften, sie sind Eigenschaften von H2O im terrestrischen Verbund. Oder glauben Sie, ein Automobil sei – wie der Name es suggeriert– ein selbstfahrendes Gerät? Nimmt man den Kraftstoff oder die Elektroenergie weg und dann auch noch Straßen und Wege und den festen Untergrund überhaupt, so ist es mit der Automobilität der Kiste schnell vorbei. Man kann noch weiter gehen: Wenn man die Erdatmosphäre wegnähme, würden nicht nur alle Autoreifen platzen, sondern alle Organismen – uns eingeschlossen – würden zerbersten. Die Organismen sind auf den Atmosphärendruck passgenau abgestimmt. Ihr Zellinnendruck hält dem Außendruck der Atmosphäre exakt die Waage. Gemeinhin denken wir nicht an diese externen Bedingungen dessen, was anscheinend selbstständig vorliegt. Aber diese Bedingungen sind absolut elementar. Es ist eine arge Verkürzung, wenn wir die Dinge, wie sie vor Augen stehen – eine Blume oder einen Hund, eine Geige oder ein Klavier – für autonome Dinge nehmen, die von sich aus blühen oder bellen oder klingen können. Ohne den Atmosphärendruck würden Blumen und Hunde sich instantan auflösen,
17Schon
Kant stellte klar, dass „Substanz“ in Wahrheit „ganz und gar ein Inbegriff von lauter Relationen“ ist (Kant 1781, A 265).
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und ohne die umgebende Luft vermöchten Geigen und Klaviere keinerlei Klang zu erzeugen. Die Außenbedingungen sind dem, was als Wesen oder Eigentätigkeit einer Sache erscheint, eingeschrieben. Sie sind nicht peripher, sondern zentral.
6.2 Netzcharakter Das leitet zum nächsten Aspekt über, zum Netzcharakter. Wenn ein jedes Seiende durch Relationen bestimmt ist, dann muss man, um es zu verstehen, weit über es hinausblicken, muss das ganze Netz der Beziehungen, die es konstituieren, ins Auge fassen. Ein Automobil ist eben nicht ein Gegenstand für sich, sondern eine Entität, die es nur in einem bestimmten Netz von Verkehrs- und Besitzpraktiken gibt und die nur dort Sinn macht. Und ein Organismus ist ebenfalls nicht etwas Autonomes, sondern ist durch die Evolution der betreffenden Art, durch Umweltverhältnisse sowie durch die Beziehung zu anderen Organismen bestimmt. – Oder, um das zusammenfassend mit Rilke zu sagen: „Alles ist nicht es selbst.“ (Rilke 1976, 699 [Vierte Elegie, 1915]; hierzu auch Welsch 2012b, 861–897). Es ist vielmehr ein Knotenpunkt in einem Netz von Netzen, ein Moment in Myriaden von Prozessen, ein Schnittpunkt in Bündeln von Beziehungen.
6.3 Aktivität Und jeder dieser Relationsknoten ist nicht einfachhin passiv, sondern stets auch aktiv. Er versammelt Wirkbeziehungen, die zu ihm geführt haben, und das Wirkungsgefüge, in dem er steht, wäre anders, wenn es diesen Knoten nicht gäbe. Allein daraus kann man schon ersehen, dass das jeweilige Seiende einen (wie auch immer minimalen) Einfluss hat auf die nahen wie fernen Momente seines Verbunds. Ein jedes Seiende ist nicht nur ein Vorkommnis, sondern auch ein Mittäter im Geschehen der Welt. Es ist nicht nur ein Bestandteil, sondern ein Modulator der Wirklichkeit.18 Wenn etwas geschieht, ändert sich auch im Umfeld dieses Ereignisses einiges. Ohne die einzelnen Ereignisse (in Whiteheads Terminologie: „actual entities“) wäre auch all das, womit diese Ereignisse in Wirkbeziehungen stehen, anders.
6.4 Allverbundenheit Damit kommen wir zum vierten Aspekt, zur Allverbundenheit. Wie weit reichen die Relationen und Wirkbeziehungen, die ein Seiendes konstituieren? Im Prinzip unendlich weit.
18Es
ist kein Zufall, dass Bruno Latour und Donna Haraway sich, wo sie Mensch-Tier-Kollektive bzw. Mensch-Tier-Beziehungen thematisieren, speziell auf diesen Aspekt von Whiteheads Theorie beziehen.
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W. Welsch
Auf der materiellen Ebene ist in jedem Atom die kosmische Geschichte präsent, die in der Initialphase des Universums zu einem Überwiegen von Materie gegenüber Antimaterie, dann (ca. 370.000 Jahre nach dem Urknall) zur Bildung von Atomen und schließlich ab ca. 200 Mio. Jahren zur Formung von Galaxien und Sternen geführt hat, in denen sämtliche Elemente produziert wurden, die schwerer sind als Wasserstoff und Helium. Jedes heute existierende Atom verkörpert diese mehr als 13 Mrd. Jahre lange Geschichte. Auf die langen Wirkbeziehungen im organischen Bereich hatte ich zuvor schon im Blick auf unsere ontogenetische Abbreviatur der Phylogenese und auf die Nachwirkungen der Ersterfindungen von Blutkreislauf, Nervensystem, Lungenatmung und dergleichen hingewiesen. Ohne Drosophila, Aplysia und den Vorlauf vieler Primaten kann man weder unsere physiologischen noch unsere kognitiven Grundlagen verstehen. Für einzelne Fragen kann man solch weitreichende Verbindungen gewiss oft ausblenden (exemplarisch dazu: Welsch 2012b, 873 f.). Aber für das Gesamtverständnis sind sie unabdingbar. Das gilt ebenso im kulturellen Bereich. Auch hier gehören Langzeitpermanenzen zu unserer Konstitution – handle es sich um den protokulturell erfolgten Übergang zu Sprache oder um die frühkulturelle Generierung von Religion, Schrift oder Kunst. Mikrologische Analysen kultureller Kleinstphänomene haben gewiss ihr Recht. Aber der makrologische Blick ist für das Gesamtbild ebenso nötig. Ich erinnere nur an Schillers Insistieren darauf, dass zur Erklärung seiner Antrittsvorlesung 1789 in Jena „die ganze Weltgeschichte“ erforderlich sei, ein historischer Augenblick ist nämlich stets „das Resultat […] aller vorhergegangenen Weltbegebenheiten“.19 Eines muss freilich klar sein: Ein Relations-, Netz- und Verbundcharakter gilt zwar für alles, aber das führt nicht dazu, dass alles gleich wäre oder einfach irgendwie im Ganzen aufginge. Es sind jeweils unterschiedliche Relationen, Netze und Verbünde, die ein Seiendes dieser oder jener Art konstituieren, und es kommt stets darauf an, diese spezifischen Formen in den Blick zu bekommen. Für ein Wasserstoffatom ist das Beziehungsgeflecht anders als für ein Eisenatom, und für ein Colibakterium ist es wiederum anders als für eine Sonnenblume, für eine Seeanemone anders als für einen Steinadler, und für diesen Steinadler in Tirol anders
19Vgl. Schiller 1988 758 f. – Herder und Alexander von Humboldt sahen das genauso. Sie meinten sogar, dass man zum Verständnis der menschlichen Welt letztlich auf den Kosmos hinausdenken müsse. Herder schreibt: „Vom Himmel muss unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen, wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll. Denn da unser Wohnplatz, die Erde, nichts durch sich selbst ist, sondern von himmlischen, durch unser ganzes Weltall sich erstreckenden Kräften ihre Beschaffenheit und Gestalt, ihr Vermögen zur Organisation und Erhaltung der Geschöpfe empfängt: so muss man sie zuförderst nicht allein und einsam, sondern im Chor der Welten betrachten, unter die sie gesetzt ist“ (Herder 1989, 21 [I,1,I]. (Und bei Alexander von Humboldt heißt es: „Hier wird nicht mehr vom subjectiven Standpunkte, von dem menschlichen Interesse ausgegangen. Das Irdische darf nur als ein Theil des Ganzen, als diesem untergeordnet erscheinen. Die Natur-Ansicht soll allgemein, sie soll groß und frei; nicht durch Motive der Nähe, des gemüthlicheren Antheils, der relativen Nützlichkeit beengt sein. Eine physische Weltbeschreibung, ein Weltgemälde beginnt daher nicht mit dem Tellurischen, sie beginnt mit: dem, was die Himmelsräume erfüllt“ (Humboldt 1845–1858, Bd. 1, 85.
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als für jenen in Japan. Innerhalb der Allverbundenheit bestehen jeweils spezifische Beziehungen und Verbindungen. Sie sind dafür verantwortlich, dass die einzelnen Dinge als verschieden nicht nur erscheinen, sondern das wirklich sind. Die Fäden und Verästelungen, die Sedimente und Driften, die nahen und fernen Beziehungen, die ein jedes Gebilde unserer Welt ausmachen, sind vielfältig und können potentiell extrem weit führen. Wir waren dieser Einsicht zuvor schon begegnet, nämlich – bezeichnenderweise – in Diderots die anthropische Denkweise hinter sich lassendem Gedanken, dass alle Naturwesen aneinander Anteil haben: „Jedes Tier ist mehr oder weniger Mensch, jedes Mineral ist mehr oder weniger Pflanze, jede Pflanze mehr oder weniger Tier. Es gibt keine scharfe Abgrenzung in der Natur. […] Es gibt nur ein einziges großes Individuum, das ist das Ganze!“20 Man sieht: Es ist wohl nicht einfach der animal turn, der über den Kokon des anthropischen Denkens hinausführt. Sondern das leistet der weiter ausgreifende Blick auf unsere Verwandtschaft mit allem Seienden und auf unsere vielfältigen Bedingtheiten – die kultureller, aber ebenso biotischer, und eben auch anorganischer Art sind. Der animal turn ist ein wichtiger Schritt. Aber er gewinnt wohl erst, wenn er in diesen größeren Kontext gestellt wird, seine richtige Form.
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20Diderot
1953b, 454. Ähnlich später Emerson: „Each creature is only a modification of the other; the likeness in them is more than the difference, and their radical law is one and the same“ (Emerson 2000, 23).
38
W. Welsch
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Cultural Animal Studies zwischen neuer Tiertheorie und New Ethology Roland Borgards
Jacques Derrida schreibt in Das Tier und der Souverän Folgendes: Die Unterscheidung zwischen dem Angeborenen und dem Erworbenen, also zwischen dem Instinkt und, sagen wir, all dem, was mit der „Kultur“, dem „Gesetz“, der „Institution“, der „Freiheit“ usw. zu tun hat, ist immer fragil gewesen [und] sie ist es heute mehr denn je, genauso wie die Voraussetzung einer Animalität, die der Sprache, der Geschichte, der Kultur, der Technik, der Beziehung zum Tod als solchem und der Übermittlung des Erworbenen beraubt wäre. […] Zudem trifft es sich, dass die heute positivste Wissenschaft […] beweist, dass bestimmte Tiere (natürlich nicht diese hypostasierte Fiktion, die man mit dem Übernamen Das Tier [L’Animal] versieht, sondern bestimmte unter denen, die man unter die Tiere [les animaux] einordnet) über eine Geschichte und über Techniken und also über eine Kultur im strengsten Sinne des Wortes verfügen, was präzise gesagt die Weitergabe und die Akkumulierung von erworbenem Wissen und erworbenem Können beinhaltet.1
Vieles an diesem Argument ist in den kultur- und geisteswissenschaftlichen Tierforschungen mittlerweile geläufig: die Dekonstruktion der „Unterscheidung“; die Kritik an der „Voraussetzung“ dieser Unterscheidung; die entschiedene Abkehr vom Singular des Tierbegriffs („L’Animal“) und das dringende Plädoyer für den Plural des Tierworts, des „animot“2 („les animaux“). Um dieses Geläufige soll es im Folgenden aber weniger gehen als um das von Derrida beiläufig vermerkte Zusammentreffen zweier Forschungslinien: „Zudem trifft es sich, dass
1Derrida 2Derrida
2015, 160. 2010, 71.
R. Borgards (*) Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_3
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die heute positivste Wissenschaft […]“. Was trifft sich da, und mit welchem Effekt? Um es vorab zusammenzufassen: Es treffen sich Neue Ethologie und neue Tiertheorie, und dies mit dem Effekt, dass das traditionelle Triple-A des Mensch-Tier-Verhältnisses – Anthropologische Differenz, Anthropozentrismus und Anthropomorphismus – einer kritischen Revision unterzogen wird. Im Folgenden werde ich diese drei Konzepte nacheinander durchgehen und dabei jeweils in einem ersten Schritt die Kritik an dem jeweiligen Konzept nachzeichnen, in einem zweiten Schritt auf die Gefahr einer Trivialisierung dieser Kritik zu einem Gemeinplatz des Animal Turn der Kulturwissenschaften hinweisen und in einem dritten Schritt eine revidierte Version des kritisierten Konzepts vorstellen.
1 Anthropologische Differenz Verhaltenswissenschaftler haben, insbesondere in den letzten 30 Jahren, eine Fülle von Evidenzen dafür angesammelt, dass Tiere Sachen können und Dinge tun, die zuvor nur Menschen zugetraut wurden:3 Schimpansen folgen regional unterschiedlichen Essenstabus und nutzen regional unterschiedliche Jagdtechniken;4 die Gorilla-Dame Koko kommunizierte mit Menschen unter Verwendung von 1000 Worten der amerikanischen Gebärdensprache ASL;5 Wale und Delfine entwickeln gruppenspezifische Sprachen,6 und Große Tümmler geben sich mit „signature whistles“ sogar Eigennamen;7 Raben können lügen, und sie können vortäuschen zu lügen;8 der Papagei Alex verfügte über einen Wortschatz von 200 aktiv gebrauchten und 500 passiv verstandenen Worten;9 Fische haben ein individuelles Schmerzempfinden und ein mit Ängsten und Wünschen verbundenes Bewusstsein des eigenen Lebens;10 Fruchtfliegen werden bei Schlafentzug müde und versinken in Frustration, wenn sie eine Aufgabe nicht bewältigen können;11 Amöben und Pantoffeltierchen beziehen sich reflexiv auf ihre eigene Lebensgeschichte zurück.12 Eine populäre Zusammenschau dieser Evidenzen, deren Aufzählung sich
3Einen
Überblick gibt Bekoff 2004. u. a. 1999; Sommer 1999; Savage-Rumbaugh u. a. 2001. 5Vgl. http://www.koko.org/project-koko (Zugriff am 28.2.2018). 6Fox u. a. 2017. 7Janik u. a. 2006; Quick/Janik 2012; zusammenfassend Brensing 2013. 8Güntürkün/Bugnyar 2016. 9Pepperberg 2000 sowie in weiterer Perspektive Pepperberg 2017; Meijer 2018. 10Segner 2012; Wild 2012a. 11Heisenberg 2015. 12Einen Einblick in die einschlägige Forschung zu Kleinstorganismen gibt Glasgow 2017; s. ferner Glasgow 2018. 4Whiten
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noch lange fortsetzen ließe, gibt Peter Wohllebens Das Seelenleben der Tiere; ein Beispiel für das derzeit in Konjunktur stehende Genre des Smart-Animal-Sachbuchs bietet Randolf Menzels und Matthias Eckoldts Die Intelligenz der Bienen.13 Als häretische Position hat die Überzeugung, dass Tiere in ihren Fähigkeiten an den Menschen heranreichen, eine lange Tradition. Davon zeugen die Debatten um die Tierseelenkunde im 18. und 19. Jahrhundert;14 aber auch in den populären Großwerken der frühen Zoologie, so in George-Louis Leclerc de Buffons Histoire Naturelle aus dem 18. Jahrhundert oder Alfred Brehms Tierleben aus dem 19. Jahrhundert, finden sich immer wieder erstaunlich kluge, erstaunlich soziale, erstaunlich kunstfertige und erstaunlich gefühlsfähige Tiere, bei Buffon etwa der in seinen kulturschaffenden Fähigkeiten dem Menschen fast ebenbürtige Biber,15 bei Brehm etwa die in ihren künstlerischen Fähigkeiten beeindruckende Zwergmaus.16 Vorgeworfen wurde diesen Tier-Beschreibungen, dass sie ihre Begriffe (Tabu, Sprache, Eigenname, Lüge, Angst, Frust, Reflexion, usw.) in einem bloß uneigentlichen, metaphorischen Sinn gebrauchen. Ein Tier lügt nicht, es verhält sich nur auf eine Weise, die von außen betrachtet wie eine Lüge aussieht. Doch aus der ehemals häretischen Position ist, beginnend mit John Griffins Forschungen zum tierlichen Bewusstsein in den späten 1970er Jahren17 und der sich daraus entwickelnden Cognitive Ethology,18 eine kompakte Forschungsrichtung geworden, die auf der Wörtlichkeit ihrer Zuschreibungen beharrt: Was bei Tieren wie eine Lüge aussieht, das ist auch eine Lüge. Ihren Zusammenhalt findet diese Forschungsrichtung, prominent vertreten z. B. von Frans de Wal, Marc Bekoff oder Irene Pepperberg, nicht erst in ihren Ergebnissen, sondern schon in einer neuen epistemologischen Grundhaltung. Es ist diese neue, zum Paradigma avancierte epistemologische Grundhaltung, die sich unter der allgemeineren Bezeichnung einer ‚Neuen Ethologie‘, einer New Ethology zusammenfassen lässt.19
13Wohlleben
2016; Menzel/Eckoldt 2016; s. ferner Tjernshaugen 2017. Vgl. Wohlleben, Peter: Das Seelenleben der Tiere. Liebe, Trauer, Mitgefühl – erstaunliche Einblicke in eine verborgene Welt. München 2016; Menzel, Randolf/Eckoldt, Matthias: Die Intelligenz der Bienen. Was sie denken, planen, fühlen und was wir daraus lernen können. München 2016; vgl. z. B. auch Andreas Tjernshaugen: Das verborgene Leben der Meisen. Berlin 2017. 14Middelhoff 2020. 15Vgl. zu Buffon demnächst Schönbeck 2020. 16Vgl. zu Brehm z. B. die Zusammenstellung in Brensing 2018; zur Zwergmaus ebd., 90: „Sie ist eine Künstlerin.“ 17Griffin 1976. 18Allen/Bekoff 1997. 19Der Begriff „New Ethology“ entstammt, anders als der Begriff „Cognitive Ethology“, nicht der ethologischen Fachdiskussion. Er ist also keine Selbstbeschreibung einer spezifischen Ausrichtung der Verhaltensforschung, sondern dient mir als wissenstheoretische Bezeichnung einer methodisch-theoretischen Grundhaltung, die in der Cognitive Ethology ihre gewiss prominentesten, aber doch nicht einzigen Vertreter findet, und die zudem derzeit weit über die wissenschaftliche Fachdiskussion hinaus wirksam wird.
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Diese neue Grundhaltung zeigt sich erstens in einer – wörtlichen – Spezifizierung der zu überprüfenden Hypothese: Die Frage ist nicht mehr, ob das Tier im Allgemeinen über menschenähnliche Fähigkeiten verfügt, sondern ob bestimmten Tierarten bestimmte beim Menschen bekannte Fähigkeiten auch zugesprochen werden können. Nicht: Kann das Tier spielen oder trauern? Sondern: Welche Tiere können spielen20 oder trauern?21 Zweitens vollzieht die Neue Ethologie eine Umkehr der Beweislast, die bis in die 1990er Jahre gemeinhin bei denjenigen lag, die Tieren menschliche Fähigkeiten zutrauten. Die New Ethology gibt die Beweislast zurück an diejenigen, die Tieren menschliche Fähigkeiten absprechen. Denn wenn wir spezifische, uns vom Menschen bekannte Fähigkeiten bei Tieren nicht sehen, dann heißt dies nicht zwingend, dass es diese Fähigkeiten nicht gibt, sondern verweist möglicherweise schlicht auf unsere mangelhafte Erkenntnisleistung. Mit de Waal als epistemologische Frage formuliert: Are we smart enough to know how smart animals are?22 Oder als epistemologisches Mantra: „Absence of evidence is not evidence of absence.“23 Anders als die traditionelle Verhaltensforschung arbeitet die Neue Ethologie eben nicht mehr mit der „Voraussetzung einer Animalität, die der Sprache, der Geschichte, der Kultur […] beraubt wäre“ (Derrida), kurz: mit der Voraussetzung einer Anthropologischen Differenz. Vielmehr vollzieht sie einen Richtungswechsel im Forschungsdesign und in der Argumentation: Ausgangspunkt ist nicht eine grundlegende Unterscheidung, in die dann Ähnlichkeiten eingetragen werden (ein Verfahren, das als Differentialismus bezeichnet worden ist); Ausgangspunkt ist vielmehr eine grundlegende Ähnlichkeit, in die dann Unterscheide eingetragen werden (ein Verfahren, das als Assimiliationsmus bezeichnet worden ist).24 Dieser epistemologische Grundzug der Neuen Ethologie „trifft sich“ in der Tat bestens mit einer neuen Tiertheorie, wie sie im Detail zwar sehr unterschiedlich, in der Kritik an der „Voraussetzung“ einer Anthropologischen Differenz in den letzten 30 Jahren aber sehr geschlossen formuliert wurde: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist nicht gegeben, sondern wird gemacht (Giorgio Agambens „anthropologische Maschine“);25 Philosophie beginnt mit der Frage nach den Tieren (Jacques Derrida);26 Tiere sind Akteure (Bruno Latour)27 und
20Bekoff/Allen
1998. Pribac 2013; King 2013. 22de Waal 2016. 23de Waal 2016, 13. 24Zur Unterscheidung von Differentialismus und Assimilationismus vgl. Wild 2006, 1–11; zur „Kritik am Differentialismus“ vgl. Wild 2012b, hier 26–28. 25Agamben 2003. 26Derrida 2010, 54. 27Latour 2011. 21Brooks
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„an active part in the knowledge produced about them“ (Vinciane Despret);28 sie zeigen sich uns als „companion“ und „kin“ (Donna Haraway),29 sind mit uns verbunden im „mesh“ einer „darc ecology“ (Timothy Morton);30 sie sind „people“ (Eduardo Viveiros de Castro)31 und als solche, ganz wie die Menschen, „animate beings in the grammatical form of a verb“ (Tim Ingold).32 Folgt man Derridas beiläufiger Historisierung („Die Unterscheidung […] ist immer fragil gewesen [und] sie ist es heute mehr denn je“), dann zeichnet sich für die Tiertheorie ein ähnlicher Richtungswechsel ab wie für die Verhaltensforschung. Auch in der Tiertheorie – verstanden als Korpus aller Texte, die den philosophischen wie den politischen, den fiktionalen wie den faktischen, den wissenschaftlichen wie den praktischen Umgang mit Tieren reflektieren und regulieren33 – ist der Glaube an die Fähigkeiten der Tiere bisweilen formuliert worden, etwa im Tierseelenstreit des 17. Jahrhunderts34 oder in der philosophischen Tierethik des 19. Jahrhunderts, allerdings stets als randständige Position. Heute hingegen erscheinen zunehmend diejenigen Geistes- und Kulturwissenschaftler (es sind dies vielleicht nicht zufällig vor allem Männer) als kurios, die den menschlichen Exzeptionalismus als letzten Bunker eines dem Anspruch nach uneinnehmbaren Humanismus verteidigen. Entscheidender allerdings als solche Scharmützel35 ist für den Zusammenhalt der neuen Tiertheorie (wie in der New Ethology) eine gemeinsame epistemologische Grundhaltung. Diese zeigt sich erstens in einer Spezifizierung der Problemlage, bei Derrida paradigmatisch mit seiner Katze, bei Haraway mit ihrer Hündin,36 und zweitens in einer Umkehr der Argumentationsrichtung weg von einem differentialistischen hin zu einem assimilationistischen Verfahren. So gesehen sind Neue Ethologie und neue Tiertheorie epistemologische Geschwister; sie sind beide Teil einer größeren kulturellen Neujustierung des Mensch-Tier-Verhältnisses, zu deren Grundbestand eine radikale Kritik an der Voraussetzung einer Anthropologischen Differenz gehört. Der Bezug auf diese Kritik hat sich mittlerweile zu einem häufig formulierten Gemeinplatz des kulturwissenschaftlichen Animal Turn verfestigt: Was der Mensch kann, das können Tiere auch; also gibt es keinen Unterschied zwischen dem Menschen und den Tieren. Doch man kann es nicht nachdrücklich genug herausstellen: Dieser trivialen Variante würde weder die neue Tiertheorie noch
28Despret
2015, 100. 2008und Haraway 2016, 49. 30Morton 2007; Morton 2011. 31De Castro 2004, 465. 32Ingold 2013, 21. 33Zur Abgrenzung der Tiertheorie von Tierethik und Tierphilosophie vgl. Borgards u. a. 2015. 34Wild 2006. 35Vgl. z. B. Riedel 2017. 36Derrida 2015, passim; Haraway 2008, passim. 29Haraway
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die New Ethology zustimmen. Denn in zweierlei Hinsicht ist die Lage deutlich komplizierter, als es dieser simple Gemeinplatz nahelegt. Erstens lässt sich jede Zuschreibung von menschlichen Fähigkeiten an Tiere von der Infragestellung ebendieser Fähigkeiten beim Menschen begleiten. Noch einmal Derrida in Das Tier und der Souverän: Es geht weniger darum, zu fragen, ob man das Recht hat, dem Tier dieses oder jenes Vermögen abzusprechen (Sprache, Vernunft, Erfahrung des Todes, Trauer, Kultur, Institution, Technik, Kleidung, Lüge, Vortäuschen des Vortäuschens, Verwischen der Spur, Gabe, Lachen, Weinen, Achtung, und so weiter – die Liste ist notwendiger Weise endlos, und die mächtigste philosophische Tradition, in der wir leben, hat all dies dem „Tier“ abgesprochen), als vielmehr darum, sich zu fragen, ob, was sich Mensch nennt, das Recht hat, dem Menschen in aller Strenge zuzusprechen, also sich selber zuzusprechen, was er dem Tier abspricht, und ob er davon jemals einen reinen, strengen, unteilbaren Begriff als solchen besitzt.37
Auf die Frage, ob bestimmte Tiere etwas Bestimmtes auch können (z. B. spielen oder trauern) hat die Tiertheorie also keine einfache, sondern immer eine doppelte Antwort: Ja, sie können das, ganz wie die Menschen; und nein, sie können das nicht, genauso wenig wie die Menschen. Der dezidiert doppelte Spielzug der Tiertheorie besteht also darin, den Tieren immer viel (genauso viel wie dem Menschen) und gleichzeitig den Menschen immer wenig (genauso wenig wie den Tieren) zuzutrauen, den Tieren Fähigkeiten also emphatisch zuzusprechen und gleichzeitig skeptisch abzusprechen. Zweitens ist zu betonen, dass die Neue Ethologie, die New Ethology, keineswegs eine allgemeine Gleichmacherei betreibt. Sie sucht weiter nach Differenzen, aber eben nach Differenzen in einem entschiedenen Plural. Auch in dieser Grundhaltung „trifft […] sich“ die „positivste Wissenschaft“ der Neuen Ethologie mit der spekulativen Tiertheorie Derridas, der es gleichfalls „nicht darum geh[t], die Grenze zwischen dem Menschen (l’Homme) und dem Tier (l’Animal) auch nur im Geringsten zu bestreiten“:38 Sich vorzustellen, daß ich […] diesen Bruch, ja diesen Abgrund ignorieren könnte, hieße […], was meinen bescheidenen Fall betrifft, […] sämtliche Zeichen zu vergessen, die ich unablässig davon zu geben vermochte, daß meine Aufmerksamkeit eher der Differenz, den Differenzen, den Heterogenitäten und den abgründigen Brüchen gilt als dem Homogenen und dem Kontinuierlichen. Ich habe also nie an irgendeine homogene Kontinuität geglaubt zwischen dem, was sich Mensch nennt, und dem, was er Tier nennt. Und ich werde auch jetzt nicht damit anfangen.39
Folgt man Derrida (und entsprechende Argumente finden sich auch bei Haraway, Latour, Despret, Morton, usw.), dann kann die Aufgabe also „nicht darin bestehen,
37Derrida
2015, 189. 2010, 55. 39Ebd., 56. 38Derrida
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die Grenze auszulöschen, sondern darin, ihre Figuren zu vervielfältigen“.40 Nur in diesem Sinn ‚treffen sich‘ Neue Ethologie und neue Tiertheorie in einem gemeinsamen Ziel: Sie wollen Differenz nicht minimieren, sondern pluralisieren. Das ist komplizierter als die trivialisierte Variante eines M ensch-Tier-Monismus, verspricht aber als argumentative Grundlage für die Cultural Animal Studies die reichhaltigeren Analysen.
2 Anthropozentrismus Der Voraussetzung der Anthropologischen Differenz entspricht die Grundeinstellung des Anthropozentrismus: Die Welt ist um den Menschen herum organisiert, sie ist für den Menschen da. In unserer westlich-abendländischen Kultur finden sich unterschiedliche Varianten dieses Anthropozentrismus, besonders wirkmächtig vor allem in der christlichen Religion und im globalisierten Kapitalismus. Mit Blick auf die Tiere führt der Anthropozentrismus in eine Ausschlusslogik: Nicht jeder darf Zugang zum Zentrum haben; und die Zugangsberechtigung regelt – traditionell – die Anthropologische Differenz. Auf welcher Seite der Differenz ein Lebewesen steht, entscheidet also nicht nur über rechts und links, sondern auch über drinnen und draußen. Nun bietet die Neue Ethologie zwei Möglichkeiten, die Position des Menschen in der Welt neu zu denken. Zum einen setzt sie gegen die Logik des Ausschlusses eine Logik der Erweiterung: Weil ihr Gehirn ähnlich ist wie das des Menschen, können auch Delfine Eigennamen nutzen. Gary Francione hat dies die „similar minds theory“41 genannt. Hier bleibt indes die physiologische Nähe zum Menschen das entscheidende Kriterium. Anthropos steht weiterhin im Zentrum der Welt. Um dies zu vermeiden, setzt die Neue Ethologie zum anderen auf die Logik der Analogie: Obwohl ihr Gehirn ganz anders ist als das des Menschen, können Fruchtfliegen deprimiert sein. In dieser Logik werden Tiere nach ihren Fähigkeiten neu sortiert. Physiologische Nähe zum Menschen ist nicht mehr das entscheidende Kriterium. Anthropos steht nicht länger im Zentrum der Welt. Dass die neue Tiertheorie, insbesondere in der neumaterialistischen Spielart Haraways, eine vergleichbare Dezentrierung betreibt, liegt auf der Hand. In den Cultural Animal Studies hat sie sich insbesondere in der präpositionalen Fügung des „jenseits/beyond“ etabliert, etwa in Jane Custlows und Amy Nelsons Geschichtsschreibung Beyond the Human in Russian Culture and History,42 in Steve Bakers Kunstgeschichte Beyond the Human,43 in Felice Cimattis
40Ebd.,
55.
41Francione
2008, 140. 2010. 43So der Titel der Einleitung in Baker 2013. 42Costlow/Nelson
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Philosophie Beyond the Human/Non-Human Dichotomy,44 literaturwissenschaftlich z. B. in David Hermans Literature beyond the human45 bzw. Narration beyond the Human,46 und für die Ethnologie etwa in Matt Barlows Bienenforschung als Encounters and Movements beyond the Human,47 Eduardo Kohns Bewegung Toward an Anthropology beyond the Human48 oder Tim Ingolds Anthropology beyond Humanity.49 Auch dies kursiert mittlerweile als ein gängiger Gemeinplatz des Animal Turn: Der Mensch steht nicht im Zentrum der Welt; also müssen sich auch die kulturwissenschaftlichen Tierstudien vom Menschen befreien oder ihn zumindest radikal dezentrieren. Dies wird immer wieder normativ als ein Anspruch formuliert, von den Cultural Animal Studies, den Human-Animal Studies und insbesondere den Critical Animal Studies.50 Doch wieder muss man betonen: Dieser einfachen Variante würde weder die neue Tiertheorie noch die Neue Ethologie zustimmen. Denn beide stellen in Rechnung, dass sich der Mensch als wahrnehmendes, sortierendes, abstrahierendes und darstellendes Subjekt nicht aus dem Erkenntnisprozess herausrechnen lässt. Der Mensch mag die Tierforschung nicht allein verantworten; ohne den Menschen aber wären gewiss keine Tiertheorie und keine Ethologie möglich. Statt einer pauschalen Zurückweisung des Anthropozentrismus schlagen neue Tiertheorie und Neue Ethologie deshalb eine Differenzierung zwischen zwei Typen des Anthropozentrismus vor. Auf der einen Seite, und mit guten Gründen zu kritisieren, steht der „normative oder moralische Anthropozentrismus“51 bzw. ein „arrogant anthropocentrism“,52 „ontological anthropocentrism“,53 „binary anthropocentrism“54 oder „metaphysical anthropocentrism“,55 der den Menschen der Sache nach ins Zentrum der Welt stellt. Auf der anderen Seite aber, und mit guten Gründen zu berücksichtigen, steht der „epistemische Anthropozentrismus“56
44Cimatti
2016. der Titel der Einleitung in Herman 2016a. 46Herman 2016b. 47Barlow 2017. 48Kohn 2013 sowie Kohn 2007. 49Ingold 2013. 50Vgl. zu den verschiedenen Spielarten der Animal Studies Borgards 2015, insbes. 68–71. 51Steiner 2015, 30; vgl auch Steiner 2005;; zu einer Kritik am „moral anthropocentrism” vgl. auch Faria/Paez 2014. 52Gruen 2015, 24. 53Thompson 2011, 79; Pelizzon/Ricketts 2015. 54Martinelli 2009, 19. – Martinelli unterscheidet zudem zwei gleichermaßen zu kritisierende Typen des „binary anthropocentrism“, den „qualitative anthropocentrism“ und den „quantitative anthropocentrism“ (ebd.). 55Driscoll 2017. 56Steiner 2015, 29; zum „epistemic anthropocentrism” auch Faria/Paez 2014. 45So
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oder auch „weak anthropocentrism“,57 „inevitable anthropocentrism“,58 „default anthropocentrism“,59 „conceptual anthropocentrism“60 oder auch „post-transcendent normative anthropocentrism“,61 der an die Perspektivengebundenheit menschlicher Erkenntnis und an den Anspruch menschlicher Verantwortung erinnert. So treffen sich Neue Ethologie und neue Tiertheorie nicht etwa darin, dass sie den Anthropozentrismus überwinden, sondern darin, dass sie ihn als kritisch reflektierte Grundlage in ihre Verfahren integrieren. Das ist komplizierter als die trivialisierte Variante eines Anthropozentrismus-Bashing; als argumentative Grundlage ermöglicht es aber für die Cultural Animal Studies die reichhaltigeren Analysen.
3 Anthropomorphismus Die Voraussetzung einer Anthropologischen Differenz trennt Mensch und Tier. Die Haltung eines Anthropozentrismus stellt den Menschen ins Zentrum und schließt die Tiere aus diesem Zentrum aus. Das Verfahren des Anthropomorphismus schließlich gibt den Tieren menschliche Gestalt. Auch hier ist eine Unterscheidung am Werk: die Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität, zwischen anthropomorphisierenden Menschen und anthropomorphisierten Tieren. Ausgehend von ‚Llyod Morgan’s Canon‘62 war die traditionelle Ethologie stets bemüht, Anthropomorphismen zu vermeiden.63 Menschliche Kategorien auf tierliches Verhalten zu projizieren, galt, wie Nico Tinbergen 1963 in einem berühmt gewordenen Aufsatz über die sogenannten ‚Four Whys‘ tierlichen Verhaltens herausgearbeitet hat, als simpler methodischer Fehler.64 Anthropomorphismus, das war etwas für Kinder, die mit ihren Kaninchen sprechen, für wilde Urwaldvölker, die Tiere zu menschlichen Verwandten animieren, und für Dichter, die Fabeln schreiben. Kinder, Wilde und Dichter galten lange als die naiven Opfer eines „Contagious Anthropomorphism“65 bzw. „imaginative anthropomorphism“.66 Wer mit Tieren spricht, sie animiert oder sie sprechen lässt, der, so das gängige Argument, sagt nichts über die Tiere, sondern nur etwas über den Menschen.
57Hargrove
1992, 191. 2015, 24; Tyler 2012, 12. 59Martinelli 2009, 19. 60Thompson 2011, 78. 61Pelizzon/Ricketts 2015, 102. 62Morgan 1894, 53: „In no case is an animal activity to be interpreted in terms of higher psychological processes if it can be fairly interpreted in terms of processes which stand lower in the scale of psychological evolution and development.“. 63Vgl. zusammenfassend Hilbert 2016; vgl. auch Sober 2005. 64Tinbergen 1963. 65Masson/McCarthy 1995, 71. 66Fischer 1996, 6. 58Gruen
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Dieser Einwand lässt sich nun nicht nur als erkenntnistheoretische, sondern auch als moralische Kritik formulieren: Der Anthropomorphismus degradiert Tiere zu Objekten, zu passiven Projektionsflächen; er ist eines der imperialistischen Machtinstrumente, mit denen der Mensch seine Herrschaft über die Tiere behauptet; insofern gehört er letztlich ins gleiche Register wie die Dressur, der Fleischkonsum oder die Massentierhaltung. Schlaglichtartig vorführen lässt sich dies etwa an der Werbung einer bekannten Restaurant-Kette, die eine anthropomorph lachende Kuh auf ihre eigene Existenz als gebratener Burger herabblicken lässt: La vache qui rit. Der Anthropomorphismus hat hier, noch einmal von Derrida her formuliert, offenbar die Funktion, „das beispiellose Ausmaß dieser Unterwerfung des Tiers“ zu „verleugen“; in ihm zeigt sich, „daß die Menschen alles tun, was sie können, um diese Grausamkeit zu verbergen oder vor sich zu verbergen, um im Weltmaßstab das Vergessen oder das Verkennen dieser Gewalt zu organisieren.“67 Dieses Argument findet sich nicht nur bei Derrida; es ist so verbreitet, dass sich aus ihm ein weiterer Gemeinplatz des Animal Turn gebildet hat: Anthropomorphismen sind in epistemologischer, ethischer, politischer, ästhetischer, theoretischer und praktischer Hinsicht falsch und schlecht; deshalb sind sie unbedingt zu vermeiden. Doch auch hier muss man sich wieder klar machen, dass die Kritik am Projektionscharakter von Anthropomorphismen lediglich die erste Hälfte des Arguments darstellt, dessen zweite Hälfte in der Anerkennung der Unvermeidbarkeit, ja der epistemologischen Nützlichkeit von Anthropomorphismen besteht.68 In der Geschichte der Philosophie ist dies keine neue Argumentationsfigur, prominent formuliert etwa von Friedrich Nietzsche in seiner vielfach kommentierten Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne: „Was also ist Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen“.69 Offenbar ist das eine Kritik am Anthropomorphismus. Doch geht es Nietzsche nicht darum, dass die Vermeidung von Anthropomorphismen zu einer besseren Wahrheit führen würde, was man schon allein daran sieht, dass Nietzsche mit dieser Definition von Wahrheit auch seine eigenen Texte beschreibt, die ja ihrerseits nichts anderes sind als ein „bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen“. Gleiches gilt für die meisten Autoren der neuen Tiertheorie, für Derrida, Haraway, Latour, Despret, usw.: Sie alle kritisieren
67Derrida
2010, 50. hierzu als frühe abwägend-analytische Position Fischer 1996, 96: „I will argue that the mistake of fallacy or anthropocentrism is neither well defined nor clearly fallacious.” Vgl. auch Daston/Mitman 2005; Oerlemans 2007; Höller 2015; Ingensiep/Baranzke 2008, 52–56 („Anthropomorphismus als epistemologisches Kernproblem“). 69Nietzsche 1988, 880. 68Vgl.
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die implizite Gewalt des Anthropomorphismus; und sie alle integrieren seine implizite Erkenntniskraft. Damit „trifft sich“ einmal mehr die neue Tiertheorie mit der Neuen Ethologie, der New Ethology. Denn auch die New Ethology verweist – gegen eine dogmatische Auslegung von ‚Morgan’s Canon‘ und Tinbergens ‚Four Whys‘ – auf die Unvermeidbarkeit von Anthropomorphismen als „unavoidable consequence of the functional organization of the human brain“.70 Die methodische Wahl besteht demnach nicht darin, ob ich Anthropomorphismen vermeide oder nicht vermeide, sondern darin, ob ich sie reflektiere oder nicht reflektiere. Darauf hatte übrigens Morgan selbst mit einem Vergleich der psychologischen Erforschung von Kindern, Nicht-Europäern und Tieren schon hingewiesen. Als Europäer, so Morgan, „the only mind with which we can claim any first-hand acquaintance is the civilised mind, that of which we are conscious within ourselves. In the terms of this mind, that of the aboriginal Australian or Red Indian has to be interpreted.“71 Als Erwachsene, so Morgan weiter, „we have to interpret in terms of the adult-mind the child mind“.72 Und in gleicher Weise „we must use the human mind as a key by which to read the brute mind“.73 Auf Anthropomorphismen zu verzichten, führt also nicht zwingend in eine vom Subjektiven gereinigte Wissenschaft, sondern, mit de Waal formuliert, in einen epistemologisch unkontrollierten „anthropodenial“.74 Entsprechend unterscheiden Neue Ethologie und neue Tiertheorie zwischen einem mit guten Gründen zu kritisierenden naiven Anthropomorphismus und einem als unvermeidbar zu integrierenden „reflektierten Anthropomorphismus“75 bzw. einem „heuristic anthropomorphism“,76 „applied anthropomorphism“,77 „self-consciously constructive anthropomorphism“78 oder „critical anthropomorphism“.79 Reflektierter Anthropomorphismus erweist sich – insbesondere in der Neuen Ethologie – als verlässliches Erkenntnisinstrument. Das ist wieder komplizierter als die trivialisierte Variante eines Anthropomorphismus-Verbots; es führt aber in den Cultural Animal Studies erneut zu den reichhaltigeren Analysen.
70Urquiza/Kotrschal
2015, 171. 1894, 42. 72Ebd., 43. 73Ebd., 55. 74de Waal 1999; vgl auch de Waal 2013, 145. 75Wild 2015, 27. 76de Waal 2001, 74; vgl. zum „heuristischen Anthropomorphismus“ auch Wild 2015, 27. 77Lockwood 1989. 78Tyler 2009, 20. 79Burton/Brady 2016, 97–99; vgl auch Martinelli 2009, 44. 71Morgan
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4 Die drei A, revidierte Fassung Die drei traditionellen A-Konzepte, die Anthropologische Differenz, der Anthropozentrismus und der Anthropomorphismus, haben insbesondere in den letzten 300 Jahren den abendländisch-westlichen, sich global immer mehr durchsetzenden Umgang der Menschen mit den Tieren theoretisch fundiert, moralisch legitimiert und praktisch bestimmt. Das Zusammentreffen von neuer Tiertheorie und Neuer Ethologie führt zunächst zu einer Kritik an diesem dreifachen A: Der Mensch ist nicht einfach ganz anders als das Tier; der Mensch steht nicht allein im Zentrum der Welt; der Mensch kann nicht umstandslos seine eigenen Vorstellungen auf die Tiere projizieren. Auf der Anthropologischen Differenz im Singular zu beharren, einem ontologischen Anthropozentrismus das Wort zu reden und sich naive Anthropomorphismen zu erlauben, ist weder klug noch gut. Diese Kritik ist richtig, wichtig und berechtigt. Doch liefern neue Tiertheorie und Neue Ethologie nicht etwa Argumente dafür, die drei A-Konzepte hinter sich zu lassen, sondern vielmehr dafür, ihre differentialistischen, ontologischen und naiven Fassungen mit assimilationistischen, epistemologischen und reflektierten Alternativen zu konfrontieren: Zwischen Menschen und anderen Tieren gibt es viele Unterschiede; die Menschen können gar nicht anders, als von ihrer eigenen Position aus auf die Welt zu sehen; und sie erkennen in den anderen Tieren deshalb immer auch etwas von sich selbst. Mit Speziesdifferenzen zu rechnen, einen epistemologischen Anthropozentrismus zu pflegen und einen reflektierten Anthropomorphismus zuzulassen, ist weder dumm und noch falsch. Für die Cultural Animal Studies ergibt sich daraus eine dreifache methodische Aufforderung: Es gilt, die Voraussetzung einer Anthropologischen Differenz zu hinterfragen, aber zugleich den Plural von Speziesdifferenzen in Rechnung zu stellen; es gilt, die Ideologie eines ontologischen Anthropozentrismus anzufechten, aber zugleich einen epistemologischen Anthropozentrismus in Rechnung zu stellen; und es gilt, einen naiven Anthropomorphismus zu vermeiden, aber zugleich einen reflektierten Anthropomorphismus nutzbar zu machen.
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Animal Turn, Tierphilosophie und Animal Mainstreaming Markus Wild
Die Frage, ob die Geistes- und Kulturwissenschaften einen Animal Turn brauchen, lässt sich auf mindestens zwei Wegen einer Antwort zuführen. Man könnte von einem impliziten Vorverständnis dessen ausgehen, was der Animal Turn ist, und sich die Frage stellen, was eine solche Wende motiviert oder erforderlich macht. Man könnte aber auch damit beginnen, den Begriff einer Wende zu klären und auf dieser Grundlage Aussagen darüber treffen, was ein Animal Turn sein müsste, wenn er erfolgen sollte. Auf dem ersten Weg gelangt man von der Motivation zum Begriff, auf dem zweiten Weg vom Begriff zur Motivation. Im folgenden Beitrag werde ich den zweiten Weg einschlagen, weil dieser Weg dem Vorgehen der Philosophie näher liegt. Ich werde zuerst zeigen, was in der Philosophie in einem anspruchsvollen Sinn zu einer Wende gehört (Abschn. 1), um dann Beispiele dafür zu geben, wie der Animal Turn in der Philosophie Früchte trägt (Abschn. 2). Schließlich werde ich den übergeordneten Begriff des Animal Mainstreaming einführen und den Animal Turn als eine besonders pointierte Form davon deuten (Abschn. 3). Ich hoffe, dass ich damit zumindest indirekt eine Antwort auf die Frage der Motivation geben kann: Wenn der Animal Turn in der Philosophie fruchtbar ist, so kann er dies auch in anderen geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen sein.
M. Wild (*) Universität Basel, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_4
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1 Drei Wenden in der Philosophie: Kant, Wien, Kognition Die wohl bekannteste Wende in der Philosophiegeschichte stellt Immanuel Kants „Revolution der Denkart“ bzw. „Umänderung der Denkart“ dar, als die er seine Vernunftkritik in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) beschreibt (Kant 1911, AA III, 11). Kant geht es dabei um die Frage, ob die Philosophie (Metaphysik) ebenso wie die Mathematik oder die Physik den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ einschlagen könne. In Analogie zu diesen Wissenschaften schlägt er vor, eine grundsätzliche Perspektivenumkehr vorzunehmen: Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntniß erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zu nichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten […]. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternheer drehe sich um den Zuschauer versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. (Ebd., 11–12)
In großer Vereinfachung kann man die mit Kants Vernunftkritik einhergehende Perspektivenumkehrung als eine Wende betrachten, in der nicht die Natur dem Verstand Begriffe vorgibt, sondern umgekehrt der Verstand der Natur. Weiter geht dieser grundlegende Perspektivenwechsel mit einem neuartigen methodischen Ansatz einher, der Transzendentalphilosophie, welche nicht nach Gegenständen, sondern nach unserer Erkenntnisart von Gegenständen bzw. nach den Bedingungen der Möglichkeit solcher Erkenntnis fragt. Freilich wird der zeitgenössische Reigen kulturwissenschaftlicher Wenden in der Regel nicht auf Kants später so benannte ‚Kopernikanische Wende‘ zurückgeführt, sondern auf den oft bemühten Linguistic Turn. Entgegen einer erstaunlich weit verbreiteten, aber soweit ich sehen kann vorwiegend informell geäußerten Ansicht, geht die sprachliche Wende nicht auf die Denkerinnen und Denker des Poststrukturalismus zurück. Sie ist vielmehr eng verbunden mit der Entstehung der analytischen Philosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die ebenso wie Kants Umänderung der Denkart einen grundlegenden und revolutionären Neuansatz für die Philosophie forderte (Ayer 1963; Soames 2003; Beaney 2016). Der Wiener Kreis darf als die Keimzelle dieser sprachlich-logischen Wende angesehen werden (vgl. Nagel 1936; Stadler 1997). Im Jahr 1930 spricht Moritz Schlick, ein philosophisches Schwergewicht des Wiener Kreises, programmatisch von einer „Wende der Philosophie“. Im Rückgriff auf die Entwicklungen der modernen Logik seit der Jahrhundertwende und insbesondere Ludwig Wittgenstein (Wittgenstein 1921) hält Schlick fest, dass „alle Erkenntnis nur vermöge ihrer Form Erkenntnis“ sei,
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wobei er die logische Form der Erkenntnis von ihrem inhaltlichen Ausdruck unterscheidet. Schlick fährt, mit deutlicher Spitze gegen den Kantianismus, fort: Diese schlichte Einsicht hat Folgen von der allergrößten Tragweite. Durch sie werden zunächst die traditionellen Probleme der ‚Erkenntnistheorie‘ abgetan. An die Stelle von Untersuchungen des menschlichen ‚Erkenntnisvermögens‘ tritt, soweit sie nicht der Psychologie überantwortet werden können, die Besinnung über das Wesen des Ausdrucks, der Darstellung, d. h. jeder möglichen ‚Sprache‘ im allgemeinsten Sinne des Worts. Die Fragen nach der ‚Geltung und den Grenzen der Erkenntnis‘ fallen fort. Erkennbar ist alles, was sich ausdrücken läßt, und das ist alles, wonach man sinnvoll fragen kann. (Schlick 1930, 7)
Schlick ersetzt Kants transzendentalphilosophische Erkenntnislehre durch die logische Analyse der sprachlichen Ausdrucksformen im weitesten Sinne, so dass sich das Augenmerk von den Gegenständen weg zu unserem rationalen Sprechen über die Gegenstände richtet. Wie dem Zitat zu entnehmen ist, sollte damit vorrangig ein kritisches Projekt verfolgt werden, nämlich die Überwindung traditioneller Scheinprobleme und Scheinfragen. Deshalb sprach Rudolf Carnap, das andere philosophische Schwergewicht des Wiener Kreises, von einer „Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache“ (Carnap 1931). Der grundlegende Perspektivenwechsel, der nicht von den Gegenständen zu den sprachlichen Ausdrucksformen, sondern von den sprachlichen Ausdrucksformen zu den Gegenständen schreitet, sowie die rigorose Methode der logischen Begriffsanalyse gelangten erst nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Titel der analytischen Philosophie zu internationalem Selbstbewusstsein. Im Jahr 1967 veröffentlichte Richard Rorty eine Reihe von wegweisenden methodischen Texten der analytischen Philosophie – darunter auch die Texte von Schlick und Carnap – unter dem Titel The Linguistic Turn. Essays in Philosophical Method (Rorty 1967). Auf diesen Band nun geht die Karriere des Ausdrucks „sprachliche Wende“ zurück. Michael Dummett, eine andere wichtige Figur der analytischen Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg, charakterisierte diese in einer oft zitierten Passage als bestimmt „erstens durch die Überzeugung, daß eine philosophische Erklärung des Denkens durch die philosophische Analyse der Sprache erreicht werden kann, und zweitens durch die Überzeugung, daß eine umfassende Erklärung nur in dieser und in keiner anderen Weise zu erreichen ist.“ (Dummett 1988, 11) Hier werden auf explizite Weise die Perspektivenumkehrung und der methodische Zugang vorgeführt: Denken wird mittels der sprachlichen Formen verstanden, nicht umgekehrt, und das Verständnis des Denkens erfolgt über die logisch-begriffliche Analyse dieser Formen. Ich möchte mich nun einer dritten Wende widmen, die uns an das eigentliche Thema, an die Tiere, heranführt. Es handelt sich um den sogenannten Cognitive Turn, der sich in der Philosophie ebenso gegen die sprachliche Wende richtet wie vormals die sprachliche Wende gegen den Kantianismus, ohne jedoch wichtige Einsichten fallen zu lassen. Als „kognitive Wende“ wird zunächst die inhaltliche und methodische Neuorientierung weg vom Behaviorismus in der Psychologie und in der Linguistik bezeichnet, die zur Entstehung
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der Kognitionswissenschaft geführt hat. Häufig werden Noam Chomskys Attacke gegen Skinners behavioristische Sprachtheorie (Chomsky 1959), die Ausarbeitung einer generativen Grammatik oder der Beginn der Forschung zur künstlichen Intelligenz an deren Beginn gesetzt. Chomsky hatte argumentiert, dass man den Spracherwerb aufgrund einer Unterdeterminierung unserer sprachlichen Performanz durch Reize nicht zu erklären vermag, dass unsere Sprachfähigkeit auf angeborene Kompetenzen zurückzuführen sei und dass wir diese mentalen Kompetenzen in Analogie zu Funktionsweisen von Computern verstehen sollten. Diese drei Aspekte richteten sich direkt gegen die methodische Vorherrschaft des Behaviorismus. Im Unterschied zum Behaviorismus verstand die Kognitionswissenschaft in ihren Anfängen den Geist als ein teilweise eingeborenes Aggregat von Mechanismen, das mentale Vorstellungen (Repräsentationen) wie ein sehr komplexer Computer verarbeitet. Die philosophischen Grundlagen für dieses Projekt hat Jerry Fodor gelegt (Fodor 1975, 1983, 1987). Auch die analytische Philosophie nach 1945 hatte im Anschluss an den Linguistic Turn den Geist – Denken und Bewusstsein – vor allem als eine Sache des sprachlichen Verhaltens aufgefasst. Klassische Texte wie Gilbert Ryles The Concept of Mind (Ryle 1949), Ludwig Wittgensteins Philosophische Untersuchungen (Wittgenstein 1953), John L. Austins How To Do Things With Words (Austin 1962) oder Willard Van Orman Quines Word and Object (Quine 1960) richteten ihr Augenmerk im Sinne eines logischen Behaviorismus auf das sprachliche Verhalten und betrachteten den Geist als etwas, das einer philosophischen Erklärung nur durch die Analyse des Sprachverhaltens zugeführt werden kann. Währenddessen begann die kognitive Wende Einfluss auf die Ethologie (Verhaltensbiologie) zu nehmen. Das behavioristische Modell von Reiz, Reaktion und Assoziationslernen wird durch die Computer-Modelle von Input (externe Informationseinheiten), interner Operation (Informationsverarbeitungen) und Output (beobachtbares Verhalten) abgelöst. Bald stellte sich die Frage, ob die internen Prozesse der Informationsverarbeitung nicht als Formen des Denkens oder Bewusstseins verstanden werden könnten. Mit dieser Frage hatte die kognitive Wende die Ethologie erreicht. Der Zoologe Donald R. Griffin gehörte zu den ersten, die diese Frage aufgriffen (Griffin 1976). Sein Ziel bestand darin, eine Disziplin zu gründen, die den Geist der Tiere zum Forschungsgegenstand machen sollte. Ihr gab er den Namen „Kognitive Ethologie“ (Griffin 1978) und bestimmte deren Aufgabe wie folgt: Unsere Aufgabe ist es, die Speziesgrenze zu überschreiten und zu versuchen, befriedigende Informationen darüber zu sammeln, was andere Spezies denken und fühlen mögen. Diese kognitive Ethologie – eine Wissenschaft, die noch in den Kinderschuhen steckt – sollte nicht durch den Neid auf die Computer beengt werden, der einen großen Teil der derzeitigen kognitiven Psychologie kennzeichnet. (Griffin 1985, 22)
Mittlerweile ist die kognitive Ethologie ihren Kinderschuhen entwachsen und zu einer erfolgreichen und respektablen Disziplin geworden, die unser Verständnis davon, wie andere Lebewesen denken und handeln, auf erstaunliche Weise
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erweitert hat (Shettleworth 2010). Auch Griffins Skepsis gegenüber dem für den Cognitive Turn durchaus hilfreichen Computermodell stößt heute auf Zustimmung (Fingerhut/Hufendiek/Wild 2013). Der Cognitive Turn führt also zu einer Abwendung vom behavioristischen Ansatz im weitesten Sinne, demzufolge Denken und Bewusstsein als höherstufige Eigenschaften von Verhaltensweisen, insbesondere von Sprachverhalten, betrachtet werden müssen. Demgegenüber vertritt die Kognitionswissenschaft die Ansicht, dass Verhalten das Ergebnis von mentalen Operationen und mentalen Repräsentationen zu verstehen sei, die mithilfe des Computermodells gedeutet werden. Methodisch beruht die Kognitionswissenschaft auf der Ansicht, dass das Phänomen des Geistes zwar durch empirische und quantitative Methoden erschlossen werden müsse, jedoch nur durch eine Vielzahl von Disziplinen und Zugangsweisen erfasst werden könne. Der Cognitive Turn hat mittlerweile auch weite Teile der Philosophie erreicht. Anders als Dummett meinen diese Philosophinnen und Philosophen nicht mehr, dass eine philosophische Erklärung des Denkens allein durch die philosophische Analyse der Sprache erreicht werden kann, vielmehr sind sie der Auffassung, dass kognitive Phänomene durchaus Vorrang vor sprachlichen Fähigkeiten haben. Darüber hinaus teilen sie die methodische Auffassung, dass das Phänomen des Geistes durch empirische und quantitative Methoden sowie durch eine Vielzahl von disziplinären Zugängen erschlossen werden müsse. Der kognitiven Ethologie kommt dabei eine nicht unwichtige Stellung zu, weil die Resultate der Erforschung des tierlichen Denkens und Bewusstsein als Motivation dienen, sowohl Kants kritische Wende als auch die sprachliche Wende der analytischen Philosophie hinter sich zu lassen. Wie die Forschungen mit Tieren zeigen, können Erkenntnisvermögen und andere mentale Vermögen empirisch erforscht werden; mentale Vermögen bestehen unabhängig vom Sprachverhalten und stellen eine unentbehrliche Grundlage für die sprachlichen Ausdrucksformen dar. Man kann dies als „naturalistisch-kognitive Wende“ bezeichnen. Die von mir vertretene Tierphilosophie versteht sich als Ausdruck dieser naturalistisch-kognitiven Wende (Wild 2013, 2014, 2016a, 2019). Bevor ich mich einigen konkreten Beispielen für diese n aturalistisch-kognitive Wende widme, möchte ich zum Schluss dieses Abschnitts auf zwei wichtige Aspekte der exemplarisch aufgeführten Wenden in der Philosophie hinweisen, die sich als Vorbild späterer Wenden bzw. Turns verstehen lassen, die diesen Namen verdienen. Erstens führen alle diese Wenden zu einem grundlegenden Perspektivenwechsel: Kants transzendentale Wende führt dazu, dass nicht die Gegenstände dem Verstand Begriffe und Prinzipien aufprägen, sondern umgekehrt; die sprachliche Wende der analytischen Philosophie führt dazu, Probleme der Erkenntnis und des Geistes durch das Mittel der logischen Analyse der sprachlichen Ausdrucksformen zu begreifen statt umgekehrt sprachliche Ausdruckformen als Ausdruck der Formen der Erkenntnis und anderer geistiger Vermögen zu verstehen; die kognitiv-naturalistische Wende hingegen betrachtet den Geist als grundlegend für unsere sprachlichen und epistemischen Fähigkeiten (das ist der kognitive Anteil dieser Wende) und gesteht der empirischen
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Erforschung mentaler Phänomene einen epistemologischen Vorrang zu (das ist der naturalistische Anteil dieser Wende). Zweitens führen alle diese Wenden auch zu einer methodischen Umorientierung: Kant richtet sein Augenmerk methodisch weg vom Gegenstandsbezug auf die Bedingung der Möglichkeit von Gegenstandsbezug und damit auf unsere Erkenntnisvermögen und begründet damit die Transzendentalphilosophie; die analytische Philosophie verzichtet auf die introspektive oder erstpersonale Erforschung des Denkens, richtet stattdessen das Augenmerk auf die sprachlichen Ausdrucksformen und fundiert auf diese Weise die Begriffsanalyse als methodisches Verfahren; die naturalistische Philosophie richtet ihr Augenmerk sowohl auf die Erkenntnisvermögen als auch auf sprachliche Formen, versteht diese aber als empirische Gegenstände, die einer naturwissenschaftlichen Erforschung zugänglich sind.1
2 Tierphilosophie als Animal Turn in der Philosophie Wenn wir uns nun der Tierphilosophie zuwenden, so finden wir auch hier beides, einen grundlegenden Perspektivenwechsel sowie eine methodische Umorientierung. Der Perspektivenwechsel besteht darin, dass grundlegende philosophische Begriffe mit Blick auf die Fähigkeiten nicht-menschlicher Tiere analysiert werden; die methodische Umorientierung darin, dass diese Begriffe und die tierlichen Fähigkeiten im Rahmen der empirischen Forschung bzw. der empirischen Erforschbarkeit analysiert werden. Kurz gesagt lautet die kontroverse These, die ich hier weder präzisieren noch verteidigen werde, dass es sich bei kognitiven Fähigkeiten bei Menschen und anderen Tieren um gleichermaßen natürliche, letztlich biologische Fähigkeiten von Lebewesen handelt, die der empirischen Erforschung grundsätzlich offen stehen. Zur Tierphilosophie gehören die drei Bereiche (1) anthropologische Differenz, (2) Geist der Tiere, (3) Tierethik.2 Es ist offensichtlich, dass der Bereich (3) einen grundlegenden Perspektivenwechsel in unserer Moral vornimmt und es ist ebenso offensichtlich, dass die konsequente Berücksichtigung von tierethischen Überlegungen im individuellen und gesellschaftlichen Handeln weitreichende, ja geradezu revolutionäre Folgen zeitigen kann. Allerdings werde ich mich im
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(2006) verweist in ihrer Darstellung der Cultural Turns in den Geisteswissenschaften auf eine ganze Reihe von Wenden (Interpretive Turn, Performative Turn, Reflexive Turn/Literary Turn, Postcolonial Turn, Translational Turn, Spatial Turn, Iconic Turn) und macht einleitend den Linguistic Turn als ‚Urwende‘ dingfest. Sie meint, dass eine Wende sich auszeichne durch einen fundamentalen methodischen Umschlag der „Gegenstandsebene“ in „Analysekategorien“ bzw. durch die epistemologische Verwandlung der „Erkenntnisobjekte“ in „Erkenntnismittel“ (ebd., 26). Zudem müsse eine Wende mehrere Disziplinen übergreifen (ebd., 79). 2Zur Tierphilosophie allgemein vgl. Wild 2019. Zu (1) vgl. Sorabji 1993); Wild 2006; Glock 2012; Wild 2016b; zu (2) vgl. Allen/Bekoff 1997; Perler/Wild 2005; Lurz 2009; Andrews 2015; Andrews/Beck 2018; zu (3) vgl. Beauchamp/Frey 2014; Grimm/Wild 2016; Ach/Borchers 2018.
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Folgenden auf den Bereich (2) konzentrieren, weil es an dieser Stelle nicht um die Frage geht, wie eine bestimmte Disziplin wie die Philosophie Einfluss auf das individuelle und gesellschaftliche Handeln außerhalb der Disziplin bzw. der Akademie ausüben kann, sondern vielmehr darum, wie eine Disziplin für sich genommen durch einen Animal Turn einen grundlegenden Perspektivenwechsel sowie eine methodische Umorientierung erfahren kann. Hinzu kommt, dass die Tierethik methodisch kein eigentliches Neuland schafft. Aus demselben Grund werde ich mich auch nicht über den Bereich (1) auslassen. Zu den zentralen philosophischen Begriffen gehören jene des Wissens, des Denkens oder des Bewusstseins. Zu diesen Begriffen kann man sagen, dass sie traditionellerweise mit Blick auf den Menschen analysiert worden sind. Das ist erstaunlich, weil prima facie auch einige Tiere in der Lage zu sein scheinen, etwas zu wissen, einfache Denkoperationen auszuführen oder Formen des Bewusstseins auszubilden. Nicht nur im Alltag sprechen wir häufig so – und dies nicht nur in Bezug auf Haustiere –, sondern auch in der Wissenschaft werden Tieren diese Fähigkeiten zugeschrieben. Dies erweckt den Verdacht, dass die philosophische Analyse mit diesen Begriffen einseitig und partiell verfährt. Anstatt ihr Augenmerk auf den Genus „Wissen“, „Denken“ oder „Bewusstsein“ zu richten, fokussiert sie von Anfang an die Unterart „menschliches Wissen“, „menschliches Bewusstsein“ oder „menschliches Denken“. Wenn dies zutrifft, so ist die Begriffsanalyse uneingestanden anthropozentrisch oder anthropomorphistisch, weil sie die menschliche Unterart des Genus über Gebühr bevorzugt bzw. dem jeweiligen Begriff von Anfang an implizit ein menschliches Antlitz verleiht. Ein sehr schönes Beispiel für diese Art von Einseitigkeit stellt die philosophische Analyse von Farben dar. Dem hält Mohan Matthen in einer vorbildlichen Analyse Folgendes entgegen: We cannot arrive at an adequate understanding of color by generalizing from features of human experience. My main reason for thinking that our experience is insufficient to give us a proper grasp of color is that we have access only to one kind of color experience. Humans see color. But so do other animals. There are significant differences amongst them. (Matthen 1999, 47)
Die hier kritisierten Analysen begehen einen Pars pro toto-Fehlschluss: Sie schließen von der Analyse der Unterart (z. B. die menschliche Farberfahrungen) auf die Analyse des Genus (z. B. die Farben). Das ist ein schwerwiegender Fehler. Wenn ich beispielsweise psychologische Forschungen allein mit Probandinnen und Probanden durchführe, die weiß, urban, demokratisch, gut ausgebildet und vermögend sind und aufgrund dieser Daten Schlüsse über die psychologischen Eigenschaften von Menschen ziehe, so gehe ich von einer einseitigen Datenlage über eine Untergruppe aus, die unter der Hand als repräsentativ für die gegenwärtige Menschheit betrachtet wird (vgl. Henrich/Heine/Norenzayan 2010). In Analogie dazu wäre es ebenfalls ein schwerwiegender Fehler, die Analyse der Begriffe des Wissens, des Denkens, des Bewusstseins oder der Farbe unter der Hand als Analyse der jeweiligen anthropomorphen Ausprägung durchzuführen und diese dann als eine vollständige Analyse des Begriffs auszugeben.
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Dagegen könnte man einwenden, dass solche Begriffsbestimmungen unweigerlich anthropozentrisch oder anthropomorph sein müssen, weil am Ende wir Menschen es sind, die die entsprechenden Begriffe analysieren, während Hunde, Wombats oder Kiebitze offensichtlich kein Interesse für diese Art von Unterfangen aufbringen. Denn darin besteht, so der Kritiker weiter, der Unterschied zwischen empirischen Datensätzen und Begriffen: Einseitige Datensätze lassen etwas aus, Begriffe hingegen sind notwendigerweise menschliche Konstrukte und lassen als solche nichts aus. Nun, das ist nicht nur eine recht voraussetzungsreiche Theorie, sie verkennt auch das angesprochene Problem. Diese Theorie ist voraussetzungsreich, weil sie in ihren Prämissen ausschließlich Menschen als Inhaber von Begriffen zulässt und damit ausschließt, dass auch nicht-menschliche Tiere über Begriffe verfügen könnten. Diese Entgegnung kommt nur demjenigen merkwürdig vor, der Begriffe mit sprachlichen Ausdrücken gleichsetzt und aus dem Umstand, dass nicht-menschliche Tiere nicht sprechen, den Schluss zieht, dass sie über keine Begriffe verfügen. Begriffe mit sprachlichen Ausdrücken zu identifizieren ist jedoch keine triviale Annahme, sondern eine substanzielle und gewagte Theorie, die von einigen heutigen Begriffstheorien bestritten wird (vgl. Margolis/Laurence 1999, 2015). Doch selbst wenn wir diese Voraussetzungen des Kritikers akzeptieren, folgt aus dem Umstand, dass wir sprachliche Begriffe konstruieren, nicht, dass wir keinen Fehler begehen, wenn wir in der Konstruktion einseitig verfahren. Zwar mag es zutreffen, dass wir sprachliche Begriffe hervorbringen, nutzen, verbessern oder verunklaren, und ebenfalls, dass wir sprachliche Begriffe nutzen, um die Welt einzuteilen. Sobald wir sprachliche Begriffe nutzen, handeln wir uns zwar unweigerlich einen epistemologischen Anthropozentrismus ein, diese Form des Anthropozentrismus ist jedoch unschuldig im Vergleich zum substanziellen Anthropozentrismus, um den es mir geht. Auch wenn es zutrifft, dass wir sprachliche Begriffe nutzen, um die Welt einzuteilen, so folgt daraus nicht, dass wir deshalb die Begriffe auf eine Weise nutzen müssen und die Welt auf eine Weise einzuteilen haben, die systematisch eine bestimmte einseitige Begriffsbenutzung und Welteinteilung bevorzugt. Den Unterschied zwischen einem (mutmaßlich) unvermeidlichen und relativ unschuldigen epistemologischen Anthropozentrismus und einem folgenreichen substanziellen Anthropozentrismus lässt sich am Beispiel der Tierethik vor Augen führen. Zwar mag es zutreffen, dass die moralischen Begriffe allein von uns konstruiert werden, und dass allein wir es sind, die mit ihrer Hilfe Verhaltensweisen oder Zustände moralisch beurteilen. Doch daraus folgt nicht, dass allein wir Menschen zum Gegenstandsbereich moralischer Begriffe und moralischer Urteile gehören, sondern es ist eine offenen Frage, ob nicht auch bestimmte Tiere darunter fallen sollten. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Begriffe zwar im epistemologischen Sinne anthropozentrisch sein können (sie stammen von uns), ohne deswegen in einem substanziellen Sinne anthropozentrisch sein zu müssen (sie betreffen nicht nur uns). Kehren wir nach der kurzen Diskussion dieses Einwands zu den Begriffen Wissen, Denken und Bewusstsein zurück. Verschiedene Philosophinnen und Philosophen haben ebenso wie Mohan Matthen mit Bezug auf Farben argumentiert,
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dass diese Begriffe bereits auf nicht-menschliche Tiere Anwendung finden und dass wir unsere begrifflichen Analysen entsprechend ändern müssen. So hat Hilary Kornblith argumentiert, dass die Anwendung des Wissensbegriffs auf Tiere dazu führen muss, dass wir die klassische Definition des Wissens als gerechtfertigte wahre Überzeugung fallen lassen sollten, weil Tiere nicht in der Lage sind, ihre wahren Überzeugungen zu rechtfertigen. Stattdessen schlägt er vor, Wissen als zuverlässig erworbene, wahre Überzeugung zu verstehen, weil Tiere durchaus über epistemische Vermögen wie die Wahrnehmung, die Erinnerung oder das Denken verfügen, die zuverlässig zu wahren Überzeugungen über ihre natürliche Umwelt führen (Kornblith 2002). Kornbliths Vorschlag ist methodisch deshalb interessant, weil er den Begriff des Wissens aufgrund seiner Verwendung im Kontext der kognitiven Ethologie analysiert. Da dieser Begriff in diesem Forschungsbereich eine sinnvolle Rolle spielt, weil er dort zu Erkenntnisgewinnen führt, sollte er als grundlegender Begriff ernst genommen werden. Zweitens zeigt die Verwendung im Kontext der kognitiven Ethologie, dass Wissen als eine natürliche Eigenschaft von Lebewesen betrachtet werden sollte und nicht ausschließlich als kulturelles Konstrukt verstanden werden muss. Drittens argumentiert Kornblith, dass der Begriff des Wissens, wenn wir ihn auf Menschen und ihre reichen kulturellen Instrumente anwenden, keine grundlegende Bedeutungsveränderung erfährt. Wissen bleibt sowohl bei Menschen als auch beim Raben zuverlässig erworbene, wahre Überzeugung. Dass diese Überzeugungen bei uns in komplexe kulturelle Praktiken der Rechtfertigung eingebettet sind oder dass wir über weitreichendere sowohl psychologische als auch soziale Mittel der Herstellung von Zuverlässigkeit verfügen, verändert den Begriff im Kern nicht. Mit Blick auf den Begriff des Denkens hat José-Luis Bermúdez argumentiert, dass uns die empirisch gut belegten Denkleistungen von Kleinkindern und nicht-menschlichen Tieren dazu nötigen, einen Begriff des Denkens zu erarbeiten, der nicht explizit oder implizit auf sprachliche Vehikel Bezug nimmt. Das ist kein einfaches Unterfangen, da in den meisten Theorien des Denkens und der Rationalität logische Relationen zwischen satzartigen Vehikeln als Voraussetzungen für Folgerungen eingesetzt werden. Vereinfacht gesagt, schlägt Bermudez vor, Denken nicht so sehr als eine Fähigkeit zu Folgerungen zu verstehen, sondern als die Fähigkeit, auf eine bestimmte Weise mithilfe von mentalen Repräsentationen zielorientiert zu handeln, wobei wir diese Fähigkeit vielen nichtmenschlichen Tieren zugestehen können (Bermúdez 2003). Demgegenüber haben Michael Rescorla und Elisabeth Camp vorgeschlagen, nicht sprachliche oder satzartige Vehikel als Grundlage für Folgerungen und andere Denkprozesse zu verstehen, sondern das Format der mentalen oder kognitiven Karten zu bemühen. Seit Edward Tolmans klassischer Studie zu nicht-erlernten Abkürzungen hin zu Futterplätzen, die Ratten in künstlichen Labyrinthen einschlagen, hat die These, dass Tiere räumliche Repräsentationen ihrer Umgebung in der Form kognitiver Karten anlegen, zunehmend an Attraktivität gewonnen (Tolman 1948). Rescorla und Camp zeigen, wie Denkprozesse auf dieser Grundlage modelliert werden können, entweder indem sie Bayesianische Prozesse der Entscheidungsfindung, wie sie in der Robotik verbreitet sind, auf kognitive Karten anwenden (Rescorla
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2009) oder indem sie die uns vertrauten Karten auf eine Weise anreichern, die zu unterschiedlichen, jedoch räumlich limitierten Fähigkeiten zum logischen Folgern führt (Camp 2007). Das zweite Beispiel ist mit demjenigen Kornbliths durchaus verwandt, weil der Begriff des Denkens ebenfalls vor dem Hintergrund seiner Verwendung im Kontext der kognitiven Ethologie (und der Kinderpsychologie) analysiert wird, weil Denken ebenfalls als eine natürliche Eigenschaft von Lebewesen und nicht ausschließlich als kulturelles Konstrukt betrachtet wird, und weil wir auch unser räumliches Denken und die mit ihm einhergehenden ausgesprochen reichhaltigen kulturellen Praktiken auf der grundlegenden Idee kognitiver Karten aufbauen können. Darüber hinaus leistet die Erweiterung des Denkens um das kartographische Format zweierlei, das wir so in Kornbliths tierphilosophischer Neubestimmung des Wissensbegriffs nicht gefunden haben. Erstens erweitert der Blick auf die räumliche Orientierung bei Tieren die traditionelle Auffassung, dass Denkprozesse entweder in Analogie zu Bildern oder zu Sätzen erklärt werden müssen, um eine genuine und eigenständige dritte Option. Zweitens verspricht das kartographische Format bei Tieren nicht nur, ihre spezifische Denkfähigkeit zu erschließen, sondern zugleich deren Grenzen aufzuzeigen. Es mag nämlich durchaus Bereiche des Denkens geben, die dem kartographischen Format nicht zugänglich sind. Dazu gehört beispielsweise das Denken in zeitlichen oder modalen Kategorien oder das reflexive Denken. Es liegt auf der Hand, dass damit möglicherweise Denkprozesse angesprochen sind, die für uns Menschen in hohem Maße spezifisch sind und die nicht-menschlichen Tieren aufgrund ihrer Beschränkung auf das piktoriale und kartographische Format weitgehend unzugänglich bleiben. Tiere bekunden große Mühe, die Zukunft zu planen, über alternative Möglichkeiten zu sinnieren oder ihre Entscheidungen kritisch zu hinterfragen – für uns Menschen fundamentale Fähigkeiten. Die Bewusstseinsphilosophie, um zu meinem letzten Beispiel zu kommen, ist traditionell stark von der These geprägt, dass Bewusstsein Selbstbewusstsein impliziert. So hat etwa John Locke in seinem Essay Concerning Human Understanding (1689) Bewusstsein als die Wahrnehmung dessen definiert, was im Geist eines Menschen vor sich gehe: „Consciousness is the perception of what passes in a Man’s own mind“ (Locke 1975, 02.01.19). Dabei geht es mir weniger um den auffälligen Umstand, dass Locke hier den Begriff des Bewusstseins bereits mit Blick auf den Menschen (Man) bestimmt, sondern dass er ihn als eine Form des Selbstbewusstseins bestimmt, nämlich als Wahrnehmung (perception) der eigenen mentalen Vorgänge (what passes in a Man’s own mind). Jean-Paul Sartre wird rund 250 Jahre später ganz im Sinne Lockes argumentieren, wenn er sagt, dass ein Bewusstsein, das sich seiner selbst nicht bewusst sei, ein unbewusstes Bewusstsein wäre, was ein Widerspruch ist; deshalb impliziere Bewusstsein notwendig Selbstbewusstsein (Sartre 1943, 18). Ein Problem der traditionellen Theorie des Bewusstseins als Selbstbewusstsein besteht darin, dass sie zu einem Regress führt. Wenn ein mentaler Zustand nur bewusst ist, wenn er Gegenstand eines höherstufigen Bewusstseins ist, dann muss dieses bewusstmachende Bewusstsein wiederum Gegenstand eines Bewusstseins sein, um bewusst sein
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zu können usw. Daraus folgt, dass wir kein Bewusstsein haben können, falls es zutrifft, dass Bewusstsein notwendigerweise Selbstbewusstsein impliziert, so dass der Regress zu einer offensichtlich absurden Konsequenz führt. Natürlich mangelt es in der Philosophie nicht an Lösungsvorschlägen für dieses Regressproblem, die alle wiederum ihre Probleme aufwerfen. Es ist jedoch erstaunlich, mit welcher Hartnäckigkeit die Reflexion hier sozusagen an sich selber festhält und einen Ausweg aus der eigenen Verstrickung sucht. Ich vermute, dass die Hartnäckigkeit damit zu tun hat, dass wir das Selbstbewusstsein oder die Reflexion als eine ausgezeichnete Eigenschaft rationaler Wesen betrachten, die uns von den nicht-rationalen Tieren unterscheiden soll. Dabei läge eine Lösung mit Blick auf Tiere auf der Hand, wenn wir nur einer relativ undramatischen Intuition folgen: Zahlreiche nicht-menschliche Tiere verfügen über Bewusstsein, ohne über Selbstbewusstsein zu verfügen. Fische etwa können Schmerz empfinden, wobei Schmerz zweifellos ein bewusstes Erlebnis ist. Wir brauchen deswegen aber nicht anzunehmen, dass Fische über Selbstbewusstsein verfügen, mithin über ein Bewusstsein ihres bewussten Schmerzes (Wild 2012). Sartres Intuition können wir verscheuchen, wenn wir bedenken, dass Bewusstsein nicht so sehr als etwas verstanden werden sollte, das auf einen mentalen Zustand gerichtet ist, sondern vielmehr als etwas, das auf einen Zustand in der Welt oder im Körper gerichtet ist. Eine bewusste visuelle Wahrnehmung ist primär das Sehen eines Objekts und nicht das Bewusstsein davon, dass ich jetzt ein Objekt sehe; und ein bewusster Schmerz ist primär die unangenehme Empfindung einer Verletzung des eigenen Körpers und nicht das Bewusstsein davon, dass ich jetzt eine unangenehme Empfindung einer Körperverletzung habe. Weiter dürfen wir uns das Bewusstsein als eine Eigenschaft von Lebewesen vorstellen, die im Laufe der Evolution entstanden ist und somit für Tiere vermutlich eine bestimmte Funktion erfüllt (Snider 2017). Dabei hat sich in der Neurobiologie für eine erstaunlich lange Zeit ein neurologisches Pendant zur Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins gehalten, nämlich das Argument, dass Bewusstsein ohne Neocortex – genauer: nicht ohne eine bestimmte Ausprägung des Neocortex – nicht möglich sein soll. Da Fische (sowie alle Tiere außer Säugetieren) über keinen Neocortex verfügen, der Sitz des Bewusstseins aber im Neocortex zu lokalisieren sei, können Fische keine bewussten Empfindungen und a forteriori auch keine Schmerzempfindungen verspüren. Dieses Argument ist aus mehreren Gründen problematisch. Allerdings ist die These vom „Sitz des Bewusstseins“ im Neocortex kaum haltbar. Aber sogar wenn sie haltbar wäre, würde daraus lediglich folgen, dass der „Sitz des Bewusstseins“ bei Menschen und einigen anderen Säugetieren im Neocortex zu finden wäre, nicht aber, dass Wirbeltiere wie Vögel, Reptilien, Amphibien oder Fische nicht über bewusste Empfindungen verfügen, weil sie keinen Neocortex haben, denn es könnte durchaus sein, dass andere Regionen des Hirns für die Prozesse zuständig sind, die mit dem bewussten Erleben korreliert sind. Anders gesagt: Die psychische Fähigkeit, Schmerzen zu empfinden oder andere bewusste Erlebnisse zu haben, kann auf multiple Weise realisiert sein. Der eklatante Fehler des Arguments wird durch die folgende Karikatur ans Licht gebracht: Visuelle Wahrnehmung ist nicht m öglich
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ohne Neocortex, Falken verfügen über keinen Neocortex, also sind Falken zu visueller Wahrnehmung nicht fähig. Das ist offensichtlich absurd, denn Falken sind alles andere als blind. Der Fehler kann schnell behoben werden. Wenn bei uns Menschen (und anderen Säugetieren) ein Teil des Neocortex für die Verarbeitung visueller Information zuständig ist, so übernimmt bei Falken (und anderen Vögeln) ein anderer Bereich des Gehirns diese Rolle. Dasselbe gilt für das Schmerzerleben und andere Bewusstseinsformen. Es mag erstaunen, dass das ehrwürdige Thema des Selbstbewusstseins, das Philosophen wie Descartes, Locke, Kant oder Hegel beschäftigt hat, in die Niederungen der nicht-menschlichen Tiere und der empirischen Wissenschaften gezogen wird. (Es stellt sich dabei vielleicht ein analoges Unbehagen ein, wie es Stanley Cavell aus Anlass seiner Engführung von Hollywoodkomödien und ehrwürdigen philosophischen Theoriestücken thematisiert, vgl. Cavell 1981, 73.) Mir scheint aber, dass der Blick auf die Tiere die ganze Diskussion auf produktive Weise verschiebt. Schmerz- oder Farbbewusstsein ist keine Besonderheit des Menschen, sondern wir finden sie bei zahlreichen anderen Lebewesen vor. Dies hilft uns, zwischen dem Begriff des Bewusstseins und dem Begriff des Selbstbewusstseins einen Unterschied zu machen. Die Frage ist offen, ob nicht auch einige nicht-menschliche Tiere wie Affen, Delfine oder Raben über Selbstbewusstsein verfügen. Die eigentliche interessante Pointe des Selbstbewusstseins bezieht sich freilich auf unsere Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Wie im Zusammenhang mit der Diskussion des kartographischen Formats des Denkens angedeutet, könnte das selbstkritische reflexive Denken eine uns Menschen eigentümliche Form des Bewusstseins darstellen, deren Grundlagen wir mithilfe der empirischen Wissenschaften verstehen können, deren Ausprägung wir aber in einem erhöhten Maße in den Geistes- und Kulturwissenschaften als gelebte Praxis vorfinden.
3 Animal Turn und Animal Mainstreaming Ich hoffe, dass das Beispiel der Tierphilosophie deutlich machen konnte, dass ein Animal Turn durchaus eine wichtige Rolle in einer Disziplin spielen kann, indem er fehlerhafte Einseitigkeiten vermeidet (Matthens Analyse der Farbbegriffe, Kornbliths Analyse des Wissensbegriffs), den Möglichkeitsraum erweitert (Camps und Rescorlas Idee des Denkens im kartographischen Format) und Dogmen zu Fall bringt (das Selbstbewusstseinsmodell des Bewusstseins). In jedem Beispiel besteht der Ausgangspunkt darin, in einer Art Perspektivenwechsel den Standpunkt der Tiere einzunehmen und diesen dann in die Begriffsund Theoriebildung einzubringen. Wichtig ist, dass in jedem der Beispiele die empirische Forschung zu Tieren eine bedeutende methodologische Rolle spielt. Die Kooperation empirischer Forschung etwa aus den Bereichen der kognitiven Ethologie, der Evolutionsbiologie oder der Neurobiologie kann auf drei Arten erfolgen: Die Begriffs- und Theoriebildung ist empirisch informiert, die Begriffsund Theoriebildung findet in Kooperation mit empirischen Disziplinen statt oder
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die Begriffs- und Theoriebildung der Philosophie regt die Begriffs- und Theoriebildung einer empirischen Disziplin an oder entwickelt sie sogar weiter. Jede dieser drei Arten setzt eine profunde Vertrautheit nicht nur mit den begrifflichtheoretischen und methodologischen Grundlagen der eigenen Disziplin (in diesem Fall: der Philosophie) voraus, sondern ebenso eine gewisse Vertrautheit mit den begrifflich-theoretischen und methodologischen Grundlagen einer empirischen Disziplin, die sich mit nicht-menschlichen Tieren – oder genauer: mit Teilaspekten von deren Existenz – befasst (in diesem Fall: die kognitive Ethologie). Das Verhältnis ist dabei nicht das traditionelle hierarchische Verhältnis der kritischen Grundlagenreflexion oder der konstruktiven Wissenschaftsphilosophie seitens der Philosophie, sondern idealerweise ein Verhältnis auf Augenhöhe. Folgt man diesem Modell des Animal Turn, dann reicht der Einbezug von Tieren als zusätzliche Objekte der geistes- oder kulturwissenschaftlichen Forschung nicht aus. Ein solcher Einbezug stellt weder einen fundamentalen Perspektivenwechsel noch eine methodische Neuorientierung dar, sondern höchstens eine thematische Erweiterung. Weder kommt darin der Eigensinn einer tierlichen Perspektive zum Tragen noch die Forderung einer der drei genannten Arten der Kooperation mit empirischer Forschung. Aus diesem Grund sollte nicht jeder Einbezug von Tieren in die geistes- oder sozialwissenschaftliche Forschung einem Animal Turn zugerechnet werden. Dennoch scheint es nützlich, die an vielen Orten zu beobachtende Einbeziehung von Tieren in die geistes- und kulturwissenschaftliche Forschung als ein einheitliches (und m. E. sehr zu begrüßendes) Phänomen zu sehen, das unterschiedlich stark ausgeprägt sein kann. Im Folgenden gebe ich zuerst wiederum eine Reihe von vier Beispielen für diese graduelle Ausprägung des Einbezugs von Tieren in diese Forschung, wobei auch die im ersten Abschnitt hervorgehobenen Merkmale der grundlegenden Perspektivenumkehrung und der methodischen Neuorientierung unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Adam Zamoyski schenkt in seiner erfolgreichen und im besten Sinne populärwissenschaftlichen Darstellung von Napoleons Russlandfeldzug von 1812 den Verlusten an Pferden und deren Leiden infolge von Gewalt, Nahrungsmangel, Wetterverhältnissen und schlechter Haltung beachtlichen Raum (Zamoyski 2012). Er versucht, die Verluste an verschiedenen Stellen zu beziffern. Durch heftige Unwetter sollen auf französischer Seite zu Beginn des Feldzugs, noch vor den eigentlichen Kampfhandlugen, laut zeitgenössischen Schätzungen bis zu 40.000 Pferde innerhalb kurzer Zeit gestorben sein (ebd., 185). Auch auf den Buchillustrationen, bei denen es sich überwiegend um Zeichnungen von Augenzeugen handelt, finden sich häufig tote oder verendende Pferde dargestellt. Allerdings tauchen diese massiven Verluste in der abschließenden Graphik der Verluste der Grande Armée zwischen Juni und Dezember 1812 nicht mehr auf, die allein die Menschenleben berücksichtigt (ebd., 602 f.). Die Ursachen für die Verluste der Pferde werden nur sporadisch, nicht systematisch beleuchtet, zeitgenössische Ansichten über den Einsatz und die Haltung von Pferden im Krieg werden ebenso wenig beleuchtet wie die Versuche, mit diesem entscheidenden Problem umzugehen. Trotz der wiederholten Thematisierung der Pferde – und der
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sehr sporadischen Nennung von Hunden – kann Zamoyskis Darstellung keinesfalls als Ausdruck eines Animal Turn betrachtet werden. Zwar erweitert er die Darstellung thematisch um Tiere, klammert sie im entscheidenden Augenblick aber wieder aus. Weder nimmt er eine fundamentale Perspektivenumkehrung vor noch betritt er methodisches Neuland. Im Gegensatz dazu finden wir Éric Baratays Werk Le point de vue animal eine andere Betrachtungsweise der Hunde und Pferde zu Beginn des Ersten Weltkriegs (Baratay 2012, 205–226). Der Einbezug einer Vielfalt von neuartigen Quellen, die intime Kenntnis des ethologischen Profils dieser Tiere, die Fokussierung auf die unterschiedliche Ausbildung und den sich wandelnden Einsatz der Tiere erlauben es, von einem Perspektivenwechsel zu sprechen. Allerdings finden wir keine wesentliche methodische Neuorientierung, die sich auf eine der drei genannten Arten mit empirischen Forschungen zu diesen Tieren auseinandersetzen würde. R. Dale Guthrie, den ich als drittes Beispiel anführe, hat als einer der ersten einen explizit naturhistorischen Blick auf die Tierdarstellungen des Paläolithikums geworfen, indem er die zahlreichen Darstellungen von Tieren in der ‚Höhlenmalerei‘ nicht als Ausdruck eines Jagdzaubers, als Objekte schamanistischer Praktiken oder als Kunstobjekte betrachtet, sondern als Speicher von naturhistorischem Wissen, der sowohl Aufschluss über die expliziten ‚zoologischen Kenntnisse‘ der Produzenten dieser Tierdarstellungen gibt als auch über die impliziten kognitiven Fähigkeiten, die diesen Darstellungen zugrunde liegen (Guthrie 2005). Guthrie nimmt hier einen Perspektivenwechsel vor, indem er die dargestellten Tiere nicht als Ausdruck einer religiösen Praxis ihrer Produzenten betrachtet, sondern als Ausdruck einer vielschichtigen kognitiven (und praktischen) Relation der menschlichen Produzenten zu den tierlichen Modellen; zudem bezieht er auf substantielle Weise empirische Informationen über der Verhalten der repräsentierten Tiere mit ein. Schließlich finden wir in Peter Jordans Untersuchungen zur materiellen Kultur und sozialen Transmission von materiellen Technologien bei sibirischen und nordamerikanischen Volksgruppen die Anwendung der Theorie und Methodologie der sozialen Transmission, die im Zuge der Erforschung der materiellen Kultur bei Schimpansen und anderen Menschenaffen entwickelt worden ist (vgl. Whiten u. a. 1999, 2011; Hoppitt/Laland 2013): The main starting point is the absolutely central and now consensus idea that the practice of craft traditions form part of general cultural reproduction. However, the book argues that this renewed emphasis on understanding technology as a fundamentally social tradition – that is, as cultural information reproduced through social learning – generates some broad analogies with the ways in which evolutionary biologists have investigated the transmission of genetic information. Both genetic and cultural inheritance systems exhibit evolutionary properties of ‚descent with modification‘. (Jordan 2015, 4)
Es wird oft übersehen, dass es bei nicht-menschlichen Tieren zahlreiche soziale Praktiken und Institutionen gibt. Dazu gehören soziale Rollen (z. B. Freunde), Stellungen (z. B. Alpha), Ereignisse (z. B. gemeinsame Jagd), Einrichtungen (z. B. Grooming), Praktiken (z. B. Walgesänge), Artefakte (z. B. Werkzeugherstellung bei Menschenaffen) und soziale Traditionen (z. B. die Art der
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ahrungsaufnahme). Diese Praktiken und Institutionen unterscheiden sich von N Population zu Population und werden durch Mechanismen des sozialen Lernens kulturell tradiert. Die Traditionen auf der Populationsebene, die aufgrund sozialer Lernmechanismen wie Imitation, Emulation oder Unterricht entstehen, können in Analogie zur selektiven Weitergabe von genetischen Merkmalen untersucht werden. Ebendiese Perspektive wendet Jordan auf die Tradierung der Herstellung von Vorratsspeichern, Schreinen, Skiern oder Schlitten bei Populationen in Westsibirien und im nordwestlichen Nordamerika an. Obwohl in Jordans Untersuchung nicht-menschliche Tiere nicht im Zentrum stehen, werden sowohl eine Perspektivenumkehrung als auch eine methodische Neuorientierung vorgenommen: Die materielle Kultur von Menschen wird nicht von den analogen Naturprodukten nicht-menschlicher Tiere abgesetzt, sondern methodisch in Kontinuität damit verstanden. Ich denke, dass man vergleichbare Beispiele auch mit Bezug auf Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Musikologie oder Soziologie geben könnte. Das Phänomen des Einbezugs von Tieren in die geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung kann man als Animal Mainstreaming bezeichnen. Mit Blick auf die Tierethik habe ich diesen Begriff unlängst in Analogie zum Gender Mainstreaming in die Diskussion eingeführt und ihm die folgende allgemeine Bestimmung gegeben: Animal Mainstreaming zielt darauf, zwischen Menschen und Tieren eine bestimmte Form der Gleichheit herzustellen durch Einbezug dieses Ziels in alle gesellschaftlich relevanten Bereiche und als ein zentrales Element bei allen politischen Entscheidungen. (Wild 2019, 328)
Die relevante Form der Gleichheit kann präzisiert werden als die Berücksichtigung vergleichbarer Interessen und der Kreis der ethisch zu berücksichtigenden Tiere kann auf die bewusstseinsfähigen Tiere (grob gesagt: Wirbeltiere) beschränkt werden. Daraus ergibt sich die folgende Reformulierung: Animal Mainstreaming zielt darauf, zwischen Menschen und anderen Wirbeltieren eine bestimmte Form der Gleichheit herzustellen, nämlich die Berücksichtigung vergleichbarer Interessen, durch Einbezug dieses Ziels in alle relevanten Bereiche und als ein zentrales Element bei allen Entscheidungen. (Ebd., 329)
Abschließend habe ich für eine besonders starke Deutung der zu berücksichtigenden Interessen argumentiert, nämlich für eine moralisch-rechtliche Deutung. Daraus ergibt sich eine starke tierrechtliche Deutung des Animal Mainstreaming: Animal Mainstreaming zielt darauf, zwischen Menschen und anderen Wirbeltieren eine bestimmte Form der Gleichheit herzustellen, nämlich die Berücksichtigung vergleichbarer Interessen, insbesondere der Rechte auf körperliche Unversehrtheit und auf Leben, durch Einbezug dieses Ziels in alle relevanten Bereiche und als ein zentrales Element bei allen Entscheidungen. (Ebd., 332)
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Der Begriff des Animal Mainstreaming kann auch unabhängig von tierethischen Diskussionen und Debatten auf den Einbezug von nicht-menschlichen Tieren beispielsweise in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung angewandt werden: Allgemeine Bestimmung: Animal Mainstreaming zielt darauf, zwischen Menschen und Tieren eine bestimmte Form der Gleichheit herzustellen durch Einbezug dieses Ziels in forschungsrelevante Bereiche und als ein Element bei Forschungsfragen im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften.
Während die allgemeine Bestimmung des Animal Mainstreaming in der Tierethik eine normative Kategorie darstellt – sie motiviert und fordert den Einbezug der Tiere in alle gesellschaftlich und politisch relevanten Entscheidungen aus unterschiedlichen moralischen Gründen –, muss die allgemeine Bestimmung für die (geistes- und kulturwissenschaftliche) Forschung aus meiner Sicht primär eine deskriptive Kategorie sein. Eingangs habe ich betont, dass ich in Bezug auf den Animal Turn nicht den Weg von der Motivation zum Begriff begehen möchte, sondern umgekehrt den Weg vom Begriff zur Motivation. Während es der erste Weg zulässt zu argumentieren, dass ein Animal Turn gefordert werden kann oder sogar muss, lässt es der zweite Weg offen, ob diese Forderung allgemein gestellt werden darf. Deshalb ist die allgemeine Bestimmung für die (geistes- und kulturwissenschaftliche) Forschung lediglich hypothetisch (nicht kategorisch), sie lässt sich deshalb nicht als eine Forderung an alle Forschungsbereiche und Forschungsfragen stellen. Will man aus einem Animal Mainstreaming, das beispielsweise auch in der Schilderung des Schicksal der Pferde in Zamoyskis Darstellung des Russlandfeldzugs berücksichtigt, zu einem Animal Turn gelangen, so muss man zu einem grundlegenden Perspektivenwechsel sowie zu einer methodischen Neuorientierung in Richtung der empirischen Forschung zu nicht-menschlichen Tieren fortschreiten. Eine starke Bestimmung des Animal Mainstreaming, das den Namen Animal Turn tragen kann, sieht also wie folgt aus: Starke Bestimmung: Animal Mainstreaming zielt darauf, zwischen Menschen und Tieren eine bestimmte Form der Gleichheit herzustellen durch Einbezug dieses Ziels in forschungsrelevante Bereiche und als ein Element bei Forschungsfragen im Bereich der Geistes- und Kulturwissenschaften, und zwar durch einen fundamentalen Perspektivenwechsel in Richtung nicht-menschlicher Tiere und/oder den Einbezug einer methodischen Neuorientierung aus den empirischen Forschungen zu nicht-menschlichen Tieren.
Während die Beispiele von Guthrie und Jordan diesen Anspruch erfüllen, bleibt Baratay auf halbem Wege stehen, durchaus mit gutem Grund. Ob jede Disziplin den Weg zu einer starken Form des Animal Mainstreaming nehmen soll, will und kann ich hier nicht entscheiden, da ich keinen normativen Begriff entwickelt habe. Das Beispiel der Tierphilosophie sollte lediglich darauf hinweisen, dass es sich durchaus lohnen kann.
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Forschungsumwelten der Tierforschung Methodologische und ethische Implikationen Kristian Köchy
1 Vom ökologischen Ansatz zu Forschungsumwelten Ein Strang der kontextuellen Wissenschaftsforschung beschreibt den eigenen Ansatz als ecological approach. Beispielsweise versteht der Wissenschaftshistoriker Robert E. Kohler seine Arbeit zu Modellorganismen in dem Beitrag „Drosophila: A Life in the Laboratory“ (Kohler 1993, 281) in Analogie zu einer ökologischen Untersuchung. Diese Ecology of Knowledge (Rosenberg 1979; Star/Griesemer 1989; Star 1995) steht im Zusammenhang mit einer topographischen oder kontextuellen Wende der Wissenschaftsforschung. Man nimmt eine räumlich-materiale Erweiterung klassischer Wissenschaftskonzepte vor. Eine Akzentverschiebung der Aufmerksamkeit weg von rein ideal-kognitiven Momenten der Methodologie wie Begriffen, Formeln oder Theorien (die letztlich „nirgendwo“ situiert sind) hin zu real-materialen wie Labors, Instrumenten oder Forschungstieren ist die Folge (diese sind immer auch räumlich situiert). Konkret meint die ökologische Herangehensweise im Falle der Arbeiten Kohlers dann eine Berücksichtigung des Labors als eines von Menschen gemachten künstlichen Raumes zur wissenschaftlichen Untersuchung von Lebewesen. Dieser Raum kann unter ökologischen Vorzeichen betrachtet werden, also als möglicher Lebensraum. Da Labororganismen zudem nicht nur passive Gegenstände wissenschaftlicher Untersuchung sind, sondern eben Lebewesen, die im Labor leben und deren lebendige Aktivitäten selbst im Forschungsvollzug vorausgesetzt, provoziert oder aber toleriert werden, spricht Kohler sogar davon, Tiere seien „active
Die Überlegungen dieses Beitrages basieren auf den umfänglicheren Ausführungen in Köchy 2018. K. Köchy (*) Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_5
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players“, „capable of unexpectedly changing the conventions of experimental practice“ (Kohler 1993, 282); sie seien gar „fellow laborer“ (ebd., 285). Für ihn sind manche Interaktionen zwischen Forschenden und Forschungsorganismen „symbiotic relations“ (ebd., 308). Die Bezeichnung eines metatheoretischen Ansatzes als ecological approach zielt zunächst nur darauf ab, mit dem Verweis auf „Ökologie“ ein systemisches oder kontextuelles Verständnis von Wissenschaft zu unterstreichen. Sie bedeutet nicht unbedingt, dass auch die obige Akzentsetzung auf Lebewesen im Lebensraum (Labor) eine Rolle spielt. Ja, bezüglich des Status von Lebewesen im Systemgefüge der Wissenschaft betonen viele Vertreter des ecological approach sogar ihre Zurückweisung klassischer Dichotomien wie „natürlich“/„künstlich“ oder „sozial“/„technisch“ und sehen dieses als zentrale Intention des ökologischen Ansatzes an (Star 1995, 1 f.). Wenn jedoch wie bei Kohler Lebewesen als solche zum Thema werden, dann wird ein Verständnis von „Ökologie“ investiert, nach dem die Ökologie eine Wissenschaft vom Austausch von Materie und Energie zwischen Lebewesen und deren Umgebungen ist. Strukturen und Funktionen der Tierforschung werden deshalb analog zu Beziehungen verstanden, wie sie zwischen Lebewesen (als natürlichen Körpern) und den physikalischen und biologischen Faktoren ihrer Umgebung existieren. Unter solchen Vorzeichen bleibt es jedoch fraglich, wie sich Kohlers Bezeichnung der Labororganismen als „active players“ oder gar „fellow laborer“ legitimiert, behauptet sie doch einen Subjekt- oder Akteurstatus, der jenseits der naturwissenschaftlich-ökologischen Beschreibungsebene von Stoffkreisläufen liegt. Um eine solche Ausdehnung zu legitimieren, müsste sich auch die Hintergrundkonzeption deutlich ändern. Dieses zeigt das Beispiel Donna Haraways. In ihrem Buch When Species meet unterstreicht auch sie im Sinne Kohlers, Labororganismen seien nicht nur „worked objects“, sondern „working subjects“ (Haraway 2008, 80). Für diese Behauptung muss sie allerdings einen anspruchsvollen metatheoretischen – um nicht zu sagen metaphysischen – Rahmen investieren. Sie setzt eine ontologische Grundkonzeption voraus, die sie als Tanz der Relationen („dance of relating“; ebd., 25 f.) zwischen „companion species“ (ebd., 4, 15 ff.) beschreibt. Menschen und Tiere seien als leibliche und sterbliche Wesen gemeinsam am Prozess der Welterschaffung beteiligt. Hier sind zentrale Anleihen bei voraussetzungsvollen Philosophien gemacht, wie denen von Maurice Merleau-Ponty (ebd., 1 ff.) oder Alfred North Whitehead (ebd., 7). Im Folgenden werde ich für einen alternativen Ansatz plädieren, um die oben gemachte Bestimmung des Subjektstatus von Forschungsorganismen zu legitimieren. Der von mir vorgeschlagene Ansatz stammt selbst aus der Tierforschung und stellt zudem ein Analyseinstrument für Forschungskontexte der Tierforschung dar. Ich nenne diesen Ansatz, den Ansatz der Forschungsumwelten (Köchy 2018). Ohne alle Implikationen von dessen Philosophie zu übernehmen, beziehe ich mich mit meiner Rede von Forschungsumwelten auf Jakob von Uexküll (Köchy 2018, 31–48). Dieser hat „Umwelt“ in Abgrenzung von „Umgebung“ als die von Tieren selbst erlebte Dimension „innerer“ Ereignisse bestimmt. Solches Erleben als Folge einwirkender Reize hat weitere „innere“ Prozesse zur Folge,
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die Handlungen als Reaktionen auslösen. Diese führen zu Veränderungen im Außenmedium. „Umwelt“ ist also ein technischer Begriff für diejenigen Eigenschaften einer abstrakten Wirklichkeit, die für das infrage stehende Lebewesen (arttypisch) relevant sind. Umwelt ist subjektives Erzeugnis von Lebewesen. Tiere sind nach diesem Modell intentionale Subjekte. Mein zentraler Punkt ist, dass erst im Rahmen des Umweltkonzepts – und nicht bereits im Rahmen des Ökologiekonzepts – der Subjektstatus von Lebewesen zum Thema wird. Die Betonung der Subjektnatur von Lebewesen ist jedoch nur ein zentrales Kennzeichen des umweltwissenschaftlichen Ansatzes. Weitere gilt es im Folgenden zu nennen, um die Unterscheidung des Konzeptes der Forschungsumwelten vom Ansatz einer Ökologie des Wissens zu erläutern. So werden erst im Rahmen des Umweltkonzepts die menschlichen Beobachtenden als körperlich-leiblich verfasste Beobachtende in die metatheoretische Betrachtung mit einbezogen. Nach Thure von Uexküll gilt: „Ein wesentlicher Unterschied der Umweltforschung gegenüber allen anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen betrifft ihre Forderung, den Standpunkt des Beobachters in das Bezugssystem der Forschung mit einzusetzen.“ (v. Uexküll 1970, XXX) Darüber hinaus wird es erst im Rahmen des Umweltkonzepts möglich, die besondere Relation zwischen den menschlichen Forschenden als Lebewesen und den von ihnen erforschten nichtmenschlichen Lebewesen in ihrer wechselseitigen Verwobenheit als Lebenszusammenhang zu erfassen. „Lebenszusammenhang“ meint dabei mehr als die auch in ökologischer Hinsicht bedeutsame Tatsache, dass Forschende und Erforschte biologisch betrachtet Lebewesen sind, die in stofflicher und energetischer Beziehung zur Umgebung stehen. „Lebenszusammenhang“ meint stets auch das epistemisch und methodisch relevante Faktum, dass auf der Seite der Forschenden das Wissen über diese geteilte ontische Qualität im Forschungsvollzug eine Rolle spielt. Es meint zudem, dass auf der Seite der Erforschten die Lebendigkeit auch mit Blick auf deren „Subjektivität“ zu Buche schlägt. Eine Metaperspektive auf die Tierforschung einzunehmen, die nicht ein ecological approach, sondern ein umwelten approach ist, hat also bei Beibehaltung bestimmter konzeptioneller Vorannahmen deutliche Verschiebungen in anderen Bereichen zur Folge. Beibehalten wird die Annahme aller kontextuellen und topographischen Programme, dass Wissenschaft einen Zusammenhang bezeichnet, der immer auch unter Rücksicht auf die jeweilige situative Verfasstheit betrachtet werden muss. Deren stets auch materiale Ausprägung erzeugt bestimmte relevante Konstellationen von Dingen oder Ereignissen. Da es zur materialen Verfasstheit der Tierforschung gehört, dass Forschende und Forschungsobjekte besondere materielle Einheiten sind, nämlich solche, die wir Lebewesen nennen, weist die räumliche Situierung in diesem Fall Qualitäten auf, wie sie auch in Ökosystemen zwischen Lebewesen herrschen. Das Novum des Ansatzes der Forschungsumwelten ergibt sich aber, wenn man berücksichtigt, dass mit dieser spezifischen materiellen oder ontischen Konstellation auch eine epistemische oder methodologische Konstellation einhergeht. Menschliche Forschende als Lebewesen sind Subjekt-Objekte der Forschungshandlung. Sie treffen in dieser Forschungshandlung auf Lebewesen, die als
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orschungsgegenstände mit Subjektivität ebenfalls Subjekt-Objekte sind. Die sich F aus dieser Konfrontation mit Tieren als Selbst-Anderen ergebende Rückbezüglichkeit und Dialektik sucht das Konzept der Forschungsumwelt zu erfassen.
2 Das Fallbeispiel: Wolfgang Köhlers Schimpansenforschung Konkretisieren möchte ich den so programmatisch skizzierten Ansatz an drei miteinander verbundenen Aspekten der Forschungssituation in der Tierforschung, die ich an einem historischen Fallbeispiel erläutere (Köchy 2018, 49 ff.). Mein Fallbeispiel entstammt einem Komplex von Fragestellungen aus Philosophie und biologischer Tierforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die gewonnenen Einsichten lassen sich mutatis mutandis auch auf aktuelle Forschungskontexte übertragen. Als Beispiel wähle ich die Verhaltensexperimente an Affen, die der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler (1887–1967) (Zimmer 1987; Jaeger 1990a, 1990b; Neisser 2002; Sarris 2002; Ruiz 2014) durchgeführt und in seinem Buch Intelligenzprüfungen an Menschenaffen (1921) beschrieben hat (Köhler 1963; hierzu auch Jäger 1988, 132–183).1 Ich konzentriere mich auf eine Phase in Köhlers Forschung, die zeitlich vor der Phase der theoretischen Rechtfertigung, der Erklärung und Deutung liegt. Es geht um die Datenerhebung, die Erfassung von Befunden, die Beobachtung und Beschreibung von Verhalten in Untersuchungssituationen als dem konkreten Kontaktfeld von menschlichen Forschenden und den von ihnen erforschten Tieren. Es geht um jene Elemente des Forschungskontextes, die die spezifische epistemische Relation in Köhlers Untersuchungen bestimmen und die in ihrer vollen Ausprägung erst unter Anwendung der Idee der Forschungsumwelten in den Blick kommen. Im Folgenden seien drei miteinander verwobene Aspekte dieser Forschungskonstellation vorgestellt.
2.1 Forschende und Erforschte sind in Wechselbeziehung zueinander stehende Lebewesen Ein erster wesentlicher Aspekt des Umweltgedankens besteht wie betont in der Einsicht, dass man eine Relation voraussetzen muss, bei der menschliche Forschende als Lebewesen in eine (wissenschaftliche) Beziehung zu ihren Forschungsgegenständen treten, die ebenfalls Lebewesen sind. Diese Präsenz und Interaktion von Lebewesen in einem gemeinsam geteilten Milieu hat in epistemischer Hinsicht eine besondere Qualität, die bereits jenseits methodischer Fragen deutlich wird. Für Forschende in der Biologie ist es selbstverständlich, sich als Lebewesen zwischen Lebewesen zu verstehen und sich in Umgebungen
1Köhlers Publikationen zur Psychologie der Menschenaffen umfassen zudem Köhler 1915; 1917; 1918.
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zu befinden, die Leben hervorgebracht haben (Grene/Depew 2004, 351). Das Besondere an den Forschungsumwelten der Tierforschung ist also, dass die beobachtenden und forschenden Wissenschaftler und die von ihnen beobachteten und erforschten Lebewesen als Lebewesen grundsätzliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Die Rahmenbedingungen biologischer Existenz gelten für beide Glieder der Beobachtungsrelation. Humberto Maturana hat in seiner Ontologie des Beobachtens auf die daraus resultierenden Rückbezüglichkeiten hingewiesen (Maturana 1998, 145; hierzu auch Köchy 2013). Die geteilte Eigenschaft, Lebewesen zu sein, ist in umwelttheoretischer Hinsicht nicht nur deshalb interessant, weil die Umwelten der Forschenden und der Erforschten voneinander abweichen können, so dass epistemische Sonderwelten und sich daraus ergebende Vermittlungsprobleme resultieren (monadologische Interpretation von Uexkülls Umwelten). Das Umweltkonzept liefert auch eine Vorstellung von der Möglichkeit geschachtelter Überlagerungen von Umwelten und damit einen Zugang zur Erfassung wechselseitiger Interaktion von Lebewesen (integrative Interpretation). Schließlich ist mit dem Umweltmodell auch zum Ausdruck gebracht, dass solche Kontaktnahmen immer in situativen Kontexten erfolgen und eine räumliche sowie zeitliche Überschneidung der Präsenz von Lebewesen voraussetzen. Die Versuche Köhlers an Menschenaffen demonstrieren dieses in idealer Weise. Sie finden in einem von Menschen für die Erfordernisse der Verhaltensversuche (und des Lebens der Versuchstiere) hergestellten Milieu statt. Dieses ist, von einem Labor im üblichen Sinne unterschieden, aber für die Primatenforschung nach wie vor typisch, eine Mischung aus Freilandgehege, zoologischem Affenhaus und biologischer Station. Die einflussreichen Experimente zum Verhalten von Menschenaffen (Schurig 1987) finden in der Zeit des Ersten Weltkriegs auf dem Gelände „La Costa“ („Casa Amarilla“, Gelbes Haus) auf Teneriffa statt (Lück 1987a; Jaeger 1988, 97 ff., FN 53; Lück/Jaeger 1988; Ley 1990; Teuber 1994; Ruiz 2014, 2 ff.). Dieser Forschungsort wurde, neben politischen und ökonomischen Gründen, auch unter Rücksicht auf für Primaten klimatisch günstige Bedingungen ausgesucht. Das grasbewachsene Gelände der Station war mit Bäumen bestanden, die zum Aufenthalt und zur Beschäftigung der Menschenaffen dienten. Das als Übergang von Labor und Freiland verstehbare Versuchsareal war eine „zweite Natur“, künstlich mit einem Drahtkäfig umgeben und teilweise überdacht, was die Flucht der Tiere verhindern sollte. Bei manchen Versuchen wurde diese künstliche Begrenzung jedoch von den Tieren auch als Weg genutzt (Köhler 1963, 8), also ihren Bedürfnissen unterworfen. Die Vorgehensweise von Köhlers Experimenten manifestiert sich vor allem in räumlichen Eingriffen in die „Lebenswelt“ der Affen. Die künstliche Restriktion der Umgebung durch die Versuchsanordnung ist Köhler durchaus bewusst (ebd., 48). Er betont allerdings unter Einfluss von Ideen der Gestaltpsychologie (Hartung/Wunsch 2016) als zentrale Voraussetzung, dass es den Tieren möglich sein muss, die Gesamtsituation visuell zu erfassen und so bestimmte Lösungsstrategien für Versuchsaufgaben zu zeigen (Köhler 1963, 16 f.; hierzu auch Ruiz 2014, 10). Dieses ist nur bedingt eine ökologische Einsicht, sondern stellt eher
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eine umwelttheoretische Reaktion dar, da sie die epistemische Situation der Versuchstiere berücksichtigt. Entscheidend für den Gesichtspunkt der Forschungsumwelt ist darüber hinaus die gemeinsame Präsenz von lebenden Forschenden und lebenden Tieren als Untersuchungsgegenständen in einer Umgebung. Durch die Art der Versuchsdurchführung ist der menschliche Beobachtende hier nie weltexterner Zuschauer, sondern stets teilnehmendes und interagierendes Lebewesen, das in die Untersuchung involviert ist. Man sieht in den noch heute zugänglichen Filmdokumenten (Kalkofen 1975; Lück 1987b) zur Versuchssituation die Forschenden nicht zufällig gemeinsam mit ihren Versuchstieren im Bild. Der methodische Ansatz von Köhlers Versuchen ist ohne die Präsenz der menschlichen Beobachtenden gar nicht zu denken. Diese sind nicht nur Protokollierende eines auch ohne sie ablaufenden Geschehens. Köhlers Umwegversuche (Köhler 1963, 13) sind vielmehr nicht nur konzeptionell als topologische Struktur verfasst (wie Labyrinth- oder Orientierungsversuche auch), sondern in ihnen ist darüber hinaus der menschliche Beobachter notwendig präsent und dieses in negativer Weise. Er ist für die Tiere „dasjenige Wesen, welches die bequemsten Methoden […] fortwährend verbietet“ (ebd., 29, FN). Insofern kommen den Menschen in Köhlers Umwegversuchen zwei methodologische Funktionen zu, die von ihnen diametral entgegengesetzte Haltungen zu den Tieren fordern: Erstens haben sie die Aufgabe, das im Versuch ablaufende Verhalten der Tiere (passiv) zu beobachten und zu beschreiben. Zweitens haben sie die Funktion, (aktiv) bestimmte Lösungsverfahren und Lösungswege auszuschließen respektive zu verstellen. Während die Beobachtenden in der ersten Funktion scheinbar als neutrale Protokollierende des Verhaltens fungieren, haben sie in der zweiten Funktion eindeutig die Rolle von eingreifenden Experimentierenden. Grundsätzlich jedoch soll der Beobachtende – so das Neutralitätsgebot Köhlers – beim Lösungsversuch der Tiere nicht eingreifen. Allerdings ist auch dieses Gebot bei hochkomplexen Aufgaben, die die Tiere stark ermüden, nicht in aller Strenge durchzuhalten. Köhler erlaubt aus methodischen Gründen Eingriffe zur „Zielverschönerung“ (ebd., 30), d. h. zur Aufrechterhaltung der Motivation der Tiere. Die Präsentation der Ergebnisse in Köhlers Text folgt dann wieder der Norm der Distanz und Objektivierung als möglichst umfassende und neutrale Beschreibung des Beobachteten. Jedoch (und auch dieses ist aufschlussreich) sind in die wissenschaftliche Darstellung reflexive Passagen eingestreut, die Erläuterungen, Interpretationen und Zusatzverweise in kleinerer Schrifttype enthalten. Auch in diesen reflexiven Anteilen bleibt der individuelle Beobachtende in einer Art „Gedankenspur“ im Text der wissenschaftlichen Darstellung der Forschungsergebnisse präsent. Den in der Forschungsumwelt anwesenden, leiblich präsenten Forschenden stehen die ebenfalls präsenten tierlichen Lebewesen gegenüber, die und deren Verhalten den „Gegenstand“ der Forschung bilden. Hierbei handelt es sich neben den vorrangig untersuchten Schimpansen auch um Hunde und Hühner für Vergleichsstudien (ebd., 3). Köhler erwähnt seine Versuchstiere – den Gepflogenheiten naturwissenschaftlicher Untersuchungen folgend – im Anschluss an seine methodischen Ausführungen. Deutlich von der üblichen Darstellung eines
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„Forschungsmaterials“ weicht jedoch die Tatsache ab, dass Köhler seine Versuchstiere nicht als anonymisierte Objekte präsentiert, sondern als Individuen mit je eigenem Charakter. Wie Köhler betont: „Ich beschreibe kurz ihre Wesensart, um einen Eindruck davon zu geben, wie vollständig verschiedene ‚Persönlichkeiten‘ unter Schimpansen vorkommen“ (ebd., 4). Individuelle Menschenaffen werden nicht nur mit Verweis auf biologische Größen wie Geschlecht und vermutliches Alter vorgestellt, sondern mit ihren individuellen „Charakterzügen“: Die freundlich milde Nueva mit ihrem naiven Zutrauen und ihrer stillen Klarheit, der sich chronisch empörende Koko oder Sultan, ein Egoist par excellence (ebd., 4 f.). Die Tiere werden von Köhler auch bei ihren Versuchen zur Lösung der gestellten Aufgaben stets individualisiert und ihr Verhalten en détail beschrieben. Mit diesem single-case-Vorgehen reagiert Köhler auf die von ihm benannten individuellen Unterschiede in der Fähigkeit einzelner Tiere, im Versuch, die geforderten einsichtigen Lösungen herbeizuführen. Zugleich begründet sich daraus Köhlers Maxime, „daß niemals Beobachtungen an nur einem Schimpansen als maßgebend für die Tierform überhaupt angesehen werden dürfen“ (ebd., 20). Köhlers Vorgehen ist so die methodische Antwort auf eine große Variabilität und Dynamik des Verhaltens in komplexen Untersuchungssituationen, eine Variabilität, die Köhler auch mit seiner Feststellung von „Moden“ des Verhaltens unterstreicht, etwa von wechselnden Spielen, die in der Affengruppe tradiert werden (ebd., 49 ff.; 61 ff.). Dieses macht deutlich, dass sich Köhler aus sachlichen Gründen für die Beibehaltung der in der späteren Verhaltensforschung vehement abgelehnten Anekdote entscheidet, obwohl auch er „Wundergeschichten“ (ebd., 16) bei anderen kritisiert und für seine Berichte fortwährende Nachprüfung reklamiert (ebd., 61). Die Verweise auf die individuelle Charakteristik, auf die „Persönlichkeiten“ der Schimpansen, belegen, dass Köhler selbst (entgegen seines physikalischen Wissenschaftsideals; vgl. auch Jaeger 1989) die von ihm zu untersuchenden Lebewesen keinesfalls nur als biotische Größen eines unter ökologischen Vorzeichen zu fassenden Forschungszusammenhangs versteht, sondern dass sie für ihn als Mitlebewesen in ihrer je individuellen Verfasstheit, als Subjekte der Forschung also, eine Rolle spielen. Diesem Aspekt kann vor allem der Umweltenansatz angemessen Rechnung tragen.
2.2 Notwendiger Rekurs vom Erforschten auf die Forschenden Wie gesehen ist die Relation der Tierforschung eine solche, bei der auf beiden Seiten Lebewesen stehen. Dieses ist nicht nur wegen der ontischen Gemeinsamkeit der Relationsglieder relevant, sondern vor allem auch wegen der durch diese Konstellation möglich (oder notwendig) werdenden epistemischen oder methodischen Rückbezüge auf den menschlichen Beobachtenden im Kontext der Beobachtung. Wie es die bereits zitierten Worte Thure von Uexkülls zum Ausdruck bringen, ist der „Standpunkt des Beobachters“ in das Bezugssystem der Forschung einzubeziehen. Dieses hat epistemische Konsequenzen: Obwohl die
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Tierforschung, wie alle Wissenschaft, unter der methodischen Vorgabe der Fremdstellung steht, die sich etwa in Form eines Verbotes anthropomorpher Deutungen des Beobachteten äußert, werden an zentralen Stellen des Beobachtungsprozesses Rückbezüge der Forschenden auf die eigene Erfahrung (und die eigene Innenwelt) nicht nur epistemisch unvermeidlich, sondern erweisen sich möglicherweise als methodisch fruchtbar. Damit bestimmt eine komplexe Dialektik von Fremdstellung und Selbststellung die epistemische Situation. Betrachten wir dieses erneut am Fallbeispiel und konzentrieren uns dazu auf den untersuchenden Forscher (Köhler selbst). Wie angedeutet legt Köhler im Sinne des Ideals der methodischen Fremdstellung großen Wert auf möglichst neutrale Beobachtung und Beschreibung der Verhaltensleistungen von Menschenaffen. Das zeigt sich etwa in seiner – die Einsichten theoriengeleiteter Beobachtung ignorierenden – Absicht, auf theoretische Deutung der Versuche weitgehend zu verzichten. Diesen Verzicht begründet Köhler interessanterweise auch durch Abweichungen der Tierpsychologie vom Leitbild der Physik. Allerdings resultieren sie für Köhler nicht aus dem Charakter der zu untersuchenden Phänomene (komplexe Verhaltensleistungen von höher entwickelten Lebewesen), sondern vielmehr aus dem geringen Entwicklungsstand der diese Phänomene untersuchenden Wissenschaft. Die Tierpsychologie sei eben noch keine so „hochentwickelte Erfahrungswissenschaft wie [die] Physik“ (Köhler 1963, 133). Während die Physik bereits über ein System „nicht mehr verlierbaren Wissens“ (ebd.) verfüge, besitze die Tierpsychologie lediglich „recht ungefähre Theorien“ (ebd.), denen es an Strenge und Konsistenz mangele. Schauen wir jedoch genauer hin: Der Hinweis auf den Verzicht theoretischer Deutung ist bei Köhler nicht nur Ausdruck eines Wissenschaftsideals, die Betonung von Beobachtung und die Enthaltung von Theorie fungiert auch als strategisches Argument gegen die wissenschaftliche Gegenposition, wie sie der amerikanische Psychologe Edward Lee Thorndike (1874–1949) mit dessen auf dem Assoziationskonzept beruhenden und in der sogenannten ‚puzzle box‘ (Chance 1999) untersuchten Theorie des tierlichen Lernens nach Versuch und Irrtum repräsentiert. Auf den möglichen Einwand von dessen assoziationspsychologischer Seite, Köhlers Untersuchung setze vor aller Empirie die Prämissen der Gestaltpsychologie voraus, erwidert Köhler, schon die unbefangene Alltagsbeobachtung müsse einen Assoziationspsychologen von der Existenz einer in der Wahrnehmung entscheidbaren Differenz zwischen erlerntem und einsichtigem Verhalten überzeugen (Köhler 1963, 2 f.; zur nachträglichen Kritik an Köhlers Deutung von Seiten der Assoziationspsychologie vgl. Postman/Riley 1957; zu Pavlovs Kritik an Köhler vgl. Windholz 1984). Darüber hinaus – und das ist für unsere Untersuchung bedeutsam – resultiert aus Köhlers Betonung neutraler Beobachtung kein Verzicht auf Beschreibungen des beobachteten Verhaltens mittels Begriffen und Redewendungen, die wir als anthropomorph bezeichnen müssen. Im Gegenteil, für Köhler legitimiert gerade die im menschlichen Umgang mit seinen Mitmenschen belegbare Fähigkeit, in der Wahrnehmung wegen der Gestaltqualitäten (d. h. die jeweilige „Umwelt“ oder „Situation“ berücksichtigenden Eigenschaften) des Geschehens eindeutig zwischen zufälligem und
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einsichtigem Verhalten unterscheiden zu können, eine Beschreibung des tierlichen Verhaltens in Begriffen, die aus der menschlichen Sphäre entstammen. So wird von ihm statt eines behavioristischen oder kausalen ein mentales respektive intentionales Vokabular eingesetzt. Im Fall des Wegräumens von Kisten oder anderer Hindernisse durch die Affen ist für Köhler die intentionale Deutung des Verhaltens im Sinne von „Kiste hier aus dem Weg vor dem Ziel!“ angebrachter als deren mechanistisch-behavioristische Deutung im Sinne von „Die und die Serie von Bewegungen!“ (Köhler 1963, 45, FN). Der Gesamteindruck des Verhaltens sichert nach Köhler vor dem Vorwurf des Anthropomorphismus (ebd., 33, FN; 73). Wenn das Verhalten von Tieren in der Wahrnehmung als sinnvoll, als lösungsorientierter Ablauf erkannt wird, dann können intentionale Begriffe eben gerade zum Ausdruck bringen, dass man „von der Einstellung auf Menschenähnlichkeit schlechthin abgekommen ist und sich auf die Eigennatur des beobachteten Verhaltens selbst richtet“ (ebd., 140). Auch Fehlleistungen der Tiere verweisen dann nicht sofort auf deren grundsätzliche Unfähigkeit, überhaupt intentionale Akte (einsichtiges Verhalten) vollziehen zu können. Sie erlauben vielmehr eine Unterscheidung von Fehlerkategorien, bei denen – im Gegensatz zu „Fehlern aus Nichtverstehen“ und groben „Gewöhnungstorheiten“ – auch „gute Fehler“ eine Rolle spielen können (ebd.). Diese Überlegungen müssen vor einem historischen Hintergrund gewürdigt werden, in dem Vorbehalte gegenüber anthropomorphen Deutungen tierlichen Verhaltens etwa wegen der Debatten um den Klugen Hans, das scheinbar rechnende Pferd, extrem hoch waren (Abresch/Lück 1994; Baranzke 2001; 2008). Köhler ist sich solcher Einwände gegen den Anthropomorphismus wohl bewusst. Er weist jedoch die Etikettierung seiner Deutung als „anthropomorph“ im Sinne eines „Hineinlegen[s] in das Tier“ vehement zurück (Köhler 1963, 73). Es handele sich bei den sich auf den Gesamteindruck eines Verhaltensablaufs beziehenden Interpretationen des Affenverhaltens zwar um vergleichbare Vollzüge, wie sie „bei Beobachtung von Menschen“ (ebd.) auftreten. Diese Bezugnahme enthalte jedoch ebenso wenig einen Anthropomorphismus, wie die Aussage: „Der Schimpanse hat die gleiche Zahnformel wie der Mensch“ (ebd.). Bei allen vorausgesetzten Gemeinsamkeiten, die solche Möglichkeiten (oder Notwendigkeiten) von epistemischen Rückbezügen erlauben, betont Köhler allerdings zugleich die spezifischen Differenzen, also die besonderen artspezifischen Fähigkeiten und Vermögen der Schimpansen. Dieses wird relevant bei der Gestaltung von Versuchsdesigns. Köhler belegt hiermit eine Sensibilität für mögliche Abweichungen in den Umwelten von Menschen und anderen Lebewesen. So kann beispielsweise ein Unterschied bestehen zwischen den Vermutungen der Forschenden über den Schweregrad der von ihnen gestellten experimentellen Aufgaben und den tatsächlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten der Tiere. Man muss sich also stets davor hüten, „die Leistungen der Tiere (und ihre Fähigkeiten) im voraus durch bloße Reduktion aus dem Bilde menschlicher Leistungen (Fähigkeiten) zu konstruieren […]“ (ebd., 47). Mit dieser Einsicht sind wir an einem Punkt angelangt, an dem deutlich wird, dass die Unterschiede im methodisch-methodologischen Vorgehen der (biologischen) Verhaltensforschung
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(Tierpsychologie bei Köhler) und der Physik möglicherweise doch andere Gründe haben, als sie Köhler selbst mit dem Verweis auf die unterschiedliche Entwicklungshöhe der Disziplin vermutet. Vor dem Hintergrund der Idee der Forschungsumwelten verweisen sie uns vielmehr auf die besondere epistemische Struktur, die auch Rekurse von den gemachten Beobachtungen auf die menschlichen Beobachtenden erlaubt oder befördert, für die es in physikalischen Konstellationen kein Analogon gibt. Betrachtet man die Beobachtungssituation in Köhlers Versuchen und die Rolle der menschlichen Beobachtenden in ihr genauer, dann stellt man fest, dass es unvermittelt zu einem Wandel von dessen Status kommt. Aus den neutralen werden teilnehmende oder anteilnehmende Beobachtende. Dieser Umschlag vollzieht sich folgendermaßen: Im Kontext der Experimente zum Werkzeuggebrauch erlangen nach Köhler für das Tier alle Gegenstände des von ihm einsehbaren Feldes, die als langgestreckt wahrgenommen werden, eine einheitliche funktionelle Bedeutung. Köhler nennt dieses den „Funktionswert“ (Keiler 1987). Alle Gegenstände werden zu Werkzeugen zum Ergreifen eines Zieles, das sich außerhalb des direkten Zugriffs befindet. Angesichts dieser intentionalen Bezugnahme des Tieres auf Elemente seiner Umwelt, die sich für den externen Beobachtenden in der praktischen Verwendung der vorhandenen Gegenstände äußert sowie in den Versuchen der Tiere, alle langgestreckten Objekte in ähnlicher Weise zu verwenden, kommt es zu einer menschlichen Deutung des beobachteten Verhaltens der Tiere als intentionalen Akt. Dieser Befund lässt sich allerdings nicht vom Forschenden direkt beobachten. Hierzu schaltet der menschliche Beobachtende von der Fremdbeobachtung (der Tiere in ihrer Versuchssituation) auf eine Selbstbeobachtung um. Unvermittelt lenkt sich die Richtung seiner Aufmerksamkeit um: War sie bisher auf die Geschehnisse im Außenmedium gerichtet, wird sie nun auf Phänomene der eigenen Vorstellungswelt umgelenkt oder umgebogen. Dieses wiederum verursacht für den menschlichen Beobachtenden eine gerichtete Wahrnehmung des Außenfeldes (und der in ihm agierenden Lebewesen): Noch ehe das Tier auf Verwendung von Stöcken oder ähnlichem verfallen ist, wird dergleichen natürlich vom Zuschauer erwartet; sieht man nun den Affen eifrig, aber ohne Erfolg bemüht, die Distanz zum Ziel zu überwinden, so geht infolge der Spannung ein Wechsel im Gesichtsfeld vor sich; längliche und bewegliche Gegenstände sieht man nicht mehr indifferent und streng statisch an ihrem Ort, sondern wie mit einem ‚Vektor‘, wie unter einem Druck nach der kritischen Stelle hin. (Köhler 1963, 25)
Diese Rückbezüglichkeit zwischen dem Verhalten der Tiere (und den sie vermutlich begleitenden Intentionen) und den Intentionen des Forschenden (und umgekehrt der Rekurs von dessen Intentionen auf diejenigen anderer Lebewesen), entspricht exakt den zyklischen Rückbeziehungen und Deutungen, die Menschen im Kontakt mit ihren Mitmenschen vornehmen. Die Analogie, die in dieser Hinsicht zwischen humanen Interaktionen der Mitwelt und den Interaktionen zwischen Tieren und Menschen besteht, ließe sich auch gut – Köhlers Betonung eines „Vektors“ deutet es an (Tolman 1932; Lück 1996) – an den
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ntersuchungen von Köhlers wissenschaftlichem Kollegen, dem GestaltpsychoU logen und Begründer einer mit dem Vektorbegriff operierenden Feldtheorie, Kurt Lewin (1890–1947), demonstrieren, was aus Gründen des Umfangs hier jedoch unterbleibt (dazu ausführlicher Köchy 2018, 74–81).
2.3 Umweltintentionalität als Verbindung zu Tieren als Selbst-Anderen Aus den beiden genannten Aspekten ergeben sich methodische und metatheoretische Fragen, wie solche nach einem angemessenen methodischen Vorgehen oder einer angemessenen epistemischen Grundhaltung, die uns das „Fremdseelische“ im Fall der Tierforschung aufschließt. Solche Fragen haben nicht nur Köhler und seine Zeitgenossen beschäftigt, sondern sie stehen noch heute im Zentrum der Debatten der kognitiven Ethologie. Exemplarisch kommt dies zum Ausdruck etwa in der Methodenkritik von Povinelli und Vonk an gängigen Verfahren zur Untersuchung einer ‚theory of mind‘ bei Schimpansen (Povinelli/Vonk 2003; 2004), in der Berücksichtigung emotionaler Gestimmtheit wissenschaftlicher Feldforscher während ihrer Beobachtung von nichtmenschlichen Primaten (Keil 2018) oder in den auf unterschiedlichen Forschungsprogrammen (und methodologischen Signaturen) basierenden Debatten um kollektive Intentionalität bei Schimpansen (Böhnert 2019). Dabei scheint allerdings innerwissenschaftlich ein etwas naives Vertrauen in die Leistungsfähigkeit einer dem evolutionären Kontinuum-Gedanken folgenden naturwissenschaftlichen Methodik zu existieren. Komplexere philosophische Vorbehalte, Einwände und Differenzierungsvorschläge werden zumeist ausblendet. Gehen wir erneut von unserem Fallbeispiel aus, um diese Dimension kurz zu streifen. Zunächst gilt es nochmals zu betonen, dass die vorliegende epistemische Situation durch ein komplexes Netzwerk von Wechsel- und Rückbeziehungen geprägt ist. Wie es vor allem Köhlers Kollege Kurt Lewin immer wieder betont, ist schon die (human-)psychologische Beobachtungssituation durch solche Rückbezüglichkeiten bestimmt. So gilt etwa in solchen Kontexten für menschliche Versuchspersonen eine selbstreferentielle Beziehung als beobachtete und sich selbst beobachtende Lebewesen. Sie besitzen eine epistemische Doppelnatur als Subjekte und Objekte des Geschehens (Lewin 1981, 153). Wie es Merleau-Ponty (1974, 121) formuliert hat, gilt gleiches auch für die Beziehung zwischen Beobachtenden und Beobachteten: „[…] der Physiker oder Chemiker ist nicht selbst der Gegenstand, von dem er zu reden hat, der Psychologe hingegen ist grundsätzlich selbst die Tatsache, von der er zu handeln hat.“ Wie es der Gestaltpsychologe Herbert Fitzek (2011, 166) formuliert, kommt es zur „Selbstentdeckung des Forschers im Forschungsfeld“. Analoge Rückbeziehungsschleifen prägen auch die Beobachtungssituation in Köhlers Arbeiten. Nun jedoch gehören Beobachtete und Beobachtende zwei biologisch unterschiedlichen Spezies an. Die Bezugnahmen bleiben jedoch und können sich immer auch umdrehen. Die
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beobachteten Tiere können beispielsweise umgekehrt auch die sie beobachtenden Menschen beobachten. Einen paradigmatischen Fall aus der Primatenforschung von Barbara Smuts berichtet Donna Haraway (2008, 23 f.), bei dem der Versuch von Neutralität und Distanzierung der menschlichen Beobachter zu Verstörungen der beobachteten Affen führte und sich die Situation erst beruhigte, als die Forschenden zu sozialen Teilnehmenden wurden. Beobachtende und Beobachtete sind so lebendige Teilnehmer und sich gegenseitig (auch epistemisch) beeinflussende Größen in einem gemeinsamen Wirkungsfeld zwischen Lebewesen, das den Charakter einer Forschungsumwelt hat. Die sich hierbei stellenden Fragen nach der „Innendimension“ der Verhaltensleistung (hier intelligente Lösung oder Zufallsentscheidung) unterliegen den Bedingungen dieser spezifischen Relation. Zugleich zeigt der Blick auf Köhlers Überlegungen, wie sie im Rahmen dieser Relation auch ihre Antwort finden. Bei Köhler ist sie mit dem Verweis auf den Gestaltaspekt des Verhaltens verbunden, der sich direkt in der Beobachtung erschließe. „Echte Lösungen“ für gestellte Aufgaben in der Versuchssituation unterscheiden sich demnach von zufällig gefundenen durch die sich in ihrem gestalthaften Ablauf zeigende sinnvolle Struktur. Sie sind Lösungen in Rücksicht auf die Feldstruktur der jeweiligen Situation (Köhler 1963, 137). Während bei zufälligen Lösungen die Abfolge der Einzelbewegungen keinesfalls dem sachlichen Aufbau der Situation angemessen ist und sie vollkommen inkohärent (Köhler: in „molekularer Unordnung“, ebd., 135) zusammenkommen, ergeben sich bei echten Lösungen alle Bewegungsmomente aus dem Aufbau der Situation. Diese Lösungen sind unter Rücksicht auf die Gegebenheiten der Situation von den Tieren konzipiert und basieren im Fall der Schimpansen auf einer visuellen Erfassung des Gegenstandes in Relation zu seiner Umgebung (ebd., 79). In ihrem Ablauf belegen sie für den Beobachter diese sinnvolle (in diesem Fall intelligente), auf Lösung einer Aufgabe resp. Erlangung eines Zieles hin angelegte, Konzeption. Für diesen Zusammenhang – so muss auch Köhler zugeben – haben „die Physiker kein Wort […], das hier paßte“ (ebd., 137, FN 1). Der Formunterschied zeigt sich jedoch bereits unmittelbar in der Beobachtung, „die hier allein zu entscheiden“ (ebd., 12) hat. Er ist nicht erst das Resultat einer logischen Schlussfolgerung. Ein Analogieschluss, der unter Voraussetzung etwa evolutionärer Kontinuität von der Übereinstimmung bekannter biologischer Merkmale auf eine vergleichbare Übereinstimmung in bisher noch unbekannten Merkmalen schlösse, liegt nicht vor. Die anschaulich erfassbare sinnvolle Grundstruktur des Verhaltens – als einer solchen Bewegung in Raum und Zeit, die zur Erreichung eines Zieles dient – hat auch zur Folge, dass beim Zuschauenden des Verhaltensablaufs Rückbezüge auf die eigene Erwartungshaltung und die eigene Ausrichtung auf das Ziel hin entstehen. Es ist davon auszugehen – so zeigen es die aus dem Verhalten von Menschen abgeleiteten biophilosophischen Überlegungen Kurt Goldsteins (2014, 273) –, dass dann der Gesamtsituation adäquate Verhaltensweisen auch mit subjektiv positiven Gefühlen (des Angemessenen) einhergehen. Auch solche Momente sind in die Übertragung vom Beobachtenden auf das Beobachtete einbezogen. Unterstützt wird diese Wirkung im Fall der Schimpansen auch durch deren Mimik oder Ausdruck
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(Köhler 1963, 52).2 Schimpansen und Menschen haben nach Köhler eine Reihe von „Reaktionen und Ausdrucksbewegungen“ (ebd., 59) gemeinsam. Eine philosophische Reflexion dieser Wechselbeziehungen zwischen menschlichen Beobachtenden und den von ihnen beobachteten Tieren hinsichtlich der Frage nach der intentionalen Qualität tierlichen Verhaltens haben in zeitlicher Nähe zu Köhlers Versuchen auch der Ethologe Frederik J. J. Buytendijk (1887–1974) und der Philosoph Helmuth Plessner (1892–1985) in ihrem gemeinsamen Beitrag Die Deutung des mimischen Ausdrucks (1925) vorgelegt (Plessner/Buytendijk 1980). Ihre philosophische Analyse der epistemischen Bedingungen der Erforschung des mentalen Innenlebens, wie sie im Fall biologischer Tierforschung vorliegen, haben auch diese beiden Autoren auf eine jenseits des Analogieschlusses liegende Voraussetzung gegründet. Nach dieser auf dem Umweltbegriff basierenden Überlegung ist ein unmittelbarer Zugang zum intentionalen Gehalt von Verhaltensäußerungen möglich. In Übereinstimmung mit Köhler sind für Buytendijk und Plessner die Verhaltensäußerungen als „Bewegungsgestalten bildhaft“ (ebd., 78) in der Wahrnehmung erfassbar. Der gestalthafte Charakter umgreift dabei – entsprechend dem Modell der Forschungsumwelten – das sich verhaltende Lebewesen und dessen jeweilige Situation. Das Verhalten wird so als auf eine bestimmte Umwelt sinnvoll abgestimmt wahrgenommen. Für diese Bezugnahme finden die Autoren die Bezeichnung „Umweltintentionalität“ (ebd., 79). Damit ist das Verhalten der Tiere jedoch mehr als nur eine Bewegung eines Körperdinges in Raum und Zeit, die als solche einem externen Beobachtenden in dritter Person-Perspektive zugänglich und als physikalische Größe beschreibbar wäre. Der Verhaltensablauf wird vielmehr unter Rücksicht auf die ihn veranlassende Motivation des Tieres betrachtet. Dann ist es ein gerichtetes, vom Lebewesen intendiertes Geschehen, das einen Zweck verfolgt. Diese intentionale Qualität tierlichen Verhaltens ist dem menschlichen Beobachtenden, weil er selbst ein intentionales Lebewesen in einer Umwelt ist, verstehbar. Nach Buytendijk und Plessner ist die intentionale Deutung nicht nur nicht privat, sondern vielmehr öffentlich, d. h. von wissenschaftlicher Aussagekraft, sie ist auch früher als die wissenschaftliche Erklärung in Begriffen von Raum und Zeit. Erst im Zuge der nachträglichen Zerlegung dieser prioritär phänomenal gegebenen Verhaltensgestalt („Bewegungsmelodie“) in Teilstrukturen und -funktionen wird das Verhalten zum Gegenstand wissenschaftlicher Erklärung. Mit dieser umweltlichen Bezugnahme ist eine vermittelnde Schicht angesprochen. Verhalten wird als eine Verbindungszone verstanden zwischen
2 Zur
Deutung der Mimik und Gestik liegen in der aktuellen Schimpansenforschung umfängliche Kataloge vor. Auch heute gelten mimische und gestische Äußerungen (manchmal im Kontrast zu Lautäußerungen) als intentional und nicht nur als emotional (vgl. Grimassier-Skalen in Parr/Cohen/de Waal 2005; Cartmill/Byrne 2010). Die Studie von Schel u. a. (2013) liefert zudem einen Kriterienkatalog zur Identifikation von Kommunikationssignalen als intentional. Dazu gehören sozialer Gebrauch, Sensitivität für den Aufmerksamkeitsstatus des Rezipienten, Veränderung des Aufmerksamkeitsstatus des Rezipienten, Persistenz oder Veränderbarkeit, Abhängigkeit von dem Publikum usw.
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den beiden Subjekten, menschlicher Beobachter und beobachtetes Tier, und der Objektivität physikalischer Ereignisse in Raum und Zeit. Unter Rekurs auf diese Schicht oder Sphäre des Verhaltens ist dem intentionalen Lebewesen Mensch eine intentionale Deutung tierlichen Agierens möglich. Bezieht man sich auf diese Ebene von Umweltbezügen, dann sind Beschreibungen in intentionalem Vokabular zwar anthropomorph, aber keine Fehlschlüsse. Eigentlich bewegt man sich mit ihnen in einer Sphäre von Umweltbezügen jenseits der Innenwelten (in den Köpfen von Menschen oder Tieren) (ebd., 80 f.). Unter Rücksicht auf die Umweltintentionalität – als einer vom Lebewesen aus gerichteten sinnvollen Beziehung zur Umwelt – leben menschliche Beobachtende und beobachtete Tiere in der gleichen Schicht oder Sphäre des Verhaltens. Sie teilen als Lebewesen ihre Umweltintentionalität, was Sinnhaftigkeit und Verständlichkeit des Geschehens garantiert. Die Anstrengung von Forschenden in der Verhaltensforschung ist damit eine Anstrengung von lebenden Wesen, andere lebende Wesen und deren Anstrengungen zu verstehen (Grene/Depew 2004, 353). Dass damit auch eine ethische Dimension verbunden ist, macht beispielsweise die Philosophie von Hans Jonas deutlich. Auch für ihn ist die volle Qualität biologischer Phänomene – vor allem wenn es um Verhaltensweisen und deren Motivationen geht – nicht aus der mathematisch-physikalischen Außenperspektive von Bewegungen in Raum und Zeit zu erfassen. Nur unter Rücksicht auf die Tatsache, dass wir selbst als Beobachtende und Erklärende des Geschehens leibliche, lebendige Wesen sind, erschließt sich uns das Geschehen: „Kraft der unmittelbaren Zeugenschaft unseres Leibes können wir sagen, was kein körperloser Zuschauer zu sagen imstande wäre“ (Jonas 1973, 124) – als intentionalen Lebewesen erschließt sich uns das Phänomen des intentionalen Lebens. Für die Tierforschung ist diese Bedingung maßgeblich. Auch sie ist bestimmt durch die Tatsache, dass Lebewesen auf beiden Seiten der Forschungsrelation stehen – die Forscher also „living things among living things“ (Grene/Depew 2004, 351) sind. Unter Anwendung des Umwelt-Gedankens wird klar, dass Forschende stets „mit im Bild“ sind. Mit diesem Zugeständnis verwandelt sich, wie wir sehen konnten, nicht nur die epistemische Grundhaltung der Forschenden in konkreten Forschungssituationen (von externen Beobachtern zu Teilnehmenden), sondern zudem verlagert sich metatheoretisch das Gewicht in Richtung auf ein partaker-Modell (Köchy 2013). Es entsteht ein theoretischer Zugang zu dem Faktum, dass biologische Handlung stets auf Kooperation mit dem Behandelten angewiesen bleibt. Mit diesem Punkt eröffnet sich die ethische Seite der skizzierten epistemisch-methodologischen Veränderung. Sie deutet sich bereits in (trotz aller wissenschaftlichen Neutralitätsgebote) unvermeidbaren affektiven Bindungen von Forschenden an ihre Versuchstiere an. Ein Moment der Vertrautheit entsteht. Diese Haltung – möglicherweise zunächst rein technischer oder gar methodologischer Natur, lediglich dazu dienend, die Effizienz des Forschungsverfahrens zu steigern – verleiht der Interaktion eine neue Qualität. Damit ergeben sich Verschiebungen im Netzwerk der Rahmenannahmen, die für die normativen Voreinstellungen zu uns selbst und zu anderen Lebewesen bedeutsam sind (Köchy
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2008, 194 ff.). Betrachtet man die Relationsgefüge in den Forschungsumwelten genauer, dann haben sowohl die Wirkungen der Beobachtenden als auch die Gegenwirkungen des Beobachteten stets Qualitäten von Anerkennung und Unterwerfung. Im Fallbeispiel etwa dahingehend, dass die Rolle der Beobachter darin besteht, bestimmte Wege oder Lösungen zu verbieten. Selbst die bloße Anwesenheit der Beobachtenden kann einen verändernden Einfluss auf das Verhalten der Beobachteten haben. Vor allem durch die methodischen Vorgaben der naturwissenschaftlichen Untersuchung aktualisieren die menschlichen Beobachtenden möglicherweise kein natürliches Geschehen, sondern eben ein experimentelles, erzwungenes Verhalten (Köchy 2006). In ethischer Hinsicht wird dieses vor allem dann bedeutsam, wenn sich dieser Zwang in Graden bis zur realen Abtötung der beobachteten Entität steigert (Köchy 2016). Wenn aber darüber hinaus jede Form der Beobachtung – sei sie distanziert oder teilnehmend – ein Element der Macht beinhaltet, dann ist dieses nicht nur methodologisch relevant, sondern eben auch ethisch. In dieser Hinsicht sind biologische Versuche, wie Jonas (1987, 166) betont, stets wirkliche Taten am Original. Jonas hat weiter deutlich gemacht, dass bei der auf Nutzung ausgerichteten technischen Perspektive der Wissenschaften immer die Gefahr besteht, alle Beobachtungsobjekte umzudeuten und nur noch in der Nutzungsperspektive zu erfassen. Objekte des Wissens werden als unter-dem-Mensch-stehende Sachen interpretiert. Unser Fallbeispiel und die Perspektive des umwelten approach erwies, dass Analoges für die Tierforschung gilt. Auch hier kann das Moment der Vertrautheit oder Anteilnahme, die affektive Bindung zwischen Partnern eines Beobachtungsprozesses, zugunsten des wissenschaftlichen Ideals der Fremdstellung als auf Objektivität gerichtete Beobachtung vernachlässigt sein. Dann werden menschliche Beobachtende zu weltexternen Zuschauenden und beobachtete Tiere werden zu Sachen. Im Kontext des Umweltgedankens jedoch wird deutlich, wie relevant die Konzeption des Mitspielers (partaker) sowie die mit ihr verbundene Teilnahme ist.
Literatur Abresch, J./Lück, Helmuth E.: Der kluge Hans. Oskar Pfungst und die Hirnrinde. In: Horst Gundlach (Hg.): Arbeiten zur Psychologiegeschichte. Göttingen 1994, 83–94. Baranzke, Heike: Nur kluge Hänschen kommen in den Himmel. Der tierpsychologische Streit um ein rechnendes Pferd zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Friedrich Niewöhner/Jean-Loup Seban (Hg.): Die Seele der Tiere. Wiesbaden 2001, 333–379. Baranzke, Heike: Der kluge Hans. Ein Pferd macht Wissenschaftsgeschichte. In: Jessica Ullrich/ Friedrich Weltzien/Heike Fuhlbrügge (Hg.): Ich das Tier. Tiere als Persönlichkeiten in der Kulturgeschichte. Berlin 2008, 197–214. Böhnert, Martin: Methodologische Signaturen. Ein philosophischer Versuch zur Systematisierung der empirischen Erforschung des Geistes von Tieren. Dissertation Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften Universität Kassel 2019. Cartmill, Erica A./Byrne, Richard W.: Semantics of primate gestures: intentional meanings of orangutan gestures. In: Animal Cognition 13/6 (2010), 793–804. Chance, Paul: Thorndike’s Puzzle Boxes and the Origins of the Experimental Analysis of Behavior. In: Journal of the Experimental Analysis of Behavior 72/3 (1999), 433–440.
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Human-Animal Studies als Hermeneutik Methodische Grundlagen und Forschungsverfahren Mieke Roscher
Nahezu jede Einführung in die Kulturwissenschaften stellt den Unterschied zwischen Kultur und Natur an den Anfang ihrer Narration und zementiert damit eine Erzählung, in der die Natur als quasi außerhalb des menschlichen Schaffens funktioniert und in der die Kultur den zivilisatorischen Fortschritt des Menschen in der Gesellschaft bestimmt. Auch wenn die dualistische Einteilung spätestens mit der Anthropozän-Debatte brüchig geworden zu sein scheint, bestimmt diese von der europäischen Aufklärung geerbte Sichtachse nach wie vor, wie über die Natur außerhalb des Menschen gedacht wird (Ort 2008). Tiere werden hierunter subsumiert und häufig als Teil dieser äußeren Natur aufgefasst. Zwar wurde durchaus auf die fehlende „Trennschärfe der Unterscheidung“ hingewiesen, in der erst durch die Sinnzuschreibungen des Menschen Natur zu Natur wird, diese also nicht a priori besteht (Landwehr/Stockhorst 2004). Allerdings wird damit eher noch die Bedeutungsmacht menschlicher Sinngebung unterstrichen. Wie sollte es auch anders sein, mag man sich fragen, wenn es doch unmöglich ist, zumal heuristisch, andere Bedeutungsebenen außerhalb der menschlichen auch nur zu denken? Wenn man die Grundlagentexte der kulturwissenschaftlichen Hermeneutik von Johann Gustav Droysen über Ernst Cassirer bis hin zu Max Weber liest, fällt also auf – und das ist wenig verwunderlich –, dass Tiere und Natur insgesamt sowohl epistemologisch wie auch methodisch und damit heuristisch exkludiert werden. Die Perspektive dieser Gründerväter kulturwissenschaftlichen Denkens folgt dem Diktum der Unmöglichkeit, sowohl das Innere wie auch Äußere der Natur als Kultur zu fassen. Sie ist damit anthropozentrisch in dem Sinne, dass sie nur den Menschen kennt. Mehr noch aber funktioniert diese Hermeneutik gerade über ihre Abgrenzung
M. Roscher (*) Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_6
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vom Tier. Das der Hermeneutik eigene Erklären und Auslegen hat das Tier und die Natur zum Auslegungsobjekt gemacht, in der beide in ihrer Passivität gebunden zu sein scheinen. Die Kultur besticht hier durch ihre Kontingenz, die Natur durch ihre Essenz. Auch die in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstehende neue Kulturwissenschaft, die sich als cultural studies mit ihren Blickverschiebungen auf symbolische und materielle Praktiken durchaus dem nicht-textuellen zuwandte (Daniel 2001; Barker 2003; Bachmann-Medick 2006; Marchart 2018), hatte die Konstruktion von race und class, nicht aber von species als kulturbildend im Auge. Hierin besteht jedoch ein nicht aufzulösender Widerspruch, der insbesondere von den Human-Animal Studies aufgegriffen wird. Wenn Tiere (und die Natur) als Abgrenzungsfolie bzw. kulturelle Grenzobjekte gedacht werden, Objekte also, an denen die Grenzen zwischen Natur und Kultur materielle Form annehmen, dann spielen sie auch bei jeder Definition von Kultur eine implizite, aber wichtige Rolle und sind damit eben nicht außen vor, sondern mitten drin (Böhme u. a. 2004; Hüppauf 2014). Tiere sind somit Teil eines Verständnisses von Kultur und dienen zudem als Zugang zu ihr, als hermeneutisches Mittel. Ziel dieses Beitrages ist es jedoch nicht so sehr, diese Komplexität einer kulturwissenschaftlichen Erfassung von Tieren einzufangen, sondern zu erörtern, wie sie von den Human-Animal Studies dort verortet werden. Dabei soll gezeigt werden, dass sich diese Subdisziplin bzw. Perspektive nicht mehr bloß mit der Frage beschäftigt, wie Tiere als kulturelle Repräsentationsflächen zu verstehen sind, sondern ob sie selbst gesellschafts- und damit kulturbildend sind bzw. wie dies methodisch abgebildet werden könnte. In einem ersten Schritt werden daher zunächst einige zentrale methodische Perspektiven und Perspektivenwechsel der Human-Animal Studies vorgestellt und es wird nachgezeichnet, wie sich diese methodischen Zugriffe – insbesondere werden hier Raum und Relationalität als Zugänge vorgestellt – auf die Betrachtung von Tieren als Teile des kulturellen Kosmos auswirken (1). Am Beispiel der Geschichtswissenschaften und hier insbesondere anhand der von den Human-Animal Studies beeinflussten Tiergeschichte sollen dann Ansätze vertiefend dargestellt werden, die eine historische Hermeneutik mithilfe von Praxistheorien entwickeln und sich Tieren gegenüber methodisch inklusiv verhalten (2). Schließlich soll noch auf die wiederkehrende Frage nach den zu verwendenden Quellen eingegangen werden. Hier wird gezeigt, inwieweit die geforderte sozialhistorische Perspektive von Tieren als Handelnden ein Stück weit die Frage nach der Qualität und Quantität der Quellen vorwegnimmt. Daher wird für eine inklusivere Methode der Quelleninterpretation plädiert (3). Im Schlusswort wird auch angesichts der klimatischen Veränderungen auf diesem Planeten für eine Abkehr von natur-kulturellen Dualismen geworben, für die die Human-Animal Studies eine geeignete Heuristik darstellen (4).
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1 Human-Animal Studies als Methode: Zwischen Repräsentation, Aktion und Relation Um eines vorwegzunehmen: Die Human-Animal Studies besitzen keinen spezifischen methodischen Apparat, vielmehr sind es die eingenommenen Perspektiven, die sie charakterisieren. Ihnen ist es ein Anliegen, die gezogenen Grenzen zwischen Natur und Kultur zu durchbrechen, auch indem sie auf die epistemologische Verkürzung eines einseitig anthropozentrischen Blicks hinweisen. Hierzu wird es zunächst als unabdingbar erachtet, Spezies und deren historisch kontingente Interpretation als weiteren Zugang für die Erklärung von Kultur hinzuzufügen und damit Spezies als gesellschaftsbildende Kategorie zu etablieren (Multispecies Editing Collective 2017). Dazu greifen aktuelle Forschungsansätze sowohl auf Verfahren der Gender Studies (Birke/Holmberg 2018) und der Subaltern Studies (Arcari 2019) zurück, machen die Science and Technolgy Studies (Nimmo 2011) fruchtbar und profitieren von neuen Perspektiven der Environmental Humanities (Heise/Christensen/Niemann 2017). Im Ansatz hinterfragen sie auf grundsätzliche Weise eine bestimmte „Ideologie von Natur“ (Latour 2018, 53), die als Erbe modernen Denkens zu verstehen ist. Dies gilt vor allem für die Tatsache, dass Natur häufig als „großes Allerlei“ (Latour 2018, 87) konzipiert werde, wie Bruno Latour unlängst noch einmal zu Bedenken gegeben hat, und dass in der Abspaltung von Natur und Kultur gar nicht erst die Möglichkeit reziproken Handels zugelassen werde. Erforderlich sei es daher, so der Ansatz der Human-Animal Studies, einen Blick „von Nahem“ (Latour 2018, 87) zu wagen und empirisch auf der Mikroebene des geteilten Lebens und der geteilten Beziehungen zu arbeiten. Der Geograph Henry Buller hat die methodischen Ansätze der Human-Animal Studies 2015 folgendermaßen zusammengefasst und auch er zielt auf das Gemeinsame ab, stellt die Ko-Produktion in den Mittelpunkt: The key methodological endeavour of human-animal relational studies has been to come to some emergent knowing of non-humans: their meaning (both materially and semiotically); their ‘impact’ on, or even co-production of, our own practices and spaces; and our practical and ethical interaction with and/or relationship to them – or at least to find creative ways to work around unknowing (Buller 2015, 379).
Mit diesem Zitat wird deutlich, dass sich die Human-Animal Studies wegbewegen von einem Ansatz, der Tiere in ihrer reinen kulturellen Symbolhaftigkeit untersucht, hin zu einem solchen, der die agentielle Wirkmacht „echter“ Tiere in den Fokus rückt und deren „impact“ auf kulturelle Erscheinungen in Gesellschaft und Geschichte untersucht. Das materiale Tier wird dem semiotischen Tier zur Seite gestellt. Wie die Soziologen Richard York und Stefano B. Longo schreiben: If we take the reality of animals seriously and wish to respect, both analytically and ethically, animals as beings independent of human perception of them, then we must be careful to not confuse the animals in our heads with the animals in the world (York/Longo 2017, 35).
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Sie bezeichnen diesen Ansatz als „Realist-Materialist Animal Studies“ und beschreiben damit eine Trendwende, die auch andere „Sub-Disziplinen“ der Human-Animal Studies, insbesondere die Tiergeschichte, die Animal Geography und die Multi-Species Ethnography vollzogen haben: sich den „wirklichen“ Tieren zuzuwenden bzw. im Sinne Donna Haraways Semiotisches und Materielles miteinander in Beziehung zu setzen und die Auswirkungen unserer kulturellen Ideen von Tieren mit unserer materialen Beziehung zu ihnen zu verbinden. Entscheidend ist dafür nach wie vor der Zugang über den Akteurstatus von Tieren, obgleich der methodische Zugriff über die Akteur-Netzwerk-Theorie, mit der alle Akteure und Aktanten im Sinne einer symmetrischen Anthropologie gleich behandelt werden (Sayes 2014), zugunsten einer nuancierten, die asymmetrischen Machtverhältnisse akzeptierenden Sozialtheorie aufzulösen ist (vgl. hierzu auch den Beitrag von Rainer Wiedenmann in diesem Band). Dies bedeutet, dass vor allem die materielle Beziehung in den Fokus der Untersuchung gerückt wird. Der Historiker Chris Pearson hat hierzu angemerkt, dass die Akteureigenschaften von Tieren häufig mit denjenigen von Menschen auf reziproke und hybride Weise verknüpft seien (Pearson 2017). Diese Annahme eines „entanglement“ geht auf die von Donna Haraway in ihrem Manifesto for Cyborgs (Haraway 1994) und noch expliziter in When Species Meet (Haraway 2009) getroffene Feststellung zurück, dass menschliche und tierliche Spezies überhaupt nur in Relation zueinander existieren, zumal im Rahmen von durch Kultur geprägten Lebens- und Gesellschaftsformen. Damit greift sie den bereits von Ernst Cassirer in der „Philosophie der symbolischen Formen“ vorgenommen Hinweis auf den Erkenntnisprozess in Relation auf (Cassirer 1923), löst dabei aber die Trennung von Subjekt und Objekt sowie die damit verbundene Mensch-Tier-Hierarchie auf. Sowohl Tier als auch Mensch würden sich in ihren wechselseitigen Beziehungen und in ihrer jeweils eigenen Verfasstheit verändern. Die Beziehungen zwischen Mensch und Tier sind für Haraway also generell nicht eindimensional, sondern stets verwoben. Sie definiert die Beziehung als ko-konstitutiv. Beziehungen müssten jeweils neu formuliert und ausgehandelt werden: Die Teilhaber_innen an der Beziehung konstituierten sich erst durch sie. Sie verweist damit ganz explizit auf die „Reziprozität der Mensch-Tier-Beziehung“ (Steinbrecher 2014, 194) und auf die Beziehung als kleinste Analyseeinheit. Ich habe dies andernorts als Relationale Agency eingeführt. Sozialität wird dabei als Resultat gemeinsamer Praktiken begriffen, Agency als durch die Relationen zwischen den Akteuren bzw. Aktanten konstruiert aufgefasst (Roscher 2016a). Tieren historische Wirk- und Handlungsmacht zu geben, ihnen kulturelle und materiale Akteureigenschaften zuzusprechen heißt hier nicht, dass Tiere unabhängig agierten. Vielmehr sind sie als Teil einer komplexen Beziehungsassemblage zu untersuchen (Pooley-Ebert 2015, 152). Anstatt also à priori einen fixen Akteurstatus anzunehmen, sehen die Human-Animal Studies das hermeneutische Potential von „non-human agency“ darin, handlungstheoretisch erweitert, die Prozesshaftigkeit von Interspezies-Beziehungen zu untersuchen (Cockram/Wells 2018; Baratay 2015). Ob nun als „Relationale Agency“, „Interagency“ (Despret 2013), „Assembled Agency“ (Howell 2019a, hier: 207 ff.) oder als „Affective Agency“ (Lorimer
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2016), stets wird das vermischte Leben von Mensch und Tier als Grundvoraussetzung für den Nachweis tierlichen Handelns betrachtet (Jamieson 2018; Wilkie 2015; Shaw 2013; Maurstad u. a. 2013). Dies ermöglicht es auch, neben Kultur und Natur weitere Binariäten zu überwinden, die das Denken der Moderne nachhaltig geprägt haben, nämlich die zwischen Rationalität und Instinkt bzw. zwischen Intention und Reaktion. Freilich wurden historisch nicht nur Tieren Rationalität und Intentionalität des Handelns abgesprochen, sondern auch anderen „Anderen“: Frauen, Kindern, kolonialisierten Menschen usw. Darin wird auch offenkundig, warum sich die Human-Animal Studies beispielsweise an den Gender Studies orientieren. Was diese binäre Unterteilung für eine historische Beschreibung der Moderne bedeutet, die Tiere jeweils nur als Parabeln für humangesellschaftliche Experimente und Transformationen erkennt, darauf hat die Historikerin Susan Nance verwiesen und auch den figurativen Konsum von Tieren angesprochen (Nance 2015). Mit Blick auf das konkrete methodische Vorgehen, das diese binäre Aufteilung auflösen und die Wirkmacht symmetrischer verteilen könnte, hat die Literaturhistorikerin Erica Fudge dafür plädiert, zunächst konkrete Handlungen selbst zu beschreiben, denn „animals may not be aware of the changes they are creating, but those changes are no less real“ (Fudge 2006). Hiermit wird also Intentionalität von historischer Wirkmacht gelöst und als Assemblage gegenseitiger Beeinflussung konzipiert. Menschliche Intentionalität entstehe auch in Beziehungen zu Tieren (Pearson 2017, 248). Ganz abgesehen von diesen eher philosophischen bzw. kulturwissenschaftlichen Projektierungen zeigen neuere ethologische Untersuchungen sehr wohl, dass zumindest einige Tiere durchaus über ein Bewusstsein und Intentionsfähigkeit verfügen (Bekoff 1999; Andrews/Beck 2018). Allerdings vermeiden die Human-Animal Studies im Allgemeinen, unterschiedliche Formen von Bewusstsein und Intentionalität zu bemühen, um Argumente für die wissenschaftliche Beachtung von Tieren und ihrem Handeln zu erlangen. Nicht nur stellt sich diese Beweisführung nach wie vor diffizil dar, vor allem für eine primär den Kulturwissenschaften verpflichtete Forschungsperspektive, mehr noch wird eine Gefahr darin gesehen, neue Grenzziehungen aufzumachen, etwa zwischen Tieren, die über mehr Bewusstsein verfügen als andere Tiere. Im Mittelpunkt des hermeneutischen Ansatzes der Human-Animal Studies und als zentraler methodischer Zugriff steht daher eher die Erfassung der relationalen Handlung im von Menschen und Tieren geteilten Raum. Stichwortwortgebend ist hier die Animal Geography, die sich sowohl der „animal spaces“ annimmt, also jener Orte, die Menschen Tieren zuweisen, wie beispielsweise dem Zoo, als auch den „beastly places“, Orte, die sich Tiere selber nehmen (dazu noch immer einschlägig: Philo/Wilbert 2000). Die „hybriden“ Räume der geteilten Erfahrung werden hier ebenfalls zum Thema gemacht (Hovorka 2018). Auch Bruno Latour hat in seinem essayistischen „Terrestrischen Manifest“ den Raum als Teil einer bewegten Geschichte beschrieben, in der sowohl Mensch als auch Tier auf „die Reaktionen anderer reagieren“ (Latour 2018, 53). Er plädiert deshalb für eine andere Sichtweise, in der zunächst die Erdverbundenheit beider herausgestellt werden müsse, um darauf aufbauend eine „Liste der Wirkkräfte“ erstellen zu können (Latour 2018, 102).
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Welchen wirkungsvollen kulturellen Platz Tiere in der Gesellschaft auch historisch haben können und sollen, wird aus dieser Perspektive also primär räumlich gedacht. Der von den Politikwissenschaftler_innen Sue Donaldson und Will Kymlicka eingebrachte Ansatz, sich den Tieren zu nähern, die als „Schwellenbereichstiere“ ganz offensichtlich die von Menschen gezogenen Grenzen, etwa zwischen wild und domestiziert – und damit zwischen Natur und Kultur –, überschritten haben (Donaldson/Kymlicka 2013; hierzu auch Palmer 2013), hat eine ganze Reihe von Studien angestoßen, die sich dem liminalen Charakter von Tieren widmen (Howell/Steinbrecher/Wischermann 2018). Literaturwissenschaftliche Literary Animal Studies beforschen etwa die figurativen Zwischenräume zwischen Menschen und Tieren und die Grenzgänger_innen zwischen den Welten (Bartosch 2017), während soziologisch informierte Human-Animal Studies bereits Modelle für post-humanistische Gesellschaftsentwürfe entwickeln und sich der Frage stellen, wie diese methodisch zu erfassen sind (Charles 2016). Methodisch werden für diese Erfassung sozial verorteter Mensch-Tier-Beziehungen bzw. „Multi-species“-Gemengelagen vor allem ethnographische Zugriffe genutzt, und dies trifft sowohl auf die von den Human-Animal Studies beeinflusste Ethnologie (Dooren/Kirksey/Münster 2016), aber auch auf die Soziologie (Hamilton/Taylor 2017) sowie die Geographie zu (Hayden 2010). Voraussetzung ist, wie Henry Buller formuliert hat, eine empathetic and interpretive observation of the manner in which exchanges between human and non-humans are practised and performed as between ‘subjects-in-interaction’ having ‘shared biographies’ (Buller 2015, 378).
Die Räume, in denen Beziehungen ausgelotet werden, müssen also auf mehrfache Weise dechiffriert werden, die Funktionen, Zugangsrechte und emotionale Bindungen erfassen. Insbesondere fruchtbar gemacht werden kann dafür das von Mary Louise Pratt entwickelte Konzept der Kontaktzone (Pratt 1992). Darauf baute bereits Donna Haraways Verständnis des gemeinsamen Agility-Trainings mit ihrer Hündin Cayenne als Zugang für die Untersuchung von Leiblichkeits- und Beziehungsentwürfen auf (Haraway 2008; angewendet findet sich das Konzept bei Gißibl 2010). Der Zugang ermöglicht es, Verschiebungen und Rekonfigurationen von Tier-Mensch-Beziehungen auch in einer historischen Dimension feiner nachzuspüren und dabei gleichzeitig den diesen Beziehungen inhärenten Machtasymmetrien gerecht zu werden. Er verweist vor allem darauf, dass sich diese Macht in Praxen offenbart.
2 Inklusive Geschichtswissenschaften: Tiergeschichte als historische Praxeologie Dieser Fokus auf die Praxen hat sich vor allem für die Geschichtswissenschaften als ertragreich erwiesen. Tier-Mensch-Beziehungen sozialhistorisch als Interspezies-Relationen zu erfassen erfordert theoretische und methodische
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Perspektivwechsel. Im Fokus stehen die De-Zentrierung der Gleichsetzung von menschlich mit sozial und die Re-Formulierung von Interaktion, Handlung und Agency als Dimensionen, die es erlauben, die Komplexität und die Kontextualität von Interspezies-Relationen empirisch zu untersuchen und theoretisch zu konzeptualisieren. Die Praxen zu erfassen, in denen Gesellschaft stets aufs Neue ausgehandelt wird, hat spätestens mit dem Practice Turn Einzug in kulturwissenschaftliche Betrachtungen gefunden. Nur hat diese sich bis dato nahezu ausschließlich auf menschliche Akteure beschränkt. Wenn man jedoch Gesellschaften als Interspezies-Gesellschaften konturiert, bedarf es der Öffnung des historischen Blickes, nicht zuletzt um das soziale Leben vergangener Gesellschaften einordnen zu können. Beim Schreiben von Tiergeschichte existiert nach wie vor das Dilemma, nicht jenseits der menschlichen Repräsentation von Tieren operieren und sich deshalb nicht dem realen historischen Tier nähern zu können (Fudge 2002). Nicht nur in den Geschichtswissenschaften hatte sich deshalb zunächst das Diktum durchgesetzt, dass Tiere zwar in dieser Repräsentation zu erfassen sind, nicht aber als körperliches Selbst; dass zwar soziale Beziehungen untersucht werden könnten, dies aber stets auf menschliche Beziehungen ausgerichtet sei (Buller 2015, 384). Genau dagegen haben sich jedoch die Human-Animal Studies mit dem Einwand zu Wort gemeldet, dass, um mit Henry Buller zu sprechen, we might not share verbal language with non human animals but through our bodies and the movement of our bodies, we do partake […] worldly forms of expression, emotion, response and, thereby recognition that can both facilitate cross-species knowledge and critically, provide the basis for a different ethical engagement born of a shared corporeal and fleshy communality (Buller 2012, 139 f.).
Indem also der Blick auf die körperlichen Begegnungen zwischen Tieren und Menschen gelegt wird, lässt sich die praktische Relationalität gemeinsamen Handels erfassen. Dabei werden weder vorzeitig die Akteureigenschaften festgelegt, noch die historischen Machtasymmetrien ignoriert. Die Wissenspraxen um den Körper werden im Gegenteil mit der Materialität des Körpers ins Verhältnis gesetzt (Clever/Ruberg 2014, 562). Über den Körper werden zudem historische Veränderungen konkret und auch jenseits von evolutionären Prozessen erfahrbar (Eitler 2014; Landes/Lee/Youngquist 2012). Wie Donna Haraway vorgeschlagen hat, gilt es also den interaktiven Prozess materiell-semiotischer Akteure als einen „apparatus of bodily production“ zu verstehen (Haraway 1989, 310). Dadurch ist es unter anderem möglich, die relational bedingte Existenz von Menschen und Tieren als eine kollektive Beziehung zu konzipieren (Eitler/ Möhring 2008, 97). Im Einklang mit körpergeschichtlichen Überlegungen, die die materielle Basis menschlichen Seins als historisierbar betrachten, werden hierdurch auch traditionelle Schismen zwischen Körper (Natur) und Geist (Kultur) in Frage gestellt. Der Historiker Dipesh Chakrabarty merkte bereits 2009 an, dass die Aufsplitterung des Menschen in zwei Teile angesichts der dramatischen klimatischen Veränderungen von Kulturwissenschaftler_innen und insbesondere
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Historiker_innen revidiert werden müsse (Chakrabarty 2009). Die Aussicht, dass es eine Zukunft des Planeten ohne Menschen geben könnte, müsse dazu führen auch Menschen als Spezies zu denken und ihren Einfluss auf die Erde sowohl geologisch, biologisch wie auch historisch zu betrachten. Sich selbst als Spezies zu denken falle Menschen hingegen schwer. Einfacher scheint es, dies in Relation zu anderen Spezies zu tun, wobei das gemeinsame Handeln Basis für eine tiefergehende Analyse sein kann. Das Studium der Praxen des gemeinsamen Miteinanders zeigt nämlich, wie Gesellschaft durch tier-menschliche Praktiken gestaltet wird und wurde. Am Beispiel des Spazierengehens mit Hunden hat die Historikerin Aline Steinbrecher dies bereits für die Vormoderne nachgewiesen (Steinbrecher 2012). Aktuelle Studien zeigen, wie insbesondere die gemeinsame Vermessung und gemeinsame Nutzung von Räumen zur Konstituierung von Interpezies- bzw. „More-than-human-places“ führt, die den Beziehungen eine Art äußere Form geben (Fletcher/Platt 2018; Doré/Michalon 2017). Chris Wilbert hat dies so formuliert: Therefore, taking a multispecies approach to stories of place involves the willingness to recognise storied-experience in non-human places and to accept non-humans as narrative subjects with all the risks that entails – of, for example, projecting narrativity on to their behavioural experiences in an anthropomorphising form (Wilbert 2019, 214).
Dass über diese Praxen auch bestehende Machtasymmetrien zwischen Menschen und Tieren performativ verfestigt wurden bzw. dass durch die Vermessung dieser Räume auch Menschen ihr sozialer Platz zugewiesen wurde, hat der Geograph Philip Howell in Bezug auf die viktorianische Gesellschaft und die Leinen- und Maulkorbpflicht dargestellt (Howell 2012). Nicht nur menschliches, sondern auch tierliches Handeln erschafft hier Bedeutung. Wie die Historiker Jürgen Martschukat und Steffen Patzold festgehalten haben: „Performances werden […] nicht als Abbilder von Essenzen verstanden, ihnen wird selbst eine bedeutungsstiftende und identitätsbildende Kraft zugesprochen“ (Martschukat/Patzold 2003, 11). Diese Bedeutungen können aber erst dann sinnvoll verstanden werden, wenn man sie in gesellschaftliche Kontexte integriert, zu denen auch Tiere gehören (Geiger/Hovorka 2015). Dies trifft auch auf die Kategorie Arbeit zu, die gerade in historischer Perspektive ohne tierliche Performanz kaum gedacht werden kann. Ein geeignetes methodisches Instrumentarium, mit dem der Wert der Arbeitskraft von Tieren zu erfassen ist, muss allerdings erst noch entwickelt werden. In soziologischen Organisationsstudien wurden dazu bereits erste Überlegungen angestellt (Hamilton/ Mitchell 2018; Coulter 2016. 1–19), die es aber sowohl im Hinblick auf die sich ändernde generelle Bedeutung von Arbeit als Tätigkeit und Konzept als auch mit Blick auf die spezielle Rolle, die Tiere dabei spielen, weiter zu entfalten gilt. Historische Bedeutung wird also, soviel kann festgehalten werden, durch ein Zusammenspiel von Tieren und Menschen hergestellt. Der Historiker Andrew Flack etwa konnte zeigen, wie mit dem Safari Park als Einrichtung des 20. Jahrhunderts im Vergleich zum Zoo bestimmte Vorstellungen von Authentizität vermeintlicher Wild-
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heit durch die performative Durchquerung von Räumen erschaffen wurden (Flack 2016). Die Herstellung von gewünschten Tier-Mensch Beziehungen spielte auch bei der Rekrutierung von Tieren für den Einsatz im Krieg eine Rolle. Die Semantiken von vermeintlicher tierlicher Bereitschaft für den Krieg wurden durch die körperliche Performanz der Tiere unterstrichen. Körperbezogene Praktiken fundierten somit metaphorische Konstruktionen von bestimmten Tieren als Soldaten und Kameraden (Roscher 2018a). Einem praxeologischen Ansatz zu folgen heißt hier, nicht mehr die jeweilige Handlungskapazitäten menschlicher und tierlicher Akteure in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen, sondern vielmehr die Handlungen an sich. Die starre Allokation von Akteureigenschaften wird damit um die Handlungsmöglichkeiten erweitert (Roscher 2019; Roscher 2018b). Konkret heißt dies, dass es mehr um eine Externalisierung denn um eine Internalisierung von Handeln geht, Handeln in der Form von Agency also als etwas begriffen wird, das nicht per se vorhanden ist, sondern sich erst im gemeinsamen Tun äußert. Damit muss der Blick auf die Möglichkeiten und historischen Rahmenbedingungen gerichtet werden, in denen Handeln stattfinden kann, wobei unbedingt auch tierliches Handeln mit berücksichtigt werden muss. Stets sind auch die Grenzen des Handelns, etwa aufgrund eines totalitären Regimes mit gravierenden Handlungseinschränkungen, einzubeziehen. Praxeologisch zu argumentieren heißt aber zudem, Spezies als gesellschaftliche Kategorie zu entwerfen und Interspezies-Gesellschaft (Wiedenmann 2009) als Grundform sozialer Interaktion zu begreifen. Dies erlaubt es auch, Tiere ebenfalls als historisch konstituiert zu sehen, und nicht nur als evolutionär geformt oder bestenfalls noch als gezüchtet und domestiziert (Krüger/Roscher 2019). Auch Spezies wird durchaus performativ hergestellt, meist noch verbunden mit „Rasse“. Im Einklang mit Gabriele Spiegel und anderen wird damit der Verschiebung der kulturhistorischen Aufmerksamkeit vom Diskurs hin zur Praxis, von „culture as discourse to culture as practice and performance“ entsprochen (Spiegel 2005, 3). Anders als bei dem Konzept von Agency, das sich als paradigmatischer Zugriff vielleicht bereits selbst überlebt hat (Specht 2016, 332), stellt sich bei der Betrachtung tier-menschlicher Interaktion – auf der Ebene des Alltags ebenso wie bei staatstragenden Ritualen – der Sinn meist ganz unmittelbar und plastisch dar. Tiergeschichte zu schreiben bedeutet dann, Tier-Mensch-Beziehungen sowohl auf der Makro-, wie auf der Mikroebene zu untersuchen. Das bedeutet, der Big History (Christian 2011) der Ko-Evolution den mikrohistorischen Blick der Alltagsgeschichte beizustellen und sich hier auf die Praxen zu konzentrieren, die beide Seiten miteinander verbinden.
3 Körper von Gewicht: Quellen neu gelesen Wenn man auf der Grundlage dieser methodischen Ansätze nach geeignetem Quellenmaterial sucht, muss man sich der Tatsache bewusst sein, dass die allermeisten Quellen menschengemacht sind und somit in gewissem Maße anthropozentrisch Partei ergreifen (Kean 2012). Ob und wie Tiere Quellen hinterlassen
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(haben) und wie sie zu lesen sind, ist eine breit diskutierte Frage unter Tierhistoriker_innen. Dabei würde ich mich Chris Pearson anschließen, der den Versuch einiger Historiker_innen wie Eric Baratay (Baratay 2012) kritisch sieht, Geschichte aus Sicht der Tiere schreiben zu wollen und dafür nach Nachweisen von Intention und Bewusstsein bei Tieren im uns vorliegenden Quellenmaterial zu suchen (Pearson 2017, 249). Dies bedeutet nicht, dass nicht auch Historiker_ innen gefordert sind, eine gewisse „Interspezies-Kompetenz“ zu erwerben, die es ihnen ermöglicht, Tierverhalten zumindest partiell zu verstehen (Domańska 2017, 267). Sandra Swart, die die Rolle von Pferden in den Burenkriegen in Südafrika erforscht hat, kommt zu dem Ergebnis, dass eine historische Berücksichtigung dieser Tiere Geschichte und Naturgeschichte miteinander verbinden und auf die Mikroebene der geteilten Erfahrungen blicken müsse (Swart 2010, 257): „The social history of the horse-human relationship reveals how its experiences alter in time (and space) and concomitantly so does the social experience of that relationship“ (Swart 2010, 262 f.). Dies bedarf selbstredend auch einer Historisierung. Herausgefiltert werden muss, welche jeweiligen Vorstellungen es von der mentalen und körperlichen Kapazität bestimmter Tiere gab. Sowohl die Kapazitäten wie auch die Vorstellungen von diesen Kapazitäten sind spezies-spezifisch. Die Philosophen und Ethnologinnen Dominique Lestel, Florence Brunois und Florence Gaunet haben deswegen vorgeschlagen, einen Dreischritt in der Interpretation von Tieren und ihrem Agieren vorzunehmen. Dabei handelt es sich um einen Prozess, den sie als Verbindung von Etho-ethnologie und Ethno-ethologie beschreiben: The animals’ interpretations, the human interpretations of what the animals do and „think“, and lastly, the humans’ interpretations of the interpretations other humans have of the animals and other humans (Brunois/Gaunet/Lestel 2006, 167).
Der letzte Teil dieses Dreischrittes wäre dann insbesondere Aufgabe der Historiker_innen. An ihnen ist es, die verschiedenen Verständnisse davon, was Tiere sind und waren, zu kategorisieren und zu chronologisieren. Zwar bedeutet dies, dass sie, weil sie mit den lebenden Tieren nicht mehr in Berührung kommen, zwangsläufig methodisch anthropozentrisch agieren. Das heißt aber nicht, dass sie epistemologisch nicht zumindest einen erweiterten Deutungshorizont annehmen können, der die Perspektiven von Menschen und Tieren berücksichtigt. York und Longo argumentieren in diesem Zusammenhang, dass die Soziologie im Gegensatz dazu durch eine Vermischung von ethnographischen und ethologischen Methoden durchaus in der Lage sei, auch methodisch den Anthropozentrismus abzulegen. Sie beschreiben diesen Vorgang als „political ethology“ (York/ Longo 2017, 39 ff.). Und wie Hilda Kean und Philip Howell in der Einleitung zu dem „Routledge Companion to Animal-Human History“, dem wohl bislang systematischsten Versuch, Konzepte von Tiergeschichte vorzustellen, festhalten, ist es wichtig, methodische Probleme nicht mit prinzipiellen Haltungen, in der Tiere nicht den gleichen Stellenwert haben wie Menschen, zu vermengen (Kean/ Howell 2019, 7). Hier braucht es mehr Mut, Grenzen aufzulösen (Wischermann/ Howell 2018, 4). An anderer Stelle schreibt Kean:
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This is what historians do: we find material, often created in different times, with which to imagine a past and bring it alive in the present. […] Too often a conventional approach to history-writing is assumed whereas many of the imaginative approaches being adopted nowadays might also be explored in relation to animal-human histories (Kean 2018, 45; vgl. auch in ähnlichem Sinne Kean 2014).
Ein solcher Zugriff wäre eine Zusammenführung von Ethologie und Ethnologie. An geeignetem Quellenmaterial besteht kein Mangel.1 Von Selbstzeugnissen der menschlichen Kontaktpersonen, über Beobachtungen in Zoologischen Gärten bis hin zu amtsärztlichen Unterlagen könnte hier jeweils auch ein Bild der tierlichen Protagonisten in der Beziehung entfaltet werden. Gerade Briefe und Tagebücher, aber auch Protokolle aus Laboratorien oder Zoologischen Gärten geben ein sehr reichhaltiges Bild davon ab, was bestimmte Menschen von bestimmten Tieren dachten, wie sie miteinander agierten und wie sie auch erinnert wurden (Nelson 2017, 84). Gegen den Strich gebürstet geben die vom Menschen hergestellten, anthropozentrischen Quellen der Vergangenheit im Zusammenhang mit einer ethologischen Perspektive, die bestimmte Grundlagen tierlichen Verhaltens beleuchtet, Aufschluss über eine gemeinsame und geteilte Geschichte von Menschen und Tieren in ihrer Beziehung zueinander. Dabei, und das hat Philip Howell hervorgehoben, muss die Befassung mit ethologischen Wissensbeständen, wie die Arbeit mit den naturwissenschaftlichen Quellen und Wissensarchiven allgemein, stets kritisch und historisch sein (Howell 2019b, 531). Kritisch muss eine solche Betrachtung insofern sein, als dass die Ethologie als Nachfolgedisziplin der komparativen Psychologie durchaus eine bestimmte Agenda verfolgt und keinesfalls frei ist von anthropozentrischer Wertung und als dass naturwissenschaftliche Fragestellungen ganz bestimmte Ergebnisse produzieren (sollen). Dies kann wiederum durch eine historische Einbettung eingefangen werden, die nicht nur die Ergebnisse in ihrem Entstehungszusammenhang kontextualisiert, sondern auch der evolutionären Veränderung tierlichen Verhaltens Raum gibt. Über dieses Material lässt sich somit über Tiere und ihre Wirkmacht in Relation zu Menschen und über Beziehungen zwischen Menschen und Tieren schreiben: über emotionale und rationale Beziehungen, über enge oder distanzierte Beziehungen. Diese können dann mit den Beziehungsoptionen für eine bestimmte Zeit abgeglichen werden, das heißt, mit dem was sagbar und machbar war. Spätestens bei dieser Feinanalyse wird deutlich, dass es das Tier ebenso wenig gibt, wie die Tier-Mensch-Beziehung, sondern dass es sich jeweils um ein breites Spektrum möglicher Beziehungen handelt. Quellen, die die Platzierung von Tieren beschreiben, sowohl räumlich wie auch sozial, ermöglichen nicht nur, den Stellenwert von Tieren zu bestimmten Zeiten zu ergründen, sondern auch den Möglichkeitsraum in der jeweiligen Beziehung zu erfassen. Dass Tiere sich dem Zugriff durch den Menschen sehr wohl und
1Vgl. dazu die vom kanadischen Nationalarchiv zusammengestellte Quellensammlung: Archives Of Ontario: Animalia. Animals in the Archive (2018), http://www.archives.gov.on.ca/en/explore/ online/animalia/index.aspx (13.03.2019).
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wiederholt entziehen konnten, taucht in Quellen als Topos durchaus auf. Dies sollte jedoch nicht unbedingt als eine intentionale Widerstandshandlung gelesen werden, eine Neigung, die bei Tierhistoriker_innen verbreitet ist, um die agentielle Kraft der Tiere zu unterstreichen (Hribal 2007; Carter/Charles 2013. – Für eine fundierte Kritik am Widerstandspostulat vgl. Pearson 2015). Vielmehr sollten die materiellen Realitäten der Mensch-Tier-Beziehungen kontextualisiert und die „Spezifizität tierlicher Existenz“ (Howell 2019a, 206) betrachtet werden. Dies geschieht einerseits über die Erfassung routinierter, durch alltägliche Performanz eingespielter Mensch-Tier-Relationen, etwa dem Spaziergang mit dem Hund, der sich geradezu als paradigmatisch für eine auf gegenseitige Verständigung ausgelegte Aktivität darstellt, genauso wie seine sportliche Variante, das Agility Training. Andererseits sind es aber gerade die Störungen dieser Routinen, die in den Quellen auftauchen und uns wichtige Hinweise auf die Kontingenz bzw. Transformationsfähigkeit von tier-menschlichen Beziehungen liefern. So ist die viktorianische Maulkorbpflicht erst einmal als Interruption tradierter Verfahrensweisen zu konstatieren, die aber gleichzeitig Hinweis gibt auf gesamtgesellschaftliche Veränderungen der Interspezies-Gesellschaft. Daraus also zu schließen, dass diese menschlicherseits produzierten Quellen nur Aussagen über die kulturellen Repräsentationen und symbolischen Konstruktionen von Tieren zuließen, wie dies nach wie vor als Kritik an der Tiergeschichte vorgebracht wird, verbleibt einer dualistischen Aufteilung von Natur und Kultur verhaftet, die von den Human-Animal Studies gerade in Frage gestellt wird. Selbstredend stellt das Verständnis dieser Quellen als nicht ausschließlich menschlicherseits konstruiert eine historiographische Herausforderung dar. Es müssen die unterschiedlichen Ebenen inter-aktioneller Praktiken identifiziert und einzeln in den Blick genommen werden. Der Weg, der deshalb beschritten werden muss, besteht sowohl darin, die jeweiligen historisch spezifischen Semantiken für Tierdarstellungen herauszuarbeiten und gleichzeitig der materiellen körperlichen Präsenz von Tieren nachzugehen, die sich auch in den Quellen wiederfinden lässt. Der Historiker Aaron Skabelund hat beispielsweise argumentiert, dass auch die medialen Abbildungen von Tieren auf Fotografien oder taxidermierte Überreste, wie sie in Museen gefunden werden können, Tieren insoweit eine Stimme geben, als die Interpretation ihres Handelns verkompliziert bzw. herausgefordert wird (Skabelund 2011). Was Skabelund damit sagen möchte, ist, dass Tiere zur Produktion dieser visuellen Quellen beitragen und damit Menschen gewisse Grenzen für deren Interpretation setzen würden. Im Gegensatz zu anderen Quellen seien sie direkte Zeugen der körperlichen Präsenz von Tieren in der menschlichen Gesellschaft. Die Kunsthistorikerin J. Keri Kronin fügt dazu an: We need to think critically about how any given representation might be related to the lived experiences of both those who have viewed it as well as the lived experiences of those who are included or implicated in the processes of representation happening with the images (Cronin 2018, 254).
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Letztendlich geht es darum, tierliche Spuren in menschlichen Quellen, die über eine reine Repräsentation hinausgehen, herauszufiltern und die sensorische Strahlkraft von Tieren hervorzuheben (Benson 2011, 4). Insofern wurden insbesondere die materiellen Quellen, die Gegenständliches aus Tieren, von Tieren oder für Tiere, vom Ledersattel bis zum Zaumzeug, von der Hundeleine bis zum Elfenbeinarmreif umfassen können, im Zuge der Material Culture Studies neu bewertet und auf ihre Aussagekraft hin überprüft (Roscher 2016b). Hier bedarf es der kontrastierenden Lektüre anderer Quellen, z. B. ästhetischer Darstellungen, um Tiere in bestimmte Diskurse einzuordnen (Förschler 2017). Zudem müssen im Sinne der „Big History“ andere Beweisstücke gesammelt werden, die die planetare Verbindung von Menschen und Tieren zu untersuchen erlauben, wobei sich insbesondere auf Erkenntnisse der Ökologiegeschichte, der Paläontologie, der Paläoanthropologie und der Zooarchäologie zurückgreifen lässt (York/Longo 2017, 42. – Zum Feld der Zooarchäologie und ihrem Verhältnis zu den H uman-Animal Studies vgl. Hill 2013 sowie Birch 2018). Vor allem müssen aber neben einer ethologischen Lesung unter Zuhilfenahme umwelthistorischer Methoden auch solche Quellen naturwissenschaftlicher Provenienz nutzbar gemacht werden, die langfristige Wirkungen und Rückwirkungen von Tieransiedlungen und Wiederansiedlungen bzw. das Aussterben oder die Verdrängung von Spezies dokumentieren. Die Wiederansiedlung von Wolf und Biber in Mitteleuropa und die Ansiedlung der pazifischen Auster in der Nordsee sind auf eine Art und Weise historisch zu betrachten, die über eine naturhistorische Interpretation hinausgehen muss (Garlick 2018).2 Dies wird umso deutlicher, je mehr man sich von der strikten Trennung von Natur und Kultur entfernt. Wir sind zwar auf Quellen angewiesen, die das Zusammenleben, die Beziehungen, die Ko-Historie zwischen Menschen und Tieren dokumentieren bzw. die aus Menschensicht Tiere beschreiben. Wir müssen aber, so Amir Zelinger, „konsequent nach Momenten der Kontaktaufnahme zwischen Menschen und Tieren“ suchen (Zelinger 2018, 24). Dabei sollten wir allerdings im Sinne einer „new ethology“, bereit sein, mehr als nur unser wissenschaftliches Wissen über Tiere zu inkludieren, welches das geteilte Leben mit Tieren darstellt (Bussolini/Chrulew/Lestel 2014). Letztendlich muss es auch darum gehen, „in den Archiven anderer Völker [zu] wühlen“ (Latour 2018, 88), um darüber eine Sensibilität gegenüber anderen Betrachtungen von Tieren zu erlangen, die von Anfang an die dualistische Sichtweise von Kultur und Natur und von Mensch und Tier aufgebrochen haben (Descola 2011). Gelernt werden kann daraus, die Wirkmacht der Akteure nicht im Vorhinein in Richtung des Menschen aufzulösen, sondern quellenkritisch auch die anderen Handelnden zu beschreiben.
2Diese Überlegungen und Hinweise verdanke ich einem, wie immer anregenden Gespräch mit Anna-Katharina Wöbse.
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4 Schlusswort Wie einleitend dargelegt wurde, ist es Ziel der Human-Animal Studies, die dualistische Betrachtung von Natur und Kultur in Richtung einer relational gedachten Tier-Mensch Ontologie aufzulösen, die kulturelle Praktiken, spatiale Formationen und leib-körperliche Materialität konfiguriert (Buller 2015). Anstatt Natur und mit ihr Tiere als eine bloß symbolische oder materiale Ressource zu betrachten, nehmen sie eine vernetzte und relationale Existenz des Menschen mit Tieren zur Grundlage der Deutung und Beschreibung von Kultur und Gesellschaft und zielen hierbei auf die Analyse von Multispezies-Assemblagen durch die Erfassung von Begegnungen, Beziehungen und Beeinflussungen, die vom Ansatz her symmetrisch ist, ohne Machtasymmetrien zu negieren. Insofern können die von den Human-Animal Studies vorgeschlagenen Methoden der relationalen Annäherung auch generell als eine Heuristik genutzt werden, kulturwissenschaftliche Fragen zum Verhältnis von Natur und Kultur zu bearbeiten bzw. neu zu stellen. Auf die Tiergeschichte angewendet diente eine solche Heuristik bereits als eine Linse, mit der Historiker_innen „sharpened our understanding of complicated historical phenomena by filtering them through an analysis of human–animal relationships“ (Specht 2016, 327). Dies gilt es auch auf andere Phänomene und andere Betrachtungsweisen zu erweitern. Wenn man Latour folgt, so ergibt sich so aus der klimatischen Krise des Planeten, die mit der Anthropozän-Debatte auch die Kulturwissenschaften erreicht hat, eine Chance für einen epistemologischen Neubeginn, da wir gezwungen werden, uns „nochmals die Definition dessen vorzunehmen, was ein Mensch, ein Territorium, eine Politik, eine Zivilisation ist“ (Latour 2018, 10). H uman-Animal Studies als eine Heuristik zu benutzten kann also nicht nur heißen, Natur und Kultur als verbunden zu betrachten und somit die Quellen sowohl in den Archiven der Kulturwissenschaften wie denen der Naturwissenschaften zu suchen. Es bedeutet auch, Brücken über den Graben der „zwei Kulturen“ zu schlagen und eine radikale Interdisziplinarität zu verfolgen (Domańska 2017, 277). Dazu wurden in diesem Aufsatz Verfahren vorgestellt, die in die Räume der geteilten Erfahrung gehen und hier Praktiken der gemeinsamen (kulturellen) Ko-Evolution von Spezies etho- und ethnologisch untersuchen, dabei Veränderungen in Umwelt und Klima in langer Dauer berücksichtigen und entsprechend historisieren. Dies sind Grundlagen für eine neue kulturwissenschaftliche Sicht, die Tiere von Anfang an mitdenkt.
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Handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität Eine vergleichende Skizze Rainer E. Wiedenmann
Human-Animal Studies1 (im Folgenden: HAS), von einem einschlägigen Lehrbuch definiert als „the study of the interactions and the relationships between human and nonhuman animals“ (DeMello 2012, 5), sind ein multidisziplinäres Forschungsfeld, das in den letzten Jahrzehnten vor allem in den Kultur- und Sozialwissenschaften des englischsprachigen Raums eine eindrucksvolle Konjunktur verzeichnen kann. So diagnostizierte Harriet Ritvo, eine Wegbereiterin historischer Animal Studies, schon vor Jahren einen Animal Turn, der weit über den Rahmen der British Studies hinausgreift. Nach den von der Frauen- und der Dekolonialisierungsbewegung angeregten Turns seien nun die Tiere die „latest beneficiaries of the protracted democratizing tendency within humanistic studies“ (Ritvo 2008, 13 f.). Auch im Fach Soziologie haben Fragen der Mensch-Tier-Sozialität weithin den Beigeschmack eines Orchideenthemas verloren. Zum Beispiel sind seit dem Hallenser Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1995), als eine von Doris Janshen und mir organisierte Ad-hoc-Gruppe Probleme einer ‚Soziologie der Mensch-Tier-Kommunikation‘ diskutierte, auf Kongressen der DGS wiederholt (2006, 2012, 2018) einschlägige Ad-hoc-Gruppen zusammengetreten. Weitere Indizien liefert die starke Zunahme einschlägiger, vor allem englischsprachiger Fachpublikationen, etwa im Bereich sozialwissenschaftlicher Zeitschriften: Legt
1HAS
steht nicht selten als Synonym für Animal Studies (so auch hier). Wenn von Cultural Animal Studies die Rede ist, dann sind kulturwissenschaftlich orientierte Animal Studies gemeint. Vgl. zu Fragen der begrifflichen Abgrenzung näher Roland Borgards (2016). R. E. Wiedenmann (*) Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät, KU Eichstätt-Ingolstadt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_7
111
112
R. E. Wiedenmann
man Daten der Sociological Abstracts zugrunde, dann haben sich die Anteile fachsoziologischer Beiträge mit tierbezogenen Themen seit den 1980er Jahren in etwa vervierfacht.2 Gleichwohl gibt es unter manchen Soziologen und Soziologinnen nach wie vor ein gewisses Unbehagen, sich der animal challenge zu stellen und eine diesem Problemkomplex entsprechende „reconfiguration of a number of sociology’s key ideas“ (Carter/Charles 2018, 87) in Angriff zu nehmen. Nicole Burzan (2017, 1) etwa berichtet in der Einleitung zu einem kürzlich erschienenen Tagungsband zum Mensch-Hund-Verhältnis, sie habe bei der Tagungsvorbereitung bei Fachkolleginnen und -kollegen nicht nur ein „vielfältiges Interesse“ bemerkt. Zeitweise sei ihr auch eine „fast schon emotional gefärbte Ablehnung“ entgegengeschlagen. Für derartige Aversionen und Bedenken, die für die ‚eingelebte‘ Tiervergessenheit großer Teile des soziologischen Mainstream immer noch symptomatisch sind, lassen sich verschiedene Gründe anführen, die hier aber nicht zu wiederholen sind.3 Herausgegriffen sei nur ein einzelner, sozialtheoretisch freilich besonders gravierender Vorbehalt, denn er betrifft eine vom traditionellen soziologischen Mainstream lange Zeit unhinterfragte Voraussetzung soziologischen Forschens und Räsonierens: Demnach beschäftige sich Soziologie mit dem Handeln bzw. den Sozialbeziehungen von Menschen, nicht mit dem (Sozial-)Verhalten von Tieren, kurz: Das Fach definiere sich als Humansoziologie. Die besondere Brisanz eines Animal Turn liegt dann darin, dass nichtmenschliche Tiere (im Folgenden: Tiere) nun nicht mehr auf materiell-objektive ‚Natur‘-Gegebenheiten und/oder auf kommunikativ mehr oder weniger unerreichbare Sinnkonstrukte binnenmenschlicher Sozialverhältnisse reduziert werden können. Im Unterschied zu älteren tiersoziologischen Arbeiten, die derart verfuhren (z. B. Tester 1991)4 gehen Ansätze, die einen erweiterten – z. B. humanimalischen5 – Sozialitätsbegriff voraussetzen, oftmals davon aus, dass die kommunikations- und intersubjektivitätstheoretischen Aspekte tierlichen Agierens systematisch einzubeziehen sind. Arbeiten, die auf unterschiedliche Weise diese Umorientierung vorbereitet oder vorangetrieben haben, sind u. a. von Theodor Geiger (1931), Gotthard Teutsch (1975), Kenneth Shapiro (1990), Donna Haraway (2003), Clinton Sanders und Arnold Arluke
2Eine
Recherche in den Sociological Abstracts vom 1.2.2018 ergab, dass dieser Anteil in den Jahren von 1980 bis einschließlich 1989 bei ca. 0,05% lag, in den Jahren 2010–2017 aber immerhin rund 0,2% erreichte. Berücksichtigt wurden Beiträge mit dem ‚main subject‘ ‚animals‘ und der Fachzuordnung ‚sociology‘ (n = 757, eigene Berechnung). 3Zur Diskussion solcher Vorbehalte Wiedenmann (2009, 31 ff.). 4Zu Keith Testers Vernachlässigung (inter-)subjektiver Aspekte von M ensch-Tier-Verhältnissen kritisch Wiedenmann (1993). 5Das Adjektiv „humanimalisch“ wird hier gewählt, um Konvergenzen und Ähnlichkeiten der Sozialität stiftenden und steuernden Prozesse hervorzuheben, in denen menschliche und tierliche Akteure zusammenwirken. Wie ein soziologischer Ansatz aussehen könnte, der humanimalische Sozialität nicht nur als Interaktionsgeschehen, sondern im Rahmen eines Mehrebenenmodells konzipiert, habe ich an anderer Stelle zu zeigen versucht (Wiedenmann 2009; ergänzend auch Wiedenmann 2002).
Handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität
113
(Sanders/Arluke 1993) vorgelegt worden. Besonders Sanders und Arnold Arluke haben in diesem Zusammenhang bereits früh dezidiert für eine Soziologie plädiert, die den Versuch wagt „to capture the perspectives of animals themselves“ (Sanders/Arluke 1993, 378). Ein derart ‚radikaler‘ Kurswechsel kann nicht umhin, grundlegende handlungstheoretische Konzepte der soziologischen Semantik auf den Prüfstand zu stellen. Zu diesem Fragenkomplex sollen im Folgenden – am Leitfaden der Interaktionsthematik – einige einschlägige und sozialtheoretisch typische Positionierungen skizziert und miteinander verglichen werden. Dazu werden in einem ersten Schritt (1) zwei sozialtheoretische Bezugsprobleme skizziert, die geeignet erscheinen, um handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität analytisch zu verorten. In einem zweiten Schritt (2) wird versucht, das komparative Potential des entsprechenden Vergleichsschemas anhand einiger exemplarischer Konzeptuierungen von Mensch-Tier-Interaktionen zu illustrieren. Nach einem kurzen Exkurs zum Tierproblem im Interobjektivitätsansatz von Bruno Latour (3) folgen abschließende Bemerkungen über die Chancen und Probleme eines Animal Turn im Fach Soziologie (4).
1 Mensch-Tier-Sozialität: zwei sozialtheoretische Problembezüge Soziologische Handlungskonzepte bieten unterschiedliche Optionen, um Mensch-Tier-Sozialverhältnisse zu beschreiben und zu klassifizieren. Der nun folgende holzschnittartige Versuch erhebt keine Exklusivitätsansprüche: Natürlich sind auch andere, sozialtheoretisch differenziertere Klassifizierungen möglich. Im Wesentlichen beschränkt er sich auf die mikrosoziale Ebene, d. h. er orientiert sich an unmittelbaren Mensch-Tier-Sozialkontakten, also an Konstellationen, wie sie z. B. in Bereichen der Heimtierhaltung, der tiergestützten Therapien oder einer kleinformatigen Landwirtschaft vorkommen. Dabei wird weitgehend ausgeklammert, dass solche Sozialkontakte in einer funktional differenzierten Gesellschaft in soziale Kommunikationsprozesse eingespannt sind, die oft durch Sozialorganisationen mitgeprägt sind, und die überdies von den verschiedenen Reproduktionsmechanismen gesellschaftlicher Teilsysteme (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik, Religion, Kunst, Sport usw.) erheblich modifiziert werden (näher dazu Wiedenmann 2009). Schematisch lassen sich Forschungsansätze zu Mensch-Tier-Interaktionen zunächst einmal (1) danach unterscheiden, in welchem Umfang ihre Basisannahmen geeignet sind, Mensch-Tier-Sozialverhältnisse eher symmetrisch oder eher asymmetrisch anzulegen. Das heißt hier: Sind die begrifflichen Grundunterscheidungen so gewählt, dass die Interaktionen generierenden und steuernden Handlungspotentiale zwischen anwesenden Tieren und Menschen eher einseitig zugerechnet oder eher als balanciert angenommen werden? Sind im Hinblick auf die Konzeption von Kategorien wie z. B. ‚Spiel‘, ‚Kunst‘ oder ‚Arbeit‘ diesbezüglich unüberbrückbare Diskrepanzen festzustellen, oder werden eher Ähnlichkeiten
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R. E. Wiedenmann
und Konvergenzen6 herausgestellt? Für derartige Zu- und Einordungen ist oft ausschlaggebend, ob und welche Annahmen zur anthropologischen Differenz7 herangezogen werden. Wird bestimmten Tieren z. B. ein geistiges oder sprachliches Vermögen zugerechnet, das sich kategorial bzw. qualitativ von dem der involvierten Menschen unterscheidet (‚differentialistische‘ Position), wie das für handlungstheoretische Ansätze typisch ist, die sich auf die eine oder andere Weise auf Prämissen einer zoologisch-anthropologischen ‚Sonderstellung‘ des homo sapiens stützen?8 Oder werden die als handlungsrelevant erachteten Unterschiede als bloß graduelle, kontinuierlich gestufte angesehen, wie das im Hinblick auf den ‚Geist der Tiere‘ für ‚assimilationistische‘ Positionen (Glock 2016, 60) charakteristisch ist? Werden Fragen nach der anthropologischen Differenz z. B. dahingehend beantwortet, dass den betreffenden Tieren keine dem Menschen vergleichbaren Potentiale der lautlichen Symbolisation, der gestischen Kommunikation, der kognitiven Handlungsantizipation, der Raum- und Zeitwahrnehmung usw. zugeschrieben werden, oder wird unterstellt, dass die betreffenden Potentiale lediglich schwächer bzw. gegebenenfalls auch stärker ausgeprägt sind? Beim zweiten Unterscheidungskriterium (2) Intentionalismus/Relationismus geht es um den methodologischen Grundansatz bzw. Duktus der jeweiligen Handlungskonzeption. Die Schlüsselfrage lautet hier: Was sind und auf welche Weise werden Sinnbezüge eines Verhaltens, einer Handlungseinheit oder einer Kommunikation erfasst? Wie werden dabei zum Beispiel die jeweiligen Grunddifferenzen9 zwischen dem aktuell „Gegebenen“ und dem „aufgrund dieser Gegebenheit Möglichen“ (Luhmann 1984, 111, Herv. i. O.) aufgespürt? Liegt (a) ein intentionalistisches Konzept zugrunde, dann wird – zumeist auf der Grundlage des methodologischen Individualismus – das Verhältnis des Akteurs zum jeweils unterstellten intentionalen Sinn ‚seiner‘ sozialen Handlung fokussiert, wie zum Beispiel bei Max Weber oder beim frühen Alfred Schütz (Schütz 1974). So betrachtet Max Weber „das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste
6Vgl.
zum Thema tierlichen Arbeitens z. B. den symmetrisierenden Forschungsansatz von Jocelyne Porcher und Tiphaine Schmitt (2012), zu symmetrisierenden Ansätzen im Bereich der Bildenden Kunst siehe den Überblick von Jessica Ullrich (2016, bes. 210 ff.). 7Anthropologische Differenz meint im Folgenden – Markus Wild folgend – „eine grundlegende Mensch-Tier-Unterscheidung. Die Anthropologische Differenz soll Aufschluss darüber geben, was Menschen im Unterschied zu Tieren sind und was folglich den Menschen im Unterschied zu Tieren auszeichnet und auszeichnen soll“ (Wild 2016, 47). 8Zur kritischen Auseinandersetzung mit derartigen (z. B. von Arnold Gehlen formulierten) Positionen bereits Bühl (1982, bes. 157 ff.). 9Manches spricht dafür, dass sich eine Sinn generierende Differenz generell auch als semiotische Relation darstellen lässt. Was Semiotiker wie Umberto Eco (1977, 169) die „relationale Natur des Zeichens“ nennen, bietet eine Chance, um „traditionelle“ ontologische Unterscheidungen (wie zum Beispiel „Materielles“/„Mentales“, „Geist“/„Natur“ usw.) zu unterlaufen. Es kann sich dann als heuristisch fruchtbar erweisen, „materielle Objekte“ als Zeichen und Denkprozesse als ein „Denken in Zeichen“ zu behandeln. So betont Charles S. Peirce (1955, 232), „that, whatever we think, we have present to the consciousness some feeling, image, conception, or other representtation, which serves as a sign.“ Dazu auch Wiedenmann (2009, 113 ff.).
Handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität
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inheit“, und der Einzelne wird entsprechend explizit als „der einzige Träger E sinnhaften Sichverhaltens“ (Weber 1988, 439) bezeichnet. Schütz’ Variante des Intentionalismus liefert mit ihren subtilen Konstitutionsanalysen der Sozialwelt zentrale Bausteine einer phänomenologischen Soziologie, doch bleibt sie insofern einem egologischen Grundansatz verhaftet, als die interpretative Erschließung des vom Handelnden reflexiv gesetzten subjektiven Sinns den methodische Dreh- und Angelpunkt der Handlungsanalysen markiert (Waldenfels 1980, 207 f.; Bühl 2002, 235 f.). Nichtmenschlichen Entitäten, wie zum Beispiel dem von Schütz einmal angeführten irischen Setter „Rover“ (Schütz 1971, S. 9 f.), die dem rigiden intentionalistischen Kriterium reflexiver Sinnsetzung nicht genügen können, wird der Logenplatz eines sozial Handelnden versagt. Nun gibt es freilich auch handlungs- und verhaltenstheoretische Ansätze, die mit sinnhafter Intentionalität mehr und auch anderes verbinden als die verstehenden Ansätze in der Tradition von Weber und Schütz. Gemeint sind Handlungs- und Verhaltensaspekte, die Licht werfen zum Beispiel auf das implizite Wissen (Polanyi 1985) eines Akteurs, auf seine habitualisierten Körpertechniken, seine Sublimierungen, auf Freudsche Fehlleistungen bzw. Verdrängungen, auf das Wirken ‚identischer Exekutiven‘ (Bilz 1974, 229 ff.) oder gestaltpsychologisch beschreibbarer Wahrnehmungsraster, auf die artspezifischen ‚Tönungen‘ und Eigenformen der einem Subjekt jeweils zugänglichen Umwelt (Uexküll 1973) usw. Es geht in solchen Fällen meist um ein vergleichsweise ‚tiefer‘ angesetztes Konzept von Intentionalität: um leiblich verankerte und in gewisser Weise ‚im Rücken‘ der Akteure ‚fungierende‘ Intentionen. Diese von Edmund Husserl (1972, 1977) und dann vor allem von Maurice Merleau-Ponty (1974) untersuchten latenten Intentionalitätsmodi lassen sich mit Bernhard Waldenfels und Husserl als Varianten „uneigentlicher Intentionalität“ charakterisieren: „Intentionalität, da hier bereits Sinn auftritt, eine[r] uneigentliche[n], weil dieser Sinn meiner aktiven Setzung vorausgeht“ (Waldenfels 1980, 42).10 Der nicht zu unterschätzende methodologische Vorzug dieses sozusagen ‚vertikal‘ erweiterten Intentionalitätskonzepts ist unter anderem darin zu sehen, dass die sich damit eröffnenden Konstitutionsanalysen auch (bestimmte) nichtmenschliche Subjekte als sinnhaft und sozial agierende Lebewesen berücksichtigen können.11 Im Gegensatz zu den verschiedenen Spielarten des Intentionalismus fokussieren (b) sozialrelationistisch ausgerichtete Ansätze die Relationalität bzw. den ‚Beziehungscharakter‘ der Genese, der (Verlaufs-)Formung und der Einbettung der Sinnbezüge sozialen Handelns und Verhaltens. Der methodologische
10Mit
Blick auf sinnliche Wahrnehmungen schreibt in diesem Sinne bereits Maurice MerleauPonty, „dass man in mir wahrnimmt, nicht, dass ich wahrnehme“ (Merleau-Ponty 1974, 253; Herv. i. O.). 11Oder wie Bühl (2002, 27) es einmal salopp ausdrückt: „Nicht nur der Mensch ist ein intentionales Wesen, sondern auch die anderen Lebewesen.“
116
R. E. Wiedenmann
Fokus des sozialen Relationismus liegt dabei immer auf sozialen Kontextualisierungen, die mit einer dezentrierenden ‚Entsubstanzialisierung‘ der involvierten (Kollektiv-)Akteure (einschließlich ‚ihrer‘ Intentionen, ‚ihres‘ Agierens, ‚ihrer‘ Selbste usw.) verknüpft sind. Das hier präferierte Konzept sozialer Relationierung ist etwas anders und in gewisser Hinsicht breiter angelegt als die in soziologischen Netzwerktheorien vorherrschenden Relationskonzepte. Aus unserer Sicht ist es zum Beispiel problematisch, die Ansätze von George H. Mead oder Erving Goffman aus einer Darstellung der relationalen Soziologie auszuklammern.12 Dementsprechend kann die Analyse der jeweils als relevant definierten Relationen sehr heterogene Kontext-Konstrukte unterschiedlicher Abstraktionsniveaus zum Gegenstand haben: So können z. B. Interaktionanalysen einen korrektiven Prozess als relevanten Kontext eines Einzelnen ‚move‘ (z. B. einer Entschuldigungsgeste) behandeln (Goffman 1967, 19 ff.), oder die Gegenstände eines räumlichen Settings als Requisiten eines „Bühnenbildes“ (Goffman 1969, 23 ff.).13 Andere Beispiele für relationierende Kontextualisierungen sind die indexikalischen Bezüge einer sozialen Situation (Mehan/Wood 1976) oder das Beziehungsgeflecht einer Figuration (Elias 1998, 70 ff.). Selbst strukturale Modelle von Verwandtschaftssystemen14 oder Sozialsysteme im Sinne Niklas Luhmanns (1998) (z. B. Organisationen oder gesellschaftliche ausdifferenzierte Funktionssysteme) können für sozial relationierende Kontextualisierungen herangezogen werden. Ein komplementärer, strukturalistisch inspirierter Zugang zum hier anvisierten Relationierungskonzept kann bei Pierre Bourdieu (1998) nachgelesen werden. Bourdieu betont wiederholt, dass eine Praxis niemals ‚substantialisiert‘ und isoliert betrachtet werden sollte, sondern vielmehr kontextualisiert, z. B. als Element eines ‚Raums der Lebensstile‘ oder eines bestimmten sozialen Feldes. Solche Kontexte können dann selbst wiederum einer strukturalen Relationierung unterzogen werden, das heißt mit anderen Bezugskontexten verglichen werden, in denen die betreffende Praktik auftritt. Kontrolliert durchgeführt kann dieses Verfahren helfen, sowohl (a) die strukturelle Bedeutung wie auch (b) die systemrelativ bedingte Kontingenz einer Praktik freizulegen. Diese Methode, so Bourdieu, soll der „Gefahr“ entgegen steuern, „dass strukturell unterschiedliche Merkmale unzulässigerweise gleichgesetzt oder strukturell gleiche Merkmale fälschlich unterschieden werden“ (Bourdieu 1998, 18).
12Hierzu
Häußling (2010). Hinzu kommt, dass die in einem Sozialsystem zu beobachtenden sozialen Relationierungen immer auch auf komplementäre Relationierungen der beiden anderen Sinndimensionen (Sach- und Zeitdimension) verweisen (Luhmann 1984, S. 111 ff.). 13Vgl. etwa die Arrangements, die Tobias Röhl bei Lesehunden in Schulen angetroffen hat (Röhl 2017, 130 f.). 14Vgl. hierzu die Arbeiten von Claude Lévi-Strauss, der mit Blick auf die Verwandtschaftsstruktur einmal das punctum saliens der relationistischen Perspektive so ausdrückt: „Der Irrtum der traditionellen Soziologie wie der traditionellen Sprachwissenschaft liegt darin, die Glieder und nicht Beziehungen zwischen den Gliedern betrachtet zu haben“ (Lévi-Strauss 1971, 61).
Zuordnung relevanter Handlungspotentiale asymmetrisierend symmetrisierend
Handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität
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L. Irvine
E. Goffman T. Geiger B. Latour M. Weber
G. H. Mead
intentionalistisch relationistisch Methodologische Grundierung des Handlungskonzepts Abb. 1 Schema handlungstheoretischer Konzepte zur Mensch-Tier-Sozialität
2 Handlungstheoretische Konzeptuierungen von Mensch-Tier-Sozialverhältnissen: Abriss einer typologischen Verortung Kombiniert man die genannten Unterscheidungen hinsichtlich (1) des Grades der Symmetrisierung/Asymmetrisierung und (2) der methodologischen Grundausrichtung (Intentionalismus/Relationismus), dann ergibt sich ein Übersichtsschema15, das es ermöglicht, handlungstheoretische Konzepte zur Mensch-Tier-Sozialität grob zu verorten (vgl. Abb. 1). Als ein soziologiegeschichtlich einflussreiches Beispiel für den ersten Typus eines asymmetrischen Intentionalismus kann die bereits eingangs angedeutete Position Max Webers angeführt werden. Methodisch setzt Weber am „subjektiv gemeinten Sinn“ des Akteurs an und konstatiert von daher bei Tieren ein massives Zurechnungsproblem: „Wir haben aber sichere Mittel“, schreibt er, „den subjektiven Sachverhalt beim Tier festzustellen, teils gar nicht, teils in nur
15Die
abgebildete Übersicht versteht sich als eine illustrierende Orientierungshilfe, die die im Text erläuterte Verortung der betreffenden Ansätze lediglich schematisch unterlegt.
118
R. E. Wiedenmann
sehr unzulänglicher Art“ (Weber 1980: 7). In der Konsequenz ergibt sich eine markante Differenz in der Beforschung menschlichen und tierlichen Agierens: Letzteres bleibt entweder unthematisiert oder wird als bloßes Verhalten behandelt. Dieser von Weber formulierte Vorbehalt bedeutet freilich nicht, dass Tiere in der Tradition der interpretativen Soziologie und in anderen Varianten der Mainstream-Soziologie überhaupt nicht thematisiert würden. Tiere treten z. B. als symbolische Wissenskonstrukte unterschiedlichster Bereiche in Erscheinung, etwa als soziales Distinktionsmittel (z. B. wertvolle Turnierpferde als Statussymbole), oder sie werden z. B. als Ressource binnenmenschlicher Kommunikation bzw. als Medium individueller und kollektiver Identitätsbildung thematisiert.16 In allen derartigen Fällen geschieht dies typischerweise asymmetrisch: Die Tiere selbst werden also nicht als Akteure betrachtet, die Handlungs- und Kommunikationsbeiträge liefern, die mit denen der involvierten Menschen vergleichbar sind. Nun gab es freilich bereits in der deutschsprachigen Soziologie der Zwischenkriegszeit Soziologen, die Webers dezidiert asymmetrische Sichtweise der Mensch-Tier-Sozialitäten nicht geteilt haben. Als exemplarischer Vertreter dieser Nebenströmung soziologischen Dankens kann hier Theodor Geiger angeführt werden. Geiger interessiert die Frage nach der Möglichkeit unmittelbarer Mensch-Tier-Sozialkontakte, die er auf’s engste mit der intentionalen Erfahrung des anderen als eines Subjekts verknüpft. Subjektivität kommt einem Lebewesen zu, sofern es „Sitz und Träger eines eigenen Inneseins“ ist, das Erlebnisse als die „seinen hat“ bzw. diese Vorgänge auf sich selbst beziehen kann (Geiger 1931, 285). Erst wenn Mensch und Tier sich gegenseitig als Subjekte gewahr werden, kann eine Sozialbeziehung zwischen ihnen entstehen. Diese wechselseitige Kenntnis beruhe nicht auf einer gezielten, von Aufmerksamkeit gelenkten Reflexion, etwa auf einem willentlichen Schlussfolgern, sondern auf einem unmittelbar evidenten „Erlebniswissen“. Im Anschluss an Vorarbeiten wie Max Schelers 1912 erstmals erschienener „Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle“ (Scheler 1973) verwendet Geiger hierfür den Begriff der Du-Evidenz. Du-Evidenz wird dabei als eine Variable verstanden, die eine notwendige Bedingung für gegenseitige Kontaktbereitschaft bzw. kommunikative Ansprechbarkeit ist. Wechselseitige Du-Evidenz eröffnet Chancen zu einer Abschwächung oder zeitweisen Überwindung asymmetrischer Mensch-Tier-Sozialverhältnisse. Geiger spricht hier von der „Überwindung einer Niveauspannung“ (Geiger 1931, 301), die aber insofern subjektrelativ ist, als sie nur bei einer „hinlänglichen Ähnlichkeit der besonderen psychischen Struktur“ (Geiger 1931, 296) gelingen kann. Das wird in empirischen Mensch-Tier-Kontakten aber oft nur schwer oder gar nicht erreicht. Das mag z. B. daran liegen, dass die biologische ‚Gattungsdifferenz‘ zu groß ist, so etwa im Verhältnis von Mensch und Maikäfer. Das Ausmaß
16Z. B.
Wellensittiche als kommunikative Ressource familialer Gespräche (Bergmann 1988) oder Tauben als Gegenstand der Zuchtanstrengungen von Bergmännern im Ruhrgebiet (Soeffner 1992).
Handlungstheoretische Zugänge zur Mensch-Tier-Sozialität
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der Niveauspannung kann auch individuell variieren: Sie ist z. B. tendenziell schwächer bei einer Person, die schon in ihrer Kindheit häufigen und vertrauten Umgang mit bestimmten Tieren (z. B. Hund, Pferd) hatte. Auf der Tierseite ist für die Überwindung der Niveauspannung die Domestikation eine „sehr wichtige“ Variable. So sei das domestizierte Tier in seiner „physischen und psychischen Struktur“ so „unendlich verändert und zurechtgebogen“, dass es ihm ceteris paribus relativ leicht falle „auch seinerseits zur Evidenz des menschlichen Du [zu] gelangen.“ (Geiger 1931, 298). In der englischsprachigen Soziologie, in der sich einzelne Forscher und Forscherinnen etwa seit den achtziger Jahren – also ziemlich zeitgleich mit den frühen Anfängen der HAS – Themen der Mensch-Tier-Sozialität zuwandten, geschah dies meines Wissens ohne Rückgriff auf Geiger. Auch hier werden intentionalistisch angelegte Handlungskonzepte diskutiert, die Mensch-Tier-Sozialitäten tendenziell symmetrisieren. Wegweisende Arbeiten werden dabei von Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern beigesteuert, die dem Umfeld der Ethnomethodologie und vor allem des Symbolischen Interaktionismus zuzurechnen sind. Bei Letzteren spielt von Beginn an die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk von George H. Mead eine zentrale Rolle. Schon eine flüchtige Lektüre Meads zeigt, dass sein Ansatz im Hinblick auf die anthropologische Differenz dezidiert asymmetrisch angelegt ist, wobei als differentialistisches Hauptkriterium das bei Tieren fehlende Sprachvermögen angeführt wird. Mead zufolge gibt es in der Tierwelt zwar einfachen Gestenaustausch, aber kein Kommunikationsmedium, das der menschlichen Sprache vergleichbar ist. Tiere könnten demnach keine Interaktionskompetenz entwickeln, wie sie bei Menschen durch die Verwendung signifikanter Symbole ermöglicht werde. Explizit schreibt Mead (1967, 183) dass „there is no evidence of animals being able to recognize that one thing is a sign of something else and to make use of that sign.“ Wenn wir vertrauten Haustieren wie Hunden oder Pferden gewöhnlich eine Persönlichkeit zuschreiben, dann sitzen wir Mead zufolge einer Fehldeutung auf: Weder für eine „importation of the social process into the conduct of the individual“ (Mead 1967, 182) noch für ein Vergangenheit und Zukunft umspannendes tierliches Zeitbewusstsein gebe es belastbare wissenschaftliche Belege. Dennoch wäre es verfehlt, die Parallelen zwischen Meads asymmetrischer Auffassung des Mensch-Tier-Verhältnisses und dem asymmetrisch-intentionalistischen Ansatz Max Webers zu überzeichnen. Denn Meads Sozialtheorie ist im Übrigen nicht intentionalistisch, sondern ausgesprochen relationistisch angelegt. Den Handlungssinn rekonstruiert Mead nicht vom handelnden Subjekt her, für ihn zeigt sich der Sinn einer Geste erst in der Reaktion des anderen, adressierten Akteurs, und gestische Signifikanz liegt dann in den Fällen vor, in denen diese Reaktion tendenziell auch im gestikulierenden Ego selbst ausgelöst wird: „The meaning of what we are saying is the tendency to respond to it“ (Mead 1967, 67). Der
120
R. E. Wiedenmann
andlungssinn gewinnt hier erst aus dem sozialen Kontext der sie rahmenden und H ‚einbettenden‘ Handlungssequenz heraus Konturen.17 Meads asymmetrisch-relationistische Sicht von Mensch-Tier-Sozialitäten ist in der Folge in unterschiedlichen Aspekten fortgeführt und auch kritisch revidiert worden, wie u. a. Arbeiten von Erving Goffman zeigen. Im Hinblick (a) auf das relationistische Leitmotiv von Meads Sozialtheorie tritt dabei eine bedenkenswerte methodologische Affinität zutage, wohingegen (b) Meads vehement asymmetrische Kontrastierung tierlichen und menschlichen Agierens von Goffman deutlich abgeschwächt wird. Der relationistische Grundansatz von Goffmans Sozialtheorie besagt, dass Interaktionen von den kontextuellen Möglichkeitsbedingungen und -spielräumen der jeweiligen Interaktionsordnung her verstanden werden. Goffman fokussiert dabei eben nicht den individuellen Akteur und die ‚Psychologie‘ seines intentionalen Lebens, sondern ihn interessieren „the syntactical relations of the acts of different persons mutually present to one another“ (Goffman 1967, 2; Herv. R. W.). Goffman hat für diesen seinen Zugang einmal die glückliche Formulierung gebraucht, es gehe ihm nicht um Menschen und ihre Situationen („men and their moments“), sondern um „moments and their men“ (Goffman 1967, 3; deutsch Goffman 1986b, 9). Betrachtet man diese Formulierung für sich, dann erweckt sie den Anschein, dass Goffmans relationistische Soziologie mit Blick auf die anthropologische Differenz dezidiert asymmetrisch angelegt ist, dass sie also den Engführungen einer humansoziologischen Perspektive verhaftet bleibt. Genauer besehen gibt es aber in Goffmans Werk eine Reihe von Hinweisen, die zeigen, dass dieser Eindruck trügt. So charakterisiert Goffman die syntaktischen Regulationsmechanismen von Interaktionen bisweilen als Regulative, die bis zu einem gewissen Grad sowohl tierliche (binnenanimalische) wie auch Mensch-Tier-Interaktionen strukturieren. Die semiotischen Aspekte z. B. von Interaktionsritualen werden deswegen von ihm auch auf ihre biosemiotischen Implikationen und Wurzeln hin befragt. So zitiert Goffman nicht selten thematisch einschlägige Befunde aus der Tierpsychologie bzw. kognitiven Ethologie18 – und zwar nicht immer nur zu didaktisch-kontrastiven Vergleichszwecken, sondern um auf die kultur- und teilweise auch artübergreifenden Ähnlichkeiten der betreffenden Verhaltensmuster und der diese quasi ‚syntaktisch‘ regulierenden Mechanismen aufmerksam zu machen.
17Mead
wörtlich: „We are not […] building up the behavior of the social group in terms of the behavior of the separate individuals composing it; rather, we are starting out with a given social whole of complex group activity, into which we analyze (as elements) the behavior of each of the separate individuals composing it” (Mead 1967, 7). 18In seiner „Frame-Analysis“ (Goffman 1986a) z. B. Arbeiten von Heini Hediger, Jakob von Uexküll, Nicolaas Tinbergen oder Konrad Lorenz.
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121
In einer Arbeit über territoriale Aspekte von Interaktionen, in der er sich dezidiert von Emile Durkheims asymmetrischem Soziologismus distanziert, hebt Goffman z. B. hervor, dass sich hier auch deutliche Ähnlichkeiten mit den Verhaltensweisen der Tiere [zeigen]. Es sind denn auch die Grundbegriffe der Untersuchung aus der Ethologie übernommen. Es gilt, eine Perspektive zu entwickeln, die diese beiden traditionellerweise einander fremden Standpunkte miteinander verknüpft – zumindest dort, wo es um die Untersuchungen der alltäglichen Verhaltensweisen geht, die zur Interaktion von Angesicht zu Angesicht gehören. (Goffman 1974, 92; Herv. R. W.)
Diese Textpassage illustriert, dass es in Goffmans relationistischer Interaktionsforschung auch darum geht, Chancen einer impliziten Symmetrisierung humanimalischer Sozialität auszuloten. In seinen Arbeiten finden sich wiederholt Hinweise, wie dies umgesetzt werden kann: Die proxemischen Besonderheiten und die keyings einer sozialen Situation, die Ordnung der Blickwechsel, die Varianten des Grußverhaltens und der korrektiven Ausgleichshandlungen19 sind Beispiele, deren heuristisches Potential mikrosoziologische Animal Studies bei weitem noch nicht ausgeschöpft haben. Nicht zu vergessen sind schließlich die von Gregory Bateson und anderen untersuchten Formen spielerischer Interaktion,20 die Goffman zu der Bemerkung veranlassen: „Indeed, play is possible between humans and many species, a fact not to be dwelt upon when we sustain our usual congratulatory versions of the difference between us and them“ (Goffman 1986a, 41; Herv. i. O.). Der im Vergleich zu Geiger ausgesprochen relationistische Grundansatz Goffmans wirft die Frage auf, inwieweit z. B. spielerische Interaktionen zwischen Menschen und Tieren auch dann möglich sind, wenn keine gemeinsame, intersubjektiv geteilte Situationsdefinition oder kein Perspektivenwechsel im Sinne Meads (‚taking the role of the other‘) anzunehmen ist. Ethnomethodologisch ansetzende Soziologen knüpfen hier an: Sie geben zu bedenken, dass Muster koordinierter spielerischer Mensch-Tier-Interaktionen auch dann vorkommen, wenn vergleichsweise ‚anspruchsvolle‘ intentionale Bedingungen (übereinstimmende Situationsdefinitionen, handlungsleitende Orientierung an ähnlichen internalisierten Normen usw.) nicht oder nur ansatzweise vorliegen. So zeigt z. B. Colin Jerolmack (2009) am Beispiel sozialen Spielverhaltens, dass sich hier Mensch-Tier-Interaktionen innerhalb eines Kontinuums ganz unterschiedlicher Intersubjektivitätsniveaus bewegen. Kritisch an Goffmans Rahmenanalyse anknüpfend stellt er fest, „that humans can engage in playful associations with animals even if animals do not share in the play frame“ (Jerolmack 2009, 371). Es käme daher darauf an, Mensch-Tier-Interaktionen zu erklären „without
19Vgl.
etwa die die Parallelen zwischen Goffmans Schilderungen korrektiver Prozesse und den Sozialtechniken, die Frans de Waal (1991, 113 ff.) beim Konfliktmanagement unter Primaten beobachtet. 20Vgl. dazu näher Wiedenmann (2009, 243 ff.).
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R. E. Wiedenmann
the need to assume ,minds‘ or shared meanings“ (Jerolmack 2009, 376). Vor allem von (den weiter unten noch vorzustellenden) Vertretern und Vertreterinnen des Symbolischen Interaktionismus werde in diesem Zusammenhang der Stellenwert intentionaler Faktoren überschätzt, wohingegen andere Bedingungen der Interaktion (wie z. B. artspezifische Voraussetzungen der „mental capacities“, oder situative Faktoren, wie z. B. die Art des Schauplatzes, die Dauer der Interaktion, proxemische Bedingungen) unzureichend gewürdigt würden. Ähnlich argumentiert David Goode: Auch er relativiert eine intentionalistische Deutung spielerischer Mensch-Tier-Interaktionen dahingehend, dass konvergente Symboldeutungen gar keine zwingende Voraussetzung für stimmig und flüssig koordinierte Spielverläufe sind, ebenso wenig wie ein „carefully reading the mind of the other player“ (Goode 2007, 130). Folgt aus solchen Kritiken, dass handlungstheoretische Erlärungsansätze, die (wie z. B. bei Geiger) stärker auf den Stellenwert der intentionalen Voraussetzungen und Bedingungen von Mensch-Tier-Interaktionen rekurrieren, nun obsolet sind? Vor allem empirisch basierte Forschungen, die seit den 1990er Jahren im Umfeld eines kritischen Symbolischen Interaktionismus entstanden sind (etwa Arbeiten wie Arluke/Sanders 1993; Sanders 2003, 2007; Irvine 2004, 2012), mahnen hier zur Vorsicht, können sie uns doch für die konzeptuellen Grenzen eines überzogenen ethnomethodologischen Relationismus sensibilisieren. Diese zeigen sich etwa dort, wo Mensch-Tier-Interaktionen in korrespondierende übersituative Mensch-Tier-Sozialbeziehungen eingebettet sind und Interaktionsregulative zum Zuge kommen, die bestimmte Kompetenzen der jeweiligen ‘Selbste’ der beteiligten Akteure in Anspruch nehmen. Im Gegensatz zu Mead fußen die Arbeiten von Sanders und Irvine einerseits auf ausgesprochen symmetrisierenden Grundannahmen: Sie gehen also davon aus, dass die Differenzen bei den handlungsrelevanten Kompetenzen menschlicher und tierlicher Akteure oftmals nur gradueller, aber nicht prinzipieller Art sind.21 Andererseits wird der relationistische Duktus des Meadschen Ansatzes zwar nicht aufgekündigt, aber doch so modifiziert bzw. ergänzt, dass nun vor allem mit Blick auf das Agieren tierlicher Akteure intentionale Elemente stärker gewichtet werden. Diese tiersoziologische Erweiterung des Symbolischen Interaktionismus versucht, die in Sozialprozesse involvierten Tiere auch wissenssoziologisch ernst zu nehmen, d. h. als wissenskompetente Akteure, deren Handeln die mit Menschen geteilte Sozialwelt aktiv mit hervorbringt, sozial mitkonstruiert. Als wissenskompetente Akteure partizipieren Tiersubjekte zum Beispiel an einer jeweiligen interspecies culture (Sanders 2003, 407), die einen mehr oder weniger
21„[…]
a matter of degree rather than [of] kind“, wie Sanders und Arluke (1993, 384) einmal anmerken.
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123
habitualisierten Bestand gemeinsamer symbolischer Bedeutungen22 umfasst. Explizit revidiert wird in diesem Zusammenhang insbesondere Meads These, wonach selbst höhere Tiere (wie zum Beispiel Hund, Katze oder Pferd) niemals signifikante Symbole verstehen oder selbst willentlich benutzen könnten. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass dieser neue Blick auf Tierakteure auch eine kritische Distanzierung von Meads Konzept des Selbst (self) gezeitigt hat. So hat insbesondere Leslie Irvine mit ihrem Konzept eines basalen Selbst (core self) als Grundlage einer tierlichen Selbstheit (selfhood) einen symmetrisierenden Gegenentwurf vorgelegt. Dieser geht – wie zuvor schon Sanders/Arluke (1993) – davon aus, dass „the capacity for intersubjectivity does not depend on language“ (Irvine 2004, 17): Menschen und Tiere könnten ihre Gedanken, Absichten und Gefühle auch ohne sprachliche Artikulation teilen. Dem liegt die Überzeugung zugrunde, „that there is something to animal selfhood and that this ‚something‘ becomes apparent during interaction. Our attributions of animals’ selves are not merely wishful anthropomorphic projection“ (Irvine 2004, 17). Da Interaktionskompetenzen von Tieren bei Irvine vor allem vom Begriff eines tierlichen Selbst her rekonstruiert werden, soll dieses Konzept kurz erläutert werden. Irvine zufolge umfasst die selfhood eines Tieres vier basale, präverbale Erfahrungsdimensionen (agency, coherence, affecivity, self-history), die von Irvine wie folgt charakterisiert werden: „1. A sense of agency, meaning that you are the author of your actions and movements and not the author of the actions and movements of others“ (Irvine 2004, 4; Herv. i. O.). Diese Dimension tierlicher Selbsterfahrung umfasst einmal („self-directed“) (a) das Vermögen, eigene Aktivitäten zu kontrollieren und von Aktivitäten anderer Interaktionsteilnehmer unterscheiden zu können. Ein Beispiel dafür ist eine Katze, die den Kopf hin- und her wiegend prüft, ob sie aus dem Stand sicher ein Fensterbrett erreichen kann. Die intentionale Kontrolle der eigenen Motorik ist z. B. schon deswegen wichtig, weil sich im Lauf der Zeit das Gewicht und die Sprungkraft der Katze verändern. Zum anderen (b) ist diese Selbsterfahrungsdimension auch „directed at others“, dann bezieht sie sich auf ein Gespür für das eigene Vermögen, in bestimmten Situationen das Verhalten anderer beeinflussen zu können. „2. A sense of coherence, meaning that you understand yourself as a physical whole that is the locus of agency“ (Irvine 2004, 4; Herv. i. O.). Hier ist nicht
22Hierher
gehört z. B.: Was wird im Rahmen eines humanimalischen Sozialverhältnisses jeweils als ein kulinarisches ‚Leckerli‘ definiert, was als mögliches Spielzeug oder Sanktionsmittel? Wo sind die vom Tier als ‚attraktiv‘ eingestuften Schlaf- bzw. Ruheplätze? Wo sind gegebenenfalls die ‚verbotenen‘ no go areas zu lokalisieren? Gibt es im Verhalten des Tieres Hinweise darauf, dass dieses z. B. eine regelmäßig durchgeführte Handlung (tageszeitlich z. B. Fütterung, Spaziergang usw.) als ein wiederkehrendes Ereignis erwartet bzw. ‚definiert‘? ‚Definition‘ ist hier natürlich als eine Sinn selegierende Ein- bzw. Abgrenzung gemeint, die dem betreffenden Tier als ein präverbal und implizit gewusster Erfahrungszusammenhang gegeben ist.
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nur die Fähigkeit gemeint, dass ein Tier den eigenen Körper als agierende und abgegrenzte Einheit wahrnehmen kann,23 sondern auch, dass es über eine „capacity“ verfügt „to recognize distinct others“ (Irvine 2004, 11). Kohärenz schließt in günstigen Fällen auch ein, dass ein Tier einen Perspektivenwechsel im Hinblick auf die eigene physische Präsenz durchführen kann. Ein Beispiel ist hier das Wissen um die Möglichkeit, sich vor anderen verbergen, verstecken zu können.24 Im Rahmen von Mensch-Tier-Beziehungen spiegeln sich Typisierungen tierlicher Kohärenz u. a. darin, dass versucht wird, das Besondere des betreffenden Tierindividuums durch einen ‚passenden‘ Eigennamen zu unterstreichen – wobei freilich zu konzedieren ist, dass dabei auch die Entdeckung bzw. Zuschreibung individuell charakteristischer vitality affects (siehe unten, Punkt 3.) wohl keine unbedeutende Rolle spielt.25 „3. A sense of affectivity, meaning patterned qualities of feelings that are associated with other experiences of the self“ (Irvine 2004, 4; Herv. i. O.). Bei dieser Erfahrungsdimension unterscheidet Irvine ‚kategorial‘ abgrenzbare und eher situativ kontextuierte Selbsterfahrungen (wie Glück, Traurigkeit, Wut, Angst, Freude usw.) von den sogenannten vitality affects, die (meist) mit weniger volatilen Grundstimmungen bzw. Gemütslagen assoziiert sind. Gemeint ist z. B. die für ein Tierindividuum typische ‚phlegmatische‘ Lustlosigkeit oder sein im Allgemeinen ‚fröhlich-munteres‘ Temperament. Für Tierhalter, so Irvine, dient die Affektivitätsdimension nicht selten dazu, den gewissermaßen eigentlichen ‚Wesenskern‘ eines Tieres zu benennen (‚neugierig‘, ‚ängstlich‘, ‚mutig‘ usw.). „4. A sense of self-history, meaning that you maintain some degree of continuity, even while changing“ (Irvine 2004, 4; Herv. i. O.). Damit ist wohl der zentrale Baustein tierlicher Selbstheit angesprochen. Gemeint ist ein nonverbal verfügbares Wissen über Erfahrungen, die das betreffende Tier mit anderen Lebewesen, Dingen, örtlichen Gegebenheiten, (tages-)zeitlichen Rhythmen usw. gesammelt hat. Diesbezügliche Erinnerungen bilden die Grundlage für eine transsituative Kontinuität des tierlichen Selbstbezugs. So stellen z. B. besondere Vorlieben hinsichtlich Futter, Spielzeug, Ruheplätze
23…
und sich z. B. in der vorprädikativen Gewissheit manifestiert, dass die Pfote, die das betreffende Tier gerade putzt, ‚die seine‘ ist (und nicht die eines anderen Wesens). 24‚Verstecken‘ meint hier eine Facette impliziten Wissens, das z. B. bei katzenartigen Prädatoren, die ihrer Beute möglichst unbemerkt auflauern, auf stammesgeschichtliche Wurzeln verweist (Irvine 2004, 12). Irvine greift hier einen Gedanken von Sanders auf, der in seiner 1999 erschienenen Monographie „Understanding dogs” diese Fähigkeit als Indiz dafür anführt, „that an animal is aware of itself as an object in the world separate from the physical environment and from others" (zit. nach Sanders 2007, 137). 25So kann z. B. ein im Tierasyl noch schüchtern oder gar deprimiert wirkender Kater nach erfolgreicher Vermittlung in ein neues Zuhause ein deutlich anderes, z. B. unerwartet dominantes, Sozialverhalten an den Tag legen. Er mag dann die dort schon ansässige Katzengemeinschaft derart ‚aufmischen‘, dass er von seinen neuen Bezugspersonen in ‚Rambo‘ umgetauft wird. Vgl. zur Tiernamengebung ergänzend auch Irvine (2012, 129 f.).
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dem Tier relativ stabile Orientierungen zur Verfügung, um sozusagen intuitiv zu entscheiden, was es in einer Situation ‚für sich selbst‘ jeweils präferiert (quasi ‚will‘) bzw. vermeidet (‚nicht will‘). Dieser Punkt verdeutlicht, dass der symmetrisierende Interaktionismus von Irvine im Kern intentionalistisch fundiert wird: „Self-history, or continuity, makes interactions into relationships“ (Irvine 2004, 14, Herv. i. O.). Tierliche Gedächtnisleistungen sind für Irvine auch ein Beleg, dass behavioristische Reduktionen eines durch selfhood geprägten tierlichen Verhaltens unzureichend sind: Wenn Tiere „do remember what happened to them in the past“ (Irvine 2004, 15), dann sind ihnen auch Agencies zuzutrauen, die als „‘stimulus free’, or motivated by internal factors“ (Irvine 2004, 14 f.) einzustufen sind. Es ist ein Plus dieser intentionalistisch inspirierten Fokussierung ‚interner Faktoren‘, dass Tiere als Subjekte ernst genommen und nicht auf Reflexmaschinen bzw. passive ‚Spielbälle‘ ihrer sensorischen Stimuli reduziert werden. Kontingente Aspekte des durch selfhood ermöglichten Sozialverhaltens werden dadurch nicht vorschnell marginalisiert. Sozialphänomenologisch kann die intentionale Struktur, die die Grundlage sowohl für die Kontingenz wie auch für die situationsübergreifende Kontinuität tierlicher Selbstbezüge abgibt, freilich noch eingehender expliziert werden: Denn diese Struktur wird von Irvine vor allem auf ihre retentionalen Aspekte, kaum aber auf ihre protentionalen Implikationen hin d iskutiert. Soweit es zutrifft, dass der Aufbau intentionaler Leistungen bei Tieren grosso modo mit dem vergleichbar ist, was Husserl (1977) als verähnlichende Apperzeption bzw. als ein ‚Mitgegenwärtig-Machen‘ beschreibt, dann erschöpfen sich die tiersubjektiven Bewusstseinsleistungen freilich nicht in gedächtnisgestützten Konstitutionsleistungen, sondern sie umfassen auch protentional gerichtete und insofern oft unmittelbar handlungs- und entscheidungsrelevante Erwartungen,26 – Erwartungen, die auch einem Tier eine gewisse Möglichkeit zur Distanzierung von der Situation27 eröffnen können. Biographisch erworbene individuelle Vorlieben bzw. Abneigungen stellen einem Tier ja oftmals uno actu präverbal gewusste Kriterien zur Verfügung, um abzuschätzen, welches Ziel bzw. welches Verfahren ‚aller Erfahrung nach‘ in einer bestimmten Situation als relevant bzw. aussichtsreich gelten kann.
26Siehe
zu diesbezüglichen Schnittstellen zwischen Husserls Untersuchungen zur passiven Synthesis und der Umweltlehre Jakob von Uexkülls auch Wiedenmann (2009, 196–198). So begreift von Uexküll tierliche Wahrnehmungsleistungen als Bildungsprozesse, durch die „verschiedene Qualitäten zu Einheiten verbunden“ werden (Uexküll 1973, 39, 70 ff.), wobei die konstitutiven Leistungen, die die jeweilige Umwelt auf die korrespondierende tierliche Subjektivität hinordnen, freilich nicht von Husserl, sondern von Kant her begriffen werden. – Ein kurzer Überblick zu verschiedenen Facetten einer Phänomenologie des Mensch-Tier-Sozialverhältnisses findet sich bei Waldenfels (2015, 95 ff.). 27Noch Buytendijk (1958, 49) stellt diese Möglichkeit infrage, obschon er die außerordentliche heuristische Bedeutung der Husserlschen Zeitkonzeption für das Problem tierlicher Intentionalität im Prinzip klar benennt.
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Protentional gerichtete Erwartungen eines Tieres daraufhin, was situativ als jeweils ‚sachlich möglich‘ bzw. ‚sozial zulässig‘ einzuschätzen ist, profilieren sich zwar vor dem Hintergrund vertrauter Routinen wie z. B. einer bestimmten interspecies culture, doch kann die soziale Funktion dieser Erwartungen bei Tieren, die sich durch selfhood auszeichnen, leicht falsch verstanden werden. Darauf deuten Fälle hin, in denen protentional ausgerichtetes Vertrauen28 enttäuscht wird: Unter anderem autoethnographische29 Erfahrungen mit eigenen Katzen haben mir wiederholt vorgeführt, dass dann kein diesbezügliches Lernen und keine entsprechende kognitive Korrektur der betreffenden Erwartung erfolgen muss. Ähnlich wie in Interaktionen zwischen Menschen kommt es auch hier vor, dass das Tier unter bestimmten Bedingungen seine Enttäuschung dem Interaktionspartner als ‚Fehler‘ zurechnet und dann an der kontrafaktischen Erwartung festhält.30 Was ein unbeteiligter Beobachter hier als tierliche ‚Verstocktheit‘ oder ‚Lernunfähigkeit‘ deuten mag, wäre dann eher als Indiz für ein elementares tierliches Normen- und Institutionenverständnis einzustufen. Damit sollen die Verdienste des intentionalistisch akzentuierten Interaktionismus von Irvine keineswegs geschmälert werden, doch es scheint, dass zentrale Annahmen dieses Ansatzes von Überlegungen, wie sie in (sozial-)phänomenologischen Arbeiten und nicht zuletzt bei Niklas Luhmann zu finden sind, erheblich profitieren könnten.
3 Tierliche Agency im Spiegel der A kteur-NetzwerkTheorie Bruno Latours Wie lässt sich im Lichte der erläuterten handlungstheoretischen Vergleichskriterien nun Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) einstufen? Für soziologische Animal Studies besitzt dieser Ansatz ja schon deswegen eine gewisse Attraktivität, weil ihre Agency-Konzeption in Aussicht stellt, eine nichtmenschliche Wesen einbeziehende Symmetrisierung des Sozialen zu ermöglichen. Latour geht es um die sozialtheoretische Rehabilitierung aller Entitäten, die keine (in menschllicher Hinsicht) ‚sinnhaften‘ Intentionen erkennen lassen und von den vorherrschenden Ansätzen der soziologischen Tradition (z. B. Emile Durkheim) in die Abstellkammer sozialtheoretisch irrelevanter materiell-kausaler Bedingungen bzw.
28In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, dass wir elementare Merkmale von Vertrauen und Vertrautheit auch bei Tieren antreffen können, die selfhood besitzen. Dabei wird mit Luhmann angenommen, dass Vertrauen „in die Zukunft gerichtet ist. Zwar ist Vertrauen nur in einer vertrauten Welt möglich; es bedarf der Geschichte als Hintergrundsicherung […]. Aber Vertrauen ist keine Folgerung aus der Vergangenheit, sondern es überzieht die Informationen, die es aus der Vergangenheit besitzt und riskiert eine Bestimmung der Zukunft“ (Luhmann 1973, 20; Herv. R. W.). 29Dieser
Terminus wird hier in Anlehnung an Irvine (2004, 6) benutzt: „Autoethnography offers an 'insider's' view that can only come through immersion in and intimate knowledge of the group's interaction.“ 30Vgl. zum Unterschied von kognitiven und normativen Erwartungen grundlegend Luhmann (1984, 436 ff.).
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Beziehungen verbannt worden waren (Latour 2007, 121 ff.). Werden die sozialen Beziehungen, die dann sichtbar werden, von der soziologischen Analyse an- und aufgenommen, dann kommt ein Netzwerk-Konzept zum Zug, das einen stringent und umfassend konzipierten Relationismus dadurch in Aussicht stellt, dass es die „Tautologie“ vermeidet, soziale Bindungen würden letztlich „nur aus sozialen Bindungen bestehen“ (Latour 2007, 121). Insbesondere das von Latour präferierte Agency-Konzept zeigt, dass sich sein Ansatz im Vergleich zu Goffman, Goode oder Mead sehr viel dezidierter und auf eine ‚radikale‘ Art relationistisch präsentiert: Agency meint hier eine Handlungsträgerschaft, die Veränderungen bewirkt, die durch klassische Dualismen wie Subjekt/Objekt, aktiv/passiv (Tun, Unterlassen), autonom/heteronom, Handlung/Struktur nicht eingefangen werden können. Agencies werden als vernetzte Assoziationen heterogener Akteure gedacht, die untereinander Aufgaben aufteilen, delegieren, sich gegenseitig einschreiben und übersetzen (Latour 1984, 76 ff.). Und von daher impliziert Latours Agency-Ansatz immer auch inter-agency. Denn zentrale Merkmale und Verläufe von Agency-Prozessen können erst über die hybride Organisation solcher Aktionsprogramme verständlich werden: ihre Zielrichtungen, ihre verteilte Handlungsträgerschaft, ihr mobilisierbares Machtpotential, ihre zeitlichen Taktungen usw. Das zweite Charakteristikum der ANT ist gerade mit Blick auf Tiere schon problematischer: Gemeint ist der Anspruch einer Symmetrisierung der involvierten Akteure, der dazu führt, dass auch Dinge unter der Hand zu gewissermaßen „starken Subjekten“ hochstilisiert werden (dazu kritisch Hirschauer 2016, 52). Das illustriert ein einfaches Beispiel, das Latour (2001, 248) selbst einmal anführt: Das Aktionsprogramm ‚Schafe zusammenhalten‘ kann von einem Schäfer allein oder mit Hilfe eines Hundes realisiert werden, der Schäfer kann das Programm aber auch um einen Akteur erweitern und die Aufgabe durch Handwerker in eine geeignete Holzkonstruktion inskribieren lassen. Schäfer und Hund können sich nun nachts schlafen legen. Eine derartige Vernetzung von Akteuren erweitert intersubjektive Sozialität um Interobjektivität. Aktionsprogramme, die so mit ‚materiellen Objekten‘ wie Hunden und Zäunen vernetzt sind, ermöglichen etwas, was nach Ansicht Latours aber nur im Rahmen der ‚komplizierten‘ menschlichen Sozialität möglich ist: ihre enorme Ausweitung und Stabilisierung in Raum und Zeit, etwas, das im „komplexen“31 Sozialleben bestimmter Primaten nicht anzutreffen sei. „Indem wir die Interaktion verschieben und mit dem Nichtmenschlichen verbinden, können wir über die aktuelle Zeit hinaus in einer anderen Materie als unserem eigenen Körper überdauern und auf Distanz interagieren, eine Sache, die für Paviane und 31„Komplexe“
Interaktionen von Pavianen zeichnen sich demnach dadurch aus, dass „in jeder Interaktion eine große Zahl von Variablen simultan präsent ist“ (Latour 2001, 241; Herv. R. W.), während für „komplizierte“ Interaktionen eine „sukzessive Präsenz diskreter Variablen“ typisch ist, und die insbesondere in Form materieller Artefakte Interaktionen situativ lokalisieren und kanalisieren (wie z. B. bei einem Postschalter). Vgl. zur Unterscheidung komplex/kompliziert ergänzend Strum/Latour (1987, 790 f.).
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R. E. Wiedenmann
Schimpansen absolut unmöglich ist“ (Latour 2001, 248). Das Sozialleben dieser Primaten kennt demnach nur endlose Sequenzen ‚komplexer‘ face-to-face-Interaktionen, sie könnten keine heterogenen, interobjektiven Assoziationen herstellen, um ihre Interaktionen materiell zu rahmen und zu lokalisieren. Das vermag nach Latour angeblich nur eine ‚komplizierte‘ Sozialität, wie sie von menschlichen Akteuren in Assoziationen mit ihren Artefakten, ihren Häusern, ihren Raumunterteilungen, Durchgängen, Tunneln usw. generiert wird. Schon hier zeichnet sich ab, dass Latours generelles Symmetrisierungspostulat im Hinblick auf das Mensch-Tier-Sozialverhältnis von einer unterschwelligen, latenten Asymmetrisierung unterlaufen wird. Das zeigt sich vor allem an Latours These der tierlichen Unfähigkeit zu ‚komplizierten‘ interobjektiven Vernetzungen, eine These, die aus empirischen Gründen fragwürdig und nicht zu generalisieren ist. Zwar räumt Latour ein, dass auch unter Tierakteuren vereinzelt ephemere Interobjektivitätsansätze vorkommen können, etwa bei Schimpansen, die sich Stöcke anspitzen, um damit nach Termiten oder Bananen zu angeln. Doch bleibt das Konzedieren solcher kombinierter Aktanten („Stock-Schimpansen“) (Latour 2002, 220 f.) die Ausnahme – und sozialtheoretisch leider folgenlos. Zugegeben: Von Menschen errichtete Gebäude mit ihrem oft ausufernden „Ensemble von Unterteilungen, Rahmen, Wandschirmen, Schneisen“ (Latour 2001, 242) haben eine – im Sinne von Latours (2001, 241 f.) Sprachgebrauch – sehr viel ‚kompliziertere‘ Struktur und bieten unvergleichlich mehr Möglichkeiten zur Lokalisierung von Interaktionen als z. B. die ephemeren Blätternester von vergleichsweise nur ‚komplex‘ interagierenden Schimpansen. Ist dieser Hiatus aber auch anzunehmen, wenn wir Tiere und Tierarten (domestizierte wie auch Wildtierarten) in Betracht ziehen, die nicht der zoologischen Ordnung der Primaten zuzurechnen sind?32 Können solche Tiere wirklich keine interobjektiven, ‚komplizierten‘ Lokalisationen ihrer Interaktionen herstellen? Was sind Biberburgen, Dachsbauten, Spechthöhlen, die Röhren-
32Bei
Latour finden sich zwar Formulierungen, die diese kontrastive Dichotomisierung etwas abmildern, aber dann doch nicht revidieren (vgl. z. B. eine Textstelle, in der Latour (2007, 113) herausstellt, dass „es hauptsächlich in nicht-menschlichen Gesellschaften (bei Ameisen, Affen und Menschenaffen) möglich [ist], eine soziale Welt zu fassen zu bekommen, die fast vollständig aus sich überschneidenden face-to-face-Interaktionen generiert wird“). Aber schon im Hinblick auf eusoziale Insekten wie Ameisen mit ihren Hügelnestern oder auf Termiten mit ihren teils sehr ausgreifenden und über Jahrzehnte bewohnten Bauten sind Zweifel angebracht. Diese Insekten stellen ja durchaus materielle Artefakte her, mit denen und über die sie sich, auf unterschiedliche Weise assoziieren, – und die ihrer Sozialität dann in zweierlei Hinsicht ‚komplizierte‘ Züge verleihen: Sie ermöglichen nicht nur, dass a) die Termitensozialität eine bedeutende Ausweitung und Stabilisierung in Raum und Zeit erfährt. Termiten setzen dabei zwar keinen zweckgerichteten „Plan“ um, sie verfügen aber über erstaunliche Fähigkeiten, sich flexibel und selbstorganisierend an wechselnde lokale Umweltbedingungen anzupassen (Korb 2011). Vor diesem Hintergrund lassen sich Termitenbauten als Artefakte begreifen, die b) nicht nur eine ‚funktionsgerechte‘ und differenzierte ‚Innenarchitektur‘ aufweisen (u. a. Kammer der ‚Termitenkönigin‘; Kammern für Eier und Larven; Kammern, in denen Pilze gezüchtet bzw. vorgehalten werden; daneben noch eine Vielzahl von Gängen und Belüftungsschächten zur thermischen Regulierung), sondern gleichzeitig auch einen Steuerungsmodus verwirklichen, der als sematektonische Stigmergie
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systeme oder auch Vogelnester denn anderes als tierlich generierte materielle Artefakte, um Interaktionen so zu lokalisieren, dass sie z. B. vor Fressfeinden oder auch unerwünschten Artgenossen abgeschirmt sind? Nun ist es zweifellos ein Plus von Latours Version der anthropologischen Differenz, dass seine diesbezüglichen Vergleiche schon früh das eminent soziologische Kriterium der „pracical ways in which organisms achieve societies“ (Strum/Latour 1987, 794; Herv. i. O.) fokussieren. Aber es enttäuscht dann doch der Rigorismus, mit dem er und seine Mitautorin Shirley Strum den Problemen der Mensch-Tier-Differenz mit Hilfe eines binären und allzu reduktiven Klassifikatonsschematismus zu Leibe rücken. Eusoziale Insekten wie Ameisen oder Termiten (hier bedingen veränderte Genotypen unterschiedliche Phänotypen) werden der Ordnung der Primaten (Veränderung von genotypisch ähnlichen Phänotypen durch social skills) ebenso unvermittelt gegenübergestellt wie die nichtmenschlichen Primaten („build the society with somatic resources only“) den menschlichen Primaten („build society with extra-somatic resources“) (Strum/Latour 1987, 794 f.). Problematisch erscheint hier nicht nur, dass dieser Klassifikationsansatz zahlreiche zoologische Ordnungen (z. B. Wale und Delfine/Cetacea, ‚Raubtiere‘/ Carnivora, Unpaarhufer/Perissodactyla, Sperlingsvögel/Passeriformes usw.) unberücksichtigt lässt, oder dass er auch die kognitiv-ethologischen Besonderheiten domestizierter Tiere33 ausblendet. Schwerer wiegt wohl, dass sich diese Klassifikation auf partiell obsolete und allzu asymmetrische Mensch-TierDifferenzierungen stützt, z. B. auf die Annahme einer im Vergleich zu nichthumanen Primaten exklusiven Symbolkompetenz des Menschen.34 Mit diesem Manko korrespondiert auch ein weiteres Problem: Latours Neigung, bei nichtmenschlichen Entitäten nicht hinreichend klar zwischen tierlichen und nichttier-
beschrieben wurde: „Sematectonic stigmergy denotes communication via modification of a physical environment, an elementary example being the carving out of trails“ (Marsh/Onof 2007, 137). Aus dieser Sicht ist ein Termitenbau ein Steuerungsmechanismus eigener Dignität, ein Modus, der durch die Besonderheiten physischer Bedingungen das Verhalten der Termiten zu koordinieren vermag. Diese ‚Kompliziertheit‘ der sematektonischen Stigmergie sollte mit dem eher ‚komplexen‘ Steuerungsmechanismus einer direkten chemischen Signalisierung (z. B. über bestimmte Botenstoffe, die quasi face-to-face wirken) nicht vermengt werden. 33Vgl. dazu die knappen, aber mit Blick auf die subjektiv-intentionalen Aspekte immer noch lehrreichen und sensiblen Bemerkungen zum Hund bei Frederik Buytendijk (1958, 88 f., vgl. auch 20 f.). 34So werden nichtmenschliche Primaten explizit dem „human case“ gegenübergestellt, „where the creation of society uses material resources and symbols to simplify the task [of defining and strengthening the social bond]“ (Strum/Latour 1987, 795; ähnliche Formulierungen passim). Obwohl hier auf eine Diskussion der in Frage stehenden Symbolkonzepte verzichtet werden muss, so mehren sich in den letzten Jahrzehnten doch Forschungsbefunde, die darauf hinweisen, dass Varianten symbolischer Kommunikation nicht nur im Sozialleben nichtmenschlicher Primaten (vgl. z. B. Rumbaugh 1995) anzunehmen sind. Forschungen über Delphine zeigen, dass diese Meeressäuger das kognitive Potential besitzen, ihr Zeichenverständnis und ihren Zeichengebrauch metakognitiv zu kontrollieren. Metakognition meint hier insbesondere die F ähigkeit,
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lichen Akteuren zu differenzieren. Dies beeinträchtigt generell eine angemessene Einschätzung von Aktionsprogrammen, an denen Tiere beteiligt sind. Im Gegensatz zu Sicherheitsgurten, Berliner Schlüsseln, Holzzäunen oder Postschaltern können wir bei tierlichen Akteuren intentional gerichtete Handlungsorientierungen35 unterstellen, Orientierungen, die sozialtheoretisch schon deswegen brisant sind, weil sie die agentielle Wirksamkeit und Ausrichtung eines Handlungskollektivs stark verändern können. Vor allem dann, wenn Tierakteure selfhood (im Sinne von Irvine) einbringen, können sie sich mit Artefakten zu überraschend anders agierenden Handlungskollektiven assoziieren und die betreffenden Artefakte für ihre tierlichen Präferenzen gewissermaßen ‚zweckentfremden‘. Es sind dann Assoziationen mit Gegenprogrammen möglich, die das ursprüngliche Skript und die damit verbundene Delegationsfunktion eines Artefakts gleichermaßen usurpieren wie umkehren. Das dem Artefakt eingeschriebene Aktionsprogramm funktioniert weiterhin, aber nun sozusagen unter „tierlicher Regie“, unter dem Vorzeichen einer intentional orientierten36 Animal Agency. Kommen wir auf das oben erwähnte Beispiel Latours zurück und nehmen wir an, dass der schlummernde Schäfer nachts von Wölfen Besuch bekommt. Der stabile Holzzaun mit seinem Aktionsprogramm ‚Schafe zusammenhalten‘ tut seine Pflicht, auch dann noch, wenn es den Wölfen gelingt, den Zaun zu überwinden oder an einer Stelle zielgerichtet instabile oder morsche Teile zu entfernen. Sie gelangen so in den umfriedeten Innenbereich, um unter den Schafen dann dieses oder jenes zu reißen. Was ist passiert? Für kurze Zeit hat der Holzzaun sozusagen ‚die Seite gewechselt‘, sich dem wölflich initiierten Gegenprogramm ‚Schafe töten‘ angeschlossen. Die neue Assoziation mit ihrer blutigen Agency ist eine kurzfristige Netzwerkbildung, die das vom Schäfer initiierte Programm a ushebelt, dafür aber das Handlungspotential der Wölfe enorm steigert. Die Tücke des
„to think about one's own thoughts, memories, and feelings, accessing them intenionally“ (Marino 2017, 235). Diverse Studien über das Kommunikationsverhalten von Delphinen fasst Lori Marino (2017, 231) wie folgt zusammen: „These studies demonstrate that dolphins have the cognitive plasticity to operate competently within an entirely artificial symbolic referential system.“ 35Z. B. präverbale Situationsdefinitionen und basale Formen von framing im Sinne Goffmans (1986a). 36Die kognitiv-ethologischen Merkmale der dabei jeweils wirksamen tierlichen Intentionalität können hier nicht expliziert werden. Im Rahmen der von Marek Špinka (2019) vorgeschlagenen Vier-Stufen-Typik säugetierlicher „behavioural agency levels“ sind im folgenden Fallbeispiel eine „competence-building agency“ (gekennzeichnet durch „instrumental and social learning, inspective and inquisitive exploration as well as some forms of play and communication with conspecifics“) und vielleicht auch Ansätze zu einer „aspirational agency“ in Betracht zu ziehen. Zu dieser bemerkt Špinka: „Aspirational agency acts to achieve long-term goals through planning and intentions based on reflected autobiographical history“ (Špinka 2019, 12).
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wölflichen Subjekts verbündet sich mit der Tücke des Objekts: Der Holzzaun entpuppt sich für den Schäfer nun als ein ambivalentes, verräterisches Artefakt: Er kann Schafe nicht nur zusammenhalten und schützen, sondern ihnen auch Fluchtmöglichkeiten abschneiden und sie so den wölflichen Reißzähnen ausliefern. Entstehung und Wirkungsweise solcher tierlich initiierten Gegenprogramme bleiben in vielen Fällen black boxes, wenn die mentale Definition der Situation durch die beteiligten Tierakteure, ihre Fertigkeiten sowie ihr situativ mobilisierbares Wissen unterschätzt oder gar ausgeblendet werden. Von daher setzt Latours praxistheoretischer Ansatz das postulierte generelle Symmetrisierungspostulat nur halbherzig und inkonsequent um. Latours Relationismus tut sich schwer mit Assoziationen, die erst über Tierakteure verständlich werden, die intentional agieren, z. B. ihre von selfhood mitkontrollierten Agencies einspeisen.
4 Der Animal Turn als Testfall soziologischer Multiparadigmatizität Mit diesem Zwischenresümee soll das heuristische Potential der ANT für soziologische Animal Studies nicht geleugnet werden. Zu fragen bleibt aber, inwieweit die von Latour (2007) deklarierte ‚neue Soziologie‘ auch eine entsprechend ‚neue‘ Konzeptuierung von Mensch-Tier-Sozialitäten erzwingt. Die vorstehenden Ausführungen lassen sich in diesem Punkt dahingehend zusammenfassen, dass die vom Interobjektivitätsansatz getragende Agency-Konzeption dort an ihre Grenzen stößt, wo handlungstheoretische Optionen gefragt sind, die (a) konsequent symmetrisierend argumentieren, und die (b) die Möglichkeit eröffnen, relationistische und intentionalistische Theorienelemente angemessen zu kombinieren bzw. auszubalancieren. Überdies zeigt sich in den inzwischen interdisziplinär weit verzweigten Animal Agency-Diskussionen, dass diese mit sozialwissenschaftlichen Agency-Vokabularen,37 die sich bis zu Herbert Spencer (z. B. Spencer 1902, passim) und weiter zurückverfolgen lassen, oft nur bedingt kompatibel sind. Wohl nicht zuletzt deswegen ist diesen Diskussionen von soziologischer Seite ein gewisses Maß an „conceptual confusion“ (Carter/Charles 2013, 323) bescheinigt worden. Inwiefern hier sozialtheoretische Unterscheidungen, wie sie etwa von Margaret Archer (z. B. Archer 2000) vorgenommen werden (wie action/agency, actors/agents, primary/corporate agency), wirklich zur Klärung beitragen können, soll hier nicht diskutiert werden. Ein Diskussionsvorschlag von Bob Carter und Nickie Charles (2013), der in diese Richtung zielt, kann aber zumindest dort
37Vgl. dazu die soziologisch instruktive, Temporalitätsaspekte fokussierende Diskussion verschiedener Agency-Konzepte bei Emirbayer/Mische (1998). Zwischen Emirbayers bzw. Misches Relationismus und dem hier bevorzugten Relationalitätskonzept gibt es neben Konvergenzen auch Unterschiede, die im Hinblick auf Mensch-Tier-Sozialitäten an dieser Stelle aber nicht expliziert werden können.
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überzeugen, wo vor den reduktionistischen Versuchungen allzu undifferenzierter Animal-Agency-Konzepte gewarnt wird. Dabei haben Carter und Charles nicht nur Varianten eines naiv anthropomorphisierenden Intentionalismus im Visier, sondern auch sozialtheoretische Engführungen, wie sie im Umfeld des New Materialism oder der ANT anzutreffen sind. So wird die ANT dahingehend kritisiert, dass sie not only broadens the meaning of agency beyond action and consciousness but argues that anything that has an effect is an actant. In our view, this erodes the analytic purchase of the concept of agency: since every thing has agency, and agency is the ability to have an effect, we arrive at the banal conclusion that everything affects everything else in some way or another. (Carter/Charles 2013, 328)
Was bedeuten diese Überlegungen nun im Hinblick auf einen Animal Turn im Fach Soziologie? Klar ist, dass es sich dabei nicht um einen Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne handeln kann (Kuhn 1973), denn eine „normale Wissenschaft“ im Sinne einer verbindlichen Grundlagentheorie fehlt in der Soziologie. Typisch ist vielmehr ein weithin segmentäres Nebeneinander mehrerer theoretischer Ansätze, eine Segmentierung, die mitunter als „Multiparadigmatizität“ apostrophiert wird und die das fachliche Selbstverständnis der „multiparadigmatischen Wissenschaft“ Soziologie prägt (vgl. z. B. Kneer/ Schroer 2009, 7 ff.; Fischer 2014). Segmentäre Differenzierung zeichnet sich generell durch eine vergleichsweise geringe Anfälligkeit gegenüber lokal begrenzten ‚Ausfällen‘ bzw. ‚Störungen‘ aus. Im vorliegenden Fall haben die Argumente, die Sanders, Irvine und andere gegen grundlegende Asymmetrie-Theoreme des ‚orthodoxen‘ Interaktionismus in Stellung bringen, zwischenzeitlich vor allem in diesem speziellen Theoriesegment gravierende konzeptionelle Umorientierungen angestoßen. ‚Mensch-Tier-Sozialität‘ bezeichnet hier nicht mehr nur ein bislang bloß ver nachlässigtes Forschungsobjekt, sondern ein Arbeitsfeld, in dem basale sozialtheoretische Konzepte des Symbolischen Interaktionismus (Kommunikation, Interaktion, Selbst/selfhood, role-expectation, culture, joint action usw.) umgebaut und neu sortiert werden. Es handelt sich hier also um eine „Hinwendung zu den Tieren“, die im Kern auf eine „Neufassung der theoretischen, methodischen und begrifflichen Prämissen der eigenen Disziplin“ (Borgards 2016, 4) abzielt. Freilich: Im Hinblick auf andere (und zum Teil sehr einflussreiche) Strömungen der mehrgipfligen soziologischen Theorienlandschaft38 scheinen sich – gerade auch im deutschsprachigen Raum – vergleichbare Umorientierungen bislang nicht abzuzeichnen.
38Gemeint
sind hier besonders die über Jahrzehnte hinweg sehr einflussreichen (groß-) theoretischen Strömungen der verstehenden/interpretativen Soziologie (Weber-Schütz-Tradition), des Rational-Choice-Ansatzes und der Theorien sozialer Systeme.
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Und wie steht es in diesem Zusammenhang mit den soziologischen Praxistheorien,39 der seit etlichen Jahren wohl ambitioniertesten Herausforderung des soziologischen Mainstream? Offensichtlich ist ja, dass praxistheoretische Positionen und Konzepte für die diskursive Anschlussfähigkeit soziologischer HAS geradezu eine Scharnier- und Brückenfunktion übernehmen können: Interdisziplinär ausgerichtete Forschung, die sozialtheoretische Aufwertung der Körperlichkeit von Handlungen sowie der materiellen Verfasstheit des Sozialen, die Fokussierung der nichtsprachlichen, impliziten Dimension des praktischen Wissens, das Misstrauen gegenüber konzeptionellen Dichotomien (Individuum/ Gesellschaft, Mikrosozialität/Makrosozialität, Kultur/Natur usw.), – alle diese Punkte (und andere mehr) lassen eine deutliche Affinität zu Leitmotiven oder Arbeitsprämissen maßgeblicher sozialwissenschaftlicher HAS erkennen. Ein besonderer Stellenwert kommt in diesem Zusammenhang allerdings dem praxistheoretischen Kriterium der Kontextualität bzw. Relationalität des Handelns zu.40 Die Arbeiten Goffmans und verschiedene, tiersoziologisch ausgerichtete Beiträge aus dem Bereich der Ethnomethodologie sind unter den hier vorgestellten Positionen sicher diejenigen, die diesem sozialtheoretischen Gütekriterium am deutlichsten entsprechen. Im Vergleich zu den intentionalistisch akzentuierten Ansätzen des Symbolischen Interaktionismus können sie vor allem dann punkten, wenn es um Mensch-Tier-Sozialitäten geht, bei denen die voraussetzungsvollen (inter-)subjektiven Bedingungen für intentionalistische Analyseverfahren entweder nicht vorliegen oder als forschungsthematisch nachgeordnet bzw. unwesentlich behandelt werden können. Freilich: Die Diskussion um den practice turn in der Soziologie hat auch Gegenkritiken auf den Plan gerufen, die den sozialtheoretischen Nimbus einiger praxistheoretischer Ansätze – darunter auch den der ANT41 – etwas entzaubert haben. So wurde z. B. der Einwand vorgebracht, dass manche der als innovativ deklarierten Theorieelemente gar nicht zur Abgrenzung gegen ‚klassische Theorieangebote‘ taugen. Genauer besehen seien sie wenig mehr als „mögliche Erweiterungen“ des schon „vorhandenen sozialtheoretischen Repertoires“ (Bongaerts 2007, 257). Solche und vergleichbare Einwände legen nahe, dass ein handlungstheoretisch reflektierter und nachhaltiger Animal Turn neben
39Auf eine nähere sozialtheoretische Abgrenzung dieses mehrdeutigen Konzepts muss hier verzichtet werden. Zentrale Bausteine einer soziologischen Praxistheorie, wie sie im vorliegenden Zusammenhang unterstellt werden, werden von Andreas Reckwitz (2003) und Hilmar Schäfer (2016) skizziert. 40So lässt sich, wie Hilmar Schäfer (2016, 11, Herv. i. O.) im Anschluss u. a. an Theodore Schatzki hervorhebt, „schon die Frage, was eine Praxis ist, nur relational beantworten.“ 41Vgl. dazu z. B. mehrere Beiträge in Kneer/Schroer/Schüttpelz (2008), insbesondere die kritischen Überlegungen von Gesa Lindemann, die u. a. auf Unterschiede gegenüber Konzepten gesellschaftlicher Differenzierung aufmerksam macht. Im Gesamtfazit spitzt sie ihre Kritik sogar dahingehend zu, „dass Latour auf der Ebene der Sozialtheorie und Methodologie Anthropozentriker bleibt“ (Lindemann 2008, 358). Vgl. zum Symmetriepostulat der ANT auch die kritischen Anmerkungen von Herbert Kalthoff (2014, 74 f.).
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empirischer Forschung wohl noch weitere umfassende Theoriearbeit erfordert, – eine auch diskursive Herausforderung, die ohne einen breit angelegten Theorienpluralismus wohl nicht zu meistern ist.42 Diese These sollte nicht als Plädoyer für ein eklektizistisches Kombinieren inkompatibler Theoriebausteine missverstanden werden: Behauptet wird lediglich, dass soziologische Animal Studies in der Regel besser und weiter sehen, wenn sie – um die Metapher Robert Mertons (1983) aufzugreifen – ‚auf den Schultern‘ nicht nur eines Riesen stehen. Im besten Fall könnte das zwei Entwicklungsoptionen begünstigen, die Rhoda Wilkie einmal so umrissen hat: „to animalise the sociological imagination and sociologise HAS“ (Wilkie 2013, 333, Herv. R. W.).
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42Vgl.
hierzu auch meine Überlegungen in einer einschlägigen Sammelbesprechung (Wiedenmann 2019).
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Traditionen der Tierethik und ihre aktuelle Bedeutung für die H umanAnimal Studies Gary Steiner
1 Das anthropozentrische Vorurteil der heutigen Tierrechtsphilosophie Denkt man über die Tierphilosophie der letzten vierzig Jahren nach, merkt man gewisse Fortschritte, aber auch ein gewisses Scheitern, denn gerade neben den fruchtbaren Einsichten in die Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier fällt der Einfluss derjenigen anthropozentrischen Vorurteile auf, die die überkommenen Auffassungen des Unterschieds zwischen Mensch und Tier charakterisiert und behindert haben. Im Besonderen halten die einflussreichsten philosophischen Tiervertreter der letzten Generation, sei es auch entgegen ihrer Absicht, am überlieferten Prinzip fest, die Vernunftbegabung oder das Sprachvermögen sei entscheidend für den moralischen Status eines Lebewesens. Diese Denkweise ist in den Schriften Peter Singers und Tom Regans unverkennbar und stellt meines Erachtens das allergrößte Hindernis für die Anerkennung des eigentlichen moralischen Status von Tieren dar. Als utilitaristischer Denker behauptet Singer, die Empfindungsfähigkeit sei das Grundkriterium für die Einbeziehung in die Sphäre der moralisch bedeutsamen Lebewesen. Ist ein Wesen zu Empfindungen und im Besonderen zu Schmerzen fähig, so sind wir in unseren moralisch-pragmatischen Überlegungen verpflichtet, auf die Interessen dieses Wesens Rücksicht zu nehmen. Nach Singer verdienen alle empfindungsfähigen Lebewesen gleiche Rücksicht auf ihre Interessen in allen utilitaristischen Zusammenhängen. So würde man wohl erwarten, dass gemäß der singer’schen Auffassung der moralische Status eines völlig empfindungsfähigen Lebewesens wie z. B. eines reifen Säugetiers, demjenigen eines reifen Menschen
G. Steiner (*) Bucknell University, Lewisburg, USA E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_8
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entspräche. Aber selbst Singer sieht Grundunterschiede zwischen den Werten von „höheren“ und „niedrigeren“ Lebewesen. Nach Singer sind relativ „höhere“ Lebewesen diejenigen, die höher entwickelte Erkenntniskräfte besitzen und deswegen auch eine grundsätzliche oder tiefergehende Einsicht in die Möglichkeit einer zukünftigen Befriedigung ihrer Begierden und Wünsche haben. So ein Wesen hat ein Interesse an seiner Zukunft, d. h. am Weiterbestehen seines Selbst. Im Vergleich dazu hat ein „niedrigeres“ Wesen kein entsprechendes Interesse am Weiterbestehen, bzw. ein solches Wesen kann gar kein Interesse an seinem Weiterbestehen besitzen, weil es sich seiner Zukunft und seiner Befriedigungsgelegenheiten gar nicht bewusst sein kann (Singer 2011). In utilitaristischer Sicht wird ein Lebewesen, wie Regan und andere es ausgedrückt haben, wie ein Gefäß behandelt, das mit Einheiten von Vergnügen und Schmerzen gefüllt werden kann und dessen moralischer Wert durch die Berechnung dieser Einheiten bestimmt wird. Je ausgeprägter die Erfahrungsfähigkeiten eines gegebenen Lebewesens sind, desto mehr zukünftige Befriedigungsgelegenheiten hat es. Gemäß dieser Logik verfügt ein Mensch über wesentlich mehr Befriedigungsmöglichkeiten als z. B. ein Schwein, das in utilitaristischer Sicht nur dazu fähig ist, Befriedigung durch Tätigkeiten wie Essen, sexuellen Verkehr usw. zu erlangen, während ein Mensch Befriedigung nicht nur durch solche Tätigkeiten, sondern auch durch „höhere“, an Vernunft geknüpfte Tätigkeiten wie das Schreiben von Symphonien oder die Formulierung von mathematischen Sätzen gewinnt. Vorausgesetzt, dass der Tod eines „höheren“ Lebewesens einen größeren Verlust an zukünftigen Befriedigungsgelegenheiten darstellt als derjenige eines „niedrigeren“, behauptet Singer, dass es letzten Endes moralisch gerechtfertigt ist (oder genauer: zumindest unter gewissen Umständen gerechtfertigt sein kann), das Leben eines nicht vernunftbegabten Tieres für die Interessen von Menschen zu opfern (Singer 2011, 104). Mit anderen Worten: Das Prinzip der gleichen Berücksichtigung von Interessen führt bei Singer zur ungleichen moralischen Behandlung von Mensch und Tier. Es führt, wenn auch überraschend, zum alten Glauben an die moralische Überlegenheit des Menschen über die Tiere. Gemäß Singers utilitaristischem Standpunkt sind Tiere bloß ersetzbare Ressourcen im Vergleich zu erkenntnisfähigen Lebewesen wie Menschen, die sich ihres Selbst und ihrer Zukunft bewusst sind oder werden können und deswegen als eigentliche Individuen gelten. Singer versucht, diese Implikation seines Standpunkts dadurch zu umgehen, dass er das mögliche Ichbewusstsein und demnach die mögliche Personalität vieler nichtmenschlicher Tiere wie z. B. Schimpansen, Schweine, Buschhäher, Hunde, Katzen und Hühner anerkennt (Singer 2011, 99–102, 120–122), doch er behauptet, dass „if cows, pigs, chickens and the other animals we usually eat are self-aware, they are still not self-aware to anything like the extent that humans normally are. […] it is not speciesist to give priority to the lives of those with a biographical sense of their life and a stronger orientation towards the future“ (Singer 2011, 122; ähnlich argumentiert Varner 2012). Das gleiche Vorurteil gegenüber Tieren drückt sich, wenn auch unabsichtlich, im Denken Tom Regans aus. Regan behauptet, diejenigen Lebewesen haben vollen moralischen Status, die zu mentalen Vorgängen wie Erfahrungen,
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inn-Wahrnehmungen, Überzeugungen, Wünschen, Erinnerungen und Motiven S fähig sind. Jedes Lebewesen, das letzten Endes von einer dauernden geistigkörperlichen Identität bestimmt ist, gelte als „Subjekt eines Lebens“ (Regan 1983, 243). Auch wenn ein solches Lebewesen nicht dazu fähig ist, moralisch zu handeln, besitze es trotzdem gewisse Moralrechte, sofern es als „moralischer Empfänger“ gelte (Regan 1983, 153). Alle Subjekte eines Lebens besitzen inhärenten Wert, und zwar im gleichen Maße. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist nicht die Frage, ob ein Wesen rational oder sprachfähig ist, sondern ob es ein Leben hat, dessen es sich bewusst ist und das ihm wichtig ist. Regan behauptet, dass Kant extrem arbiträr handelte, indem er dem Menschen einen überlegenen moralischen Status und dem Tier einen minderwertigen zuschrieb, und kommt stattdessen zu dem Schluss, dass der moralische Status bzw. der inhärente Wert eines Menschen und eines bewusstseinsfähigen Tieres im Prinzip gleich ist (Regan 1983, 178, 237). Daraus folgt, dass alle Subjekte eines Lebens ein gleiches Recht besitzen, mit Respekt behandelt zu werden, auch wenn sie nicht völlig rational oder sogar durchaus arational sind – wie z. B. menschliche Säuglinge oder geistig Schwerbehinderte, oder wie die Mehrheit wenn nicht gar die Gesamtheit der nichtmenschlichen Tiere. Im Prinzip soll das bedeuten, dass man gewisse, überzeugende Gründe haben muss, um dieses Grundrecht des Subjekts eines Lebens aufzuheben. Aber die von Regan dabei angeführten Gründe nähren weiterhin den Verdacht des Anthropozentrismus, wie sein Beispiel des Rettungsboots unzweideutig klarmacht. Stellen Sie sich ein Rettungsboot vor, das vier Menschen und einen Hund trägt. Das Boot wird unter dem Gewicht der Passagiere versinken, es sei denn, dass einer über Bord geworfen wird. Welcher Passagier sollte, moralisch betrachtet, unter diesen Umständen geopfert werden? Nach Regan sollte der Hund ohne Weiteres über Bord geworfen werden, niemals einer der vier Menschen, denn – genau wie Singer behauptet – jeder Mensch habe im Vergleich mit jedem Hund zahlreichere und wichtigere zukünftige Gelegenheiten, seine Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Kurz gesagt, dank seiner Vernunftbegabung hat jeder Mensch mehr durch den Tod zu verlieren als jedes Tier, und zwar so, dass wir gerechtfertigt wären, jede Anzahl an Hunden (sogar eine Million oder auch mehr) für einen einzelnen Menschen zu opfern (Regan 1983, 351). Regan behauptet ausdrücklich, dass seine Denkweise nicht utilitaristisch sei. Aber seine Lösung der Rettungsboot-Situation macht unzweideutig klar, dass Regan, wenn es darauf ankommt, das Prinzip des gleichen inhärenten Werts über Bord wirft und letzten Endes dem Menschen einen höheren moralischen Wert als dem Hund zuerkennt. Und mutatis mutandis gilt diese Wertungleichheit für das Verhältnis des Menschen zu jedem nicht zur Vernunft fähigen Lebewesen. Gemäß Regans eigentlicher Denkweise könnte man das Opfer aller nichtmenschlichen Tiere der Erde für einen einzelnen Menschen rechtfertigen. Die Implikationen von Singers und Regans Denkweise für den moralischen Status und für die Behandlung von nichtmenschlichen Tieren sind insofern stark anthropozentristisch und speziesistisch, weil beide Philosophen eine Übereinstimmung zwischen den kognitiven Fähigkeiten und dem moralischen Status
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eines Wesens voraussetzen. Je mehr ein Wesen dazu fähig ist, sich selbst und seine Erfahrungen ausdrücklich und begrifflich zu fassen, desto höher ist sein moralischer Status. Aber es bleibt zu fragen, ob und inwiefern Fähigkeiten wie die Vernunft und die Sprache für die Bestimmung des moralischen Status eines Wesens relevant sind: Ist z. B. – moralisch betrachtet – der Wert meines Lebens wirklich nur deswegen höher als derjenige eines Katers, weil ich über meine Zukunft abstrakt nachdenken kann, er aber (vermutlich) nicht über seine? Habe ich wirklich mehr an den Tod zu verlieren als ein Kater? Lege ich in der Tat mehr Wert auf mein Leben als der Kater auf seines? Oder muss man stattdessen zugeben, dass der Kater ebenso viel Wert auf sein Leben legt wie ich auf meines, nämlich absoluten Wert? Wie Thomas Kuhn über die Bewertung von verschiedenen wissenschaftlichen Paradigmen schreibt: Wie es keinen außertheoretischen Standpunkt gibt, von dem aus man entscheiden könnte, welches wissenschaftliche Paradigma das wahrhaft richtige ist, so gibt es keinen absolut neutralen moralischen Standpunkt, von dem aus man beweisen könnte, dass das Leben eines bewusstseinsfähigen Lebewesens mehr moralischen Wert hat als dasjenige eines anderen. Jedes solche Lebewesen hält sein Leben für unermesslich wertvoll, unabhängig davon, ob es über sein Leben und dessen Wert theoretisch oder gar ausdrücklich nachdenken kann oder nicht. Meines Erachtens besteht eine Folge der Idee des inhärenten moralischen Werts darin, dass sich die Werte verschiedener Moralwesen oder Moralsubjekte nicht quantifizieren oder quantitativ miteinander vergleichen lassen. Eine damit eng verbundene Folge ist, dass einem bewusstseinsfähigen Lebewesen moralisch geschadet werden kann, auch wenn es nicht dazu fähig ist, über seine Interessen nachzudenken.
2 Die geschichtlichen Wurzeln des anthropozentristischen Vorurteils Die moralphilosophische Tradition hat vorausgesetzt, dass Begabungen wie die Vernunft und die Sprache, die auf Begriffsbildung und Prädikation beruhen, für den moralischen Status eines Lebewesens entscheidend sind, ohne diese Voraussetzung in Frage zu stellen. Deshalb hat die Tradition den anthropozentrischen Charakter dieser Voraussetzung auch kaum erkannt (siehe Steiner 2005). Aristoteles z. B. schließt das Tier von der moralisch-politischen Sphäre deswegen völlig aus, weil dem Tier die Vernunftbegabung fehlt. Nach Aristoteles kann nur ein vernunftbegabtes Wesen, kein nicht-vernunftbegabtes, ein moralisch handelndes Subjekt im wahren Sinne des Wortes sein. Im Vergleich dazu sind Kinder und Tiere vom bloßen Begehren (thymos) und der Lust (epithymia) gesteuert. Ihre Handlungen sind freiwillig, gelten aber nicht als Entscheidung im moralischen Sinne. Unter der Voraussetzung, dass das Tier im Unterschied zum menschlichen Kind eine Vernunftbegabung nicht entwickeln kann und demnach zu einer auf Wechselseitigkeit beruhenden Beziehung zu Menschen unfähig ist, gibt es keine Rechtsbeziehung zwischen Mensch und Tier. Tiere sind dazu unfähig, über den angemessenen Zweck ihres Verhaltens nachzudenken und die
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möglichen Verhaltensweisen, die diesem Zweck dienen, abzuwägen (Aristoteles 2013, 59–60, 158). Aufgrund dieser Unfähigkeit schließt Aristoteles das Tier von der Sphäre der Moral und der Politik aus, ohne die Frage zu stellen, ob ein Wesen ein moralisch handelndes Subjekt im vollen Sinne sein muss, um vollen moralischen Wert zu verdienen. Auch stellt er nicht die Frage, ob es konsequent ist, (noch) nicht vernunftbegabte Kinder in die Sphäre der Moral einzubeziehen, Tiere aber kategorisch davon auszuschließen. Doch gibt es eine unzweideutige Spannung in Aristoteles’ Auffassung von Tieren: In den zoologischen Schriften erkennt Aristoteles an, dass die Tiere Spuren des menschlichen Charakters (ethos) zeigen, und dass der Mensch sich vom Tier bloß graduell unterscheidet; in diesen Schriften beschreibt er Tiere mit Ausdrücken wie Intellekt (nous), Denken oder Verstand (dianoia), Scharfsinn (synesis), und phronesis, die er in den psychologischen und ethischen Schriften auf die Menschen beschränkt (siehe Steiner 2005, Kap. 3). Trotzdem schließt er die Möglichkeit kategorisch aus, dass wir irgendwelche moralischen Pflichten den Tieren gegenüber haben könnten. Nicht nur die Stoiker, sondern auch die modernen Sozialvertragstheoretiker wie Locke, Kant und Rawls folgen und entwickeln diesen Grundunterschied zwischen Mensch und Tier noch weiter. Die Stoiker wenden sich an den Begriff der Oikeiosis, ein Begriff des Angehörens oder der Gemeinschaft, um die Tiere von der Sphäre der Moral und des Rechts noch entscheidender als Aristoteles auszuschließen (Steiner 2008, 134–140). Nach den Stoikern ist ein Tier dazu fähig, unmittelbare Familienverbindungen zu bilden, und Angehörige gewisser Tierarten können wechselseitig vorteilhafte, sich über diese Familienverbindungen hinaus erstreckende soziale Gruppen bilden. Doch nach den Stoikern sind Tiere nicht dazu fähig, die Kreise der Zugehörigkeit zu erweitern, denn ihnen fehlt die Begabung zur Reflexion, die im Menschen ein universelles Bewusstsein von Zugehörigkeit ermöglicht: Nur der Mensch ist dazu fähig, den universalen Standpunkt zu erreichen, von dem wir für die Menschheit im Ganzen sorgen und Weltbürger werden können. Die stoische Idee des Weltbürgertums ist diejenige einer Idealgemeinschaft, in der die Gerechtigkeit den vernunftbegabten, tugendhaften Wesen unbedingt zusteht und in der alle Angehörigen, d. h. Menschen und Götter, über den göttlichen Logos nachdenken. In diesem Zusammenhang existieren Wesen wie Tiere bloß zur Befriedigung von menschlichen Bedürfnissen, und die Menschen können die Tiere zu eigenen Zwecken benutzen, ohne irgendwelche Ungerechtigkeiten zu begehen. Im frühen fünften Jahrhundert folgt der Heilige Augustinus dieser stoischen Denkweise, wenn er behauptet, wir begehen gar keine Ungerechtigkeit, wenn wir Tiere töten oder ihnen Schmerzen zufügen, da wir keine Gemeinschaft (koinoia) mit ihnen teilen (Steiner 2005, 119). Die modernen Sozialvertragstheoretiker folgen der Voraussetzung Epikurs, dass nur diejenigen Wesen Rechte haben, die dazu fähig sind, Verträge mit anderen zu schließen. Insofern Tiere dazu unfähig seien, können sie weder Rechte noch Pflichten anderen gegenüber annehmen. Im Besonderen sei es sinnlos, überhaupt vom Tierrecht zu sprechen, denn als nicht-vernunftbegabte Wesen seien Tiere grundsätzlich unfähig, Rechte zu haben. Locke gesteht, dass Tiere nicht nur zur Wahrnehmung, sondern auch zu einfachem Denken fähig seien. Doch
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aufgrund ihres angeblichen Mangels an Abstraktionsvermögen bestimmt Locke Tiere juristisch-politisch als bloßes Eigentum der Menschen und schließt sie kategorisch vom Sozialvertrag aus. Kant charakterisiert Tiere als bloße „Sachen“ im Vergleich zu Menschen, die als Vernunftwesen „Personen“ sind und eigentlichen moralischen Status haben (Steiner 2005, 167). Als Sachen haben Tiere keine direkten moralischen Rechte. Unsere Pflichten den Tieren gegenüber sind nur indirekt, das heißt, dass z. B. unsere „Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere“ nur deswegen besteht, „weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird“ (Kant 1977, 579). In unserer Generation hat John Rawls diese Denkweise dadurch weitergeführt, dass er jede Rechtsbeziehung zwischen Mensch und Tier kategorisch zurückweist (Rawls 1999, 448). Wie Aristoteles, die Stoiker, Locke und Kant setzt Rawls voraus, dass es im Grunde genommen unmöglich sei, einem Tier Unrecht zu tun; und wie seine Vorgänger stellt er nicht in Frage, wieso ein Wesen einen abstrakten Begriff von Recht haben muss, um Rechte zu verdienen bzw. unmittelbaren moralischen Status zu besitzen.
3 Kritik des anthropozentrischen Vorurteils In den letzten Jahrzehnten ist es immer klarer geworden, dass diese Voraussetzung der moralphilosophischen Tradition rein anthropozentrisch ist und einer grundsätzlichen Kritik bedarf. Meine Einstellung zu dieser Kritik habe ich in meinem Buch Animals and the Moral Community ausführlich dargestellt, in den folgenden Bemerkungen konzentriere ich mich auf zwei der wichtigsten Argumente dazu (Steiner 2008). Beide beginnen mit der Annahme, dass die traditionellen Kriterien der Vernunft und der Sprache, insofern sie als Grundkriterien zur Bestimmung des moralischen Status eines Wesens dienen, speziesistisch sind und dass eher das Bewusstseinsvermögen schlechthin das ausreichende Kriterium dafür ist, den moralischen Status von Tieren anzuerkennen. Das erste dieser Argumente ist das sogenannte Argument der Grenzfälle: Insofern als wir Säuglingen, geistig Schwerbehinderten usw. einen moralischen Status zuschreiben, können wir nicht ohne logisch-moralische Inkonsistenz bewusstseinfähigen Tieren einen gleichen Status verweigern. Das heißt, Intelligenzunterschiede sind belanglos für die Bestimmung des moralischen Status eines Wesens. Das Entscheidende ist, dass ein Wesen überhaupt über bewusste, subjektive Erfahrung verfügt, d. h., dass ihm sein Leben wichtig ist, unabhängig davon, ob oder inwiefern das jeweilige Wesen dazu fähig ist, sein Leben und dessen Wichtigkeit sprachlich oder gar begrifflich zu fassen und artikulieren. Demgemäß müssen wir einen gleichen moralischen Status von Menschen und bewusstseinsfähigen nichtmenschlichen Tieren anerkennen. Natürlich kann man diese Anwendung des Arguments der Grenzfälle auf den moralischen Status von Tieren dadurch bestreiten, dass man den moralischen Status Säuglingen und geistig Schwerbehinderten verweigert: Wenn
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keine menschlichen Grenzfälle Rechte haben, dann haben a fortiori keine Tiere Rechte. Doch eine solche Argumentation setzt ungerechtfertigter Weise voraus, dass die Vernunftbegabung, nicht die Empfindungsfähigkeit oder das Bewusstseinsvermögen, das notwendige und ausreichende Kriterium zur Anerkennung des moralischen Status eines Wesens ist. So könnte man schließen, dass wir nicht nur Tiere, sondern auch Säuglinge und geistig Schwerbehinderte juristisch und moralisch als Eigentum behandeln dürften, es sei denn, dass wir einen Grundunterschied zwischen Mensch und Tier aus rein speziesistischen Gründen machten. Das zweite Argument ist eine Art Weiterentwicklung des ersten. Wären Intelligenzunterschiede zwischen Mensch und Tier moralisch relevant, so müssten auch solche Unterschiede zwischen Mensch und Mensch gelten, und zwar so, dass intelligentere oder vernünftigere Menschen einen moralischen Primat über weniger intelligente oder vernünftige hätten. Demnach hätten z. B. Albert Einstein oder Winston Churchill einen unbestreitbaren moralischen Vorrang vor meinesgleichen. Dagegen könnte man den Einwand erheben, dass Menschen wie Einstein, Churchill und meinesgleichen die Vernunftbegabung im gleichen Maße besäßen, d. h., dass es keine grundsätzlichen Intelligenzunterschiede zwischen uns gibt, sondern nur Unterschiede der konkreten Erfahrung, Ausbildung usw. Auch dieser Argumentationsgang kommt mir insofern falsch vor, als er eine einfache Wahrheit des menschlichen Zustands verweigert und auf einer unrealistischen Abstraktion besteht. Auch begeht diese Denkweise einen alten Irrtum dadurch, dass sie die Summe der Intelligenz eines Wesens implizit für moralisch entscheidend nimmt: Gestehen wir, dass es wirkliche Intelligenzunterschiede zwischen Menschen gibt, so laufen wir Gefahr, den moralischen Status mancher Menschen zu verweigern. Doch sobald wir die Irrelevanz der Intelligenzunterschiede für die Bestimmung des moralischen Status eines Wesens anerkennen, verschwindet diese angebliche Gefahr und damit die Notwendigkeit, auf einer derart unrealistischen Behauptung zu bestehen. Diese Überlegungen führen zu dem Schluss, dass nicht die Vernunftbegabung, sondern das Bewusstseinsvermögen bzw. die Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit letzten Endes das angemessene Kriterium für den moralischen Status eines Wesens ist. Denker wie Singer berufen sich auf die Empfindungsfähigkeit, genauer auf die Fähigkeit, Schmerz und Glück empfinden zu können, als die autoritative Basis für die gleiche Interessenabwägung, ohne einzusehen, dass diese Fähigkeit nur das äußere Zeichen dafür ist, dass ein Wesen ein reiches geistiges Leben hat, das ihm wichtig ist und dessen Wichtigkeit gar nicht auf das Interesse begrenzt ist, Schmerzen zu vermeiden und Glück zu erfahren. Das Leben eines bewusstseinsfähigen Wesens dreht sich grundsätzlich um das Streben, dringende Lebensbedürfnisse zu befriedigen und der eigenen Natur gemäß zu leben, unabhängig davon, ob das jeweilige Wesen Mensch oder Tier ist oder ob und inwiefern das Wesen dazu fähig ist, seine Bedürfnisse und Natur begrifflich zu fassen. Regan wie Singer erkennen die Wichtigkeit des subjektiven Bewusstseins für die Bestimmung des moralischen Status eines Wesens an, doch halten beide
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Denker Intelligenzunterschiede für moralisch entscheidend. So behauptet Singer, die Unterordnung der Interessen der Tiere unter diejenigen der Menschen sei in den meisten Fällen gerechtfertigt. In diesem Zusammenhang ist die Behauptung John Stuart Mills zu bedenken, es sei besser, ein unbefriedigter Sokrates als ein befriedigtes Schwein zu sein (Mill 1998, 140). Mill macht einen wesentlichen Unterschied zwischen dem verhältnismäßig niedrigeren Glücksstreben eines Schweines oder dem eines Narren und dem angeblich höheren Glücksstreben eines Sokrates, dessen Überlegenheit darin bestehe, dass er nicht nur bloß körperliche, sondern auch geistige Zwecke einschätzen und verfolgen könne. Gesetzt, dass kein Tier sich das wahre Glück vorstellen könne, lasse sich ein solches Wesen viel einfacher zufriedenstellen als ein Wesen, das die angeblich höhere Seite des Lebens fassen und verfolgen könne. So habe das Glück sowohl quantitative als auch qualitative Dimensionen, und die Überlegenheit des Menschen über die Tiere bestehe darin, dass die Menschen Zugang zu den qualitativ höheren Glücksquellen haben, Tiere dagegen keinen Zugang dazu. Letzten Endes behauptet Mill, unser Schicksal sei die Eroberung der Natur, wobei er, überraschenderweise, an Descartes erinnert (Mill 1878, 20–21). Auch erinnert er an Jeremy Bentham, der, obwohl er die Empfindungsfähigkeit als das einzige notwendige und angemessene Kriterium für moralischen Wert anerkennt, letztendlich doch das Töten und Essen von Tieren befürwortet (Bentham 1948, 310–311).
4 Möchten Tiere, dass wir sie ausnutzen? Diese Inkonsistenz im Nachdenken über den moralischen Status von Tieren zeigt sich nicht nur im Utilitarismus, sondern auch, wie schon erwähnt, in der Deontologie. Erinnern wir uns an Regans Behandlung der Rettungsboot-Situation, wo Regan versucht, die Unterordnung der Interessen von tierischen Moralempfängern unter diejenigen von menschlichen, moralisch handelnden Subjekten zu rechtfertigen. In der aktuellen Literatur hat Julian Franklin dieses liberale Vorurteil dadurch weiterentwickelt, dass er ein neues formales Prinzip des moralischen Vorrangs des Menschen vor den Tieren behauptet hat, und zwar: Solange wir versuchen, Tiere nicht nur als Mittel sondern auch als kantische Zwecke zu behandeln, dürfen wir annehmen, dass ihre Beteiligung an Unternehmen wie Tierversuchen oder Institutionen wie Haustierhaltung „virtually voluntary“, also praktisch freiwillig ist (Franklin 2005, 62 f.). Das heißt, in Situationen, in denen wir Tiere zur Befriedigung unserer Wünsche benutzen möchten, muss zunächst die Annahme widerlegt werden, dass unsere Tätigkeit den Tieren nicht in einem nicht vertretbaren Maße schadet bzw. ihre Rechte nicht verletzt. Laut Franklin, solange wir einem Versuchstier nicht zu viel Leid zufügen und versuchen, ihn in verhältnismäßig komfortablen Umständen zu erhalten, sei unsere Behandlung des Tieres völlig einwandfrei. Doch wer soll diese angeblich widerlegbare Vermutung widerlegen? Die Tiere sind dazu unfähig, ihre Interessen und ihre Rechte zu verteidigen. Damit fällt die Verantwortung uns zu, als Fürsprecher der Tiere zu fungieren. Doch das stellt einen klassischen Interessenkonflikt insofern dar, als
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wir unsere persönlichen Wünsche der Pflicht unterordnen sollen, die Interessen und die Rechte der Tiere zu verteidigen. Hier ist zu beachten, dass in solchen Zusammenhängen der typische Wunsch gar kein geistiger, sondern ein rein körperlicher ist. Zumeist zielen solche Wünsche darauf, Tiere zu unserem Vergnügen zu benutzen, vor allen Dingen durch Töten und Essen, aber auch durch Tätigkeiten wie Tierversuche, die unseren materiellen Wohlstand fördern sollen. Das heißt, im typischen Fall haben wir gar nicht die angeblich erhabenen intellektuell-sozialen Interessen der Menschen mit den angeblich niedrigeren materiellen Interessen nichtmenschlicher Tiere zu vergleichen. Ganz im Gegenteil haben wir im typischen Fall die bloß materiellen Interessen verschiedener körperlicher Wesen zu vergleichen, und bei solchen Vergleichen behaupten wir Menschen einen wohlerworbenen Anspruch, unsere eigenen Interessen für wichtiger und dringender als diejenigen der Tiere zu halten, ohne zu bedenken, dass wir unseren eigenen Interessen höchste Priorität ohne jede legitime Rechtfertigung einräumen. Diesen Überlegungen gemäß ist die Unterstellung einer generellen Zustimmung der Tiere zu ihrer Nutzung, die dann im Einzelfall zu widerlegen sei, als falsch zurückzuweisen. Stattdessen lässt sich bei Tieren die generelle Unfreiwilligkeit ihrer Nutzung voraussetzen. Der amerikanische Jurist Gary Francione hat dieses Prinzip erörtert und dadurch weiterentwickelt, dass er das Recht der Tiere, nicht das Eigentum der Menschen zu sein, nicht nur als Recht, sondern als unwiderrufliches Grundrecht postuliert hat. Francione sieht ein, dass die Empfindungsfähigkeit schlechthin das notwendige und ausreichende Kriterium für den moralischen Status eines Wesens ist und er folgert daraus, dass Tiere ein Grundinteresse an der Fortdauer ihres Lebens haben, ein Interesse, das Singer und Regan bei Tieren übersehen haben. Ist ein Wesen bewusstseinsfähig, so hat es ein absolutes Recht, seine Lebensinteressen ungehindert zu verfolgen, unabhängig davon, wie differenziert sein Bewusstsein dabei ist. Eine Folge dieses Prinzips ist, dass es keine allgemeine Regel für die Lösung von Konflikten zwischen den Grundrechten von Tieren und Menschen gibt. Im Notfall, z. B. im Fall eines brennenden Hauses, in dem es ein Kind und einen Hund gibt und nur eines dieser zwei Individuen gerettet werden kann, gibt es keine allgemeine moralische Regel, nach der man entscheiden könnte, welches Wesen man retten soll. Die zwei Individuen – und nach Franciones Ermessen ist der Hund ohne Zweifel ein Individuum – haben den gleichen inhärenten Wert und demnach genau das gleiche Recht, Hilfe von anderen zu erwarten. Entscheiden wir zugunsten des Kindes, so geschieht das nicht deswegen, weil das Kind mehr verdient als der Hund, sondern nur deswegen, weil wir besser verstehen, welchen Verlust der Tod für das Kind darstellt als für den Hund. Das heißt, unsere Gründe, das Kind statt des Hundes zu retten, sind nicht moralisch oder juristisch, sondern rein psychologisch und recht arbiträr, aber deswegen nicht speziesistisch (Francione 2000, 159). Ersetzen wir die Vernunftbegabung durch die Empfindungsfähigkeit bzw. das Bewusstseinsvermögen als Grundkriterium für den moralischen Status eines Wesens, so müssen wir mit der Möglichkeit der Gleichberechtigung von Tieren rechnen. Selbstverständlich besagt das nicht, dass Tiere Rechte wie z. B. das Wahlrecht verdienen, da den nichtmenschlichen Tieren das für die Wahl nötige
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Sprachvermögen fehlt. Abgesehen von solchen Fällen aber verdienen Tiere die Gleichberechtigung mit Menschen. Peter Carruthers hat anerkannt, dass die Aufnahme der Tiere in die Rechtssphäre die volle Gleichberechtigung für Tiere bedeuten würde. Doch er lehnt diese Möglichkeit kategorisch ab. Warum? Weil, seiner Meinung nach, Tiere nicht dazu fähig sind, über ihre Erfahrungen nachzudenken, was angeblich heißt, dass die Erfahrungen der Tiere, z. B. Schmerzen, völlig unbewusst sind. Sind diese Erfahrungen unbewusst, so können sie gar keine moralische Wichtigkeit oder Implikationen haben (Carruthers 1992, 99, 189). Carruthers nimmt aber irrigerweise an, dass ein Wesen das von Leibniz und Kant besprochene Apperzeptionsvermögen besitzen müsse, um Schmerzen überhaupt erfahren zu können – als ob eine Erfahrung keine Erfahrung sein könne, es sei denn, dass das Subjekt der Erfahrung dazu fähig sei, einzelne Erfahrungen als diejenigen eines immanenten „Ich denke“ zu fassen. Wieso sollten wir annehmen, dass die Schmerzen eines Tieres deswegen moralisch belanglos sind, weil das Tier sie begrifflich nicht fassen kann? Das ist eine bloß selbstsüchtige Argumentation, die darauf zielt, die Unterwerfung der Tiere zu rechtfertigen und sie missachtet, dass Tiere sich an ihre Schmerzen gut erinnern. Neuerdings hat Martha Nussbaum vor unserer „selbstsüchtigen Inkonsistenz“ bezüglich des moralischen Status von Tieren gewarnt (Nussbaum 2001, 1548). Meiner Meinung nach bietet Carruthers’ Behauptung ein ausgezeichnetes Beispiel dafür. Übrigens ist zu bemerken, dass auch Nussbaum solchen Vorurteilen dadurch zum Opfer fällt, dass sie letzten Endes vor dem Einfluss der „romantischen Auffassung von domestizierten Tieren“ warnt, nach der solche Tiere Gefangene der Menschen sind. Nussbaum behauptet z. B., dass insofern Laufen und Springen in der Natur eines Pferdes liegen, Tätigkeiten wie der Pferderennsport und das Dressurreiten moralisch völlig einwandfrei sind (Nussbaum 2006, 376 f.). Eine solche Argumentationsweise erinnert an die Behauptung des Stoikers Chrysippus, das natürliche Ziel oder telos eines Schweines sei es, geopfert zu werden. Bezüglich solcher Fragen müssen wir zwei Missverständnisse überwinden: die Vorurteile des gesunden Menschenverstandes und den Willen, Glücksgefühle und Schmerzen zu quantifizieren. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass das Leben eines Tieres in seinen Augen genauso viel Wert besitzt wie mein Leben für mich. In beiden Fällen ist der Wert des Lebens unschätzbar. Der Versuch, die zwei Werte zu vergleichen, benötigt einen absoluten Standpunkt, von dem man die jeweiligen Werte einschätzen könnte, einen völlig objektiven Standpunkt, den der amerikanische Philosoph Thomas Nagel den „Blick von Nirgendwo“ genannt hat (Nagel 1986). In dieser Hinsicht ist der Versuch, inhärente Werte quantitativ zu vergleichen, wie der Versuch, die Wahrheitsbehauptungen verschiedener wissenschaftlicher Paradigmen einzuschätzen, denn, wie Thomas Kuhn erklärt hat, kann es keinen theorieunabhängigen oder theorieneutralen Standpunkt geben, von dem aus sich solche Wahrheitsbehauptungen einschätzen ließen (Kuhn 1970, 206). In beiden Fällen, im Falle des inhärenten Wertes und im Falle der wissenschaftlichen Wahrheit, bestimmen die Voraussetzungen der Theorie die Bedingungen der Legitimität oder Richtigkeit. Und auch wenn man Kuhns Behauptung ablehnen und an eine herkömmlichere Idee von Wissenschaftswahrheit glauben will, bleibt
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zu beachten, dass das Problem des inhärenten Wertes gar kein wissenschaftliches ist und sich auf quantitative Kalkulationen bzw. Fragen der materiellen Wirksamkeit gar nicht reduzieren lässt.
5 Dürfen wir Tiere (fr)essen? Gemäß dem gesunden Menschenverstand besitzt das Leben eines Menschen mehr Wert als das eines Tieres, und zwar unschätzbar mehr. So glaubt der gesunde Menschenverstand, das Opfer von mehr als 60 Mrd. Landtieren jedes Jahr für die Mahlzeiten der Menschen rechtfertigen zu können. Diese Denkweise hat ihre Wurzeln bei Aristoteles und den Stoikern und beeinflusst wesentlich das Denken der Kirchenväter, Descartes’, der klassischen Utilitaristen, Kants, Singers, Regans und vieler anderer Philosophen. Doch die europäische Tradition der Philosophie enthält auch Hinweise auf die Überwindung dieser speziesistischen Auffassung von der Beziehung zwischen Mensch und Tier. In der Antike haben besonders Plutarch und Porphyrios Kritik an den anthropozentrischen Vorurteilen der Stoiker geleistet, und in der Neuzeit hat Schopenhauer sich als entschiedener Verteidiger der Tiere gezeigt. Im Rahmen seiner Lehre des Weltwillens schreibt Schopenhauer, „daß das Tier im wesentlichen und in der Hauptsache durchaus dasselbe ist, was wir sind, und daß der Unterschied bloß im Akzidenz, dem Intellekt, liegt, nicht in der Substanz, welche der Wille ist. Die Welt ist kein Machtwerk und die Tiere kein Fabrikat zu unserem Gebrauch“ (Schopenhauer 1996, 443). Demnach behauptet Schopenhauer, „nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit ist man dem Tiere schuldig“ (Schopenhauer 1996, 439–440). Doch erliegt auch Schopenhauer letzten Endes der anthropozentrischen Tendenz der Tradition, indem er versucht, Tätigkeiten wie Tierversuche und das Essen von Tieren zu rechtfertigen. Schopenhauer behauptet, dass insofern Tiere zu Reflexion oder Besonnenheit unfähig sind, können sie nur die Leiden der Gegenwart erfahren, was bedeuten soll, die Leiden der Tiere seien sowohl qualitativ als auch quantitativ geringer als diejenigen der Menschen, die ihre Leiden durch die Reflexion „aufsummieren“ können (Schopenhauer 1996, 346). So bietet Schopenhauer ein mahnendes Beispiel: Er erinnert uns daran, wie schwierig es ist, die speziesistischen Vorurteile unserer Tradition aufzugeben und unsere Pflicht als Verteidiger von Tieren zu beachten. Als Tierverteidiger müssen wir das Grundrecht der Tiere respektieren, mit Gerechtigkeit behandelt zu werden. Das verlangt mehr von uns als Mitgefühl oder Erbarmen; es verlangt die Anerkennung, dass bewusstseinsfähige Tiere zur Rechtssphäre gehören und dass ihr moralischer Status und ihre Grundrechte in dieser Sphäre genauso unwiderruflich sind wie unsere. Auch John Rawls erkennt unsere Pflicht zum Mitgefühl gegenüber Tieren an, ohne die Substanzlosigkeit dieser Pflicht einzusehen, wenn sie nicht mit derjenigen der Gerechtigkeit verbunden ist (Rawls 1999, 448). Unsere geschichtliche Erfahrung bestätigt, dass es nicht nur möglich, sondern schlechthin einfach ist, Tiere „mit Mitgefühl“ zu schlachten, in Versuchen zu verwenden, zu allerlei menschlichen Zwecken
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auszubeuten, was darauf hinweist, dass unser angebliches Mitgefühl mit Tieren kaum einen Einfluss auf unsere Behandlung der Tiere hat. Was zu bedenken bleibt ist, wie und inwiefern wir unsere Gefühle durch Reflexion dahingehend aufwerten, dass sie sich nicht bloß auf unser Selbst, sondern auf die größere Gemeinschaft orientieren. Darin liegt der Schlüssel zu einem Verständnis für die wesentliche Gemeinschaft zwischen Mensch und Tier. Selbst Aristoteles und Kant haben einen wesentlichen Unterschied zwischen egoistischen und gesellschaftlichen Gefühlen anerkannt: Aristoteles hat einen Grundunterschied zwischen „höheren“ und „niedrigeren“ Affekten gesehen und hat jene mit der Eudaimonie assoziiert. Kant hat, obwohl er die Gefühle meist als „pathologisch“ abgelehnt hat, nichtsdestoweniger einen Platz für „praktische und nicht pathologische Liebe“ reserviert, „die im Willen liegt und nicht im Hangen der Empfindung, in Grundsätzen der Handlung und nicht schmelzender Teilnehmung“ (Kant 1974, 25 f.). Darin zeigt sich eine innere Spannung im Denken Aristoteles’ und Kants zwischen einer Anerkennung der Unentbehrlichkeit der Gefühle in der Moral und der Angst vor dieser Unentbehrlichkeit. Die aufrichtige Anerkennung unseres tierischen Wesens bringt die Einsicht in diese Unentbehrlichkeit mit sich. Bekanntlich sieht Aristoteles den Menschen als eine Art Tier, doch versucht er leidenschaftlich, den Menschen von nichtmenschlichen Tieren zu unterscheiden. Entgegen seiner eigenen Absicht versucht selbst Aristoteles, den Menschen als übertierisch zu begreifen. Doch wir sind Tiere – kluge Tiere, so Nietzsche, die genau wie andere Tiere endgültig sterben müssen (Nietzsche 1980, 759, 875). Die Einsicht in unsere eigene Tierheit bietet die Möglichkeit, sowohl die Relevanz der Gefühle für das menschliche Ethos als auch unsere moralische Beziehung zu nichtmenschlichen Tieren neu zu bedenken. Denn nicht unsere Vernunft, sondern unsere durch Vernunft aufgewerteten Gefühle sind die notwendige und ausreichende Basis für ein moralisches Mitsein, das nicht nur Menschen, sondern alle empfindungsfähigen Wesen umkreist. Im Kreis des moralischen Mitseins sind wir mit den Tieren durch ein gemeinsames Wesen verbunden, das uns mit einer bestimmten Verantwortlichkeit betraut, trotz der Tatsache, dass Tiere wegen ihres scheinbaren Mangels an distanzierter Reflexion keine entsprechende Verantwortlichkeit gegenüber Menschen haben. Unsere Verantwortlichkeit bringt bestimmte Pflichten mit sich, vor allen die Pflicht, die Grundrechte der Tiere zu respektieren. Tiere wie Menschen haben ein Grundinteresse an und demnach ein Grundrecht auf Leben. Dieses Grundrecht zu respektieren bedeutet, dass wir die Versuche der Tiere, dieses Interesse zu befriedigen, nicht beeinträchtigen. Vor allen Dingen bedeutet es, dass wir Tiere nicht als Ernährungsquellen behandeln. In diesem Zusammenhang denkt man zuerst an den Fleischkonsum, doch es bedeutet mehr, und zwar: Die Grundinteressen und Grundrechte der Tiere zu respektieren bedeutet, dass wir den Konsum aller Arten tierischer Ernährungsprodukte ablehnen. Das bedeutet nicht nur Fleisch (Rindfleisch, Schweinefleisch, Hühnerfleisch, Fisch, Meeresfrüchte, usw.), sondern auch Milch, Käse, Eier, und sogar Honig. Auch müssen wir den Konsum tierischer Erzeugnisse wie Seide und Wolle ablehnen. Der Konsum solcher Produkte setzt eine Vorstellung und ein Verständnis von Tieren als Ernährungslieferungsmittel bzw. Quellen der Befriedigung
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menschlicher Wünsche voraus. Nehmen wir unsere wesentliche Verwandtschaft mit Tieren ernst, so müssen wir den Veganismus als eine kategorische moralische Pflicht anerkennen. Deshalb kann es nur enttäuschen, dass Derrida das heutige philosophische Denken über Tiere so tiefgreifend beeinflusst hat – Derrida, der einerseits Philosophen wie Heidegger wegen ihrer angeblichen Unterordnung der Tiere unter den Menschen vernichtend kritisiert hat, der andererseits ohne jede offensichtliche Ironie behauptet hat, er wollte keine „Unterstützungsgruppe für den Vegetarismus“ begründen (Derrida 1991, 112). Die Anerkennung der wesentlichen Verwandtschaft zwischen Mensch und Tier liefert die Basis für bestimmte unausweichliche Moralprinzipien, die für den Poststrukturalismus unzugänglich und deswegen auch unbegründbar sind, wie z. B. für das folgende Prinzip: Der Mensch hat weder das Recht, Tiere zu töten und zu essen, noch das Recht, Tiere als Apparate zur Lieferung von Milch, Eier usw. zu benutzen (siehe Steiner 2013). Solche Prinzipien zu übersehen bzw. zu ignorieren ist schlechthin speziesistische mauvaise foi. Angesichts unseres seit langem bestehenden Brauches, Tiere gedankenlos und aggressiv auszubeuten, wird es äußerst schwierig sein, unsere Verantwortlichkeit gegenüber den Tieren ernst zu nehmen. Das verlangt, wie selbst Rawls zugestanden hat, „eine Theorie der Ordnung der Natur und unserer Stellung darin“ (Rawls 1999, 448). Aristoteles, die Stoiker, die Kirchenväter, Descartes, die Utilitaristen, Kant, Rawls, Singer und Regan haben alle bestimmte Theorien der Ordnung der Natur und unserer Stellung in ihr formuliert, auch wenn sie die Voraussetzungen und Vorurteile ihrer jeweiligen Theorien nicht durchdacht und ausdrücklich anerkannt haben. Die unausgesprochene Voraussetzung aller ihrer Theorien ist, dass die Vernunftbegabung oder das Sprachvermögen das maßgebliche Zeichen der Göttlichkeit ist und dass demnach der Mensch das Zentrum und das ausgezeichnete Wunder der Schöpfung ist. Diese Voraussetzung erinnert an den Gedanken des Xenophanes, „doch wenn die Ochsen, Pferde und Löwen Hände hätten oder mit ihren Händen malen könnten und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Pferde rossähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper skulptieren, wie jede Art gerade selbst das Aussehen hätte“ (Diels 2017, 21B15). Nach Xenophanes liegt es in der Natur eines jeden Lebewesens, die Gottheit, d. h. den Höhepunkt der Existenz, in eigener Gestalt zu begreifen. So glauben wir Menschen, nicht nur dazu fähig zu sein, zum Herrn der Natur zu werden, sondern auch, dass wir diese Stellung verdienen. Eine solche Anmaßung setzt eine Theorie der Natur als moralischer Ordnung voraus sowie einen Schöpfer, der sich diese Ordnung ausdenkt und sie verfügt. Wenn ich Nietzsche etwas umschreiben dürfte, würde ich nur an einen Gott glauben, der die wesentliche Gleichheit von Mensch und Tier für selbstverständlich hielte. Die Verteidigung des eigentlichen moralischen Status und der Rechte der Tiere verlangt eine nicht traditionelle Theorie des Kosmos, die auf jede angebliche Werthierarchie unter bewusstseinsfähigen Lebewesen verzichtet und stattdessen eine neue, über die Sphäre der menschlichen Handlungen hinausreichende Idee der kosmischen Gerechtigkeit gründet. Die Sphäre der kosmischen Gerechtig-
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keit schließt nicht nur vernunftbegabte, sondern alle bewusstseinsfähigen Wesen ein. Das ist eine Sphäre, in der der Mensch seine innere Verwandtschaft mit nichtmenschlichen Tieren anerkennt und es ausschließt, tierische Erzeugnisse zu konsumieren oder überhaupt Tiere als bloße Mittel zu nutzen.
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Tiere im Recht Carolin Raspé
1 Einleitung Das Recht als menschengemachtes und anthropozentrisch geprägtes Ordnungssystem gesteht dem Tier bis heute nur eine untergeordnete Objektstellung zu, die nur vereinzelt oder in Spezialgesetzen tierspezifisch ausgestaltet wird. Im Vergleich zur umfangreichen Diskussion um moralische Rechte bzw. der ethischen Relevanz moralischer Rechte (siehe Gary Steiner in diesem Band), lässt sich von einer eigenständigen Strömung der Human-Animal Studies (HAS) in der rechtswissenschaftlichen Diskussion im deutschsprachigen Raum noch nicht ernsthaft sprechen. Da das Recht jedoch selten der Auslöser gesellschaftlicher Veränderungen ist, sondern regelmäßig auf diese reagiert, werden zunehmend die Fragen nach juridischen Rechten von Tieren laut: Welche Stellung haben Tiere im Recht und entspricht diese unserem heutigen gesellschaftlichen Verständnis? Wie werden ihre Bedürfnisse vom Recht geschützt? Haben Tiere bereits heute basale eigenständige Rechte? Falls nicht, sollten sie diese haben und wie könnte man diese in dem geltenden Rechtssystem verankern? Um diesen Fragen nachzugehen, muss zunächst eine Bestandsaufnahme des geltenden Rechtssystems vorgenommen werden, denn trotz der anthropozentrischen Ausrichtung des Rechts steht der menschliche Umgang mit dem Tier keineswegs im rechtsfreien Raum; nahezu jeder Tier-Mensch-Kontakt unterliegt geltendem Recht und Gesetz. Tiere werden verkauft, getauscht, gehalten, gezüchtet, getestet, gejagt, geschützt, behandelt, operiert, befreit, vernichtet, verbraucht, geschlachtet, verarbeitet und ihre Produkte wiederum verkauft. All diese Handlungen unterfallen Regeln des Vertragsrechts, des Strafrechts, des
C. Raspé (*) Hengeler Mueller, Partnerschaft von Rechtsanwälten mbH, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_9
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Verbraucherschutzrechts, Hygienevorschriften, Tierhaltungsverordnungen oder Handelsbräuchen. Teilweise werden diese durch tierspezifische Sondervorschriften wie Zuchtordnungen, Tierärzteverordnungen, Jagdordnungen und die geltenden Tierschutzgesetze noch näher geregelt.
2 Der Status Quo im Recht Eine Darstellung des Forschungsstands erfordert somit allem voran einen Blick in die geschriebenen Gesetze, um daran die möglichen Entwicklungspotentiale und Schaltstellen für die HAS im Recht herauszuarbeiten. Dies ergibt sich bereits aus der Natur der Rechtswissenschaft als gesellschaftsbezogene und damit anwendungsorientierte Wissenschaft (Peters 2016, 383). Da eine weltweite Analyse geltender Tierschutzgesetzgebung hier naturgemäß nicht möglich ist, konzentriert sich dieser Beitrag auf den deutschsprachigen Rechtsraum und insbesondere das deutsche Rechtssystem.1 Da Deutschland für sich gemeinhin in Anspruch nimmt, einen hohen Tierschutzstandard zu haben (BMEL 2019, 3), können viele der folgenden Kritikpunkte erst recht für Rechtssysteme mit geringeren Tierschutzstandards analog diskutiert werden.
2.1 Tierschutzgesetzgebung Als Ausgangspunkt der Gesetzesanalyse bietet sich das deutsche Tierschutzgesetz (TierSchG) an, welches in seinem § 1 Satz 1 zu seinem Zweck bestimmt „aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen“. Dieser kurze Leitsatz scheint bereits weitgehende Garantien zu beinhalten: 1. eine umfassende Schutzwirkung des TierSchG für alle Tiere,2 ohne nach Eigenschaften oder Fähigkeiten, wie Schmerz- oder Leidensfähigkeit, zu differenzieren; 2. die Anerkennung der Mitgeschöpflichkeit des Tieres, welche auf eine gewisse Vergleichbarkeit zwischen Tier und Mensch und auf den Eigenwert von Tieren hinweisen könnte; sowie 3. schützenswerte Rechtsgüter der Tiere; namentlich ihr Leben und ihr Wohlbefinden.
1In der Schweiz ist die Würde der Kreatur seit 1992 in der Verfassung verankert (vgl. Art. 120 II BV; Richter 2007) und Deutschland hat bereits seit 1933 ein eigenständiges Tierschutzgesetz. (Zur Kritik an den Ursprüngen der deutschen Tierschutzgesetzgebung im Nationalsozialismus siehe Gall 2016, 52). Von einem internationalen Tierrecht auf völkerrechtlicher Ebene lässt sich noch nicht verlässlich sprechen (Peters 2016, 371). 2Geschützte Tiere im Sinne des TierSchG sind alle lebenden Tiere unabhängig von ihrem Entwicklungsgrad (Hirt et al. 2016, § 1 Rn. 11).
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Auf den ersten Blick erweckt dieser Gesetzeszweck somit den Anschein eines hohen Schutzstandards, wenn nicht sogar tierlicher Ansprüche auf Leben und Wohlbefinden. Die Relativierung folgt jedoch schon im darauf folgenden Satz: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“ Der „vernünftige Grund“ ist regelmäßig – sofern keine spezielleren Rechtfertigungsgründe vorliegen – Dreh- und Angelpunkt für die Bewertung der Zulässigkeit menschlicher Eingriffe an bzw. Beeinträchtigungen von Tieren und wurde in der Literatur und Rechtsprechung bereits vielfältig diskutiert (Maisack 2007; ausführlich zum Stand der Diskussion Hirt/Maisack/Moritz 2016, § 1 Rn. 30 ff.). Was ist ein vernünftiger Grund, um Tiere zu verletzen oder zu töten? Alles was rational begründbar ist? Was sich als Praxis etabliert hat? Was wirtschaftlich sinnvoll ist? Oder schlicht, was von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert wird? Tatsächlich haben Gerichte bislang meist auch rein ökonomisch motivierte Tiernutzungszwecke und Genussinteressen ausreichen lassen, um Tiertötungen und die Zufügung von Schmerzen zu rechtfertigen (statt vieler: VG Minden, Urteil vom 30.01.2015 - 2 K 80/14). Nur allmählich findet hier ein Umdenken statt. Erst kürzlich hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) höchstinstanzlich zur Tötung männlicher Küken direkt nach dem Schlüpfen entschieden: Im Lichte des im Jahr 2002 in das Grundgesetz aufgenommenen Staatsziels Tierschutz beruht das Töten der männlichen Küken für sich betrachtet nach heutigen Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten. (BVerwG, Pressemitteilung Nr. 47/2019 vom 13.06.2019)
Erfreulich ist an dieser neueren Entscheidung, dass rein ökonomische Interessen nicht mehr per se als ausreichend angesehen werden, um tierliche Interessen zu überwiegen. Enttäuschend ist jedoch, dass das BVerwG ein Überwiegen im konkreten Fall dennoch – jedenfalls übergangsweise – angenommen und die vorübergehende Fortführung der Tötungspraxis bis zur Einführung eines marktreifen Verfahrens zur Geschlechtererkennung im Ei für noch zulässig erachtet hat. Die Diskussion um den „vernünftigen Grund“ endet somit nicht bei der inzwischen weitgehend anerkannten Meinung, dass hierin eine Abwägungsverpflichtung zwischen menschlichen und tierlichen Interessen liegt (Maisack 2007, 53 ff.), sondern es stellt sich die relevante Anschlussfrage, wie man die miteinander abzuwägenden Interessen von Menschen und Tieren konkret bewertet. Gesteht man tierlichen Interessen per se einen geringeren Wert zu als den menschlichen Interessen, mutiert die gesetzlich geforderte Interessenabwägung zur Farce. Das TierSchG offenbart in den weiteren Normen (§§ 4 ff. TierSchG), dass sein hehres Ziel des Lebensschutzes wenig Durchschlagskraft behält, denn es regelt detailliert, wie Wirbeltiere zu töten, zu verletzen, in Tierversuchen zu verwenden und zu halten sind. Zwar werden diese Handlungen zum Schutz des Tieres reglementiert, sie werden jedoch nur in wenigen Ausnahmefällen d erart
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beschränkt, dass menschliche Interessen nennenswert zurückstehen oder gar Handlungen ohne Ausnahme untersagt werden. Überspitzt lässt sich somit sagen, dass das Tierschutzgesetz, welches den Schutz des tierlichen Lebens zu seinem Zweck ernennt, eine Gebrauchsanweisung liefert, wie Tiere zu töten sind. Das Tierschutzgesetz wurde daher auch als Tiernutzgesetz bezeichnet (Leondarakis 2006, 23). Ein anderes Bild ergibt sich auch nicht aus den flankierenden Verordnungen wie der Tierschutztransport- und Tierschutznutzungsverordnung oder den EU-Verordnungen, die nur Minimalstandards setzen und hinter den deutschen Tierschutzmaßstäben noch deutlich zurückbleiben (Hirt/Maisack/Moritz 2016, Einf. Rn. 53).
2.2 Zivil- und Verfassungsrecht Daher ist es für die Bestandsaufnahme notwendig, auch in die Gesetze zu schauen, die nicht explizit das Tier-Mensch-Verhältnis regeln, aber dennoch Auswirkungen auf das rechtliche Tier-Mensch-Verhältnis und die Stellung der Tiere im Recht haben. Allem voran muss hierfür auf die zwei grundlegenden Normen für das Tier-Mensch-Verhältnis geblickt werden: den § 90a im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) und Art. 20a Grundgesetz (GG).
2.2.1 90a BGB Bereits seit 1990 stellt der § 90a BGB klar: „Tiere sind keine Sachen“. Dies scheint zunächst der eingangs getroffenen Feststellung zu widersprechen, dass Tiere im Recht derzeit nur Rechtsobjekte sind. Aber auch hier erfolgt die Relativierung prompt im dritten Satz: „Auf sie sind die für Sachen geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden, soweit nicht etwas anderes bestimmt ist.“ Tiere sind folglich zwar keine Sachen mehr, werden aber wie Sachen behandelt. Dem § 90a BGB wird somit lediglich eine bewusstseinsschärfende Wirkung zugesprochen (Brüninghaus 1993, 99). Die Rechtsliteratur hat diese Gesetzesänderung überwiegend negativ bewertet und sie bspw. als „gefühlige Deklamation ohne wirklichen rechtlichen Inhalt“ bezeichnet (Ellenberger/Palandt 2018, § 90a BGB Rn. 1, vgl. Obergfell 2016, 394 mwN). Die aus dem Römischen Recht entspringende Dichotomie des Rechts, also die Zweiteilung in Rechtsobjekte und Rechtssubjekte, wurde durch § 90a BGB nicht aufgebrochen. Tiere behielten hierdurch ihren Objektstatus, lediglich aus der Unterkategorie „Sache“ wurden sie herausgenommen und in eine neue Objektkategorie „Tier“ verschoben (Obergfell 2016, 392 f.). Unterschätzt werden sollte diese Gesetzesänderung für die rechtliche Kategorisierung des Tieres dennoch nicht, zeigt sich in ihr doch die Wandlung der gesellschaftlichen Wahrnehmung des Tiers, die stark genug wurde, um eine solche Gesetzesänderung zu bedingen. Insbesondere hat sich der Gesetzgeber bereits zu diesem Zeitpunkt zu einem ethischen Tierschutz, der das Tier um seiner selbst willen schützt und somit
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eigenständige Interessen des Tieres anerkennt (Hirt/Maisack/Moritz 2016, § 1 Rn. 2), im anthropozentrischen Rechtssystem bekannt: Damit ist es eine Aufgabe der Rechtsordnung, den Schutz des Lebens und des Wohlbefindens der Tiere zu gewährleisten. Dieses Bekenntnis des Gesetzgebers zum ethischen Tierschutz ist in § 1 TierSchG unmittelbar geltendes Recht geworden. (Gesetzesbegründung in BT-Drs. 11/5463, 5).
Somit wurde das Tier aus den Sachen als den klassischen Rechtsobjekten herausdefiniert und erstmals in Richtung Subjektgrenze verschoben, ohne diese jedoch zu tangieren oder gar zu durchbrechen.
2.2.2 Art. 20a GG Der nächste entscheidende Schritt erfolgte im Jahr 2002 mit der Ergänzung des Art. 20a GG um die drei kleinen Worte „und die Tiere“. Mit der Aufnahme der Tiere in die Verfassung hat sich der deutsche Gesetzgeber auf höchster Ebene zum ethischen Tierschutz bekannt: Durch das Einfügen der Worte „und die Tiere“ in Artikel 20a GG erstreckt sich der Schutzauftrag auch auf die einzelnen Tiere. Dem ethischen Tierschutz wird damit Verfassungsrang verliehen. (Gesetzesbegründung in BT-Drs. 14/8860, 3).
Der Verfassungsrang des Tierschutzes erschien damals rechtspraktisch notwendig, um die vorbehaltlos garantierten Grundrechte, wie Forschungs- und Religionsfreiheit, welche nur durch Rechtsgüter von Verfassungsrang eingeschränkt werden können, mit Tierschutzbelangen abwägen zu können. Dies betraf damals vor allem Beschränkungen von Tierversuchen, die Ausprägung der Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) sind, und die Zulässigkeit religiös motivierter Schächtungen, welche der Religionsfreiheit (Art. 4 GG) unterfallen. Beide Grundrechte waren nach überwiegender Meinung zuvor nicht wegen Tierschutzerwägungen einschränkbar (die Gesetzesinitiative war nach wiederholten Versuchen auch wegen des sog. Schächturteils, BVerfGE 104, 337 erstmalig erfolgreich). Der verfassungsrechtliche Tierschutz wurde als sog. Staatszielbestimmung ins Grundgesetz aufgenommen. Staatszielbestimmungen verpflichten die Staatsgewalten zur Einhaltung und Beachtung bei Ausführung ihrer staatlichen Aufgaben, vermitteln aber keine subjektiven Rechte (Maunz/Dürig 2019, Art. 20a GG Rn. 70). Den Tieren sollten hierdurch bewusst keine subjektiven Rechte verliehen werden. Fraglich bleibt jedoch, ob dies durch die Aufnahme des ethischen Tierschutzes in die Verfassung nicht dennoch geschehen ist. Der verfassungsrechtliche Tierschutz schützt als erste Staatszielbestimmung im Grundgesetz nicht nur menschliche Interessen wie die übrigen Staatszielbestimmungen (vgl. Sozialstaatlichkeit, Friedenssicherung, gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht usw.). Damit stellt der ethische Tierschutz – auch im Vergleich zum anthropozentrischen Umweltschutz – einen Fremdkörper in der anthropozentrisch geprägten Verfassung dar. Weil es nun aber eine verfassungsrechtliche Pflicht zum Schutz von Tieren um ihrer selbst
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willen gibt, kann mit einer Mindermeinung argumentiert werden, dass als Spiegelbild dieser menschlichen Pflicht Rechte von Tieren bereits im geltenden Recht de facto existieren (Fischer 2007, 157; Raspé 2013, 285). Zwar kennt das Recht auch rein objektive Pflichten, die nicht mit einem subjektiven Recht des Schutzobjekts korrespondieren (z. B. im Denkmalschutz, vgl. Feinberg 2001, 149), allerdings haben diese objektiven Pflichten stets den Zweck, indirekt allein dem Menschen und seinen Interessen zu dienen. Dies ist erstmals beim ethischen Tierschutz anders, der dem Tier selbst – im Zweifelsfall auch entgegen menschlicher Interessen – dienen soll. Somit sind diese beiden Normen neben der Tierschutzgesetzgebung entscheidend für die Beurteilung der derzeitigen Stellung des Tieres im Recht.3 Sie illustrieren die Widersprüchlichkeit der Tier-Mensch-Beziehung besonders deutlich: Einerseits sind Tiere zivilrechtlich weiterhin Rechtsobjekte, andererseits gesteht die Verfassung – wie sonst nur Rechtssubjekten – den Tieren Schutz um ihrer selbst willen zu. Dies begründet für die Tiere im geltenden Rechtssystem eine Zwitterstellung, die zahlreiche Fragen aufwirft, welche die rechtswissenschaftliche Forschung und Rechtsprechung jedoch nur zögerlich aufgreifen.
3 Aktuelle Forschungsansätze Die HAS in anderen Forschungsdisziplinen beeinflussen zunehmend auch die Rechtswissenschaften. Gerade die moralischen, ethischen, soziologischen, kulturellen und gesellschaftsrechtlichen Überlegungen zur Tier-Mensch-Beziehung bedingen ein Umdenken, das auch in der rechtswissenschaftlichen Forschung Wirkung zeigt.
3.1 Tierliche Rechtsgüter Auch wenn tierliche Rechte und Rechtsgüter nach herrschender Meinung bislang nicht positivrechtlich existieren, gibt es erste Überlegungen zu solchen tierlichen Rechtsgütern, die im Folgenden kurz dargelegt werden (ausführlich hierzu: Erbel 1986, 1252 f.; Raspé 2013, 175 ff.). Zur Identifikation gesetzlicher Anhaltspunkte
3Außerhalb
des TierSchG findet das Tier in der deutschen und europäischen Rechtsordnung – insbesondere im Zivilrecht – nur selten explizite Erwähnung, z. B. wenn es um den Eigentumswert des Tieres, Schadensersatzpflichten für Tierhalter bzw. die Eigentumserlangung am Tier geht (vgl. §§ 251 II 1, 833, 960 BGB, § 811c ZPO). In all diesen Fällen bleiben Tiere regelmäßig Objekt unserer menschlichen Rechtsverhältnisse, auch wenn diese Normen Besonderheiten von Tieren gegenüber sonstigen körperlichen Gegenständen teilweise Rechnung tragen (vgl. Obergfell 2016 mwN). Seit der Aufnahme des Tierschutzes in die Verfassung hat der Gesetzgeber keine nennenswerten gesetzlichen Aufwertungen des Tierschutzes im Zivilrecht vorgenommen (Obergfell 2016, 412).
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bietet sich erneut die Auswertung des TierSchG als spezifischer Regelungsmaterie an. Mit Blick auf das pathozentrisch, also auf Empfindungsfähigkeit als moralisch relevantes Differenzierungskriterium ausgerichtete Tierschutzgesetz ist in terminologischer Anlehnung an die menschlichen Grundrechte das Recht auf körperliche Unversehrtheit besonders naheliegend. Als menschliches Rechtsgut umfasst die körperliche Unversehrtheit das Freisein von Schmerzen, Leiden und die Vermeidung von Schäden. Ein solches Rechtsgut für Tiere ist im geltenden Recht mindestens bereits angelegt. Nahezu sämtliche Handlungen an (Wirbel-)Tieren sind an dem bereits oben angesprochenen Dreiklang zu messen (vgl. § 1 S. 2 TierSchG: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.“). Ein Recht auf körperliche Unversehrtheit kann somit als vorrangiges tierliches Rechtsgut basierend auf der derzeitigen Rechtslage bezeichnet werden. Neben der Vermeidung von Schmerzen, Leiden und Schäden ist ein Recht auf körperliche Bewegungsfreiheit denkbar. Wie beim Recht auf körperliche Unversehrtheit könnte man meinen, ein solches Recht wäre – jedenfalls für Tiere, die in menschlicher Obhut leben – im Gesetz bereits angelegt. So lautet § 2 I Nr. 2 TierSchG: „Wer ein Tier hält, betreut oder zu betreuen hat, […] darf die Möglichkeit des Tieres zu artgemäßer Bewegung nicht so einschränken, dass ihm Schmerzen oder vermeidbare Leiden oder Schäden zugefügt werden.“ Die Bewegungsfreiheit ist somit vom Gesetzgeber als schützenswertes Bedürfnis erkannt worden. Allerdings kann dieses soweit eingeschränkt werden, solange keine Schmerzen, Schäden oder Leiden verursacht werden und somit liegt die Grenze erst im bereits diskutierten Recht auf körperliche Unversehrtheit. Ein zusätzlicher Regelungs- bzw. Schutzgehalt eines Rechts auf körperliche Bewegungsfreiheit ist nicht ersichtlich. Die positivrechtliche Einführung eines solchen Rechts ist gleichwohl denkbar, führt aber zu der komplexen Diskussion, ob eine menschliche Haltung von Tieren mit Tierrechten vereinbar wäre oder nicht. Ein Recht auf Bewegungsfreiheit muss einer menschlichen Tierhaltung nicht per se entgegenstehen, denn wie auch alle menschlichen Rechte wären auch tierliche Rechte einschränkbar und somit nicht absolut. Bei der Bewegungsfreiheit stellt sich jedoch anschaulich die Frage, ob eine Ausübung dieser Freiheit einer menschlichen Haltung generell widerspricht und somit inhaltsleer bliebe, da nahezu jede Tierhaltung mit der Bewegungsbeschränkung des Tieres einhergeht. Jedenfalls für einige Tierarten ist es aber denkbar, dass die menschliche Haltung einer tierlichen Bewegungsfreiheit in einem Maße gerecht wird, dass ein eigenständiger Bedeutungsgehalt des Rechts auch in diesem Fall möglich bleibt. So kann eine menschliche Tierhaltung derart großzügig sein (z. B. in einem großen Gehege oder durch regelmäßige Freigänge/-flüge), dass dem Tier eine Beschränkung der Bewegungsfreiheit nicht bewusst ist oder es seinen Bewegungsdrang in artgerechtem Maße ausüben kann. Für Tiere, die in menschlichem Gewahrsam leben, stellt das geltende Recht in § 2 TierSchG noch weitere Regeln auf. So kann, wenn man eine zulässige Tierhaltung nicht im Vorhinein ausschließt, ein Recht auf eine angemessene Versorgung und Unterbringung durch den Menschen bejaht bzw. gefordert werden
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(z. B. „tierliches Existenzminimum“ vgl. Raspé 2013, 189). Bejaht man ein solches Recht, kann dieses als Kehrseite zur bzw. als Preis für die Einschränkung der Bewegungsfreiheit verstanden werden: Für eine gemäßigte Einschränkung der Bewegungsfreiheit wird bei Inobhutnahme eines Tieres diesem im Gegenzeug ein Recht auf Befriedigung seiner Grundbedürfnisse gewährt. Besonders problematisch ist ein tierliches Recht auf Leben. Dies mag zunächst überraschen, scheint das Lebensrecht doch die Grundlage aller weiterführenden Rechte eines Lebewesens zu sein. Genau hierin liegt allerdings auch das Problem. Anders als die zuvor diskutierten Rechte kann ein Recht auf Leben nicht nur teilweise gewährt werden. Bei einer Abwägung mit dem Lebensrecht kann dieses im Einzelfall nur ganz überwiegen oder umfassend zurückstehen: Entweder ein Tier wird getötet oder nicht. Damit ein Recht auf Leben also angenommen werden kann, muss im Regelfall die Abwägungsentscheidung zugunsten des tierlichen Lebens fallen, damit das Rechtsgut einen signifikanten Anwendungsbereich behält. Ein (nahezu) absolutes Lebensrecht würde jedoch dem ganz überwiegenden Teil der heutigen Tierhaltungspraktiken entgegenstehen, die auf Tiernutzung und -vernichtung ausgelegt sind. Ein solches Recht ist daher als eigenständiges Rechtsgut aufgrund der heute zulässigen Tiernutzungspraktiken in der geltenden Rechtslage kaum zu identifizieren. Andererseits lassen die genannten Rechtsvorschriften, insb. § 1 TierSchG und Art. 20a GG, einen gesetzlichen Achtungsanspruch des Tieres erkennen. Der Schutz des Tieres als Mitgeschöpf sowie um seiner selbst willen setzt eine Achtung vor dem tierlichen Leben als Mindestbedingung für den Schutz von Tieren zwangslogisch voraus. Denn wenn das tierliche Leben kein eigenständiges Schutzgut darstellt, fehlt es bereits am Schutzobjekt, einem lebendigen Tier. Beim Rechtsgut Leben offenbart sich daher die Perplexität des tierlichen Rechtsstatus besonders krass: Die notwendige Grundlage für jegliche Rechte von Tieren ist durch die heutige Praxis derart beschränkt, dass es an einem eigenständigen Regelungsgehalt eines selbständigen Rechtgutes fehlt; gleichzeitig implizieren die weiteren und bereits angelegten tierlichen Rechtsgüter zwangslogisch einen indirekten Schutz des tierlichen Lebens.
3.2 Die rechtliche Abwägung tierlicher und menschlicher Interessen Folgt man also der Ansicht, dass tierliche Rechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Bewegungsfreiheit und eine Grundversorgung denkbar sind und grundsätzlich rechtspositivistisch im Recht verankert werden könnten, drängt sich die Folgefrage auf, wie diese Rechte de facto im Konfliktfall mit menschlichen Rechten abzuwägen wären. Rechtstechnisch werden Konflikte zwischen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern durch Herstellung einer praktischen Konkordanz erreicht. Dies erfordert einen Interessenausgleich, wonach kraft möglichst schonenden Ausgleichs nach beiden Seiten hin beiden Rechten im weitest möglichen Sinne zur Durchsetzung verholfen wird (Maunz/Dürig, Art. 20a GG Rn. 66, 80).
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Bei Annahme einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit menschlicher und tierlicher Rechte müsste im Abwägungsfall dem betroffenen Tier der gleiche Schutz zugestanden werden, der einem Menschen in vergleichbarer Konfliktsituation eingeräumt werden müsste, was gravierende Änderungen in der heutigen Tiernutzung bedingen würde. Es gibt vermutlich keine wirtschaftlich motivierte Tierhaltung und auch kaum eine private Heimtierhaltung, die vor diesem Hintergrund noch als zulässig erachtet werden könnte. Eine im Vorhinein deutlich abgestufte Bewertung tierlicher Rechte gegenüber menschlichen Rechten könnte die tierlichen Rechtsgüter hingegen ihrer Schutzwirkung vollends berauben. Ließe man beispielsweise jegliches menschliche Interesse – und seien es bloße Geschmacks- und Unterhaltungsinteressen – selbst das tierliche Recht auf Leben überwiegen, wäre die Auswirkung von Tierrechten nicht existent, da die Vorrangigkeit menschlicher Interessen unabhängig von Rechtsgut und Intensität der Betroffenheit feststünde. Dies verdeutlicht, dass die Bewertung der tierlichen Interessen im Konfliktfall von mindestens genauso großer Bedeutung ist wie die Frage der Tierrechte selbst. Am überzeugendsten ist wohl, eine Vergleichbarkeit tierlicher Interessen insoweit zu bejahen, als dass eine Vergleichbarkeit der betroffenen Rechtsgüter anzunehmen ist. Soweit die Schmerzempfindlichkeit eines Tieres mit der eines Menschen vergleichbar ist, kann ein Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit beim Tier also nur gerechtfertigt werden, soweit die Schmerzverursachung auch bei einem Menschen aus den gleichen Gründen zu rechtfertigen wäre (Raspé 2013, 236). Folgt man der These, dass zu kodifizierende Tierrechte gleichberechtigt mit menschlichen Rechten im Konfliktfall abzuwägen sind, liegt es nahe, diese Rechte auch dogmatisch mit einem neuen Rechtsstatus der Tiere zu verknüpfen.
3.3 Tiere als Rechtspersonen So gibt es erste konkrete Forschungsansätze von Juristen, die Tiere aus den Rechtsobjekten zu lösen und dem Tier einen eigenen Rechtsstatus zu verleihen. Das Tier könnte wie Menschen als natürliche Person klassifiziert werden oder, eine eigene Rechtskategorie erhalten, die zwischen Objekten und Subjekten angesiedelt ist (Obergfell 2016, 413) oder könnte durch Kreierung einer dritten Rechtspersönlichkeit, z. B. als sog. tierliche Person, neben den natürlichen und den juristischen Personen stehen (Stucki 2012; Raspé 2013, 308 ff.). Gerade im Vergleich mit den bestehenden Rechtspersonen zeigt sich, dass die Begründung von Rechten entweder einem moralischen Diktat entspringen kann, so bei den natürlichen Personen, oder aber schlicht eine rechtstechnische Entscheidung sein kann, wie bei den juristischen Personen. Beide Wege können zur Begründung einer Rechtspersönlichkeit für Tiere herangezogen werden: Zum einen nimmt die Forderung nach moralischen Rechten für Tiere zu, zum anderen wäre die Begründung einer Rechtsperson im positiven Recht durch eine schlichte Gesetzesänderung bzw. Grundgesetzänderung auch weitgehend unabhängig von der ethischen Diskussion möglich. Rechtstechnisch ist es denkbar, die tierliche
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Rechtsperson im Zivilrecht oder direkt in der Verfassung zu verankern. Hierzu gibt es vereinzelt erste Formulierungsvorschläge (Raspé 2013, 318 ff.; Grundrechte für Menschenaffen 2014). Natürlich wirft die positivrechtliche Einführung von Tierrechten grundsätzliche Fragen und auch vielfache Kritik auf. Drei Kernprobleme sollen im Folgenden kurz beleuchtet werden: die Pflichtfähigkeit, die Eigentumsfähigkeit sowie die Grenzziehung der neuen Kategorie.
3.3.1 Pflichtfähigkeit von Tieren als notwendige Bedingung So wird gegen die Rechtsfähigkeit von Tieren regelmäßig die der philosophischen Diskussion entspringende Symmetriethese hervorgebracht: Danach können Tiere grundsätzlich keine eigenen Rechte haben, weil sie keine Pflichten tragen können. Das Recht basiere jedoch gerade auf der Fähigkeit sich gegenseitig verpflichten zu können, also könnten Rechte nur als Reaktion auf Pflichten erwachsen (Schmidt 1996, 53 ff.; siehe Gary Steiner in diesem Band). Dieses Argument kann auch in der juristischen Diskussion mit dem sog. marginal cases argument entkräftet werden. Laut § 1 BGB ist jeder Mensch mit Abschluss seiner Geburt rechtsfähig. Mit der Rechtsfähigkeit geht aber nicht die jeweilige Pflichtfähigkeit einher, die sich im deutschen Rechtssystem in Geschäfts-, Delikts- oder Straffähigkeit untergliedern lässt. Diese Formen der Pflichtfähigkeit erlangen alle Menschen erst mit mindestens 7 Jahren bzw. – je nach Kategorie und geistiger Reife mit 10, 14, 18 oder 21 Jahren (§§ 104, 828 BGB); in einigen Fällen auch niemals oder sie verlieren diese im Laufe ihres Lebens wieder (so wie Komapatienten, geistig schwer behinderte Menschen usw.). Dies zeigt, dass auch beim Menschen die Symmetriethese in vielen Fällen nicht erfüllt ist. Einige Menschen sind dauerhaft und alle Menschen jedenfalls zeitweise aus dem Pflichtenkreis des menschlichen Gesetzes ausgeschlossen und somit unfähig, Pflichten zu tragen. Dies wirft schon die Frage auf, ob diese noch als Ausnahmen, also marginal cases, bezeichnet werden können. Jedenfalls verdeutlicht dies, dass die Pflichtfähigkeit nicht die Grenze zwischen Rechtsobjekten und Rechtssubjekten im Recht beschreibt, sondern dass diese derzeit allein an der ethisch hochproblematischen Speziesgrenze zwischen Tier und Mensch entlang verläuft. 3.3.2 Die Eigentumsfähigkeit von Tieren Umstritten ist weiterhin, wie sich die Kategorisierung als Rechtsperson auf die Eigentumsfähigkeit von Tieren auswirken würde, ob also Menschen weiterhin Eigentum an Tieren begründen könnten. Aufgrund der Zweiteilung des Rechts ist die Eigentumsfähigkeit mit dem Innehaben eigener Rechte nach überwiegender Meinung nicht vereinbar (statt vieler: von Loeper/Reyer 1984, 208; Korsgaard 2012, 25). Beim Menschen wird eine Objektivierung als Würdeverstoß qualifiziert. So stellt die Herabwürdigung des Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns basierend auf Kants Sittenlehre nach ständiger Rechtsprechung eine Verletzung der Menschenwürde dar (z. B. BVerfGE 87, 209, 228). Somit widerspräche es der Menschenwürde, wenn ein Mensch im Eigentum eines anderen Menschen stehen könnte.
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Fraglich ist, ob man dies auch bei Tieren nach Erlangung der Subjektqualität bejahen müsste oder ob eine Andersbehandlung in dieser Frage denkbar und vertretbar wäre. Es lässt sich argumentieren, dass das Eigentumsrecht für Tiere zunächst ohne Belang ist, da sie weder selbst von diesem anthropozentrischen Rechtskonzept ersichtlich profitieren würden, noch ersichtlich ist, dass die Tatsache, jemandes Eigentums zu sein allein, bereits eine Verletzung der oben beschriebenen Rechtsgüter darstellen würde (Raspé 2016, 316). Ob eine mögliche Tierwürde durch die Eigentumsfähigkeit verletzt wäre, ist fraglich und hängt stark von der Ausgestaltung eines tierlichen Würdekonzeptes ab, welches für Tiere aus verschiedenen Gründen meines Erachtens nicht notwendig ist (Raspé 2016, 301). Allerdings lässt sich nicht leugnen, dass die Bejahung der Eigentumsfähigkeit an tierlichen Personen dieser neuen Rechtsperson wieder eine objektrechtliche Komponente hinzufügen würde, was die kritisierte Zwitterstellung des Tieres teilweise beibehalten würde.
3.3.3 Die „richtige“ Grenzziehung Hält man die Speziesgrenze zwischen Tier und Mensch für die Rechtssubjektivität nicht mehr für tragbar, stellt sich die Anschlussfrage, wohin diese Grenze zu verschieben wäre, welche Tiere also Rechtspersonen werden sollen. Verschiedene Ansatzpunkte werden hierzu diskutiert: Erstens könnten Rechtspersonen solche Tiere sein, die nach dem aktuellen Forschungsstand als intelligent, selbstbewusst oder autonom gelten (Delfine, Menschenaffen usw., vgl. Wise 2013), zweitens könnte man lediglich Haustiere, die mit dem Menschen in Gemeinschaft leben und dem Menschen moralisch hierdurch besonders nahe stehen, in den Kreis der Rechtsträger aufnehmen (z. B. Gruber 2006, 117). Drittens und überwiegend wird bezugnehmend auf die Schmerzfähigkeit im Sinne eines pathozentrischen Tierschutzbildes die Aufnahme aller schmerzempfindlichen Tiere bzw. Wirbeltiere in den Kreis der Rechtsträger diskutiert (Stucki 2012, 159). Viertens ist es ebenso denkbar, allen Tieren oder gar Lebewesen eine Rechtspersönlichkeit z uzusprechen. Im Lichte der bestehenden wissenschaftlichen Unsicherheiten wird unter dem Schlagwort „in dubio pro persona/animalia“ teilweise eine möglichst weitreichende Fassung der tierlichen Person im Zweifelsfall gefordert (Gruber 2006, 117; Stucki 2012, 157; Raspé 2013, 152). Dennoch bedarf es im Sinne der Rechtssicherheit klar definierter und justiziabler Grenzen. Auch eine schrittweise Erweiterung des Rechtsstatus zunächst bezüglich einzelner Tierarten ist denkbar und steht einer möglichen zukünftigen Erweiterung des Rechtsstatus auf weitere Tiere nicht entgegen. Deutlich wird, dass die meisten der Neukategorisierungsvorschläge eine Bewertung der tierlichen Eigenschaften und Fähigkeiten (wie Intelligenz, Selbstbewusstsein, Schmerzfähigkeit usw.) erfordern und somit die Frage der Rechtsfähigkeit nur in enger Zusammenarbeit mit anderen Forschungsdisziplinen wie z. B. der Biologie, Zoologie, Kulturwissenschaften und Anthropologie vertretbar erfolgen kann, um eine erneute Willkürentscheidung hinsichtlich der Rechtssubjektivitätsgrenze bestmöglich zu vermeiden.
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4 Aktuelle Rechtspraxis Die soeben dargestellten Forschungsansätze zu Tierrechten bzw. zur Verbesserung des Tierwohls in Deutschland – insbesondere auf internationaler Ebene (Peters 2016) – stecken derzeit noch in den Kinderschuhen. Eine Bestandsaufnahme zum Tier im Recht darf daher die aktuelle Rechtspraxis, die noch meilenweit von solchen rechtstheoretischen Forschungsansätzen entfernt ist, nicht ignorieren.
4.1 Exekutive So liegt das Hauptproblem der aktuellen Tierhaltung und Tier-Mensch-Beziehung nicht einmal in mangelhaften Tierschutzgesetzen oder fehlenden Tierrechten, sondern in der mangelnden Anwendung und Durchsetzung der bereits vorhandenen Gesetze. Die Defizite in der Rechtsdurchsetzung offenbaren sich besonders in der Intensivtierhaltung, wenn Tiere also nicht als Haustiere und Individuen gehalten werden, sondern große Tierbestände aus ökonomischen Gründen und bloßes Mittel zum Zweck gehalten werden. Dies führt zu dem Vorwurf: „[w]er eine Tierquälerei begeht, wird bestraft, wer sie tausendfach begeht, bleibt straflos und kann sogar noch mit staatlicher Subventionierung rechnen.“ (Bülte 2018, 35; Ders. 2019, 19). Ist dieser Vorwurf berechtigt? Prinzipiell muss gerade die wirtschaftliche Tiernutzung von staatlichen Stellen genehmigt oder jedenfalls gelegentlich überprüft werden. Tierversuche sind genehmigungspflichtig und auch Stallungen für wirtschaftliche Nutztierhaltung bedürfen baurechtlicher Genehmigungen, welche auch Tierschutzbelange in die Zulässigkeitsprüfungen einbeziehen. Nach erfolgter Genehmigung sollen die Haltungsbedingungen durch die Veterinärämter – ohne Vorankündigung – überwacht werden. (Art. 3 II der EU-Verordnung (EG) Nr. 882/2004). Auflagen, Nebenbestimmungen bzw. Aufhebungen solcher Genehmigungen oder beschränkende Verwaltungsakte beschäftigen zudem im Streitfall die Behörden und Gerichte. Dass Verstöße gegen die geltenden Tierschutzgesetze dennoch nur selten geahndet werden, resultiert aus organisatorischen, rechtspolitischen und prozessualen Defiziten. Aus organisatorischer Sicht sorgt eine gefährliche Kombination von Personalmängeln in Veterinärämtern und Staatsanwaltschaften, mangelnden Kontrollen,4 von einer fehlenden Prestigeträchtigkeit der Verfolgung von Tierschutzverstößen und einer starken Agrarlobby zu einer fatalen Kombination, die durch einen problematischen Aufbau des Kontrollapparates verstärkt wird. Es gibt vermehrt
4Bereits
rein statistisch liegt das durchschnittliche Kontrollintervall je Betrieb in Deutschland bei 22,5 Jahren (in Bayern bei gut 48 Jahren und mit Ausnahme von Berlin nirgends unter 7 Jahren); vgl. BT-Drs. 19/3195, 3.7.2018, 6 (vgl. auch Martinez 2016, 463).
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Hinweise, dass Kontrollen nicht nur gesetzeswidrig angekündigt, sondern schlicht nicht durchgeführt bzw. die Prüfer von den Landwirten oder den vorgesetzten Landratsämtern unter Druck gesetzt werden (Heckendorf 2018). Behörden scheinen auch bei eklatanten Verstößen oft untätig zu bleiben oder lediglich zur Beseitigung von Missständen aufzufordern – ohne Strafen zu verhängen.5 Zu diesen organisatorischen Problemen gesellen sich außerdem prozessuale Vollzugsdefizite. So besteht bis heute ein prozessuales Ungleichgewicht zuungunsten der Tiere. Im deutschen Verwaltungsrecht, zu dem auch das Tierschutzrecht gehört, gilt der Grundsatz, dass nur diejenige Person Klage erheben darf, die eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen kann (vgl. Klagebefugnis gem. § 42 II der Verwaltungsgerichtsordnung). Mangels eigener Rechte sind Tiere – oder für diese benannte Vertreter – somit grundsätzlich nicht antragsoder klagebefugt. Dies führt zu einem Ungleichgewicht der Kräfte zwischen Tierhaltern und den Tieren selbst. Denn es kann nur gegen ein „Zuviel“ an Tierschutz geklagt werden – nämlich vonseiten der Tierhalter, die sich gegen tierschutzrechtliche Beschränkungen wehren können – nicht aber gegen ein „Zuwenig“ an Tierschutz. Dies bedingt die sogenannte Waffenungleichheit im Tierschutzrecht. Die Staatsanwaltschaften müssen erst tätig werden, wenn die hohe Schwelle einer Straftat (§ 17 TierSchG) erreicht ist. Auch fehlt jedenfalls in Deutschland bislang eine Stelle, die in solchen von Tierhaltern angestrengten Verfahren die Interessen der Tiere – etwa in Form von Tieranwälten oder Tierschutzombudspersonen – geltend machen kann.6 Um diesem Ungleichgewicht zu begegnen wird seit Jahren ein bundesweites Verbandsklagerecht für anerkannte Tierschutzvereine – wie es im Umweltrecht bereits besteht – diskutiert; alle Gesetzgebungsinitativen diesbezüglich sind bislang gescheitert. Das Verbandsklagerecht wurde inzwischen in acht Bundesländern eingeführt (BW, BR, HH, NRW, Rh-P, SA, S-H, Nds.), jedoch lief es kürzlich in NRW nach einer fünfjährigen Gültigkeit mangels Verlängerung bereits wieder aus. Die Anwendungsfälle der Verbandsklage auf Landesebene sind bislang eher gering (Paefgen/Raspé 2019), so dass hiermit jedenfalls der häufig geäußerte Einwand der Klageflut entkräftet werden kann. Vertritt man die oben dargelegte These, wonach Tiere selbst Träger von Rechten sind bzw. sein können, ist rechtstechnisch – im Gegensatz zur Verbandsklage als Popularklage, die gerade keine Geltendmachung individueller Rechte fordert – auch eine Prozessstandschaft (Caspar 1999, 519) oder ein Vertretermodell denkbar. Unabhängig von der genauen Ausgestaltung eines Klagerechts für Tiere bleibt
5Bundesweit bestanden im Jahr 2017 nur 11 % der verhängten Sanktionen in der Einleitung eines Ordnungswidrigkeits- oder Strafverfahrens. In allen übrigen Fällen wurde Gelegenheit zur Beseitigung gegeben (BT-Drs. 19/3467, 18.7.2018, 3). 6Solche Modelle wurden in anderen Ländern schon getestet (z. B. der Tieranwalt im Kanton Zürich, Tierschutzombudsstellen in Österreich) und waren erfolgsversprechend (Goetschel 1994).
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unbestreitbar, dass eine Verbesserung der Durchsetzung von Tierinteressen ein solches Instrument erfordert.
4.2 Judikative Auch die aktuelle Rechtsprechung hat dem durch Art. 20a GG vollzogenen dogmatischen Wandel bislang nur vereinzelt Rechnung getragen. In vielen Gerichtsentscheidungen wurde weiterhin den menschlichen Interessen meist klar der Vorrang vor den tierlichen Interessen gewährt, wie sich an wenigen Beispielen illustrieren lässt: Im Tierversuchsrecht wurden noch im Jahr 2012 stark invasive Affenversuche zur Gehirnaktivität von Affen für zulässig erklärt (VG Bremen, Urteil vom 28.05.2010, Az. 5 K 1274/09; OVG Bremen, Urteil vom 11.12.2012, Az. 1 A 180/10), indem die Gerichte wissenschaftsbezogene Genehmigungsvoraussetzungen der vollen behördlichen und gerichtlichen Kontrolle entzogen und dem Antragsteller als Wissenschaftler übertrugen, so dass gerade keine gerichtliche Überprüfung der Abwägung von wissenschaftlichen Forschungsbelangen und dem Tierschutz stattfinden konnte. Gerade hierfür war jedoch Art. 20a GG eingeführt worden. Zudem entschieden die Gerichte im Zweifelsfall hinsichtlich der tierlichen Leiden zulasten der Tiere und behaupteten, dass ethische Erwägungen wie die Sozialmoral nicht in die Abwägung einbezogenen werden könnten (Raspé 2016). Auch zehn Jahre nach der Verfassungsänderung war somit die intendierte Abwägbarkeit von Tierschutz mit der Wissenschaftsfreiheit noch nicht in der Rechtsprechung angekommen. Die bereits angesprochene neuste Entscheidung des BVerwG zur Kükentötung zeigt eine ähnliche Entwicklung. Die Instanzgerichte hatten zunächst den wirtschaftlichen Interessen großes Gewicht beigemessen und die Tiertötung als gegenwärtig alternativlos bezeichnet.7 Durch diese Aufwertung der Wirtschaftlichkeit im Rahmen des „vernünftigen Grundes“ haben die Gerichte den ethischen Tierschutz stark geschwächt (Stucki 2016). Überzeugen kann diese Argumentation nicht, da sich bereits aus § 1 TierSchG ergibt, dass der Tierschutz rein wirtschaftlichen Interessen vorgehen muss, um nicht völlig „aus den Angeln gehoben“ zu werden (OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.09.1984 – 5 Ws 2/84; BVerfG 101, 37). Dies hat die Entscheidung des BVerwG nur teilweise geradegerückt, indem es explizit feststellte: „Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten.“ Allerdings hat das BVerwG durch die vorübergehende Erlaubnis der Praxis, die auch nicht zeitlich befristet ist, im Ergebnis doch argumentiert, dass derzeit ein Überwiegen der menschlichen
7Laut
verschiedener Umfragen würde die Aufzucht der männlichen Küken den Eierpreis um vier Cent pro Stück erhöhen, 52 % der Konsumenten wären bereit, sechs Cent und mehr zu zahlen (Verbraucherzentrale NRW 2017).
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Wirtschaftsinteressen – aufgrund eines bestehenden Vertrauensschutzes – noch gegeben sei.8 Nichtsdestotrotz lassen sich auch in der Rechtsprechung erste Veränderungen zugunsten des Tierschutzes feststellen: So hat der BGH im April 2018 entschieden, dass von Tierrechtsaktivisten illegal erstellte Filmaufnahmen aus Biohühnerställen, die evidente Tierschutzverletzungen dokumentieren, nicht nur von der Meinungsfreiheit umfasst sein können, sondern auch das Interesse an deren Verbreitung die Eingriffe in das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb der Stallbetreiber überwiegen kann, wenn die Darstellungen wahrheitsgetreu und nicht verleumdend sind (BGH, Urteil vom 10.04.2018, Az. VI ZR 396/16). Eine wichtige Aussage für den Tierschutz traf der BGH nebenbei, wonach die Beklagte durch Verbreitung der Filmaufnahmen „einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage geleistet“ hat. Das OLG Naumburg hat im Mai 2018 in einem ähnlichen Fall entschieden, dass das unberechtigte Einsteigen in Ställe zur Erlangung von Beweismaterial bezüglich tierschutzwidriger Haltungsbedingungen als Notstandshandlung zu werten war und somit kein rechtswidriger Hausfriedensbruch vorlag (OLG Naumburg, Urteil vom 09.05.2018, Az. 2 Rv 157/17).9 Interessant im Lichte der oben dargestellten Rechtsgutdiskussion waren vor allem die Feststellungen des Gerichts, dass die Angeklagten ihre Taten „in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für ein anderes Rechtsgut begangen haben, um die Gefahr abzuwenden“. Somit hat es explizit klargestellt, dass der Tierschutz ein schützenswertes Rechtsgut im Sinne des Notstandsrechtes gemäß § 34 des Strafgesetzbuches darstellt, das verfassungsmäßig in Art. 20a GG verankert ist. Daneben stellte das Gericht explizit fest, dass die Beschaffung der Beweismittel auch notwendig war, da der Landkreis „nicht unerhebliche tierschutzwidrige Zustände gedeckt hat“ und somit die Vollstreckungsdefizite anerkennt und zur Rechtfertigung heranzieht. Zunehmend lässt sich außerdem beobachten, dass sich nicht nur Bürger für den Tierschutz engagieren, sondern auch staatliche Akteure die Gerichte anrufen. So hat
8Dennoch bleibt zu hoffen, dass von der Entscheidung eine positive Folgewirkung ausgeht, da sie den Eigenwert des tierlichen Lebens und den Verfassungsrang des Art. 20a GG, welcher menschliche Grundrechte einschränken kann, explizit betont hat. In der offiziellen Begründung des Urteils (BVerwG Urt. von 13.6.2019 – 3 C 28.16, BeckRS 2019, 20524, beck-online) heißt es: „Als Belang von Verfassungsrang ist der Tierschutz im Rahmen von Abwägungsentscheidungen zu berücksichtigen und kann geeignet sein, ein Zurücksetzen anderer Belange von verfassungsrechtlichem Gewicht – wie etwa die Einschränkung von Grundrechten – zu rechtfertigen“ (Rz. 20) und „Eine derartige Verfahrensweise widerspricht in fundamentaler Weise dem ethisch ausgerichteten, das Leben als solches einschließenden Tierschutz, wie er dem Tierschutzgesetz zugrunde liegt. Dem Leben eines männlichen Kükens aus Legelinien wird jeder Eigenwert abgesprochen.“ (Rz. 25). 9Die Rechtsprechung hinsichtlich solcher Stallbetretungen ist jedoch nicht einheitlich. In einem ähnlich gelagerten Fall nahm das OLG Stuttgart (Beschluss vom 4.9.2018, Az. 2 Rv 26 Ss 145/18) einen Hausfriedensbruch an und verneinte eine Notstandssituation, da nur „in der Hoffnung“ auf das Vorfinden von Tierschutzverstößen in den Stall eingedrungen worden sei.
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der Berliner Senat beschlossen, die geltende Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung bezüglich der Haltung von Schweinen dem BVerfG vorzulegen, da diese gemäß eines von Greenpeace in Auftrag gegebenes Rechtsgutachtens – insbesondere wegen der begrenzten Stallmindestgröße – gegen das TierSchG sowie Art. 20a GG verstößt. (Berliner Senatskanzlei 2017; Greenpeace und Rechtsanwälte Günther 2017). Die Entscheidung des BVerfG steht noch aus.
5 Ausblick Die voranstehenden Überlegungen zeigen, dass die rechtswissenschaftliche Praxis und Theorie jeweils in sich, aber auch in Bezug aufeinander noch zahlreiche Lücken und Widersprüche aufweisen. Bereits in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Stellung des Tiers im Recht werden nur langsam Fortschritte in Richtung einer Besserstellung bzw. Emanzipation der Tiere gemacht und auch wenn diese zu begrüßen sind, verbreitern sie derzeit den großen Graben zur Rechtspraxis, die weiterhin daran krankt, das geschriebene Recht – mit Tieren als schutzwürdigen Rechtsobjekten – hinreichend um- und durchzusetzen. Auf beiden Ebenen gibt es daher großes Verbesserungspotential, das ganz unterschiedliche Maßnahmen erfordert. Dabei sollte auch nicht geleugnet werden, dass die rechtstheoretischen Ansätze zu Tierrechten in naher Zukunft keine absehbare Aussicht auf erfolgreiche Umsetzung haben, so dass solche Forderungen teilweise auch als „political non-starter“ (Peters 2016, 387) und somit kontraproduktiv für die Verbesserung der konkreten Lebensbedingungen von Tieren in der Praxis bezeichnet werden. Kurzfristige Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingung von Tieren sollten sicherlich nicht mit Blick auf einen denkbaren Rechtsstatus in unbestimmter Zukunft aufgeschoben werden. Nichtsdestotrotz ist auch die Fortführung der rechtstheoretischen Diskussion dringend notwendig und zu begrüßen, da nur dies die notwendige Akzeptanz in der Gesellschaft vorantreiben und unterstützen kann. Aufgrund der unbestreitbaren Internationalität des Themas sollten die rechtliche Diskussionen zudem zunehmend auch auf internationaler Ebene geführt werden, um zukunftsfähig zu sein (Peters 2016, 376 f.). Dieser Diskussionsprozess im Recht muss flankiert sein durch die Einbeziehung von und den Austausch mit den anderen Disziplinen, um im Recht – welches von jeher in seiner Entwicklung durch die ethischen Grundvorstellungen seiner Bürger geprägt und weiterentwickelt wurde – ein neues Tier-Mensch-Verhältnis zu etablieren.
Literatur Berliner Senatskanzlei: Prüfung bundesrechtlicher Vorschriften: Schweine brauchen Platz, Pressemitteilung vom 26.09.2017, https://www.berlin.de/rbmskzl/aktuelles/pressemitteilungen/2017/ pressemitteilung.634010.php (03.07.2019).
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Politische Gerechtigkeit für Tiere Bernd Ladwig
1 Das aristotelische Gegenstandsverständnis Von einem political turn der Tierethik ist erst neuerdings die Rede. Jedoch war diese für ihre politische Bedeutung von Anfang an nicht blind. Bereits Peter Singer und Tom Regan, die Pioniere der philosophischen Tierethik, haben politisch konnotierte Konzepte wie „Befreiung“, „Rechte“ und „Gerechtigkeit“ gebraucht und auf die Wichtigkeit öffentlicher Bewusstseinsbildung, kollektiven Handelns und neuer Gesetze hingewiesen (Singer 1990; Regan 2004). In diesem allgemeinen Sinne hatte die Tierethik eine politische Wende nie nötig. Bemängeln ließe sich allenfalls, dass die traditionelle Tierethik nur sehr allgemein an Begriffe und Begründungen der politischen Philosophie anknüpfte. Sie hat sich nicht detailliert dazu geäußert, ob und wie wir bestehende Institutionen, Strukturen und Prozesse verändern müssten, um Gerechtigkeit für Tiere zu verwirklichen (Cochrane/Garner/O’Sullivan 2018). Dazu hätte die Tierethik systematischer den Austausch mit der politischen Philosophie suchen müssen, die eben solche Institutionen, Strukturen und Prozesse am Leitfaden von Prinzipien beurteilt. Doch für das Fehlen eines solchen Austausches gibt es einen Grund, der weniger mit dem Zustand der Tierethik als mit demjenigen der politischen Philosophie zu tun hat. Diese ist bis heute eine besonders anthropozentrische Abteilung praktischer Theoriebildung geblieben. Das liegt wesentlich an dem auf Aristoteles zurückgehenden Gegenstandsverständnis des Faches (ähnlich Donaldson/Kymlicka 2015). Der Mensch ist demnach das einzige politische Tier: Nur er ist zu öffentlichem Handeln fähig oder
B. Ladwig (*) FU Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_10
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auch verpflichtet. Außerdem kann nur der Mensch ein Vollmitglied der Gemeinwesen sein, die wir durch kollektives Handeln hervorbringen. Und nur sein Los zählt, wenn wir über Gemeinwohl und Gerechtigkeit befinden. In den mehr als zwei Jahrtausenden seit Aristoteles ist nicht so sehr dieser dreifache Anthropozentrismus in Zweifel gezogen worden; verändert hat sich vor allem die Vorstellung politisch beachtlichen Menschseins, die ihm zugrunde liegt. Diese Vorstellung ist immer inklusiver und egalitärer geworden, mit dem vorläufigen Höhepunkt eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts, das allenfalls noch unmündige Menschen sowie Schwerverbrecher ausschließt. Mit Blick auf die Speziesgrenze wird heute in der politischen Philosophie aber auch das anthropozentrische Gegenstandsverständnis selbst hinterfragt. Der kleinste gemeinsame Nenner der Kritik ist die Aufwertung des Tierwohls zu einer Sache von öffentlicher Bedeutung. Manche Philosophen treten außerdem dafür ein, zumindest gezähmte und gezüchtete Tiere als gleichberechtigte Mitglieder unserer Gemeinwesen anzuerkennen. Noch weiter geht der Vorschlag, Tiere als politische Akteure zu betrachten, die aktiv an der Ausgestaltung unserer – und ihrer – Gemeinwesen mitwirkten. Das sind deutlich verschiedene Grade der Radikalität, mit der sich das anthropozentrische Gegenstandsverständnis anfechten lässt. In diesem Text werde ich mich auf den ersten Schritt beschränken, dabei aber die Beachtung des Tierwohls als eine Sache der Gerechtigkeit ansehen. Ich werde dazu zunächst John Stuart Mills Begriff der Gerechtigkeit auf Mensch-Tier-Beziehungen übertragen. Im Zentrum dieses allgemeinen Gerechtigkeitsverständnisses stehen starke und staatlich erzwingbare Rechtspflichten. Eine weitergehende Frage lautet, ob manche Tiere auch spezielle Ansprüche sozialer Gerechtigkeit gegen uns haben, weil sie in besonderen politisch bedeutsamen Assoziationsverhältnissen zu uns stehen. Als politisch bedeutsam kommen vor allem Beziehungen institutionalisierter Zusammenarbeit sowie der Unterwerfung unter einen Zwang in Frage. Wir müssen allerdings das maßgeblich auf Rawls zurückgehende Kooperationskriterium abschwächen, um es auf unser Verhältnis zu Tieren übertragen zu können. Und selbst dann dürfte weniger die Kooperation als vielmehr die Unterwerfung unter einen Zwang für assoziative Gerechtigkeitspflichten gegenüber Tieren maßgeblich sein. Auf die Debatte, ob wir Tiere überdies als Mitglieder unserer Gemeinwesen oder gar als politische Akteure anerkennen sollten, werde ich nur mehr ausblickshaft eingehen. Die hier verhandelten Fragen finden eine Entsprechung in einem breiteren Forschungstrend. Unter dem Titel Human-Animal Studies finden spezies-gemischte Lebensformen inzwischen in verschiedenen Fächern wie Soziologie, Theologie, Kunstgeschichte, Linguistik, Geschichts- und sogar Rechtswissenschaft Beachtung (DeMello 2010, 2012; Spannring u. a. 2015a, b). Die Human-Animal Studies besitzen zwei Besonderheiten: Sie betrachten Mensch-Tier-Beziehungen als grundlegende Analyseeinheit; und sie trauen Tieren auch aktive Rollen in diesen Beziehungen zu. Ihr Tun sei mitkonstitutiv für unser Selbstverständnis, unsere Geschichte(n) und unsere Gesellschaftsformen. Dieser
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Grundüberzeugung folgt auch die politische Philosophie, wenn sie politisch bedeutsame Beziehungen zwischen Menschen und Tieren identifiziert, um daraus Schlüsse für unser Gerechtigkeitsverständnis zu ziehen. In diesem Sinne sind die folgenden Überlegungen als normativer Beitrag der politischen Philosophie zu den Human-Animal-Studies zu verstehen.
2 Allgemeine Gerechtigkeit für Tiere Die bis heute sichtbarste und auch praktisch folgenreichste Relativierung des Anthropozentrismus betrifft die Rolle des Tierwohls in öffentlichen Rechtfertigungen. Dessen Beachtung ist inzwischen in vielen Demokratien gesetzlich oder sogar verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Ein Beispiel bildet die Staatszielbestimmung Tierschutz im deutschen Grundgesetz; ein weiteres, dem Wortlaut nach noch ambitionierteres, die Garantie einer „Würde der Kreatur“ durch die Schweizerische Bundesverfassung. Doch so begrüßenswert dieser Fortschritt im Prinzip ist, so begrenzt bleibt er in der Praxis. Normen wie das Verbot von Leidzufügung und Tötung „ohne vernünftigen Grund“1 sollen die Nutzung von Tieren als Ressourcen regeln, ohne sie aber grundsätzlich in Frage zu stellen. Das liegt wesentlich daran, dass sie die Klausel des „vernünftigen Grundes“ nicht moralisch qualifizieren. Diese wird so zum Einfallstor für alle möglichen menschlichen Interessen und Vorlieben diesseits selbstzweckhafter Quälerei. Das wohl Wertvollste an den gesetzlichen Tierschutzbestimmungen ist darum, dass sie die Rechtfertigungspflichten verschieben und die Bedingungen immanenter Kritik verbessern. Das stärkste Vokabular, das der politischen Philosophie für eine solche Kritik zur Verfügung steht, ist das der Gerechtigkeit. Es dient dazu, besonders dringliche, verbindliche und auch staatlich erzwingbare Ansprüche auszuzeichnen (Garner 2013, 49). Dies zumindest ist die Grundbedeutung von „Gerechtigkeit“, wie sie klassisch aus John Stuart Mills Schrift Der Utilitarismus hervorgeht.2 Für Mill sind Pflichten der Gerechtigkeit regelrechte Rechtspflichten. Mill definiert sie als vollkommene Pflichten, denen Rechte ganz bestimmter anderer entsprechen (Mill 1976, 86 f.). Im negativen Fall folgt daraus, dass das Unrecht der Gerechtigkeit immer einen ganz bestimmten anderen (be-)trifft. Das unterscheidet es von einem moralischen Fehler wie mangelndem Wohlwollen. Auch das Wohlwollen sollten wir zwar generell kultivieren; es ist Gegenstand einer Tugendpflicht im Sinne Kants. Doch die Erfüllung dieser Pflicht ist keinem ganz bestimmten anderen zu einer ganz bestimmten Zeit in einer ganz bestimmten Ausprägung geschuldet. Und soweit das Wohlwollen vielleicht doch zu einer geschuldeten Leistung wird, wie
1So
die Formulierung in §1 des Deutschen Tierschutzgesetzes. (Tierschutzgesetz vom 24.07.1972 in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.05.2006 [BGBl. I 1206, 1313], zuletzt geändert durch Artikel 4 Absatz 90 des Gesetzes vom 07.08.2013[BGBl. I 3154]). 2Mill 1976. Die Gerechtigkeit ist Gegenstand des fünften Kapitels.
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im Falle von sozial, sachlich und zeitlich genau bestimmten Hilfspflichten, verwandelt es sich eben dadurch in ein Gebot der Gerechtigkeit.3 Zugleich vertritt Mill eine auf Gefühle gestützte Sanktionstheorie der Moral. Mit dieser hängen ein zweites und ein drittes Begriffsmerkmal der Gerechtigkeit zusammen: Die Erfüllung ihrer Pflichten sollte erzwingbar sein, und eine Verletzung rechtfertige grundsätzlich eine Bestrafung. Zum Gerechtigkeitskonzept gehört darum Mill zufolge auch der Wunsch nach Vergeltung für Normverletzungen. Wer eine Gerechtigkeitsnorm verletzt glaube, neige zur Empörung über die vermutete Normverletzerin. Auch würde es uns prinzipiell immer befriedigen, die Norm notfalls mit Zwang durchgesetzt zu sehen – wiewohl wir wissen (sollten), dass die staatliche Erzwingungskompetenz an normative und tatsächliche Grenzen stößt: Glauben wir, daß jemand der Gerechtigkeit nach verpflichtet ist, etwas zu tun, pflegen wir zu sagen, daß man ihn zwingen sollte, es zu tun. […] Sehen wir, daß es unklug wäre, die Pflicht durch die Gesetze erzwingen zu wollen, finden wir dies bedauerlich und halten es für ein Übel, daß die Ungerechtigkeit straflos ausgeht; wir versuchen, dafür Ersatz zu schaffen, indem wir den Schuldigen die eigene und die allgemeine Mißbilligung seines Tuns ausdrücklich spüren lassen. (Mill 1976, 83 f.)
Die Wichtigkeit dieser letzten Einschränkung liegt gerade für unser Verhältnis zu Tieren auf der Hand. Hier ist die Grenze staatlicher Erzwingungsmöglichkeiten zwar keine moralisch-prinzipielle: Soweit Tiere ebenfalls Rechte haben, denen vollkommene Pflichten entsprechen, ist grundsätzlich nicht einzusehen, warum wir sie nicht ebenso mit Zwang bewehren sollten wie die Menschenrechte auch. Ganz offenbar wäre aber ein gesetzlicher Zwang, um eine vegetarische oder gar vegane Lebensweise durchzusetzen, heute überall auf der Welt bestenfalls vergeblich.4 Ohne eine kulturelle Revolution in unseren Einstellungen zu Tieren werden sich deren Ansprüche jedenfalls mit demokratischen Mitteln nicht umfassend verwirklichen lassen. Bis auf weiteres werden wir daher mit dem zweitbesten Mittel moralischer Empörung auskommen und auf öffentliche Überzeugungsbildung setzen müssen. Haben aber Tiere überhaupt Rechte, und sei es zunächst nur im moralischen Sinne? Ein moralisches Recht ist ein allgemein und unparteiisch begründeter Anspruch eines Individuums, das um seiner selbst willen von moralischen Akteuren Schonung und Schutz oder auch Hilfe und Fürsorge erwarten darf. Ein moralisches Recht kann ein Grund dafür sein, vom Gesetzgeber zu verlangen, es auch im Rahmen der Rechtsordnung und durch die Staatsgewalt zu schützen. Doch die Existenz eines moralischen Rechts hängt nicht davon ab, ob der Gesetzgeber es bereits anerkennt, sondern einzig davon, ob es sich allgemein und unparteiisch begründen lässt.
3Ebd., 87 f.
– Mill selbst neigt dazu, die Normen der Gerechtigkeit auf negative Pflichten zu begrenzen; das ist aber begrifflich, wie er selbst schreibt, nicht entscheidend. 4Man denke etwa an die heftigen Reaktionen schon auf einen moderaten Vorschlag wie den ‚Veggieday‘, den die GRÜNEN 2013 in ihr Bundestagswahlprogramm aufnahmen und der sie wohl Stimmen gekostet hat.
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Manchmal wird argumentiert, dass Tiere schon deshalb keine Rechte besäßen, weil sie sie nicht selbst einfordern und bei anderen beachten könnten. Aber das ist wenig plausibel, denn dann könnten auch kleine Kinder oder Menschen mit schwerer geistiger Behinderung keine Rechte haben. Wesentlich für ein moralisches Recht ist allein, dass ein Individuum subjektiv etwas zu gewinnen und zu verlieren hat. Es muss über Interessen verfügen, die wichtig genug sind, um fremde Pflichten zu begründen, deren Erfüllung der Interessenträgerin geschuldet ist (Raz 1986, 166). Ein Musterbeispiel bilden menschenrechtlich bedeutsame Interessen. Wir können von diesem allgemein anerkannten Fall ausgehen und fragen, ob einige der moralischen Gründe, die für Menschenrechte sprechen, auch dafür sprechen, dass (andere) Tiere Rechte haben. Für Menschenrechte spricht, dass sie besonders wichtige allgemein-menschliche Interessen schützen oder auch fördern. Manche dieser Interessen bleiben sicher auf Menschen beschränkt. Nur diese haben etwas von der Religionsfreiheit oder können ein politisches Amt bekleiden. Doch viele andere Interessen, die wir menschenrechtlich schützen, bilden zugleich Brücken über die Artengrenzen. Die Moral verlangt eine gleiche Behandlung wesentlich gleicher Fälle. Wenn viele Tiere über Bedürfnisse und Fähigkeiten verfügen, die wir unter uns Menschen für hinreichend halten, sie menschenrechtlich zu schützen, was spricht dann dagegen, sie auch bei Tieren durch Rechte zu schützen? Manche Tierethiker argumentieren darum, wir sollten die Menschenrechte als eine Sonderform von Rechten aller empfindungsfähigen Wesen verstehen (so Cochrane 2013). Und tatsächlich scheint mir die hier angedeutete Begründung zu genügen, um moralische Grundrechte für alle fühlenden und erlebenden Tiere zu etablieren. Dazu zählen mindestens Rechte auf Nichtschädigung wie das Verbot der Leidzufügung und auch der Tötung ohne zwingende Gründe. Intelligente Tiere sollten Freiheiten zu komplexen Betätigungen in anregenden Umwelten haben, gesellige Tiere außerdem artgemäße Sozialbeziehungen eingehen können. Mills Begriff der Gerechtigkeit entspricht im Grunde dem der moralischen Rechte, nur dass er den Aspekt der Erzwingbarkeit besonders betont. Dieser Begriff ist daher unschwer auf die gültigen Ansprüche von Tieren übertragbar. Auch diese dürften in einer idealen Welt erwarten, dass ein Staat sein Gewaltmonopol zur Verteidigung ihrer Rechte einsetzt. Mehr noch, sie besitzen diese Rechte gegenüber allen Menschen weltweit. Wie die Menschenrechte, so sind auch die Tierrechte im letzten Grunde allgemeine Ansprüche, die kosmopolitische Rechtspflichten begründen. Die basalen Pflichten dieser Art werden nicht erst durch besondere Praktiken, etwa des Versprechens, besondere Beziehungen, etwa der Verwandtschaft, oder besondere Institutionen, etwa des Staates, ausgelöst. Sie sind nicht-assoziative Pflichten der Gerechtigkeit.5
5Zur
Unterscheidung von nicht-assoziativen und assoziativen, an besondere Beziehungen gebundenen Pflichten vgl. etwa Valentini 2014.
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3 Verteilende Gerechtigkeit und assoziative Pflichten Das ist allerdings nicht die einzig mögliche Weise, den Gerechtigkeitsbegriff zu gebrauchen. Herbert L. A. Hart hält es sogar für regelrecht kontraintuitiv, im Falle der Verletzung gleich welcher Rechtspflichten eine Ungerechtigkeit zu beklagen: Ein Mann, welcher der schweren Grausamkeit gegenüber seinem Kinde schuldig ist, wird oft als einer beurteilt, der etwas moralisch Falsches, Schlechtes oder sogar Verwerfliches getan hat oder der seine moralische Verpflichtung, seine Pflicht gegenüber dem Kind vernachlässigte. Aber es wäre schon merkwürdig, wenn man sein Verhalten als ungerecht kritisierte. (Hart 2011, 186; kursive Herv. i. O.)
Dies sei nicht so, weil „ungerecht“ hier ein zu schwach verurteilendes Wort wäre, sondern weil damit das Spezifische des Vorwurfs der Ungerechtigkeit verloren ginge. Hart sieht die Besonderheit der Gerechtigkeit in dem Prinzip, „daß die Individuen im Verhältnis zueinander einen Anspruch auf relative Gleichheit und Ungleichheit haben“ (Hart 2011, 187). Dieses Prinzip werde vor allem wirksam, wenn wir die Lasten und Vorteile des Zusammenlebens verteilen oder deren richtige Verteilung wiederherstellen wollten. Dies entspricht der schon bei Aristoteles zu findenden Auffassung von Gerechtigkeit als einer besonderen, begrifflich mit Gleichheit verbundenen Tugend, die primär von Fragen gerechter Verteilung handle.6 Bereits die Gerechtigkeit im ersten, von Mill explizierten Sinne besitzt auch eine distributive Dimension. Menschenrechte sind begrifflich als gleiche Rechte bestimmt. Die Gleichheit ist ein menschenrechtliches Strukturprinzip, das in Gestalt von Diskriminierungsverboten selbst zum subjektiven Recht wird. Diskriminierend wäre aber auch eine ungleiche Beachtung empfindungs- und erlebensfähiger Tiere einzig aufgrund ihrer biologischen Artangehörigkeit. Insofern sind auch ihre basalen Rechte als gleiche Rechte bestimmt. Dieses Prinzip der ‚Verteilung‘ geht direkt aus dem moralischen Status, von Menschen wie von Tieren, hervor. Im engeren Sinne reden wir aber nur dann von distributiver Gerechtigkeit, wenn wir damit verteilbare Güter meinen, wie wir sie aus der Natur beziehen oder durch soziale Zusammenarbeit erzeugen. Mit Blick auf solche Güter stellt sich neuerlich die Frage, ob Ansprüche der Gerechtigkeit an die Voraussetzung besonderer sozialer Relationen gebunden seien. Rawls hat hier weichenstellend gewirkt, indem er die Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen bezeichnete (Rawls 1975, 19). Die Grundfrage einer Theorie der Gerechtigkeit laute, wie wir die Rechte und Pflichten sowie die Früchte der sozialen Zusammenarbeit unter allen Angehörigen eines Gemeinwesens verteilen sollten.
6Aristoteles
kennt allerdings auch den Begriff einer allgemeinen Gerechtigkeit. Der gerechte Mensch im allgemeinen Sinne des Wortes sei ein guter Sozialpartner: Er verhalte sich zu seinen Mitbürgern so, wie es diesen gebühre. Und man könnte vielleicht sagen, dass Mills Begriffsverständnis eine spezifisch neuzeitlich-moderne, auf die Figur subjektiver Rechte zugeschnittene Lesart der allgemeinen Gerechtigkeit zum Ausdruck bringt.
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Rawls hat damit für die verteilende Gerechtigkeit eine assoziative Sichtweise etabliert. Dabei setzte er erstens methodisch7 voraus, dass das jeweilige Gemeinwesen autark sei und jedes Mitglied ihm von der Geburt bis zum Tod angehöre, und zweitens, dass jedes Gemeinwesen einen eigenen großen Kooperationszusammenhang bilde. Die beiden Bestimmungen sind logisch voneinander unabhängig, denn wer etwa zu schwer behindert ist, um an der Arbeitsteilung in einem Gemeinwesen mitzuwirken, mag diesem trotzdem ein Leben lang als Mitglied angehören. Außerdem können Kooperationsbeziehungen natürlich auch bestehen, wo die Bedingung der Autarkie nicht erfüllt ist. Die Kooperationsbedingung folgt aus der kontraktualistischen Grundidee, dass wir Gerechtigkeit brauchen, um Beziehungen des Gebens und Nehmens zum Vorteil aller Beteiligten zu regeln (kritisch dazu Nussbaum 2006). Die Mitgliedschaftsbedingung dagegen verweist auf eine Grundbedeutung von ‚sozialer Gerechtigkeit‘: die allgemein und unparteiisch akzeptable Regelung gesellschaftlicher Beziehungen in einem staatlich geeinten Gemeinwesen (Miller 2008). Eine Besonderheit solcher Gemeinwesen ist, dass sie die Mitglieder einem Gewaltmonopol unterwerfen, und dies nicht nur zeitweilig und freiwillig, wie im Fall von Touristen, sondern dauerhaft und zumeist von Geburt an. Eine solche Art der Mitgliedschaft geht mit einzigartigen Zumutungen einher. Staaten erwarten Gesetzesgehorsam und gebieten über Zwangsmittel zu dessen Durchsetzung, was sie in eine ständige Spannung zur Autonomie der Bürger bringt (Blake 2001). Daher kann man argumentieren, dass die Mitglieder eines solchen Gemeinwesens auch einzigartige Ansprüche aneinander und an ihren Staat stellen dürften. Alle Bürger, so Dworkin (Dworkin 1990, 298 sowie 2000, 1), müssten in der Gesetzgebung als Gleiche Beachtung finden; alle besäßen ein Grundrecht auf gleiche Achtung und Berücksichtigung durch die öffentlichen Gewalten, denen sie unterlägen. Dies schließe neben gleichen Rechten auf demokratische Mitwirkung auch weitere Ansprüche verteilender Gerechtigkeit ein. Man kann die These, dass die verteilende Gerechtigkeit von besonderen Assoziationsverhältnissen abhänge, stärker oder schwächer verstehen. In der starken Lesart besagt sie, dass Pflichten verteilender Gerechtigkeit überhaupt nur bestünden, wo bestimmte Assoziationsverhältnisse vorlägen. Das kommt mir allerdings unplausibel vor. Meines Erachtens sind wir mit Fragen distributiver Gerechtigkeit konfrontiert, wo auch immer wir Möglichkeiten der Verteilung mit Blick auf moralisch erhebliche Güter haben. Nicht alle Güter dieser Art sind aber erst aufgrund bestimmter Assoziationsverhältnisse vorhanden; der Boden und die Reichtümer der Natur existierten ursprünglich ohne menschliches Zutun (zu diesem Argument Risse 2012, Part 2). Pflichten verteilender Gerechtigkeit könnten aber auch in einem schwächeren Sinne assoziativ sein: Die Kooperation in einer Gesellschaft oder das Zusammen-
7Das heißt, er abstrahiert bewusst von dem unbestreitbaren Umstand, dass in der heutigen Welt kein Gemeinwesen autark ist und viele Menschen zudem über Staatsgrenzen hinweg wandern und ihre Staatsangehörigkeit wechseln (wollen).
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leben in einem Staat könnten dafür sprechen, dass wir sie spezifizieren oder auch erweitern sollten. Dies wiederum scheint mir schwer bestreitbar zu sein, eben weil viele Güter überhaupt nur aufgrund solcher Beziehungen existieren und die Unterwerfung unter ein Gewaltmonopol besondere Zumutungen birgt. Es wirft allerdings die Folgefrage auf, wie der Zugang zu einem Kooperationszusammenhang oder Staat geregelt sein sollte. Und dies dürfte selbst eine Sache verteilender Gerechtigkeit sein, eben weil von ihr für die Verteilung gewöhnlicher Güter so viel abhängt. Philosophen haben die Frage nach dem sozialen Geltungsbereich (scope) der Gerechtigkeit vor allem mit Blick auf grenzüberschreitende Beziehungen gestellt und teils kosmopolitisch, teils partikularistisch beantwortet (vgl. hierzu die Beiträge in Broszies/Hahn 2010). Wir können sie aber ebenso hinsichtlich der Tiere stellen, die mit und – buchstäblich – unter uns leben, ohne aber bislang als Mitglieder unserer Gemeinwesen zu gelten (Valentini 2014). Die Frage ist dann nicht mehr, ob wir Tieren die Erfüllung irgendwelcher Rechtspflichten schulden, sondern ob mache Tiere spezielle Ansprüche sozialer Gerechtigkeit gegen uns haben, weil sie in besonderen politisch bedeutsamen Assoziationsverhältnissen zu uns stehen. Als politisch bedeutsam kommen dabei wiederum Beziehungen institutionalisierter Zusammenarbeit oder der Unterwerfung unter einen Zwang in Betracht (Niesen 2014; Ahlhaus/Niesen 2015).
4 Kooperation nach Rawls und die Ausbeutung von Tieren Rawls hebt wie erwähnt die Kooperationsbedingung hervor. Er betrachtet die Gesellschaft als ein generationenübergreifendes System der Zusammenarbeit. Die Theorie der Gerechtigkeit soll klären, ob die soziale Grundstruktur, die die Zusammenarbeit regelt und deren Früchte verteilt, die Zustimmung aller Beteiligten verdient. Der Begriff der Kooperation, den Rawls dabei zugrunde legt, ist in mehr als einer Hinsicht moralisiert. Rawls unterscheidet zunächst zwischen Kooperation und bloßer Koordination sozialer Beziehungen. Bloße Koordination sei auch in einem reinen Befehlsmodus möglich, sie könnte also sogar die Beziehungen zwischen Sklavenhaltern und Sklaven regulieren. Zur regelrechten Kooperation hingegen gehöre, dass alle Beteiligten öffentlich anerkannten Regeln und Verfahren folgten, deren Angemessenheit sie selbst einsähen (Rawls 2003, 26). Die Modalitäten der Zusammenarbeit müssten dabei fair sein: Jeder sollte sie beachten, sofern auch jeder andere dies tue. Diese Zumutung gegenseitigen Fairplays wiederum sei gerechtfertigt, wenn die Kooperation aller Mitwirkenden auch rational zum Vorteil gereiche. Der moralisierte Begriff der Kooperation verweist auf den der Person. Rawls definiert Personen im politischen Sinne als Individuen mit zwei moralischen Vermögen: einem Sinn für Gerechtigkeit und einer Konzeption des Guten. In der ersten Hinsicht seien sie vernünftig, in der zweiten rational. Der Vernunftbegriff erinnert an Kants moralisches Verständnis von Autonomie: Personen könnten faire
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Bedingungen sozialer Kooperation erkennen und aus eigener Einsicht beachten. Rational seien sie, weil sie über eine geordnete Gruppe von Endzwecken und -zielen verfügten, die sie verständig verfolgen, aber auch revidieren könnten. In diesem moralisierten Verständnis von Kooperation und dem dazu komplementären der Person haben Tiere keinen Platz. Sie sind keine möglichen Kooperationspartner im anspruchsvollen Sinne der Erfüllung selbstbewusst akzeptierter Verpflichtungen zur allseits vorteilhaften Zusammenarbeit. Aber müssen wir den Begriff der Kooperation moralisch so sehr aufladen, dass selbst viele Menschen ihm gar nicht und alle anderen nur graduell genügen können (so auch kritisch Donaldson/Kymlicka 2011, 103 f.)? Die Idee der Befolgung von Regeln aus Einsicht in deren Fairness bezeichnet wohl ein erstrebenswertes Ideal für normativ zurechnungsfähige Personen. Aber sie legt die Hürde, um überhaupt als Kooperationspartnerin gelten zu dürfen, so hoch, dass mündige Menschen ihr nur mehr oder minder und unmündige ihr gar nicht genügen, was auch immer sie im Übrigen zur sozialen Reproduktion beitragen. Nicht unproblematisch ist auch die begriffliche Voraussetzung der Fairness. Warum sollten ausgebeutete Menschen oder selbst Sklaven nicht auch als Kooperationspartner gelten, nur eben als solche, die unter einer Verletzung von Normen fairer Zusammenarbeit zu leiden haben? Zu fairer Kooperation gehört gewiss, dass die grundlegenden Rechte aller Parteien Beachtung finden und die Verteilung der Vorteile und Lasten aus jeder einzelnen Perspektive annehmbar ist (Valentini 2014, 41). Man mag dies als eine mit dem Kooperationskonzept konnotativ verknüpfte Grundnorm gerechten Gebens und Nehmens ansehen. Abweichungen können dann immanent, etwa als ausbeuterisch, kritisiert werden. Nach Ruth Sample liegt eine moralisch kritikwürdige Ausbeutung8 dann vor, wenn eine normativ verantwortliche Akteurin ihren Vorteil in einer Interaktion mit anderen sucht, indem sie deren moralischen Status missachtet.9 Dies kann bedeuten, dass sie grundlegende Bedürfnisse ignoriert oder fremde Notlagen für eigene Gewinne nutzt, dass sie aus einer Ungerechtigkeit einen Vorteil zieht, oder dass sie etwas an den anderen als eine Ware behandelt, das nicht kommodifiziert werden dürfte. In typischen Fällen macht die Ausbeuterin sich dabei eine besondere Verletzbarkeit (vulnerability) der Ausgebeuteten zunutze.10 Gerade das Verhältnis von menschlichen Tierhaltern zu sogenannten Nutztieren bietet dafür viele Beispiele. Die von Menschen (gefangen-)gehaltenen Tiere sind existentiell verletzbar, weil sie ihre Bedürfnisse nicht ohne menschliche
8Der Ausbeutungsbegriff kann auch eine moralisch neutrale Verwendung finden, etwa mit Bezug auf natürliche Rohstoffe. Er meint dann nur so etwas wie eine erschöpfende Nutzung. Diese mag indirekt moralisch problematisch sein, doch dazu müsste gezeigt werden, dass sie nachteilige Folgen für Individuen hat, die einen eigenen moralischen Status besitzen, was auf Rohstoffe selbst nicht zutrifft. 9Sample 2003, 57. – Sample selbst schreibt kantisch: „interacting with another being (…) in a way that fails to respect the inherent value in that being“. 10Diesen Aspekt übernimmt Sample von Goodin 1986.
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Zuwendung befriedigen können. In der kommerziellen Tierhaltung wird dieser Umstand aber gerade genutzt, um den Tieren ohne Rücksicht auf ihre Bedürfnisse Produkte und andere Beiträge abzupressen. Damit wird zugleich das Unrecht einer Missachtung tierlicher Rechte zu einer Quelle von Profit. Und nicht nur etwas an den Tieren wird dabei kommodifiziert; die Tiere selbst sind vielmehr Waren, sie werden gezüchtet, gehandelt und rechtlich als Eigentum gehandhabt. Unsere Grundordnung, nach Rawls der zentrale Gegenstand von Gerechtigkeitsurteilen, sähe signifikant anders aus, wenn wir darauf verzichteten, Tiere und deren Produkte für unsere Zwecke zu gebrauchen. Doch weit entfernt, dafür einen angemessenen Lohn zu empfangen, bezahlen die Tiere meist noch mit einem miserablen und gewaltsam verkürzten Leben. Das ist möglich, weil Menschen die Lebensbedingungen der Tiere umfassend kontrollieren. Diese sind darum gewiss Opfer kritikwürdiger Ausbeutung. Mehr noch, sie sind Sklaven ähnlicher als formal freien Lohnarbeitern, weil sie anderen Akteuren buchstäblich mit Haut und Haaren gehören, anstatt bloß für eine vertraglich vereinbare Zeit ihre Arbeitskraft zu vermieten.
5 Können Tiere mit uns kooperieren? Aber sollten wir darum zumindest alle Nutztiere auch als – zu Unrecht ausgebeutete – Kooperationspartner anerkennen? Die Beiträge von Tieren zu menschlichen Zwecken sind sehr verschieden, und nicht alle würden wir intuitiv mit dem Konzept der Kooperation verbinden. Im weitesten Sinne sind alle Tiere Teil unserer kooperativen Unternehmungen, aus deren Eigenschaften, Darbietungen oder Hervorbringungen wir einen Nutzen ziehen. Das kann selbst noch nach ihrem Tode der Fall sein, wenn wir etwa ihr Fleisch verzehren oder ihr Fell verarbeiten. Eine solche Verwendung post mortem unterscheidet sich allerdings nicht grundlegend von der Nutzung natürlicher Rohstoffe und pflanzlicher Lebensmittel.11 Und wir würden normalerweise nicht sagen, dass wir mit dem Holz, das wir hobeln, dem Erdöl, das wir fördern, oder dem Apfel, den wir pflücken, eine Beziehung der Zusammenarbeit pflegen. Das spricht für eine gewisse Engführung des Kooperationsbegriffs. Wir könnten sagen, dass wir mit allen Tieren kooperieren, von deren Intentionalität wir Gebrauch machen. Wir machen uns den Umstand, dass ‚höhere‘ Tiere auf etwas als etwas Bezug nehmen, zum Beispiel beim Reiten oder beim Einsatz von Hunden in der Rauschgiftfahndung zunutze. Zugleich erfordern solche Praktiken auch auf Seiten der Tiere gewisse kooperative Einstellungen. Wie Elizabeth Anderson schreibt, sind Beziehungen der Wechselseitigkeit zwischen uns und manchen Tieren durchaus möglich. Der Besitz von Vernunft sei für diese Fähigkeit hinreichend, aber nicht notwendig. Notwendig sei nur das Vermögen,
11Darauf
hat mich Alexander Weiß hingewiesen.
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„sich an einem gegenseitigen Ausgleich von Interessen zu beteiligen sowie das eigene Verhalten in Reaktion auf die Ansprüche, Korrekturen und Anweisungen anderer anzupassen“ (Anderson 2014, 305). Dazu seien etwa Pferde und Hunde erfahrungsgemäß imstande. Sie könnten darum auch kooperative Beziehungen zu Menschen eingehen, also mit diesen geteilte Zwecke wie ein Zusammen-Reiten oder ein Zusammen-Suchen verfolgen (ebd., 304 f.). Hier könnte allerdings ein weiterer, diesmal empirischer Zweifel einsetzen. Sollten wir wirklich sagen, dass etwa eine Rauschgiftfahnderin und ihr Hund den geteilten Zweck verfolgten, illegale Suchtmittel aufzuspüren? Zumindest bei der gerade gewählten Formulierung lautet die Antwort ganz offenbar nein. Hunde haben weder einen Begriff von Rauschgift noch von illegalem Besitz. Menschen machen sich die Intentionalität der Tiere zunutze, indem sie deren sinnliche Aufmerksamkeit auf Anzeichen für Objekte lenken, mit denen die menschlichen Fahnder die Bedeutung verbotener Substanzen verbinden. Soll dies dennoch als ein Fall von Kooperation gelten, so müssen wir die Bedingung geteilter Intentionalität wohl fallenlassen. Sie würde uns zumindest in schwer entscheidbare fachwissenschaftliche Kontroversen verwickeln. ‚Höhere‘ Tiere wie Primaten, Hunde oder auch Rabenvögel12 verfolgen gewiss Zwecke und nehmen dabei wohl auch strategisch auf die konkurrierende oder komplementäre Zweckverfolgung anderer Akteure Bezug. Ob aber irgendwelche Tiere zur Orientierung an intersubjektiv geteilten Zwecken imstande sind, ist empirisch strittig. Tobias Starzak etwa schließt aus den Forschungsbefunden von Henrike Moll und Michael Tomasello, dass nur Menschen dazu motiviert seien, ihre mentalen Bezugnahmen mit anderen Individuen zu teilen (Starzak 2015, 179– 182; bezugnehmend auf Moll/Tomasello 2007). Nicht Intentionalität überhaupt, wohl aber geteilte Intentionalität ist demnach ein menschliches Monopol. Geteilte Intentionalität wiederum liege der Bildung gemeinsamer Ziele wie auch der Fähigkeit zur perspektivischen Wahrnehmung eigener und fremder Beiträge zugrunde. Damit sei sie auch eine Bedingung der Möglichkeit, normative Erwartungen hinsichtlich gemeinsamer Ziele zu hegen. Die Verfolgung gemeinsamer Ziele ist nach Starzak das Grundmerkmal regelrechter Kooperation. Kennzeichen eines gemeinsamen Ziels sei dessen normativer Charakter: „Die Kooperationspartner binden oder verpflichten sich gegenseitig zu dem angestrebten Ziel und wissen um die Verpflichtung, die der jeweils andere eingegangen ist, so dass ein grundloser Rücktritt aus dieser Verpflichtung einen Verstoß gegen etablierte Normen darstellt“ (Starzak 2015, 179 f.). Dieses Verständnis von Kooperation verweist ganz offenbar zurück auf das anspruchsvolle Konzept, von dem Rawls ausgegangen war. Hier mag offenbleiben, ob die auf Tomasellos Forschungen fußende Behauptung, geteilte Intentionalität sei ein menschliches Monopol (Tomasello 2014, 9), empirisch zu halten ist oder nicht. Jedenfalls würden sehr viele Tiere, die wir heute etwa als ‚Nutztiere‘ betrachten
12Zur
sozialen Intelligenz von Rabenvögeln Massen u. a. 2014.
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und ausbeuten, wie Hühner und Schafe, mit ziemlicher Sicherheit aus einem Kooperationskonzept herausfallen, das als eine notwendige Bedingung geteilte Intentionalität vorsähe. Alternativ könnten wir „Kooperation“ als arbeitsteiliges Zusammenwirken intentionaler Subjekte verstehen. Diese müssen dazu nicht notwendig die gleichen Zweckvorstellungen hegen. Auch genügt es, wenn nur eine Seite normativ zu den Zwecken Stellung nehmen und die Erwartungen festlegen kann, denen auch alle anderen Kooperationspartner entsprechen sollten (Müller 2016). Jede Partnerin muss allerdings zu einer gewissen Anpassung an Erwartungen imstande sein, die sich auf die Zweckerreichung beziehen. Auch muss jede mit der Zusammenarbeit eigene Interessen verbinden können. Diese Interessen müssen nicht die reflektierte Form einer Konzeption des Guten annehmen, wie sie Rawls als rationales Vermögen voraussetzt. Erforderlich ist nur, dass jede Kooperationspartnerin aus der Zusammenarbeit auch für sich selbst einen Vorteil ziehen kann – entweder direkt oder durch die Vergeltung, die ihr für ihre Beiträge zusteht. Soviel vorerst zum Konzept der Kooperation. Was folgt nun daraus, wenn wir Zusammenarbeit als die auslösende Bedingung für Pflichten sozialer und distributiver Gerechtigkeit ansehen, aber einem weniger anspruchsvollen Kooperationsverständnis folgen als Rawls? Ich werde dazu die Positionen von Mark Coeckelbergh und Laura Valentini betrachten. Beide möchten zeigen, dass manche Tiere mit uns kooperieren und deshalb der Sache nach auch assoziative Ansprüche der Gerechtigkeit an uns stellen.
6 Mark Coeckelberghs Sozialphilosophie Coeckelbergh glaubt, eine speziesneutrale Konzeption der Gerechtigkeit zu gewinnen, indem er an Rawls’ Grundidee der Gesellschaft als einem fairen System der Kooperation anknüpft (Coeckelbergh 2009). Er verbindet damit sogar den Anspruch eines regelrechten Paradigmenwechsels im moralischen Denken. Wir sollten die Frage, wer im Raum der Gerechtigkeit eine Rolle spiele, nicht auf der Grundlage individueller Eigenschaften, sondern einzig mit Bezug auf soziale Beziehungen beantworten. Wir sollten, in Coeckelberghs Worten, eine sozialphilosophische einer ontologischen Herangehensweise vorziehen. Die relevanten Beziehungen seien solche der Kooperation sowie der Abhängigkeit (dependency). Sie bestünden darin, Dinge gemeinsam zu tun (Kooperation) und dabei andere Lebewesen oder Sachen als Voraussetzungen oder Materialien zu benötigen (Abhängigkeit). Was sich so ergebe, sei nicht nur ein soziales Schema, sondern eigentlich ein „social-artefactual-ecological scheme“ (ebd., 75): Es könne je nach besonderer Konstellation Menschen, Tiere, andere Lebewesen und auch Artefakte wie Roboter einschließen. Keine dieser Entitäten sei per se Teil eines kooperativen Schemas, jede könne es sein. Der Raum der Gerechtigkeit sei darum für sehr unterschiedliche Entitäten offen, dies aber nicht aufgrund ihrer intrinsischen Eigenschaften, sondern allein aufgrund ihrer kooperativen Rollen.
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Coeckelbergh verspricht sich davon, wenn ich recht sehe, zwei Vorteile, einen normativen und einen epistemologischen. Der normative Vorteil soll darin liegen, dass eine Entität nicht so (ähnlich) sein muss wie wir, um eine moralische Rolle spielen zu können: „Instead of requiring that we see, or want to make, the ‘newcomers’ as beings-like-us […], we can allow for (ontological) differences while acknowledging their co-operative status and therefore our duty to do justice to them, regardless of their specific properties“ (ebd., 77). Wir müssten Tiere insofern, aber nur insofern in den Raum der Moral und der Gerechtigkeit einbeziehen, als sie mit uns zusammenarbeiten. Das Gleiche gelte dann aber auch für artifizielle ‚Akteure‘ wie Roboter. Auch diese könnten kooperative Rollen spielen, und dann wäre es willkürlich, sie nicht moralisch zu berücksichtigen, etwa mit dem Argument, sie besäßen kein phänomenales Bewusstsein und könnten nur rechnen, aber nicht denken. Der epistemologische Vorteil soll darin liegen, dass wir nicht in den schwer entscheidbaren Streit über das Vorliegen und den Grad der Ausprägung von individuellen Eigenschaften eintreten müssten. („Können manche Roboter doch denken?“ „Wie fühlt es sich an, eine Fledermaus zu sein?“) Wir könnten Beziehungen der Zusammenarbeit und der Abhängigkeit oder deren Folgen direkt beobachten (ebd., 78 f.). Die scheinbar ontologische Frage, ob eine Entität über die Fähigkeit zur Zusammenarbeit verfüge, verwandelt sich so, Coeckelbergh zufolge, in die einfacher entscheidbare empirische Frage, ob eine Entität in einem konkreten Fall eine kooperative Rolle spiele und in welchem Grad sie dies tue. Allerdings sagt Coeckelbergh nicht klar, was er mit Kooperation meint und woran wir folglich erkennen können, ob sie vorliegt. Eine rein metaphorische Verwendung, etwa im Sinne der ‚Zusammenarbeit‘ zwischen mir, meinem Computer und meiner Schreibtischplatte, möchte er jedenfalls ausschließen. Andererseits soll „Kooperation“ mehr umfassen als nur arbeitsteilige Interaktionen zwischen Menschen oder auch anderen rationalen und willensbegabten Wesen. Wie aber der Mittelweg aussehen soll, lässt er offen. Er macht stattdessen erneut von seiner Strategie der Frageverschiebung Gebrauch: Wir sollten nicht wissen wollen, welche Arten von Wesen kooperieren können, sondern welche dies beobachtbar tun. Aber beantwortet das die Frage? Woran kann ich denn erkennen, dass ich zwar nicht mit meinem Computer und meinem Schreibtisch kooperiere, vielleicht aber mit dem Hund, der mir die Zeitung ins Haus trägt? Was macht die zweite Verwendung als wörtliche sinnvoll, während die erste bloß metaphorisch bleibt? Besteht Kooperation darin, etwas zusammen zu tun, so könnte man vermuten, dass eine wie immer rudimentäre Handlungsfähigkeit aller Beteiligten verlangt sei. So ließen sich der Computer aus- und der Hund einschließen. Leider wäre diese Lösung ontologisch. Ohne sie aber fehlen Coeckelbergh die begrifflichen Mittel, um den Kooperationsbegriff vor einer metaphorischen Überdehnung zu bewahren. Damit ist zugleich der epistemologische Vorzug seines Ansatzes dahin: Wir wissen schlicht nicht, woran wir Kooperation erkennen, wenn wir sie sehen. Kann Coeckelbergh aber die ontologische Frage wenigstens für seinen normativen Zweck ausschließen? Er beruft sich auf die kontraktualistische
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Tradition, die kooperative Beziehungen immer schon als hinreichenden Grund betrachtet habe, über (verteilende) Gerechtigkeit nachzudenken (ebd., 70). Doch wen immer Coeckelbergh damit meint, Rawls kann es nicht sein. Dieser ist sich sehr wohl bewusst, dass Fragen der Gerechtigkeit auch ein Interesse an gerechten Regelungen voraussetzen. Zu den Grundideen seiner Theorie gehört darum neben der Gesellschaft als fairem Kooperationssystem auch die freie und gleiche Person mit ihren zwei „moralischen Vermögen“. Sie besitze die Fähigkeit, Grundsätze der Gerechtigkeit zu verstehen und anzuwenden, und sie könne Vorstellungen vom Guten rational und revisionsoffen verfolgen (Rawls 2003, 44 ff.). Auf diese Vermögen wiederum sind die Grundgüter zugeschnitten, die durch die Grundstruktur verteilt werden. „Gerecht“ nennt Rawls diejenige Verteilung der Grundgüter, auf die wir uns unter fairen Bedingungen einigen würden. Die Vermögen der Personen bilden die Hinsicht der Verteilung. Ohne sie bliebe die Idee der Gerechtigkeit leer. Der entscheidende Punkt ist nicht, dass wir gerade den von Rawls vorgesehenen Inhalt bräuchten. Rawls schließt die Tiere aus, weil sie nicht vernünftig und zu wenig rational seien. Coeckelbergh kritisiert daran zu Recht, dass nicht etwa der politische Anspruch von Rawls’ Theorie einen solchen Ausschluss erzwinge. Ein zumindest minimalistisches Verständnis von Tierschutznormen ist schließlich schon heute politisch einigungsfähig. Auch benötigen wir dazu nicht mehr an ‚Metaphysik‘ als eine generelle Abneigung gegen Grausamkeit. Eher scheint Rawls selbst stillschweigend einer (im Abendland) einflussreichen umfassenden Lehre zu folgen (Coeckelbergh 2009, 72). Diese Lehre zieht, zunächst auf religiöser Grundlage, einen strikten moralischen Trennstrich zwischen Menschen und allen anderen Lebewesen und Entitäten. Die Einsicht, dass wir als Kooperationswesen ohne viele Tiere nicht auskämen oder zumindest in einer ganz anderen Art von Gesellschaft lebten, kann uns durchaus helfen, über die ausschließenden Konsequenzen dieser Lehre hinauszugelangen. Aber wir müssten dann auch für alle weiteren Wesen, die als Kooperationspartner Ansprüche der Gerechtigkeit an uns stellen, sagen können, welche Grundgüter für sie auf dem Spiel stehen. Gar keine Güter stehen aber für Entitäten auf dem Spiel, die keinerlei subjektives Leben besitzen. Ein heutiger Roboter kann von einer gerechten Verteilung nicht profitieren, weil nichts für ihn in einem moralisch relevanten Sinne bedeutsam ist. Er kann sich an nichts erfreuen und unter nichts buchstäblich leiden. Vielleicht wird dies einmal anders sein, und dann sollten unsere Nachkommen ihre artifiziellen Kooperationspartner als Träger moralischer Rechte (an-)erkennen wie wir heute schon die Tiere. Deren moralischer Status hängt nicht davon ab, dass sie Lebewesen und keine Artefakte sind. Aber nur wer Interessen besitzt, kann auch von gerechter Behandlung und Verteilung profitieren. Jede sinnvolle Einbeziehung in den Raum der Gerechtigkeit setzt darum einen moralischen Status schon voraus. Zur Statusbestimmung reichen aber extrinsische Eigenschaften wie die Mitwirkung an einem Kooperationsschema nicht aus. Ontologische Argumente sind dafür unabdingbar. Wir müssen wissen, von welcher Art ein Wesen ist, um sagen zu können, ob und inwiefern es um seiner selbst
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willen Beachtung verdient. Das ist weder speziesistisch noch unfair den heutigen Robotern gegenüber. Es verweist schlicht auf den Grundzweck der Moral, subjektiv versehrbare Individuen zu schützen und zu fördern.
7 Laura Valentini über Gerechtigkeit für Hunde Anders als Coeckelbergh akzeptiert darum Laura Valentini, dass eine Konzeption der Gerechtigkeit nicht mit der Idee eines Kooperationsschemas allein auskomme (Valentini 2014). Auch sie möchte zwar Ansprüche von Tieren auf soziale Gerechtigkeit damit begründen, dass nicht nur Menschen an der sozialen Zusammenarbeit mitwirken. Hunde zum Beispiel seien zu diesem Zweck von Menschen eigens domestiziert worden. Aber Hunde erfüllten eben auch die zusätzliche Bedingung, empfindungsfähige Individuen mit einem eigenen Leben zu sein. Dies qualifiziere sie zu einer ihnen selbst geschuldeten moralischen Beachtung. Auf dieser Grundlage des moralischen Status sei dann auch der zusätzliche Schritt möglich, besondere Ansprüche auf besondere Beziehungen der Zusammenarbeit zu gründen. Hingegen wäre es abwegig, Gerechtigkeitspflichten gegenüber einem Computer anzunehmen. Dieser sei schlicht nicht die Art von Entität, der wir moralisch etwas schulden könnten (ebd., 42 f.). Für Valentini sind kooperative Beziehungen, wiederum mit und gegen Rawls, ein Grund zur Einbeziehung in den Raum sozialer Gerechtigkeit. Jede Kooperationspartnerin dürfe mindestens erwarten, dass ihre Interessen zählen, wenn Menschen in politischen Kontexten über die Gesetze des Zusammenlebens befinden. Die Gesetze müssten aus der Perspektive aller Kooperationspartner annehmbar sein; sie müssten die hypothetische Zustimmung auch der Tiere verdienen. Warum aber müssen die besonderen Assoziationsverhältnisse, die Ansprüche sozialer Gerechtigkeit auslösen, gerade solche der Zusammenarbeit sein? Valentini selbst gerät durch ihr Beispiel der Hunde in eine gewisse Verlegenheit. Die allermeisten Hunde leben schließlich nicht als Arbeitstiere mit Menschen zusammen; vielmehr halten wir sie als Hausgefährten. Dagegen ließe sich zwar auf die moralische Irrelevanz der Zahlen verweisen: Auch wenn die meisten Hunde die Rolle von Haustieren spielten, seien manche doch als Arbeitstiere etwa in der Drogenfahndung oder der Begleitung von Blinden tätig. Für wenigstens ebenso wichtig hält Valentini aber den Hinweis, dass auch Haustiere auf vielerlei Weise zu einer guten Gesellschaft beitrügen. Sie würden Menschen zu einem gesünderen, aktiveren und weniger einsamen Leben verhelfen, sie brächten Nachbarn zusammen und sie förderten Gefühle der Sicherheit, in den heimischen Wohnungen wie im öffentlichen Raum. All dies seien Leistungen, die im Prinzip auch von dafür bezahlten Arbeitskräften erbracht werden könnten (ebd., 43). Das Argument ist analog zur feministischen Kritik am vorherrschenden Verständnis von Arbeit, das die zumeist von Frauen erbrachte (Reproduktions-)Arbeit nicht als zu bezahlende Leistung gelten lasse (Krebs 2002). Es birgt allerdings einmal mehr die Gefahr, das Kooperationskonzept zu überziehen. Hunde können
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schließlich schon durch ihre schiere Anwesenheit dazu beitragen, dass Menschen sich besser fühlen; und sie erbringen viele Beiträge durch Aktivitäten, deren Wert in sich selbst liegt. Menschen und Tiere können ihr bloßes Beisammensein etwa beim Wandern genießen oder selbstvergessen im gemeinsamen Spiel aufgehen. Wenn aber für einen Beitrag zur sozialen Reproduktion aus der Teilnehmerperspektive wesentlich ist, dass er seinen Wert in sich selbst trägt, dann sollten wir ihn nicht mit Tätigkeiten gleichsetzen, die sich ohne Änderung ihres Wertgehalts vergüten ließen. Dies macht die feministische Kritik oder auch deren Übertragung auf Mensch-Tier-Beziehungen sicher nicht gegenstandslos. Aber auch an sich sinnvolle Konzepte wie „Beziehungsarbeit“ werden überdehnt, wenn damit jede Umarmung, jedes familiäre Fußballspiel und jeder Gassigang abgedeckt werden sollen. Definitiv überdehnt wird das Kooperationskonzept, wo es auch noch die Beiträge etwa von Zootieren zur sozialen Reproduktion erfassen soll. Zootiere sind sogar ökonomische Faktoren im gesellschaftlichen Leistungstausch. Dennoch wirkt es merkwürdig, von einem hinter Gittern seine Runden drehenden Panther zu sagen, dies sei seine Weise, an der sozialen Kooperation mitzuwirken. Er ist auch ein Gefangener; und vor allem ist es dies, was seinen Anspruch auf besondere menschliche Leistungen begründet. Kann ein solches Tier weder ausgewildert werden noch ohne regelmäßige menschliche Zuwendung leidlich gut leben, so schulden seine Halter, und letztlich die Gesellschaft, die die Haltung rechtlich einräumt, ihm Hilfe oder auch Fürsorge (sowie ein sehr viel größeres Gehege).
8 Zwei Einwände gegen das Kooperationskriterium Vielleicht ist ohnehin die von uns verantwortete Abhängigkeit dafür maßgeblich, dass wir Pflichten sozialer Gerechtigkeit gegenüber Tieren haben. Gegen das Kooperationskriterium spricht zweierlei. Erstens ist strittig, ob wir Tiere überhaupt als Kooperationspartner für unsere Zwecke einspannen dürfen. Die allermeisten Formen der kommerziellen Nutzung von Tieren etwa zur Gewinnung von Fleisch, Milch und Eiern sind mit ihrem moralischen Status als Wesen eigenen Rechts unvereinbar und müssten darum abgeschafft werden. Dann aber wäre es widersinnig, sie zugleich als Grundlage von Pflichten sozialer und verteilender Gerechtigkeit anzusehen. Abwegig ist etwa Coeckelberghs Frage, ob wir Tieren, die wir zu unserem Verzehr züchten und halten, deshalb die Anwendung des Differenzprinzips schulden (Coeckelbergh 2009, 82). Das Differenzprinzip soll andauernde Kooperationsbeziehungen für alle Beteiligten akzeptabel machen, während wir den ‚Fleischtieren‘ vor allem schulden, sie von dieser besonderen Kooperationsbeziehung zu erlösen. Das Differenzprinzip ist nicht dazu gedacht, die Missachtung des moralischen Status für die Betroffenen dennoch annehmbar zu machen. Es setzt, etwa in Gestalt von Rawls’ erstem Gerechtigkeitsprinzip gleicher Grundrechte, die volle Anerkennung dieses Status schon voraus.
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Für Menschen gilt gewiss, dass Kooperation nötig und auch grundsätzlich begrüßenswert ist. Eben deshalb ist die möglichst faire Regelung der Zusammenarbeit ein Grundgebot der Gerechtigkeit. Im Falle von Tieren aber könnte das Grundgebot ein anderes sein. Vielleicht sollten wir allenfalls noch Beziehungen selbstzweckhaften Zusammenlebens, wie mit geliebten Hausgefährten, zulassen, alle instrumentellen Beziehungen aber beenden. Die bislang für uns tätigen Tiere dürften dann ihren verdienten Lebensabend auf ‚Gnadenhöfen‘13 fristen. Sie würden, analog zu menschlichen Rentnern, eine Versorgung empfangen, jedoch mit dem Unterschied, dass keine neue Generation von Tieren für ihren Lebensunterhalt arbeiten müsste. Assoziative Pflichten der Gerechtigkeit würden wiederum, wie im Fall der Zootiere und auch der Hausgefährten, aus dem von uns verantworteten Umstand ihrer einseitigen Abhängigkeit von regelmäßiger menschlicher Zuwendung folgen. Gegen das Kooperationskriterium spricht zweitens, dass zumindest die allermeisten Tiere keine direkt auf Verhältnisse der Verteilung und des Tausches bezogenen Interessen besitzen. Sie können unter einem Mangel an Gütern wie Nahrung und Bewegungsfreiheit leiden, nicht aber an dem Gefühl, im Verhältnis zu ihren Beiträgen zu wenig zu erhalten. Dies spricht dafür, dass wir Tieren zwar nach Maßgabe ihrer Bedürfnisse hinlänglich viel geben sollten, das genaue Verhältnis von Beitrag und Belohnung, oder von einer Belohnung zur anderen, für sie aber irrelevant ist. Dies macht die Kritik an Tierausbeutung nicht sinnlos, weil etwa Samples Kriterien für Ausbeutung auf viele Mensch-Tier-Beziehungen zutreffen. Auch verausgaben arbeitende Tiere Energie, für die sie schon aus Gründen der Bedürfnisbefriedigung einen Ausgleich erhalten sollten. Doch der vergleichende Aspekt, der im menschlichen Fall mit zu der Kritik an Ausbeutung gehört, spielt für die meisten Tiere keine direkte Rolle.14 Damit aber entfällt auch eine zentrale (Fairness-)Intuition, warum gerade Kooperation eine oder die Grundlage distributiver Gerechtigkeit darstelle. Was verteilt werden soll, muss schließlich zunächst erzeugt und zugänglich gemacht werden. Darum sollten Menschen, die an der sozialen Zusammenarbeit mitwirken, ein Entgelt erhalten, das in einer angemessenen Relation zu ihren Beiträgen steht. Für diese Intuition ist das Verhältnis von Geben und Nehmen und also auch von Aufwendung und Vergütung wesentlich. Die Norm, dass jeder nach Maßgabe seiner Bedürfnisse genug erhalten sollte, geht zum Beispiel daran vorbei, dass Menschen für (annähernd) gleiche Arbeit auch (annähernd) gleichen Lohn beziehen sollten. Komparative Kriterien gerechter Verteilung sind für Menschen
13Die
eher „Gerechtigkeitshöfe“ heißen sollten, weil sie nichts anderes tun, als die gültigen Ansprüche der Tiere zu erfüllen. 14Insofern, aber nur insofern hat Ursula Wolf (2012, 98) recht, wenn sie schreibt, die Rede von einer Ausbeutung der Tiere sei „begrifflich nicht passend, weil Tiere nicht wie Personen unter der Wahrnehmung von Ausbeutung leiden können, sondern nur unter den Bedingungen der Nutzung“.
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im Allgemeinen auch eigens bedeutsam. Da dies aber für die allermeisten Tiere nicht gilt, scheint in ihrem Fall ein an absoluten Bedürfnissen orientierter ‚Suffizientarismus‘ zu genügen. Das Recht auf Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse besitzen sie aber schon aufgrund der von Menschen verantworteten einseitigen Abhängigkeit, die ‚Arbeitstiere‘ mit Haus- und Zootieren teilen.
9 Unterwerfung als Grundlage assoziativer Gerechtigkeitspflichten Ich vermute darum, dass die Berufung auf Normen fairer Zusammenarbeit bei Tieren vor allem die Rolle einer rhetorischen Verstärkung von ohnedies bestehenden Ansprüchen spielt. Gewiss wirkt es grob unfair, wenn wir Tiere für uns arbeiten lassen und ihnen dafür nichts oder sogar noch Nachteiliges zurückgeben. Die Zusammenarbeit soll nicht ausbeuterisch sein; sie soll allen Beteiligten unter Beachtung ihrer Grundrechte zum Vorteil gereichen. Doch für die Ansprüche der Tiere dürfte etwas anderes ausschlaggebend sein: Wir sind verpflichtet, für sie zu sorgen, weil wir ihre Lebensbedingungen kontrollieren und sie darum nicht für sich selbst sorgen können; wir sind für sie verantwortlich aufgrund ihrer Unterwerfung unter Verhältnisse, die wir direkt oder vermittelst unserer Gesetzgebung zu verantworten haben. Dies also ist der zweite mögliche Grund, warum wir manchen Tieren gegenüber auch assoziative Pflichten sozialer Gerechtigkeit tragen. Allerdings müssen wir auch den Unterwerfungsbegriff modifizieren, um ihn auf Mensch-Tier-Beziehungen anwenden zu können. Unterwerfung im engeren Sinne politischer Herrschaft liegt vor, wenn Autoritäten Gesetze erlassen und damit normative Ansprüche auf inhaltsunabhängige Befolgung und Zwangsbefugnis verbinden (Simmons 1979; Raz 1986, Teil I). Im menschlichen Fall bedarf dies einer strengen Rechtfertigung, weil es unsere Selbstbestimmung beschränkt. Die Übertragung dieses Gedankens auf Tiere ist aus zwei Gründen problematisch: Sie besitzen erstens keinen Sinn für den normativen Geltungsanspruch eines Gesetzes und sind zweitens nicht zu einer autonomen Lebensführung imstande, die sie in einen normativen Konflikt mit dem Regelungsanspruch des Staates bringen könnte. In einem weiteren Sinne jedoch sind viele Tiere klarerweise Unterworfene der von uns geschaffenen und verantworteten Verhältnisse. Wir etablieren und verteidigen normative Ordnungen, die für individuelle Tiere tiefgreifend, umfassend und nahezu unentrinnbar bedeutsam sind (Ahlhaus/Niesen 2015, 14). Die Tiere unterliegen den Ordnungen, auch ohne zu deren Adressaten zu zählen. Wiederum gilt dies vor allem für gezüchtete und gefangene Tiere, die wir in extremem Maße von uns abhängig gemacht haben und zu unseren Zwecken ge- und verbrauchen. Aber auch Haustiere sind Unterworfene, wenn auch oft vergleichsweise privilegierte. Sie sind auf Gedeih und Verderb davon abhängig, verständige, fürsorgliche und hilfsbereite menschliche Halter zu finden. Ihre Lebensverhältnisse unterliegen einer fremden Kontrolle, die sie selbst nicht effektiv anfechten
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können.15 Nur Menschen könnten diese Aufgabe für sie übernehmen; und in der Tierethik ist umstritten, ob dies schon ausreichen würde, um ihre Beherrschung zu legitimieren.
10 Wie politisch sollte die Philosophie der Tierrechte sein? Sogenannte Abolitionisten verneinen dies. Sie sind davon überzeugt, dass eine noch so wohlwollende Haltung von Tieren deren Rechte verletze. Tiere seien nicht weniger als Menschen dazu bestimmt, sich selbst zu gehören und ein Leben in Freiheit zu führen. Allenfalls punktuelle und von den Tieren auch selbst gewollte und gewählte Kontakte mit Menschen könnten darum zulässig sein. Soweit wir unweigerlich tierliche Lebensräume tangierten, was schließlich selbst noch beim bio-veganen Landbau mit fatalen Folgen der Fall sei, sollten wir alles tun, um die Schäden für Tiere zu minimieren. Gänzlich auszuschließen seien institutionalisierte Mensch-Tier-Beziehungen. Sie würden Tiere unweigerlich in unfreie Wesen verwandeln und zugleich die falsche Sichtweise fördern, sie seien vor allem zu unseren Zwecken und nicht zu ihren eigenen auf der Welt Für den Abolitionismus reduziert sich die politische Dimension der Tierethik auf die Forderung, durch Bewusstseinsbildung und öffentlichen Druck oder auch mit gesetzlichen Mitteln auf ein Ende der Tierhaltung hinzuwirken (Francione 2010). Sein Endziel ist insofern unpolitisch, ja sogar antipolitisch, als es gar keine dauerhaften und darum kollektiv verbindlich zu regelnden Beziehungen zwischen Menschen und Tieren mehr vorsieht. Gary Francione geht so weit, für alle domestizierten Tiere, die ohne regelmäßige menschliche Zuwendung nicht gut leben könnten, das Aussterben vorzusehen. Sicher haben auch sie Rechte, die normalerweise ihre Tötung verbieten. Wir müssten sie aber, damit nicht immer neue Generationen tierlicher ‚Sklaven‘ heranwachsen, etwa durch Verhütungsmittel an der Fortpflanzung hindern. Wer dagegen eine emphatisch politische Konzeption auch von Tierrechten bevorzugt, kann gegen den Abolitionismus einwenden, dass dieser sein namensgebendes Vorbild, die Bewegung gegen Sklaverei, missverstehe. Das maßgebliche Ziel dieser Bewegung sei nicht das Ende aller Beziehungen gewesen, sondern die Verwandlung von menschlichen Sklaven in freie und gleiche Mitglieder der Gemeinwesen, in denen sie nunmehr lebten (Donaldson/Kymlicka 2011, 79). Ebenso sollten wir versuchen, unterdrückerische und ausbeuterische in gerecht geregelte Mensch-Tier-Beziehungen zu verwandeln.
15Dies
ist das Kriterium für eine Dominanzbeziehung im Sinne des Neorepublikanismus von Philip Pettit (2015). Pettit setzt dabei allerdings voraus, dass die Beherrschten autonomiefähig seien. Da die allermeisten Tiere diese Voraussetzung nicht erfüllen, ist unklar, ob die neorepublikanische Kritik an Dominanzverhältnissen in ihrem Fall einen kritischen Mehrwert besäße; affirmativ dazu Allen/von Essen (2016).
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Dieses alternative Leitbild kommt freilich nicht für alle Tiere in Frage. Sicher sollten wir etwa verhindern, dass weiterhin Komodowarane von Menschen in Terrarien gehalten werden. Aber auf dem Standpunkt einer Interessentheorie der Tierrechte ist zumindest nicht selbstevident, dass das Gleiche auch für jede Haltung von Hunden, Katzen, Pferden, Schweinen, Schafen, Ziegen oder Hühnern gelten müsste. Viele dieser Tiere sind aus menschlicher Zähmung und Züchtung hervorgegangen. Sie können mit Menschen zusammenleben oder benötigen sogar unsere regelmäßige Hilfe und Fürsorge. Zwar sind sie darum einseitig auf ein wohlwollendes Handeln anderer angewiesen, das sie nicht selbst herbeizwingen können. Ein wahrhaft herrschaftsfreies Zusammenleben mit Menschen ist für sie keine Option. Und abseits menschlicher Kontrolle könnten sie kaum überleben, geschweige denn gut leben. Da aber ein gutes Leben mit und unter Menschen für sie eine echte Möglichkeit darstellt, ist unklar, was grundsätzlich für ein Ende sämtlicher Mensch-Tier-Beziehungen sprechen sollte. Gewiss, die Tiere wären dauerhaft von Menschen abhängig, viele von ihnen blieben uns grundlegend fremd – wer kann schon genau wissen, was ein Schaf empfindet? (Saretzki 2015) – und wir könnten auch Konflikte mit ihnen niemals ausschließen. Aber sind dies nicht im menschlichen Fall ebenso viele Gründe für politische Regelungen des Zusammenlebens? Bilden nicht Dependenz, Differenz und möglicher Streit sogar das Ausgangsproblem von Politik? Was den Umstand radikal einseitiger Abhängigkeit angeht, der bei Tieren besonders ins Auge fällt, so argumentieren Donaldson und Kymlicka, dass auch er schon die menschliche Lebensform charakterisiere (Donaldson/Kymlicka 2011, 83 ff.). Zu dieser gehörten schließlich immer auch längere Lebensphasen der Fürsorgebedürftigkeit. Warum also sollte etwas, das sogar die menschliche Kondition kennzeichnet, im Mensch-Tier-Verhältnis zwangsläufig rechteverletzend sein? Ich halte Donaldsons und Kymlickas Grundeinwand gegen den Abolitionismus für stichhaltig. Wir sollten daher dauerhafte und institutionalisierte Formen speziesgemischten Zusammenlebens anstreben, die wirklich allseits (!) akzeptabel und in diesem Sinne gerecht wären. Damit sind die eingangs genannten weiterführenden Fragen nach tierlichen Mitgliedschaftsrechten und nach einem möglichen aktivbürgerlichen Status von Tieren berührt. Ich habe an anderer Stelle begründet, warum ich die erste Frage affirmativ, die zweite negativ beantworte (Ladwig 2017). Hier wollte ich nur zeigen, dass soziale Gerechtigkeit auch für Tiere ein Gebot der politischen Moral ist.
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Braucht die Ethik einen animal turn? Bioethische Würde- und Tötungsdiskurse im Zeichen des Speziesismusvorwurfs Heike Baranzke
1 Die Idee universaler Menschenwürde im Lichte wechselnder Handlungskontexte „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 GG) Dieser Satz markiert im Jahr 1949 den Beginn des weltweiten „Siegeszug(s) der Menschenwürde“, jener jahrtausendealten ethischen Idee (Baranzke 2010), erstmals im Feld des nationalen Verfassungsrechts und dann auch im konstitutiven Europarecht (Tiedemann 2006, 29 f.; vgl. auch Sandkühler 2014, 177–189; Rothhaar 2015). Der Auftakt des Grundgesetzes (GG) der Bundesrepublik Deutschland war vorbereitet durch das Erschrecken der Weltgemeinschaft über unermessliche, staatlich durchorganisierte und industriell durchgeführte Menschheitsverbrechen durch die Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs. Daher spiegelt der erste Artikel des Grundgesetzes den Willen des deutschen Volkes, durch den expliziten Bruch mit der menschenverachtenden Nazi-Ideologie sich der Selbstverständigung der 1945 neu gegründeten Vereinten Nationen über die fraglose Anerkennung der gleichen Würde aller Mitglieder der Menschheitsfamilie, unabhängig von Hautfarbe, Religion oder Geschlecht, anzuschließen. Die Geltung universaler Menschenwürde konkretisiert sich 1948 in der Forderung der staatlichen Anerkennung ihrer ihnen als Menschen immer schon zukommenden, vorpositiven Rechte in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR). „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit
H. Baranzke (*) Bergische Universität Wuppertal, Wuppertal, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_11
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Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen“, lautet Artikel 1 der AEMR.1 Die Präambeln der beiden Internationalen Pakte aus dem Jahr 1966 geben Aufschluss über die Erkenntnis, dass sich die gleichen und unveräußerlichen Rechte „aus der dem Menschen innewohnenden Würde ableiten“.2 Das Bekenntnis der Weltgemeinschaft zu der allen Menschen gleichermaßen eignenden Würde wird damit zum konstitutiven Wertmaßstab für die moralische Legitimität von Rechtsordnungen überhaupt (Tiedemann 2006, Kap. X). Erst durch die rechtliche Anerkennung der Menschenwürde als höchstem Rechtsprinzip und der sich aus ihr herleitenden Menschenrechte wird ein Staat zu einem Rechtsstaat. Dieser begründungstheoretische Zusammenhang hatte sich bereits in Artikel 1 Absatz 2 GG niedergeschlagen, in dem festgehalten wurde, dass sich das deutsche Volk wegen der Unantastbarkeit der Menschenwürde („darum“) „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten bekennt“. 2006 wurde die Unveräußerlichkeit der Menschenrechte in der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)3 auch für Menschen mit Behinderung zum Ausdruck gebracht. Seit den 1960er Jahren geriet die erneuerte Sensibilisierung für die Schutzbedürftigkeit des menschlichen Individuums zunehmend in den Sog der neuartigen medizin- und bioethischen Debatten über Entscheidungsprobleme an den Grenzen des Lebens. Medizinisch-technische Fortschritte auf dem Gebiet der Lebenserhaltung und neue biotechnische Entwicklungen am menschlichen Lebensbeginn eröffneten bislang ungekannte Handlungs- und Entscheidungsoptionen für oder gegen den Erhalt menschlichen Lebens. Es entbrannten erbitterte, öffentlich geführte Auseinandersetzungen zuerst in den technisch weiter fortgeschrittenen anglophonen Staaten über die Legitimität von Behandlungsabbruch und Euthanasie, die die Frage der Tötung und des Sterbenlassens von Menschen jenseits von Krieg oder Verbrechen ins Zentrum rückte (vgl. u. a. Tooley 1990; Dworkin 1993; McMahan 2002). Diese Auseinandersetzungen wurden in den anglophonen Staaten, die den Begriff der Menschenwürde nicht in ihren Verfassungen führen, zunächst mit anderen Termini wie ‚sanctity of life‘ (Kuhse 1987; Singer 1995; Dworkin 1993, 68–101; Bayertz 1996; Khuschf 1996; Baranzke 2012b) oder ‚Person‘ (Tooley 1990) geführt. Erst die etwas später einsetzende deutschsprachige biomedizinethische Debatte insbesondere über Schwangerschaftskonflikt, Lebensendeentscheidungen, Klonen und Stammzellforschung internationalisierte den Begriff der Menschenwürde auch im anglophonen Diskurs (Macklin 2003; President’s Council for Bioethics 2008). 1Universal
Declaration of Human Rights, https://www.un.org/Depts/german/menschenrechte/ aemr.pdf (23.11.2019). 2Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR), https://www.un.org/ Depts/german/uebereinkommen/ar2200-a-xxi-dbgbl-1533.pdf und Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR) https://www.un.org/Depts/german/ uebereinkommen/ar2200-a-xxi-dbgbl-1569.pdf (23.11.2019). 3Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen https://www.un.org/Depts/ german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf (23.11.2019).
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Zeitgleich mit den heftigen medizinethischen Debatten verdichtete sich das Unbehagen angesichts des industrialisierten und ökonomisierten Umgangs mit Nutztieren (Harrison 1964) sowie mit den natürlichen Lebensgrundlagen (Meadows u. a. 1972). Die gedankenlose Ausbeutung von Tieren und Natur wurde auf das Selbstverständnis des Menschen als eines Wesens mit Sonderstellung zurückgeführt und angeklagt. Alle Moral- und Rechtstitel des Menschen, sein Person- und Würdestatus so gut wie auch die im anglophonen Bereich verbreitete ‚sanctity of life‘, gerieten unter den Verdacht, nichts als anthropozentrische Legitimationsstrategien für die Ausbeutung von Tieren und Natur darzustellen. Erschüttert von seinen Erfahrungen des grausamen und gedankenlosen Umgangs mit Labortieren prägte der Experimentalpsychologe Richard Ryder um das Jahr 1970 herum dafür den Begriff ‚Speziesismus‘, der eine unberechtigte Vorteilsnahme des Menschen allein aufgrund seiner biologischen Artzugehörigkeit unterstellt und dieses Vergehen mit Rassismus analogisiert (Ryder 1972, 81). Mit dem Neologismus ‚Speziesismus‘ manifestierte Ryder jedoch zugleich eine radikale Biologisierung des Menschen, die die Möglichkeit, den Menschen als etwas anderes als eine Tierart unter anderen zu betrachten, ausschloss und unter Ideologieverdacht stellte. „Man is, after all, just one species in the Primate order“ (ebd., 80). Insofern ist dem Begriff eine antihumanistische und menschenrechtsfeindliche Einstellung per definitionem eingeschrieben, auch wenn dies nicht Ryders leitende Absicht war. Peter Singer verschaffte Ryders Begriffserfindung einen festen Platz in der Tierund Biomedizinethik, indem er die beiden Diskurse insbesondere im Hinblick auf das Tötungsproblem verbunden hat (Singer 1995). Unter seinem Einfluss rief Helga Kuhse programmatisch zum Unsanctifying human life in medizinethischen Fragen auf (Kuhse 2001). Der Begriff des moral status verdrängte zunehmend den Begriff der Menschenwürde in den life science-Ethik-Diskursen, die dem Speziesismusvorwurf zuvorzukommen suchten, indem sie sich auf biopsychologische Eigenschaftszuschreibungen einließen (Warren 1997; Damschen/Schönecker 2003; Baranzke 2013). Unter dem Anglizismus ‚moralischer Status‘ ließen sich fortan medizin-, life science- und tierethische Debatten vereinen, ohne die moralische Mensch-TierDifferenz thematisieren zu müssen. Eine besondere Rolle spielt dabei das marginal case-Argument, wie nachfolgend deutlich wird.
2 Differenzen zwischen neuer und alter Tierrechtsdebatte im Licht des marginal caseArguments Peter Singers Animal Liberation aus dem Jahre 1975 (hier zitiert nach der deutschen Ausgabe Singer 1982) gilt als Bibel der neuen Tierrechtsbewegung. „Die Befreiung der Tiere ist auch eine Befreiung der Menschen“ (ebd., 16), lautete Singers Versprechen in einer Zeit wachsenden Krisenbewusstseins für die vielfältigen Gefährdungen des Lebens. In einer interessenethisch modifizierten Version des Utilitarismus war er mit dem Ziel angetreten, „die nichtmenschlichen Lebewesen in unsere Sphäre moralischer Belange einzubeziehen“ (ebd.,
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40). Dieses Ziel sucht Singer mit dem „Prinzip der gleichen Berücksichtigung der Interessen“ (ebd., 26) zu verwirklichen, und zwar unabhängig von der Artzugehörigkeit des Interessenträgers: Man könnte es so sehen, daß es das Recht von Schimpansen, Hunden und Schweinen und einigen anderen Arten auf Leben bestätigt und dass wir eine schwere moralische Verfehlung begehen, wenn wir diese töten, selbst wenn sie alt und leidend sind und wir die Absicht haben, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Man könnte das Argument aber auch so auffassen, daß die schwer Zurückgebliebenen und hoffnungslos Senilen kein Recht auf Leben haben und aus ganz trivialen Gründen getötet werden dürfen, wie wir gegenwärtig die Tiere töten. (ebd., 40)
Die Passage zeigt, dass Singer sich der Zweischneidigkeit seiner Argumentation von Anfang an bewusst ist. Sie trug dem Sohn einer österreichisch-jüdischen Familie von Holocaustopfern (Singer 2005) in Deutschland und Österreich den Faschismusvorwurf ein.4 Zwischen der Skylla der Verabsolutierung des Lebensschutzes empfindungsfähiger Lebewesen und der Charybdis willkürlicher Tötungen nicht selbstbewusster Menschen sucht er eine mittlere Position, die den Speziesismus vermeidet, die aber das Leben der Zurückgebliebenen und Senilen nicht auf die Stufe stellt, der heute das Leben von Schweinen und Hunden zugerechnet wird, und das Leben von Schweinen und Hunden auch nicht so sakrosankt macht, dass wir es für falsch halten, sie aus hoffnungslosem Elend zu erlösen. (Singer 1982, 40)
Singer greift Ryders Begriff auf und macht ihn auf dem Boden einer biologischen Anthropologie theoriefähig. „Alle Tiere sind gleich!“, lautet das von George Orwells „Animal Farm“ entliehene, nun gar nicht mehr ironisch gemeinte Credo der Singerschen Tierethik, mit dem er behauptet, der Begriff ‚Mensch‘ bezeichne nichts weiter als die Zugehörigkeit zur biologischen Art homo sapiens. Wenn Versuche an geistig zurückgebliebenen, verwaisten Menschen falsch sind, warum sind dann Versuche an nichtmenschlichen Lebewesen nicht falsch? Welcher Unterschied besteht zwischen den beiden außer der schlichten Tatsache, dass der eine biologisch gesehen ein Mitglied unserer Spezies ist, der andere aber nicht? Das aber ist mit Sicherheit kein moralisch relevanter Unterschied, ebenso wenig wie die Tatsache, dass ein Lebewesen nicht Angehöriger unserer Rasse ist, ein moralisch relevanter Unterschied ist. (Singer 1982; vgl. auch ebd., 35 f.)
Diese auf Biologie reduzierte Anthropologie im Horizont einer evolutionistischen Weltanschauung trifft in der Nachkriegszeit auf die durch den medizinisch-technischen Fortschritt ausgelöste Kontroverse über (Früh-)Euthanasie sowie auf die aufkeimenden
4Singer
1994, vgl. dort vor allem den Anhang: „Wie man in Deutschland mundtot gemacht wird“ (425–452).
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Bio- und Medizinethikdebatten. Singer führt die Themen zusammen und entwickelt Kriterien, mit denen er tier- und medizinethische Fragen um Leben und Tod kohärent nach den gleichen Prinzipien zu lösen versucht. Vor diesem Hintergrund fokussiert die neue Tierrechtsethik die Aufmerksamkeit von Anbeginn an auf die Frage nach dem Kriterium moralisch legitimer Tötungshandlungen auch in der Humanbioethik. Folgerichtig preist der Erstübersetzer von Singers Praktischer Ethik, Jean-Claude Wolf, diese darin als „revolutionär“, dass es aus den gleichen Gründen unmoralisch ist, Menschen und Tiere grausam zu behandeln und zu töten. […] die drastische These, das eigentliche Rückenmark der Tierethik, bezieht sich auf die Gründe für das Tötungsverbot. Daraus geht hervor, dass die Tierethik kein Anhängsel, kein Nebenzweig der Ethik, sondern eine zentrale Weichenstelle für die Art der Begründung in der Ethik überhaupt ist. (Wolf 1992, 19)
Damit diagnostiziert Wolf die Differenz zwischen der neuen Tierrechtsdebatte und dem im 19. Jahrhundert dominierenden humanitären Tierschutzansatz. Während Letzterer noch unter dem Einfluss einer idealistischen und christlichen Anthropologie an der grundsätzlichen Mensch-Tier-Differenz festhielt, bestreitet die neue Tierrechtsbewegung unter dem Schlachtruf des biologistischen Speziesismusvorwurfs jene Differenz zunächst mit dem Ziel, die Willkürlichkeit menschlicher Interessenvorherrschaft über die Tiere in Abrede zu stellen (Singer 2011). Die Radikalisierung der neuen Tierrechtsbewegung zeigt sich auch im Vergleich mit den im 18. Jahrhundert noch humanistisch beeinflussten Anfängen der Tierrechtsdebatte. Singer beruft sich in Animal Liberation (Singer 1982, 26 f.) auf Jeremy Benthams berühmte Fußnote aus den Principles of Morals and Legislation. Schon Bentham stellte einen Mensch-Tier-Vergleich an, und zwar zwischen adulten Tieren und Kleinkindern. Damit zielte er darauf, die von der Cartesianischen Tierautomatentheorie typischerweise hervorgehobenen Anthropina Vernunft und Sprache nicht nur für ein Tierquälereiverbot, sondern als moralisch relevante Kriterien zugunsten einer pathozentrischen und sentientistischen, letztlich hedonistischen Fundierung der utilitaristischen Ethik auszuhebeln. Zuvor legitimierte Bentham allerdings die rasche Tötung von Tieren zu Nahrungszwecken wie auch die Tötung von schädlichen und lästigen Tieren mit ihrem fehlenden Zukunftsbewusstsein. […] Wenn es nur darum geht, sie [die Tiere, H. B.] zu essen, gibt es sehr gute Gründe dafür, warum es uns erlaubt sein sollte, […]. Uns nützt es und ihnen schadet es nicht. Sie haben keine sehr langanhaltenden Vorahnungen zukünftigen Leids, wie wir sie besitzen. Der Tod, den sie von unseren Händen erleiden, ist […] schneller und weniger schmerzhaft als derjenige, der sie im unvermeidlichen Lauf der Natur erwarten würde. Wenn es nur darum geht, sie zu töten, gibt es sehr gute Gründe, diejenigen zu töten, die uns lästig sind; uns würde ihr Weiterleben schaden, und ihnen schadet der Tod nicht. Doch gibt es irgendeinen Grund, warum es uns erlaubt sein sollte, sie zu quälen? Ich kann keinen erkennen. […] Aber welches andere Merkmal könnte die unüberwindliche Grenzlinie sein? Ist es die Fähigkeit zu denken oder vielleicht die Fähigkeit zu sprechen? Doch ein erwachsenes Pferd oder ein erwachsener Hund sind weitaus verständiger und mitteilsamer als ein Kind, das einen Tag, eine Woche oder sogar einen Monat alt ist. Doch selbst, wenn es nicht so
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wäre, was würde das ändern? Die Frage ist nicht: Können sie denken? oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden? (Bentham 1823, Kap. 17, § 1, Anm. 1, zit. nach Linnemann 2000, 134 f.)
Die Unterscheidung, die Bentham noch mit einem zu hinterfragenden empirischen Argument zwischen Tiertötung und Tierquälerei vornimmt, ist für Singer auf dem Boden einer total biologisierten Anthropologie und im Horizont der Euthanasiedebatte nicht mehr plausibel. Dieser Umstand gewinnt dadurch an Schärfe, dass Singer erwachsene Tiere nicht mit gesunden Kleinkindern vergleicht, sondern mit „schwer Zurückgebliebenen und hoffnungslos Senilen“ (Singer 1982, 40). Die behauptete Hoffnungslosigkeit des Zustandes von Menschen mit geistiger Behinderung und von Menschen mit Altersdemenz ist geeignet, die Anwendung von Potentialitätsargumenten ad absurdum zu führen, die mit der ontogenetischen Entwicklungsfähigkeit von Individuen wie Embryonen und Kindern operieren. Damit unterstreicht Singer nachdrücklich, dass er allein aktuell feststellbare Eigenschaften und Fähigkeiten von Individuen, nicht aber typische Arteigenschaften als Kriterien für die Identifizierung direkt Betroffener von Handlungskonsequenzen zu akzeptieren bereit ist. Wie viele philosophische Ethiker des 20. Jahrhunderts hängt Singer dem Projekt einer metaphysikfreien Ethik an. Während Bentham mit der Absenkung der Messlatte – Leidensfähigkeit statt Vernunft- und Sprachfähigkeit – die ‚moral community‘ um leidensfähige Wesen zu erweitern sucht, zugleich aber weiterhin an einer qualitativen moralischen Differenz von Tier- und Menschentötung festhält, verschärft Singer durch die Integrierung der Euthanasiefrage noch die schon mit seiner biologisch-reduzierten Anthropologie angelegte Zweischneidigkeit seiner Ethik. Dies geschieht, indem Singer zusätzlich zur „boundary of sentience“, die empfindungsfähige von nicht empfindungsfähigen Entitäten unterscheidet, mit der Persondefinition John Lockes eine zweite Grenzziehung einführt, gewissermaßen eine ‚boundary of self-consciousness‘. Mit diesem teilt er – entgegen Lockes Intention, aber vorbereitet durch Michael Tooleys Abtreibungsethik – die empfindungsfähigen Mitglieder der ‚moral community‘ in solche Individuen auf, die durch ein direktes Tötungsverbot geschützt sind, und solche, denen ein Lebensschutz nur dann zuteil wird, wenn sich jemand aus persönlichem Interesse für sie einsetzt. Die qualitative Differenz zwischen der alten und der neuen Tierrechtsethik liegt in der Einführung des empirisch fundierten interesseethischen Personbegriffs als Kriterium für ein starkes direktes Tötungsverbot begründet (Ingensiep/Baranzke 2018).
3 Vom angeborenen Menschenrecht zum biologistischen Leistungsrecht – Michael Tooley’s interesseethischer Personbegriff als gamechanger Die Frage der Legitimität der Tiertötung streift Singer in Animal Liberation nur (Singer 1982, 36–42), „for I wanted the book to reach non-philosophers, and the issue of killing cannot be dealt with briefly and simply“ (Singer 1979, 145).
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Erst in dem 1979 erschienenen Aufsatz „Killing Humans and Killing Animals“,5 mit dem er eine Lücke in seinem Buch Animal Liberation zu füllen trachtet, diskutiert Singer die Legitimität der Tiertötung zunächst in einem philosophischen Fachaufsatz und vergleicht sie mit der Tötung von Menschen, insbesondere von Kindern und schwerst geistig behinderten Menschen. In diesem Zusammenhang wird nun der Personbegriff prominent, der dann auch in den beiden Auflagen von Practical Ethics eine zentrale Rolle spielt. Dazu rezipiert er Michael Tooleys Ausführungen über „Abtreibung und Kindstötung“, die dieser in einem 1972 publizierten Artikel über „Abortion and Infanticide“6 erstmals niedergelegt hatte. Tooley rekurriert in seiner Argumentation auf die Persondefinition John Lockes, die dieser im zweiten Buch der 1694 erschienenen zweiten erweiterten Auflage seiner Schrift An Essay Concerning Human Understanding im 27. Kapitel Of Identity and Diversity vorgelegt hatte. Nach Locke bezeichnet Person […] ein denkendes, verständiges Wesen, das Vernunft und Überlegung besitzt und sich selbst als sich selbst betrachten kann. Das heißt, es erfaßt sich als dasselbe Ding, das zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten denkt. Das geschieht lediglich durch das Bewusstsein, das vom Denken untrennbar ist […] (Locke 1962, 419)
Motiviert wurde Locke zu der Erörterung der Bedingungen personaler Identität durch eine im ausgehenden 17. Jahrhundert geführte theologische Diskussion über Auferstehung und Jüngstes Gericht. Die Frage war, wodurch die Gerechtigkeit des göttlichen Urteilsspruchs gewährleistet sei, so dass auch jeder für die je eigenen Handlungen Lohn und Strafe empfange, wenn die der Verwesung unterworfene menschliche Gestalt hierfür keine zuverlässige Identifizierungsgrundlage liefere. Das Problem des Kriteriums für die Feststellung der Identität zwischen Täter und Verurteiltem stellt sich „nicht nur in bezug auf das göttliche Urteil, sondern auch in bezug auf menschliche Gerichtshöfe“ (Thiel 2001, 80). Zur Lösung dieser theologischen, moralischen und rechtlichen Gerechtigkeitsfragen definiert Locke die forensische Funktion seines psychologischen Personbegriffs, die er in besonderer Weise motiviert: Der Name für dieses Selbst ist meines Erachtens nach das Wort Person. Überall, wo jemand das findet, was er sein ‚Ich-Selbst‘ nennt, kann meiner Meinung nach ein anderer sagen, es sei dieselbe Person vorhanden. Es ist ein juristischer Ausdruck, der sich auf Handlungen und ihren Lohn bezieht; er findet also nur bei vernunftbegabten Wesen Anwendung, für die es Gesetze geben kann und die glücklich und unglücklich sein können. Diese Persönlichkeit erstreckt sich vom gegenwärtigen Dasein in die Vergangenheit zurück nur durch das Bewusstsein, durch das sie beteiligt und verantwortlich wird und sich vergangene Handlungen mit derselben Begründung und aus derselben Ursache zueignet und zurechnet wie die gegenwärtigen. (Locke 1962, 435 f.)
5Singer 1979. Der Artikel bildet bereits den Grundstock für das 4. Kapitel der Erstauflage von Practical Ethics aus dem Jahre 1979: „What´s wrong with killing?“ (vgl. dazu die deutschen Übersetzungen in Singer 1992 sowie Singer 1994). 6Tooley 1972, 37–65, hier zitiert nach der erweiterten deutschen Übersetzung Tooley 1990, 157– 195.
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Entscheidend ist, dass Locke zwischen ‚Mensch‘ und ‚Person‘ differenziert, um die Voraussetzungen für die Zurechenbarkeit von Handlungsverantwortung zu klären. Person ist für Locke insofern ein juristischer Zurechnungsterminus in Gerichtssituationen (Höffe 1993, 75f.). Michael Tooley benutzt Lockes Persondefinition für gänzlich andere Praxiszwecke und macht daraus einen anderen Personbegriff. Für Tooley ist die „Tendenz, Ausdrücke wie ‚Person‘ und ‚menschliches Wesen‘ austauschbar zu gebrauchen“, „nicht vorteilhaft“, weil „sie unter der Hand die abtreibungsfeindlichen Positionen“ stärke (Tooley 1990, 161). Er trennt die Begriffe ‚Person‘ und ‚Mensch, um für eine liberale Abtreibungspraxis zu argumentieren und sucht „einen nicht-willkürlichen Grenzpunkt“ für die Beantwortung der Frage: „Auf welcher Stufe der Entwicklung eines menschlichen Wesens ist nicht mehr erlaubt, es zu vernichten?“ (Tooley 1990, 157). Diesen macht er an dem scheinbar objektiven Kriterium von Selbstbewusstsein fest, obwohl dies mit vielen Schwierigkeiten behaftet ist. Tooleys Fragestellung zeigt, dass er „eine konsistente, umfassende und philosophisch haltbare Erklärung der Moral des Tötens gewinnen will“ (ebd., 192). Im Kontext einer von allen Seiten erbittert geführten Debatte über den Schwangerschaftsabbruch kehrt Tooley also die menschenrechtliche Perspektive der Verteidigung des Lebensrechtes in die Verteidigung eines Tötungsrechtes um. Dabei negiert er nicht nur das Menschenrecht auf Leben, sondern die Idee vorpositiver universaler Menschenrechte überhaupt. Singer nimmt Tooleys Perspektivenwechsel explizit auf, wenn er im vierten Kapitel seiner Praktischen Ethik die Frage untersucht: „Weshalb ist Töten unrecht?“ (Singer 1979, Kap. 4). Tooley torpediert die Idee eines universalen Menschenrechts auf Leben, indem er den Wertbegriff ‚Mensch‘ zu „Angehöriger der Spezies Homo sapiens“ (Tooley 1990, 162) umdefiniert und biologisiert. Die gerade neu anhebende Tierrechtsdiskussion kommt dem Verfechter einer liberalen Abtreibungspraxis dabei gelegen, weil sie durch den Mensch-Tier-Vergleich einem biologisch reduzierten Verständnis des Begriffs vom Menschen Vorschub leistet. Im Dienste dieser Vorverständnisse und Interessenlagen gibt Tooley vor, Lockes Persondefinition „als reinen Moralbegriff“ einzuführen und definiert Personsein als Voraussetzung für „ein (gewichtiges) moralisches Recht auf Leben“ (ebd., 159). Damit stellt er das Menschenrecht auf Leben unter einen Vorbehalt und behauptet, dass es für dessen berechtigte „Zuschreibung“ (ebd., 163) plausibler empirischer Kriterien bedürfe, nämlich des Besitzes von Selbstbewusstsein. Das ist der argumentativ entscheidende Schritt, der einen gegenüber Lockes Intention völlig veränderten Gebrauch der Persondefinition einleitet. Denn während Locke einen forensischen Personbegriff als Zurechnungsinstanz für Handlungsverantwortung definiert, behauptet Tooley: Ein Organismus besitzt ein gewichtiges Lebensrecht nur, wenn er über einen Begriff des Selbst als eines fortdauernden Subjekts von Erfahrungen und anderen mentalen Zuständen verfügt sowie glaubt, dass er selbst eine solche Entität darstellt. (ebd., 164)
Nur unter der „Bedingung des Selbstbewußtseins“ (ebd., 164) ist nach Tooley die Voraussetzung dafür gegeben, überhaupt ein Interesse an der Fortdauer seines
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Lebens zu besitzen. Wo aber kein Interesse, da ist auch kein Recht, lautet die Argumentation, die Tooley einige Jahre später in die Form seines „Speziellen Interesseprinzips“ bringt: Es ist eine begriffliche Wahrheit, dass ein Wesen kein spezielles Recht R haben kann, wenn es nicht über ein Interesse I verfügt, das durch Besitz des Rechts R gefördert wird.7
Tooley schreckt nicht davor zurück, die Persondefinition John Lockes, einer der geistigen Väter der Menschenrechtsidee (Locke 1689/1967), seinem „Speziellen Interesseprinzip“ und folglich seinem Plädoyer für Abtreibung und Kindstötung zu unterwerfen. Tooleys „Spezielles Interesseprinzip“ spricht Personen, also Wesen mit Selbstbewusstsein, das nun als empirische Voraussetzung für ein Interesse am Weiterleben fungiert, ein Recht auf Leben zu. Nicht selbstbewussten, aber empfindungsfähigen Nichtpersonen wird das Interesse und somit auch das Recht, nicht gequält zu werden, zugestanden, nicht aber ein Recht auf Leben. Diese von Singer später in seine Praktische Ethik übernommene Zweistufenethik für nur empfindungsfähige Nichtpersonen und empfindungsfähige und selbstbewusste Personen weitet die alte, noch bei Bentham vorliegende Unterscheidung zwischen dem Verbot der Tierquälerei und der Erlaubnis der Tiertötung nun mit dem von Bentham angeführten Argument des fehlenden Zukunftsbewusstseins über das Vehikel der Lockeschen Persondefinition auf alle nur empfindungsfähigen Lebewesen aus – menschliche Individuen inbegriffen. Die Koppelung des Lebensrechtes an die empirische „Bedingung des Selbstbewußtseins“ hat für die Logik der Menschenrechte einen weit reichenden Nebeneffekt: Sie zerstört die Fundierungshierarchie der Menschenrechte: Das Recht auf Leben verliert seinen alle übrigen Rechte fundierenden Charakter. Es fungiert nicht länger als die fundamentale Voraussetzung dafür, andere Rechte überhaupt haben zu können. Nun aber partizipieren bloß empfindungsfähige Nichtpersonen, unter denen sich auch Menschen befinden können, „die keine Personen sind – menschliche ‚Grenzfälle‘“, wie „Föten, Schwachsinnige, Menschen im Koma“ (Wolf 1992, 67), also Menschen, die noch nicht oder nicht mehr über die Lockeschen Personeigenschaften verfügen, nicht (mehr) an dem menschenrechtlichen Schutz auf Leben – sie dürfen schmerzlos getötet werden. In Tooleys wie auch in Singers Ethik existiert kein universales und unveräußerliches Menschenrecht auf Leben. Es gibt bestenfalls gewichtige Gründe, das an
7Ebd., 188. – Feinberg hatte in seinem ebenfalls klassisch gewordenen Aufsatz „The Rights of Animals and Unborn Generations“ sein „Interesse-Prinzip“ folgendermaßen formuliert: „Zu den Wesen, denen man Rechte zusprechen kann, gehören genau jene, die Interessen haben (oder haben können)“ (Feinberg 1980, 151). Feinbergs Anliegen war es, mit Hilfe des Interessebegriffs Tiere als mögliche direkte Subjekte von Rechtsansprüchen zu thematisieren und derart aufzuzeigen, dass es prinzipiell nicht absurd sei, auch Tieren Rechte zuzusprechen. Es geht Tooley anders als Feinberg somit nicht um begrifflich notwendige Bedingungen möglicher Rechtsträgerklassen, sondern um die empirisch notwendigen Bedingungen tatsächlicher individueller Subjekte eines Lebensrechtsanspruchs.
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elbstbewusstseinsfähigkeiten gekoppelte Interesse von menschlichen und nichtS menschlichen Personen an der Fortdauer ihrer Existenz zu respektieren, solange es plausibel nachweisbar ist.
4 Begründungstheoretische Paradoxien der Tierrechtsbewegung Die empiristische und biologistische Unterwanderung der Ideen universaler und unveräußerlicher Menschenwürde und Menschenrechte hindern Tierrechtsaktivisten nicht daran, sich rhetorisch des hohen Ansehens der Ideen und Begriffe in tierrechtspolitischen Aktionen publikumswirksam zu bedienen. So startete Singer mit seiner italienischen Kollegin Paola Cavalieri das Great Ape-Projekt (GAP), indem er in deutlicher Analogie zur UN-Menschenrechtsdeklaration eine „Deklaration über die Großen Menschenaffen“ verkündete (Cavalieri/Singer 1993). Auch die von Paola Cavalieri angeregte „Deklaration von Zetazeen-Rechten“, die das Kollegium for Advanced Studies der Universität von Helsinki am 22.05.2010 im Rahmen einer interdisziplinären Konferenz verkündet hat, steht im Horizont der GAP-Programmatik (The Helsinki Group 2010). Die Erklärung der Rechte von Meeressäugern trägt aufgrund der Ortswahl werbewirksam denselben Namen wie die als Helsinki-Deklaration bekannte Menschenrechtserklärung im Bereich der Medizin- und Forschungsethik des Weltärztebundes. Auch auf EU-Ebene gibt es diverse Vorstöße der Tierrechts- bzw. Tierbefreiungsaktivisten, mit Hilfe der GAP-Deklaration Menschenaffen mit dem Status einer Rechtsperson zu versehen. Aufsehen erregt hat vor wenigen Jahren der österreichische Fall des Schimpansen Hiasl, den der Tierrechtsaktivist Martin Balluch und der Rechtsanwalt Eberhart Theuer durch alle österreichischen Rechtsinstanzen hindurch bis vor den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gebracht haben (Theuer 2009). Ziel war, Hiasl einer unmündigen Rechtsperson gleichzustellen, um dem Tier, vertreten durch einen Sachwalter, Privatvermögen zu seiner Existenzsicherung zuerkennen zu können. Theuer begründet sein Plädoyer für die Rechtspersonalität des Schimpansen mit der Metapher der naturgeschichtlichen Verwandtschaft von Menschen und Schimpansen und erklärt, sie „rein rechtlich“ von der biologischen Gattungszugehörigkeit abzuleiten. Der EGMR lehnte das Ersuchen am 15.01.2010 aus formalrechtlichen Gründen ab (Christmann/Haug 2010). – Festzuhalten ist, dass im Zuge der Biologisierung sowohl des Menschen als auch der subjektphilosophischen Moral- und Rechtsbegriffe Tierrechte nicht nur in Analogie zu Menschenrechten gedacht, sondern diesen auf gemeinsamer psychobiologischer Basis als Teilmenge zugeordnet werden sollen. Dabei wird übersehen, dass dem Menschen gemäß AEMR nicht aufgrund seiner empirischen psychobiologischen Ausstattung, sondern aufgrund seiner moralischen Bestimmung – „mit Vernunft und Gewissen begabt“ – vorstaatliche Rechte zukommen. Auch die Rede von ‚natürlichen‘, ‚angeborenen‘ oder ‚naturrechtlich‘ begründeten Rechten lädt zu äquivoken Missverständnissen ein, insofern das aus den Gesellschaftsvertragstheorien stammende Vokabular ‚vorstaatlicher‘
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bzw. ‚vorpositiver‘ Rechte empirisch biologisch oder mit Hilfe einer evolutionsbiologischen Metaphysik umgedeutet wird. Paradoxerweise wird zwar der Geltungsanspruch vorpositiver universaler Menschenrechte von der Tierrechtsbewegung biologistisch destruiert, zugleich aber versucht, zumindest höhere Tiere eben diesem universalen moralischen Schutzversprechen zu unterstellen, das mit biologischen Begriffen nicht darstellbar ist. Dem Ansinnen der Erklärung ‚natürlicher‘ Tierrechte kommt auch der 1992 in die Schweizer Bundesverfassung (SBV Art. 24novies Absatz 3) eingebrachte rechtliche Neologismus „Würde der Kreatur“ gelegen. Den beiden Ausdrücken – ‚Menschenwürde‘ und ‚Würde der Kreatur‘ – ist in der deutschen Sprache das äquivoke Wort ‚Würde‘ gemeinsam. Die beiden Termini gehören jedoch völlig unterschiedlichen begriffs- bzw. ideengeschichtlichen Traditionen an, nämlich einer philosophischen dignitas- und einer schöpfungstheologischen bonitas-Tradition im Sinne des Theologems der „Güte der Schöpfung“ (Baranzke 2002, 2015). Trotz ihrer völlig unterschiedlichen Bedeutungen der Ideentraditionen wird die „Würde der Kreatur“ aufgrund des äquivoken Wortbestandteils univok zur ‚Menschenwürde‘ in rechtebegründender Funktion verwendet. So steht für die Rechtswissenschaftlerin Saskia Stucki allein aufgrund des Gleichklangs der deutschsprachigen Wortbestandteile außer Frage, dass abgeleitet von dem neuen unbestimmten Rechtsbegriff der „Würde der Kreatur“ „insbesondere die positivrechtliche Figur der Tierwürde […] angesichts der zentralen Bedeutung des Würdebegriffs für das Grund- und Menschenrechtssystem die Diskussion um menschenrechtsähnliche Tiergrundrechte“ eröffnet (Stucki 2015, 301; Kunzmann 2007). Die sprachphilosophische Differenz zwischen einem Wort und einem Begriff verschwindet im Zuge tierrechtspolitischer Interessen. Nach dieser Logik müsste man auch einen Wasserhahn und einen Wetterhahn zu biologischen Arten erklären, weil sie den Wortbestandteil „Hahn“ aufweisen.
5 Die reflexionsphilosophische Unverzichtbarkeit der Mensch-Tier-Differenz Tierrechtspolitische Diskurse dieser Art zielen auf die höchsten, begründungstheoretisch relevanten Rechtsebenen des nationalen Verfassungs- sowie des internationalen Rechts, um den Menschenrechten gleichrangige Tierrechte zu installieren. Daher ist eine Vergewisserung der konstitutiven Fundamente von Recht und Ethik erforderlich. Schon die Beantwortung der Frage, wen die Tierrechtsappelle adressieren, expliziert die Sonderstellung des Menschen als Subjekt in Ethik und Recht. Die moralphilosophische Subjektstellung des Menschen begründet nicht nur seine Rechtspersonalität in dem Sinne, Träger von Rechten zu sein, sondern setzt logisch die Besonderheit seiner Verpflichtungsfähigkeit voraus. Denn die Einsicht, dass die Rede von natürlicher Rechtspersonalität nur sinnvoll ist bezüglich Wesen, die auch als verpflichtungsfähig vorstellbar sind, gehört unter der Bezeichnung der Rechte-Pflichten-Symmetrie zu den grundlegenden Erkenntnissen der Moralphilosophie seit Immanuel Kant. Der G rundsatz
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der Rechte-Pflichten-Symmetrie widerspricht jedoch nicht der Möglichkeit, dass wir Menschen uns selbst – sogar positivrechtlich erzwingbar – auf Unterlassungspflichten wie auf Fürsorgeverantwortung im Hinblick auf Tiere verpflichten können. Insofern wäre es sinnvoll, tierschutzpolitische Aktivitäten für die Schaffung politischer Mehrheiten insbesondere bei den Landwirtschaftsminister*innen, denen der Tierschutz in der Regel untersteht, zu richten. Stattdessen setzen tierrechtspolitische Aktivist*innen auf eine Gleichstellungsstrategie, die nicht nur die menschenrechtspolitischen Grundlagen unterminiert – was eigentlich niemand wollen kann –, sondern bestenfalls in eine Abwägungssituation zwischen vermeintlich gleichen Interessen von Menschen und Tieren führt, die wieder nur von Menschen vorgenommen werden kann. Zusätzlich zu diesen elementaren Widersprüchen verschüttet die Gleichstellungsstrategie im Zeichen des Speziesismus systematisch die Einsicht in die konstituierenden Grundlagen unserer Moral- und Rechtsordnung. Dies wurde bereits in der interesseethisch missbräuchlichen Verwendung der Lockeschen Persondefinition deutlich, die statt für die Zurechnung von Handlungsverantwortung für eine vorbehaltliche Zuerkennung eines Rechts auf Leben eingesetzt wird. Obwohl Locke die Zurechnungsfähigkeit personaler retrospektiver Handlungsverantwortung, durch die ein Rechtssubjekt konstituiert wird, an das vermeintlich objektive Kriterium des empirischen Selbstbewusstseinsstroms bindet, entspringt das Kriterium als solches menschlicher Introspektion. Damit weist Locke der modernen reflexionsphilosophischen Begründung subjektphilosophischer Begrifflichkeiten den Weg, die durch Zuschreibungen mit Hilfe von in natürlicher Erkenntniseinstellung gewonnenen Eigenschaften und Fähigkeiten nicht zu gewinnen ist. Denn Subjektivität ist im Gegensatz zu Verhalten nicht aus der drittpersonalen Perspektive eines unbeteiligten Beobachters – empirisch – zu erheben, sondern allein auf der Basis der Erfahrung seiner selbst als Handlungssubjekt, d. h. aus der Perspektive der ersten Person, begrifflich rekonstruierbar.8 Es ist letztlich eine Frage von Plausibilität, wieweit man Wesen anderer Artzugehörigkeit Handlungsverantwortung unterstellen und diese gegebenenfalls auch rechtlich zur Verantwortung ziehen möchte. Anderes hatte Locke mit seinem Personbegriff jedenfalls nicht im Sinn. Die von jeder Regierung anzuerkennenden vorstaatlichen Menschenrechte begründete Locke in seinen Political Treatises (Locke 1694/1962) hingegen gottesrechtlich als vom Schöpfer 8Locke
(Locke 1694/1962) definiert die Möglichkeitsbedingung von Handlungsverantwortung, durch die eine Rechtsperson konstituiert wird, noch empirisch durch den kontinuierlichen Bewusstseinsstrom. Kant zeigt jedoch, dass die moralische Idee der Zurechenbarkeit „noch nicht aus der Identität des Selbstbewußtseins, sondern erst aus der moralischen Selbstgesetzgebung folgt“ (Sturma 1997, 207). Kant widerspricht Locke aber auch in theoretischer Hinsicht darin, dass die Identität der Person nicht aus dem kontinuierlichen Selbstbewusstseinsstrom resultiert, sondern die empirisch-psychologische Persönlichkeit sich als identisch immer schon voraussetzen muss, um sich als einheitliches Bewusstsein in der Zeit überhaupt erfahren zu können. Das „ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kant 1787, AK III, KrV B 131) muss, ist als transzendentale Einheit der Apperzeption die begriffliche Bedingung der Möglichkeit empirischer Identitätserfahrung (vgl. Kant 1781, IV, KrV A 366 und 1787, Kant III B 408).
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verliehene unveräußerliche Rechte der Menschen, womit er jeglichen menschlichen Herrschern das Recht abspricht, Menschenrechte zuzuschreiben, abzusprechen oder vorzuenthalten. Es lässt sich durchgängig zeigen, dass Tierrechtsaktivist*innen aus Recht, Philosophie und anderen Disziplinen ihre Bemühungen um die Gleichstellung von Menschen und Tieren auf der Basis biologischer oder psychologischer Kriterien zu erreichen suchen und dazu die moralphilosophischen Würde- und Personbegriffe empiristisch definieren. Damit werden aber Ordnungen wie Recht und Ethik unverständlich, weil diese letztlich auf der Rekonstruktion der Selbsterfahrung als praktischer Akteur beruhen. Recht und Ethik sind als moralisch-normative Willensordnungen biologisch nicht definiert und können nicht durch empirische Eigenschaften und Fähigkeiten begründet werden – auch wenn philosophierende Biologen mitunter werbewirksam metaphorisch von moralphilosophischem Vokabular Gebrauch machen und von Menschenaffen als ‚wilden Diplomaten‘ oder gar von „egoistischen Genen“ sprechen. Auch weniger prominente Wertbegriffe wie die ‚sanctity of life‘ werden obskur, wenn sie als ‚Heiligkeit biologischen Lebens‘ missdeutet statt als tugendethischer Auftrag der ‚Heiligung des Lebens‘ durch adäquate Lebensführung rekonstruiert werden (Baranzke 2012b). Ähnliches lässt sich auch aufzeigen im Fall der Inanspruchnahme der Kantischen Würdedefinition des ‚Zweck an sich selbst‘-Seins durch neoaristotelisierende Lesarten. Während Kants Selbstzwecklichkeit von zur Autonomie bestimmten Vernunftwesen aristotelisch auf der Linie der zur eudaimonía bestimmten zoa logika zu rekonstruieren wäre, übersetzt Christin Koorsgaard Kants personale Würde in die aristotelische naturphilosophische Idee der Entelechie zurück, um sie derart an das psychophysische Wohl von Lebewesen anschlussfähig zu machen (Koorsgaard 2004, 105 f.) – um den Preis des Rückfalls in eine vorkritische naturteleologische Metaphysik oder eine metaphysizierte Biologie. Auch die neoaristotelische Philosophin Martha Nussbaum zeigt sich überzeugt, dass: Animals other than human beings possess dignity for the very same reason that human beings possess dignity: they are complex living and sentient beings endowed with capacities for activity and striving. It seems to me morally unacceptable to harp on the importance of human dignity while denying this dignity to other animals. (Nussbaum 2008, 367)
Die Philosophin behauptet, dass die Menschenwürde durch biologische Eigenschaften wie als ein komplexes und empfindungsfähiges Lebewesen zu existieren und mit Fähigkeiten zur Selbstbewegung ausgestattet zu sein, begründet sei. Damit steht sie im Widerspruch zu den Aussagen der AEMR, nach der Menschen Würde haben, weil sie mit Vernunft und Gewissen begabt sind. Zu beachten ist dabei, dass diese moralischen Begabungen uns nicht als empirische Gegenstände vor Augen liegen, sondern reflexiv aus der Selbsterfahrung als moralisch-praktische Akteure, sei es im Akt der Empörung oder in Akten moralischer Selbstüberwindung, zu erschließen sind. Empirische Eigenschaften und Fähigkeiten führen nun einmal nicht in moralische oder rechtliche Sollensansprüche zum Wohl von Menschen und Tieren. Sie laufen sich bestenfalls im Sein-Sollens-Fehler tot
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(Baranzke 2016). Schlimmstenfalls führen sie in menschenrechtsverachtende, durch empirische Kriterien biologistisch pseudolegitimierte Praktiken, der vor gut sieben Jahrzehnten auch Peter Singers Familienmitglieder zum Opfer gefallen sind. Um der Gefahr der Wiederholung solcher rassistisch motivierten Verbrechen vorzubeugen hat die Weltgemeinschaft 1948 die Universale Erklärung der Menschenrechte ausgerufen. Heute beunruhigen jedoch erneut biomedizinethische Diskurse über Leben und Tod (z. B. Leist 1990; McMahan 2002; Singer 1995), die hier nicht über Hautfarbe oder ethnische Zugehörigkeiten, dafür aber über andere empirische Kriterien wie Bewusstseinszustände oder kognitive Urteilsfähigkeit geführt werden und für die selbstreflexiven Grundlagen moralischer Urteils- und Gewissensbildung und für das daraus entspringende Bewusstsein menschlicher Würde durch einen reflexionsarmen biologistischen Speziesismusvorwurf blind gemacht wurden. Das hier vorliegende Plädoyer für eine Rückbesinnung auf die humanistisch-reflexive Basis der Ethik sieht sich bezüglich der Kritik an einer besinnungslosen anthropozentrischen Ausbeutung unserer Nutz- und Haustiere an der Seite der Tierrechtsaktivisten. Die Ignorierung der Empfindungs- und Leidensfähigkeit von Haus- und Nutztieren muss juristisch geahndet werden! Jedoch: Exekutive und judikative Mängel im Hinblick auf die Durchsetzung von Tierschutzgesetzen werden nicht durch die Proklamation von Tierrechten beseitigt, sondern nur durch die radikale Vergegenwärtigung der Würde der Selbstverpflichtungsfähigkeit des Menschen, die zu einem alle Lebensformen einschließenden „expandierenden Humanismus“ (Ingensiep 2006) befähigt. Ohne diese gibt es keine Ethik und keine Rechtsordnung. Die Vorstellung von Rechten setzt das Bewusstsein von Verpflichtungsfähigkeit voraus. Rechte und Rechtsordnungen sind folglich ein begriffliches Konstrukt von solchen Wesen, die sich selbst als moralische Akteure erfahren, d. h. die sich sowohl empören als auch sich selbst als Urheber Handlungen zurechnen können. Allmählich wächst das Bewusstsein, dass wir Menschen uns nicht nur eine unermessliche Leidzufügung empfindungsfähiger Individuen zuzurechnen haben, sondern die drohende Zerstörung der Lebensgrundlagen aller höheren Lebensformen auf diesem Planeten überhaupt. Dass dies in der Moderne auch durch die unglaubliche Vermehrung unserer Haus- und Nutztiere bereits geschehen ist,9 darauf richtet die moderne Tierrechtsbewegung eher selten den Blick.10 Um die Kehrtwende in Bezug auf den anthropogenen Klimawandel und die Bedrohung der Biodiversität noch schaffen zu können, bedarf es der Stärkung spezifisch menschlichen Verantwortungsbewusstseins, nicht aber dessen biologistische Schwächung durch seine Animalisierung. Das wäre ein fataler animal turn in der Ethik.
9Eine
Studie über die gegenwärtige Biomassenverteilung aller Säugetiere auf der Erde liefert folgendes Ergebnis: 36 % Menschen, 60 % Haus- und Nutztiere, 4 % wildlebende Säugetiere. So in einem Vortrag von Jörg Freyhof vom Naturhistorischen Museum Berlin im November 2019. 10Über den Tellerrand hinaus blicken Donaldson/Kymlicka 2013, allerdings ebenfalls im Paradigma der ethischen Gleichsetzung von Mensch und Tier.
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Mensch und Vogel Eine ambivalente Mensch-Tier-Beziehung im Zeichen des Karnismus. Von der antiken Ornithomantie zur politischen Ornithologie der Gegenwart Hans Werner Ingensiep
1 Einführung Mythos – Religion – Wissenschaft galt als klassischer Dreisprung der historischen Entwicklung aus der Retrospektive der Aufklärung und gilt bedingt auch für das Mensch-Tier-Verhältnis von der Antike bis zur Gegenwart. Den Mythos setzte man im europäischen Denken bei den alten Griechen an; er wurde durchs religiöse Nadelöhr des christlichen Mittelalters und des Humanismus geführt und mündete in der Aufklärungsepoche, in der sich die Ornithologie als Wissenschaft formierte. Ganz so einfach ist es nicht, wenn das Mensch-Tier-Verhältnis nachfolgend aus der „Vogelperspektive“ betrachtet wird. In unterschiedlichen Epochen und Regionen standen diverse Mensch-Vogel-Beziehungen im Dienste heterogener Interessen – religiöser, ökonomischer, politischer oder wissenschaftlicher Interessen. Durchgängig bestanden Alltagsbeziehungen bei der Ernährung, der Jagd oder zur Unterhaltung. Drei Vögel, geschossen und gemalt um 1900, erlauben exemplarische Einblicke in unterschiedliche Epochen und Facetten der Mensch-Tier-Beziehung (Abb. 1). Die hier eingenommene „Vogelperspektive“ ist keine modische subjektive Tierperspektive („Wie Tiere denken“), sondern eine historische Perspektive. Spezielle Beziehungsgeschichten führen von evolutionären Wurzeln der Vorzeit zu kulturellen Wurzeln im Alten Ägypten, in Griechenland und Rom, über das christliche Mittelalter bis in die europäische Neuzeit. Dann entsteht ein neues wissenschaftliches und ökonomisches Interesse an der Vogelwelt, das von der Aufklärung bis zur postromantischen Ökologisierung im modernen Vogel- und Artenschutz
H. W. Ingensiep (*) Universität Duisburg-Essen, Essen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_12
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Abb. 1 Jagdbeute: Stockente, Schnepfe und Eisvogel (Engl. Schule um 1900)
führt. Drei Vögel – eine Ente, eine Schnepfe, insbesondere der Eisvogel – fungieren dabei als historische Sonden. Stockenten begegnen wir heute beiläufig im Park und füttern sie liebevoll – diese Stammmutter der domestizierten Enten. Allein in Deutschland gibt es über zwei Millionen Enten in der Intensivhaltung – die Pekingente ist vom Verzehr her allgemein bekannt. – Scheue Schnepfen, im Bild vielleicht eine Zwergschnepfe, sind kaum bekannt, wohl aber Vogelliebhabern, den „Birdies“, die sie gerne beobachten und Jägern, die sie auch wegen des schmackhaften Fleisches schießen. – Der farbenprächtige Eisvogel ist vielen Bürgern aus den Medien bekannt, doch die wenigsten kennen seinen Lebensraum an den Gewässern. Der Eisvogel wurde zu einer medialen Ikone des modernen Vogel-, Arten- und Naturschutzes. Niemand käme heute auf die Idee, Eisvögel zu schießen oder gar zu verspeisen. – Drei Vogelarten, drei sehr unterschiedliche Beziehungsfiguren! Ihr offizieller Schutzstatus unterscheidet sich in Deutschland: Stockenten sind ungefährdet, daher jahreszeitlich begrenzt jagdbar. Schnepfen sind gefährdet und werden regional geschont. Der Eisvogel aber steht unter strengem Artenschutz. Je nach Epoche und Gesellschaft können die Vogelbeziehungen artspezifisch, regional, kulturell sehr verschieden ausfallen. Aktuell gibt es einen Boom der medialen Ornithologisierung, vor dem auch die FAZ keinen Halt macht – kaum eine Ausgabe, in der nicht die Vogelwelt, sei es in szientistischen Reihenartikeln oder in politischen oder literarischen Visualisierungen, vorkommt.1
1Ein
aktuelles Beispiel: Neben regelmäßigen Artikeln zur Vogelwelt (u. a. von Cord Riechelmann) muss auch ein ganzseitiger Artikel über die Freiheit im Grundgesetz (mit einer Elster) oder ein Roman aus Biogrammen (mit farbeprächtigen Vögeln) illustriert werden (FAZ Nr. 188 vom 15.08.2019, 6 und 10).
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Die folgenden Miniaturen zu Mensch-Vogel-Beziehungen werden vom einst „heiligen“ Vogel und der Ornithomantie, vom Mythos über Religion bis zur Wissenschaft der Ornithologie führen, bis in die „karnistische“ Gesellschaft der Gegenwart: „Karnismus“ bezeichnet in Anlehnung an Melany Joy eine tierbezogene, gesellschaftlich manifestierte Verhaltensform, die wesentlich durch ein gespaltenes Mensch-Tier-Verhältnis geprägt ist (Joy 2013). Deren ornithologische Kurzformel lautet: Die einen Vögel lieben wir und sorgen für ihr Wohl als Individuum, z. B. im Fall eines Papageien, oder als Art, wie im Falle des Eisvogels. Gegenüber solchen Vögeln bestehen gesellschaftliche Schutzpflichten und Verzehrtabus. Andere Vogelarten werden dagegen in der agrarindustriellen Intensivhaltung massenhaft hochgezüchtet, getötet, verkauft und verzehrt, wie Huhn oder Truthahn. Diese teils paradoxe oder schizophrene Beziehungssituation kann durch Umkehrung drastisch verdeutlicht werden: Statt eines Papageien neben der Couch und der Pute auf dem Teller, nun einen Papageien auf dem Teller und eine Pute auf der Couch. – Derartig gespaltene Mensch-Tier-Beziehungen fallen nicht einfach vom Himmel oder sind allein der aktuellen kapitalistischen Massentierhaltung zuzuschreiben; sie haben sich, kulturell betrachtet, in Jahrtausenden entwickelt.
2 Das evolutionär-anthropologische Vorspiel Am Anfang der Mensch-Tier-Beziehung standen nicht Mitleid mit dem Tier oder moralische Skrupel bei der Tiertötung. Weit vor dem Erscheinen des sogenannten homo sapiens sapiens lebten Vorformen wie „Tiere unter Tieren“ und folgten biologischen Regeln zur Lebenserhaltung und Ressourcensicherung sowie unterschiedlichen Strategien bei der Nahrungsbeschaffung: fruktivor, karnivor oder flexitarisch bzw. als Räuber, Wildbeuter, Aasesser oder Sammler. Nach der Gruppenjagd auf Tiere waren deren Vertreibung, Tötung oder Verzehr reale, alltägliche Ereignisse, wobei besondere Tiere höchst gefährlich waren wie Höhlenbären oder Säbelzahntiger. Bestimmte Tiere wie Mammuts konnten nur in einer sozial koordinierten Gruppe überwältigt und getötet werden. In diese Frühzeit fallen erste Artefakte, die auf eine neuartige Beschäftigung mit Jagdtieren hindeuten, wie die etwa 35.000 Jahre alte aus Elfenbein geschnitzte Mammutfigur aus der Vogelherdhöhle. Die Rolle dieser Figuren ist offen: Waren es ästhetische Spielerei oder Schmuck, waren es Trophäen oder Anzeichen einer besonderen Identifizierung mit Tieren oder „magische“ Versuche, durch Riten, Beschwörungen Einfluss zu nehmen, kurz: „Jagdzauber“? Im Fall des Mammuts erfolgte die Jagd, um vom Fleisch zu leben, Fell, Knochen und Stoßzähne als Werkzeuge zu nutzen und sogar um darin zu leben wie Knochen-Fell-Zelte bezeugen. Im permanenten Überlebenskampf standen Menschen im Bann der Tiere und waren tagtäglich zu einer geistigen Auseinandersetzung herausgefordert. Andere Tierarten suchten die Nähe von Menschen wie der Wolf, Geier oder der Sperling und profitierten davon. Sozial organisierte Raubtiere wie Wölfe suchten Reste von menschlicher Tierbeute. Solche Koadaptationen führten zu sehr speziellen
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ensch-Tier-Beziehungen bis hin zum domestizierten Hund – dem „treuesten“ M und geliebten Gefährten des Menschen, nützlich zur Bewachung von Viehherden wandernder Nomaden oder als Warnhilfe vor feindlichen Menschen oder anderen Raubtieren bei sesshaften Bauern. Bei der neolithischen Sesshaftwerdung von mobilen Menschen und Tieren passen sich beide quasi an das immobile Pflanzenleben an. Denn Pflanzen wachsen vor Ort und bilden für die Bauern und ihre Tiere die Ernährungsbasis. Diese Sesshaftigkeit verschaffte also ein hohes Maß an Ressourcensicherheit und Menschen versammelten diverse Nutztiere um sich herum: Ziegen, Schafe, Rinder, Schweine, Geflügel wurden für Kleidung oder Ernährung genutzt, hinzu kamen Tiere für den Transport im Warenaustauch wie Esel, Pferde oder Kamele. Solche instrumentellen Grunderfahrungen verstärkten nicht nur die emotionale Bindung, sondern bestimmten auch die neue geistige Beziehung: Diese Tiere waren beherrschbar und der Mensch wurde „Herr der Tiere“. Spätestens an diesem Punkt schlägt die „biologische“ Beziehung als bloßes „Tier unter Tieren“ in eine „kulturelle“ Mensch-Tier-Beziehung um und wird zunehmend konzeptionell „anthropozentrisch“ und „anthropomorph“ reflektiert. Tiere werden nun auf vielfältige Weise in die kulturelle, soziale, ökonomische, politische und religiöse Organisation integriert. In religiösen Vorstellungen zum Mensch-Tier-Verhältnis wird eine klare Differenz zwischen „Mensch“ und „Tier“ erkenntlich und eine Herrschaftsgewalt über Tiere legitimiert: „Mache Dir die Tiere untertan“. Die Formel ist auch Indiz eines geistigen Aktes, der einstige Tiergötter überwindet und nur noch exklusive Menschengötter als höhere Instanzen anerkennt. In einer solchen – anthropomorphen und anthropozentrischen – personalen Gottesvorstellung spiegelt sich die neue Identität als „Mensch“. Denn jetzt kann er sich vom bloßen „Tier“ dadurch unterscheiden, dass er sich nur allmächtigen, menschenartigen Göttern unterwirft, doch nicht mehr Tieren bzw. Tiergöttern, die zu „Tiergötzen“ werden. Die Projektionsthese Feuerbachs kann für diesen eminenten kulturhistorischen Wandel im Mensch-Tier-Verhältnis zu weiteren Reflexionen anregen. Über früheste spezielle Mensch-Vogel-Beziehungen in der Vorzeit kann nur spekuliert werden. Vögel wie Enten wurden sicherlich nicht nur aufmerksam beobachtet oder den Lautäußerungen von Singvögeln gelauscht, auch ihr Verhalten wurde gedeutet. Gelege wurden erbeutet, Vögel getötet und verspeist, wobei sich einige schon vor ca. 10.000 Jahren dem Menschen näherten und als „Kulturfolger“ sesshaft wurden wie der Hausperling. Andere Vögel erregten die Aufmerksamkeit durch ihre besondere Gestalt, ihre Schönheit, spezielle Flugkünste oder ihr Verhalten wie regelmäßiges jahreszeitliches Auftauchen. Darin liegen frühe mögliche Ursprünge für später berühmte kulturelle Vogelrollen wie diejenige des „heiligen“ Ibis oder des „göttlichen“ Horusfalken im Alten Ägypten. Generell vermitteln sie aufgrund ihrer Flugfähigkeit eine spezielle Verbindung zu „höherem“ Naturgeschehen oder zu „höheren“ Naturwesen wie Göttern oder Dämonen. In frühen Hochkulturen wie im Alten Ägypten liegen bereits solche ausdifferenzierten Beziehungsformen vor, die nur exemplarisch im Detail verfolgt werden können.
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3 Vogelkult im Alten Ägypten Geflügelfang und -zucht gehörte zum Tagesgeschäft im Alten Ägypten. Gänse und Enten lebten im Nildelta, in den Sümpfen, wo Vögel mit Netzen gefangen, mit Wurfhölzern oder mit Pfeil und Bogen erlegt wurden. Es ging dabei um alltägliche Nahrungsbeschaffung, aber auch um „Sport und Spiel“ einer privilegierten Oberschicht. Vögel spielen bekanntlich eine wichtige Rolle in religiösen Kontexten, auf repräsentativen Tierdarstellungen von Grabherren, bei Opferritualen oder im Lebens- und Totenkult der alten Ägypter (Decker 1987; Boessneck 1988; Arnold 1995). Vögel waren wie die anderen Tiere von Gott für die gottebenbildlichen Menschen geschaffen, so heißt es in der Lehre für König Merikare und im „Sonnengesang des Echnaton“ (Schmitz 1987, 9). Zahlreiche Enten und Gänse lebten im Papyrusdickicht (Abb. 2) und bildeten die Grundlage alltäglicher Ernährung, sei es als Gänsebraten, aber auch als Opfergaben für die Toten und Götter; große Geflügelhöfe gehörten zu Tempeln. Bekannt sind spezielle „heilige Vögel“ wie der Ibis oder Horusfalke sowie deren unzählige Mumien in den Nekropolen, ferner der Seelenvogel Ba, der Tote verließ und zurückkehrte, oder die Vogelhieroglyphen. Was aus heutiger Sicht getrennt würde, profane Vogeltötung auf der Jagd und rituelle Schlachtung von Opfertieren, wurde offenbar im Alten Ägypten als höhere religiöse Sinnhandlung zur Aufrechterhaltung einer kosmischen Ordnung gedeutet: „Jede Jagd, jede Schlachtung von Opfertieren, jedes Töten eines Vogels für ein Opfer war gleichzeitig Vernichtung
Abb. 2 Graufischer greifen ein Ichneumon im Papyrusdickicht an, zwischen einem Reiher und Gänsen. Ägyptisches Grabrelief um 2200 v. Chr. (Hamann 1944, 152 Abb. 154)
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des Bösen, Chaotischen in der Natur […], ein Vernichtungsritual.“ (Schmitz 1987, 35). Die Vogeljagd diente schon in vorgeschichtlicher Zeit zur Nahrungsbeschaffung, wurde aber mit der Zunahme von Ackerbau und Viehzucht immer mehr zur Standes- und Freizeitbeschäftigung (Schmitz 1987, 37). Der Wildvogelfang war nicht zimperlich: „Viele der erbeuteten Enten schlachtete man gleich nach dem Fang. Wir lesen ab, wie ihnen die Flügel gebrochen, wie sie gerupft […], eingesalzen oder am Spieß gebraten werden.“ (Boessneck 1988, 99). Darstellungen zeigen lebendige Vögel in Gitterkäfigen, an den Beinen gebündelt oder mit Tragestangen transportiert. Manche Geflügelhöfe hielten enorme Geflügelmengen für die Tempel bereit. Nach einer Liste „erhielt der Amun-Tempel in Theben 289.530 Stück Geflügelarten jährlich und der Re-Tempel in Heliopolis 37.465 Stück.“ (Schmitz 1987, 41). Gänse, Enten und Kraniche zählten zu den wichtigsten gehaltenen Flügelarten, doch allein die Graugans gilt als vollständig domestiziert. Die Mastgeflügelhaltung sowie das Stopfen von Enten und Gänsen mit Mastteig waren üblich (Boessneck 1988, 100). Bei Enten dominierten Spießenten; in einem Grab werden als Besitz 120.000 verzeichnet (Boessneck 1988, 103). Schnepfen sind nur am Rande durch Vogelknochenfunde eindeutig belegbar (Boessneck 1988, 97). Es gibt aber auch besonders „heilige“ Vögel. Neben dem Horusfalken als göttlichem Botschafter und Vermittler gilt der Ibis als paradigmatischer „heiliger“ Vogel im Alten Ägypten. Millionen von Ibis-Mumien zeugen davon, sogar angefressene Jungtiere wurden mumifiziert, und tote Ibisse feierlich auf eigenen Friedhöfen bestattet (Schmitz 1987, 12). Lebende Ibisse aus örtlichen Brutkolonien in Tempelnähe wurden aufmerksam betreut, gefüttert und beschützt, und manche wurden in einem „Ibiotropheon“ in Gefangenschaft gehalten (Boessneck 1988, 137 f.). Eine Deutung dieses Phänomens ist: Mit den Ibissen kam die Nilflut und damit auch die Fruchtbarkeit „und damit das Leben, weshalb sie zu verehrten Kulttieren wurden“ (Boessneck 1988, 137 f.). Der Ibis wurde ähnlich wie der Pavian als ein „heiliges“ Tier des Gottes Thot verehrt, dessen göttliche Weisheit er realsymbolisch ausdrückte, worauf unzählige Ibisfiguren und -darstellungen hinweisen. Thot, der Schutzpatron der Schreiber, stand für Gelehrsamkeit, Rechnen, Messen und den Mondkalender, was wiederum mit der Lebensgrundlage, der zyklischen Wiederkehr der jährlichen Nilüberschwemmung sowie mit dem Auftauchen dieses Zugvogels verbunden werden konnte (Schmitz 1987, 17). Die „karnistische“ Situation im Alten Ägypten war daher komplex: Die einen Vögel wurden in Massen gefangen, gezüchtet, getötet, geopfert und verzehrt, die anderen in Massen gefüttert, gehalten, geschont, begraben und verehrt. Daraus für die Mensch-Vogel-Beziehung zu folgern, sie seien „Mitgeschöpfe“ (Schmitz 1987, 9), wäre anachronistisch, denn alle diese Vögel dienten im gesellschaftlichen Rollenspiel letztlich der Herrschaft des Menschen. Manche wurden wohl nur verzehrt, andere wohl nur verehrt, weshalb bereits im Alten Ägypten quasi ein holistischer Karnismus herrschte. In archäologischen Vogellisten und Darstellungen Ägyptens gibt es Hinweise auf den gemeinen europäischen Eisvogel (Alcedo atthis), häufiger aber auf den
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Graufischer (Ceryle rudis). Ein Reliefausschnitt um 2200 v. Chr. zeigt zwischen Reihern und Gänsen zwei solche Graufischer, die gerade ein Ichneumon angreifen (Hamann 1944, 152, Abb. 154; Schmitz 1987, 1; s. Abb. 2). Ein europäischer Eisvogel ist in einem Totentempel in Sakkara auf einem Steinrelief um 2500 v. Chr. identifiziert worden (Szabo 2019, 141). Anders als bei Gänsen oder Enten fehlen Knochenfunde für Eisvögel in neolithischen Siedlungen (Boessneck 1988, 19 f.). Vielleicht war er schon im Alten Ägypten ein Sonderling in der Vogelwelt oder eine seltene auffällige Alltagstrophäe, die aber offenbar weder verzehrt noch ausdrücklich als „heiliger“ Vogel verehrt wurde.
4 Vogelpolitik in Mythos und Religion bei Griechen und Römern Die theoretische Grundlegung der wissenschaftlichen Zoologie und Ornithologie bei Aristoteles ist ebenso bekannt wie die Botschaft der „Kraniche des Ibykus“ bei Schiller oder die Eule von Athen. Im Alltagsleben spielten neben der Ernährung auch Wildvögel wie Adler, Reiher, Geier oder Kraniche eine Rolle im religiös-kultischen Leben; ferner wurden Tauben oder Hühner geopfert (Lunczer 2009, 165–170). Im Mythos, in der Religion und der Politik der Griechen spielt die Ornithomantie und die damit verbundene Divination bestimmter Vögel eine besondere Rolle, wovon noch die Rede sein wird. Meisterwerke mit farbigen Vogeldarstellungen, z. B. von Wildenten ähnlich wie in Altägypten, sind aus der bronzezeitlichen Stadt auf Thera (Santorin) bekannt; sie wurde vor etwa 3600 Jahren durch einen Vulkanausbruch verschüttet (Doumas 1995, 25 und 172 f., Abb. 135). Ähnliche Vogelmotive zeigt auch die minoische Kunst auf Kreta. Frühe Griechen kannten auch figürliche Darstellungen von Vögeln, z. B. von Tauben; die unmittelbaren Vorbilder stammten aus dem Alten Ägypten, dargestellt auf sogenannten Petschaften, den Siegelstempeln. Fresken in Knossos zeigen Rebhühner, die die Epiphanie der Götter signalisieren sollen. Demnach erscheinen Götter auch als Vögel, was vielleicht auf eine ursprüngliche Form des Glaubens verweist. Im alten Mykene fanden sich gestanzte Goldbleche aus dem 16. Jahrhundert v. Chr., die wohl eine Art Kultfassade mit einer Göttin in Gestalt von Vögeln darstellen. Derartige Hinweise bestärken die Annahme, dass durch Handelsbeziehungen auch im Vogelkult die minoische Geisteskultur eine Brücke vom ägyptischen Morgenland zum griechischen Abendland schlug. Aber nicht die Ente oder Schnepfe, sondern der Eisvogel galt nachweislich schon bei frühen Griechen als ein „heiliger“ Vogel, was seinen wissenschaftlichen Namen Halkyon prägte. Früheste schriftliche Nennungen tauchen in politisch unruhigen Zeiten im 7. Jahrhundert v. Chr. bei Homer auf, im Neunten Gesang der Ilias (IX 563). Anlässlich einer vom Bogenschützen („Ferntreffer“) Phoibos Apollon genommenen schönen Frau fällt der weibliche Beiname „Alkyone“: „Diese nannten damals in den Häusern der Vater und die hehre Mutter / Alkyone mit Beinamen, weil ihre Mutter / In dem Schicksal des vieltrauernden Eisvogels
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klagte, / Als sie der Ferntreffer emporraffte, Phoibos Apollon.“ (Homers Ilias, übersetzt von Schadewaldt 1979, 153). Apollon raubte die Braut, die „wie das Weibchen des Eisvogels“ wehklagte. Sie erhielt nach weiterem Kampf und göttlichem Eingriff durch Zeus dennoch die Wahl und entschied sich statt für den unsterblichen Apollo für ihren sterblichen Bräutigam, da sie fürchtete, im Alter vom unsterblichen Gott verlassen zu werden. Ihrem Bräutigam Idas gebar sie eine Tochter, die den Beinamen Alkyone „Eisvogel“ erhielt, „zur Erinnerung an das schmerzliche Klagen ihrer Mutter in den Armen des Gottes.“ (Kerényi 1984, 91). Eine andere „Alkyone“ agierte im Mythos als Tochter des Windgottes Aiolos und heiratete Keyx, den König von Trachis, Sohn des Morgensterns. Beide wurden in Eisvögel verwandelt, wozu es unterschiedliche Versionen gibt. Die Fassung bei Hesiod besagt, dass diese beiden Glücklichen – Alkyone und Keyx – ins Unglück geraten seien, weil sie sich aus Überheblichkeit einander „Zeus und Hera“ nannten, sie sich also mit Göttern verglichen und dafür zur Strafe in Eisvögel verwandelt wurden. In seinen Metamorphosen dreht der Dichter Ovid viel später diese Geschichte ins Positive: Die Liebenden Keyx und Alkyone werden nun nach einem Schiffsunglück, bei dem Keyx umkommt und wonach Alkyone aus Schmerz Selbstmord begeht, von den Göttern aus Mitleid mit ihrem Schicksal in ewig treue Eisvögel verwandelt – diese Variante wird ein Topos in der abendländischen Literatur und Kunst. Im Alltag spielt die Vogelwahrsagung eine wichtige Rolle, worauf der letzte Vers 828 in Hesiods „Werke und Tage“ zielt: „Achtend des Fluges der Vögel“. Hesiod preist „den Mann, der sich auf die Beobachtung des Vogelflugs versteht“. Das Fragment gilt als Überleitung zu einem verlorenen Gedicht Hesiods – der Ornithomanteia (Schmidt in Hesiod 1965, 17). Auch eine Eisvogelgeschichte führt auf die Vogeldeutung und zum griechischen Helden Jason zurück. Einem Fragment des Dichters Pindar gemäß flog ein Eisvogel laut schreiend über Jasons Haupt: Dieser Vogel war von der Göttin Juno als Omen für guten Seewind gesandt worden. Sein Geschrei galt als ein glücklicher Wink der Götter. Selbst die Herkunftsrichtung eines Vogels war relevant, wenn es um Greifvögel ging. Für die alten Griechen bedeutete von rechts kommend „gut“, von links „schlecht“ – für die alten Römer war es umgekehrt (Howatson 1996, 450). Bekannter sind Vogeldeutungen der alten Römer durch Auguren. Wie Prometheus bei Homer galten auch bei den Römern mythische Figuren – Romulus und Remus – als Initiatoren solcher Praktiken. Über Jahrhunderte deutete ein Kollegium von Auguren das Vorhaben der Götter in staatlichem Auftrag, wobei Flug, Fressverhalten oder Laute beobachtet wurden. Bis in die römische Kaiserzeit wurden so günstige oder ungünstige Vorzeichen ermittelt, sei es vor wichtigen privaten Entscheidungen oder vor politischen Vorhaben wie militärischen Operationen. Der Augur teilte dazu auf einem templum mit einem Stab bestimmte Himmelausschnitte ein und blickte in diese Richtungen, um Vorzeichen zu finden. Der römische Philosoph und Politiker Cicero war selbst Augur, zwar skeptisch, folgte aber pflichtbewusst solchen Praktiken; Kaiser Augustus schien fest daran zu glauben (Howatson 1996, 97).
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Wie man sich die Ornithomantie in der Neuzeit vorstellte, zeigt ein Stich von Matthäus Merian aus einer Ausgabe der Chronik von Johann Ludwig Gottfried (1584–1633), einem oft gedruckten Geschichtswerk (Stich Nr. 44, Gottfried 1. Theil, Frankfurt 1743): „Vorbedeutung aus dem Vogel-Flug“ im Kontext militärischer Unternehmungen nach der Gründung Roms (Abb. 3). Man mag es anachronistisch als eine Frühform politischer Vogelkunde ansehen, denn sie erforderte neben viel Phantasie und Rhetorik auch gute Augen und tiefere Kenntnisse zum Zug- und Flugverhalten der Vögel. Diese Form der Ornithomantie war also mehr ein politisch-religiöser Akt, welcher weniger Vögel als solche heiligte, sie aber als Götterbotschafter deutete. Der führende Staatsphilosoph der europäischen Aufklärung, Montesquieu, analysierte in einer Abhandlung von 1716 die scheinbar irrationale römische Praxis, „das Wohl der Republik von der Freßlust einiger jungen Hühner“ abhängig zu machen, hielt es aber für eine Instrument großer Staatsklugheit und Religionspolitik, da ein kluges Vogelorakel das Volk emotional in die aktuelle politische Lenkung einzubinden vermöge. Gab es dabei unangenehme Vorzeichen, konnte ein Herrscher die Hühner zur Not ins Meer werfen lassen, damit sie „desto mehr saufen möchten, weil sie nicht Lust zu fressen hätten.“ (Montesquieu 1799, 7 und 12). Postromantische Biologen sahen in der Ornithomantie Vorboten der Vogelbeobachtung oder Vogelhaltung. Im 19. Jahrhundert war der Tierautor Alfred Brehm von dieser frühen Faszination der Menschen für Vögel entzückt – von Deutungen ägyptischer Priester, römischer Auguren oder keltischer Druiden, vom geflügelten Götterboten Hermes bei den Griechen oder der christlichen Taube.
Abb. 3 „Vor-Bedeutung aus dem Vogel-Flug“ (Gottfried 1. Theil 1743, Stich Nr. 44)
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Dabei sei der Vogel noch ein „unbegriffenes, göttliches Ganze – ein Diener, ein Bote des Himmlischen“ (Brehm 1867, 335). Brehm möchte diese Vögel gern „heilige“ Vögel nennen, da sie die Gastfreundschaft im Menschen erweckten. Einst seien sie im jährlichen Vogelzug vom Menschen weggezogen, doch der Abschied fiel schwer, daher hätte man Vögel gefangen, um sie an sich zu binden. Brehms Fazit: Nicht deren Nutzen, aber die „Gastlichkeit“ sei das Motiv früherer Menschen gewesen, Vögel zu halten. Brehm war sich seiner euphemistischen Deutung bewusst: „Ich denke mir, daß sich die Gastfreundschaft auch in der Zähmung der Vögel aussprechen muß, und finde es edler gedacht, die Hausvögel unsere Gäste zu nennen, als sie für unsere Gefangenen zu erklären.“ (Brehm 1867, 350). Trotz der hoch moralischen Botschaft fing Brehm nicht nur Vögel, sondern schoss sie auch regelmäßig ab. Seine Überlegungen zeigen aber, dass seinerzeit die ornithophile Vogelhaltung einer moralischen Legitimation bedurfte. Die exemplarischen Vogelperspektiven bezeugen, dass es in der Vogelbeziehung schon früh um Religion oder Politik ging. „Heilige“ Vögel legitimierten Heroen, bestraften Hybris oder eröffneten politische Spielräume. Schon im Mythos verhinderten Vögel unkluge politische Abenteuer, waren Todesboten oder Unheilverkünder. Eine ganz andere Form von Vogelpolitik betrieb Aristophanes in der berühmten Komödie Die Vögel (Aristophanes 1958). Mit bösem Humor, blasphemischen und sexuellen Anspielungen auf das „Vögeln“ und auf gesellschaftliche und politische Verhältnisse der griechischen Imperialmacht nimmt er Zeitverhältnisse aufs Korn: Ein älterer, freier Athener namens Peisetairos möchte mit Hilfe der Vögel eine neue Polis nach Athens Vorbild gründen, eine Art „Wolkenkuckucksheim“ (Holzberg 2010, 122–139). Der Visionär bringt geschickt die anfangs mißtrauische Vogelwelt nach und nach gegen ihre menschlichen Unterdrücker, die Fänger, Verzehrer und Misshandler, auf seine Seite. Am Ende begeistern sich die Vögel für eine „ornithomorphe“ Kosmologie und Theogonie – eine ganz neue ornithozentrische Weltsicht. Doch der Initiator dieser verkehrten Welt wird nach und nach zum Tyrannen und fertigt alle Gegner ab. Unter den nun von Vögeln beherrschten Menschen bricht eine richtige „Ornithomanie“ aus: Sie möchten nur noch nach den „Gesetzen der Vögel“ leben (Holzberg 2010, 135). Am Ende sichert der Tyrann im Deal mit den Göttern seine Weltherrschaft und – die Vögel werden köstlich gebraten; alles war politische Vogelfängerei! Eisvögel dienten in dieser ornithomorphen Utopie als Boten und Statisten und werden so von Aristophanes ganz beiläufig entmythologisiert. Im altgriechischen Alltag war der Vogelfang oder ein lukullisches Vogelmahl völlig legitim. Bekanntlich haben die Römer diese Tradition weiter entwickelt: Im antiken Rom wurden Enten in Volieren gehalten und gezüchtet, wovon Strabo, Lucullus und Varro berichten (Toynbee 1983, 260–262). Diese Entmythologisierung der „heiligen“ Vögel zeichnet sich auch in der Biologie des Aristoteles ab. Er weist zwar auf alte Mythen und Praktiken hin, z. B. auf die halkyonischen Tage der Meeresruhe und die „heiligen“ Eisvögel. Doch insgesamt wird die Vogelwelt ganz nüchtern einer vergleichenden, empirischen Analyse unterzogen, was spätere Kompilatoren wie Plinius in Naturgeschichten bis in die Frühe Neuzeit weitertragen.
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5 Vogelmetaphorik im Dienst der christlichen Religion Offiziell ging die Kirche zur römischen Praktik der Ornithomantie auf Distanz, da sie dem römischen Götterkult zugeordnet war. Prognosen aus dem Flugverhalten oder Gezwitscher der Vögel waren im 6. Jahrhundert für den meistgelesenen christlichen Autor – Isidor von Sevilla – Dämonenwerk, das „aus dem teuflischen Bund zwischen Menschen und bösen Engeln erwächst“; es galt als Götzendienst bzw. Sünde und war daher in Anlehnung an einen Beschluss der Synode von Ancyra im Jahr 314 n. Chr. zu beichten (Kieckhefer 1992, 21 und 58). Aus einem Rabenkrächzen aufs Wetter oder aus Kuckucksrufen auf eine längere persönliche Lebensdauer oder auf Glück zu schließen, war dennoch bei den christlich bekehrten Heidenvölkern als volkstümliche Wahrsagerei üblich (Kieckhefer 1992, 103). In christlich bekehrten Ländern wurden wie zuvor Vögel in der magischen Medizin eingesetzt, z. B. der pulverisierte Eisvogel in der Naturmedizin der Hildegard von Bingen. Das wurde indirekt durch den christlichen Gott legitimiert, der als Schöpfer aller Kreaturen auch eine solche Naturmedizin für die Menschen vorgesehen hatte. Theologisch wichtig wurde die neue allegorische Umdeutung der Mensch-Vogel-Beziehung. Weder in der Bibel noch in diversen Textversionen des sogenannten Physiologus – eine frühchristliche, allegorisch verfahrende Naturgeschichte – wurde z. B. der Eisvogel erwähnt, doch war er im antiken Bildungswissen bekannt. Die halkyonischen Tage wurden nun umgedeutet und symbolisieren nicht mehr eine durch Götter vorherbestimmte Meeresruhe, sondern Christus als Friedensbringer oder stärken das personale Gottvertrauen der Christen. Ansätze dazu formuliert der Kirchenvater Basilius im Hexaemeron (VIII, 5, 14–15), seiner Auslegung des Sechstagewerks (Basilius Bibl. d. KV, übersetzt von Stegmann 1925). Zwischen der Schwalbe und der Turteltaube kommt die Rede auf die altgriechischen „Eisvogelbruttage“: „Die Vorsehung Gottes für die unvernünftige Kreatur soll dich ermahnen, von Gott zu erbitten, was zu deinem Heile dient. Welches Wunder sollte nicht geschehen deinetwegen, der du ja nach Gottes Ebenbild erschaffen bist, wenn er sogar einem winzigen Vogel zuliebe das gewaltige, schreckliche Meer bändigt und ihm gebietet, mitten im Winter sich ruhig zu verhalten?“ (Basilius 1925, 132). Ein voraussehender und gütiger Gottes sorgt für „Gottes Ebenbild“ ebenso wie für die „unvernünftige Kreatur“. Mythos, Volksglaube, antikes Bildungswissen als Mittel der Hermeneutik und Rhetorik dienen der Genesis-Interpretation, letztlich der Preisung des Schöpfers. Ähnliche Deutungen gibt es bei Ambrosius und noch viel später in mittelalterlichen Bestiarien (Peck 1970, 368). Bis in die Frühe Neuzeit dienen Vogelallegorien der Religion, der Festigung von Gottvertrauen und von Moral bei Katholiken und Protestanten. Zudem wird das naturgeschichtliche und medizinische Vogelwissen von Hildegard von Bingen über Albertus Magnus bis Konrad von Megenberg weitergetragen. Die symbolische Beziehung zum Vogel und dessen Wertschätzung erfolgte über Gott. Diese Form einer Gott-Mensch-Tier-Dreiecksbeziehung ist charakteristisch für die
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geistige Grundlegung der mittelalterlichen Mensch-Tier-Beziehung. Aber es gibt auch interessante neue Impulse. Um 1510 malt Hieronymus Bosch einheimische Vögel ziemlich naturgetreu in seinem Garten der Lüste – Wiedehopf, Ente, Grünspecht, Rotkehlchen und Stieglitz, auch einen Eisvogel; sie starren auf Verführungsszenen mit nackten Menschen. Vogelfiguren dienen hier als moralisch-negative Zeichengeber und verweisen auch auf die gängige „Vanitas“: Die Welt sei eitel und nichtig. „Die unsichtbare Welt beobachtet den Menschen pausenlos“, so stelle zum Beispiel der aus einem hohlen, abgestorbenen Baum blickende Kauz „diese unerbittliche Überwachung dar“ (Davy 1994, 135). Diese Botschaft in der Mensch-Vogel-Beziehung spricht Konrad von Megenberg im Buch der Natur an (Megenburg 1971): „Der Vogel bedeutet die Menschen, die ihre alte böse Gewohnheit im Leben nicht lassen wollen, die sie doch im Tode lassen müssen, denn sie empfangen in jenem Leben Leiden und Pein für ihre Lust hier auf Erden. Und empfangen Schmerzen und ewiges Trauern für die kurzen Freuden, die sie hier haben. O weh, was für ein Tausch ist das! Hilf, barmherzige Mutter, aus diesem Handel an unserm letzten Ende, so unser schier vergessen wird von dieser ganzen Welt!“ (Konrad von Megenberg, zit. nach Maler 1936, 83 f.). Vögel dienen als symbolische Mediatoren, übernatürliche Zeichengeber, sind nicht bloß natürliche Phänomene. Und dennoch zeugen die realistisch gemalten Vögel bei Bosch auch von einer genaueren Naturbeobachtung und Faszination. Reale Vögel wurden im Mittelalter gefangen, gejagt, getötet und gegessen. Manche, wie Adler, dienten Privilegierten ihrer Selbstdarstellung auf Wappen bzw. der Macht- und Herrschaftsrepräsentation. Vögel waren auch Gegenstand praktischer Jagd und Bildung, so das Buch zur Falkenjagd von Friedrich II. oder die mit Eisvogelminiaturen gespickte Wenzelsbibel.
6 Vogelkunde, Wissenschaft und Tierethik in der Neuzeit In Europa treten die Natur und das Individuum zunehmend in den Mittelpunkt naturphilosophischer und anthropologischer Theorien, was sich auch auf die allgemeinen Mensch-Tier-Beziehungen auswirkt. In Montaigne’s Essays (1580) wird, durch Plutarch inspiriert, die Anthropozentrik der Stoa kritisiert und die Vernunft der Tiere verteidigt, gegen Grausamkeit und für mehr Mitleid mit dem individuellen Tier eingetreten. In Montaigne’s Reflexion über das wechselseitige Spiel mit seiner Katze kündigt sich die neue Qualität einer quasipersonalen und dualen Ich-Du-Beziehung zum Tier an. Die Naturhistoriker wecken das Interesse an kritischer Beschreibung von Aussehen und Verhalten der Tiere. Kompendien zur Vogelkunde entstehen, zunächst mit Gesner im deutschen Sprachraum, dazu Belon in Frankreich, Aldrovandi in Italien, später Ray und Willughby in England, worauf das 18. Jahrhundert zurückgreift. Die imperiale Globalisierung befördert Neuentdeckungen von unzähligen Pflanzen und Tieren sowie die nationale und lokale Forschung, ferner ein Bemühen um gute Illustrationen sowie eine fruchtbare
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Zusammenarbeit von Wissenschaft und Kunst. Nationalvogelkunden entstehen im 18. Jahrhundert: Edwards in England, Nozeman in Holland, Frisch in Deutschland, dann umfassende Kompendien durch Brisson und Buffon (Buffon 1771) in Frankreich. In Deutschland legen im 19. Jahrhundert Bechstein, Brehm oder Naumann Standardwerke vor (Bechstein 1800; Brehm 1867; Naumann 1900). Generell war ein neues Interesse am Tier und an der Tierseele geweckt. Eine cartesianische Frage war, ob Tiere nur seelenlose Automaten seien, wenn aber nicht, welche Art von Seele oder Instinkte sie hätten und wie sich das Tier von der Menschenseele anima rationalis unterschied. Diese Diskussionen setzten sich im 18. und 19. Jahrhundert fort und erhalten durch Darwin weitere Impulse. Die aufkeimende Tierethik hat religiöse Wurzeln im 17. Jahrhundert, vor allem im Protestantismus, der bis weit ins 19. Jahrhundert hinein auch den Vogelschutz und das Tierschutz-Vereinswesen befördert (Ingensiep 1996, 2001a, 2018a). Protestanten wie Erasmus Alberus deuteten nicht nur den „Wintervogel Halcyon“ (1552) neu, sie bereiten auch der Physikotheologie den Weg und regten ganz konkrete Vogelforschungen an wie von Pernau oder Zorn („Petino-Theologie“ 1743), wodurch Grundsteine einer „evangelischen“ Ornithologie gelegt werden (Ingensiep 2018b). Die Mensch-Vogel-Sensibilität profitiert zudem vom philosophischen „Zurück zur Natur!“ eines Rousseau. Die ethische Haltung gegen übliche Vogelquälereien wird durch aufgeklärte Theologen, Philosophen, Pädagogen und Philanthropen wie Christian Gotthilf Salzmann gestärkt, sei es durch Mahnungen oder Erziehungskonzepte. Das Leiden des individuellen Tieres sollte gesehen, das „Seufzen der Kreatur“ gehört, eine konkrete Barmherzigkeit geübt und Mitleid gefördert werden, damit endlich Gerechtigkeit gegen Thiere herrsche, so ein Titel und Appell des deutschen Philosophen Wilhelm Dietler im Jahr 1787 (Dietler 1997). Tierpflichtenkataloge und Tierwissen der Aufklärungszeit sollen zu mehr Verständnis für Tiere führen, wie beim dänischen protestantischen Theologen Lauritz Smith (Ingensiep 1996). Die vorherige Dreiecksbeziehung Gott-Mensch-Tier wird zunehmend durch eine personale Säkularisierung des Gewissens abgelöst, d. h. nicht in Gott, sondern in der eigenen Vernunft gründet die Pflicht der Tierschonung. Das ist der Kern von Kants Formulierungen in seiner Tugendlehre (§ 17), wenn von Pflichten „in Ansehung“ der Tiere, statt „gegen“ Tiere die Rede ist. Solche Ansätze in der Tierethik und im Tierschutz beinhalten aber keine Apologie des Egalitarismus zwischen Mensch und Tier. Die auf Religion oder Ratio gegründete Ethik bejaht die anthropozentrische Perspektive und die Hierarchie zwischen Mensch und Tier. Das illustriert ein Titelbild der deutschen Ausgabe von Buffons Allgemeine Naturgeschichte (Abb. 4): Umringt von Landtieren und Vögeln steht der Mensch als appollinische Lichtgestalt im Mittelpunkt: Weder Pferd, Löwe oder Elefant, noch Strauß oder Adler, erst recht nicht ein domestiziertes Rind können diese Sonderstellung gefährden – sie preisen vielmehr den aufgeklärten Menschen. Auch der zu Füßen hockende Affe, der gerade im 18. Jahrhundert die Sonderstellung des Menschen im Tierreich gefährdet, blickt untertänig zu ihm auf (Ingensiep 2013). Der nun säkulare und vernünftige „Herr aller Tiere“ agiert nicht mehr von Gottes
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Abb. 4 Titelbild aus Buffons Naturgeschichte (Buffon/Martini 1771)
Gnaden, sondern aus eigener Vernunft. Doch weder der Utilitarist Bentham, der heute als Vater der pathozentrischen Tierrechtsbewegung gilt, war Egalitarist, noch Kant. Beide und alle Aufklärer hatten keine Bedenken, Tiere zwecks menschlicher Nutzung oder Ernährung zu töten, und akzeptierten eine grundsätzliche Hierarchie. Um 1800 interessieren sich nicht nur Adel, Klerus oder Großbürger, sondern auch Lehrer, Kaufleute oder Ärzte für Tierthemen, und sie wollen und können auch Vögel zuhause halten. Exoten wie Papageien, Sittiche oder Kanarienvögel, seit
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1500 von den Portugiesen importiert, wurden käuflich (Jaeger 2011). Die Vogelfängerei nahm zu und städtische Vogelmärkte, wie in Paris, machten Vogelangebote für weniger Begüterte. Waren die Exoten zu teuer, so gab es einheimische Sänger wie Dompfaff, Buchfink, Stieglitz, Drossel, Nachtigall, Spötter oder Grasmücken. Die Stubenvogelhaltung wurde Mode und durch spezielle Naturgeschichten, Anleitungen zum Vogelfang, zur Pflege und Ernährung befeuert, z. B. durch die im 19. Jahrhundert verbreitete und mehrfach aufgelegte und übersetzte Naturgeschichte der Stubenthiere (1800) von Bechstein, der selbst in der Stube immer Vögel um sich zu haben pflegte (Abb. 5). Vogelmaler befriedigten zunehmend das neue Interesse durch bezaubernde Illustrationen – Susemihl und Naumann in Deutschland, Martinet in Frankreich, Gould in England, Audubon in Amerika. Manche Vogelmaler wurden zwar von Fachforschern kritisch beäugt, faszinierten aber Interessierte für den natürlichen Lebensraum der Vögel; sie nahmen quasi das „Fernfoto“ und „Fernsehen“ anschaulich vorweg. Bürgerliche Adressaten solcher Werke waren Jäger und Forstleute, Händler und Lehrer, Bauern und Arbeiter, oder Geistliche. Der wirkmächtigste deutsche Ornithologe des 19. Jahrhunderts wurde vom Bauernsohn zum Professor: Johann Friedrich Naumann (1780–1857). Sein Vater, Johann Andreas Naumann, war ein akribischer Autodidakt. Der Vater von Alfred Edmund Brehm (1829–1884) – dem Verfasser vom Leben der Vögel (1867) und populären
Abb. 5 Bechsteins Naturgeschichte der Stubenvögel (2. A. 1. Bd. Gotha 1800)
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Tierleben – war Christian Ludwig Brehm, ein fachkundiger Ornithologe und Geistlicher. Unmengen allgemeiner und spezieller Naturgeschichten entstanden, berühmt ist die 13bändige Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände (1833– 1842) von Lorenz Oken. Nach dem Erscheinen des Hauptwerks von Charles Darwin im Jahr 1859 steigt das Interesse am Tier und die Mensch-Tier-Beziehung wird zunehmend naturalistisch und evolutionär untermauert: Der Mensch erscheint nur noch als eine Spezies unter vielen anderen, die durch die natürliche Selektion gegangen sind – diese naturalistische Argumentationsweise befeuert den Egalitarismus in der Mensch-Tier-Beziehung bis hin zum aktuellen Vorwurf des Speziesismus. Tierschutz und Vegetarismus werden radikaler und die Zweifel am Anthropozentrismus stärker (Ingensiep 2001b). Wichtige Grundlagen dafür hatten im 18. Jahrhundert so heterogene Denker wie der Physikotheologe Hermann Samuel Reimarus und der Utilitarist Jeremy Bentham gelegt, indem sie empfindende Tiere in eine universale Glücksgemeinschaft einbezogen und so den unterschiedlichen theologischen, naturalistischen und utilitaristischen Motiven in der modernen Mensch-Tier-Beziehung vorgriffen.
7 Beziehungshilfen ab 1900 – Vogelliebe, Kamerajäger und Vogelschutz Frühe Vogelkenner und Vogelmaler waren zwar Vogelliebhaber, was sie nicht davon abhielt, Vögel zu fangen oder zu schießen; Naumann oder Brehm hatten keine Bedenken, sie zu essen. Der bedeutendste britische Vogelmaler um 1900, Archibald Thorburn, war Entenkenner und Jäger, hing aber später seine Flinte an den Nagel und widmete sich dem Vogelschutz, der sich vor allem in England und Deutschland manifestierte. Ein heute wenig bekannter Akteur war der Sohn eines Predigers und Vogelliebhabers, Wilhelm Schuster (1880–1942). In populären Schriften für praktischen heimatlichen Vogelschutz kritisierte er die „modernen Menschen“, die ihrem „Kunstvogel“ im „Bauer“ auf ihrem Sofa statt Vögeln in der freien Natur lauschten (Schuster 1909, 19 f.). Schuster kam später wegen politischer Bemerkungen über die Sinnlosigkeit und Menschenunwürdigkeit von Kriegen in seiner selbstverlegten lokalen Vogelfauna von Großhessen und Nassau (Gonsenheim 1941) ins KZ Sachsenhausen, wo er 1942 grausam ermordet wurde (Nowak 2005/2010, 92–99). Die „ernsthafte Fachpresse“ ignorierte seine populären Schriften wegen „krankhaftem Eigendünkel“ (Gebhardt 2006, 330). Um 1900 kommt der „Kamerajäger“ in Mode, auch in der Vogelwelt. Bekannt wurden der Brite Richard Kearton: Our Bird Friends (Kearton 1900) oder Oliver Gregory Pike (1877–1963) mit vielen populären Werken wie Woodland, Field and Shore. Wild Nature Depicted With Pen and Camera (Pike 1901). Der kolorierte Eisvogel auf dem Einband dient als Attraktor (Abb. 6). Für „Kamerajäger“ war es nicht mehr zwingend, die Vögel real zu schießen, um anhand einer realen Vorlage akribisch die Farbnuancen usw. visuell besser darstellen zu können. Pike beschreibt die Lage rund um London, wo „bird-catcher“ sonntags mit Lockvögeln
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in Käfigen zum Vogelfang losziehen oder Jungvögel im Nest mit Steinen zerstampfen – unweit von Hinweisschildern zum Wild Birds Protection Act. Die von ihm fotografierten Eisvögel seien vor wenigen Wochen gefangen worden, klagt Pike. Daher fordert er konkrete staatliche Strafen, denn trotz aller öffentlichen Schutzhinweise gelte in der Praxis: „The Wild Birds Protection Act is a dead letter“ (Pike 1901, 276 f.). In Deutschland erlebte Der Naturschutz (1910) des Zoologen Konrad Guenther (1874–1955) hohe Auflagen; er setzt auf die Bedeutung der Natur für Volk und Vaterland, also auf Patriotismus. Sein Titelbild schmückt ein farbiges Eisvogelgemälde des Malers Georg Lebrecht (1875–1945) (Abb. 7). Die Ornithologie etablierte sich in Deutschland allmählich an den Universitäten, insbesondere unter dem Einfluss von Erwin Stresemann (1889–1972), später dann unter seinem Schüler Günther Niethammer (1908–1974). Niethammer
Abb. 6 Bucheinband mit koloriertem Eisvogelfoto (Pike 1901)
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Abb. 7 Buchdeckel von „Der Naturschutz“ (Guenther 1910)
verfasste ein dreibändiges Standardwerk zur deutschen Vogelkunde (Niethammer 1937/1942), arrangierte sich mit dem Nationalsozialismus und betrieb Vogelstudien in Auschwitz (Niethammer 1941/1942). Als Mitglied der Waffen-SS war er dort Wachmann und vom Lagerleiter Rudolph Höß für „ornithologische Sonderaufgaben“ abgestellt, was den Schriftsteller Arno Surminski zu einem speziellen Roman anregte: Die Vogelwelt von Auschwitz (Surminski 2008). Ein rezenter Historiker der Ornithologie diagnostizierte bei Niethammer eine „Mischung aus Opportunismus und Furcht“, die Vergangenheit habe ihn gequält und sprachlos gemacht (Nowak 2005, 87). Niethammer wurde 1957 Professor in Bonn und 1967 Präsident der Deutschen Ornithologengesellschaft und gab von 1962–1970 das Journal für Ornithologie heraus sowie Bände des umfassenden Handbuchs der Vögel Mitteleuropas.
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Sein Beitrag über Beziehungen des Menschen zur Vogelwelt gibt Motive der Scientia amabilis bzw. Vogelliebhaberei unter extremen Krisenbedingungen zu erkennen: „Die Beschäftigung mit der Vogelkunde, sei es rein zur eigenen Erbauung oder unter streng wissenschaftlicher Fragestellung, hat schon immer den Menschen von den Sorgen des Alltags ablenken können, hat ihn wieder froh gestimmt, wenn er sich bedrückt fühlte, ja oft genug aus verzweifelter Stimmung gerettet.“ Eigene Erfahrungen in Auschwitz kommen ihm hier nicht in den Sinn, doch: „Englische Kriegsgefangene entgingen der Lagerpsychose durch pausenlose Vogelbeobachtungen, die unsere Kenntnisse über Verhalten und Lebensweise einiger Kleinvögel bereicherten und vertieften. Sie beschlossen daher, nach dem Kriege in diesem Sinne fortzuwirken, um den Menschen nicht nur neue Kenntnisse, sondern auch den Weg zurück zur Natur zu vermitteln“ (Niethammer 1968, 16). Ein Zeitgenosse und Fachbiograph entschuldigte Niethammers eigenes Verhalten so: „Die weltpolitischen Ereignisse stellte N. vor Erlebnisse und Prüfungen, deren Abwehr außerhalb damaliger Möglichkeiten lag.“ (Gebhardt 2006, 65). – Das Exempel Niethammer zeigt: Ornithomanie kann auch zur Flucht aus persönlicher Verantwortung werden, zur politischen Überlebensstrategie oder sie kann ein Instrument der Ignoranz bzw. der Verdrängung und Vermeidung einer unerträglichen Realität sein. Nichtsdestoweniger waren auch und gerade die Arbeiten des Ornithologen Niethammer in Gesamtdeutschland sehr einflussreich.
8 Der Eisvogel als Beziehungsikone bis in die Gegenwart Nicht Enten oder Schnepfen, sondern der Eisvogel wurde nach dem Krieg zu einer Ikone des praktischen Naturschutzes in Deutschland. Seit den 1960er Jahren publizierte die Kosmos Gesellschaft der Naturfreunde spezielle Vogelmonographien. In der „Naturgeschichte der Vögel“ (Berndt, Meise 1962) wird neben den bekannten 84 Eisvogelarten „unser Eisvogel“ vorgestellt, „der einzige Eisvogel, der in der Alten Welt die Tropen und Subtropen verlassen hat, wenn auch sein Hauptbereich noch dort liegt.“ Dessen Schutz sei dringlich: „Außer in Forellenzuchtanlagen müssen wir den hübschen, nur noch spärlich vertretenen Vogel schützen.“ (Berndt/Meise 1962, 389). Daten, Tabellen und Diagramme z. B. aus Die Vogelwarte, dem Organ der Vogelwarten Helgoland und Radolfzell (Kramer 1966), werden publiziert. Je härter die Winter wie in den Jahren 1928/29, 1939/40, 1955/56, 1962/63, desto geringer waren bei Eisvögeln die Fangzahlen (Kramer 1966, 170). Systematische Beobachtung, Beringung und Dokumentation gehörten nun zur Alltagsarbeit vogelkundiger Fußsoldaten auf den Vogelwarten und biologischen Stationen. Die „Jugend“ wird in Vogelgeschichten mit dem hübschen Eisvogel befreundet: „Buntes Gefieder an Bach und See“ von Conrad Vollmer (Leipzig 1952) lockte auf Tafeln und dem Buchdeckel mit dem Eisvogel. Briefmarken der Deutschen Bundespost aus dem Jahr 1963 (Abb. 8a) und aus der DDR von 1967 warben als gesamtdeutsche Botschafter für den Vogelschutz (Abb. 8b). Die Kooperationen
230 Abb. 8 a „Für die Jugend“ (BRD 1963), b „Geschützte Vogelarten“ (DDR 1967) Die Abbildungen 1–8 stammen von Objekten im Besitz des Autors.
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im Vogelschutz nehmen deutlich zu und die Ornithologie erhält einen höheren Wissenschaftsstatus. Niethammer stellt 1968 fest, die Zahl der Mitglieder der Deutschen Ornithologengesellschaft habe sich in den letzten fünfzig Jahren verzehnfacht. Der Bund für Vogelschutz umfasse in allen Volkskreisen etwa 70.000 Mitglieder. Wurden um 1920 etwa 1500 Arten in Volieren gehalten, so seien es jetzt doppelt so viele (Niethammer 1968, 12 und 15). Gestalt, Farbe, Gesang, auch das Kindchenschema nach Konrad Lorenz trügen dazu bei, dass immer mehr Menschen Vögel niedlich und süß fänden (Niethammer 1968, 16). Niethammer kritisiert zudem, Vögel nur aus wirtschaftlichen Gründen zu schützen, sondern fordert einen ideellen Vogelschutz; es komme auf den „Gefühlsinhalt“ an: „Wir wollen die Erhaltung der Vögel um ihrer selbst willen, um unseretwillen, weil sonst nicht nur unsere heimische Natur, sondern auch unser Gemüt verarmen würde.“ Als Berufungsinstanz diente der Ornithologe und Evolutionsforscher Ernst Mayr, der als Präsident des internationalen Ornithologenkongresses in Ithaca/USA im Jahr 1962 festhält: Die Vogelkunde sei „eine Mittlerin zwischen zwei Weltanschauungen“: „Unsere Scientia amabilis“, so sagt er, „bietet einzigartige Vorteile. Sie beschert uns nicht nur das reizvollste Studium und trägt entscheidend zum Verständnis der Naturgesetze bei, sondern sie hilft durch ihre ästhetischen Aspekte die Kluft zu überbrücken, die sich zwischen den Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften aufgetan hat.“ (Niethammer 1968, 19). Wissenschaft, Anthropozentrismus und Eigenwert der Vögel verbinden sich im Motivpool des praktischen Vogel- und Artenschutzes. Zeitschriften für Vogelkunde und Vogelschutz wie Die Vogelwelt wurden gesamtdeutsch herausgegeben (Vogelwelt 1968/69); sie beklagten den Rückgang vieler Vogelbestände trotz neuer Jagd- und Schonzeiten von Vögeln in der BRD am 01.4.1968 und man erwehrte sich des Vorwurfs, „Fanatiker“ zu sein (Vogelwelt 1968, 196). Eine ornithologische Studie Nahrung und Nahrungserwerb des Eisvogels (Vogelwelt 1969, 81–97) bittet um „Mitarbeit“, was die „Schriftleitung“ ausdrücklich unterstützt: „Noch immer ist die Mithilfe bei Gemeinschaftsaufgaben am größten, wenn eine Art gehäuft auftritt oder katastrophal abnimmt.“ (Vogelwelt 1969, 119). Großformatige Bildbände von Vogelmalern wie Unsere schöne Vogelwelt (Köln o. J.) schmücken sich in der Folgezeit mit dem hübschen Eisvogel, ferner der Fotoatlas der Vögel Europas (Nicolai 1982) und das Buch der Vogelwelt in der Reihe Das Beste Reader’s Digest (Stuttgart 1994). Forderungen nach Artenschutz, Umweltbewusstsein und praktischer Vogelschutz nehmen in diesen Dekaden in Kerneuropa zu und ebenfalls klare Forderungen zum Schutzstatus. Der Eisvogel war noch 1979 in Deutschland nur „weitgehend geschützt“, d. h. Jagd und/oder Fang konnte nur in begrenztem Ausmaß, z. B. aufgrund einer begrenzten lokalen Erlaubnis erfolgen (Nowak 1979). Der NABU erklärte den Eisvogel zweimal zum Vogel des Jahres, zuerst 1973, als viele Gewässer in der BRD so verschmutzt und vergiftet waren, dass Eisvögel höchst gefährdet waren. Im Jahr 2009 wurde er erneut zum Vogel des Jahres, der Bestand hatte sich aber erholt. Heute kann man an der einst verdreckten Ruhr wieder viele Eisvögel sehen. Seit der Bundesartenschutzverordnung von 2005, zuletzt geändert 2013, fällt der Eisvogel unter die Kategorie „streng geschützte Arten“.
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Kritische Philosophen und Evolutionisten könnten nun einwenden, es werde ein unreflektierter, „essentialistischer“ Artbegriff zugrunde gelegt, als ob das „Wesen“ einer Art, deren Essenz, fix und konstant und dogmatisch deduktiv „von oben“ definierbar wäre. Die Idee einer „Art an sich“ gibt es nicht, auch nicht im Fall des Eisvogels, der eine solche platonische Idee des Schönen und Guten zu verkörpern scheint. Kritische Evolutionisten und Ökologen sprechen bevorzugt von „Populationen“ oder Reproduktionsgemeinschaften. Philosophisch betrachtet liegt daher mancher Mensch-Vogel-Beziehung im Artenschutz eine essentialistische „Idee“ zugrunde. Für wirkliche Kreationisten wäre Artenschutz dann ein theologisch motivierter essentialistischer Ideenschutz, wenn Gott diese Arten erschaffen hat. Der evolutionäre Populationsschutz dagegen steht heute vor dem Problem, biologisch zu begründen, warum gerade diese spezielle Population stabil gehalten werden soll, wenn doch die selektive Wandelbarkeit von Populationen eine Basis der Evolution ist. Die theoretische Rede ist dann von „Prozessschutz“; real werden aber meist konkrete lokale Populationen in Kulturlandschaften geschützt. Das verdeutlicht auch „unser“, d. h. der „europäische“ Eisvogel, der zu den am weitesten verbreiteten Eisvogelarten über Eurasien bis weit nach Ozeanien zählt und weltweit nicht gefährdet ist. Der einst „heilige“ Eisvogel „Alcedo atthis“ wurde und ist nichtsdestoweniger eine Ikone des „eurozentrischen“ Vogelschutzes. Peter Berthold, einer der erfahrensten Ornithologen Deutschlands, beobachtete sechs Jahrzehnte lang Unsere Vögel (Berthold 2017), auch hier lockt der Eisvogel auf dem Cover, spielt im Inhalt aber nur eine Nebenrolle (Berthold 2017, 115). Berthold macht aktuell etwa 80 % weniger Vögel seit 1800 aus, allein im Jahr „2009 gab es in Europa 421 Millionen Vögel weniger als 30 Jahre zuvor“ (Berthold 2017, 37). Als Anführer dieser Apologie für Vielfalt ist die Karriere des Eisvogels ungebrochen ein Indikator für den Artenschutz, Vogelschutz, Naturschutz, Gewässerschutz oder neuerdings auch den Klimaschutz (Lanz 2008). Der Zoologe und Vogelkenner Josef Reichholf möchte auch manche Vögel der „Stadtnatur“ schützen und fragte sich angesichts der Schutzpolitik: Es ist, gelinde ausgedrückt, ziemlich befremdlich, wenn angesehene Organisationen für Vogelschutz die Stadtvögel ausklammern und deren Fütterung abschätzig behandeln oder ablehnen. Mit welcher Berechtigung sollten wir das millionenfach bis tief nach Sibirien hinein verbreitete und häufige, nur bei uns ziemlich seltene Weissternige Blaukehlchen (Cyanosylvia svecica) besonders schützen oder den Eisvogel (Alcedo atthis), wenn solche Arten in ihrem Gesamtareal des Vorkommens gar nicht gefährdet sind, den Höckerschwan in den Städten aber mißachten? (Reichholf 2007, 250)
Aktuell stellen sich spannende Beziehungsfragen angesichts invasiver „fremder“ Vogelarten, wie Nil- bzw. Kanadagänse, die einst aus Afrika bzw. Nordamerika kamen. Dorthin breitete sich seit etwa 1850 der europäische Sperling als „English Sparrow“ aus. Es wäre zu analysieren, welche Rolle die jeweiligen nationalen oder lokalen Mensch-Vogel-Beziehungen für die Beurteilung bzw. Bewertung solcher „Immigranten“ hat – auch dies wäre ein Fall von politischer Ornithologie.
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9 Rückblick Diese exemplarischen „Vogelperspektiven“ von der Vorgeschichte bis zur europäischen Gegenwart illustrierten sehr unterschiedliche Mensch-Tier-Beziehungen am Beispiel der Vogelwelt, wobei die spezielle kulturelle Beziehung je nach Spezies, Fokussierung und Epoche sehr unterschiedlich ausfiel. Es genügt nicht, die jeweiligen Beziehungen auf eine einfache karnistische Perspektive zu reduzieren. Zwar töten Menschen seit Anbeginn die einen Tiere und essen sie, lieben und verehren andere, doch sind gerade die M ensch-Vogel-Beziehungen äußerst variantenreich. Manche Vögel hatten über lange Zeiten ein positives Kulturimage in Europa wie der Eisvogel, andere wie die Rabenkrähe ein schlechtes, letztere und andere Vögel wie Papageien scheinen aktuell auf dem Weg, zur „Person“ zu werden, erkennt man die klassischen Spiegelversuche als hinreichende Experimentalstrategie zur Ermittlung von Ichbzw. Selbstbewusstsein bei Vögeln an – der Eisvogel gehört nicht dazu. Wichtig ist, die politischen Dimensionen in der jeweiligen Mensch-Vogel-Beziehung mehr zu beachten. Das demonstrierte nicht nur die Ornithomantie in der Antike, sondern auch manch individuelle Ornithomanie im Nationalsozialismus. Die exemplarischen Fragen und Beispiele machen zudem klar, dass es „das Tier“ und „das Mensch-Tier-Verhältnis an sich“ oder das „Mensch-Vogel-Verhältnis an sich“ nicht gibt, wohl aber konkrete Mensch-Vogel-Beziehungen von Individuen, Gruppen oder Gesellschaften in bestimmten Epochen. Natürlich hätte man auch andere Vögel wie Tauben als Exempel wählen können (Jaeger 2011). Nur bedingt gibt es jeweils auch die „karnistische“ Konstante, wonach die einen getötet und gegessen, die anderen geliebt und verehrt werden. Hühner und Enten werden bei uns aktuell gegessen, Eisvögel und Papageien nicht. Tauben werden von manchen Menschen geliebt und gezüchtet, von anderen gehasst und getötet, von wieder anderen Menschen gegessen oder eben nicht. Die Berechtigung der neueren animal studies liegt gerade darin, solche Besonderheiten und Details in der Mensch-TierBeziehung aus historischer, politischer und kultureller Sicht zu erforschen und kritisch zu reflektieren. Problematisch wäre es aber, diese komplexen Beziehungsanalysen allein einer neoromantischen moralischen Perspektive zu unterwerfen – sei sie nun „anthropozentrisch“, „pathozentrisch“, „speziesistisch“ oder „holistisch“.
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Tiere als Individuen Eigennamen und Porträts von Tieren Thomas Macho
Was wir benennen und abbilden, scheint uns zu gehören, nicht zwingend als Besitz, sondern als Element der Zugehörigkeit. Kindern werden Namen gegeben, auch wenn sie, wie Immanuel Kant betont, „nie als Eigentum der Eltern angesehen werden können“, obwohl sie „zum Mein und Dein derselben gehören“ (Kant 1978, 395). Fremde sind dagegen namenlose Barbaren, deren Sprache unverständlich bleibt: bárbaroi sind im Altgriechischen die Stammler, die bloß brr-brr-Laute hervorbringen können, aber keine gegliederten Worte und Sätze. Tiere erhalten nur ausnahmsweise Namen. Die Namen der Götter dürfen in manchen Religionen nicht einmal ausgesprochen werden. Mitunter ist es sogar verboten, ihre Gesichter und Gestalten zu malen oder in Stein zu hauen; nicht wenige Bilderstürme – vom byzantinischen Ikonenstreit des 8. und 9. Jahrhunderts bis zu den protestantischen Ikonoklasmen des 16. Jahrhunderts – haben die vorgeblich heiligen Bilder zerstört. Anders gesagt: Die Hierarchie der Wesen, die Great Chain of Being (Lovejoy 1985), referiert auf das Recht der Namens- und Bildgebung. Nur was uns nahesteht oder gehört, darf umstandslos benannt und abgebildet werden; Götter und Tiere können dagegen in andere Ordnungen fallen.
1 Eigennamen der Tiere Wie kamen die Tiere zu ihrem Namen? In der zweiten Version der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis heißt es bekanntlich: „Gott, der Herr, formte aus dem Ackerboden alle Tiere des Feldes und alle Vögel des Himmels und führte sie dem Menschen zu, um zu sehen, wie er sie benennen würde. Und wie der Mensch jedes
T. Macho (*) Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften, Wien, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 F. Jaeger (Hrsg.), Menschen und Tiere, Cultural Animal Studies 9, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05625-2_13
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lebendige Wesen benannte, so sollte es heißen. Der Mensch gab Namen allem Vieh, den Vögeln des Himmels und allen Tieren des Feldes“ (Gen 2, 19–20). Adam gibt den Tieren ihre Namen: Das Motiv ist vielfach gestaltet worden, von mittelalterlichen Freskos und Buchmalereien bis zu Ikonen und zu William Blakes Adam naming the beasts und Eve naming the birds (1810). Doch die ersten Menschen geben den Tieren Gattungsnamen: Das Raubtier mit der buschigen Mähne soll Löwe heißen, das Tier mit dem langen Hals Giraffe, das schwimmende Wesen mit glänzenden Schuppen Fisch. Im biblischen Kontext treten die Tiere als Wesen im Singular auf; erst vor der Sintflut werden sie in reine und unreine Tiere, vor allem aber in zwei Geschlechter eingeteilt: „Von den reinen und unreinen Tieren, von den Vögeln und allem, was sich auf dem Erdboden regt, kamen immer zwei zu Noach in die Arche, Männchen und Weibchen, wie Gott dem Noach aufgetragen hatte“ (Gen 7, 8–9); auch Adam erhält erst, nachdem er bemerkt hat, dass die Tiere allein keine „Hilfe“ für Menschen sind (Gen 2, 20), seine Gefährtin Eva. Noch im Physiologus, einem frühchristlichen Werk der Naturkunde, wurden die Tiere im Singular angeführt: als symbolische Wesen, die Analogien zum Evangelium bilden sollten; einzig die Sirenen und Kentauren wurden im Plural benannt, ausgerechnet die mythischen Mischwesen also, denen wir heute noch am ehesten eine gewisse Einzigartigkeit zusprechen würden (Physiologus 2001, 24–27). Freilich haben sich wohl schon bald – im Zuge der Herdenhaltung und Viehzucht – Praktiken der Namensgebung für individuelle, herausragende Tiere entwickelt, zu denen ihre Besitzer eine besondere Beziehung unterhielten. Ein bekanntes Beispiel aus der Antike betrifft das Pferd Alexanders des Großen: Alexander erhielt es von seinem Vater Philipp, als er etwa zwölf Jahre alt war; das Pferd lebte von 355 bis 326 v. C. und wurde – vermutlich nach der Form seines Brandzeichens, vielleicht aber auch nach einer Blesse – Bukephalos genannt, „Ochsenkopf“. Bukephalos ließ sich angeblich nur von Alexander reiten, vor dem er sogar in die Knie ging, um ihm das Aufsteigen zu erleichtern. Nach dem Tod des nahezu dreißigjährigen Pferdes, das bei der Schlacht am Fluss Hydaspes – nahe der Stadt Malakwal – ertrank, soll ihm Alexander ein Denkmal errichtet und auf dem Schlachtfeld die Stadt Alexandreia Bukephalos gegründet haben. Bukephalos war keine Ausnahme; auch von Hunden wurde schon in der griechischen Antike erzählt, dass sie Eigennamen trugen, etwa der treue Hütehund des Odysseus, der ihn – nach zehn Jahren – auch im Gewand des Bettlers sofort erkannte: „Da richtete ein Hund, der dort lag, den Kopf auf und die Ohren: Argos, der Hund des duldemütigen Odysseus. […] Da wedelte er, als er den Odysseus nahe bei sich stehen sah, mit dem Schwanz und legte die beiden Ohren an“ (Homer 2004, 304 f.). Aufgrund seiner Wachsamkeit trug Argos offenbar den Namen des hundertäugigen Riesen, der in Heras Auftrag die von Zeus geliebte Io bewachen sollte. Und auch die Jagdhunde, die den Jäger Aktaion – nach seinem frevelhaften Blick auf die nackte Göttin beim Bade – zerrissen, weil sie ihn als Hirsch nicht erkannten, wurden in Ovids Metamorphosen namentlich aufgezählt: Schwarzfuß, Spürnase, Allesfresser, Scharfauge, Bergsteiger, Hirschkalbwürger, Windsbraut, Flügelschlag, Fangab, Waldmann, Försterin, Hirtin, Harpyie, Ladon,
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Sikyon, Läufer, Kläffer, Schecke, Tiger, Kraftvoll, Schneeweißchen, Kohlschwarz, Spartakus, Bärenstark, Wirbelwind, Blitz, Wölfin, Packan, Finsterling, Flock, Meerwolf, Reißzahn und Blaff (Ovid 1990, 68). Sie verdanken ihre Namen dem Aussehen, der Herkunft, dem Charakter und ihren besonderen Fähigkeiten, aber auch den Appellativen eines Kommandos. Vermutlich hat sich auch unter Bauern und Hirten allmählich die Praxis verbreitet, zumindest die Zucht- und Leittiere mit einem Eigennamen zu bezeichnen. Doch die Spuren solcher Praxis sind selten. Sie finden sich immerhin im Versepos vom Meier Helmbrecht (um 1250–1280), in dem der Sohn seine Identität durch die Kenntnis der Namen von vier Stallochsen nachweist: „Der Vater sprach: ‘Wer seid Ihr, wer?’ ‘Eu’r Sohn, geheißen so wie Ihr.’ Der Vater d’rauf: ‘So nennt ihn mir.’ ‘Ich bin geheißen Helmbrecht, bin Euer Sohn, und Euer Knecht war ich bis nun vor einem Jahr. Ihr wißt es selbst, ich rede wahr.’ Der Vater sprach: ‘Das lüget Ihr!’ – ‘Beim Himmel, nein!’ – ‘So nennet mir die Ochsen, die im Stalle steh’n.’ ‘Die viere? Das kann leicht gescheh’n, da ich bis nun vor einem Jahr ihr Wärter und ihr Treiber war. Der Eine heißet Auer, und wär ein and’rer Bauer auch noch so reich, er würde den doch gern in seinem Stalle seh‘n. Der and’re Ochse Raeme hieß; ein Tier, so schön und stark wie dieß ward wahrlich! nie gespannt in‘s Joch. Wollt Ihr den Dritten hören noch? So wisset daß er Erge heißt. Behalten hat mein kluger Geist die Namen, daß ich sie kann nennen, und Ihr mich könntet d’ran erkennen. Der Vierte Sonne ward genannt. Nun habt Ihr meiner Echtheit Pfand, nun laß mich dessen auch genießen und heißet mir das Tor erschließen!’“ (Werner der Gärtner 1865, 52 f.). Spätestens seit der Aufklärung haben sich die Eigennamen der Tiere sprunghaft vermehrt. Nach vereinzelten Tieren von Herrschern oder Päpsten – wie dem legendären Elefanten Abul Abbas († 810), den Hārūn ar-Raschīd dem Kaiser Karl dem Großen schenkte, oder dem Elefanten Hanno, den Papst Leo X. von Manuel I. von Portugal (um 1514) erhielt – kamen nun auch Nutztiere zunehmend in den Genuss von Eigennamen, sofern sie nicht einfach nur für die Massenproduktion von Fleisch gezüchtet wurden. Noch in Manuel von Stürlers preisgekröntem Dokumentarfilm über die Winternomaden (2012), der einen Schäfer mit einer jungen Schäferin (in Ausbildung) zeigt, die ihre winterliche Herdenwanderung mit drei Eseln, vier Hunden und achthundert Schafen in der französischsprachigen Schweiz unternehmen, werden nur diejenigen Leitschafe, die eine Glocke und einen Namen erhalten haben, von der Schlachtung ausgenommen. Und Tess Gerritsen schreibt zu Beginn ihres Thrillers Last to die (von 2012): „Meine Kindheit auf dem Bauernhof hatte mich gelehrt, dass man einem Tier, das für die Schlachtbank bestimmt ist, nie einen Namen geben darf. Stattdessen sprach man von Schwein Nummer eins oder Schwein Nummer zwei, und man sah ihm niemals in die Augen, um nur ja nicht so etwas wie ein Bewusstsein, eine Persönlichkeit oder gar Zuneigung darin erkennen zu müssen. Wenn ein Tier einem vertraut, braucht es wesentlich mehr Entschlossenheit, ihm die Kehle durchzuschneiden“ (Gerritsen 2013, 7). Im Unterschied zu Tieren auf Jahrmärkten (wie dem Nashorn Clara Mitte des 18. Jahrhunderts), im Unterschied zu Tieren im Zirkus, Zoo oder in Film und
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Fernsehen, im Unterschied vor allem zu den Milliarden von pets und Heimtieren mit Eigennamen, bleibt die Benennung der Nutztiere ein prekärer, beinahe postapokalyptischer Akt – wie in Marlen Haushofers Roman über Die Wand (1963): „Ich dachte an einen Namen für meine Kuh und nannte sie Bella. Er paßte gar nicht in die Gegend, aber er war kurz und klangvoll. Die Kuh begriff bald, daß sie nun Bella hieß, und wandte den Kopf, wenn ich sie rief. Ich wüßte gerne, wie sie früher geheißen hat; Dirndl, Gretl oder vielleicht Graue. Eigentlich hätte sie gar keinen Namen gebraucht, sie war die einzige Kuh im Wald, vielleicht die einzige Kuh im Land“ (Haushofer 2012, 38). Eine Kuh im Singular: Die Rückkehr in dieses seltsame Paradies der namentlichen Einzigartigkeit bedarf wohl einer gläsernen Wand.
2 Porträts individueller Tiere „Nicht daß ich fürchtete, ein Tier zu werden, das wäre nicht sehr schlimm, aber ein Mensch kann niemals ein Tier werden, er stürzt am Tier vorüber in einen Abgrund“; auch dieser Satz steht in Haushofers Roman (ebd., 44) – und er kann geradezu als zeitdiagnostische These gelesen werden. Wir sind umgeben von Tieren, die einen Eigennamen tragen; und diese Vermehrung der individuellen Tiere wird ermöglicht durch eine beispiellose visuelle Proliferation, die sich nicht mehr auf Filme und Plakate beschränkt, sondern auch das Internet durchdringt. In der Ausgabe des New Yorker vom 22.09.2014 findet sich ein Cartoon, der diese Lage angemessen wiedergibt: Publikumsmassen drängen sich in das Metropolitan Museum of Cat Videos. Schon das Lexikon der berühmten Tiere, das Karen Duve und Thies Völker kurz vor der Jahrtausendwende herausgegeben haben (Duve/ Völker 1999), umfasste 750 Seiten; heute kämpfen wir darum, auch unsere jüngsten Schoß- und Schmusetiere in solche Enzyklopädien einzutragen: Allein in den USA leben derzeit rund 93,6 Mio. Katzen und 77,5 Mio. Hunde in privaten Haushalten, daneben 171 Mio. Fische in Aquarien, 15 Mio. Vögel in Käfigen, mehr als 13 Mio. Reptilien in Terrarien. Wir dürfen davon ausgehen, dass sie alle – ausgenommen höchstens die Fische – einen Eigennamen tragen. Und die Bilder dieser individuellen Tiere bevölkern inzwischen nicht mehr nur private Fotoalben, sondern das gesamte Internet. Die Geschichte individueller Tierporträts kann im Lichte der Differenz zwischen Vorbildern und Abbildern betrachtet werden. Vorbilder verkörpern einen Imperativ: So sollst du aussehen; Abbilder zeigen ein reales Individuum: So siehst du aus, und so will ich dich erinnern und mit meinen Freunden teilen. Am Anfang dominieren die Vorbilder: Individuelle Tiere werden abgebildet, weil sie die besonderen Merkmale einer Tierart in ausgeprägter und schöner Form repräsentieren. Zu diesen vorbildlichen Tieren gehören die Herrschertiere, die ein Porträt ihres Besitzers begleiten und unterstreichen sollen. Abgesehen von den bereits erwähnten Tieren, die als Geschenke in den Menagerien der jeweiligen Herrscher gehalten wurden – Abul Abbas, Hanno oder Soliman, der
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Elefant Kaiser Maximilians I. – waren es vorrangig Pferde oder Hunde, die auf Gemälden zu erscheinen pflegten. Gelegentlich tragen die Hunde ein Halsband mit einem Monogramm, das freilich – wie auf Anton van Dycks Porträt des Herzogs Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg (um 1630/1632) – eher den Besitzer zu adressieren scheint als die Dogge. Auch die Schoßhunde und Möpse, die mitunter Porträts von adeligen Damen und Prinzessinnen zieren – etwa auf Louis-Michel van Loos Porträt der Prinzessin Golitsyna (1759) oder auf Goyas Porträt der Marquesa de Pontejos (1786) – wirken eher wie Ornamente, Nachfahren der emblematischen Begleittiere von Heiligen, als wie Darstellungen persönlicher Lieblingstiere. Freilich bleibt die Grenze zwischen Vorbildern und Abbildern häufig unscharf, sobald sie genauer in Augenschein genommen wird. Vor Erfindung der Fotografie wurde die Tendenz zur Idealisierung eben leichter und rascher verfolgt als die Tendenz zur Individualisierung; diese Beobachtung könnte an diversen Tierstücken und Stillleben – seit Dürers Aquarell vom Feldhasen (1502), das hier nicht fehlen darf – ebenso belegt werden wie an den naturkundlichen Studien, die ab dem 17. Jahrhundert eine zunehmende Bedeutung erlangten. Nun konnte häufiger nach dem individuellen Modell gezeichnet und gemalt werden: auf Jahrmärkten, in Menagerien und Zoos und seit Mitte des 18. Jahrhunderts auch im Zirkus; zum Typus dieser Gemälde gehören etwa die Darstellungen der Medici-Giraffe oder des erwähnten Nashorns Clara. Zugleich ermöglichten die realistischen Porträts exotischer und fremdartiger Tiere auch einen neuen Blick auf den eigenen Alltag: Mit welcher Genauigkeit hat etwa Jan Steen das Federkleid des Geflügels im Hühnerhof, vermutlich als Erinnerungsbild für seinen Auftraggeber Jan van Wassenaer, wiedergegeben! Mit welcher Aufmerksamkeit und malerischer Zuneigung hat Gerard ter Borch seinen jüngeren Bruder dargestellt, wie er einen Hund auf dem Schoss hält und entfloht! In seiner Entstehungszeit wurde dieses Bild häufig kopiert; Claudia List, Verfasserin einer Untersuchung zur Gestalt und Bedeutung der Tiere in der Kunst, bemerkt dazu: „Oberflächlich gesehen ist es eine Genreszene, doch besitzt die holländische Genremalerei des 17. Jahrhunderts häufig tieferliegende moralische Inhalte. Der Hintersinn von ter Borchs Bildnis ist aber mehrdeutig. Vernachlässigt der Knabe seine schulischen Aufgaben, um belanglose Tätigkeiten wie das Flohen auszuführen, oder verkörpert er in dieser Tätigkeit die Tugenden der Reinlichkeit, Ordnungsliebe und des Fleißes?“ (List 1993, 159). Im 18. Jahrhundert etablierten sich regelrechte Spezialisten des Tierporträts. Zu ihnen zählte der französische Hofmaler Jean-Baptiste Oudry. Er malte jedoch nicht nur exotische Tiere (wie Löwen, Leoparden, Wölfe oder Hyänen), sterbende Tiere, mit denen sich Iris Därmann auseinandergesetzt hat (Därmann 2014), Jagdszenen und Stillleben, sondern etwa auch ein Stachelschwein, Katzen und die Jagdhunde Ludwigs XV., deren Namen – Misse und Luttine – direkt auf das Bild gesetzt wurden. Ein anderer Meister der Tiermalerei war George Stubbs, dessen Tierporträts vor acht Jahren – vom 26. Januar bis zum 6. Mai 2012 – in der Neuen Pinakothek München gezeigt wurden (Stubbs 2012). Stubbs war berühmt
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für seine Pferdeporträts, die ganz bestimmte Rennpferde zeigten, mit Namen wie Firetail, Lustre oder Molly Long-Legs. Solche Pferdeporträts sind übrigens bis heute populär geblieben, wie einige Folgen der TV-Serie The Sopranos trefflich belegen. Schon der antike Spötter Lukian von Samosata hatte sich den Witz erlaubt, Paris auf die Frage der drei Göttinnen, welche denn die Schönste sei, antworten zu lassen: „Das geht über den Verstand eines Kuhhirten: solche Dinge gehören für die hübschen Herren aus der Stadt. Ja, wenn die Frage von drei Ziegen oder jungen Kühen wäre, da wollte ich nach der Kunst entscheiden, welche die schönste sei!“ (Lukian 1974, 306). In meinem Buch über Vorbilder habe ich zu zeigen versucht, dass die modernen Miss-Wahlen tatsächlich aus Schönheitswettbewerben auf Viehmärkten und Messen entstanden sind (Macho 2011, 180–183); und auch diese animalischen Wettbewerbe fanden früh ihre Porträtisten: Maler wie George Morland oder James Ward aus London begannen ihren Lebensunterhalt zu verdienen, indem sie individuelle (und zumeist preisgekrönte) Zuchttiere, Rinder oder Schweine, für deren Besitzer in Öl porträtierten. In manchen Gegenden wurde bei der Preisschau von Zuchttieren das jeweilige Siegerexemplar sogar in Gips modelliert, bemalt und auf einen – mit Ort und Datum der Schau, Namen des Züchters, Rasse und Namen des Tiers beschrifteten – Sockel montiert. Nach Erfindung der Fotografie konnten solche Porträts noch viel eindrucksvoller gestaltet werden; rasch wurde die Tiermalerei von der Tierfotografie abgelöst und in den Hintergrund gedrängt (Eskildsen 2005). Ab diesem Zeitpunkt traten die Abbilder ihren Siegeszug über die Vorbilder an. Während wir noch bei den naturalistischen Darstellungen des 18. Jahrhunderts zweifeln mögen, ob hier wirklich ein individuelles Tier abgebildet wurde, so fragen wir heute, ob und in welcher Weise ein individuelles Tier fotografisch inszeniert wurde. Ehemals haben wir also in den Vorbildern die Abbilder gesucht; heute finden wir in den Abbildern die Vorbilder, um sie zu begrüßen oder abzulehnen. Die Kunst hat sich dagegen zunehmend auf Metapositionen zurückgezogen: Sie zeigen die Entstehung des Tierporträts, verbunden mit der Frage, ob nicht die Tiere die besseren Maler sind. Schon 1845 – kaum zehn Jahre nach Daguerre und Willliam Fox Talbot – zeigte Alexandre-Gabriel Decamps den Affen als Maler; ein paar Jahrzehnte später präsentierte Gabriel von Max die Affen als Kunstrichter. Die Inszenierung des Tierporträts avancierte selbst zum Gegenstand der Malerei, etwa in Claude Lorraine Ferneleys Gemälde von der Erarbeitung eines Pferdeporträts (aus dem Jahr 1866): Das Pferd wird von seinem Besitzer an der Leine gehalten; Sattel und Zubehör liegen auf dem Boden, an der Wand hängt ein Bild von einer Jagdszene. Mehr als ein Jahrhundert später hat der US-amerikanische Maler Mark Tansey diese Szene des Tierporträts mit dem Auftritt der animalischen Kritiker verschmolzen: Auf seinem vielfach kommentierten, im Stil eines monochromen Fotorealismus gemalten Bild steht eine Kuh vor ihrem Porträt – und absolviert den „Innocent Eye-Test“. Implizit wird die Frage aufgeworfen, wessen Augen eigentlich getestet werden: die Augen der Kuh? Die Augen des Malers? Oder unsere eigenen Augen?
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3 Little John Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die irritierenden Wechselspiele zwischen Vorbild und Abbild – die Frage, welche Rolle die Tiere selbst für die Kunst spielen sollten: als Ideale, Modelle, Doubles – auf eine radikal neue Weise gelöst: durch die direkte Einbeziehung lebender Tiere in die künstlerischen Aktionen. Robert Rauschenberg gab 1964 in Stockholm ein Duett mit einer lebenden Kuh, Arnulf Rainer veranstaltete 1979 Malaktionen mit einem Schimpansen; und Joseph Beuys erklärte „La rivoluzione siamo Noi“. Plakat und Postkarte von 1972 zeigen den Künstler, der mit energischem Schritt und umgehängter Ledertasche frontal auf den Betrachter zuläuft und den Bildraum sprengen zu wollen scheint. „Doch was trägt Beuys nun in seiner Tasche?“ fragt Heike Fuhlbrügge: Schießpulver und Munition, wie der Junge mit den Pistolen, neben der fahnenschwingenden Marianne von Eugène Delacroix (1830)? Oder Saatgut und Körner, wie Jean-François Millets Semeur (1850)? Oder Kreide und Schwamm, wie Fuhlbrügge selbst vermutet? Denn diese Mittel benutzte Beuys „seit Anfang der 1970er-Jahre regelmäßig für seine erläuternden Skizzen und Diagramme, die er bei Diskussionen auf Tafeln anfertigte. Mit den Kreideskizzen in seinem Tafelwerk erforschte er im Habitus des Lehrers an der Schultafel gleichsam seine Ideen für den angestrebten ‘Kulturkampf’ und die ‘kulturelle Revolution’.“ (Fuhlbrügge 2005, 174). Für die Ziele dieser Revolution war jedoch weniger wichtig, was Beuys in seiner Tasche trug, als die Frage nach den Adressaten: dem „Noi“, das Beuys durch die handschriftliche Signatur, durch die italienische Sprache, aber auch durch die ungewohnte Großschreibung betonte. Wer ist dieses „Noi“, wer ist das „Wir“? Die Antwort fällt weniger leicht, als die üblichen Verweise auf die Gründung einer „Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung“ (am 01.06.1971) oder auf die Rezeption der Anthroposophie Rudolf Steiners nahelegen. „Wir“ ist nicht bloß eine gesellschaftliche oder spirituelle Entität. „Noi“ sind nicht allein die Personen, die einen konkreten Raum – ein Schlachtfeld, einen Acker, ein Büro, ein Museum, eine Arena – besiedeln und eine konkrete Zeitdauer miteinander verbringen; „wir“ sind nicht nur die ästhetisch gebildeten Menschen, die gemeinsam eine „soziale Plastik“ errichten. Dieses „Wir“ wäre nicht revolutionär, solange das Nicht- oder Andersmenschliche ausgeschlossen bleibt – nämlich die Tiere. „Es darf nicht nur eine Kommunikation zwischen den Menschen geben, sondern sie muß auch mit anderen Wesen stattfinden“ (zit. nach Schneede 1994, 336), bemerkte Beuys. Das „Wir“ der Revolution umfasst auch und gerade die Bienen, Hasen, Ziegen, Kühe, Pferde, Hirsche – oder Kojoten. Am 23.05.1974 flog Joseph Beuys von Düsseldorf nach New York. Am Flughafen ließ er sich vollständig in Filz einwickeln und mit einer Ambulanz zur Galerie seines Freundes René Block nach Manhattan – zum West Broadway 409, damals ganz in der Nähe der beiden Türme des World Trade Center – bringen. Während der folgenden drei Tage teilte Beuys einen Galerieraum mit einem Koyoten. I like America and America likes Me: Der Künstler trug einen
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ilzmantel, der auch als Medium des Austauschs zwischen Mensch und PrärieF wolf fungierte; er verwendete einen langen Hirtenstock, mit dem er Stroh- und Filzhaufen im Raum verrücken und neu arrangieren konnte. Der Filz diente als Kleidung und Schutz; er bewährte sich aber auch „als verfremdender Isolator, als Verwandlungsstoff und Wärmekommunikator“, als „polyfunktionale plastische Masse, die gebündelt und verschoben, zerrissen, verhüllend und dämmend eingesetzt und mit Schweiß und Urin durchfeuchtet wurde“ (Voigt 2000, 63). Anfangs verhielt sich der Kojote ängstlich und latent aggressiv; später konnten Beuys und er beobachtet werden, wie sie gemeinsam aus einem Fenster schauten. Zwölf Jahre nach der Aktion erzählte Richard Serra, er habe damals in der Nähe gewohnt „und konnte täglich vorbeischauen. Beuys und der Kojote gingen in dem vergitterten Raum umher und stierten sich an. Beuys starrte auf den Kojoten, der Kojote starrte auf Beuys, und ich starrte auf beide. Als ich wiederkam, saß Beuys am Boden, in Filz eingewickelt, sein Spazierstock ragte über seinen Kopf wie ein Periskop. Der Kojote schaute auf Beuys usw. Ich ging immer wieder hin. Ich starrte auf Beuys. Hin und wieder traf mich sein Blick, auch der Kojote schaute herüber, und dann nahmen sie ihr Ritual wieder auf. Beuys starrte auf den Kojoten, der Kojote starrte auf Beuys. Ich fand niemals heraus, was da eigentlich vor sich ging“ (zit. nach Zweite 1986, S. 504). Soll man dieser Schilderung Glauben schenken? Serra selbst hatte – neun Jahre vor der Begegnung zwischen Beuys und dem Kojoten – in der römischen „Galleria La Salita“ lebende Hühner und Hasen ausgestellt: unter dem programmatischen Titel Live Animal Habitats. Doch vielleicht sollte seine Mystifikation des Blickkontakts zwischen Mensch und Tier auch vergessen lassen, dass im Jahr 1986 – dem Todesjahr von Joseph Beuys – die Faszination für transzendente Kojoten und schamanistische Metamorphosen bereits wieder abgeklungen war: eine Faszination, die seit den frühen 1970er-Jahren durch die Bestseller von Carlos Castaneda genährt worden war. 1972 hatte der März-Verlag den ersten Band der Lehren des Don Juan verlegt; ein Jahr danach kam die Taschenbuchausgabe im Fischer-Verlag heraus. Die Übersetzung stammte von Céline und Heiner Bastian, dem langjährigen Freund und Sekretär von Joseph Beuys; und schon auf den ersten Buchseiten tritt ein magischer Kojote auf: „Es gibt Dinge, die Coyoten zu sein scheinen, es aber nicht sind“ (Castaneda 1972, 16; siehe dort auch die Geschichte mit dem Hund, 44–51). Vom Kojoten in Manhattan sagte Beuys, er könne auch als „Engel“ angesehen werden: ein „Engel“, der mehrmals täglich auf die in einer Ecke des Raums gestapelten Ausgaben des Wall Street Journal pinkelte. Anlässlich späterer Fortsetzungen des Projekts – Neues vom Kojoten (1979, in der Berliner Galerie René Blocks) und I like America and America likes me. Coyote III (1984 als „Doppelkonzert“ mit Nam June Paik in Tokio) – verkündete Beuys, er selbst stelle den Kojoten dar, dessen allmähliche „Menschwerdung“ (zit. nach Voigt 2000, 73). Oder war es Castaneda, den er darstellte? Oder Castaneda Beuys? Das Buchcover der Erstausgabe von 1972 (im März-Verlag), das wenig später vom Fischer-Verlag in zahlreichen Versionen popularisiert wurde, erinnert jedenfalls signifikant an das Selbstporträt von La rivoluzione siamo Noi. Als Urheber des bekannten Motivs wurde zunächst Hans
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Wehrli, in allen weiteren Ausgaben der vielfach ausgezeichnete Leipziger Buchgraphiker Hannes Jähn angeführt, der damals in Köln lebte und gerade erst – gemeinsam mit dem Kunstbuchhändler Walther König – die „Chihuahua-Press“ gegründet hatte. Beuys behauptete, er habe während der Aktion „die Figur des Schamanen wirklich angenommen“ (ebd., 64). Daran lässt sich allerdings mit ebenso guten Gründen zweifeln wie an der „Lehrzeit“ Castanedas bei einem Yaqui-Indianer in der Sonora-Wüste von Arizona. Während Castaneda sein kulturanthropologisches Wissen wohl überwiegend dem Studium bei Harold Garfinkel und in den Bibliotheken der University of California in Los Angeles verdankte, hatte Beuys den Umgang mit Tieren praktisch erlernt: Ein Jahr vor Ablegung des Abiturs am Gymnasium von Kleve war er – um 1939 – mit einem Wanderzirkus durchgebrannt, in dem er fast ein Jahr lang als Plakatausträger und Tierpfleger arbeitete (Stachelhaus 1987, 11; vgl auch Gieseke/Markert 1996, 29). Der Vater wollte ihn danach von der Schule nehmen, doch ein wohlgesinntes Lehrerkollegium setzte durch, dass Beuys nur um ein Jahr zurückgestuft wurde. Beuys wusste also, wie man mit Zirkustieren umgeht; und tatsächlich stammte der Kojote nicht aus der Prärie, sondern „von einer Tierfarm in New Jersey, die Tiere für Filme und andere Zwecke verlieh“. Und er trug einen Namen, der lange Zeit unbekannt war: „Little John“. Er trug ein Halsband; er war offenbar daran gewöhnt, gerufen zu werden und als „handzahmes und leinenführiges Tier auf den Menschen geprägt“ (Paust 2002, 159), den er als Sozialpartner betrachtete. Diese Prägung zeigte sich in besonderer Weise – wie Bettina Paust in ihrer ebenso respektvollen wie kritischen Analyse der berühmten Aktion argumentiert hat – in der Abschiedsszene: „Kurz bevor Joseph Beuys am Ende des dritten Aktionstages den Galeriekäfig verließ, hockte er sich nieder, packte den Kojoten, hob ihn hoch und drückte ihn an seinen Oberkörper, um sich von ihm zu verabschieden, ohne dabei“ – wie Caroline Tisdall betont (Tisdall 1976/2008, 8) – „den ‚Schmerz der Trennung zu verbergen‘. Doch war es der Kojote, der hier Beuys die Partnerschaft demonstrierte, indem er, trotz dieser körperlichen Zudringlichkeit, sich mit heftigen Körperbewegungen zwar zur Wehr setzte, zugleich aber die Schnauze von Beuys abwand, als Demonstration des Verzichts auf sein wirksamstes Mittel der Gegenwehr“ (Paust 2002, 165 f.).
4 Ein Bild vom Distelfink Zum Ende kehren wir zurück ins 17. Jahrhundert – und zugleich in die Gegenwart. Im Jahr 2013 hat Donna Tartt – nach The Secret History (1992) und The Little Friend (2002) – ihren dritten großen Roman The Gold Finch veröffentlicht, der mit dem Pulitzer-Preis 2014 ausgezeichnet wurde. Im Zentrum dieses Romans steht ein einzelnes Bild aus dem schmalen Werk des Malers Carel Fabritius (1622– 1654), das der Künstler in seinem Sterbejahr – Fabritius starb bereits im Alter von 32 Jahren beim legendären „Delfter Donnerschlag“, der verheerenden Explosion eines Pulverturms am 12.10.1654 – gemalt hatte: das Porträt eines Distelfinken.
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Im ersten Kapitel wird dieses Bild – anlässlich eines Ausstellungsbesuchs, den die Mutter mit ihrem dreizehnjährigen Sohn Theo unternimmt – vorgestellt: „‘Das ist ungefähr das erste Bild, das ich jemals wirklich geliebt habe’, sagte meine Mutter gerade. ‘Du wirst es nicht glauben, aber es war in einem Buch, das ich als Kind immer aus der Bücherei entliehen habe. Ich saß dann auf dem Boden vor meinem Bett und starrte es an, stundenlang, fasziniert – dieses kleine Kerlchen! Und ich meine, tatsächlich ist es ja unglaublich, wie viel man über ein Gemälde lernen kann, wenn man eine Menge Zeit mit einer Reproduktion verbringt, selbst wenn es keine besonders gute ist. Es fing damit an, dass ich den Vogel liebte, wie man ein Haustier liebt oder so etwas, und am Ende liebte ich die Art und Weise, wie er gemalt war.’ […] Befangen beugte ich mich vor und schaute mir das Bild an. Es war klein, das kleinste Bild der Ausstellung und das schlichteste: ein gelber Fink vor einem einfachen hellen Hintergrund, der zweigdünne Fuß an eine Stange gekettet. ‘Er war Rembrandts Schüler und Vermeers Lehrer’, sagte meine Mutter. ‘Und dieses eine kleine Bild ist im Grunde das Missing Link zwischen den beiden. Dieses klare, reine Tageslicht – daran sieht man, woher Vermeer die Beschaffenheit seines Lichts bezogen hat. Natürlich wusste ich als Kind nichts von dieser historischen Bedeutung, und sie interessierte mich auch nicht. Aber sie ist da.’ Ich trat zurück, um besser sehen zu können. Das kleine Geschöpf erschien unvermittelt und sachlich, ohne jede Sentimentalität, und etwas an der adretten, kompakten Art, wie es in sich selbst steckte – seine helle Farbe, der wache, aufmerksame Blick –, ließ mich an Bilder denken, die ich gesehen hatte, die meine Mutter als kleines Mädchen zeigten: ein Fink mit dunkler Haube und festem Blick“ (Tartt 2013, 40 f.). Der Roman vom Distelfink erzählt die Geschichte eines Traumas. Kurz nachdem die Mutter ihren Sohn verlassen hat, um einen anderen Ausstellungsraum aufzusuchen, erschüttert eine Explosion – gleichsam ein aktueller „Amsterdamer Donnerschlag“ – das Museum; die Mutter kommt bei dem Sprengstoffanschlag ums Leben. Theo wird dagegen von einem sterbenden alten Mann, der – in Begleitung eines Mädchens namens Pippa – am Boden liegt, aufgefordert, das Gemälde vom Distelfink an sich zu nehmen und zu retten. Der Junge versteckt das Bild und entkommt irgendwie aus dem Gebäude. Fortan fungiert das Bild als eine Art von „transitional object“, als Übergangsobjekt im Sinne Donald Winnicotts (Winnicott 2012): Es repräsentiert die verschwundene Mutter, mit der es eben noch in der Erinnerung an eine Fotografie – „ein Fink mit dunkler Haube und festem Blick“ – verschmolzen wurde; in ihm verkörpert sich das Trauma der plötzlichen Trennung. Im weiteren Fortgang der Erzählung werden neue „Übergangsobjekte“ auftauchen: Zu ihnen zählen das Mädchen Pippa, ein kleiner Hund, Freunde wie Andy oder Boris, aber auch Drogen oder die Antiquitäten, die in Hobies Laden liebevoll restauriert werden. Unerreicht bleibt dennoch das Bild, das an geheimen Orten, zuerst unter dem Bett, eingeschlagen in einen Kissenbezug, später in einem Depot, aufbewahrt wird: verschlossen in einer Krypta wie die Erinnerung an die Mutter, wie die Trauer um ihren ungreifbaren Tod. Alle großen Romane sind Entwicklungsromane; und so erzählt auch Der Distelfink die Geschichte eines Reifungsprozesses. Am Ende beginnen sich die
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Konflikte aufzulösen, und im Traum begegnet Theo seiner Mutter: „Und als ich für eine Sekunde weg- und wieder hinschaute, sah ich sie hinter mir im Spiegel. Ich war sprachlos. Irgendwie wusste ich, ich durfte mich nicht umdrehen – das war gegen die Regeln, was immer an diesem Ort für Regeln gelten mochten –, aber wir konnten einander sehen, unsere Blicke konnten sich im Spiegel treffen, und sie war genauso froh, mich zu sehen, wie ich es umgekehrt war. Sie war sie selbst. Eine körperliche Erscheinung. Sie war von übersinnlicher Realität, und da war Tiefe, Information. Sie stand zwischen mir und dem Ort, von dem sie gekommen war, der Landschaft im Jenseits, wo immer sie sein mochte. Und alles drehte sich um den Augenblick, da unsere Blicke sich im Spiegel berührten, überrascht und amüsiert, ihre wunderschönen blauen Augen mit den dunklen Ringen um die Iris, hellblaue Augen mit viel Licht: Hallo! Zärtlichkeit, Intelligenz, Trauer, Humor. Da war Bewegung und Stille, Stille und Modulation, die ganze Elektrizität und Magie eines großen Gemäldes. Zehn Sekunden, Ewigkeit. Alles führte im Kreis zu ihr zurück. Man konnte es in einem Augenblick ergreifen, man konnte für immer darin leben: Sie existierte nur im Spiegel, im Innern des Rahmens, und obwohl sie nicht lebte, nicht richtig jedenfalls, war sie auch nicht tot, denn sie war noch nicht geboren und zugleich nie geboren – genauso wenig wie, seltsamerweise, auch ich. Und ich wusste, sie konnte mir alles erzählen, was ich wissen wollte (über Leben, Tod, Vergangenheit, Zukunft), auch wenn sie schon da war, in ihrem Lächeln: die Antwort auf alle Fragen, das vorweihnachtliche Lächeln eines Menschen mit einem Geheimnis, das zu wundervoll war, als dass er es schon jetzt verraten dürfte: Du wirst einfach abwarten müssen, nicht wahr? Aber gerade als sie sprechen wollte – ein liebevolles, ungeduldiges Atemholen, das ich sehr gut kannte und das ich auch in diesem Augenblick hören kann –, wachte ich auf“ (Tartt 2013, 959 f.). Danach wird der Blick auf das Bild distanzierter: „Der Vogel schaut zu uns heraus. Er ist nicht idealisiert, nicht vermenschlicht. Wachsam, resigniert. Da ist keine Moral, keine Geschichte. Da ist keine Auflösung. Da ist nur ein doppelter Abgrund: zwischen dem Maler und dem gefangenen Vogel, zwischen dem Dokument, das er von dem Vogel hinterlassen hat, und unserem Erleben, Jahrhunderte später“ (ebd., 1015). Es ist paradox: Erst wer den Wunsch und die Sehnsucht nach Verwandlung und Verschmelzung – sei es mit einem Tier (wie in der Galerie von René Block) oder einem Kunstwerk (wie dem Gemälde von Fabritius) – zu respektieren vermag, kann sich tatsächlich von Übergangsobjekten lösen. Auf den letzten Seiten kommentiert der Roman – in einem singenden Tonfall, den ich bewundere, weil er den Ernst und das Pathos achtet, ohne ihm zu verfallen – sein Motto. Es stammt von Albert Camus, aus Der Mythos des Sisyphos: „Das Absurde befreit nicht, es bindet“ (Camus 2000, 90). Diese Bindungen können indes nur wahrgenommen werden, wenn auch der „doppelte Abgrund“ – zwischen Menschen, Tieren, Göttern und ihren Bildern – anerkannt wird. Das Übergangsobjekt kehrt zurück ins Museum, in keine neue Krypta. „Was immer uns lehrt, mit uns selbst zu sprechen, ist wichtig: was immer uns lehrt, uns singend aus der Verzweiflung zu lösen. Aber das Bild hat mich auch gelehrt, dass wir über die Zeit hinweg miteinander sprechen können. […] Und inmitten unseres
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Sterbens, da wir uns aus dem Sumpf erheben und schmählich in den Sumpf zurücksinken, ist es herrlich und ein Privileg, das zu lieben, was der Tod nicht anrührt“ (Tartt 2013, 1022). „Übergangsobjekte“, darin besteht die Pointe dieser Sätze, müssen nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich verstanden werden; so viel ergibt sich schon aus dem Begriff des Übergangs oder der Passage: aus dem Wechselspiel zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, Nähe und Distanz.
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