Menschen machen: Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme [1. Aufl.] 9783839417003

Der programmatische Gedanke, menschliches Leben durch gezielte Eingriffe verbessern zu können, hat seit der Entstehung d

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German Pages 498 Year 2014

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Inhalt
Homo modificans, homo modificatus. Ein Vorwort zu aktuellen „Optimierungen des Menschen“
Menschen besser machen. Terminologische und theoretische Aspekte vielgestaltiger Optimierungen des Humanen
BIOTECHNOLOGISCHE MANIPULATIONEN UND POLITISIERUNGEN DES KÖRPERS
Zur Normalisierung von Schönheit und Schönheitschirurgie
Der naturalisierte und der programmierte Mensch. Lebenswissenschaften, Bioethik und psychosozialer Wandel: Psychologische Annotationen zu Jürgen Habermas’ Sorge um eine optimierende Eugenik
Das Leben singen. Biopopuläre Kulturen in der öffentlichen Debatte über die „Impfung gegen Krebs“
PSYCHOLOGISCHE UND RELIGIÖSE VERBESSERUNGSPROGRAMME DER SEELE
Heilung der Psyche, Optimierung des Selbst. Diskursiver Wandel in den Psy-Disciplines: Der Fall der Familientherapie (1940-2000)
Anorexia nervosa: psychische Störung oder Selbstoptimierung?
Eupsychia oder Walden Two? Ein Vergleich zwischen psychologischen Optimierungsdiskursen im Behaviorismus und der humanistischen Psychologie
Ignoriert, dementiert, kritisiert: menschliche Selbstformung im Schatten der technischen Optimierungsstrategien
Der Mensch – ein dilettantisches Subjekt: Ein inkompetenztheoretischer Blick auf das vermeintlich eigene Leben
Mission possible? Der Glaube an die Macht des ‚besseren Menschen‘: Strategien der religiösen Optimierung und Normierung
VERDATETE NORMALISIERUNGEN UND OPTIMIERUNGEN
Erinnerung an den (flexibel-)normalistischen Rahmen von Human-Optimierungsprozessen in modernen okzidentalen Gesellschaften
Divide et Impera. Parallelismus als Selbstoptimierung
LITERARISCHE ENTWÜRFE UND PRAKTIKEN DES BESSEREN MENSCHEN
Optimierung und Authentizität. Zu Psychopharmaka und autobiographischer Literatur in den USA und Frankreich (Lauren Slater, Marie Cardinal)
Die Selbstpoetik des guten Lebens. Optimierungsprogramme in der Diaristik seit der Frühen Neuzeit
Schöne neue Menschen: Michel Houellebecqs „Les particules élémentaires“
NACHWORT
Optimierungstypen. Ein provisorisches Nachwort zu Licht- und Schattenseiten von Menschenverbesserungsprogrammen
Autorinnen und Autoren
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Menschen machen: Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme [1. Aufl.]
 9783839417003

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Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen

Band 13

Editorial Globalisierung erfordert neue kulturelle Orientierungen. Unterschiedliche Traditionen und Lebensformen ringen weltweit um Anerkennung und müssen sich den Erfordernissen einer universellen Geltung von Normen und Werten stellen. Gemeinsamkeiten und Unterschiede der menschlichen Welt- und Selbstdeutung müssen gleichermaßen berücksichtigt werden. Dazu bedarf es einer neuen Besinnung auf das Menschsein des Menschen: in seiner anthropologischen Universalität, aber auch in seiner Verschiedenheit und Wandelbarkeit. Die Reihe Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung ist einem neuen Humanismus verpflichtet, der Menschlichkeit in seiner kulturellen Vielfalt in sich aufnimmt und als transkulturell gültigen Gesichtspunkt im Umgang der Menschen miteinander in den Lebensformen ihrer Kulturen zur Geltung bringt. Die Reihe wird herausgegeben von Jörn Rüsen (Essen), Chun-chieh Huang (Taipeh), Oliver Kozlarek (Mexico City) und Jürgen Straub (Bochum), Assistenz: Henner Laass (Essen). Wissenschaftlicher Beirat: Peter Burke (Cambridge), Chen Qineng (Peking), Georg Essen (Nijmegen), Ming-huei Lee (Taipeh), Erhard Reckwitz (Essen), Masayuki Sato (Yamanashi), Helwig Schmidt-Glintzer (Wolfenbüttel), Zhang Longxi (Hongkong)

Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.)

Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme

In Zusammenarbeit mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, dem Institute for Advanced Studies in Humanities and Social Sciences, National Taiwan University, und der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Menschheit, Kultur und Werte gefördert von der Stiftung Mercator

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub Satz: Jessica Niestegge Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1700-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Homo modificans, homo modificatus. Ein Vorwort zu aktuellen „Optimierungen des Menschen“ Jürgen Straub, Katja Sabisch-Fechtelpeter und Anna Sieben | 9 Menschen besser machen. Terminologische und theoretische Aspekte vielgestaltiger Optimierungen des Humanen

Jürgen Straub, Anna Sieben und Katja Sabisch-Fechtelpeter | 27

BIOTECHNOLOGISCHE MANIPULATIONEN UND POLITISIERUNGEN DES KÖRPERS Zur Normalisierung von Schönheit und Schönheitschirurgie Nora Ruck | 79 Der naturalisierte und der programmierte Mensch. Lebenswissenschaften, Bioethik und psychosozialer Wandel: Psychologische Annotationen zu Jürgen Habermas’ Sorge um eine optimierende Eugenik Jürgen Straub | 107 Das Leben singen. Biopopuläre Kulturen in der öffentlichen Debatte über die „Impfung gegen Krebs“ Katja Sabisch-Fechtelpeter | 143

PSYCHOLOGISCHE UND RELIGIÖSE VERBESSERUNGSPROGRAMME DER SEELE Heilung der Psyche, Optimierung des Selbst. Diskursiver Wandel in den Psy-Disciplines: Der Fall der Familientherapie (1940-2000) Jens Elberfeld | 169

Anorexia nervosa: psychische Störung oder Selbstoptimierung?

Gala Rebane | 211 Eupsychia oder Walden Two? Ein Vergleich zwischen psychologischen Optimierungsdiskursen im Behaviorismus und der humanistischen Psychologie Anna Sieben | 235 Ignoriert, dementiert, kritisiert: menschliche Selbstformung im Schatten der technischen Optimierungsstrategien Roland Kipke | 269 Der Mensch – ein dilettantisches Subjekt: Ein inkompetenztheoretischer Blick auf das vermeintlich eigene Leben Roland Reichenbach | 305 Mission possible? Der Glaube an die Macht des ‚besseren Menschen‘: Strategien der religiösen Optimierung und Normierung Maik Arnold | 329

VERDATETE NORMALISIERUNGEN UND O PTIMIERUNGEN Erinnerung an den (flexibel-)normalistischen Rahmen von Human-Optimierungsprozessen in modernen okzidentalen Gesellschaften

Jürgen Link | 353 Divide et Impera. Parallelismus als Selbstoptimierung

Stefan Rieger | 365

LITERARISCHE ENTWÜRFE UND PRAKTIKEN DES BESSEREN M ENSCHEN Optimierung und Authentizität. Zu Psychopharmaka und autobiographischer Literatur in den USA und Frankreich (Lauren Slater, Marie Cardinal)

Marie Guthmüller | 383 Die Selbstpoetik des guten Lebens. Optimierungsprogramme in der Diaristik seit der Frühen Neuzeit

Ralph Köhnen | 409 Schöne neue Menschen: Michel Houellebecqs „Les particules élémentaires“

Agnieszka Komorowska und Jörn Steigerwald | 445

NACHWORT Optimierungstypen. Ein provisorisches Nachwort zu Licht- und Schattenseiten von Menschenverbesserungsprogrammen

Jürgen Straub | 473 Autorinnen und Autoren | 491

Homo modificans, homo modificatus Ein Vorwort zu aktuellen „Optimierungen des Menschen“ J ÜRGEN S TRAUB , K ATJA S ABISCH -F ECHTELPETER

UND

A NNA S IEBEN

W ISSENSCHAFTS - UND TECHNIKBASIERTE O PTIMIERUNGEN DER KÜNSTLICHEN N ATUR Optimierungen und Normierungen gehören unabdingbar zum menschlichen Leben. Allerdings haben diese Begriffe nicht nur eine universale anthropologische, sondern auch eine historische und kulturelle Bedeutung. So lehrt ein auf die Geschichte Europas begrenzter Blick, dass „der ontologische Vorrang des ‚Seinsollens‘ gegenüber der antiken und mittelalterlichen Vorrangstellung des Seins“ (Müller 2010: 73f.) erst in der Neuzeit zum Programm erhoben wurde. Dieser Wandel war gekoppelt an die Entstehung jener wissenschaftlich-technischen Welt, aus welcher längst kein Weg mehr herausführt – auch in Weltengegenden fernab des europäischen Kontinents. Die wissenschaftsbasierte Technisierung der Welt rückte Optimierungs- und Normierungsprozesse ins Zentrum eines stetig beschleunigten Geschehens. Im Prinzip konnte fortan alles zum Gegenstand von tiefgreifenden Veränderungen im Zeichen des Besseren werden. Der Mensch legte in einem bislang unbekannten Ausmaß und zugleich mit neuer Akribie nach permanent überarbeiteten Plänen Hand an, um sich und

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die ‚Dinge‘ so zu modifizieren, wie sie seinen innovativen Vorstellungen gemäß sein sollten. Zu diesem Zweck wurden zunehmend mehr effizienzsteigernde Techniken erfunden, nicht zuletzt solche, die neben der nicht-menschlichen Natur den Menschen selbst zum Objekt optimierender und normierender Gestaltungen machten. Heute sehen wir uns mit bereits verfügbaren oder visionär imaginierten Mitteln konfrontiert, deren Einsatz die endgültige Abschaffung des althergebrachten Menschen verspricht. Dieser war durch eine letztendlich unabänderliche Imperfektibilität gekennzeichnet (und gezeichnet). Die in einem neuen Sinn radikalen Techniken, die insbesondere durch lebenswissenschaftliche und biotechnologische Innovationen möglich geworden sind, nähren seit geraumer Zeit die nicht mehr ins Feld bloßer Science Fiction abzuschiebende Verheißung, dass der Mensch einen von Grund auf neuen Menschen machen könnte – ganz nach eigenem Gutdünken: möglichst makellos und ohne Leid, von allen Krankheiten, vom Übel der Verletzlichkeit und Verwundbarkeit befreit, vom bislang unvermeidlichen Siechtum, dem Sterben und dem Tod sogar erlöst. Der antiquierte Mensch (Anders 1956, 1980) lässt sich, so hoffen und behaupten manche, allmählich ersetzen. Wie die moderne Technik generell mag diese Verheißung positiv oder negativ konnotiert sein. Sie mag lustvoll affirmiert und als kommende Beglückung eines bald schon neuen (z.B. cyborgisierten) Lebewesens gefeiert werden, das in seiner natürlichen Künstlichkeit und nunmehr konsequent künstlichen Natur erstrahlt, oder aber Zweifel und Unbehagen, Angst und Schrecken, Trauer und Melancholie auslösen. Utopien stehen neben Dystopien. Wie sehr in diesem Feld intensive Gefühle und aufregende Affekte im Spiel sind, zeigte exemplarisch die hitzige öffentliche Debatte, die der vergleichsweise harmlose philosophische Essay von Peter Sloterdijk (1999) vor gut zehn Jahren auszulösen vermochte. Der Autor, der in seinem an Martin Heidegger adressierten Antwortschreiben (erneut) das Ende jenes epochalen Humanismus diagnostizierte, welcher sein „kommunitaristisches Phantasma auf das Modell einer literarischen Gesellschaft“ zurückführte (ebd.: 10), räsonierte seinerzeit über neue „Regeln für den Menschenpark“ im biotechnologischen Zeitalter. Er konstatierte, kaum überraschend, dass es mit der selegierenden Macht von elitären Lektüren klassischer Texte und den daran gebundenen Lektionen für bildungswillige Lesefreunde

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nicht mehr allzu weit her sei im spät- oder postmodernen Alltag der elektronischen Massenmedien. Das gelte erst recht vor dem Horizont ganz neuer, naturwissenschaftlich und technisch fundierter Selektionsmöglichkeiten im Rahmen des post-literarischen und post-epistelographischen, mithin post- und transhumanistischen genetic engineering of human beings (ebd.: 13 f.). Selbst die letzten anachronistischen Zuckungen der melancholischen „Nachkriegshumanismen“ erlahmten angesichts dieser Aussichten mehr und mehr.1 Kaum jemand glaube heute, so Sloterdijk, noch allen Ernstes daran, dass der „biologisch offene“ und „moralisch ambivalente“ Mensch in nennenswertem Maße durch geeignete Lektüren gezähmt, durch selbstbildnerische Leseerfahrungen geformt und gelenkt werden könne. Die Suche nach dem „wahren und wirklichen Menschen“ müsse künftig wohl in anderen Medien und mit anderen Mitteln fortgesetzt werden – was natürlich seit langem schon geschehe, heißt es allenthalben. Just in diesem Übergangsfeld schlage – das ist wohl unübersehbar – die Stunde der ambitionierten Lebenswissenschaften und Biotechnologien, die in der Tat im Begriff sind vorzuschreiben, ja bereits vorgeben und tatsächlich schon vormachen, was der Mensch heute aus sich machen und wer oder was er bereits morgen sein könne. Und so liegt es tatsächlich nahe zu fragen, „ob auf lange Sicht so etwas wie eine explizite Merkmalsprägung auf Gattungsebene überhaupt möglich sei und ob die optionale Geburt (mit ihrer Kehrseite

1

Die gibt es gleichwohl noch immer: vgl. etwa Rüsen/Laass (2009); Rüsen (2012); Todorov (2002). In der auf Popularität bedachten akademischen Philosophie unserer Tage muss der vage Name manchmal sogar als Bezeichnung einer vermeintlich unverbrauchten „Leitkultur“ herhalten: NidaRümelin (2006). Es ist im Übrigen evident, dass sich über die schillernden (Neo-) Humanismen kein pauschales Urteil fällen lässt, da der ohnehin extrem vieldeutige Titel heute wirklich für alles Mögliche stehen kann; vgl. Cancik (2003); Cancik (2009). Es ist mithin auch allzu simpel, ‚den‘ Humanismus ungeachtet aller seiner Varianten pauschal als eine Weltanschauung zu verachten und zu verabschieden, der unweigerlich ein unheilbringendes Bild des „starken Menschen“ (des „starken Subjekts“ etc.) eingeschrieben sei und der sich im Grunde genommen sogar die Militanz der europäischen Weltgeschichte verdanke (so Heidegger, nach Sloterdijk 1999: 30).

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der pränatalen Selektion) gattungsweise zu einem neuen Habitus in Fortpflanzungsdingen werden könnte“ (ebd.: 59). Heideggers Schriften, sodann Nietzsches „Zarathustra“ (ebd: 37ff.) und am Ende sogar Platos „Politikos“ und „Politeia“ (ebd.: 47 ff.) liefern Sloterdijk die philosophischen Stichwörter, die ihn, den Blick auf die biopolitische Konstellation gerichtet, schließlich über „Kampf“, „Entscheidung und Selektion“ nachdenken lassen (ebd.: 37). In diesem Zusammenhang fallen dann auch die Aufsehen erregenden Sätze. Es geht dort um jene Menschen, welche Häuser und Städte bauen sowie Reiche errichten, um jene ‚Architekten‘ und ‚Baumeister‘, denen es nicht zuletzt obliegt zu bestimmen, „was aus den Menschen, die sie bewohnen, werden soll“ (ebd.). Diese Herrschenden sind es, die Menschen regelrecht zu entwerfen und zu machen haben. In den Spuren Nietzsches wird aus dieser Macht eine „zähmende und züchtende Gewalt“ (ebd.: 39). Der Mensch wandelt sich demnach unversehens zum „Züchter der Menschen“, einem zutiefst schöpferischen Züchter, der jeden humanistischen Horizont sprengt. Schon vor Heidegger hat Nietzsche das Tor zum post- und transhumanistischen Denk- und Handlungsraum weit aufgestoßen. Durch dieses Tor schreiten gegenwärtig die philosophisch nicht sonderlich bekümmerten LebenswissenschaftlerInnen und BiotechnologInnen, für die das avancierte engineering of human beings das Alltagsgeschäft der Zukunft eines neuen, alles allzu Menschliche vergessen machenden ‚Menschen‘ ist. Sloterdijk diagnostiziert in diesem Zusammenhang vieles ganz nüchtern und sieht zweifellos einiges kommen, das heute kaum mehr jemand übersehen dürfte oder leugnen wollte. Dabei oszilliert er allerdings zwischen nachdenklichen Fragen und einer seltsamen Apologie der affirmierten Vorherrschaft unerschrockener Menschenmacher, denen die züchtende Menschenproduktion in die Wiege gelegt scheint. Auch deswegen reagierte ein Teil der Leserschaft des Traktats über „Regeln für den Menschenpark“ nicht nur mit Argumenten, sondern auch mit Affekten gegen die neuen Aussichten. Das ist nachvollziehbar, obwohl es der Autor im Grunde genommen gut gemeint hat. Am Ende von Sloterdijks Essay eröffnet die diffuse Anrufung einer lebenswissenschaftlich fundierten und biotechnologisch bewerkstelligten Züchtung nämlich eine Perspektive, in der es vielleicht sogar gelingen könnte, die in beispielloser Weise „enthemmte“, von Gewalt und Gewaltdarstellungen befallene Zivilisation unserer Gegenwart zu

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läutern. Garantiert ist freilich nichts. Den Ausgang des heute möglich erscheinenden Experiments kennt niemand. Gewiss scheint nur, dass die Herrschaft der alten „Priester und Lehrer“ (ebd.: 40) an ihr Ende gelangt ist. Ohne die alten Autoritäten, ehemaligen Machthaber und Herrscher sowie ihre durchtriebenen Machenschaften zu verharmlosen, lässt sich festhalten: zur Züchtung von Menschen (in jenem erst heute möglich erscheinenden Sinn) waren sie keinesfalls in der Lage (zu ihrer massenhaften Vernichtung in Tötungsfabriken dagegen schon). Nicht alle Anthropotechniken sind über einen Kamm zu scheren, in ihren Wirkungen sowieso nicht. Das weiß im Grunde auch Sloterdijk, dem eigentlich weniger an einer ‚übermenschlichen‘ Verunglimpfung von Priestern und Lehrern liegt als vielmehr daran, allen „humanistischen Harmlosigkeiten“ eine Absage zu erteilen und fortan mit einer „Zucht ohne Züchter, also einer subjektlosen biokulturellen Drift zu rechnen“ (ebd.: 42): „Daß die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist, vor dem der Humanismus von der Antike bis in die Gegenwart die Augen abwandte – dies einzusehen genügt, um in tiefes Wasser zu geraten“ (ebd.: 43). In der Tat: Während die Abrichtung und Auslese dereinst über das Lesen, das Lesen-lassen und Lesenmachen lief (und ebenso über das Schreiben, kurz: über die allgemeine Alphabetisierung durch Schriftgelehrte), werden Selektionen im postund transhumanistischen Zeitalter elektronischer Medien sowie technischer Apparaturen zur Menschenproduktion (vornehmlich) anders bewerkstelligt, heute bereits und morgen erst recht. Das ist wohl ebenso unbestreitbar wie die Tatsache, dass sich dadurch die Pragma-Semantik der „Auslese“ verwandelt. Die verfügbaren Mittel und Verfahren der „Selektion“ verändern nämlich radikal, was sinnvollerweise unter diesem Begriff verstanden werden kann. Erst in unserer Gegenwart erscheint es machbar, dass die Menschheit von morgen einigermaßen säuberlich in „Züchter“ und „Gezüchtete“ (ebd.: 44) separiert werden könnte (eine Weile wenigstens, bis eben alle der Züchtung entsprungen sein werden). Dagegen war noch vor wenigen Jahrzehnten an eine wirkliche „Zucht“ von Menschen gar nicht zu denken. Ehrgeizige Vertreter der modernen Genetik, der Hirnforschung und auch der Psychologie – etwa in Gestalt des Behaviorismus eines Frederik Burrhus Skinner – phantasierten zwar immer wieder von der erfolgreichen Züchtung eines brave new man, scheiterten aber theoretisch und praktisch ohne Ausnahme, sobald sie sich

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an die Verwirklichung der zwielichtigen Träume machten. Erst in jüngster Zeit sind solche Anliegen keine reine Phantasterei mehr. Entwürfe einer positiven Eugenik sowie Pläne eines ebenso ‚fortschrittlichen‘ Neuro-Enhancement geistern in den Köpfen herum, liegen bereits in der Schublade und verleihen den beteiligten Wissenschaften sowie der direkt am Menschen ausgeübten Ingenieurskunst neuen Glanz. Erste Erfolgsbilanzen sind erstellt. Es ist leicht zu erkennen: Ohne historische Spezifikationen von optimierenden Züchtungen des Menschen zu sprechen und das Züchtungsgebaren als anthropologisches Anliegen auszuweisen, wirkt zwar spektakulär und suggestiv. Eine derartig umstandslose, alle geschichtlichen Entwicklungen nivellierende Begriffsverwendung schöpft aber doch allzu sehr aus der Quelle einer Angstlust-Rhetorik, die heterogene Konzepte und Praktiken allzu leichtfertig in ein und denselben Topf wirft. Es führt keine kontinuierliche Linie von der alten Pädagogik, Psychagogik und Politik zur genetischen Menschenproduktion in der Epoche der lebenswissenschaftlichen Hightech-Industrie (oder zum wunschgemäßen, willfährigen Neuro-Enhancement, usw.). In diese Epoche sind wir freilich bereits eingetreten – just deswegen drängen sich Fragen wie die oben angeführten regelrecht auf. Sie sind unabweisbar. Obwohl sich die heutigen Menschen zu ihrer faktisch errungenen, erheblich gesteigerten und qualitativ verwandelten Selektionsmacht verhalten müssen, ist es dennoch nirgends ein für alle Mal festgelegt, was dabei herauskommen wird.2

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Im Fahrwasser seiner elitistischen Kulturkritik wittert Sloterdijk – ohne hinreichend präzise zu werden, jedoch mit provozierender Verve – heutzutage neue Möglichkeiten „wirkungsvoller Verfahren der Selbstzähmung“ (ebd.: 46), die den „bestialisierenden Impulsen und ihren jeweiligen Medien“ (ebd.) ihre Grenzen aufzeigen könnten. Sloterdijk stellt berechtigte, mittlerweile geläufige Fragen nach dem neuen „evolutionären Horizont“ (ebd.: 46 f.) – und uno actu Fragen, die dem normativen und politischen Horizont der menschheitsgeschichtlichen Zukunft neue Konturen verleihen und unser aller Selbstverhältnis und Selbstverständnis noch lange herausfordern werden. Angesichts der entdeckten und noch zu erfindenden Möglichkeiten der Menschenzüchtung – bei der es im Übrigen um viel mehr geht als um eine bloße „Manipulation biologischer Risiken“ (ebd.: 46) – steht heute anderes auf dem Spiel als lediglich die Rollenverteilung zwischen „Zooleitern“ und „Zoobewohnern“ (zwischen „Hirten“

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M ODIFIKATIONEN DES M ENSCHEN ALLENTHALBEN : SOZIAL - UND KULTURWISSENSCHAFTLICHE B EOB ACHTUNGEN IN PROGRAMMATISCHER H INSICHT Nicht bloß die Formen und Mittel des modernen Optimierungs- und Normierungswillens sind überaus vielfältig. Auch die Exzessivität, Radikalität und Omnipräsenz dieses mit wissenschaftlichem und technologischem Wissen ausgerüsteten Willens ist ein historisches und kulturelles Novum. Nicht zuletzt daran mag es liegen, dass in jüngerer Zeit keineswegs nur die lebenswissenschaftlichen und biotechnologischen Innovationen, Interventionen und Visionen unter Beobachtung gestellt wurden und häufiger ins Kreuzfeuer öffentlicher Debatten geraten sind. Vielmehr wird gegenwärtig, öfters in vergleichender Perspektive, allen möglichen Praktiken der Optimierung und Normierung des Menschen größere Aufmerksamkeit zuteil als je zuvor. Die biologisch-medizinischen Eingriffe ins Genom und Gehirn bilden lediglich die Speerspitze einer Avantgarde, die den beobachtenden Blick der Sozial- und Kulturwissenschaften mittlerweile auch auf ziemlich herkömmliche und vergleichsweise harmlose Theo-

und „Herden“, oder wie Sloterdijks hierarchisierende Metaphern aus der animalomorphen Welt des züchtenden und gezüchteten Menschentiers sonst noch so heißen). All das bleibt in Sloterdijks Text erst einmal außerhalb des Horizonts jeder Kritik. Nicht zuletzt diese rhetorische Strategie, die die in den Massenmedien willkommene Angstlust eines großen Publikums befördert, erregte seinerzeit die Gemüter. Da nützt es dann nicht mehr viel, wenn der Autor das Unheimliche und Ungeheuerliche in seinen aristo-experto-technokratischen Visionen abdämpft, indem er (mit Platos Stimme) hinzufügt, der an Wissen und Können überlegene Menschenzüchter betreibe die Selektion der ihm anvertrauten Schützlinge, „ohne je ihrer Freiwilligkeit Schaden anzutun“ (ebd.: 52). Wie das denn vor zweieinhalbtausend Jahren hat gehen sollen und wie das heute und morgen funktionieren könnte, bleibt indes schleierhaft. Selbst der Verdacht, dass diese Freiwilligkeit nicht allen ebenso sehr am Herzen liegt, wie es wohl wünschenswert wäre, ist kaum aus der Welt zu schaffen. Es bleibt mithin unbehaglich, wenn jemand mit dem (nach Sloterdijk althergebrachten) Gedanken spielt, dass künftige „Über-Humanisten“ sich ans Werk machen werden, um sich an der „Eigenschaftsplanung einer Elite“ zu versuchen, „die eigens um des Ganzen willen gezüchtet werden muss“ (ebd.: 54).

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rien, Praktiken und Techniken der Verbesserung und Vervollkommnung des Menschen gelenkt hat. Auch in den traditionellen Metiers geht es um Selbstbehandlungen sowie um verändernde Maßnahmen durch andere. Ob Fremd- oder Selbstbehandlung, das gemeinsame Ziel ist die Optimierung und Normierung des Menschen. Im Windschatten der lebenswissenschaftlichen und biotechnologischen Perspektiven ist diese vielfältige Praxis mittlerweile in den Fokus der allgemeinen, nicht zuletzt der sozial- und kulturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. Die neuesten biotechnologischen Manipulationen greifen unvergleichlich ‚tief‘ in körperliche Substanzen und Strukturen ein. Sie ersetzen die gegebene Natur durch künstlich Geschaffenes. Sie bedienen sich einer neuen ‚physiologischen‘ Kunst, die ersetzt, erweitert und erzeugt. Neben derartig radikalen und ‚schweren‘ Eingriffen, deren Auswirkungen auf die ‚gesamte Person‘ nicht selten unabsehbar und mitunter unbeabsichtigt sind, gibt es ‚leichtere‘ Maßnahmen (in allen Abstufungen), darunter medikamentöse Wege z.B. der Konzentrations- oder Gedächtnisverbesserung. Oft geht es jedoch ‚lediglich‘ um ein paar ‚oberflächliche‘ Modifikationen, die die Attraktivität und das Ansehen eines Menschen an dessen ‚optimiertes‘ und ‚normiertes‘ Aussehen koppeln. Plastische Schönheitschirurgie, Piercing, Diäten, Bodybuilding, Fitness, Wellness – Offerten gibt es in vielen Branchen. Manches eignet sich für umstandslose Selbstanwendungen, anderes bedarf außergewöhnlicher Anstrengungen und Übungen. Einiges lässt sich nur mithilfe von Trainern, Coaches oder anderen Facilitators erreichen. Dazu gehören zahlreiche exorbitante Leistungssteigerungen, die weit mehr voraussetzen als vervielfachte Muskelkraft. Vielfach geht es gar nicht oder nicht allein um die Physis, den Körper oder einzelne Körperteile. Auch innovative Sozio- und Psychotechniken gedeihen nach wie vor im Feld der Optimierung und Normierung des Menschen. Auch solche psychosozialen Techniken lassen traditionelle Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen manchmal weit hinter sich. Sie zielen im Prinzip auf eine unter allen möglichen Aspekten optimierte Person. Der Weg führt hier von bloßen Manieren, einzelnen Fertigkeiten und Fähigkeiten über allerlei Persönlichkeitsmerkmale (Intelligenz, Ängstlichkeit, Extraversion, Flexibilität, Resilienz etc.), komplexe Haltungen und Verhaltensdispositionen bis hin zu standardisierten biographischen Übergängen und Phasen (von der Wiege bis zur Bahre). Optimierungen und Normierungen der Seele

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sind längst ebenso üblich wie die (teils invasiven) Manipulationen an Körpern und Körpersubstanzen. Hier wie dort ist die Mobilisierung von Verbesserungs- und Vervollkommnungsmaßnahmen nicht unbedingt von der freien Zustimmung möglicher Betroffener abhängig. Für das im vorliegenden Band verfolgte Forschungsprogramm, das vielfältige Optimierungen und Normierungen des Menschen untersucht, ist das Konzentrations- und Gedächtnistraining, die Gymnastik oder Meditation ebenso interessant wie die Schönheitspflege oder die nicht allein um Heilung besorgte Psychotherapie, die Psycho- und Soziotechnik im Allgemeinen sowie die medikamentös oder chirurgisch (oder sonst invasiv) bewerkstelligte Verbesserung und Vervollkommnung des Menschen. Die bereits betriebene und in Steigerungsformen noch in Aussicht stehende, radikale und exzessive Technisierung des zumal menschlichen Lebens wirft eben nicht allein Fragen auf, die die lebenswissenschaftliche und biotechnologische Avantgarde des 20. und 21. Jahrhunderts sowie die damit verwobenen, neuen Varianten des Human-Enhancement betreffen – von der beständig erweiterten Palette medikamentöser Behandlungen über invasive Eingriffe ins Gehirn bis hin zur Programmierung der genetischen Ausstattung von Personen. Diese Innovationen lassen sich vielmehr auch als Vorgänge auffassen, die uns dazu drängen, genauer über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen (mehr oder weniger) ‚traditionellen‘ Weisen der Lebensgestaltung und speziell der Selbstformung einerseits, wissenschaftsbasierten und hoch technisierten Modi der Manipulation und Herstellung menschlichen Lebens in allen seinen Dimensionen andererseits nachzudenken und empirisch zu forschen. Genau das geschieht seit einigen Jahren immer mehr, und zwar im klaren Bewusstsein, dass bislang lediglich ein erster Anfang gemacht ist. Dabei wird vorausgesetzt: Den homo modificans mag es in allerlei Ausgaben und Intensitätsgraden geben (und gegeben haben). Die Spannweite reicht von abwartenden und beharrlichen Gemütern, die allenfalls von Zeit zu Zeit zu behutsamen Modifikationen bereit und fähig sind, bis hin zu den beflissenen, besessenen und entfesselten Geistern, denen das Menschen-Machen im Zeichen einer unaufhörlichen und permanent zu beschleunigenden Optimierung längst selbst zur ersten Norm und zweiten Natur geworden ist. Letztere betrachten das, was ist – einschließlich ihrer selbst und ihresgleichen –, voller innerer Unruhe vor dem eigens ausgemalten Horizont all dessen, was

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sein könnte, sein sollte. Ihr Wirklichkeitssinn ist von ihrem Möglichkeitssinn so sehr durchdrungen, dass die Realität eigentlich nur noch unter dem Gesichtspunkt möglicher optimierender und normierender Maßnahmen erscheint und erlebt wird. Das Reale ist für diese Menschen immer schon durch das Potentiale kontaminiert. Wirkliches wird hier so sehr dem Diktat des Möglichen unterstellt, dass es eigentlich nur noch als etwas Verbesserungsbedürftiges, Verbesserungswürdiges und Verbesserungsfähiges vorhanden ist. Wie gesagt ist das nicht allein eine Frage individueller Dispositionen und Temperamente, sondern auch des kulturellen Welt- und Menschenbildes (wie es sich in institutionellen und informellen Praktiken und Diskursen, Epistemen und Dispositiven ‚artikuliert‘). Es ist offenkundig, ja trivial, dass die radikal und unablässig im Zeichen der Optimierung handelnden ‚Geister‘ und ‚Macher‘ Errungenschaften moderner Gesellschaften und Kulturen sind, in denen Technisierungsprozesse eine zentrale Rolle spielen (Müller 2010). Es hat sich mittlerweile auch herumgesprochen, dass diese Prozesse zutiefst in eine bis heute nicht abgeschlossene Säkularisierung religiöser Heilsideen eingebettet sind. Sie beziehen ihre ambivalente Faszination und motivierende Schubkraft also nicht zuletzt aus der Endlosschleife des Versprechens, dass eigentlich alles, vieles jedenfalls, immer besser und am Ende sogar rundum gut werden könne. Die Sehnsucht nach Vollkommenheit treibt Menschen um und an, und zwar gerade dann, wenn es um sie selbst und das eigene Leben, das eigene Selbst und die eigene Welt geht. Es gibt wohl keine Kultur und Gesellschaft, die ohne irgendwelche Veränderungen und Regelungen im Zeichen des Besseren und vielleicht des Besten auskäme.3 Verbesserungen und die an einem (meta-

3

Das ist das Thema einer wahrlich unübersehbaren Literatur, nicht zuletzt in der Philosophie und zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen. Wir nennen hier exemplarisch nur einen einschlägigen Sammelband aus jüngerer Zeit: Assmann/Assmann (2010). Im Übrigen verweisen wir auf eine in der akademischen Psychologie unserer Tage außergewöhnliche psychologische Anthropologie, die die (selbstverständlich unstillbare und dennoch niemals still zu stellende) Sehnsucht nach Vollkommenheit ins Zentrum theoretischer Reflexionen, phänomenologischer Betrachtungen und empirischer Untersuchungen rückt: Boesch (1998); Boesch (2005); vgl. dazu Straub/Sieben/Sabisch-Fechtelpeter (in diesem Band).

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phorisch verstandenen) Richtmaß (griechisch țĮȞȫȞ, lateinisch regula, norma: Richtschnur, Richtscheit; Regel, Vorschrift, Norm, Gesetz; Muster, Vorbild; Prüfstein; Kanon u.a.) ausgerichteten Anpassungen sind kontingent und dennoch so gut wie überall zu beobachten, wo Menschen zugange sind. Im Rahmen einer historischen, trans- und interdisziplinären Anthropologie ließe sich der Mensch – ohne jede essentialistische Festschreibung und weit entfernt von teleologischen Festlegungen – als homo modificans, genauer: als das sich optimierende und normierende Lebewesen bestimmen. Das ist eine anthropologisch-universale Bestimmung. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass sich die angestrebten oder erlangten Veränderungen objektiv als tatsächlich wünschenswerte Verbesserungen oder unbedingt willkommen zu heißende Regelungen beschreiben ließen. Es gibt hier keine absoluten Maßstäbe, und obendrein sind die (insbesondere langfristigen) Folgen und Nebenfolgen menschlichen Handelns niemals vollständig vorhersehbar und häufig genug nicht intendiert.

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UND S CHATTEN WISSENSCHAFTS - UND TECHNIKBASIERTER O PTIMIERUNGSPROGRAMME UND DIE A UFGABE DER S OZIAL - UND K ULTURWISSENSCHAFTEN Das 20. Jahrhundert erwies sich gerade darin als Lehrmeisterin, dass sie der wissenschaftlich-technischen Welt die Augen für mögliche dunkle Seiten der (vermeintlichen) Optimierung des Menschen öffnete. Diese Welt beschwor mit ihren ungeahnten Möglichkeiten menschlichen Handelns oftmals ungeheure Gefahren und bedrohliche Risiken herauf. Günther Anders sah wie kaum ein zweiter die Perfektibilität als Kehrseite einer destruktiven Gewalt, die sich dem ‚unvergessbaren‘ Wissen des modernen Menschen verdankt. Die heutigen Debatten über Lebenswissenschaften und Biotechnologien sind in gewisser Hinsicht lediglich Fortsetzungen jener Debatten, welche mit der Atomphysik, dem Manhattan-Projekt und dem Abwurf der Atombomben auf japanische Städte eine neue Dimension angenommen hatten. In zivilen und militärischen Bereichen ging und geht es fortan immer wieder um das Wissen einer Wissensgesellschaft, das zwar auf Optimierung aus ist, aber nicht immer die beste aller Welten geschaffen hat und hervorzubringen im Begriff ist. Diesbezüglich ist

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die illusionäre Naivität vergangener Tage wohl endgültig verflogen. Optimierung und Optimismus gehören nicht mehr unbedingt zusammen. Normierungen waren noch niemals bloße Verwirklichungen von notwendigen Naturgesetzen oder von Vorstellungen, die als natürlich, als uneingeschränkt wahr oder schön oder gut gelten durften und dürfen. Gleichwohl gibt es, psychologisch betrachtet, einen tief sitzenden Wunsch nach Vollkommenheit, der das menschliche Leben nolens volens in eine Praxis der Optimierung und Normierung verwandelt. Ein derartig konturierter Blick auf den begehrenden Menschen, der sich seiner Wünsche und Begehren bekanntlich keineswegs (ganz) bewusst sein muss, eröffnet vielfältige Perspektiven für ein langfristig angelegtes (und an einigen Orten bereits in Angriff genommenes) interdisziplinäres Forschungsprogramm. Dazu möchte auch der vorliegende Band beitragen. Den Anlass dazu, aber keineswegs den einzigen Grund für die hier versammelten Bemühungen bot zunächst die gegenwärtig jedes Optimierungsgeschehen überragende und überwölbende, nicht zuletzt unter den Druck einer schwer durchschaubaren Verantwortung setzende Gegenwart der Lebenswissenschaften und Biotechnologien. Die Aussicht auf immer neue technische Möglichkeiten, Menschen nach dem eigenen Bild und Belieben machen (herstellen und herrichten) zu können, rückt alle Praktiken, Theorien und Technologien der Formierung und Formung menschlichen Lebens in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die zwielichtige Chance, Menschen mehr und mehr fabrizieren zu können und dadurch bislang unüberwindbare Grenzen des Denk- und Machbaren zu verschieben, wird uns noch länger beschäftigen und dazu anhalten, solche Grenzen in neuem Licht zu sehen. Wir werden sie zweifellos auch als etwas bedenken, dem sich bestimmte – vielleicht sogar lebens- und erhaltenswerte – Lebensformen, einschließlich bestimmter praktischer und kommunikativer Selbst- und Weltverhältnisse von Subjekten, verdanken. Dazu gehören die besagten ‚traditionellen‘ Weisen der Weltgestaltung und Selbstformung. Im Einzelnen möglichst präzise beschreiben (verstehen und erklären), was denn im Feld der Optimierung und Normierung des Menschen eigentlich genau vor sich geht – das ist die erste und vordringliche Aufgabe der empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften. Sie müssen, wenn sie ihrer gesellschaftlichen Rolle gerecht werden wol-

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len, die Handlungen, Widerfahrnisse und Erlebnisse von Akteuren und Betroffenen genau unter die Lupe nehmen, um aus den tausend Mosaiksteinchen am Ende vielleicht ein ‚Gesamtbild‘ im Sinne einer zeitdiagnostisch gehaltvollen „Konstellationenforschung“ anbieten zu können (wie sie etwa Dieter Henrich propagierte: Henrich 1991). Der homo modificans und seine fortlaufenden Erzeugnisse in der variablen Gestalt des homo modificatus stehen im Zentrum einer derartigen, selbstredend inter- und transdisziplinären Forschung, die ohne Bemühungen um eine integrative Anthropologie kaum denkbar ist. Wer gegenwärtig anthropologische Töne anschlägt, spricht vornehmlich von Anthropotechniken, nicht zuletzt von solchen, die den überkommenen Menschen hinter sich zu lassen verheißen. Manche lesen die Menschheitsgeschichte bereits als Geschichte eines (sich) übenden Lebewesens, das kraft seiner Übungen sich selbst ‚verwindet‘ und diesen Wandel auch bestens verkraftet (Sloterdijk 2009). Viele sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen sind, was derartige Gesamtdeutungen angeht, einstweilen (und vielleicht prinzipiell) zurückhaltender. Sie stimmen gleichwohl darin überein, dass Menschen sich und ihre Welt fortlaufend und tiefgreifend modifizieren, optimieren und normieren. Sie konstatieren unisono, dass die Moderne diesbezüglich einen obsessiven Zug besitzt. Zumindest diesbezüglich war keine Zeit so ‚fortgeschritten‘ wie die Gegenwart. Dazu müssen auch die empirischen Disziplinen Stellung nehmen. Sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen sollten sich dabei vor den bekannten Formen blinder Fortschrittsgläubigkeit ebenso hüten wie vor einer Kulturkritik, die einfach nur am Bestehenden festhalten möchte und jede (drohende) Veränderung voller Voreingenommenheit ängstlich als Verlust und Verfall bilanziert. Von Menschen ausgeheckte, geplante und bewusst ins Werk gesetzte Veränderungen, die etwas zum Besseren wenden oder das vermeintlich Beste festschreiben wollen, gab es immer und gibt es überall. Selbst dort, wo Veränderungen befürchtet wurden und vermieden werden sollten, schützte der konservative Wille, alles zu lassen, wie es nun einmal ist (angeblich), nichts und niemanden davor, dass die Dinge ihren Lauf nahmen. Das gilt heute mehr denn je. Was als Stillstand vermeintlich gleich bleibender Verhältnisse erscheint, sind allenfalls langsame und unmerkliche, nicht gleich spürbare oder kaum wahrnehmbare Veränderungen (wie bereits Michel de Montaigne (1992) in seinen berühmten Essays notierte). Auch dann, wenn alles beim Alten zu

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bleiben scheint (und alle einmütig an ihm festzuhalten gedenken), treiben Ordnungen in sich über sich hinaus (Waldenfels 1987). Das gilt für kulturelle und gesellschaftliche, für soziale, psychische und physische Ordnungen gleichermaßen. Die Sozial- und Kulturwissenschaften haben die aufklärerische Aufgabe zu beobachten, wie das im Einzelnen vor sich geht und was das für die betroffenen Personen und Gruppen eigentlich bedeutet – oder in Zukunft noch bedeuten könnte. Dabei sind faktische oder potentielle Erweiterungen des Erlebnis- und Handlungspotentials ebenso von Belang wie bereits eingetretene, bevorstehende oder zu befürchtende Einschränkungen und leidvolle Erfahrungen. Zu diesem Zweck werden im vorliegenden Band intendierte und gezielte, als Verbesserungen aufgefasste Veränderungen des Menschen fokussiert (ohne nicht-intentionale Folgen, unvorhersehbare oder einfach unbedachte Nebenfolgen solcher mitunter ziemlich anonym fungierenden Maßnahmen völlig außer Acht zu lassen). Es interessieren uns vornehmlich Intentionen und Interventionen, die sich Menschen selbst zuschreiben, die sie wünschen und wollen, jedenfalls einige von ihnen, und für die sie Verantwortung tragen – egal, ob diese Einfälle und Eingriffe am Ende das Selbst und die Welt bestimmter Menschen tatsächlich dem verfolgten Vorhaben gemäß verbessert haben oder nicht (oder ob sie für alle Zeiten zutiefst ambivalent, unweigerlich polyvalent bleiben werden).

K ONTEXT , D ANKSAGUNG Das Buch über das Menschen-Machen ist die erste Publikation eines in der Formierungsphase befindlichen Forschungsprogramms, das in der Ruhr-Universität Bochum (RUB) verschiedene Zweige besitzt. Es ist in mehreren Fakultäten und Disziplinen sowie in trans- und interdisziplinären Forschungsgruppen angesiedelt. In der Fakultät für Sozialwissenschaft wurde die Arbeit auch in Form einer Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie sowie der Juniorprofessur für Gender Studies aufgenommen. Als ‚erster Rahmen‘ diente ein am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen angesiedeltes, von der Stiftung Mercator gefördertes internationales Forschungsprojekt zum Thema „Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und

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Werte“. Jörn Rüsen unterstützte als Initiator und Leiter dieses Projekts das entstehende Forschungsprogramm und trug zur Finanzierung der ersten Symposien bei, aus denen das vorliegende Buch hervorging. Die interdisziplinären Symposien – geleitet von Jürgen Straub und Katja Sabisch bzw. Katja Sabisch, Anna Sieben und Jürgen Straub – fanden an der RUB im Oktober 2009 und im November 2010 statt, beide Male zum Thema „Optimierungen des Humanen“. Die Fortsetzung dieser Zusammenkünfte interessierter Forscherinnen und Forscher fand im März 2012 statt (unter Leitung von Alexandre Métraux und Jürgen Straub). Sie war dem Thema der Prothetik gewidmet. Dabei sollte ein (auch) metaphorisch ausgelegter Begriff der „Prothese“ helfen, spezifische Optimierungen und Normierungen im Bereich der Physis, aber auch in der Kultur, Gesellschaft und im Feld des Psychischen zu analysieren. Fortführungen sind vorgesehen. Den Symposien soll im Abstand von etwa zwei Jahren eine integrierende Publikation folgen. Alle Buchveröffentlichungen werden sich bestimmten Aspekten des (insbesondere wissenschafts- und technikbasierten) Programms der Optimierung und Normierung des Menschen widmen. In der Regel werden auch Autorinnen und Autoren zu Beiträgen eingeladen, die an den Symposien nicht teilgenommen haben. Das ist bereits im ersten Band der Fall. Allen, die zum Gelingen unseres Vorhabens beigetragen haben, danken wir ebenso wie jenen Institutionen, welche die persönlichen Bemühungen erst ermöglicht haben. Finanziell unterstützt wurde das Forschungsprogramm nicht nur vom Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (namentlich durch das o.g. „Humanismus-Projekt“), sondern auch durch die beteiligten Professuren der Fakultät für Sozialwissenschaft sowie durch Alexandre Métraux, der dem Unternehmen als Förderer zur Seite steht. Weitere Kooperationspartner werden zu gegebener Zeit beteiligt werden. Bereits begonnen hat die Zusammenarbeit mit der an der RUB ansässigen Mercator Research Group „Spaces of Anthropological Knowledge: Production and Transfer“ (MRG 2)4, namentlich mit Estrid Sørensen, die als Juniorprofessorin für Kulturpsychologie und anthropologisches Wissen auch Mitglied der Fakultät für Sozialwissenschaft ist. Ebenfalls schon auf dem Weg ist die Integration des

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Vgl. hierzu http://www.ruhr-uni-bochum.de/mrg/knowledge/index.html. de.

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Forschungsprogramms in eine in der Formierungsphase befindliche interfakultäre „Expanded Profile Area“ zum Thema „Anthropological Knowledge“.5 Ein besonderer Dank gilt Irene Scamoni-Selcan, die mit wissenschaftlicher Akribie das Sekretariat des Lehrstuhls für Sozialtheorie und Sozialpsychologie leitet, sowie jenen jungen Leuten, ohne die das Buch gewiss noch immer nicht fertig wäre. Wir danken Studierenden, die bei den Symposien und der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, insbesondere Maria Barbarino, Clemens Bien, Monique Kaulertz, Bernadette Möhlen und Diyana Nicolaus. Ganz besonders hervorheben möchten wir die kontinuierliche und überaus sorgfältige Arbeit von Jessica Niestegge an den Manuskripten.

Bochum, im Mai 2011 und Januar 2012 Jürgen Straub, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Anna Sieben

5

Vgl. hierzu http://www.ruhr-uni-bochum.de/cas/.

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L ITERATUR Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: Beck. Anders, Günther (1980): Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München: Beck. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (2010): Vollkommenheit, München: Fink. Boesch, Ernst E. (1998): Sehnsucht. Von der Suche nach Glück und Sinn, Bern: Hans Huber. Boesch, Ernst E. (2005): Von Kunst bis Terror. Über den Zwiespalt in der Kultur, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Cancik, Hubert (1993): „Humanismus“, in: Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Karl-Heinz Kohl (Hg.), Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe Band. 3, Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer, S. 173-185. Cancik, Hubert (2009): „Die Rezeption der Antike - Kleine Geschichte des europäischen Humanismus“, in: Jörn Rüsen/Laass Henner (Hg.), Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Schwalbach: Wochenschau Verlag, S. 24-52. Henrich, Dieter (1991): Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart: Klett-Cotta. Montaigne, Michel de (1992): Essais (3 Bände), Zürich: Diogenes. Müller, Oliver (2010): Zwischen Mensch und Maschine. Vom Glück und Unglück des Homo faber, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Nida-Rümelin, Julian (2006): Humanismus als Leitkultur. Ein Perspektivenwechsel, München: Beck. Rüsen, Jörn/Laass, Henner (Hg.) (2009): Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, Schwallbach: Wochenschau Verlag. Rüsen, Jörn (Hg.) (2012): Approaching Humankind. Towards an Intercultural Humanism, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Unipress/Taipei: National Taiwan University Press. Sloterdijk, Peter (1999): Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Sloterdijk, Peter (2009): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Todorov, Tzvetan (2002): Imperfect Garden: The Legacy of Humanism, Princeton: Princeton University Press (franz. Original 1998). Waldenfels, Bernhard (1987): Ordnung im Zwielicht, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Menschen besser machen Terminologische und theoretische Aspekte vielgestaltiger Optimierungen des Humanen J ÜRGEN S TRAUB , A NNA S IEBEN UND K ATJA S ABISCH -F ECHTELPETER Er war ein umgekehrter Orpheus: Blickst du voraus, wird alles, was du liebst, vergehen. RICHARD POWERS 2005 Für uns ist, zu jeder Zeit, das Ungewollte das Unvermeidliche gewesen. EDMOND JABÈS 1981 Einstehen für das, was außerhalb der Verantwortung liegt. MAURICE BLANCHOT 1981

P ROLEGOMENA : ERSTE TERMINOLOGISCHE

A NNOTATIONEN

„Optimieren“ und „Normieren“ sind Bezeichnungen für ein Geschehen oder einen Vorgang, häufiger speziell für eine Tätigkeit oder Handlung.1 Wir gebrauchen die (substantivierbaren) Verben in unserer

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Im Folgenden geht es, dem Titel des vorliegenden Buches gemäß, primär um bestimmte Handlungen (und deren Voraussetzungen, Ergebnisse und Folgen). Andere Geschehnisse, die ebenfalls unter dem Gesichtspunkt der Optimierung oder Normierung betrachtet und begriffen werden können,

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Alltags-, Bildungs- und Wissenschaftssprache als mindestens zweistellige Prädikatoren: ein Subjekt (oder eine Instanz) optimiert oder normiert etwas, ein Objekt (oder einen Gegenstand). Diese erste Unterscheidung bleibt auch dann grundlegend, wenn klar ist, dass das Subjekt und das Objekt von Optimierungen oder Normierungen in eins fallen können: Personen vermögen sich bzw. etwas an sich durch selbstbezügliche Handlungen gezielt zu verändern im Sinne der erwünschten Verbesserung. Analoges gilt für Kollektive. Weitere, den Gebrauch des Prädikators präzisierende Stellen können leicht ergänzt werden. In der Philosophie und den Wissenschaften sind solche Erweiterungen wegen der notwendigen Genauigkeit sprachlicher Verständigung unumgänglich. Auch die alltagsweltliche Kommunikation erfordert bisweilen Präzisierungen. Folgende sind besonders wichtig: • Es lässt sich neben dem Subjekt und Objekt drittens angeben, in

welcher speziellen Hinsicht etwas – zum Beispiel das Verhalten, der Körper oder die Persönlichkeit eines Menschen – ein Gegenstand von Optimierungs- oder Normierungsvorgängen ist (war, sein wird, gemacht werden sollte etc.). • Die Angabe einer solchen Hinsicht setzt viertens ein (z.B. technisches, medizinisches, psychologisches, pädagogisches, ästhetisches, ethisch-moralisches, religiöses) Wissen • und fünftens ein damit verbundenes (qualitatives oder quantitatives) Kriterium voraus, an dem sich bemessen lässt, was als (gelungene, misslungene) Optimierung oder Normierung gelten kann.2

bleiben außen vor. Dazu gehören etwa gesetzmäßige Prozesse im Rahmen der natürlichen Evolution oder mathematische Verfahren wie die lineare, dynamische oder stochastische Optimierung. Die Pragma-Semantik der hier verwendeten Begriffe verdankt sich also einer dezidiert sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive, in der Menschen – individuelle und kollektive Subjekte, Personen und ihre Psyche, Gemeinschaften, Gesellschaften und Kulturen – im Fokus stehen. 2

Dieses „Wissen“ muss keine ‚gesicherte Erkenntnis‘ im Sinne wissenschaftlicher Theorien und Befunde sein. Das Alltagswissen kommt ebenso in Betracht wie sonstige (z.B. religiöse, ästhetische) Überzeugungssysteme, die zwischen (allgemein anerkanntem) Wissen, (subjektiv evidentem) Glauben und (bloßem) Meinen changieren mögen oder ganz einer dieser drei Wissenstypen zuzurechnen sind.

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• Sechstens ist anzugeben, für wen sich die Veränderung als Optimie-

rung darstellt, wer also einen Nutzen aus ihr zieht (das Subjekt oder Objekt der Optimierung oder vielleicht jemand oder etwas ganz anderes?). • Siebtens ist interessant, wodurch sich die Optimierung und Normierung vollzieht, was mithin geschieht bzw. getan wird im Zeichen und mit dem Effekt einer sich ereignenden Optimierung oder Normierung. • Achtens ist relevant, wie und, falls man es nicht mit einem naturwüchsigen Vorgang zu tun hat, durch den gezielten Einsatz welcher Verfahren und Mittel, Instrumente oder Techniken die resultierende Optimierung oder Normierung bewerkstelligt wird. • Schließlich mag man neuntens untersuchen bzw. angeben, welche intendierten und welche unbeabsichtigten Folgen und Nebenfolgen das erreichte Ergebnis einer Optimierung bzw. Normierung zeitigt (kurzfristig, mittelfristig, langfristig; reversibel oder irreversibel; positiv oder negativ für den oder die Betroffenen usw.). Offenkundig verweisen die zuletzt angeführten Aspekte auf die ersten Stellen des mehrstelligen Prädikators zurück. Nähere Qualifizierungen einer Optimierung oder Normierung sowie ihrer Folgen und Nebenfolgen etwa sind nämlich kaum möglich, ohne dass auch das Subjekt benannt wird, dem der interessierende Vorgang zugeschrieben werden kann, und ohne dass Genaueres zum Objekt der zielgerichteten und als zweckmäßig erachteten Einflussnahme ausgeführt wird. Ähnliches ließe sich für weitere pragma-semantische Relationen und Interdependenzen zwischen den verschiedenen ‚Stellen‘ sagen. Diese Stellen verweisen aufeinander. Sie gehören allesamt zur ‚Logik‘ bzw. Semantik des interessierenden Prädikators. Die vorgenommenen Unterscheidungen, die sich der elementaren Explikation einer Prädikatorenregel verdanken, spezifizieren dennoch leitende Perspektiven und mögliche Akzentsetzungen, unter denen wissenschaftliche Analysen von Optimierungs- und Normierungsvorgängen durchgeführt werden können (womit selbstverständlich nicht nur Naturwissenschaften wie die Biologie oder Medizin gemeint sind, sondern z.B. auch die Geschichtswissenschaft, Soziologie, Ethnologie, Psychologie, Erziehungswissenschaft, Philosophie oder trans- und interdisziplinäre Kooperationen zwischen diesen und anderen Disziplinen).

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Die Ausführungen in den ersten Abschnitten dieser Einführung erläutern die angeführten Akzentuierungen und Perspektivierungen. Wir werden auf alle neun angegebenen Stellen, die die sinnvolle Verwendung der interessierenden Prädikatoren festlegen, genauer eingehen. Wir sprechen dabei der Kürze halber oft einfach nur noch von der Optimierung (und nicht von Optimierung und Normierung), unterstellen jedoch, dass Optimierungsbemühungen stets (neue) Normierungen oder Standardisierungen mit sich bringen. Jedes Optimum bedarf einer Norm oder eines Standards, an dem es sich relativ zu suboptimalen Varianten bemessen und bewerten lässt (manchmal mit metrisierter Präzision, mitunter lediglich im Sinne eines vagen Qualitätsunterschieds). Unsere Überlegungen dienen insgesamt der Konturierung eines sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschungsprogramms. In dessen Zentrum steht die Aufgabe zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, was mit den von bestimmten Optimierungs- und Normierungsvorgängen betroffenen Menschen eigentlich vor sich geht, wohin diese Prozesse führen und was sie aus Menschen machen können. Dabei ist selbstverständlich nicht (allein) auf die unmittelbar physischen Konsequenzen zu achten, deren Feststellung, Erklärung und Vorhersage naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie oder Medizin obliegt. Die Sozial- und Kulturwissenschaften interessieren sich vielmehr für die Personen selbst, das heißt: für die Psyche von Menschen sowie ihre soziale und kulturelle Welt (wie sie aus der einen oder anderen, auch theoretisch konstituierten Beobachterperspektive beschrieben werden können, und sodann und vor allem: wie sie die Betroffenen selbst sowie ihre Mit- und Nebenmenschen wahrnehmen und erleben). Sozial- und kulturwissenschaftliche Forschungen wollen die durch Optimierungen hervorgerufenen Veränderungen und Verwandlungen dieser Personen und ihrer Welt, ihres Selbst- und Weltverhältnisses sowie Selbst- und Weltverständnisses, registrieren und analysieren. Einige Vorüberlegungen zu einem solchen Forschungsprogramm werden wir unten anstellen. Sie beziehen sich insbesondere auf methodische Aspekte sowie auf anthropologische Dimensionen eines nach Verbesserung strebenden Menschen. Dabei werden nicht zuletzt normative Gesichtspunkte einbezogen. Das hier behandelte Thema erfordert immer wieder Stellungnahmen und Argumente, die zwar auf der (empirischen und theoretischen) Basis wissenschaftlichen Wissens be-

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ruhen, häufig aber in normative (ethisch-moralische, politische, ästhetische) Reflexionen münden. Im dritten Teil lenken wir den Blick auf den vorliegenden Band, erläutern die Gliederung der Buchbeiträge und stellen sie thematisch kurz vor.

P RÄZISIERUNGEN

UND

P ERSPEKTIVEN

Das Subjekt der Optimierung Nur Barbaren sind nicht neugierig und wollen nicht wissen, woher sie kommen, wo sie stehen und wie sie dorthin gelangt sind, wohin ihr Weg zu führen scheint, ob sie diese Richtung einschlagen wollen, und wenn ja, warum, und wenn nicht, warum nicht. ISAIAH BERLIN 2009

Ereignisse und Vorgänge haben Ursachen oder Urheber. Diesbezüglich lassen sich grob handlungsfähige Personen von mehr oder minder anonymen Strukturen, Systemen oder Prozessen unterscheiden. Personen können Individuen sein, aber auch Kollektive bilden (in Gestalt von Gruppen unterschiedlicher Größenordnung, Zusammensetzung und Struktur: von informellen Gruppen über Institutionen und Organisationen bis hin zu sozialen Bewegungen). Ob handlungsfähige Personen oder anonyme Strukturen: beiden diesen Subjekten oder Instanzen korrespondieren spezielle theoretische Perspektiven, in denen sie sich genauer konzeptualisieren lassen. Der Begriff der Person steht bekanntlich im Zentrum handlungstheoretischer Ansätze, während apersonale Strukturen, Systeme und Prozesse gemeinhin Gegenstand von Struktur- oder Systemtheorien sind. Wie die folgenden Beispiele zeigen, kommen als instantiierende Ursachen oder Urheber von Optimierungsbewegungen beide Typen grammatikalisch möglicher, theoretisch plausibler und empirisch bekannter ‚Subjekte‘ in Betracht. Man denke exemplarisch an ihre Konzeptualisierung in

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• Evolutionstheorien, die sich auf die Naturgeschichte oder die Kul-

tur- und Gesellschaftsgeschichte beziehen können und dabei auf kontingente Ereignisse (z.B. Mutationen), anonyme Adaptationsund Selektionsprozesse und damit verbundene ‚evolutionäre Vorteile‘ und dergleichen abheben; sie alle betrachten Optimierungen als natürlichen Prozess im Zeichen einer selektierenden Evolution und Phylogenese oder als quasi-naturwüchsigen Prozess der gesellschaftlichen, sozio-kulturellen Evolution (beispielsweise der Modernisierung, Differenzierung, Funktionalisierung); • Theorien der ontogenetischen Entwicklung von Organismen (einschließlich des sprach- und handlungsfähigen Menschen), die deren ‚Werden‘ als Optimierung zum Beispiel in körperlicher, seelischer oder geistiger Hinsicht betrachten. Die (theoretisch im Einzelnen sehr heterogene) Spannweite reicht hier von traditionellen biologischen Reifungstheorien bis hin zum genetischen Strukturalismus eines Jean Piaget; • Geschichtstheorien, in denen (in den avancierten Ansätzen) neben anonymen Strukturen und Prozessen auch kollektive und individuelle Akteure eine Rolle spielen können, mithin ein beliebig komplexes Geflecht aus Strukturen, Ereignissen und Handlungen aufgeboten wird, um kontingente Verläufe (der gelungenen oder fehlgeschlagenen Optimierung, Normierung) ex post facto zu rekonstruieren, zu verstehen und zu erklären; • Lerntheorien, die die erfahrungsabhängige Veränderung von Verhalten (und/oder der diesem Verhalten zugrundeliegenden bzw. inhärenten ‚inneren‘ Voraussetzungen und Vorgänge) als Optimierung bereits vorhandener Dispositionen, verfügbarer Fähigkeiten und Fertigkeiten von Subjekten konzeptualisieren. Die durch Erfahrungen und deren psychische ‚Verarbeitung‘ bewirkten Optimierungen gelten dabei als relativ stabile Veränderungen des Repertoires eines Individuums (Analoges ließe sich für das Lernen von Kollektivsubjekten sagen). Lediglich angemerkt sei, dass sich (z.B. psychologische) Lerntheorien trotz ihrer übereinstimmenden Verwendung eines sehr allgemein bestimmten Lernbegriffs bekanntlich stark unterscheiden, auch im Hinblick auf die Konzeptualisierung des Lernsubjekts3;

3

Vgl. diesbezüglich neben den leicht zugänglichen Überblicksdarstellungen etwa Straub (2009), wo unter anderem erörtert wird (im Hinblick auf das

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• handlungstheoretische Analysen von Optimierungs- und Normie-

rungspraxen, die sich auf das raumzeitlich und soziokulturell situierte Handeln kollektiver und/oder individueller Akteure beziehen (und dabei auch lern- oder entwicklungstheoretische Begrifflichkeiten verwenden können). Die zuletzt genannte Konzeptualisierung wird – als die uns selbst theoretisch nahestehende Variante – hier etwas intensiver beleuchtet. Handlungstheoretische Perspektiven können mehr oder weniger komplex angelegt sein. In vielen Typologien wird ausschließlich ein intentionalistischer Handlungsbegriff (im Sinne des utilitaristischen, häufig auch rationalistischen Ansatzes) entwickelt, der auf Vorstellungen eines „starken Subjekts“ aufbaut (vgl. z.B. Straub 2002). Die damit einhergehende rationalistische Schlagseite vermeiden theoretisch differenziertere Handlungstypologien. So unterscheidet Straub (1999; in Kürze: 2010a, 2010b) intentionalistische Handlungsmodelle von Modellen regelorientiertem Handelns und narrativen Modellen. Letztgenanntes interpretiert Handlungen im Licht einer narrativen Theorie der Geschichtlichkeit und der Kreativität des Handelns (Joas 1992). Das narrative Modell konzeptualisiert das Handeln als ein (häufig) nicht vollständig auf Intentionen und Regeln zurückführbares, also im Rahmen intentionalistischer (teleologischer) und regelorientierter Modelle nicht angemessen zu beschreibendes, zu verstehendes und zu erklärendes Geschehen. Für den hier interessierenden Zusammenhang bedeutet das: geglückte oder misslungene Optimierungen und Normierungen sind oftmals nicht bloß das Erzeugnis bewusster, absichtsvoller und zielgerichteter oder aber regelgeleiteter Tätigkeiten. Sie sind vielmehr auch kontingente Hervorbringungen kreativer Akteure, die keineswegs im Voraus ganz genau wissen, was sie unter den gegebenen, das eigene Handeln bestimmenden und strukturierenden Umständen tun, geschweige denn durchschauen, welche semantischen und pragmatischen Implikationen ihr Handeln besitzt und welche Folgen und Nebenfolgen es zeitigen wird. Um nachzuvollziehen, wie Menschen

Erlernen interkultureller Kompetenz), dass Lerntheorien auch die Form von Handlungstheorien besitzen können (so dass die hier vorgenommene Einteilung von Theorien, die mögliche Subjekte von Optimierungs- und Normierungsvorgängen ins Blickfeld rücken, keine logisch disjunkten Unterscheidungen und strikt separierte Theoriegruppen unterstellt).

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ihren Optimierungshandlungen Sinn und Bedeutung zusprechen, ist auch die Betrachtung kulturell verfügbarer Narrative der Optimierung unabdingbar (hierzu tragen insbesondere die literaturwissenschaftlichen Beiträge im vierten Teil dieses Bandes von Marie Guthmüller, Ralph Köhnen, Agnieszka Komorowska und Jörn Steigerwald bei). Komplexe Handlungsanalysen richten ihr Augenmerk demgemäß gerade auch auf diese Aspekte, wenn sie Optimierungs- und Normierungshandlungen von tätigen Subjekten untersuchen. Wenn man Optimierungen als geschichtlich und kulturell kontextualisierte sowie sozial situierte Handlungen begreift (was wir hier vorschlagen), bietet sich ein handlungstheoretischer Rahmen für die Analyse solcher Phänomene an. Der schließt strukturtheoretische Ansätze jedoch keineswegs aus. Vielmehr verhalten sich diese beiden Ansätze häufig komplementär zueinander. Komplexe Handlungstheorien betrachten das sinnhafte oder bedeutungsvolle, wechselseitig aufeinander bezogene Tun und Lassen von Menschen stets auch im Lichte transindividueller Strukturen und Prozesse. Sie untersuchen es als ein Geschehen, das sich nicht nur einem bewusst und rational vorgehenden, klar isolierbaren Urheber verdankt, sondern das multifaktoriell bestimmt und unweigerlich polyvalent ist. Zur Überdeterminiertheit und Polyvalenz menschlichen Handelns trägt eben nicht zuletzt die in allen komplexen Theorien berücksichtigte Tatsache bei, dass Handlungen stets kontextualisierte und situierte Vorgänge sind. Sie beziehen ihre Sinn- und Bedeutungsgehalte auch aus dem materiellen und ideellen, speziell aus dem kulturellen, gesellschaftlichen und sozialen Kontext sowie der konkreten (Interaktions-)Situation, in der sie jeweils vollzogen und/oder ex post facto beschrieben, verstanden und erklärt werden. Handlungssubjekte sind demgemäß kulturell, gesellschaftlich und sozial konstituierte Subjekte, die sich in je bestimmten materiellen, soziokulturellen und symbolischen Welten bewegen (bestimmte Sprachen sprechen, Vokabulare benutzen und andere Zeichensysteme verwenden usw.). Zu berücksichtigen ist im Übrigen, dass Kontexte und Situationen sowie die in ihnen bereitstehenden Mittel – insbesondere in Gestalt der modernen Technik – eine Art Aufforderungscharakter besitzen können, der potentielle Akteure in bestimmter Weise handeln macht (handeln lässt, zum Handeln verführt, sie in gewisse Richtungen lenkt und drängt, prädestiniert und prädeterminiert etc.). Auch dieser Aspekt gehört zu einer handlungstheoretischen Bestimmung des Subjekts von

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Optimierungen und Normierungen: Wenn bestimmte Techniken erst einmal verfügbar sind, schaffen sie häufig auch einen Bedarf, der ihren Einsatz ‚verlangt‘ und ihren Gebrauch ‚rechtfertigt‘. Sehr häufig lässt sich für das (nun) Mögliche eine Nachfrage wecken. Was Menschen brauchen (wünschen, wollen) und schließlich tun, sagen ihnen oftmals nicht ihre vermeintlich natürlichen Bedürfnisse, sondern die Angebote eines durch und durch künstlich-kultürlichen Markts mit Waren aller Art (von einfachen Dingen des alltäglichen Gebrauchs über fetischisierte Statussymbole bis hin zu luxuriösen Dienstleistungen). Gerade die technischen Errungenschaften in Gestalt von Gerätschaften werden, existieren sie erst einmal, tatsächlich häufig benutzt (wie etwa die Waffentechnik vielfach gezeigt hat, aber auch die medizinische Technik tagtäglich unter Beweis stellt). Und mehr noch: Folgt man den Vertretern der Kulturhistorischen Schule (siehe insbesondere Leontjew 1971), so führt die Verfügbarkeit und Verwendung von Werkzeugen zur Hervorbringung psychischer Phänomene im weitesten Sinne, also auch im Bereich des Denkens und Fühlens – und nicht nur des Wollens. Technik ist auch aus diesem Grund mitnichten völlig neutral (ein „bloßes Mittel“, das sich zu diesem oder jenem Zweck verwenden lässt, wie es häufig heißt; vgl. dazu Müller 2010: 44 ff.). Sie konstituiert das Handlungssubjekt durchaus mit, ist also ebenso wenig völlig von ihm zu trennen wie andere Dinge oder die Kontexte und Situationen, denen aus guten Gründen eine Art „Mitsprachrecht“ beim Entwurf und Vollzug von Handlungen zugestanden werden darf (Waldenfels 1987, 1990). Von besonderer Bedeutung ist im vorliegenden Zusammenhang ein Blick auf Kontexte und Situationen, die als Ungleichheitsverhältnisse, als Herrschafts- und/oder Machtkonstellationen identifiziert werden können. Auch hierfür schärfen Vertreter der kulturhistorischen Schule den Blick: Subjekte von Optimierungen und Normierungen erscheinen in dieser Perspektive als integraler Bestandteil solcher Verhältnisse. Sie sind in sie verstrickt, also keinesfalls unabhängig von diesem Macht- und Herrschaftsgeschehen zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Das gilt nicht zuletzt dann, wenn das Subjekt und das Objekt von Optimierungen und Normierungen identisch sind, jedenfalls nicht exakt auseinandergehalten werden können. Wir kommen darauf zurück.

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Das Objekt und spezielle Hinsichten der Optimierung Wer sich schneller entspannt ist besser als jemand, der sich nicht so schnell entspannt, der aber immer noch besser ist als jemand, der sich überhaupt nicht entspannt, und verdientermaßen, verdientermaßen unentspannt ist [...] Wer länger lebt, ist besser als jemand, der nicht so lange lebt, der aber immer noch besser ist als jemand, der überhaupt nicht mehr lebt und eigentlich ja schon tot ist Da kann man nix machen Wer gut aussieht, ist besser als jemand, der nicht so gut aussieht, der aber immer noch besser ist als jemand, der überhaupt nicht aussieht und eigentlich ja schon tot ist Da kann man nix machen. PETER LICHT 2006

Im vorliegenden Zusammenhang interessieren als Objekte von Optimierungen und Normierungen Menschen. Dabei ist es freilich so, dass Optimierungen und Normierungen stets selektiv und elementaristisch verfahren, sich also auf bestimmte Aspekte des Menschen bzw. des menschlichen Lebens richten (auch wenn dadurch letztendlich dessen „Leben insgesamt“ verbessert werden soll). Die vage Rede von der Optimierung und Normierung des ‚Humanen‘ zeigt die große Vielfalt möglicher Objekte bereits an. Es sind stets bestimmte ‚Seiten‘ des Menschen und seines Lebens, die zum Gegenstand von Verbesserungen gemacht werden. Diesbezüglich ist eine einfache Unterscheidung hilfreich, die eng an disziplinenspezifische Perspektiven gebunden ist: Die Medizin und alle Wissenschaften, die zu ihrem Wissen und Können beitragen, richten sich (in der ‚modernen‘, ‚westlichen‘ Medizin) traditionell auf die Physis (auch wenn sie letztlich auch psychosoziale Effekte erzielen wollen), während die Psychologie und verwandte Disziplinen (z.B. Pädagogik, Soziologie) unmittelbar die Psy-

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che erforschen und behandeln (im Zeichen entweder der Therapie oder der auch ohne Krankheits- oder Störungsbefund ins Werk gesetzten Optimierung). Jede der angeführten Kategorien ist vielfältig differenzierbar. Das Körperliche etwa kann tatsächlich als einheitlicher menschlicher Körper (wie in der ‚Leibeserziehung‘, in einigen Sportarten) oder aber als fragmentiertes Körperteil (wie in der plastischen Chirurgie, etwa der Schönheitschirurgie oder der Transplantationsmedizin) vergegenständlicht werden. Es kann außerdem als Körpersubstanz oder -substrat aufgefasst und manipuliert werden (siehe Sabisch 2009; wie in den heutigen biomedizinischen Lebenswissenschaften und ihren Vorläufern, die sich z.B. der Analyse und Optimierung von Blut, Spermien oder in jüngerer Zeit auch den Genen widmen und mit diesen Materialien sogar Handel treiben). In diesem Band analysieren die Beiträge im ersten Teil von Jürgen Straub, Katja Sabisch und Nora Ruck allesamt Optimierungen des Körpers. Auch Seelisches lässt sich vielfach untergliedern, so etwa im Sinne der üblichen lebensweltlichen und wissenschaftlich präzisierten Unterscheidungen zwischen verschiedenen psychischen Strukturen und Funktionen: die sinnliche Wahrnehmung in allen Registern kann ebenso verbessert werden wie das emotionale Erleben und die Motivation eines Menschen, das Denken und damit verwobene kognitive Operationen (man denke an Aufmerksamkeit und Konzentration, Gedächtnis und Erinnerung) usw. Meistens geht es dabei um die Steigerung der Leistungsfähigkeit in solchen Funktionsbereichen. In den vergangenen Jahren ist im Hinblick auf komplexere theoretische Konstrukte häufig von Kompetenzsteigerung (Kompetenztraining etc.) die Rede. Dabei werden berufliche Fähigkeiten und Fertigkeiten ebenso einbezogen wie allgemeine soziale Kompetenzen oder interkulturelle Kompetenz (die derzeit wohl zu den am intensivsten behandelten Objekten breit angelegter Optimierungsprogramme gezählt werden darf; vgl. Straub 2007, 2012). Mit Optimierungsprogrammen der Psyche setzen sich in diesem Band die Beiträge des zweiten Teils, namentlich die von Jens Elberfeld, Gala Rebane, Anna Sieben, Roland Kipke, Roland Reichenbach und Maik Arnold auseinander. Ein systematisches Problem der Unterscheidung zwischen Physis und Psyche besteht freilich gerade in der oftmals schwer, manchmal gar nicht möglichen oder wünschenswerten Isolation der selegierten Gesichtspunkte. Der Grund für diese Schwierigkeit liegt in der ‚ho-

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listischen‘ Organisation des ‚bio-psycho-sozio-kulturellen Systems‘ namens Mensch. Ein verbreitetes Beispiel für die Einsicht in die (auch) dieses Lebewesen kennzeichnende ganzheitliche Struktur aus interdependenten Elementen bietet etwa die Psychosomatik, die (wie viele andere ‚systemische‘ Ansätze) bekanntlich ganz auf komplexe und dynamische Relationen abstellt (vgl. etwa Uexküll 1981; Adler et al. 2011). Aber nicht nur seelische Vorgänge können sich körperlich niederschlagen, vice versa. Dass die Unterscheidung zwischen Körper und Psyche mitunter auch mit problematischen, unter anderem politischen, Implikationen verbunden ist und daher ‚mit Vorsicht genossen‘ werden sollte, ist insbesondere von feministischen und queeren KritikerInnen hervorgehoben worden (z.B. Haraway 1991, Butler 1990, Fausto-Sterling 2000). In allen Fällen der Optimierung und Normierung ist es so, dass nicht nur die unmittelbar adressierte Person, sondern auch deren soziale Beziehungen, mithin das Leben weiterer Personen, durch die ergriffenen Maßnahmen betroffen sein können. Auch deswegen sind Optimierungen und Normierungen wohl nur selten Angelegenheiten, die ausschließlich ein Individuum angehen. Niemand ist sozial unabhängig, lebt ein von sozialen Verbindungen und persönlichen Bindungen völlig losgelöstes Leben. Manchmal sind just diese Beziehungen direkter oder indirekter Gegenstand optimierender Instruktionen und Interventionen. In solchen Fällen können mehrere Menschen in die jeweiligen Maßnahmen einbezogen werden. Auch andere Bedingungen, Dimensionen oder Aspekte des Lebens einer Person können zum Gegenstand von Optimierungen werden (etwa die materiellen Lebensbedingungen – von der Nahrung bis hin zu den räumlichen oder akustischen Bedingungen etwa, unter denen jemand lebt). Das ist indes für die Sozial- und Kulturwissenschaften nur insofern relevant, als es letztlich um das Leben und Erleben, das Erlebnis- und Handlungspotential eines bestimmten Individuums oder mehrerer Personen geht. Nimmt man die unter den bisher angeführten Punkten angestellten Überlegungen zu den Subjekten, Objekten und Hinsichten zusammen, so lässt sich nun noch folgende wichtige Unterscheidung ergänzen: Im Falle von auf sich selbst bezogenen Optimierungen und Normierungen eines Akteurs fallen Subjekt und Objekt der Handlung zusammen. Wir unterscheiden entsprechend solche Selbstoptimierungen und -normierungen im Zuge von Praktiken der Selbstgestaltung und Selbst-

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formung (Selbstsorge, Selbstbildung etc.) von Fremdoptimierungen und -normierungen, von solchen Fällen also, in denen Subjekte oder Instanzen Verbesserungen und Anpassungen anderer Menschen bzw. eines objektivierten Aspekts des Humanen bezwecken oder bewirken. Hier wie dort können diese Aspekte physischer, psychischer oder verhaltensbezogener (und bei alledem sozialer) Art sein. Menschen ‚besser‘ zu machen und sie zu diesem Zweck (unter ausgewählten Gesichtspunkten) an eine Norm anzugleichen: dieser Vorgang kann also, wie wir auch sagen möchten, die Gestalt von auto- oder heteropoietischen, auto- oder heteroplastischen Handlungen und Ereignissen annehmen. Eine ebenfalls wichtige, ganz anders gelagerte Differenzierung ergänzt die getroffenen Unterscheidungen zwischen Fremd- und Selbstoptimierungen. Sie grenzt zweierlei Arten von Optimierungshandlungen bzw. -ereignissen akzentuierend voneinander ab (wodurch klar ist, dass es sich auch hier nicht um absolut trennscharfe und in der Realität tatsächlich fein säuberlich auseinanderzuhaltende Modi handelt): Heteronome Optimierungen sind solche, die gegen den eigenen (aufgeklärten) Wunsch und Willen der betroffenen Person vorgenommen werden. Im Falle autoplastischer Handlungen kann man in diesem Fall von einer Form selbstentfremdeten, das eigene Selbst verdinglichenden Behandlung sprechen, die sich an fremdbestimmten Kriterien der Optimierung orientiert. Autonome Gestaltungen sind dagegen solche, die eine Person im Zeichen eines reflektierten Selbstund Weltverhältnisses vornimmt (und entsprechend bewusst kontrollieren kann). Selbstverständlich besitzen auch letztere ihre kulturellen und sozialen Voraussetzungen, schlagen Wege ein und nehmen Mittel in Anspruch, die in einer bestimmten Kultur, Gesellschaft oder Gemeinschaft verfügbar sind. Entsprechend sind auch sie alles andere als ‚rein persönliche‘ Angelegenheiten, sondern (Selbst-)Optimierungen im Zeichen soziokultureller Maßstäbe und Ziele. Die getroffene akzentuierende Unterscheidung gestattet es gleichwohl, (eher) heteronome von (eher) autonomen Vorgängen der Optimierung als verschiedene Formen der Subjektivierung und Objektivierung auseinanderzuhalten. Dafür sind oft die begangenen Wege und eingesetzten Mittel maßgeblich. Das wird an gleichermaßen möglichen Extremen besonders deutlich: während die pränatale, einmalige und irreversible gentechnische Programmierung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale eines erwarteten Kindes als Optimierung im Modus der durch die technisch assis-

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tierten Eltern zu verantwortenden Fremdbestimmung aufgefasst werden kann (vgl. etwa Straub, in diesem Band), darf eine partielle Selbstformung durch langwierige und regelmäßig durchzuführende Übungen sowie andere mühsame, autoplastische Handlungen dem Modus der Selbstbestimmung zugeordnet werden. Wege und Mittel der Optimierung und Normierung, notwendige Wissensbestände Es gibt bekanntlich ganz unterschiedliche Wege der Optimierung und Normierung des Humanen, und entsprechend stehen AkteurInnen – abhängig vom Gegenstand und der gewählten Hinsicht bzw. Dimension – sehr verschiedene Verfahren oder Methoden, Techniken und Instrumente zur Verfügung. Diesbezüglich lassen sich ganz grob wissenschafts- und technikbasierte Verfahren (etwa des NeuroEnhancement) von (eher) ‚traditionellen‘ und immateriellen Praktiken der Selbstformung unterscheiden (eine Unterscheidung, die auch Kipke in seinem Beitrag in diesem Band entwickelt; vgl. auch die dort angegebene Literatur). Zur ersten Kategorie gehören die ersten beiden Unterpunkte: • Die erwünschte Optimierung bedarf des Einsatzes relativ simpler

Instrumente (Werkzeuge wie ein Skalpell etwa) oder aber aufwendiger, apparativer Technik. Invasive Eingriffe in den Körper einer Person sind hier notwendig. Leistungssteigerung und Verschönerung sind die in diesem Feld wohl wichtigsten Parameter, die Menschen für entsprechende Behandlungen motivieren. Operative Modifikationen von Gehirnstrukturen und -funktionen oder Manipulationen der genetischen Ausstattung eines Menschen können als Beispiele für technisch höchst voraussetzungsvolle, besonders avancierte und ambitionierte Eingriffe gelten. Es ist evident, dass heute bereits mögliche oder in Aussicht stehende Optimierungsverfahren eine Grenze berühren, die das ‚radikale‘ Menschen-Machen als durchaus realistische Vision erscheinen lässt. Was die wissenschaftlichen Grundlagen und technischen Verfahren angeht, verdanken sich Optimierungsoptionen gegenwärtig vor allem einzelnen oder kombinierten Nano-, Bio-, Informations- und Neurotechnologien (die als Converging Technologies kontinuierlich bahnbrechende Fortschritte

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mit sich bringen).4 Befürworter solcher Technologien und Techniken, Instrumente und Methoden argumentieren häufiger auf der Basis einer post- oder transhumanistischen Weltanschauung5 und eines cyborgisierten Menschenbildes, womit sie das an den Einsatz der propagierten Methoden und Techniken gebundene Ende des störungsanfälligen, von Krankheiten bedrohten und dem Tod ausgelieferten Menschen einläuten möchten.6 • Optimierungen können auch durch nicht-invasive medizinische Manipulationen des Körpers erreicht werden. Besonders häufig sind medikamentöse Behandlungen, die wiederum vor allem an leistungsorientierten Effizienzkriterien (man denke an die Einnahme von Koffeintabletten) oder ästhetischen Maßstäben ausgerichtet sind (man denke an Diäten stützende Mittel und Verfahren). Sie können aber auch dem Ziel der ‚Sozialverträglichkeit‘ bzw. der Angepasstheit oder Unauffälligkeit des Erscheinens und Verhaltens einer Person dienen (man denke an ‚Ruhigstellungspillen‘, wie sie etwa ‚hyperaktiven‘ Kindern verabreicht werden). Zur zweiten Kategorie zählen • poietische und praktische Selbstformungen einer Person, ihres Kör-

pers, Geistes oder anderer Aspekte ihrer Seele (wiederum in bestimmten Hinsichten, z.B. zum Zweck der Steigerung physischer Leistungsfähigkeit oder Attraktivität, der Gefühlskontrolle oder

4

Vgl. hierzu etwa folgende informative Publikationen: Christopher Coenen/ Stefan Gammel/Reinhard Heil/Andreas Woyke (2010), darin insbesondere die Beiträge von Arianna Ferrari und Stefan Gammel; speziell zu den converging technologies siehe auch das Hintergrundpapier des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) (2008); außerdem Petra Schaper-Rinkel (2008); Bert Gordijn (2008).

5

Auf den Post- und Transhumanismus kommen wir noch mehrfach zu sprechen. Eine aktuelle informative Abhandlung stammt zum Beispiel von Hava Tirosh-Samuelson und Kenneth Mossman (2012).

6

Zur Herkunft der post- und transhumanistischen Idee einer wissenschaftlich-technisch bewerkstelligten Vervollkommnung und Überwindung des Menschen vgl. Oliver Krügers (2010, 2004). Wichtige Überlegungen zur Maschinisierung des Menschen finden sich auch in der materialreichen Studie von Käte Meyer-Drawe (1996).

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Affektbeherrschung, der Intelligenzsteigerung oder Verbesserung von Gedächtnis- und Erinnerungsleistung, von Aufmerksamkeitsspannen und Konzentrationsvermögen, Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit usw. usf.). In dieses Feld fallen alle möglichen traditionellen Varianten autoplastischer Techniken, von der Gymnastik und dem Jogging über Yoga und Meditation oder Konzentrationsund Gedächtnisübungen bis hin zu Gesprächen, die auf Selbstreflexion und Selbstveränderung der Beteiligten abzielen. • Insofern poietische und praktische Selbstformungen unter Anleitung und Begleitung durch Experten der einen oder anderen Art (Trainerinnen, Coaches, Berater, Psychotherapeutinnen etc.) erfolgen, verschwimmen die Grenzen zwischen auto- und alloplastischen Maßnahmen und Methoden mehr oder weniger. Gemeinsam bleibt den unterscheidbaren Typen der Selbstformen der maßgebliche Anteil an Übungen, die das sich selbst formende Subjekt (einigermaßen bewusst, absichtlich und zielgerichtet; wiederholt, relativ regelmäßig, eine mehr oder minder lang anhaltende Zeit) auszuführen hat. Das unterscheidet jede Art von Selbstformung von wissenschaftlich instruierten und technisch bewerkstelligten Maßnahmen der Optimierung, die häufig mit einer Technisierung des Selbst einhergehen (wodurch die Kontrolle über Bewusstseinszustände, körperliche oder psychische Leistungen etc. an eine äußerliche Instanz abgegeben wird). Dass die Grenzen hier fließend sind, ist evident. Unsere Gegenüberstellung von wissenschafts- und technikbasierten Verfahren auf der einen und immateriellen Verfahren der Selbstformen auf der anderen Seite ist der von Oliver Müller (2000) getroffenen Unterscheidung zwischen Selbsttechnisierungen und Selbsttechniken verwandt. Selbsttechnisierungen verstehen wir mit Müller als „technologische oder medikamentöse Einwirkungen auf unser Selbst. Selbsttechniken dagegen können zwar auch Selbsttechnisierungen sein, doch sie umfassen darüber hinaus verschiedenste kulturelle Selbstformungsleistungen und sind insofern von Selbstpraktiken im Grunde nicht zu unterscheiden. Unter Selbsttechniken werden dabei unter anderem auch Mnemotechniken, Ernährungsregeln und Disziplinübungen, der Umgang mit Rollenanforderungen im Berufsleben oder die Behandlung des eigenen Leibes verstanden“ (Müller 2000: 154, der sodann von Michel Foucaults „techniques de soi“, von Ortega y

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Gassets „Techniken der Seele“ oder Peter Sloterdijks „Anthropotechniken“ spricht).

Es ist evident, dass für die heute bereit stehende Palette instrumenteller Optimierungen des Humanen Technisierungsprozesse eine höchst wichtige Rolle spielen, einschließlich der um sich greifenden Modi der Selbsttechnisierung. Dabei wirkte es anachronistisch und unsachlich, die Technik7 einfach der Natur gegenüberzustellen, als solche zu verdächtigen oder gar zu verdammen. Technik ist ein notwendiger Bestandteil unseres kulturell verfassten natürlichen Lebens. Wichtig ist jedoch, ob und wie neue, wissenschaftsbasierte Techniken in der fortgeschrittenen Moderne unser praktisches Selbst- und Weltverhältnis sowie unser lebensweltliches, philosophisches und wissenschaftliches Selbst- und Weltverständnis unmerklich untergraben und merklich verändern. So beschreibt Müller (2000), wie im Zuge der Technisierung Technologien internalisiert werden, das heißt: das Selbst oder allgemein psychosoziale Phänomene werden technischen Vorbildern angeglichen, indem sie sie verinnerlichen. Dabei übernehmen sie die Funktions- und Effizienzkriterien gleich mit, so dass sich Menschen zunehmend selbst als eine Art störungsanfällige Maschine begreifen und behandeln, über sich wie über Maschinen sprechen, mechanischtechnomorphe Metaphern übernehmen, sich vielen wirklichen Maschinen gegenüber als defizitär, unterlegen fühlen (und nicht mehr nur als der Homo faber, der sie unweigerlich sind etc.; vgl. dazu MeyerDrawe 1996). In diesem Band wenden sich Stefan Rieger und Jürgen Link solchen wechselseitigen Übertragungen von statistischen und informationstechnologischen Modellen auf den Menschen zu. Wichtig

7

Zum höchst vieldeutigen Begriff der Technik, dessen Bedeutungsspektrum von dinghaften Instrumenten, konkreten Apparaten und hochtechnologischen Maschinen über bestimmte Kompetenzen (eines Gymnastik- und Meditationslehrers oder einer Sitharvirtuosin so gut wie eines Bauingenieurs oder Atomphysikers) bis hin zu abstrakten rationalen Verfahren reicht, vergleiche die Darlegungen von Müller (2000: 49 ff.). Dort wird auch zwischen Technik, Technologie und Technisierung unterschieden, wobei unter der hier besonders interessierenden Technisierung „ein Prozeß der Veränderung von Selbst und Gesellschaft durch Technologien“, aber auch Vorgänge der funktionalen und effizienzorientierten Bürokratisierung verstanden werden (ebd.: 51).

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ist, dass mit der Maschinisierung und Mechanisierung des Menschen auch dessen Orientierung an Funktions- und Effizienzkriterien zunimmt, es also keineswegs nur um überlebensnotwendige Kompensationen von natürlichen Defiziten des ‚Mängelwesens Mensch‘ geht, sondern um Wohlbefinden, Bequemlichkeiten und Luxus, um Leistungszuwachs zumal, mithin um die unablässige Steigerung und Überbietung menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten in einer Kultur exzessiver Konkurrenz und Beschleunigung. Diese Überlegungen leiten bereits zum nächsten Punkt über, den Kriterien gelingender Optimierung. Kriterien gelingender Optimierung Bei vielen Optimierungsmaßnahmen sind die Bewertungskriterien klar. Sie liegen fest, sind manchmal sogar metrisiert und erlauben eine genaue Evaluation der durchgeführten Maßnahmen und ihrer Effekte. Das ist etwa dann so, wenn es darum geht, die kurzfristigen Wirkungen von optimierenden Medikamenten (z.B. Ritalin oder Prozac; siehe zu Prozac auch den Beitrag von Guthmüller in diesem Band) festzustellen (ganz im Sinne der Verschreibung und Verabreichung). In anderen Fällen ist die Lage komplizierter. Schwierig wird es auch in den scheinbar einfachen Fällen dann, wenn mittel- und langfristige, insbesondere nicht-intendierte Folgen und Nebenfolgen in die Betrachtung einbezogen werden. Sobald eine solche Ausweitung des Blickwinkels erfolgt, verändert sich womöglich das maßgebliche Kriterium für die Beurteilung von Optimierungen erheblich. Bisweilen mag es sein, dass sich der erwünschte Effekt der Maßnahme zwar einstellt, aber so sehr von side effects, auch zeitlich stark ‚verzögerten‘, überstrahlt wird, dass man von einer gelingenden Optimierung im Zeichen der Erhöhung von Lebensqualität kaum mehr sprechen kann. Manchmal ist es eben so, dass eine Beurteilung der durchgeführten Optimierungsmaßnahme nur aus beträchtlicher zeitlicher Distanz vorgenommen werden kann, weil sich erst dann alle Folgen und Nebenfolgen eingestellt haben. Bekanntlich lassen sich die in einer Geschichte platzierten Ereignisse sowie ihr gesamter Verlauf ‚eigentlich‘ erst am Ende dieser Geschichte evaluieren und bilanzieren, also dann, wenn in angemessener Nachträglichkeit ein Blick auf das von der interessierenden Optimierungsmaßnahme betroffene Leben möglich ist –

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und dieses Leben insgesamt betrachtet werden kann, d.h. in allen von der Optimierung tangierten Dimensionen, Hinsichten oder Aspekten. Das berühmt gewordene Beispiel des „Schalters im Gehirn“, durch den der an einer fortgeschrittenen Parkinson-Krankheit leidende Helmut Dubiel zwischen zwei Zuständen seines Bewusstseins, Erlebens und Verhaltens, mithin seines personalen Seins, willkürlich wählen kann (mit jeweils positiven und negativen Implikationen und Konsequenzen), spricht diesbezüglich eine deutliche Sprache (s.u.).8 Auch wenn es hier um eine therapeutische Maßnahme geht, lässt sich das Beispiel leicht ins Feld der Optimierung übertragen. Was nämlich sollte in einem solchen Fall als Kriterium der Bewertung von Optimierungsprozessen gelten? Klar scheint jedenfalls, dass es zu kurz gedacht wäre, das Gelingen der optimierenden Intervention lediglich am Eintritt der intendierten Primäreffekte festzumachen. Man muss aber auch nicht jedweden positiven Effekt technologisch und medikamentös induzierter Selbstoptimierungen in Abrede stellen oder perhorreszieren, um erkennen zu können, dass Selbsttechnisierungen an Grenzen stoßen und negative Konsequenzen zeitigen können. Um diese Grenzen auszuloten, beruft sich Müller (2000) auf unser „anthropologisches Erfahrungswissen“, zumal solches, das sich um die Verletzlichkeit und Versehrbarkeit des Menschen dreht, um die Gefährdungen, denen Menschen an Leib und Seele gemeinhin ausgesetzt sind und die befriedigende soziale Beziehungen und intime Bindungen gefährden, ja unterminieren und ebenso zerstören können wie das eigene Selbst. Mit Rahel Jaeggi bringt er einen nicht essentialistischen, undogmatischen Begriff der (Selbst-)Entfremdung ins Spiel, der „für Erfahrungen der Ohnmacht, Fragmentierung, Verarmung, des Sinnverlusts und der Unsicherheit“ sensibilisieren soll (ebd.: 159). Um solchen Erfahrungen nachzuspüren, muss man nicht schon im Voraus und sogar mit absoluter Gewissheit wissen, wie man richtig lebt, um glücklich zu leben. Vielmehr zeigt sich, was ein gelingendes Dasein ausmachen kann, indem und während man solche Erfahrungen auf-

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Dieses Beispiel wurde vielfach erörtert (z.B. Müller 2010: 26 ff.), wobei stets der autobiographische Selbstbericht des Betroffenen (Dubiel 2006) die Basis abgibt. Dieses Selbstzeugnis eines zutiefst verunsicherten Selbst gehört zu den bislang wohl eindrucksvollsten Dokumenten eines Beobachters, der seiner selbst dank des Neuroimplantats in zwei verschiedenen Versionen ‚ansichtig‘ werden konnte.

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spürt und ihnen nachgeht, mitfühlend und nachdenklich. Man sieht dann womöglich, worauf es (mir, ihm, ihr, ihnen) ankommt und was man nicht aufs Spiel setzen möchte oder sollte. Man erspürt und erkennt vielleicht tief im eigenen Selbst verwurzelte Werte und Bindungen sowie ‚Vorlieben‘ für bestimmte Lebensformen und Handlungsweisen, wenn man gemachte und denkbar erscheinende Erfahrungen miteinander vergleicht, und zwar mit allen Mitteln, die einem das eigene praktische Wissen und Vorstellungsvermögen, die reflektierende Urteilskraft und phronetische Vernunft bereitstellen. Zu diesem Zweck bedarf es keines – essentialistisch verstandenen – authentischen, eigentlichen oder gar natürlichen Selbst. Was vorausgesetzt werden muss, ist allerdings ein Subjekt, das sich zu sich und seiner Welt sowie zu allen vorstellbaren Welt- und Selbstverhältnissen verhalten kann. Das genügt, um bedächtige und begründete Urteile, die im Gebrauch eines veränderlichen evaluativen Vokabulars gebildet werden, für möglich zu halten. Solche Urteile betrachten drohende Selbstentfremdungen als Gefahr, vor der man auf der Hut sein sollte. Zu den technischen Entfremdungserfahrungen zählt Müller im Einzelnen: die Selbstinstrumentalisierung (als gestörte Zweck-Mittel-Balance oder Verarmung der Selbstbezugnahme), die Selbstverdinglichung und die Selbstcyborgisierung. Wir brauchen diesem interessanten Vorschlag nicht im Einzelnen nachgehen, halten jedoch fest, dass sich darin zahlreiche Hinweise auf rationale Kriterien für die Beurteilung von Optimierungen und Normierungen des Humanen auffinden lassen, Maßstäbe und Gesichtspunkte, die weit über den Zuständigkeitsbereich der Naturwissenschaften hinausweisen. Für solche Kriterien müssen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften übrigens nicht deswegen interessieren, weil ihre Erkenntnisse unabdingbar für ethisch-moralische Reflexionen, normative Urteile sowie politische Entscheidungen sind (obwohl das offenkundig häufig der Fall ist). Sie liefern darüber hinaus nämlich erst einmal einen Leitfaden an die Hand, der uns (tatsächliche und mögliche) psycho-soziale und soziokulturelle Konsequenzen technologischer Optimierungen auffinden und genauer untersuchen lässt. Darum geht es auch dann, wenn wir in den Sozial- und Kulturwissenschaften von Kriterien gelungener Optimierungen und Normierungen des Humanen sprechen. Letztendlich steht das von Menschen erlebte Leben zur Debatte. Das ist mehr, als es parzellierte und isolierte Lebenselemente sind (in Gestalt eines optimierbaren körperlichen Substrats etwa).

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NutzerInnen gelingender Optimierungen Die Suche nach einem Kriterium gelingender Optimierung verweist auf die Frage, für wen sich eine bestimmte Veränderung des Menschen als eine Optimierung darstellt. Wer sind ihre GewinnerInnen, wer die VerliererInnen? In dieser schlichten Form gestellt ist diese Frage sicherlich nur in einigen Fällen zu beantworten. Hier kommen einem die Menschen in den Sinn, die optimiert werden, oder sich selbst optimieren, obwohl sie selbst gar nichts davon haben. Zu denken wäre beispielsweise an eine Schulungsmaßnahme zur Beschleunigung von Fließbandarbeit, für die die ArbeiterInnen selbst mit verstärktem Stress und körperlichem Verschleiß zahlen, von der die ArbeitgeberInnen jedoch profitieren (bezahlen müssen sie nur für die Bereitstellung der Schulungsmaßnahme). In vielen Fällen lassen sich allerdings auch bei genauem Hinsehen und tiefgehender Analyse keine eindeutigen GewinnerInnen und VerliererInnen ausmachen. Nehmen wir das Beispiel eines Familienvaters, der sich in autogenem Training übt. Diese Übungen optimieren möglicherweise sein eigenes Lebensgefühl und steigern seine Erlebnisfähigkeit. Von ihnen profitieren aber auch andere Familienmitglieder, die, ohne sich zurücknehmen zu müssen, die Nerven des Partners oder Vaters beanspruchen können, ohne gleich – wie es früher so oft der Fall war – einen Wutausbruch zu befürchten haben. Die Kosten dieser Optimierung entfallen auf den Vater – durch Aufbringung finanzieller, zeitlicher und anderer Ressourcen (z.B. Konzentration und Ausdauer). Ob der Vater jetzt allerdings als Gewinner oder Verlierer der Optimierung zu betrachten ist, ist schwer zu entscheiden. Er gewinnt und verliert gleichzeitig mit dem Nebeneffekt, dass auch noch andere Menschen neue Vorteile genießen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass es neben den Subjekten und Objekten von Optimierungen noch eine weitere relevante Personengruppe geben kann: Menschen, die von den Optimierungen anderer profitieren. Hinzuzufügen ist, dass auch der umgekehrte Fall theoretisch denkbar ist: Dass Menschen die Kosten einer Optimierung tragen, die an einem anderen Menschen durchgeführt wird und von der sie selbst nicht profitieren. Eine wissenschaftliche Analyse der Gewinn- und Verlustverhältnisse einer bestimmten Optimierung ist nicht trivial. Sie muss nicht nur die verschiedenen beteiligten Parteien in Form von Subjekten,

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Objekten, profitierenden Dritten und zahlenden Dritten im Blick behalten, sondern auch Kosten und Nutzen von Effekten bestimmen, deren Bewertung meist nur subjektiv und, wie bereits erörtert, nachträglich erfolgen kann. Diese subjektive Bestimmung wiederum kann sich nicht darauf beschränken, die Betroffenen zu den empfundenen Gewinnen und Verlusten zu befragen. Es muss bezweifelt werden, ob Menschen die Gewinne und Kosten von Optimierungen immer selbst angeben können, noch dazu in nüchterner Weise und möglichst frei von Selbst- und Fremdtäuschung (man denke etwa an den Yoga-Kurs, den man macht, weil man „endlich mal wieder etwas nur für sich machen möchte“, oder die betrieblich verordnete Schulungsmaßnahme, die verspricht, als Personaltraining die individuelle Lebensqualität zu steigern). Trotz dieser mannigfachen Schwierigkeiten ist die Bestimmung von GewinnerInnen und VerliererInnen von Optimierungen ein wichtiger Schritt insbesondere von kritischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Analysen, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten aufzudecken bestrebt sind (und zu diesem Zweck, wie wir später argumentieren, auch der Sichtweise der Betroffenen eine alternative Perspektive hinzufügen sollten). Ergebnisse und Wirkungen, Folgen und Nebenfolgen Denn verstehen wir wirklich, welche Folgen die Technisierung der Fortpflanzung für unser Leben hat? Wissen wir, was wir tun, wenn wir an unseren Kindern genetisch nachbessern? Haben wir eine Vorstellung davon, was ein Gehirnimplantat mit uns, mit unserem Selbst macht? OLIVER MÜLLER 2000

Die diesem Abschnitt vorangestellten Fragen bezüglich der Resultate und Konsequenzen bestimmter (exemplarischer) Maßnahmen der technisch bewerkstelligten Optimierung des Humanen sind rhetorische Fragen. Wir haben mehrfach darauf hingewiesen, dass sie bis heute allenfalls ansatzweise beantwortet werden können. Wer eine ‚konsequenzialistische‘ Perspektive einnimmt, in der (auch nicht-intendierte und langfristige) Folgen und Nebenfolgen von Optimierungsmaß-

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nahmen in den Blick geraten, muss bislang noch mühsam zusammentragen, was einschlägige Forschungen oder Selbstberichte (wie sie im World Wide Web, aber auch in vereinzelten Buchpublikationen zu finden sind) zur Sprache bringen. Die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften achten dabei zum Beispiel auf die psychischen und sozialen Auswirkungen von Nano-Bio-Info-Cogno-Technologien, die meistens außerhalb des Blickfelds der NaturwissenschaftlerInnen und TechnikerInnen liegen. Müller (2000: 18 ff.) formuliert das Problem, nachdem er den Stand aktueller neurotechnologischer Errungenschaften referiert hat (darunter befinden sich u.a.: Brain Machine Interface/ BMI, Brain Computer Interface/BCI; Deep Brain Stimulation/DBS, memory chips) und erörtert es konzise an mehreren Beispielen. So macht er darauf aufmerksam, dass etwa durch die über GehirnMaschine-Schnittstellen laufenden „tiefen Hirnstimulationen“ in bestimmten Arealen Hirnaktivitäten ausgelöst werden können, die den Tremor von Parkinson-Patienten unterdrücken (die Ursachen dieses Effekts sind bislang nicht genau bekannt). Diese invasive neurotechnologische Intervention führt zwar zunächst zu einer klaren Verbesserung der Lebensqualität der kranken Person, kann aber auch mit unabsehbaren Persönlichkeitsveränderungen einhergehen (ebd.: 20). Nun ist es keineswegs ausgemacht, dass solche Technologien und Techniken nicht über den bisherigen Anwendungsbereich hinaus ausgeweitet werden, also auf Therapien anderer Krankheiten (auch psychischer Störungen wie die Depression) und schließlich als Optimierungsverfahren bei der Behandlung gesunder Menschen in Gebrauch kommen können. Bezüglich der über BMIs möglichen Steuerung von motorischem Verhalten oder der Gedächtnis-Chips-Technologien hält Müller eine fortschreitende Cyborgisierung von Menschen durchaus für wahrscheinlich.9 Wenn dies einmal der Fall sein sollte, gilt für Optimierungsverfahren, was heute bereits für therapeutische Anwendungen zutrifft: die Auswirkungen der biotechnologischen Eingriffe auf vorübergehende Bewusstseins- und Gemütszustände und vor allem auf „Persönlichkeit und Selbstbild“ in the long run sind völlig unklar (ebd.: 24). Klar ist indes, dass sie keinesfalls unproblematisch sein müssen: Von Euphorie über Angst bis hin zu gravierender Selbstunsicherheit und einschneidenden Persönlichkeitsmodifikationen, die die sozialen Beziehungen des betroffenen Menschen erheblich in Mit-

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Siehe Müller (2000: 23); vgl. allgemein Tanja Krämer (2007).

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leidenschaft ziehen und sogar völlig verändern können, reicht die Spannweite. Nicht allein die hochinvasiven Eingriffe können ungeahnte und unerwünschte Nebenfolgen zeitigen. Die im Rahmen des Neuro-Enhancement bereits gebräuchlichen Psychopharmaka können ebenfalls Effekte haben, die alles andere als die beabsichtigten Steigerungen der Lebensqualität beinhalten. Therapeutische Anwendungen einer Technologie und Technik können uns durchaus über mögliche, vielleicht kommende oder bereits im Anmarsch befindliche Optimierungsprogramme und -chancen aufklären – und zwar auch unter den für die Sozial- und Kulturwissenschaften interessanten Gesichtspunkten. Das lässt sich etwa an dem bereits erwähnten, tragischen Beispiel Dubiels (2006) zeigen, der die leidvollen Folgen und Nebenfolgen seiner fortgeschrittene ParkinsonKrankheit dadurch in den Griff zu bekommen suchte, dass er einen operativen Eingriff in sein Gehirn vornehmen und sich ein NeuroImplantat einsetzen ließ, über das er willentlich zwischen verschiedenen Erlebnis- und Bewusstseinszuständen ‚umzuschalten‘ vermag. Der Hirnschrittmacher ermöglicht es Dubiel, gleichsam zwischen zwei Personen willkürlich zu wählen. Von ärztlich-technischer Seite wurden mögliche Konsequenzen des invasiven Eingriffs, die Dubiel eingehend beschreibt, niemals thematisiert. Der behandelte Patient berichtet über Störungen des Sprachzentrums im Gehirn, die zu einer drastischen Schrumpfung des ihm verfügbaren Vokabulars und damit seiner Imaginations- und Urteilskraft sowie Artikulationsfähigkeit führt. Diese unerwünschten Nebenfolgen einer neurotechnologischen Intervention reduzieren die Person quantitativ und qualitativ merklich – was gerade für jemanden, der als Soziologe wissenschaftliche Vorträge zu halten und Abhandlungen zu verfassen gewohnt ist (und an dieser Tätigkeit hängt), keine Nebensächlichkeit ist. Die misslichen Nebenfolgen lassen sich nicht einfach mit dem ‚Sieg über die Parkinson-Krankheit‘ bzw. dem physischen Überleben verrechnen. Die Bilanz ist kompliziert. Ohne den Hirnschrittmacher wäre der am fortgeschrittenen Parkinson-Syndrom leidende Wissenschaftler gewiss überhaupt nicht mehr fähig, öffentlich vorzutragen (und anderen Arbeiten ‚ungestört‘ nachzugehen, z.B. wegen der das eigentliche Syndrom begleitenden Depression, die Dubiel nach dem Eingriff ebenfalls auf Knopfdruck ‚abschalten‘ kann). Wichtig ist: Das praktische Selbst- und Weltverhältnis, das emotionale Selbst- und Welterleben sowie das kognitive Selbst- und Welt-

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verständnis sind durch die neurotechnologische Unterstützung zentraler Lebensfunktionen massiv beeinträchtigt. Die biowissenschaftliche Technologie ändert die Person insgesamt – in einer schwer vorherzusehenden und zu durchschauenden Weise. Dubiel berichtet von seiner massiv eingeschränkten Freiheit und von einem höheren Maß an sozialer Kontrolle. Oder er beschreibt – was er letztlich am schlimmsten findet – eine eigenartige Form partieller Entmündigung, die die verbliebene Autonomie von technischen Mitteln abhängig macht und eine beklemmende „soziale Scham“ über die notwendig gewordene „instrumentelle Vermittlung der menschlichen Kommunikation“ mit sich bringt (vgl. auch Müller 2000: 30).10 Das Beispiel ist drastisch und gibt einen Vorgeschmack auf das, was Selbsttechnisierungen so alles an nicht-intendierten, früher oder später sich einstellenden und womöglich nachhaltigen, vielleicht unumkehrbaren Folgen und Nebenfolgen im Feld des Psychischen und des Sozialen freisetzen können. Das alles muss nicht unbedingt sein und ist doch möglich. Naturwissenschaften können das nicht feststellen und auch nicht mit ihren eigenen Mitteln über derartige Konsequenzen reflektieren. Das ist die Aufgabe der Sozial- und Kulturwissenschaften sowie der Philosophie (und der informierten Öffentlichkeit sowie der Politik). Müller entwickelt einen zu diesem Zweck heuristisch wertvollen Leitfaden, wenn er die möglichen negativen Konsequenzen aller denkbaren, insbesondere der im Zeichen der Optimierung stehenden Selbsttechnisierungen in einer Perspektive evaluiert, in der ein zeitgemäßes Konzept der Selbstentfremdung im Mittelpunkt steht (s.o.).

P RÄLIMINARIEN UND P ARADOXIEN EINES ENTSTEHENDEN F ORSCHUNGSPROGRAMMS Wissenschaft, Gefühle, Ungewissheit, Kritik Wer über Verbesserungen des Menschen spricht, kommt um eine kritische Einschätzung bestimmter Optimierungs- und Normierungsvor-

10 Warum sich Dubiel das Implantat nach den ausführlich beschriebenen Erfahrungen wieder entfernen ließ, ist Gegenstand einer in Vorbereitung befindlichen Publikation des Autors.

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gänge sowie einschlägiger Visionen und Programme nicht herum. Diese Diskurse sind unweigerlich mit normativen Positionen und Perspektiven verwoben. So gut wie immer geht es in diesen Debatten um Machtkämpfe, in denen die (Um-)Verteilung von Kapital unterschiedlicher Sorte auf dem Spiel steht.11 Nicht selten verfolgen die Protagonisten ganz unmittelbar handfeste ökonomische Interessen (man denke etwa an Genforscher wie etwa John Craig Venters, die sich ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und darauf aufbauenden Technologien längst patentieren lassen und zu diesem Zweck sogar Firmen gegründet haben.12 Mitunter arbeiten sie in Labors und Unternehmen von Anfang an unter dem Gesichtspunkt der ökonomischen Verwertung und Vermarktung von Forschungsergebnissen.) Ebenso häufig geht es jedoch um soziales oder kulturelles Kapital. Wer um Dominanz im Feld öffentlicher Kommunikation ringt, strebt nach Deutungshoheit. Dies ist in modernen Mediengesellschaften ein teures Gut, das nicht nur mit Ansprüchen auf Wahrheit und Richtigkeit verknüpft ist. Bekanntlich lässt sich die Ressource der Deutungshoheit gerade auch im hier interessierenden Bereich in andere Kapitalsorten umwandeln, mitunter sogar ziemlich umstandslos in ökonomischen Reichtum. All dies ist im vorliegenden Zusammenhang überaus wichtig. Wir möchten uns deswegen zunächst noch etwas in den stets drohenden Abgründen einer sozial- und kulturwissenschaftlichen Erfahrungs- und Erkenntnisbildung aufhalten, die sich manchmal unabsichtlich und unversehens in komplexe Gefühlslagen, schwierige Beurteilungen sowie offene oder verborgene Machtkämpfe verwickelt sieht. In den nächsten Abschnitten lenken wir das Augenmerk auf die wohl kaum vermeidliche Emotionalität und Normativität einer Diskussion, die im schnelllebigen Markt der Massenmedien schon allzu oft skandalisiert wurde. Auch die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften bleiben von diesem Geschehen nicht unberührt. Sie tun gut daran, sich von vorneherein dazu zu verhalten. Sie müssen dabei einen Standpunkt er-

11 Vgl. hierzu Pierre Bourdieus differenzierten Kapitalbegriff (Bourdieu 1983). 12 Venters gründete 1998 das Unternehmen Celera Corporation mit dem Zweck, „die Gene des Menschen durch automatisierte Sequenzierung zu kartieren.“ Weitere Informationen sind zugänglich auf der oben zitierten Wikipedia Website http://de.wikipedia.org/wiki/Craig_Venter.

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langen, der theoretisch reflektierte und methodisch kontrollierte Beobachtungen sowie sachkundige Urteile überhaupt erst ermöglicht. Die Umsetzung des hier skizzierten Forschungsprogramms steht noch am Anfang.13 Die empirischen Disziplinen haben gerade erst damit begonnen, jene vielfältigen Erlebnisse, Erfahrungen und Erwartungen von (potentiellen) AkteurInnen und Betroffenen zu erkunden, welche wir kennen müssen, um über die interessierenden Vorgänge überhaupt einigermaßen verlässliche, lebensweltlich relevante Auskünfte geben zu können. Auch Urteile, wie sie BioethikerInnen in einschlägigen Kommissionen und Gremien fällen, bedürfen derartiger Erkenntnisse. Es reicht offenkundig nicht aus, sich in bloßen Spekulationen zu ergehen oder sich den ins Kraut schießenden Hoffnungen von technophilen Trans- und PosthumanistInnen oder aber den technophoben Befürchtungen konservativer BesitzstandswahrerInnen hinzugeben. So zutreffend dies ist, so wahr ist es auch, dass im interessierenden Feld empirische Feststellungen, die aus allgemein zustimmungsfähigen Aussagen über ‚nackte Tatsachen‘ bestehen, außerordentlich schwer zu erlangen sind (und manchmal kaum getroffen werden können, da sog. ‚Tatsachen‘ in der psychischen, sozialen und kulturellen Welt mitunter nicht fein säuberlich von Wertbindungen, normativen Orientierungen sowie einem damit verwobenen evaluativen Vokabular geschieden und isoliert werden können). Bemühungen um einen möglichst unvoreingenommenen, vergleichsweise nüchternen und seine eigenen Voraussetzungen, soweit das eben geht, reflektierenden Blick auf das Geschehen sind deswegen nicht obsolet. Ganz im Gegenteil. Wenngleich Gefühle, diffuse Ängste und konkrete Befürchtungen – etwa im Sinne der von Günter Anders (1980) oder auch von Hans Jonas (1979) bereits vor Jahrzehnten empfohlenen, rundum vernünftigen „Heuristik der Furcht“ – zweifellos eine wissenschaftlich produktive, Erkenntnisse freisetzende Funktion besitzen können (und

13 Beispielhaft für diesen vielversprechenden Anfang sind etwa die folgenden Publikationen: Christopher Coehnen/Stefan Gammel/Reinhard Heil/Andreas Woyke (2010), Nicolas Pethes und Silke Schicktanz (2008); in vielen Bereichen wären detaillierte empirische Untersuchungen wie etwa die ethnographische Studie zu reproduktionsmedizinischen Praktiken von Charlotte Ullrich (2008, 2012) oder die Studie von Sven Bergmann (2011) zum sogenannten fertility tourism nötig.

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für die Wahrnehmung von Verantwortung für die nachkommenden Generationen ohnehin unabdingbar sind), sollte man sich, zumal als WissenschaftlerIn, nicht in irgendwelchen Affekten und Emotionen ‚einrichten‘. Es ist bekanntlich unzweckmäßig, sich so sehr in eigene Empfindungen und Gefühle zu verstricken, dass sie niemandem mehr als heuristisches Instrument und sensibilisierender Ratgeber dienen können. Erfahrungswissenschaften sollten kollektive Mythen und individuelle Phantasmen zwar ernst nehmen, ja: sie müssen Imaginationen und Visionen, Utopien und Dystopien zu ihrem Untersuchungsmaterial zählen und akribisch analysieren. Sie dürfen dabei aber nicht vor lauter Begeisterung für die eine oder andere Option jegliche Distanz zu den verhandelten Angelegenheiten aufgeben. Es ist nicht ihre Aufgabe, umstrittene Positionen mehr oder weniger naiv zu reproduzieren und sich mitreißenden Gefühlen, bewegenden Phantasien und motivierenden Wünschen hinzugeben. Das gilt für den Appell, es doch freudig und zuversichtlich mit der technomorphen Transformation des Menschen in ein trans- oder posthumanes ‚Maschinenwesen aus Fleisch und Blut‘ zu versuchen, also ernst zu machen mit der für manche aufregenden, noch nie dagewesenen Verwandlung in einen genetisch programmierten, mit Gehirnschrittmachern sowie anderen MenschMaschine-Schnittstellen versehenen und deswegen beliebig leistungsfähigen, von allem ehemals menschlichen Leiden befreiten ‚Kunstkörper mit unbegrenzter Haltbarkeit‘. Und es gilt gleichermaßen für die Devise, jenen wissenschaftlich-technischen Errungenschaften und Visionen, welche schon heutzutage einer neuen, verunsichernden und Angst erzeugenden Ära des optimierenden Menschen-Machens den Weg bahnen, durch die alten Mittel der als ‚Kritik‘ getarnten Verteufelung und Maschinenstürmerei zu begegnen. Das Bemühen um einen gefassten und gelassenen Blick bleibt indes in das Paradox verstrickt, wissenschaftliche Erkenntnisse in einem Feld suchen zu müssen, in dem WissenschaftlerInnen unweigerlich auf emotionale und evaluative Vokabulare treffen und auch selbst keine vollkommen wertneutrale Begriffssprache sprechen können (Taylor 1975, 1981, 1985; Fleck 1983). In dieser vielschichtigen Angelegenheit sollten die Sozial- und Kulturwissenschaften in jedem konkreten Fall wenigstens einigermaßen klar sagen können, was eigentlich Sache ist. Sie müssen zu diesem Zweck genau hinsehen und mit ihren methodischen Mitteln in Erfahrung bringen, was denn alles so vor sich geht und eintreten kann,

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wenn sich Menschen in dieser oder jener Weise, zu diesem oder jenem Zweck optimieren (lassen). Über die faktischen und die potentiellen kulturellen, sozialen und psychischen Voraussetzungen (z.B. motivationaler Art), über die Implikationen und Konsequenzen zahlreicher überlieferter, ziemlich neuer oder noch ausstehender Maßnahmen der Optimierung und Normierung des Humanen im Zeichen einer radikalen Machbarkeit des Menschen wissen wir indes noch nicht allzu viel. Es hat seinen guten Grund, dass Müller, sobald er sich in die Debatte über dunkle und helle Seiten des Neuro-Enhancement einmischt, einfach erst mal wissen will, „wie sich unser Selbstverständnis und Selbstverhältnis durch die ‚optimierenden‘ Interventionen ändern“ (Müller 2010: 39). Es kann schon sein, dass man bei der einen oder anderen Maßnahme, die zum Beispiel der neurotechnologischen Anpassung des eigenen Selbst an ein Idealbild dient, mit unvorhergesehenen und unliebsamen „Identitätsstörungen und Dissonanzen“ zu rechnen hat (ebd.). Es mag ebenso der Fall sein, dass man diesbezüglich mit erheblichen interindividuellen Unterschieden konfrontiert wird, so dass sich sowohl eine allgemeine (philosophische, psychologische) Anthropologie, als auch eine an ‚den‘ Menschen gerichtete Ethik und Moral schwer tun werden. Das ist wohl ein nicht zu beseitigendes Hindernis für jede vernunftorientierte Gestaltung ‚unseres‘ Lebens in der Gegenwart und Zukunft: wir wissen vieles noch nicht und können es vielfach auch gar nicht in Erfahrung bringen, bevor wir es nicht versucht und im Stadium dieses vielleicht riskanten Experimentierens untersucht haben. Für den Abbruch des Experiments ist es dann, wie die Erfahrung lehrt, oftmals zu spät – wie misslich oder regelrecht schädlich seine Konsequenzen dann auch sein mögen. Auch aus diesem Paradox: etwas wissen zu wollen und vieles wissen zu müssen, um bezüglich der Zukunft des Humanen vernünftige Überlegungen anstellen und vertretbare Entscheidungen treffen zu können, es aber aus prinzipiellen Gründen nicht mit Gewissheit wissen zu können, bevor die fragliche Zukunft eingetreten sein wird, aus diesem Paradox führt kein Weg ganz heraus. Allerdings sind Tastbewegungen möglich, und zwar sowohl im Feld des bereits heute empirisch Untersuchbaren, als auch in jenem von Zukunftsmusik bespielten Bereich möglicher Optionen, deren Implikationen und Konsequenzen auszumalen unsere Phantasie und Ein-

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bildungskraft, unsere Antizipation, Perspektivenübernahme und alle erdenkliche Empathie mit den vorgestellten und ‚vorausentworfenen‘ Menschen von morgen erfordert. Das ist keineswegs nur eine Frage wilder Spekulation. Die Sozial- und Kulturwissenschaften können vielmehr ihr ganzes Wissen über den Menschen in die Waagschale werfen und dieses Wissen erweitern, um solchen Tastbewegungen ein empirisches Fundament zu verleihen und sie auf einem unweigerlich unsicheren Weg dennoch einigermaßen zu orientieren. Mehr hat menschliche Vernunft in diesen Gefilden nicht zu bieten. Wo es um unsichere Erwartungen zukünftiger Erfahrungen geht, tritt sie vor allem in Gestalt „phronetischer Vernunft“ oder „narrativer Intelligenz“ auf den Plan (um die treffenden Bezeichnungen von Paul Ricœur bzw. Jerome Bruner aufzugreifen; vgl. dazu Straub 1998: 150 ff.). Phronesis, Klugheit bezeichnet eine in der nachträglichen und vorausschauenden Reflexion möglichst vielfältiger (lebens-)geschichtlicher Erfahrungen und Erwartungen verwurzelte Vernunft und ist indes weitaus mehr als abenteuerliche, waghalsige Schwärmerei von Leuten, die aus der Geschichte nicht wahrgenommener Verantwortung (der Wissenschaft und durchaus auch der WissenschaftlerInnen) rein gar nichts lernen mögen. Viele Zeitgenossen betreiben gerade heutzutage einfach nur Augenwischerei, wenn sie im Zeichen eines eigenartigen ‚Liberalismus‘ naiv darauf hoffen, dass schon alles gut gehen wird, wenn man die Leute nur machen lässt. Praktisches Wissen, phronetische Vernunft oder narrative Intelligenz sind auch tragfähiger als all das, was überforderte Gemüter zu bieten haben, die vor lauter Angst und Schrecken keinen klaren Gedanken mehr fassen können und bereits in Ritalin oder Prozac lediglich noch das in Pillen gegossene Unheil des modernen Menschen sehen – um von Gehirnschrittmachern oder Eingriffen ins Genom ganz zu schweigen. Vieles, das heute bereits möglich ist und morgen gemacht werden können soll (nach der Idee der ‚liberalen‘ Vertreter bio- bzw. neurotechnologischer Optimierungsprogramme), kennen selbst die überzeugtesten „Cerebromatiker“ nicht so recht (wie sie Stanislav Lem nannte, den Müller als einen Kronzeugen dafür zitiert, dass man den Einfluss z.B. des Fernsehens oder anderer Massenmedien vorläufig schon noch von den Folgen neurotechnisch bewerkstelligter Manipulationen des Gehirns oder biotechnischer Variationen des Genoms unterscheiden sollte – selbst wenn die jeweiligen Folgen im Einzelnen noch gar nicht bekannt sind!). Vieles wird wohl im Ungefähren verharren.

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Man wird auf Mutmaßungen angewiesen bleiben, die von der suchendenden und versuchenden Einfühlung in das imaginierte Leben zukünftiger, mehr oder weniger cyborgisierter Menschen zehren (die vielleicht nur noch Spuren des einstigen Menschen in sich tragen. Solche Spuren mögen dann bloß noch Relikte für eine Art Archäologie des ‚verwundenen‘, ‚überlebten‘ Menschen sein). Wir haben jedoch noch nicht alle denkbaren Anstrengungen unternommen, diesbezüglich Fortschritte zu machen, also zumindest ein wenig mehr über das mögliche Leben des bzw. der kommenden Menschen zu erahnen. Dieses auf der Feststellung von Tatsachen aufbauende und darüber hinausschießende Erahnen oder Erspüren ist eine für die Gegenwart und Zukunft des Homo Faber überaus wichtige Übung.14 Theoretisch-methodische Notiz zur empirischen Erforschung von Optimierungen und Normierungen Die empirischen, insbesondere die sog. rekonstruktiven oder interpretativen Analysen der mit qualitativen Methoden operierenden Sozialund Kulturwissenschaften zielen sowohl auf das praktische Verhalten, das ein Subjekt sich selbst und seiner Welt gegenüber zeigt (auf der Grundlage impliziten Wissens und internalisierter Dispositive, die einen sozialen Habitus sowie personale Dispositionen konstituieren), als auch auf das bewusste Verständnis, das eine Person von sich und seiner Welt hat, jedenfalls vergleichsweise leicht bilden und artikulieren kann (in Erzählungen, Beschreibungen, Argumentationen usw., wie sie in Gesprächssituationen zum Zweck der Datenerhebung evoziert werden können). Die trotz ihrer unscharfen Ränder und fließenden Grenzen theoretisch und methodologisch wichtige Unterscheidung zwischen dem Selbst- und Weltverhältnis einerseits, dem Selbst- und Weltverständnis andererseits bedeutet nicht zuletzt, dass in der empirischen For-

14 Das Spüren ist hier in der Tat eine erkenntnisfördernde Haltung und Handlung – also alles andere als wissenschaftsfeindliche Gefühlsduselei. Das begründet z.B. Ulrich Pothast (1988, 1998). Neuerdings erfahren Modi des Erkennens, die traditionell etwa als „Intuition“ bezeichnet und sowohl in der Philosophie als auch in den Naturwissenschaften misstrauisch beäugt wurden, gerade auch von den Neurowissenschaften eine hohe Wertschätzung.

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schung subjektorientierter Sozial- und Kulturwissenschaften sowohl etische als auch emische Perspektiven unabdingbar sind (im Sinne der von Pike 1954 getroffenen Abgrenzung). Eine rigide Beschränkung auf die emische Perspektive, die die Selbst- und Weltverständnisse der Forschungspartner bloß zu reproduzieren vermag, ist grundsätzlich kein für die Sozial- und Kulturwissenschaften gangbarer Weg – wie wichtig, ja unabdingbar gerade solche Rekonstruktionen der (subjektiven und dabei soziokulturell, also symbolisch vermittelten) Binnensicht der ‚Anderen‘ oder ‚Fremden‘ auch sein mögen. Gerade im hier interessierenden Feld der Optimierung und Normierung des Humanen liegen die kreativen und innovativen Potentiale wissenschaftlicher Erkenntnisbildung in der systematischen Verschränkung von emischen und etischen Perspektiven (einer Art der methodischen Triangulation von Wissensbeständen mithin). Gerade diese wechselseitige hermeneutische Relationierung differenter Wissensbestände erlaubt es BeobachterInnen bekanntlich, die gegenüber dem Alltagsbewusstsein und Alltagswissen notwendigerweise vindizierte ‚Überlegenheit‘ wissenschaftlicher Erkenntnisse unter Beweis zu stellen. Die theoretisch angeleitete Interpretation der in methodisch kontrollierter Weise erhobenen und ausgewerteten empirischen Materialen sollte auch im hier interessierenden Feld möglichst mit Einsichten aufwarten können, die den von Optimierungs- und Normierungsvorgängen betroffenen Subjekten nicht ohne weiteres zugänglich sind. Die solchen Vorgängen ‚unterstellten‘, im Rahmen teils hoch abstrakter und anonymer Macht- und Herrschaftsverhältnisse auch ‚unterworfenen‘ Personen wissen manchmal weder genau, was sie tun, noch sind sie sich immer ganz im Klaren darüber, was ihnen eigentlich widerfährt. Wissenschaftliche Distanz gegenüber dem unmittelbaren Erleben der Betroffenen kann gewiss auch dort produktiv sein, wo Menschen in (selbst) verordnete Optimierungs- und Normierungsprogramme (emotional und motivational, sozial und praktisch) verstrickt sind. Es gehört wohl zu den allgemeinen Prinzipien der modernen Sozial- und Kulturwissenschaften, dass sie Personen auch als Subjekte ernst nehmen, die sich über sich selbst täuschen können, sich zumindest nicht völlig darüber bewusst sein müssen, was mit ihnen unter den gegebenen kulturellen und sozialen Bedingungen der wissenschaftlichtechnischen Welt passiert, was sich mithin an ihnen vollzieht. Darüber ein Gespräch in Gang zu halten, in dem alle voneinander lernen können, gehört nach wie vor zu den Aufgaben von Wissenschaften, die

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Aufklärung als einen auf empirische Erkenntnisse angewiesenen öffentlichen Dialog über allgemeine ‚Lebensfragen‘ betrachten und betreiben. Bei all dem ist es so, dass der Blick von WissenschaftlerInnen nicht allein an bestimmte (meta-) theoretische Perspektiven gebunden ist, sondern an weitere pragmatische und epistemische Voraussetzungen, die ihre Beobachtungen und Interpretationen konstituieren und relationieren. Diese grundlegende Einsicht einer relationalen Hermeneutik (Straub/Shimada 1999; klassische Arbeiten in diesem Bereich stammen u.a. von Karl Mannheim 1965 und Ludwik Fleck 1980) weist sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse als standort- und perspektivenabhängige, kontextualisierte und situierte Wissensbestände aus, die stets auch vielfältige pragmatische Übersetzungsfunktionen erfüllen und (explizite oder implizite) praktische Ziele verfolgen. Erkenntnisse sind damit unweigerlich kulturell und sozial vermittelt und nicht zuletzt Konstruktionen erkennender Subjekte, deren Blick auf die Anderen und Fremden an die eigene Subjektivität gebunden ist, mithin Eigenes relationiert. Sozial- und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse sind Ausdruck temporärer und situierter Beziehungen, also niemals ‚objektive‘ Repräsentationen eines ‚Gegenstandes an sich‘. Sie transportieren und transformieren die vielfältigen Wissensbestände, die das erkennende Subjekt in das (wie auch immer geregelte) Spiel der Übersetzung einbringt (Renn/Straub/Shimada 2002; Renn 2006). Die Theorie und Methodologie einer relationalen Hermeneutik unterscheidet als interpretationsrelevante Vergleichshorizonte verschiedene Wissenstypen (im Einzelnen: sozio-kulturelles und subjektives Alltagswissen der InterpretInnen; wissenschaftliche Theorien; empirische Befunde; gedankenexperimentelle, imaginative oder utopische Vorstellungen; vgl. Straub 1999). Wie zahlreiche Beiträge auch des vorliegenden Bandes zeigen, sind für Forschungen im Bereich der Optimierung und Normierung des Menschen alle diese Typen von Vergleichshorizonten relevant.

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V OLLKOMMENHEIT UND V ERBESSERUNG : EIN MENSCHLICHES V ERLANGEN IM B LICKFELD EINER PSYCHOLOGISCHEN A NTHROPOLOGIE Es scheint wahrlich nichts dabei zu sein, dass Menschen nach Besserem streben und mitunter sogar vom Vollkommenen träumen, es vielleicht schon vor Augen haben (oder in den Ohren, in Mund und Nase oder auf der Haut, im Kopf oder im Herzen). Vollkommenes, vollkommen Erscheinendes jedenfalls, begegnet vielen Leuten von Zeit zu Zeit, in mannigfacher Gestalt – wenngleich es meistens nur einen Augenblick währt. Es schenkt Trost und wirkt wie Balsam in einer Welt, die im Ganzen und im Einzelnen gewöhnlich nach variablen Graden ihrer unüberwindbaren Unvollkommenheit erfahren wird. Die ganz aus dem Rahmen des Gewöhnlichen fallenden Gestalten des Vollkommenen mögen sich historisch ändern. Sie sind sowohl kulturell und sozial als auch individuell höchst verschieden. Das ist bekannt: Was einer Person vollkommen erscheint, beleidigt Sinn und Verstand der anderen, tut der dritten regelrecht in der Seele weh und verursacht der vierten körperliches Unbehagen. Wo die einen angezogen werden und flugs in den Bann geschlagen sind, wo sie Schönes oder Erhabenes wahrnehmen, vom Faszinosum oder Tremendum sprechen, reiben sich die anderen die Augen und langen sich an den Kopf. Vielleicht dreht sich ihnen der Magen um, so dass sie sich abgestoßen und angewidert fühlen, voller Ekel und, soweit die Kraft der Auflehnung reicht, voller Empörung abwenden. Fest steht, dass es sie gibt, die Vollkommenheit, nach menschlichem Ermessen jedenfalls, und sei sie noch so ephemer: in der Natur, in der Kunst und Wissenschaft, in der Religion bzw. im Erleben der Gläubigen (siehe für eine Darstellung religiöser Vorstellungen von Vollkommenheit im Zusammenhang mit Optimierungsprozessen Arnold, in diesem Band), in der Liebe, in der Sexualität oder anderen Gefilden ekstatischer Erlebnisse, aber auch in den eher profanen Stunden des gemeinen Alltags finden sich jene erfüllten und beglückenden Augenblicke, in denen Menschen entzückt sind und entrückt erscheinen, auf manche sogar verrückt wirken mögen, eben weil sie des vermeintlich Vollkommenen gewahr und teilhaftig geworden sind in einer seiner zahllosen Gestalten. Vielleicht sind es solche Momente, die aus dem Menschen, vielen jedenfalls, ein Wesen machen, das sich nach Vollkommenheit sehnt,

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nach vollkommenen Momenten von Zeit zu Zeit – und das nach diesen Augenblicken strebt und manchmal alles in seiner Macht stehende tut, um sie zu erhaschen oder zu schaffen, sei es durch ‚Arbeit‘ an der materiellen, sozialen oder ideellen Welt, sei es durch ‚Arbeit‘ am eigenen Selbst. Vielleicht mag dieses ganze Unternehmen auch gar nicht so sehr den Charakter des Arbeitens annehmen, also weniger der poiesis, dem herstellenden Tun, gleichen als vielmehr der praxis, dem Handeln im engeren Sinn.15 Dann nimmt es eher den Charakter eines spielerischen Zugangs zur Welt und zum Selbst an, eines spielerisch bleibenden Umgangs mit den Dingen und Geschehnissen, seinen Ergebnissen und Folgen. Zum Spielerischen gehört nicht nur der eigentümlich zweckfreie Charakter des Tuns, sondern auch die Tatsache, dass dieses Tun zwischen Aktivität und Passivität, Handeln und Erleiden changiert, oszilliert. Vollkommenes erlebt nur, wer bisweilen ablässt vom eigenen Streben und Handeln und gelassen einhält, wer etwas lässt und zulässt, was sonst nicht ist und geschieht. Die Vollkommenheit scheint etwas zu sein – eine große Idee, ein hehres Ideal und zugleich ein leerer Signifikant –, das aus der Geschichte und Gegenwart der Menschheit kaum wegzudenken ist (Assmann/Assmann 2010). Auch im Leben zahlloser Einzelner hat es Spuren hinterlassen und entsprechend Gewicht. Das Individuum muss dabei keineswegs nur an ‚Dinge‘ denken, die über alles erhaben und für fast niemanden erreichbar sind. Vollkommenes mag sich vielmehr auch im Kleinen zeigen, in einer scheinbaren Nebensächlichkeit, einem unscheinbaren Ding, einem unbedeutenden Lebewesen oder beliebigen Ereignis, einer Geste des Gegenübers. Ernst Boesch hat das in seiner gerade auch für solche alltäglichen, dabei jedoch den gewöhnlichen Alltag transzendierenden Phänomene überaus sensiblen Handlungs- und Kulturpsychologie besonders scharf gesehen. Er hält die Sehnsucht nach Vollkommenheit für eine der tiefsten und reichsten Quellen menschlicher Motivation. Diese Sehnsucht bewegt Menschen (jenseits aller Vernunftgründe, von denen sie sich geleitet sehen). Sie treibt sie unentwegt an, ob sie das wissen oder nicht. Sie wurzelt, psychologisch betrachtet, in einer Differenz zwischen erlebter und imaginierter Wirklichkeit. Boesch spricht diesbezüglich auch von einer

15 Zur Kritik dieser aristotelischen Unterscheidung, an der noch die Philosophie unserer Zeit festhält (so etwa Hannah Arendt), (vgl. Müller 2010: 47 f).

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Differenz zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ (Ich und Umwelt etc.). Er konzeptualisiert die Sehnsucht als Suche nach einem neuen Gleichgewicht, einer durch Akkomodation oder Assimilation angestrebten transformierten Balance, die das Leiden am Mangel verringert. Das Phantasma des Imaginierten hält Menschen auf Trab, gerade weil und solange die Sehnsucht allenfalls momentweise erfüllbar, im Grunde jedoch unstillbar ist. Die Sehnsucht nach Vollkommenheit steht in Boeschs Psychologie einem Begehren und Wünschen nahe, das allein durch das Sterben und den Tod aufhört zu sein – und manchmal just dagegen antritt, gegen die Verletzlichkeit, Vergänglichkeit und Endlichkeit des Menschen und andere ‚Makel‘ seines Lebens. Psychologisch betrachtet schafft diese Bewegung, wäre sie dereinst erfolgreich, die Bedingung der Möglichkeit von Sehnsucht ab.16 Vollkommenheit ist nicht nur in motivationspsychologischer Perspektive ein Thema ersten Ranges, sondern auch für die Emotionspsychologie überaus wichtig. Das Vollkommene weckt dabei keineswegs nur ‚positive‘, angenehme Gefühle. Die Scham gehört wohl zu den psychologisch wichtigsten Aspekten aller Diskurse und Praktiken, die sich um Vollkommenheit sowie die darauf abzielende Optimie-

16 Es ist leicht zu sehen, dass Boeschs psychologische Anthropologie einem Menschenbild verpflichtet ist, das Ähnlichkeiten mit psychoanalytischen Vorstellungen aufweist (trotz aller teils beträchtlichen, ausnahmslos wichtigen theoretischen Unterschiede im Einzelnen; vgl. zur Psychoanalyse die auf wahnhafte Vollkommenheitsideale bezogene Skizze von Andreas Kraft (2010). Boeschs (1991) „Symbolic action Theory and Cultural Psychology“ präsentiert den Menschen als ein Lebewesen, das sich (bewusst, vorbewusst oder unbewusst) nach Vollkommenheit (Ganzheit, Gleichgewicht, Harmonie etc.) verzehrt, ohne diesen Zustand jemals dauerhaft zu erreichen. Der Mangel und das daraus erwachsende Begehren und Wünschen bleiben konstitutiv, die Risse und Brüche einer stets gefährdeten, verletzbaren und zerbrechlichen Seele bilden den Kern dieser psychologischen Anthropologie (vgl. dazu Straub 2005, 2000; Straub/Weidemann 2007). Grundzüge dieses (expliziten oder impliziten) Menschenbildes finden sich heute freilich in vielen theoretischen Ansätzen, verstreut über zahllose Texte aus allen möglichen Disziplinen. Man lese etwa den ersten Absatz von Jan Assmanns (2010: 65) Abhandlung über „Mythen der Unvollkommenheit, Mysterien der Vervollkommnung“ im alten Babylon und andernorts.

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rungen des Menschen drehen. Es ist das libidinös besetzte, vielleicht fetischisierte Ideal des Vollkommenen und Perfekten (in Gestalt des zur unerreichbaren Norm erhobenen ‚Supermenschen‘, oder auch in Gestalt Gottes, der bewunderten Maschine, usw.), die den unvollkommenen Menschen in die für vielfältige Gefühle der Scham höchst anfällige Rolle des homo perfectibilis drängt. Regina Ammicht Quinn (2010) bezeichnet Stigma und Scham als eine Art Negativ von „herrschenden Vollkommenheitsansprüchen unterschiedlichster Art“ (ebd.: 41), das tief im Selbstgefühl und Selbstbewusstsein von Personen verankert und deren Erleben und Handeln stark prägen kann (auch im Sinne eines in den Habitus von Gruppen und die dispositionelle Struktur von Individuen inkorporierten, unbewussten Motivs). Die Autorin, die sich zunächst dem biblischen Mythos vom Ursprung der Scham widmet, begreift die Beschämung als allgemeine Kulturtechnik zur „Hervorbringung des Vollkommenen“ (ebd.: 42). Sie behandelt das Thema nicht in psychoanalytischer Perspektive und hält doch Einsichten bereit, die auch dazu bestens passen. Die Nähe zu Erving Goffmans mikrosoziologischer und sozialpsychologischer Theorie der Stigmatisierung zeigt bereits der Titel des Aufsatzes an. Das „Stigma als Scham-Auslöser“ ist an die in bestimmten historisch-gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftskonstellationen dominierende Ideal-Norm gekoppelt, die sich freilich wandeln kann. Goffman hatte 1963 einen „einzigen komplett nicht-errötenden Menschen in Amerika“ vor Augen, nämlich den „jungen, verheirateten, weißen, städtischen, heterosexuellen protestantischen Vater mit Studienabschluss, voll beschäftigt, mit guter Haut, schlank, groß, sportlich“ (Goffman 1975: 173, zit. nach Ammicht Quitt 2010: 47). Auch Post- und TranshumanistInnen unserer Tage laborieren nicht zuletzt an einer neuen Norm des vollkommenen Menschen und damit uno actu an einer neuen kulturellen Strategie zur Stigmatisierung und (ritualisierten, automatisierten) Beschämung aller von dieser Norm abweichenden, bloß gewordenen und mehr oder weniger zufällig gewachsenen, nicht jedoch am Maßstab der Norm perfekt gemachten, fabrizierten Personen. Ammicht Quinn erblickt in Vollkommenheitsdiskursen, die einer absoluten Norm verpflichtet sind, zerstörerische Machenschaften, ja sogar (etwas vage und überzogen) „Herrschaftsinstrumente, die folterähnlich funktionieren können“ (ebd.: 45). Das mehrfach erwähnte Beispiel Helmut Dubiels ist im Übrigen auch deswegen bemerkenswert, weil seine Scham am überlieferten, unserer le-

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bensweltlichen Praxis (noch) eingeschriebenen Wert personaler Autonomie Maß nimmt, also gerade nicht am Vollkommenheitsideal eines total technisierten und in seiner perfekten Funktionalität mechanisch hergestellten und gesteuerten (multiplen) Selbst. Selbst wer von Idealen der Vollkommenheit ablässt, wer diese für hoffnungslos überzogen, für unbescheiden und obendrein für ungesund hält und sich deswegen einfach mit dem Besserem begnügt, steht nicht still. Das relativ Bessere ist nicht nur der Feind des absolut Vollkommenen, es ist auch sein Diener und Handlanger. Die Verbesserung ist die bescheidene Schwester der Vervollkommnung. Das Bessere fungiert im Zeichen der Vervollkommnung und avisierten Vollkommenheit selbst dann, wenn diese Vollkommenheit als unerreichbares Ideal oder bloß regulative Idee gilt, vielleicht sogar als unfasslich und unaussprechlich imaginiert wird, als ein in paradoxer Weise reales und zum Verschwinden verdammtes, in ewig weiter Ferne liegendes Phänomen (ein Geheimnis, würden manche wohl sagen). Wer in der Sehnsucht nach Vollkommenheit einen unbändigen Wunsch, ein unstillbares Begehren erkennt, einen viele Handlungen (unmerklich) motivierenden Beweggrund, wird auch in den neueren und neuesten, technisch vermittelten und auf die Technisierung des Selbst und des Lebens abzielenden Formen der Optimierung einfach eine menschliche, allzu menschliche Neigung zur Verbesserung des Bestehenden sehen. So argumentieren häufiger (und mit schütteren Begründungen) post- und transhumanistische Visionäre (Nick Bostrom oder Julian Savulescu etwa), die die neuen technischen Möglichkeiten dementsprechend auf einem Kontinuum ansiedeln, in dem sich auch gymnastische Übungen, sportliches Training oder Meditationstechniken finden. Qualitative Unterschiede zwischen traditionellen, überkommenen Formen der Verbesserung und solchen der (zumal biooder neuro-)wissenschaftlich fundierten, technischen Optimierung hervorzuheben, ist indes wichtig. Unter solchen wissenschaftlich-technischen Optimierungen im engeren Sinn sollte man „gezielte und basale technische Eingriffe“ begreifen, die eine Veränderung „der menschlichen Konstitution über etablierte Maßstäbe und Grenzen hinaus“ bezwecken (Woyke 2010: 22). Objekte solcher Maßnahmen sind gesunde Menschen, deren physische oder psychische Merkmale manipuliert werden sollen. Manchmal geschieht das, wie gesagt, mit dem Zweck, in die Gefilde eines post- oder transhumanen Lebewesens vorzustoßen, das den alten Menschen zwar noch beerbt, ihn aber mit des-

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sen eigenen Mitteln um Längen geschlagen und schließlich hinter sich gelassen hat. Dieses post- oder transhumanistische Menschenbild hat dann allerdings mit Boeschs Vorstellung vom Menschen als einem nach Besserem und Vollkommenen strebenden Wesen nicht mehr viel gemein. Es ‚klingt‘ schon ganz anders. Menschen, ihre Gehirne wie ihre Körper insgesamt, sind für trans- oder posthumanistische Autoren eben nichts anderes als komplexe, ja wunderbare, jedoch noch allzu unzulängliche, fehlerhafte und störungsanfällige, einstweilen sogar ‚sterbliche‘ Apparate. Aufgrund der innerhalb eines bestimmten Sprachspiels (z.B. des materialistischen und physikalischen, des nachrichtentechnischen, informationstheoretischen und kybernetischen) angestellten Vergleiche lassen sich selbstverständlich strukturelle Verwandtschaften und funktionale Ähnlichkeiten ‚feststellen‘. Aus diesen (offenbar theorieabhängigen) Feststellungen wird hier allerdings der weitgehende, ja totalisierende (ontologische) Schluss gezogen, Menschen seien im Prinzip, partout und absolut nichts anderes als Maschinen. Diese technophile Mechanisierung und totale Maschinisierung des ‚seelenlosen‘, auch von seinem organischen Körper und Leib befreiten Humanen führt in den populären Texten von Ray Kurzweil (2005) zur Prognose einer Zukunft des abgeschafften Menschen im Jahr 2099: Dann nämlich werde so gut wie „die gesamte Menschheit als Simulationen in Computer integriert sein“ (Krüger 2010: 109). Diese Integration wäre offenkundig ein Sieg der computationalistisch reduzierten Ratio über die Seele, den Leib und Körper eines fortan überwundenen Menschen, mithin jene post- und transhumanistische „Herrschaft der informationsverarbeitenden Einheit über die Materie“ (ebd.: 125), die in entscheidender Weise durch die moderne Kybernetik ermöglicht wurde (vgl. dazu auch Becker 2010; Hayles 1999; Heims 1981). Die Konzeption einer leib- und körperlosen Informationsverarbeitungsmaschine verbindet sich längst mit der Biologie und anderen Lebenswissenschaften unserer Tage. Daraus erwächst eine Allianz gegen den natürlichen Tod des Menschen. Es sind heute vor allem die avantgardistischen LebenswissenschaftlerInnen, die den Traum von der Unsterblichkeit eines die Evolution des Lebendigen selbst steuernden ‚Menschen‘ träumen. In den aktuellen Arbeiten von BiologInnen wird der in der Kybernetik virtualisierte Körper vollends bezwungen. Er gerät zur beliebig manipulierbaren Verfügungsmasse eines

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„technisch immortalisierten Geistes“ (Krüger 2010: 127), dessen Einsichten im Bereich der Genforschung ganz neue Aussichten eröffnen. Leuten wie Freeman Dyson (Physik, Wissenschaftstheorie), George Church (Genforschung) oder J. Craig Venter (Biologie, Genforschung) wird es nach eigener Einschätzung in wenigen Jahren gelungen sein, das Genom nicht mehr bloß ‚lesen‘ zu können, „sondern auch neue Genome zu schreiben“ (so Dyson, zit. nach Weinberg 2010: 131). Dieses Schreiben geht Hand in Hand mit Möglichkeiten des Menschen-Machens, an deren Horizont sogar unsterbliche Lebewesen erscheinen.

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AUF DIESEN

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Zum Schluss dieser Einführung und als Vorgeschmack auf das Kommende werden die Gliederung des Bandes in vier Teile erläutert und die Themen der einzelnen Beiträge skizziert. Die Unterscheidung zwischen dem ersten Teil („Biotechnologische Manipulationen und Politisierungen des Körpers“) sowie dem zweiten Teil („Psychologische und religiöse Verbesserungen der Seele“) folgt der in dieser Einführung vorgenommenen Differenzierung zwischen zwei verschiedenen, jedoch keineswegs unverbundenen Objekten von Optimierungen und Normierungen, nämlich der Physis und der Psyche. Im ersten Beitrag wendet sich Nora Ruck der Schönheitschirurgie zu. Sie zeigt, dass in diesem Feld körperverändernder Praktiken sowohl die Optimierung als auch die Normalisierung zentrale Motive der involvierten AkteurInnen sind – sie möchten nicht nur schöner, sondern auch normaler sein. Das Ansehnliche spielt hier dem angesehenen Mittelmaß in Form des statistischen Mittelwerts in die Hände. Katja Sabisch-Fechtelpeter nimmt die Werbekampagne für die Impfung gegen den „Humanen Papilloma Virus“ in den Blick und führt den Begriff des „Biopop“ zur Bezeichnung eines popkulturellen Handelns ein, das Optimierungen des Menschen durch massenmediale Vergnügungen herbeizuführen versucht. Jürgen Straub setzt sich mit verschiedenen, auch begrifflichen Aspekten der Lebenswissenschaften, der Biomacht und der Bioethik auseinander und konstatiert einen weitreichenden Mangel sozial-und kulturwissenschaftlicher Forschung in diesem Bereich. Sodann entwickelt er eine (forschungsprogrammatische) psychologische Lesart des Versuchs von Jürgen Habermas, auf

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der (sowohl kulturellen als auch subjektiven) Basis einer prospektiven, philosophisch höchst voraussetzungsvollen Form der Empathie mit sog. Designerbabies mögliche Folgen einer „positiven Eugenik“ abzuschätzen und zu bewerten. Im zweiten Teil des Bandes stehen Optimierungen der Psyche und die dazugehörigen Institutionen der Psychologie, Psychotherapie und Religion im Fokus. Jens Elberfeld zeichnet am Beispiel der Familientherapie nach, wie sich die Psychotherapie im Laufe des 20. Jahrhunderts von einem sozialräumlich begrenzten Phänomen zu einer breitenwirksamen „Technologie des Selbst“ entwickelt hat. Gala Rebane stellt die Frage, ob die Essstörung Anorexia nervosa nur als psychische Störung oder auch als Phänomen der Selbstoptimierung zu interpretieren sei. Sie zeigt auf, dass Anorexie viele Gesichter hat und unter anderem als parareligiöse Selbstoptimierung, Entleibung, Vergeistigung, Krankheit oder Freiheit aufgefasst werden kann. Anna Sieben stellt einen kritischen Vergleich zwischen psychologischen Optimierungsdiskursen im Behaviorismus und der Humanistischen Psychologie an und zeigt, welche Rollen Geschlechtlichkeit und Sexualität in diesen Diskursen einnehmen. Roland Kipke kritisiert, dass sich die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften hauptsächlich mit technischen Optimierungen des Humanen auseinandersetzen und dabei aus dem Blick verlieren, dass Optimierungen durch veränderte Lebensführung und Arbeit an sich selbst den größten Teil der tatsächlich stattfindenden Optimierungen ausmachen. In seinem Beitrag entwickelt er einen Begriff der Selbstformung, der solche Verbesserungen mentaler Dispositionen zu umfassen vermag. Roland Reichenbach greift in seinem Beitrag die Optimierungszumutungen und „Dilettantismusüberwindungsaufforderungen“ der Gegenwart an und stellt ihnen das nicht zu optimierende, dilettantische Subjekt entgegen. Maik Arnold erörtert religiös motivierte, auf dem christlichen Bild des „besseren Menschen“ beruhende Optimierungen von Anderen und Fremden im Zuge der religiösen Mission. Die Grenze zwischen den Teilen drei und vier dieses Bandes verläuft folgendermaßen: Unter dem Titel „Verdatete Normalisierungen und Optimierungen“ gruppieren wir Beiträge, die sich für die Übertragung von informationstechnologischen und statistischen Modellen auf den Menschen und die damit einhergehende Vorstellung seiner Optimierbarkeit und Normierbarkeit interessieren. Jürgen Link präsentiert in seinem Beitrag das von ihm entwickelte Konzept des Normalismus,

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mit dem er ein Regime der Regulierung auch von Optimierungsprozessen auf der Basis statistischer Verdatung bezeichnet. Normalismus stützt sich auf Praktiken der quantitativen Registrierung, Kontrolle und Adjustierung. Stefan Rieger stellt der seriellen Datenverarbeitung und ihrer Begrenztheit durch den sogenannten bottleneck ihre optimierte Variante, die parallele Verarbeitung entgegen. Er zeigt auf, dass die Entwicklung von der Serialität zur Parallelität sowohl für Optimierungen des Menschen als auch für jene der Technik relevant war und ist, wobei sich beide Bereiche gegenseitig inspirieren. Die Beiträge im vierten Teil („Literarische Entwürfe und Praktiken des besseren Menschen“) wenden sich dem optimierten Humanen in der schönen Literatur zu. Marie Guthmüller analysiert in vergleichender Perspektive zwei autobiographische Schriften, die beide von therapeutischen Erfolgen berichten: „Prozac Diary“ von Lauren Slater und „Les mots pour le dire“ von Marie Cardinal. Dabei untersucht sie, welche Auffassungen von Krankheit, Gesundheit, Optimierung und Authentizität in diesen Texten verhandelt werden. Ralph Köhnen nimmt Texte von TagebuchschreiberInnen von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart unter die Lupe. Er versteht diese Autobiographien als „Selbstpoetik“, als Schöpfung des oder der Schreibenden selbst – auch im Dienste der Optimierung (des Selbst). Agnieszka Komorowska und Jörn Steigerwald erörtern anhand der Lektüre des Romans „Les particules élémentaires“ von Michel Houellebecq, inwieweit Verhandlungen zwischen den Wissenschaften und den Künsten über Menschenbilder möglich sind, die mit bestimmten Optimierungen des Humanen einhergehen. In allen Beiträgen tauchen jene Aspekte der Optimierung und Normierung von Menschen wieder auf, welche in dieser Einführung erörtert und einer gewissen Systematisierung unterzogen wurden. Es versteht sich von selbst, dass die mitwirkenden Autorinnen und Autoren zahlreiche Überlegungen und Perspektiven hinzufügen, die die Grenzen unserer einführenden Sondierungen des interessierenden Feldes weit überschreiten und weitere Differenzierungen nahe legen.

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der technologischen Verbesserung des Menschen, Bielefeld: transcript, S. 21-38.

Biotechnologische Manipulationen und Politisierungen des Körpers

Zur Normalisierung von Schönheit und Schönheitschirurgie N ORA R UCK

Ich gehe in diesem Beitrag der Frage nach der Optimierung des Humanen am Beispiel einer Optimierung der menschlichen Körperoberfläche nach, die in den letzten Jahren immer gängiger geworden ist: Schönheitschirurgie. Schönheitschirurgische Eingriffe sind mittlerweile so alltäglich geworden, dass Abigail Brooks (2004) von einer ‚Normalisierung‘ spricht. Auch einer Definition der American Society of Plastic Surgeons (2007), durch die die Schönheitschirurgie von der sogenannten Rekonstruktiven Chirurgie unterschieden werden soll, lässt sich die wichtige Stellung der Kategorie ‚Normalität‘ entnehmen. Rekonstruktive Chirurgie – also Wiederherstellungschirurgie – werde demnach an ‚abnormalen‘ Strukturen des Körpers vorgenommen, welche durch angeborene Defekte, Entwicklungsanomalien, Traumata, Infektionen, Tumore oder Krankheiten verursacht worden seien. Sie solle die Funktionsfähigkeit eines Körperteils oder Organs verbessern, könne aber auch dazu dienen, den ‚devianten‘ Körper an eine ‚normale Erscheinung‘ anzunähern. Ästhetische Chirurgie (auch Schönheitschirurgie genannt) werde dagegen an sogenannten ‚normalen‘ Strukturen des Körpers ausgeübt, um sowohl das Aussehen als auch den Selbstwert der PatientInnen zu ‚verbessern‘. Wie Kathy Davis (2003a) gezeigt hat, tun sich SchönheitschirurgInnen allerdings schwer damit, jenen Bereich von Normalität zu bestimmen, der zwar als medizinisches Kriterium daher kommt, aber letztlich immer auf eine sozial konstruierte Normalität der äußeren Erscheinung hindeutet. So fand Davis (1995) in Interviews mit Frauen,

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die sich für einen schönheitschirurgischen Eingriff entschieden hatten, dass es diesen mehrheitlich darum ging, normal zu sein und nicht, wie gemeinhin über schönheitschirurgische Eingriffe kolportiert, schöner zu sein. Aus diesen Interviews beziehe ich eine meiner zentralen Fragen: Wenn jene Frauen sich verschönern lassen, um normal zu sein, ist unsere gegenwärtige Normalität dann die, schön zu sein und immer schöner zu werden? Auf den ersten Blick erscheint diese Vermutung paradox, da Schönheit dem Alltagsverständnis nach etwas Außergewöhnliches, und nicht etwas massenhaft Produzierbares und damit ‚Normales‘ ist. Um mich dieser Paradoxie genauer widmen zu können, werde ich mich im Folgenden von der alltagssprachlichen Bedeutung der Begriffe ‚normal‘ und ‚Normalisierung‘ lösen und sie mit Jürgen Link (2009) normalismustheoretisch fassen. Mein Leitgedanke ist dabei folgender: der zentrale Komplex, in den Motive für schönheitschirurgische Eingriffe eingebettet sind, lautet Normalisierung. Ich gehe im Folgenden zuerst dem historischen Ursprung des Zusammenhangs zwischen Normalisierung und Schönheitschirurgie nach und folge dabei Michel Foucaults (u.a. 2007) Beobachtung, dass die Humanwissenschaften an der Produktion der Norm maßgeblich beteiligt waren und noch sind. Ich interessiere mich daher für die Zusammenhänge von Wissen und Macht: Der (wissenschaftlichen) Konstruktion der Norm zum einen und der handlungspraktischen Umsetzung in Disziplinierungs- und Selbstregulierungspraxen der konkreten Individuen zum anderen. Link (2009) zufolge taucht das ‚Normale‘ als Begriff zum ersten Mal im Zusammenhang mit moderner Massenproduktion und moderner Erhebung von Massendaten seit dem 18. und verstärkt seit dem frühen 19. Jahrhundert auf. Ich spüre dem Normalitätsbegriff des späten 19. Jahrhunderts in Bezug auf die äußere körperliche Erscheinung exemplarisch anhand von Francis Galtons Kompositfotografie und seiner Vorstellung der Verteilung der ‚Normalen‘ und ‚Anormalen‘ in der britischen Bevölkerung nach (Abschnitt 1). In diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass die Anfänge der Schönheitschirurgie mit dieser frühen Konzeption des ‚Normalen‘ eng verzahnt sind: Die Schönheitschirurgie ist nicht zuletzt die handlungspraktische Antwort stigmatisierter Individuen auf die (wissenschaftliche) Konstruktion einer körperlicher Norm, der sie nicht entsprechen. In einem nächsten Schritt frage ich, wie sich dieser Zusammenhang gegenwärtig ausgestaltet (Abschnitte 2 und 3), und was sich für die Frage nach der Opti-

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mierung des Humanen aus einer Betrachtung dieses Zusammenhangs gewinnen ließe. Ich folge dabei in einem ersten Schritt der wissenschaftlichen Rezeption von Galtons Kompositfotografie in der gegenwärtigen psychologischen Attraktivitätsforschung und konstatiere für diese ein Paradox, das aus einer Vermischung von ‚Normalität‘ und ‚Optimum‘ besteht (Abschnitt 2). Mit Link (2009) betrachte ich dieses Paradox dann als typisch für den ‚flexiblen Normalismus‘, demzufolge Normalisierung gerade bedeutet, sich zu optimieren. Was dies als handlungspraktische Vorschreibung für Individuen heißt, erkunde ich am Beispiel der Fernsehserie „The Swan“ (2006), in der erfolgreiche körperästhetische Selbstnormalisierungen gleichsam vorexerziert werden. Die These meines Beitrags lautet also: Sich gegenwärtig körperästhetisch zu normalisieren bedeutet, den eigenen Körper stets zu optimieren.

P ROTONORMALISTISCHE N ORMALITÄTSKONSTRUKTIONEN : G ALTONS K OMPOSITFOTOGRAFIE In den industrialisierten europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts wurden Begriffe wie ‚Bevölkerung‘ bzw. ‚Population‘ zentral, nicht zuletzt deshalb, weil die zunehmend industrialisierten Städte explosionsartige Bevölkerungssteigerungen erfuhren. Wie Foucault (1977) gezeigt hat, richteten sich die Kontrolltechnologien der Macht damals vermehrt auf Fortpflanzung, Geburten- und Sterblichkeitsraten, Lebensdauer und Gesundheit, kurz: auf die Produktions- und Reproduktionsfähigkeit des Körpers. Die Zugriffspunkte der sogenannten Biomacht konzentrierten sich dabei auf zweierlei: zum einen auf den individuellen Körper, der zugerichtet, in seiner Nützlichkeit gesteigert und in seinen Kräften weitestmöglich genutzt werden sollte, zum anderen auf den ‚Gattungskörper‘, auf dessen Regulierung als Bevölkerung die Biomacht in erster Linie abzielte. In diesem Zusammenhang gewann auch der Begriff des ‚Normalen‘ an Bedeutung (vgl. Link 2009). Charakteristisch für die spezifisch moderne Produktion und Verwaltung der Norm als Normalität ist dabei laut Foucault (2007) zum einen, dass sie nicht zuletzt durch die Humanwissenschaften bereitgestellt wurde, und zum anderen, dass sie sich auf die gleichzeitige Konstruktion von Anormalität stützt: Die

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Abweichung ist der Norm konstitutiv. Ich werde dieser Frühform der Normalitätskonstruktion – mit Link (2009): dem sogenannten Protonormalismus – nun exemplarisch anhand von Francis Galton nachgehen, der nicht zuletzt als Pionier der Normalverteilung in die Wissenschaftsgeschichtsschreibung eingegangen ist. In psychologischen Kreisen ist Galton vor allem als Urvater statistischer Prinzipien wie der ‚Regression zur Mitte‘ sowie der Zwillingsforschung bekannt. Ich konzentriere mich im Folgenden auf seine Methode der visuellen Durchschnittsbildung von Gesichtern, anhand derer sich ihm zufolge die Vererbbarkeit menschlicher Merkmale ergründen ließe. Diese Methode kann nur im Kontext der viktorianischen Gesellschaft seiner Zeit adäquat verstanden werden. Die viktorianische Gesellschaft im England des mittleren und späten 19. Jahrhunderts war nachgerade obsessiv mit der statistischen Überwachung ihrer Population beschäftigt, da die zunehmend industrialisierten Städte des britischen Königreichs, vor allem natürlich London, eine massive und explosionsartige Bevölkerungszunahme erfuhren (vgl. Pearl 2010). Zum einen zog es aufgrund der Arbeitsplätze in den Industriezentren vermehrt Menschen vom Land in die Städte; zum anderen war gerade London auch ein beliebtes Immigrationsziel. Unter den ImmigrantInnen befanden sich viele Iren und Irinnen sowie Juden und Jüdinnen. Beide Bevölkerungsgruppen bildeten Gemeinschaften mit – relativ gesehen – wachsenden politischen Interessensvertretungen und Emanzipationspotentialen. So konnten ab 1829 aufgrund des Catholic Emancipation Act (z.n. Pearl 2010) die mehrheitlich katholischen Iren unter anderem ins Parlament Einzug halten, bei parlamentarischen Entscheidungen wählen und sich in Oxbridge immatrikulieren. Zwischen 1830 und 1871 wurden diese Rechte auch auf Juden ausgeweitet. Irische und jüdische ImmigrantInnen hatten rechtlich insgesamt einen besseren Status als ImmigrantInnen aus englischen Kolonien. So war es für AfrikanerInnen und InderInnen aus niedrigen Kasten verboten, sich mit EngländerInnen zu verheiraten und sie hatten auch beinahe keinen Zugang zu legislativ oder administrativ machtvollen Positionen. Viele EngländerInnen nahmen die irischen und jüdischen ImmigrantInnen als Bedrohung in der Konkurrenz um Arbeitsplätze wahr (vgl. Pearl 2010). Anders als die relativ rechtlosen ImmigrantInnen aus den britischen Kolonien in Indien und Afrika waren irische und jüdische ImmigrantInnen dabei nicht an ihrer Hautfarbe zu erkennen. Ein

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neues Genre der physiognomischen Karikatur beschäftigte sich mit der Konstruktion angeblicher irischer und jüdischer physiognomischer ‚Typen‘, die durch physiognomische Referenzen ‚rassisch‘ kodiert wurden: „In many cases, visual depictions of the Irish and the Jews reproduced culture, but these cultural factors were labeled racial through physiognomic references“ (ebd.: 109). Juden und Jüdinnen warfen dabei ein besonderes Klassifikationsproblem auf, da sie zwar nicht wie die IrInnen aus den britischen Kronländern kamen, aber auch keinem kolonialisierten Volk angehörten. In diesem Kontext entwickelten sich die Rassentheorien eines immer fundamentaler werdenden wissenschaftlichen Rassismus (vgl. Jackson/Weidmann 2004). Die Frage danach, ob die Juden und Jüdinnen eine eigene ‚Rasse‘ darstellen, wurde heftig debattiert und auch von Galton aufgegriffen. Sir Francis Galton war ein Halbvetter von Charles Darwin und versuchte, dessen evolutionstheoretische Einsichten auf die Vererbbarkeit spezifisch menschlicher Merkmale wie z.B. Charakter oder Intelligenz anzuwenden. Galton (1883) ging davon aus, dass sich die Persönlichkeit einer Person am besten ihrem Gesicht entnehmen ließ und entwarf als Diagnoseinstrument eine Methode, welche weitgehend im Einklang mit dem zeitgenössischen wissenschaftlichen Ideal einer ‚mechanischen Objektivität‘ (Galison/Daston 1992) schien: die Kompositfotografie (Galton 1878). Im Falle der Kompositfotografie hoffte Galton darauf, die (genetische) ‚Natur‘ eines fotografierten Menschen würde sich vor dem Kameraobjektiv quasi selbst entblößen. Galton ging es bei der Kompositfotografie nicht in erster Linie um die visuelle Repräsentation eines Einzelcharakters, sondern um die Extraktion von Typen bzw. etwas Typischem. Diejenigen Typen, die ihn interessierten, waren Typen der Devianz – vornehmlich Verbrecher und Kranke. Galton erstellte dementsprechend in erster Linie Komposite von Verbrechern, Kranken und rassistisch kodierten ‚Anderen‘. Zur visuellen Erstellung eines Typs fotografierte Galton mehrere Fotografien einzelner Gesichter nacheinander in dem Belichtungsvorgang, der eigentlich für ein einziges Bild gedacht ist. Somit waren alle Fotografien in einem einzigen Bild enthalten, allerdings verschwommen. Was jedoch stark heraustrat, waren die gemeinsamen Merkmale aller fotografierten Gesichter. Diese Merkmale bestimmte Galton als charakteristisch für den Typ an sich, etwa für den Typ des Verbrechers (siehe Abb. 1).

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Abbildung 1: Specimens of Composite Portraiture

Quelle: Galton, Francis (1883): Inquiries into Human Faculty and Its Development, London: Macmillan: 9.

In seinem ersten Aufsatz über die Kompositfotografie bestimmte Galton (1878) zumindest vier mögliche Anwendungen: (1) die Erstellung von ‚Rassentypologien‘, (2) den Vergleich durchschnittlicher Gesichter von Elterngenerationen mit denen der Kinder, (3) die Identifizierung der authentischsten Darstellung historischer Persönlichkeiten und (4) die Enthüllung des wahren Charakters einer Person. Zeichnungen seien der Fotografie vor allem insofern unterlegen, als sie nur jeweils einen einzigen Ausdruck zu einem gegebenen Zeitpunkt einfangen könnten. Dagegen sei die Kompositfotografie imstande, zum Kern des Charakters eines Menschen vorzudringen. In „Human Faculty and its Development“, einem von Galtons Hauptwerken, finden sich noch drei der ursprünglich anvisierten Anwendungszwecke: Portraits historischer Personen (Alexander der Große), Familienporträts und Darstellungen von (vermeintlicher) Gesundheit bzw. Krankheit sowie Kriminalität (siehe Abb. 1). Den Typus des Gesunden entfaltete Galton anhand von „officers of the Royal Engineers and privates“ (Galton 1883: 10). Die Physiognomik der Offiziere enthüllte für Galton „an expression of considerable vigour, resolution, intelligence, and frankness“ (ebd.: 10). Als Gegensatz dazu wird ein Komposit von „two of the coarse and low types of face found among the criminal classes“ (ebd.) vorgestellt, das sich aus Fotografien von Männern zusammensetzt, die für Mord und ähnliche Verbrechen oder aber für Diebstahl verurteilt worden waren.

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In seinem ersten Aufsatz über die Kompositfotografie (Galton 1878) wies Galton auf die relativ größere ‚Schönheit‘ von Kompositfotografien im Gegensatz zu Einzelfotografien hin. Zum einen läge dies daran, dass sich in den Kompositen die Irregularitäten der Einzelgesichter ausglichen, und die Kompositen daher jeweils symmetrischere Gesichtszüge darstellten. Zum zweiten war Galton davon überzeugt, dass sich eine Veranlagung nicht zwingenderweise realisieren müsse. Während das Verbrechen von den fotografierten Individuen, die als Basismaterial für die Komposite dienten, jeweils schon realisiert worden war – alle waren ja als Verbrecher verhaftet worden –, bildete das Komposit Galton zufolge nur jenen Typ Mensch ab, der eine prinzipielle Veranlagung zu Verbrechen hätte, aber noch nicht so weit verunmenschlicht wäre, als dass er das angelegte Verbrechen auch schon begangen hätte. Galton interessierte sich zumal nicht für die Variabilität individueller Verbrechen, sondern für das geteilte genetische Material, die Disposition, die alle Verbrecher gemein hätten. Für am gelungensten hielt Galton seine Komposite ‚jüdischer Gesichter‘ (vgl. Novak 2004). Damit schien ihm die Existenz einer distinkten, und damit angeblich genetisch gegebenen, sogenannten ‚jüdischen Rasse‘ bewiesen. Über diese Komposite selbst äußerte sich Galton kaum. Er bemerkte allerdings auch hier, dass die „dirty little fellows“, deren Einzelfotografien er fotographisch gemittelt hatte, in den „composites“ wunderschön, „wonderfully beautiful“ seien (Galton 1885: 243). Wiederum galt ihm der Verschönerungseffekt dabei als Effekt der Kompositierung. Galton ist ein Paradebeispiel für jene diskursive Formation, die Link (2009) als ‚Protonormalismus‘ beschrieben hat. Link orientiert sich mit diesem Begriff an Foucaults Studien zur Konstruktion von Normalität und Normalisierung, wie sie dieser unter anderem in „Überwachen und Strafen“ (1976) durchgeführt hat. Link weist jedoch darauf hin, dass ‚normalisation‘ im Französischen eine andere Bedeutung hat als ‚Normalisierung‘ im Deutschen. Das französische Original beziehe sich auf industrielle Normungen bzw. Standardisierungen. Foucault analysiert Link zufolge Methoden der sozialen Normierung, die an das Modell der industriellen Normierung angelehnt sind. Dabei geht es nicht zuletzt um einen Dreischritt ‚Minimalschwelle/ Durchschnitt/Optimum‘. Diese Normierungen hängen also eng mit den im 19. Jahrhundert entwickelten statistischen Methoden zusammen. In einer Elaboration von Foucaults Normalisierungskonzept schlägt Link

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schließlich eine terminologische und historische Differenzierung vor: protonormalisitische Dressur versus flexibel-normalistische Selbstadjustierung. Der Protonormalismus ist ein historischer Normalisierungskomplex, der durch seine enge Anbindung an die Konzeption der ‚Norm‘ charakterisiert ist (vgl. Link 2009). Damit ist gemeint, dass Normalität nicht ausschließlich statistisch erhoben wurde und damit in ihrer Abhängigkeit vom empirisch Vorfindlichen relativ flexibel wäre, sondern an fixe und unveränderbare Grenzwerte zwischen dem ‚Normalen‘ und dem ‚Anormalen‘ gebunden wurde (sogenannte „Stigma-Grenzen“; ebd.: 137). Der Protonormalismus produzierte somit „reine Exklusionen“ (ebd.) und fixe anormale Identitäten, die mit Abstammungsidentitäten gleichgesetzt wurden. Er kannte ein nur enges Normalitätsspektrum, während sein Anormalitätsspektrum recht breit war. Der wissenschaftlichen Produktion fixer Normen und Abweichungen, wie sie durch Galtons Kompositfotografie exemplifiziert sind, korrespondierten Dressurstrategien, die staatlich reguliert waren: „Tendenz zur Formation des Fascio durch den Staat“ (ebd.: 58). Als statistischer Komplex ist der Protonormalismus an der Gauß‘schen Glockenkurve orientiert. Mit den Offizierskompositen einerseits und den Verbrecherund Krankenkompositen andererseits hat Galton jene Physiognomien visualisiert, die sich in der Glockenkurve jeweils rechts und links des Durchschnittsbauchs der Kurve eintragen ließen. Der Durchschnitt der britischen Bevölkerung – die NormalbürgerInnen – bleiben unsichtbar, sie waren für Galton auch nur insofern interessant, als sie sich in Richtung Optimum verschieben lassen sollten.

R EALITÄTSEFFEKTE DES P ROTONORMALISMUS : E UGENIK UND S CHÖNHEITSCHIRURGIE Galtons Norm- und Devianzdiskurs war direkt auf Realitätseffekte angelegt, indem er mit einem soziopolitischen Entwurf zur Regulierung und Disziplinierung der Bevölkerung einherging. In Galtons Vorstellung verteilten sich die Individuen einer jeden Population um den Durchschnitt, und diesen Durchschnitt galt es in seinem soziopolitischen Programm der Eugenik zu verbessern. Der Begriff ‚Eugenik‘ tauchte in „Human Faculty“ (Galton 1883) zum ersten Mal auf, nicht aber das Programm, das Galton damit im Sinn hatte. Schon 1873 hatte

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er in dem Essay „Hereditary Improvement“ unter dem Begriff ‚viriculture‘ behauptet, es sei „feasible to improve the race of man by a system which shall be perfectly in accordance with the moral sense of the present time“ (Galton 1873: 116). Mit der Bestimmung einer Verbesserung der menschlichen Gattung in Übereinstimmung mit dem ‚moralischen Geist‘ seiner Zeit bezog er sich auf die führende Rolle der katholischen Kirche. Als Galton „Human Faculty“ verfasste und er den Begriff der Eugenik prägte, war jedoch in Kreisen, in denen die Darwinsche Evolutionstheorie stark rezipiert wurde, die Autorität der Kirche schon erodiert. Galton konfrontierte die religiösen Autoritäten zu dem Zeitpunkt schon offen: „He [man; NR] ought therefore, I think, to be less diffident than he is usually instructed to be, and to rise to the conception that he has a considerable function to perform in the order of events, and that his exertions are needed. It seems to me that he should look upon himself more as a freeman, with power of shaping the course of future humanity, and that he should look upon himself less as the subject of a despotic government, in which case it would be his chief merit to depend wholly upon what had been regulated for him, and to render abject obedience. The question then arises as to the way in which man can assist in the order of events. I reply, by furthering the course of evolution.“ (Gaton 1883: 18)

Sobald sich also der Mensch von den Fesseln der Evolution befreit habe, könne er deren Gang selbst in die Hand nehmen. Auf die selbst gestellte Frage, wie dies vonstattengehen solle, gab Galton (1904) zwanzig Jahre später in einem Vortrag die Antwort: indem Eugenik selbst die Funktion einer Religion übernähme. Dafür entwarf Galton ein Dreiphasenmodell: Zunächst müsse die Eugenik als akademische Frage anerkannt werden. Sodann müsse die praktische Umsetzung dieser akademischen Erörterung mit gebührendem Ernst in Angriff genommen werden. Und schließlich müsse die Eugenik wie eine neue Religion im Nationalbewusstsein der EngländerInnen verankert werden, damit diese auch freiwillig zum Erhalt der ‚Rasse‘ ihren Beitrag leisteten. Dabei ging Galton davon aus, dass der Evolution selbst schon eine eugenische Stoßrichtung eingelagert sei, die durch eine Konkurrenz zwischen verschiedenen ‚Rassen‘ gekennzeichnet sei:

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„It has, indeed, strong claims to become an orthodox religious tenet of the future, for eugenics cooperate with the working of nature by securing that humanity shall be represented by the fittest races. What nature does blindly, slowly, ruthlessly, man may do providently, quickly and kindly.“ (Galton, 1904: 82)

Die Eugenik selbst müsse zunächst auf einem Schritt aufbauen, in dem das Überleben der Stärksten als Tatsache anerkannt sei. Die Evolutionstheorie (vor allem aber der Sozialdarwinismus, z.B. sensu Herbert Spencer) solle somit die Metaphysik als Ontologie ablösen, auf welche sodann die Evolutionstheorie als neue Religion aufbauen könne. Nur so könnte die Eugenik im Nationalbewusstsein verankert und könnten Menschen dazu gebracht werden, nicht in ihrem eigenen Interesse zu handeln, sondern im Interesse der ganzen ‚Rasse‘. Die britische ‚Rasse‘ etwa, so Galton, sei nicht so gut an ihre Umwelt angepasst, wie sie es sein sollte. In ihrem Interesse sollte der aktuelle Durchschnitt der britischen ‚Rasse‘ durch jenen ersetzt werden, der sich als Idealtypus wohl durch das Komposit der Offiziere veranschaulichen ließe. Dafür schlug Galton eine sogenannte ‚positive Eugenik‘ vor, der zufolge die Reproduktion der ‚positiven Abweichung‘ gesteigert, die der ‚negativen Abweichung‘ jedoch reduziert werden sollte. Galton spekulierte dafür über den Nutzen eines Verbots von Ehen, die vom eugenischen Standpunkt aus unvorteilhaft seien, und die Stimulierung solcher Ehen, die der Verbesserung des britischen Durchschnitts Vorschub leisten sollten. Würden sich ‚eugenisch passende‘ Frauen zu einem früheren Zeitpunkt verheiraten und ihre fruchtbare Lebenszeit reproduktionstechnisch voll ausschöpfen, so würden die ‚guten‘ VertreterInnen der britischen ‚Rasse‘ die ‚schlechten‘ bald überwiegen. Was bedeutete nun die Ausschlusslogik des Protonormalismus für diejenigen, die auf der Seite der ‚negativen Abweichung‘ verortet wurden, und welche Handlungsoptionen eröffneten sich ihnen? Neben dem politischen Kampf um Emanzipation und die Anerkennung von Bürgerrechten finden sich zu jener Zeit auch Strategien, die eher auf individueller Ebene angesiedelt waren: Die derart Stigmatisierten – vor allem IrInnen und Juden und Jüdinnen, nicht nur in England, sondern auch in anderen Ländern – wendeten sich immer öfter an Plastische ChirurgInnen, um nicht mehr als Angehörige einer ausgeschlossenen Gruppe erkennbar zu sein, sondern als Angehörige der gesellschaftlich dominanten Gruppe ‚durchzugehen‘. Sander Gilman (1999) prägte dafür den Begriff des passing. Signifikanterweise zielten viele chirur-

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gische Verfahren der frühen Schönheitschirurgen auf konstruierte Zeichen ‚rassischer‘ Differenz ab, also z.B. auf die angebliche ‚jüdische Hakennase‘ oder die angebliche ‚irische Boxernase‘. Allerdings waren die meisten dieser Operationen zum Scheitern verurteilt. Wie Link (2009) betont, waren die Stigma-Grenzen des Protonormalismus maximal undurchlässig. Und Gilman formuliert: „[T]here is no hiding from the fact of a constructed difference. There is no mask, no operation, no refuge“ (Gilman 1998: 78). Richard Levins und Richard Lewontin (1985) merken über die Evolutionstheorie an, dass diese im 19. Jahrhundert durch Ideologien von Fortschritt und Optimierung getragen war. Zentral für eine evolutionstheoretisch gedachte Optimierung ist dabei, dass sie sich als selektive Reproduktion und damit als Weitergabe bestimmter Merkmale an die nächsten Generationen vollziehen muss um evolutionstheoretisch interessant zu sein. Um Galtons Normalitäts- und Abweichungsdiskurs an die zentrale Frage nach der Optimierung des Humanen rückzubinden, ist diese bei Galton – und im wissenschaftlichen Rassismus im Allgemeinen – eine Angelegenheit, die sich erstens auf Ebene gesellschaftlicher Gruppen und zweitens erst verzögert in der nächsten Generation abspielt. In Galtons eugenischen Phantasien bedeuten Fortschritt und die Optimierung des Human daher, dass ganze Bevölkerungsgruppen, die als entweder ‚anormal‘, ‚normal‘ oder ‚optimal‘ kodiert wurden, in ihrer Fortpflanzung so reguliert werden sollten, dass sich der Durchschnitt der Bevölkerung langfristig Richtung Optimum verschieben solle. Die Einheit dieser Verschiebung sind immer ganze Bevölkerungsgruppen, während die Position der Individuen in ihrer eigenen Lebensspanne relativ unveränderbar bleibt. Auch die (bestehende oder mangelnde) Handlungsfähigkeit der Individuen zentriert sich in dieser Form der Biomacht (vgl. Foucault 1977) ganz auf ihre (zu zügelnde oder zu erhöhende) Fortpflanzung. In Ansätzen zeigt sich hier auch schon, dass die Regulierung der Bevölkerung vermehrt als Selbstregulierung der einzelnen Individuen konzipiert wird: Galtons Eugenik soll nicht über Zwang wirken, sondern aus quasi-religiöser Überzeugung resultieren. Wichtige Effekte tätigt dabei die Koppelung von Optimierung und Fortpflanzung. Indem die Optimierung an der menschlichen Fortpflanzungstätigkeit ansetzt, werden die Effekte der Optimierung in die nachfolgenden Generationen aufgeschoben.

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G EGENWÄRTIGE R EZEPTION DER K OMPOSITFOTOGRAFIE : V ERSCHIEBUNG DES N ORMALITÄTSBEGRIFFS Gegenwärtige Selbstnormalisierungen sind im Gegensatz zu der Normalisierung eines Protonormalismus gleichsam immanenter: Sie setzen am Individuum an, sie betreffen das Individuum und ihre ‚Früchte‘ lassen sich in einer einzigen Lebensspanne ernten. Die Regulierung der Bevölkerung, die für Foucaults (1977) Begriff der Biomacht so zentral ist, wird dabei auch nicht mehr als Generationenfrage gehandhabt und jeweils in die Nachkommenschaft aufgeschoben, sondern betrifft alle Lebensäußerungen eines jeden Individuums; sie gipfelt in einer radikal flexibilisierten Sicht auf ‚Gene‘ und der damit zusammenhängen Aufforderung, die eigene genetische Ausstattung zu optimieren. Zum einen zeigt sich darin, dass der Normalitätsbegriff durchlässiger wird, was die Position der Individuen angeht – Individuen können, wie Link (2009) betont, heute in einer einzigen Lebensspanne von Anormalität zu Normalität wechseln – er bekommt auch einen zeitlichen Vektor, der für jedes Individuum immer schon bedeutet, sich selbst zu optimieren (vgl. Ruck 2011). Die Verschiebung von einer Regulierung der Bevölkerung zur Selbstregulierung, die nicht zuletzt mit einer Flexibilisierung des Normalitätsbegriffs einhergeht, spiegelt sich auch in der Rezeption der Kompositfotografie in der gegenwärtigen psychologischen Attraktivitätsforschung wieder. Ich lege im Folgenden einen historischen Kontrast an Galtons Kompositfotografie und seine protonormalistische Konstruktion von Norm und Abweichung an, indem ich einer Rezeptionslinie seiner Methode in die gegenwärtige psychologische Attraktivitätsforschung folge. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Normalisierung der Schönheitschirurgie interessiert mich dabei vor allem, wie die Norm, die solchen chirurgischen Veränderungen zugrunde liegt, hergestellt wird, und wie der Zusammenhang zwischen Normalisierung und Optimierung beschaffen ist. Zur Beantwortung dieser Frage gehe ich in dem darauf folgenden Abschnitt mit der Reality Makeover Show namens „The Swan“ auf eine mediale Vorführung offenbar gelungener körperästhetischer Selbstnormalisierungen ein. Während sich die psychologische Attraktivitätsforschung noch in den 1970ern Jahren eher einer Stereotypenforschung verschrieben hatte, in der danach gefragt wurde, ob und warum schönen Menschen

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auch positive Charaktermerkmale zugeschrieben werden, sind PsychologInnen seit den frühen 1990ern dazu übergegangen zu untersuchen, was Menschen an anderen Menschen schön finden, sie versuchen also, die Merkmale von Schönheit selbst zu erforschen. Lang war dabei die These von Judith Langlois und ihren KollegInnen an der University of Texas dominant, dass schöne Gesichter durchschnittliche Gesichter seien (z.B. Langlois/Roggman 1990). Diese These konnte erst mit modernen Untersuchungstechnologien entwickelt werden, mit der Möglichkeit nämlich, für psychologische Untersuchungen durchschnittliche Gesichter sozusagen zu ‚generieren‘. Die Technologie, die dafür eingesetzt wird, nennt sich Morphing. Dabei wird der Durchschnitt einer Reihe von Fotografien von Gesichtern digital gebildet. Im Gegensatz zu Galtons Methode der Kompositfotografie, deren Prinzip auch dem wissenschaftlichen Einsatz des Morphings zugrunde liegt, erfolgt die Mittelung hier allerdings mathematisch bzw. anthropometrisch. Im Fall von Langlois (Langlois/Roggman 1990) wird die Fotografie in viele Felder von Grauschattierungen aufgeteilt, denen jeweils mathematische Werte zugewiesen werden. Sollen zwei Gesichter gemittelt werden, werden jeweils die Mittelwerte aller Grauwerte berechnet. Aus diesen Werten wird der mathematische Mittelwert errechnet, und in der Folge werden die Koordinaten in eine visuelle Repräsentation ‚rückübersetzt‘. Dieses somit gemittelte Gesicht wird dann von Versuchspersonen auf seine Attraktivität hin bewertet. Was bei so einem Verfahren als Nebenprodukt dieser Technologie geschieht, ist, dass individuelle Eigenheiten und Unregelmäßigkeiten verschwinden. Ein Durchschnittsgesicht ist somit immer auch ein besonders symmetrisches Gesicht. Langlois und Roggman kommen also schließlich zu der Annahme, dass besonders attraktive Gesichter besonders symmetrisch seien. Galton hatte in Bezug auf die Komposite von Verbrechern und jüdischen Kindern genau darauf hingewiesen, und er wird unter der Überschrift „Galton’s meat eaters“ von Langlois und Roggman auch in der Diskussion ihrer Ergebnisse zitiert: „In the 1800s, a number of articles and commentaries were published on composite portraits created by Galton and Stoddard in which they superimposed photographic exposures of faces […]. The apparent purpose of these composite portraits was to create graphic representations of types of faces. Galton enjoyed creating composites of criminals, meat-eaters, vegetarians, and tuberculosis patients. […] Although both Galton and Stoddard noted that the composites

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were ‚better looking‘ than their individual components because ‚the special villainous irregularities in the latter have disappeared‘ (Galton, 1878, p. 135), their observations were not pursued systematically until now. The data provided here offer empirical evidence that composite faces, at least those of a group of predominantly Caucasian males and females, are indeed attractive and are rated as more attractive than are the individual faces comprising the composite.“ (Langlois/Roggman 1990: 118)

In geradezu bemerkenswerter Geflissentlichkeit lesen Langlois und Roggman über den in Galtons Werk ganz unverkennbaren Zweck und Anwendungsbereich der Kompositfotografie hinweg und erkennen in der visuellen Erstellung von Typen den tautologischen Zweck der Erstellung von Typen. In Unkenntnis des Originals könnte man den zitierten Autor für einen harmlosen und leicht versponnenen Exzentriker halten, der sich seine offenbar reich vorhandene Freizeit mit dem Fotografieren von Fleischessern vertrieb. Galtons Hauptsujets, nämlich Kriminelle und Kranke sowie rassistisch definierte Andere, scheinen dabei zum beiläufigen Nebenprodukt wissenschaftlicher Genussfähigkeit zu werden. Legt man der Galton-Rezeption einen ahistorischen Wissenschaftsbegriff zugrunde, so kann man sich auch tatsächlich mit Langlois und Roggman nur wundern, warum Galton seine ‚interessanten Beobachtungen‘ über die überlegene Schönheit der Komposite gegenüber den Fotografien von Einzelgesichtern nicht systematisch weiter verfolgt hat. Historisch betrachtet liegt der Grund wohl eher darin, dass er sich in seiner Situiertheit im Normalisierungskomplex seiner Zeit schlichtweg nicht so sehr für ‚Abweichungen nach oben‘ interessierte, und zu denen gehört ja die Schönheit streng genommen. Vielmehr war Galton damit beschäftigt, diejenigen Typen visuell zu identifizieren, die langfristig ausgeschlossen werden sollten, und aus diesem Grund fuhr er sich auf ‚negative Devianz‘ ein. Die Frage danach, in welchem Verhältnis der mathematisch errechnete Durchschnitt der attraktiven Gesichter (Langlois/Roggman 1990) zum tatsächlichen Durchschnitt der Realbevölkerung steht, führt in ein Paradox, da der Kernthese von Langlois und Roggman zufolge durchschnittliche Gesichter besonders attraktiv seien. Diese These spielt mit der alltagssprachlichen Bedeutung von durchschnittlich als ‚alltäglich‘: Attraktive Gesichter seien ‚nur‘ durchschnittlich, und daher erstens nicht so besonders und zweitens gar nicht unerreichbar. Es wird damit der Eindruck vermittelt, besonders attraktive Gesichter be-

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fänden sich in einem Durchschnittsbereich der Gauß’schen Glockenkurve – jenem Bereich, der etwa gemeint ist, wenn von durchschnittlicher Intelligenz gesprochen wird. Einer solchen Konzeption von Durchschnittlichkeit müssten fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung entsprechen, von denen es dann positive und negative Abweichungen gäbe. Das gilt aber natürlich nicht für attraktive Gesichter. Das Paradox kommt nicht zuletzt dadurch zustande, dass die durchschnittlichen Gesichter, die in solchen Studien bewertet werden, technologische bzw. methodische Artefakte darstellen, die in der Realbevölkerung so nicht existieren. Das Maß an Symmetrie derartiger Gesichter entspricht einem Prototyp, den es so nicht gibt. Wichtiger noch ist aber, dass hier zwei verschiedene Normalverteilungen vorliegen: die Normalverteilung der Attraktivitätsbewertungen und die der Grauwerte. Was nun in der Normalverteilung der Grauwerte im dicken Bauch der Glockenkurve landet, wird bei den Schönheitsbewertungen im rechten auslaufenden Rand einer anderen Glockenkurve platziert. Was also durchschnittlich ist an diesen offenbar so besonders attraktiven Gesichtern, das sind die mathematisch bestimmten Koordinaten ihrer Gesichter, nicht die Tatsache, dass sie hohe Attraktivitätswerte bekommen. Genau besehen gehört jedoch genau dieses Paradox zur Logik des flexiblen Normalismus (Link 2009), welcher in erster Linie dadurch gekennzeichnet ist, dass Normen statistisch ermittelt werden und somit dynamischer und eben flexibler sind. Individuen werden nicht mehr (nur) a priori feststehenden Gruppen zugeordnet, sondern sind vor allem durch ihre jeweiligen Positionen auf unterschiedlichen Normalverteilungen definiert: etwa als ‚durchschnittlich attraktiv‘ in der Normalverteilung der Attraktivität, als ‚überdurchschnittlich intelligent‘ in der Normalverteilung der Intelligenz etc. Im Gegensatz zum Protonormalismus können Individuen im Laufe ihres Lebens jedoch ihre Position auf der Normalkurve verändern; so kann durch eine Schönheitsoperation die körperliche Attraktivität verändert werden oder durch gezieltes ‚Intelligenztraining‘ die Werte in einem Intelligenztest. Zudem wird die Anpassung an die Norm den Subjekten selbst überantwortet. Link spricht in diesem Zusammenhang von ‚Selbstadjustierungen‘. Gerade für eine Normalisierung in Form einer Selbstadjustierung ist es notwendig, dass die Norm, zu der hin sich die Subjekte normalisieren sollen, gleichermaßen als Ideal – in diesem Fall: als Überdurchschnittlichkeit – vor ihnen steht.

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Das Paradox, das ich ausgebreitet habe, ist nun richtiggehend paradigmatisch für diesen Normalisierungskomplex in Bezug auf Schönheit. Sich ästhetisch zu normalisieren heißt nämlich gerade, in jenen Bereich zu streben, der eigentlich nicht normal ist, nämlich in Richtung Schönheit. Dass Überdurchschnittlichkeit dabei als gar nicht so besonders und eigentlich leicht erreichbar kommuniziert wird, hat hier eine wichtige motivationale Funktion. Wenn sich allerdings alle am Bereich der Überdurchschnittlichkeit orientieren und dahingehend nach Selbstoptimierung streben, führt dies langfristig zu einer Verschiebung der Normalitätsgrenze: Was einst als ‚durchschnittlich attraktiv‘ galt, wird dann ‚unterdurchschnittlich‘ und das ‚Überdurchschnittliche‘ wird zum ‚Durchschnitt‘.

E IN B EISPIEL KÖRPERÄSTHETISCHER S ELBSTNORMALISIERUNG : „T HE S WAN “ Ich möchte nun in meinem nächsten und letzten Schritt einen medialen Idealtypus einer solchen Verschiebung vorstellen. Mit Link (2009) können wir sagen, dass hiermit ‚erfolgreiche‘ ästhetische Normalisierungen vorexerziert werden. Es handelt sich dabei um eine Spielart sogenannter Reality Makeover Shows. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass Menschen – zumeist Frauen – vor der Kamera, also realiter, von einem Schönheits-ExpertInnenteam durch kosmetisch-chirurgische Eingriffe, aber auch durch sogenannte ‚nicht-invasive‘ Eingriffe wie ein neues Styling oder Makeup ein ‚neues Selbst‘ verpasst wird (vgl. Wegenstein 2007). Nach dem ersten Format, „Extreme Makeover“, sprossen derartige Serien reihenweise aus dem Boden der USamerikanischen, mit einiger Verspätung auch der deutschen Medienlandschaft. 2004 schließlich wurde von Nely Galán, einer Amerikanerin kubanischer Herkunft, „The Swan“ vorgestellt. Die Shows sind zudem meist auch Game-Shows, das heißt, dass die Bewerberinnen gegeneinander antreten und zum Beispiel in „The Swan“ nur diejenige zum ‚Schwan‘ gekrönt wird, die ihre Verwandlung vom ‚hässlichen Entlein‘ zum Schwan am besten gemeistert hat. Diese Fernsehserien stehen im Kontext einer Normalisierung der Schönheitschirurgie (vgl. Brooks 2004). Die Anfänge der Plastischen Chirurgie finden sich in jener im ersten Abschnitt beschriebenen Praxis, die in erster Linie durch Rassismus und sozialen Ausschluss kon-

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stituiert wurde, und durch die Angehörige sozial stigmatisierter Gruppen durch plastische Chirurgie versuchten, sich visuell an die Mehrheitsgesellschaft anzupassen (vgl. Gilman 1999). Seit ca. den 1950er Jahren lassen sich schon Normalisierungen der Schönheitschirurgie beobachten (vgl. Haiken 1997). Die beiden Weltkriege hatten vor allem in den USA einen großen Bedarf an Rekonstruktiven ChirurgInnen stimuliert. Als Stellungskriege exponierten diese Kriege besonders die Gesichter der Soldaten in den Schützengräben. Die dadurch entstehenden Entstellungen wurden von Rekonstruktiven ChirurgInnen so gut es ging operativ gemildert. Dem geringen Ansehen der Schönheitschirurgie innerhalb der Medizin zum Trotz mussten sich viele Rekonstruktive ChirurgInnen in den Nachkriegsjahren neue Betätigungsfelder suchen – und entdeckten die weibliche Mittelschicht als Zielpublikum für ästhetische Eingriffe. Mit dieser Zielgruppe lag zum ersten Mal eine Bevölkerungsgruppe vor, die, wie Elizabeth Haiken (1997) es ausdrückt, sowohl Muße als auch die finanziellen Mittel hatte, sich vermehrt für ihre Wirkung nach außen zu interessieren. Die Werbung jener Zeit spiegelte die intendierte Zielgruppe wieder: Die technische Vorgehensweise der ChirurgInnen wurde darin etwa mit dem Nähen von Kleidungsstücken verglichen, die Operation mit dem Saubermachen der Wohnung, wobei der eigene Körper zum Gegenstand der Reinigungsbewegungen wurde. Es sollten gar nicht in erster Linie Menschen mit sogenannten Missbildungen angesprochen werden, sondern alle Personen und vor allem Frauen, die sich einen schönheitschirurgischen Eingriff leisten konnten. Bis heute sind schönheitschirurgische Eingriffe in erster Linie als Phänomen einer aufstiegsorientierten weiblichen (vorwiegend amerikanischen) Mittelschicht und zunehmend auch ArbeiterInnenschicht zu begreifen. Körpergeschichtlich betrachtet ist der Körper zu einem Besitztum geworden, in dessen Instandhaltung jedes Subjekt selbst investieren muss (siehe dazu auch Duden 1991). Die berühmte Fernsehserie „Extreme Makeover“, die seit 2002 vom amerikanischen Privatsender ABC produziert wurde und eine ganze Welle von sogenannten Reality Makeover Shows lostrat, findet sich nicht umsonst in zwei Varianten: In der ersten Spielart werden vor allem Frauen dabei begleitet, wie sie ihrem Körper eine Rundum-Erneuerung zukommen lassen. In der zweiten Variante – „Extreme Makeover Home Edition“ – werden Eigenheime umgestaltet.

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„The Swan“, der Höhepunkt der Makeover Shows, war ein unvergleichlicher Erfolg. Allein die erste Staffel 2004 wurde von 10 Millionen AmerikanerInnen verfolgt (vgl. Wegenstein 2007). 300.000 Amerikanerinnen bewarben sich um die Teilnahme an Staffel 2. Auch die Handlungskoppelung der Reality Makeover Shows war offenbar erfolgreich: 2004, auf dem Höhepunkt der Makeover Shows, stiegen kosmetische Eingriffe in den USA um ganze 44 Prozent auf insgesamt 11,9 Millionen Eingriffe. Während jedes Intros zu den einzelnen Folgen von „The Swan“ fasst eine männliche Stimme knapp zusammen, worum es in der Show geht: „In the most unique competition ever, a group of ordinary women hand over their lives to a team of cosmetic and plastic surgeons. They will be put through a brutal 3 months makeover for the chance to become beauty queens. Each week, two contestants will be transformed, but only one will be judged beautiful enough to move on to the pageant. One transformation requires discipline, sacrifice, and pain. They will be constantly evaluated. And they will do all this without ever seeing their reflection. Until the final reveal. All in the quest to be crowned ‚The Swan‘.“ (The Swan 2006: Intro zu jeder Folge)

Jede Episode der Serie, die insgesamt zwei Staffeln umfasst, beginnt mit einer Videoeinspielung zur Vorstellung der beiden Kandidatinnen vor einem ExpertInnenteam, das zumeist aus zwei Schönheitschirurgen, einer Zahnärztin, einer Psychotherapeutin, zwei FitnesstrainerInnen und der Produzentin Nely Galán besteht, die gleichzeitig auch Coach für die Bewerberinnen ist. Die meisten Einspielungen zeigen unglückliche junge Frauen, die darüber erzählen, dass und wie ihr Aussehen ihr Leben behindere. Die überwiegende Mehrzahl von ihnen ist verheiratet oder in einer fixen Partnerschaft, berichtet aber über Probleme, mit ihren Partnern intim zu sein. Eltern, FreundInnen und Partner der Kandidatinnen erzählen zumeist von deren geringem Selbstwert. Die Kandidatinnen sind ausnahmslos heterosexuell und entstammen zumeist einem ArbeiterInnenmilieu. Während der gesamten zwei Staffeln, die 32 Bewerberinnen umfasste, wurden nur zwei Afroamerikanerinnen und zwei Latinoamerikanerinnen aufgenommen. Galán erzählte Bernadette Wegenstein in einem Interview, es wäre für die Serie schlichtweg zu kompliziert und unrentabel gewesen, das komplexe Thema ‚Ethnizität‘ zu behandeln (Interview für Wegenstein/Rhodes 2007).

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Während der Videoeinspielungen sehen die ZuschauerInnen oftmals die Reaktionen der ExpertInnen, die nach der Einspielung jeweils Einschätzungen abgeben. Die beiden Schönheitschirurgen sprechen beinahe ausnahmslos davon, Gesicht und Körper femininer zu gestalten. Das heißt zum Beispiel konkret: die Augen zu öffnen, die Nase zu verkleinern, den Mund zu vergrößern, und an ein paar Stellen Fett abzusaugen um die ‚Definition‘ von Gesicht und Körper zu erhöhen. Unweiblichkeit kann sich an diversen Körperstellen manifestieren, zum Beispiel am Übergang von den Knöcheln zu den Waden. Zeichnet sich hier kein deutlich ausdefinierter Übergang ab, spricht der Fachjargon von ‚cancles‘, einer Mischung aus ‚calves‘ [Waden] und ‚ancles‘ [Knöcheln], die als sehr unfeminin bewertet werden. Während der Besprechung der ExpertInnen werden immer wieder Einblendungen gezeigt, in denen der gescannte Körper der Teilnehmerin in ein Raster eingespannt ist und Schwachstellen hervorgehoben werden. Die Psychotherapeutin schließlich diagnostiziert zumeist einen zu geringen Selbstwert und die Trainer skizzieren den Trainingsplan. Abbildung 2: Eine Kandidatin im Makeover-Raster

Quelle: The Swan (2006, Staffel 1, Episode 1: 00:10:27).

Das Makeover erfolgt schließlich in einer dreimonatigen Zeitspanne, während derer die Kandidatinnen von ihren Familien und FreundInnen getrennt sind und sich nur der ‚Transformation hingeben‘ – eine Hingabe, die allerdings von ihnen beinharte Selbstdisziplin fordert. Nach den schmerzhaften kosmetischen Operationen mit relativ kurzer postoperativer Erholungszeit müssen die Frauen ins Fitnesscenter und dort unter Beweis stellen, wie sehr sie die Transformation wirklich wollen.

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Außerdem muss strenge Diät gehalten werden. Gleichwohl das Fitness-Regime quasi-totalitär ist, hängt alles am Willen der einzelnen Kandidatin, sich der ‚Transformation zu unterwerfen‘. Die erste Staffel wird denn auch von Rachel Love-Fraser gewonnen, weil sie am meisten zur Unterwerfung bereit war. Rachels Fall ist normalismustheoretisch vielsagend. In ihrer Videoeinspielung beschreibt sich Rachel als: „I feel average. Because when I look in the mirror, that’s what I see“ (The Swan 2006, Staffel 1, Episode 1: 00:08:00ff). Die Gesichter der ExpertInnen verraten daraufhin Mitleid. Als sie allerdings selbst von ihrem Ehemann als ‚normal‘ beschrieben wird, wechselt die Stimmung im ExpertInnenteam zu blankem Entsetzen und Mitgefühl. Wörtlich hat der Ehemann gesagt: „She is a little average. But when she’s happy, she’s a very beautiful person“ (ebd.: 00:08:09ff). Die Einspielung findet außerdem den Grund für Rachels mangelnden Selbstwert in ihrem Vater. Dieser habe ihren Lehrern geraten, nicht zu viel von Rachel zu erwarten. Außerdem beschreibt der Vater Rachel als eine „female copy of me“ (ebd.: 00:08:19) – worauf die ExpertInnen wiederum mit Entsetzen reagieren. Für Rachel wird ein Makeover-Plan entworfen, der allein für das Gesicht besteht aus: Nasenoperation, Lippenaufspritzen, Kinnimplantat, Augenbrauenlifting, Fettabsaugung, einigen Sitzungen beim Dermatologen. Für ihren Körper sind außerdem vorgesehen: Brustlifting und Fettabsaugung an fünf verschiedenen Körperstellen. Bei der Zahnärztin werden ihre Zähne gebleicht und professionell gereinigt, außerdem bekommt sie ein ganzes Set ‚da Vinci Veneers‘ [Auflagen für die Zähne]. Als Fitness-Regime werden zusammengefasst: eine 1200 Kalorien pro Tag-Diät, zwei Stunden intensives Kardio- und Gewichtstraining pro Tag, Psychotherapie und Coaching. Rachel gewinnt nicht nur in ihrer Episode gegen Kelly Alami, sondern wird auch zum Swan der ersten Staffel gekrönt. Die ExpertInnen sind sich einig, dass sie den Sieg verdient hat, weil sie sich am besten in das Transformationsregime gefügt hat. Rachel war außerdem diejenige, deren Normalität vor dem Makeover am meisten herausgestrichen wurde, und sie war die einzige, die von einer Frau, die die Kopie eines Mannes war, in eine ‚wirkliche‘ Frau transformiert wurde.

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Abbildung 3: Marnie Vorher/Nachher

Quelle: Galán, Nely (2004): The Swan Curriculum, New York: Harper Collins: 28-29.

Abbildung 4: Composite aus Marnie mit Cindys Nase und Kristys Mund

Quelle: Digital touch up von Glenn Feron G.C.F. Graphic Fantasties.

Deutlich wird nach der Analyse von „The Swan“ also, dass die Kategorie der Normalität der negative Horizont des gegenwärtigen Körperbildes geworden ist, während gleichzeitig hier aber Normalität produziert wird. Das Leitthema von „The Swan“, das aus dem OFF jeweils

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zu Beginn der Sendung formelhaft wiederholt wird, lautet dann auch: „a group of ordinary women [...] will be put through a brutal 3 months makeover for the chance to become beauty queens“ (The Swan 2006: Intro zu jeder Folge). Das positive Leitbild besteht in jener Abweichung von der Normalität, die durch Schönheit – beauty queens –und einen bunten Mix an Attributen, die damit assoziiert werden, gestellt wird: Selbstdisziplin, ein gutes Selbstwertgefühl, ein erfülltes Sexualleben und nicht zuletzt eine klar erkennbare Geschlechterdifferenz. Wie Paula Villa (2008) herausstreicht, geht es bei der als hart und mühsam dargestellten Schönheitsarbeit also nicht zuletzt auch um eine Weiblichkeitsarbeit. Ironischerweise wird der finale Schönheitswettbewerb durch eine Musik untermalt, deren Refrain die Produktion von Normalität noch einmal unterstreicht: „They all look the same“. Bernadette Wegenstein und ich haben für unseren Aufsatz „Physiognomy, Reality TV, and the Cosmetic Gaze“ von einem Graphikdesigner Nasen, Mund und Augen von drei Kandidatinnen austauschen lassen (Wegenstein/Ruck 2011). Abbildung 4 zeigt ein Vorher/Nachher Bild der Kandidatin Marnie. Abbildung 5 zeigt Marnie mit Cindy’s Nase und Kristies Mund. Die Unterschiede zwischen der operierten und der gemorphten Marnie sind kaum erkennbar: Die Kandidatinnen sind selbst fleischgewordene Komposite geworden. Sie führen außerdem beispielhaft das zeitgenössische Paradox der Normalisierung vor Augen: Während Normalität als negativer Horizont inszeniert wird, werden alle Kandidatinnen derart gleichförmig an ein Optimum von Schönheit und Weiblichkeit angepasst, dass dieses Optimum sofort zum Durchschnitt gerinnt.

K URSORISCHE A BSCHLUSSÜBERLEGUNGEN Sander Gilman (1998, 1999) hat passing als zentrale Motivation für Schönheitsoperationen beschrieben. Demnach geht es bei solchen Eingriffen darum, von einer stigmatisierten Gruppe in eine zu wechseln, die nicht stigmatisiert wird. Die Kandidatinnen von „The Swan“ berichten regelmäßig, sich stigmatisiert zu fühlen, da sie einem wahrgenommenen Schönheitsideal nicht entsprechen und sich daher nicht in die Öffentlichkeit getrauen oder nicht mit ihren Partnern intim sein können. Cressida Heyes (2007) beschreibt, wie in der Normalitätskonstruktion der Schönheitschirurgie Kollektive – das Kollektiv der

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‚Schönen‘ bzw. ‚Normalen‘ und das der ‚Hässlichen‘ – hergestellt werden, während Davis (1995) in Interview nachvollzogen hat, wie sich Frauen konkret mit diesen Kollektiven identifizieren und darunter leiden. Gilman (v.a. 1999) hat den Begriff des passing vor allem an – normalismustheoretisch gesprochen – protonormalistischen Praxen herausgearbeitet, die eng mit strikten und exklusiven Normen zusammen hängen. Zentral für diesen Komplex ist eine Vorstellung von fixen (Abstammungs-)Identitäten, die anhand von Eingriffen in die äußere Erscheinung nicht verändert werden können. Authentizität, ‚reinrassige‘ Erbfolgen sowie fixe und lesbare ‚Rassenphysiognomien‘ bilden für dieses Körperbild den positiven Horizont, gegen den sich die Schönheitschirurgie – und damit die Optimierbarkeit des Individuums – als negativer Horizont abhebt. In Zeiten des flexiblen Normalismus ist individuelle Selbstoptimierung jedoch nicht, wie in Zeiten des Protonormalismus, jenseits des Möglichen: Sie wird, ganz im Gegenteil, sogar zur bürgerlichen Pflicht stilisiert. Dass es dabei nach wie vor Grenzen der sozialen Beweglichkeit entlang struktureller Achsen der Ungleichheit gibt, will ich gar nicht in Abrede stellen. Wie Kathy Davis (2003b) beharrlich aufgezeigt hat, lenkt die Rhetorik der unbegrenzten Möglichkeiten und der individuellen Verantwortlichkeit gerade von strukturellen Ungleichheiten ab. Gleichzeitig ist die ständige Erreichbarkeit der Individuen durch Normalisierungsanrufungen auch der Dreh- und Angelpunkt gegenwärtiger Regierbarkeit. Wie Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) aufgezeigt haben, ist die Akkumulationslogik des postfordistischen Kapitalismus inzwischen so absurd, dass die sozialen Akteure durch jene Manöver zur Teilhabe an der endlosen Akkumulation motiviert werden müssen, welche einst gerade als deren Kritik formuliert wurden. So wurde dem Kapitalismus fordistischer Prägung vor allem durch die Kritik der 1968er vorgeworfen, er sei ungerecht und hindere die Menschen daran, sich selbst zu verwirklichen und ihre Potentiale frei auszuschöpfen. Was von Beobachtern der gegenwärtigen Regierbarkeiten als ‚unternehmerisches Selbst‘ (Bröckling 2007) oder ‚flexibler Normalismus‘ (Link 2009) formuliert wird, die ständige Anrufung nämlich, sich selbst als Projekt zu begreifen, sich selbst zu vermarkten, in das eigene Selbst als ‚Kapital‘ zu investieren, ja: sich vermöge dieser Selbstprojektierung zu verwirklichen, ist Boltanski und Chiapello (2003) zufolge nichts weniger als der Versuch des postfordistischen Kapitalismus, sich zu legitimieren und

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die sozialen Akteure zur Teilhabe an seinen absurden Prozessen zu motivieren. Mit der konstanten Verschiebung der Stigma-Grenze der Schönheit nach oben, also mit der ‚Normalisierung‘ von Schönheit, durch die das ‚Schöne‘ immer noch schöner und immer spezieller werden muss, um sich überhaupt noch abheben zu können, verhält es sich nicht unähnlich. Wenn der Körper – zumal der weibliche schöne Körper – zum Kapital geworden ist (vgl. Bourdieu 1987), ist die Akkumulation von Schönheit als Selbstzweck nicht mehr weit, und sie ist vor allem durch Technologien wie die Schönheitschirurgie auch erstmals in dieser Form überhaupt möglich. Insofern die Akkumulation von Schönheit als Selbstzweck zunächst einmal vollkommen absurd ist, fungieren mediale Formate wie „The Swan“ als wichtige motivationale Bindeglieder, die davon überzeugen sollen, dass das, was so absurd erscheint, so absurd nicht ist, sondern normal. Und wer möchte sich schon selbst als stigmatisiert produzieren, wenn es doch so leicht ist und nur konstanter Schwerstarbeit an sich bedarf, normal, und das heißt heute: endlos optimierbar zu sein?

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Der naturalisierte und der programmierte Mensch Lebenswissenschaften, Bioethik und psychosozialer Wandel: Psychologische Annotationen zu Jürgen Habermas’ Sorge um eine optimierende Eugenik J ÜRGEN S TRAUB

L EBENSWISSENSCHAFTEN , B IOMACHT , B IOETHIK Life sciences, Lebenswissenschaften: unter diesem Namen versammelt sich seit drei, vier Jahrzehnten eine bunte Gruppe wissenschaftlicher Disziplinen sowie trans- und interdisziplinärer Forschungsprogramme, die sich mit dem Leben, dem menschlichen zumal, in einer teilweise neuartigen Weise befassen. Lebenswissenschaften setzen eindrucksvolle Technologien frei und bedienen sich innovativer Techniken in der Forschung. Sie bereiten zahlreichen Nutzanwendungen der errungenen Erkenntnisse den Weg und eröffnen bislang unbekannte Möglichkeiten, zu diagnostischen und prognostischen, präventiven und therapeutischen oder schlicht zu ‚optimierenden‘ Zwecken ins Leben einzugreifen. Insbesondere die Biomedizin lieferte dafür in jüngerer Zeit viel diskutierte Beispiele, und sie bietet ständig weitere Aussichten auf lebenswissenschaftlich fundierte Interventionen. Sie und andere Biowissenschaften sind dabei, überlieferte Vorstellungen vom Leben massiv zu untergraben und zu verwandeln, indem sie es innovativen Formen der Manipulation und (Re-)Produktion unterziehen.

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Dieser wissenschaftlich-technische Fortschritt weckt Wünsche nach bislang ungeahnten Verbesserungen des Lebens. Gesundheit und Wohlbefinden des Menschen stehen im Zentrum von bereits angewandten Maßnahmen und noch visionären Hoffnungen, die nicht zuletzt die willkürliche Verlängerung menschlicher Lebenszeit einschließen. Der unbändige Optimierungswille, der die Biowissenschaften, -technologien und -techniken – jedenfalls nach Auskunft maßgeblicher Akteure und Apologeten – antreibt und leitet, reicht vom vorgeburtlichen Anfang bis zum Lebensende. Vieles von dem, was in diesem Feld heute getan wird oder morgen geschehen soll, ist bekanntlich umstritten. Die Lebenswissenschaften haben ein über alle Massenmedien sich erstreckendes Terrain für weltanschauliche Grabenkämpfe, ideologische und politische Strategien geschaffen, in denen es um Macht, Geld, Moral und andere Formen verwertbaren Kapitals geht. Die subtile Legitimation oder philosophische Kritik mit Mitteln der praktischen Vernunft stehen hier häufig ziemlich dicht neben den eher groben Verlautbarungen von alten Dogmatikern oder jungen Fundamentalisten, die ihre partikularen Weltanschauungen, Lebensformen und Handlungsorientierungen kurzerhand zum Maß aller Dinge erheben möchten. Die besonders umstrittenen, viel diskutierten Errungenschaften der Lebenswissenschaften reichen von der Pränataldiagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID) über die Stammzellenforschung bis hin zum Klonen. Lebenswissenschaftliche Diskurse beziehen sich bekanntlich auf weitere Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin – man denke an Techniken der medizinisch assistierten Fortpflanzung wie die Injektionsbefruchtung (Intra-cellular-semen-injection; ICSI), an die Invitro-Fertilisation (IVF) oder an Leihmutterschaften –, und sie umfassen kaum weniger heftige Auseinandersetzungen z.B. über den Hirntod, die (passive oder aktive) Sterbehilfe und Euthanasie. Diese Liste ist noch lange nicht vollständig. Überschreitet man die Grenzen der Lebenswissenschaften im engeren Sinn, finden sich im Umfeld der wissenschaftlichen Naturalisierung, Manipulation und Produktion von Leben einige andere, kaum weniger prominente Beispiele. Das alles war schon da gewesen: die Genom-Debatte, die Klonierungs- und Stammzelldebatte, die Gen-Nahrungsmittel-Debatte, die Nano-, Neuro- und Gentestdebatte oder die Euthanasie-Debatte (so lautet die gewiss immer noch vorläufige Liste bei Gehring 2006: 9).

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Die Biomedizin1 und andere Lebenswissenschaften sind Unternehmungen, die auf der Grundlage eines spezifischen Begriffs von „Leben“ operieren, teilweise neuen Zielen und Zwecken dienen und sich vielfach auf innovative, methodisch-technische Instrumente und Verfahren stützen. Der Fortschritt der Lebenswissenschaften ist mit der rasanten Entwicklung von Biotechnologien und Biotechniken verbunden, die einschneidende und nachhaltige Eingriffe in ein als körperliche, stofflich-materielle Substanz begriffenes Leben erlauben. Seit dem 18. Jahrhundert blickt die Medizin ins Innere und betrachtet körperliche Substanzen nicht zuletzt als wertvolle, vielfach verwendbare und handelbare Rohstoffe: vom Blut über die Knochen und Organe, den Samen und die Eizelle (Fortpflanzungssubstanzen) bis hin zu anderen Zellen (mit anderen Funktionen, z.B. Embryonalzellen, gentechnisch neu programmierte adulte Zellen, Nabelschnurzellen) sowie verschiedene Gewebe erstreckt sich ein kontinuierlich erweitertes „ökonomisches Expansionsfeld“ (Gehring 2006: 19, auf deren Studien ich mich in dieser Passage stütze). Dieses Feld schließt längst auch bloße Bio-Daten ein. Die augenfällige Kommerzialisierung von Körperstoffen und Körperdaten signalisiert nicht zuletzt einen radikalen Wandel der kulturellen Auffassung vom menschlichen Körper, eine mentale Veränderung der sozialen und psychischen Repräsentationen des Körpers, die sich lange vor seiner Vermarktung angekündigt und vollzogen hat. Der Körper wurde in den Händen der LebenswissenschaftlerInnen, BiotechnologInnen und BiotechnikerInnen sowie ihrer Wegbereiter mehr und mehr zu einem Rohstoff, als solcher manipulierbar, optimierbar, (wieder-)herstellbar und verwertbar. Gerade auch der menschliche Organismus wird durch diese radikale, naturwissenschaftliche Naturalisierung und produktionstechnologische Transformation anders wahrgenommen, betrachtet und behandelt als zuvor. Er wird im Zuge einer wissenschaftlich funktionalen Reduktion als stofflich-mate-

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Der tautologische Name bezeichnet speziell jene Medizin, die sich „gentechnischer und/oder zellbiologischer Methoden am Menschen bedient. Der Begriff grenzt sich gegen alle Arten von Medizin ab, die mit Krankheiten nicht-deduktiv umgehen: Gegen Wadenwickel und Akupunktur, gegen Homöopathie, aber auch gegen alle metawissenschaftlichen Bemühungen antibiotischer, psychoanalytischer oder immunologischer Art.“ (Tannert 2003: 7)

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rielle Substanz konzipiert und in seiner technogenen Qualität zugänglich, überdies in vielfachen Daten repräsentiert und in allen diesen Formen auch in anderen, nicht-wissenschaftlichen Funktionssystemen verwertbar. Petra Gehring spricht in ihren historisch-genealogischen und phänomenologischen Untersuchungen moderner Biomacht zu Recht vom Körper als einem (noch gar nicht so alten) Medium der Ökonomie (wie Geld kann man ihn zirkulieren lassen als technogene Substanz, als einen Lebens-Rohstoff, auf den unter Umständen sogar Patente angemeldet werden können). Der physische Substanzen-Körper fungiert heute ebenso als Ressource und Kapital wie der DatenKörper.2 In einer an Michel Foucaults Denken orientierten Perspektive kann man die avantgardistischen Biowissenschaften, die Biotechnologien und -techniken als ein diskursives und praktisches Feld rekonstruieren, in dem sich eine anonyme Biomacht fortsetzt und verwandelt, sukzessive ausbreitet und ihre unübersehbaren Wirkungen zeitigt (Lemke 2007, Lemke/Krasmann/Bröckling 2000). Die Folgen sind vielfältig. Nach Gehrings (2006: 129 ff.) Diagnose gehört die Bioethik in dieses Feld, ja, sie lässt sich – wenn auch mit der gebotenen Vorsicht, die die mangelnde historische Distanz zu dieser womöglich gerade erst in Vollendung begriffenen Formation gebietet – als ein eigenständiger Diskurs ganz im Sinne Foucaults individuieren. Gehrings Analysen aktueller Biomacht bringen zwar keine Befunde im Sinne der am experimentellen Paradigma orientierten Sozialwissenschaften hervor, eröffnen aber gleichwohl an intersubjektiven Erfahrungen methodisch geprüfte Einsichten einer „historischen und politischen Phänomenologie der eigenen Gegenwart“ (ebd.: 153). Diese Erkenntnisse weisen die Bioethik als einen Diskurs aus, der – in diffuser Koexistenz und Kooperation mit anderen öffentlichen Aktivitäten – mannigfache Begehren zu wecken und zu befriedigen vermag. Dazu zählt nicht allein das allseits geäußerte, rational motivierte Bedürfnis nach (möglichst

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Man denke bezüglich der zunehmenden Zirkulation, Bedeutung und Verwertbarkeit von Biodaten (Information), z.B. an Gesundheits- oder Mutterpässe (die neben physiologischen auch psychologische und Sozialdaten enthalten), an Datenströme in der jüngst wieder expandierenden Humangenetik, an das multinationale Genom-Entschlüsselungsprojekt HUGO (und konkurrierende Privatunternehmen) oder allgemein an die Biometrie.

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institutionalisierter, systematisch verfahrender) ethischer Reflexion und moralischer Argumentation auf der Grundlage eines gesteigerten Risiko- und Verantwortungsbewusstseins. Es geht also keineswegs bloß um die Aufklärung einer demokratischen Öffentlichkeit oder die nach Maßgabe der Vernunft vorgenommene Vorbereitung politischer und rechtlicher Entscheidungen über biowissenschaftlich-technische Entwicklungen. Zu den besagten Begehren mögen, wie Gehrings tastende Anfragen nahe legen, die Schau- und Angstlust ebenso gehören wie das Begehren nach Absicherung und Kontrolle, nach Spiel oder Chance. Und gewiss gehört zu ihnen das Begehren nach einer den Einflussbereich insbesondere von professionellen PhilosophInnen erweiternden Tätigkeit in einschlägigen Organisationen, Gremien und sonstigen Einrichtungen. Während sich MedizinerInnen, BiologInnen und andere NaturwissenschaftlerInnen durch ihr Fachwissen und ihre klinische Erfahrung für den bioethischen Diskurs empfehlen (Katzorke/Kolodziej 2004),3 mahnen PhilosophInnen im interessierenden Feld längst jene ethische Reflexions- und Argumentationskompetenz als eine unabdingbare Schlüsselqualifikation an, über welche gerade sie, wie sie sagen, in einmaliger, unvergleichlich professioneller Weise verfügten (Wodarg 2004). Es scheint mir unzweifelhaft, dass man Gehrings genealogische und phänomenologische Ausführungen zur Biomacht unserer Zeit als Resultate von Beobachtungen und Reflexionen lesen kann, die die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften ernst zu nehmen haben, weiterführen, ergänzen und womöglich vertiefen oder detaillieren können. Unter „Biomacht“ verstand Foucault, auf den dieser Begriff zurückgeht, „die sorgfältige Verwaltung der Körper und die rechnerische

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Diese Autoren sprechen auf der Grundlage einer repräsentativen Befragung von insgesamt gut 100 in Deutschland in der Reproduktionsmedizin tätigen Medizinern (62), (anderen) Naturwissenschaftlern (28) und medizinisch-technischen Assistenten (8) doch glatt von einem auf ethische und moralische Fragen gerichteten „Urteil, das einer gesunden (sic!) moralischen Einstellung, flankiert von breitem Fachwissen“ (ebd.: 118), entstammt! Warum die fachliche Qualifikation und Expertise die „Gesundheit“ des moralischen Urteils der Befragten verbürgen soll, bleibt freilich schleierhaft. Nach allen keineswegs schmeichelhaften historischen Erfahrungen auch mit dieser Berufsgruppe wären die Autoren da auf ein absolutes Novum gestoßen.

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Planung des Lebens“ (Foucault 1976: 166 f.), womit so unterschiedliche, vor allem im 19. Jahrhundert gebräuchlich werdende Tätigkeiten wie die medizinische oder psychiatrische Behandlung des Menschen, Schönheitsoperationen und Sozialhygiene, Ernährungspolitik und Sexualwissenschaft/-erziehung, Bevölkerungsstatistik, Geburtenplanung und Sterbehilfe, Manipulation an der genetischen Ausstattung des Einzelnen wie der Gattung verknüpft werden, mithin alle möglichen Maßnahmen zur Erhaltung, Verbesserung und Steigerung des Lebens (als einer physischen Substanz) und seiner vielfachen Ressourcen. Die Biomacht hantiert mit allseits begehrten Gütern und macht sie noch attraktiver. Sie ist eine neue und besondere, nicht repressive, gebietende und verbietende, nicht mehr nur bewahrende und stabilisierende, sondern eine auf- und anreizende, verlockende und versprechende Macht, die niemanden zu nichts wirklich zwingt und die weitgehend ohne negative Sanktionen auskommt, die Spielräume lässt und selbst flexibel und tolerant reagiert in ihrem Bemühen um subtile Lenkung, Regulierung und Kanalisierung. Diese undurchsichtige, meist unmerkliche Macht nimmt von schlichten Alternativen zwischen wahr und falsch, gut und böse etc. Abstand.4 Der Begriff „Biomacht“ erfasst den Eintritt des physischen, naturwissenschaftlich erschlossenen (und reduzierten) Lebens „in die Geschichte […], in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken“ (Foucault 1976: 169, zit. n. Gehring 2006: 12).5

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Das ist anders als im Fall früherer Formen der Macht und Herrschaft. Gehring resümiert Foucaults Differenzierung historischer Machtformen und unterscheidet demgemäß die „Pastoralmacht, die Menschenführungstechniken der mittelalterlichen Kirche“; die juridische Macht des absolutistischen Souveräns; die „Disziplinarmacht im Verwaltungsstaat des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts“, schließlich „die moderne Normalisierungsmacht“, die weder Untertanen noch Bürger braucht, sondern nur noch „eine sozialwissenschaftlich zu erschließende ‚Gesellschaft‘“ (ebd.: 11), um die sich der neue Sozialstaat in seinen verschiedenen Politikfeldern kümmert.

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Nicht mehr um den Gehorsam von Untertanen oder die Arbeitskraft von Menschen in ihrer Gesamtheit geht es fortan, sondern ganz direkt um die materielle Substanz des Lebens. Darauf richtet sich nun die Aufmerksamkeit und Anstrengung des auf wissenschaftlichen Grundlagen operierenden Staates (Ernährung, Gesundheit, Sexualität und Fortpflanzung, bald schon

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Die aktuellen Biowissenschaften mit ihren Technologien und Techniken, die sie in den allseits begehrten Dienst der auch politisch angepriesenen Lebensverbesserung und Lebensverlängerung stellen, erscheinen bei Gehring als wesentlicher Bestandteil einer „gigantische[n] Mitmach-Unternehmung, bei der die Bürger – biomedizinisch ‚aufgeklärt‘ – aus freien Stücken mittun. Biopolitik ist erziehende, informierende und ansonsten liberale Politik: Sie erobert die Herzen nicht durch Druck oder durch Strafen, sondern durch die in Aussicht gestellte ‚eigene‘ Verbesserung. Die Logik der Biomacht ist keine Repressionslogik, sondern eine Vorteilslogik, eine Logik der optimierbaren Lebenschancen, die den anderen lediglich indirekt (damit allerdings umso zynischer) diskriminiert. Biomacht kann daher Anreizsysteme setzen und mühelos Teilhaber finden. Und sie kann dies deshalb tun, weil alle ihre Diskurse jenes aggressive ‚Wissen‘ zumuten, auf dem sie beruhen: Dass man aus dem Menschenstoff selbst, aus dem lebendigen Einzelnen, sofern man ihn als biologische Masse betrachtet, etwas – und ‚mehr‘ als vorher, etwas von ‚Mehrwert‘ – machen kann. Biomacht etabliert eine Profitlogik. Jeder einzelne soll zum Nutzen seiner selbst

der Genpool, werden wichtig. Die Politik wird gewissermaßen biologisch – auch in den Schreckgespenstern des Entartungsgedankens, der Eugenik, des Staatsrassismus im 20. Jahrhundert (ebd.)). Biomacht diszipliniert indirekt, ohne evidente disziplinarische Maßnahmen, sie operiert verdeckter und paradoxer und deswegen umso wirkungsvoller. Sie setzt auf den sich selbst disziplinierenden Menschen und sein bestens ins Bild und in den Betrieb der modernen Gesellschaft passende Gefühl der Freiheit und Autonomie. Zum Verhältnis des (abstrakteren, anonymeren) Begriffs „Biomacht“ zum (stärker akteursbezogenen) Begriff der „Biopolitik“ vgl. Gehring (ebd.: 14 ff.), die ersteren vorzieht und – anders als Foucault – auf die Gegenwart anwendet und diagnostisch fruchtbar macht. Die Autorin betrachtet ihre Zeitgenossen, jene in weitläufigen und engmaschigen Netzen einer vielgestaltigen Macht konstituierten Subjekte, vor dem Horizont einer historisch bereits etablierten, sich jedoch beständig verwandelnden Biomacht, die ihre eigentliche Zeit und alles Leben durchdringenden Effekte wohl erst noch vor sich hat. Mit anderen Worten: In Gehrings auf die Geschichte gerichteter Genealogie und ihrer gegenwartsbezogenen Phänomenologie nimmt Foucaults Begriff neue Bedeutungen an – einschließlich des Risikos, aus mangelnder Distanz zu verkennen, was gegenwärtig geschieht.

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(wie zum künftigen Nutzen aller) biologische ‚Ressourcen‘ sichern, verlängern, qualitativ steigern und verschönern. Dass diese Suggestion eines Gewinnspiels erstens Risiken hat, dass es zweitens hier und jetzt stets ‚anderswo‘ oder ‚erst einmal‘ konkrete Opfer fordert (in den Menschenversuchen der Transplantationschirurgen, Laborbefruchtung, Hirnmanipulation und in den Lebenswert-Bilanzen der Sterbehilfe) und dass dieses Gewinnspiel drittens stets mit bloß prognostizierten und in biomedizinischen Termini ausformulierbaren Zukunftsgewinnen handelt, mit Angeboten also, deren individueller ‚Wert‘ im Grunde gänzlich dahinsteht, dies denkt man nicht mit.“ (Gehring 2006: 225 f.; Hervorhebung im Original)

Nun, der kritische Tenor allein adelt die gestellte Diagnose noch keineswegs, aber er entwertet sie auch nicht. Gehrings Beobachtungen und Analysen heutiger Biomacht kontextualisieren die naturalistisch begründeten Wissenschaften vom Leben und platzieren sie in einer politischen und ökonomischen Praxis, in der trivialer Weise Machtund Gewinnspiele ‚gespielt‘ werden. Sie lenken die Aufmerksamkeit im Übrigen auf andere Fragen als diejenigen, die im bioethischen Diskurs im Mittelpunkt stehen, insbesondere in jenem engeren Bereich, in welchem es um die Regulierung von Forschung und Anwendung durch rational begründete universale Prinzipien und allgemeine Normen sowie daraus abgeleitete, global oder lokal verbindliche Rechtsvorschriften geht.6 Mit dem oben angedeuteten Aufstieg der Biowissenschaften, -technologien und -techniken wandelten sich nicht nur traditionelle Auffassungen vom menschlichen Körper, sog. Körper-Bilder. Der naturwissenschaftlich-objektivierende Blick auf stofflich-materielle Körpersubstanzen (und Körperdaten) korrespondiert mit einem professionellen, z.B. medizinischen Umgang mit dem menschlichen Leben, der bereits einschneidende Transformationen unserer Erfahrungen und Erwartungen, unseres Welt- und Selbstbildes als Mensch mit sich ge-

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Die Bioethik wird mittlerweile in zahlreichen informativen Einführungen und Überblicksdarstellungen vorgestellt; siehe z.B. Düwell/Steigleder (2002); Düwell/Hübenthal/Werner (2002), u.v.a. Die angestrebte Universalität bioethischer Geltungsansprüche trotz der offenkundigen Besonderheit kultureller Lebensformen und Sprachspiele, auf deren Boden bioethisch argumentiert wird, erörtern z.B. verschiedene Beiträge in: Kettner (2004); Schicktanz/Tannert/Wiedemann (2003); Steineck/Döring (2008).

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bracht hat und noch nach sich ziehen wird. Die Bioethik unserer Tage ist als konkrete, angewandte Ethik nicht zuletzt mit diesen Folgen und Symptomen einer vielschichtig operierenden Biomacht befasst. Noch vor jedem Urteil, das in Empfehlungen oder Richtlinien (im Bereich der Politik oder des Rechts) münden mag, stehen allerdings Beschreibungen und Analysen jener beobachtbaren Tatbestände oder erwarteten Sachverhalte an, auf die sich die Urteile der Bioethik beziehen. Es gibt eine ganze Reihe von in diesem Zusammenhang wichtigen Tatsachen, deren Feststellung vergleichsweise leicht zu bewerkstelligen ist. Manches lässt sich beinahe mit den Händen greifen, bedarf also keiner ausgefeilten Methodik empirischer Sozial- und Kulturwissenschaften (zu denen ich die unten noch zu Wort kommende Psychologie zähle). Dazu gehört etwa der folgende Sachverhalt: Die Idee des ‚intakten‘, ganzheitlichen Individuums als einer leiblich-seelischen Einheit verblasst unverzüglich, wenn der Lebensstoff erst einmal als naturwissenschaftlich-technologisch konzeptualisierte und technisch handhabbare Substanz bestimmt ist (in Gestalt von Blutzellen, Anti-Körpern, T-Zellen, DNA, Zellkernen etc.) und fortan beliebig über Körpergrenzen hinweg zirkulieren kann (zum Zweck der Optimierung oder Verfertigung von Leben). Man behandelt dann eben nicht mehr Individuen oder Personen, kranke und hilfsbedürftige zumal, sondern bastelt am Leben herum. Das geschieht dann, wie ausgeführt, im Rahmen einer neuen „Ökonomie der zirkulierenden lebendigen Biomaterialien“ (Gehring 2006: 25). Solche einschneidenden Eingriffe ins Leben und bereits der ihnen zugrunde liegende Begriff des Lebens lassen unser aller Verständnis desselben, mithin unser Selbstverständnis als Menschen, nicht unberührt. Offenkundig kann man nun genauer nachfragen, was die technische und praktische Umsetzung dieser oder jener lebenswissenschaftlichen Erkenntnis den (direkt oder indirekt) betroffenen Menschen eigentlich abverlangt, wie sie sich also auf die Neuerungen mental (kognitiv und emotional) einstellen und in ihrem Verhalten umstellen müssen. Die Durchsetzung eines lebenswissenschaftlich begründeten Welt- und Selbstverhältnisses tastet unsere soziale und psychische Existenz merklich an und gräbt sie ruckartig oder allmählich, abrupt oder sukzessive um. Biomacht ist anonym, eröffnet und begrenzt aber gleichwohl ganz konkrete Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten. Sie wird von niemandem besessen, kontrolliert oder

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ausgeübt und hat doch einschneidende Auswirkungen auch auf die lebensweltliche Praxis und das Selbst- und Weltverständnis zahlreicher Menschen. Wichtig ist: Biomacht „steckt nicht erst in den Handlungen, sondern bereits in der Wahrnehmung, in der Kommunikation, im erfahrbaren Sinn“ (ebd.: 15). Sie schafft und definiert Wirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehören die Einzelnen. Sie sind viel eher deren Element und integraler Bestandteil, als dass sie ihr distanziert gegenüberstünden (und von dort aus nüchtern beobachten und effektiv kontrollieren könnten). Wer die auf dem Biomachtmarkt zirkulierenden Angebote der technisch aufgerüsteten Lebenswissenschaften annehmen will, muss das wollen und können. Beides ist keineswegs selbstverständlich. Es erfordert im Falle der einzelnen Angebote gewiss Verschiedenes. Allgemein lässt sich jedoch sagen: Dieses Mitmachenwollen und Mitmachenkönnen setzt einen Umbau nicht nur oberflächlicher Einstellungen voraus, sondern erfolgreiche Eingriffe in psychosoziale Tiefenstrukturen und bislang ziemlich selbstverständliche Lebensformen. Im Sinne Pierre Bourdieus geht es um Transformationen des Habitus und fest verwurzelter Verhaltensdispositionen. Die ‚Verlebenswissenschaftlichung‘ des Lebens geht mit einem Wandel expliziten und gerade auch impliziten praktischen Wissens einher, das bislang die dominierenden kulturellen Normalitätsvorstellungen, die verbreiteten sozialen Normen und psychischen Dispositionen geprägt hat. Es ist nicht nur der Mensch als lebendige stoffliche Substanz, der durch die im Gang befindliche Transformation anthropologischen Wissens verändert wird, sondern auch das althergebrachte Menschenbild (in allen seinen Varianten, die in den Händen der umwälzenden Biomacht näher aneinander heranrücken, gleichermaßen veralten, miteinander verblassen und zusammen verschwinden). An seine Stelle tritt neues anthropologisches Wissen, wiederum verdichtet in einem Bild vom Menschen, das sich viele aneignen und in ihr praktisches Selbst- und Weltverhältnis inkorporieren (werden). Es ist nicht nur der Körper, der behandelt und verändert wird, sondern auch das Körper-, Selbst- und Weltbild. Wer sich selbst zunehmend als körperlichen Stoff begreift, als Substanz, für deren Optimierung kontinuierlich zahlreiche neue Angebote gemacht werden (über die man sich auf dem Laufenden halten muss), der (oder die) versteht und behandelt sich in neuartiger Weise, schafft ein neues Selbst. Er (oder sie) hat Anteil an der Kreation eines neuen kulturellen Typs des menschlichen Selbst,

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das ohne die Avantgarde der Lebenswissenschaften und eine allgemeine Kultur der Optimierung gar nicht denkbar wäre. Damit eröffnet sich ein weites Untersuchungsfeld für jene empirischen Sozialund Kulturwissenschaften, welche den Menschen der Gegenwart und Zukunft in den Blick nehmen und sich so selbst auf der Höhe ihrer Zeit zu bewegen trachten.

A UFGABEN UND A BWESENHEIT EMPIRISCHER S OZIAL - UND K ULTURWISSENSCHAFTEN Der Beschreibung und Analyse dieses naturalistisch kodierten BioSelbst hat sich namentlich die Psychologie allenfalls sporadisch gewidmet. Man wird mutmaßen dürfen, dass die Klinische Psychologie und Psychotherapie zur Stelle sein werden, wenn die psychosozialen Kosten der Verlebenswissenschaftlichung des Lebens stärker und häufiger kompensiert werden müssen, als es bislang noch der Fall ist. Einen gewissen Vorgeschmack darauf gibt etwa die mit den Folgen von Organtransplantationen befasste Forschung, die bekanntlich auch von psychosozialen Abwehrreaktionen auf implantierte Organe zu berichten weiß. Was für die Psychologie gilt, trifft auch, mutatis mutandis, für andere Sozial- und Kulturwissenschaften zu. Ich halte fest: Die Wirksamkeit der heutigen Biomacht wirft sozial- und kulturwissenschaftliche Fragen auf. Deren Beantwortung liefert mitunter nicht einfach nur einen weiteren Beitrag zum Bemühen, ein wenig Licht ins Dunkel der bereits eingetroffenen Wirkungen und der (gewiss oder mutmaßlich) noch zu erwartenden Folgen der zeitgenössischen Biomacht zu bringen. Die detaillierte Beschreibung und Analyse kultureller, sozialer und psychischer Voraussetzungen, Implikationen und Folgen lebenswissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Anwendungen ist vielmehr oftmals eine conditio sine qua non für die zufrieden stellende Klärung ethischer und moralischer Fragen. Die einschlägigen Bemühungen hinken dieser trivialen Einsicht indes weit hinterher. Das interessierende Feld ist gegenwärtig eindeutig dominiert von einer Bioethik, die auf das Gespräch mit empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften – gerade auch auf ein Gespräch auf der Grundlage einschlägiger psychologischer Studien – weitgehend verzichtet und angesichts eines bislang eher dürftigen Forschungsstandes noch verzichten muss. Es ist kein

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Zufall, dass in den nationalen und internationalen, in jedem Fall interdisziplinär zusammengesetzten bioethischen Gremien diese Disziplinen kaum vertreten sind. Aufschlussreich ist etwa die Zusammensetzung des Internationalen Ausschuss für Bioethik/International Bioethics Commite (IBC) der UNESCO. Selbstverständlich hat man, wie Kollek mitteilt, auf eine gewisse Vielfalt und Ausgewogenheit bezüglich der „Repräsentanz kultureller Vielfalt, verschiedener geographischer Regionen und unterschiedlicher, für die bioethische Diskussion wichtiger Disziplinen wie z.B. des Rechts, der Ethik, der Philosophie, der Erziehungs- und Sozialwissenschaften“ (Kollek 2006: 37) geachtet. Sieht man sich jedoch die in einer Fußnote genauer aufgeschlüsselte disziplinäre Verteilung wissenschaftlicher Fachvertreter an, stößt man auf folgende Zahlen: Von den derzeit 35 Mitgliedern vertreten 8 Personen das Recht (bzw. die Rechtswissenschaft), 7 die Medizin, 6 die Biologie/Molekularbiologie, 6 die Ethik/Philosophie, 4 die Genetik, 2 die Geschichte/Sozialwissenschaften, jeweils 1 die Mathematik und Ökonomie. Durchaus bemerkenswert ist, dass in einem solchen internationalen, nicht ganz kleinen Gremium, das mit ethisch relevanten Voraussetzungen, Implikationen und Folgen der zeitgenössischen Lebenswissenschaften befasst ist, keine Stimme vertreten ist, die psychologische Dimensionen der interessierenden Transformation anthropologischen Wissens und seiner Anwendungen zu Gehör brächte. Dieses Defizit ist verblüffend, weist jedoch auf ein durchgängiges Desiderat im gesamten Diskurs hin.7

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Vergegenwärtigt man sich die einzelnen Aufgaben des IBC im Rahmen der übergeordneten Verpflichtung, die UNESCO in jenen ethischen Fragen zu beraten, welche durch die Wissenschafts- und Technikentwicklung aufgeworfen werden, fragt man sich schon, ob hier nicht manchmal psychologische Perspektiven eingenommen werden müssten, um die interessierenden Phänomene in ihrer alltagspraktischen, psychosozialen Bedeutung angemessen erfassen zu können. Zu den besagten Aufgaben gehört es z.B., „Aktivitäten und Maßnahmen zu initiieren und zu unterstützen, die zur Bewusstseinsbildung in Fragen von bioethischer Relevanz beitragen“ (ebd.: 38). Aber nicht nur das. Viele ethische Fragen betreffen ja keineswegs nur die Voraussetzungen und Konsequenzen biomedizinischer Eingriffe in den menschlichen Körper und die Verwendung körperlicher Substanzen für diagnostische, prognostische, therapeutische, wissenschaft-

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Offenkundig kann man auch fragen, was die technische Umsetzung dieser oder jener lebenswissenschaftlichen Erkenntnis den betroffenen Menschen praktisch abverlangt, wie sie sich also auf die verschiedenen Neuerungen mental einstellen und in ihrem Verhalten entsprechend umstellen müssen. Das geschieht noch zu selten. Sigrid Graumann (2004) markiert zu Recht eine gewisse Schlagseite des einschlägigen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurses z.B. über Präimplantationsdiagnostik oder Stammzellenforschung. Wer die in den Massenmedien oft spektakulär inszenierten Debatten zur Kenntnis nehme, erhalte leicht den Eindruck, „die einzig entscheidende Frage sei die nach dem ethisch richtigen Umgang mit menschlichen Embryonen. Dies ist wohl in erster Linie darauf zurückzuführen, dass der Anwendung dieser Verfahren in Deutschland das Embryonenschutzgesetz entgegensteht. Die ebenfalls wichtige Frage, welche ethisch rele-

liche, politische oder auch kommerzielle Zwecke. Sie sind vielfach ohne eine eingehende Berücksichtigung psychischer und sozialer Bedingungen und Folgen, also die mit der Behandlung des Körpers und der Verwendung von Körperstoffen untrennbar verwobenen Eingriffe in das Seelenleben und die soziale Existenz von Einzelnen und Gruppen kaum angemessen zu beantworten. Biomedizinische Eingriffe in den Körper gehen selten ohne Einfluss auf das psychosoziale Leben von Menschen vonstatten. Sie ziehen dieses in Mitleidenschaft, erleichtern oder bereichern es – vor, während und nach der medizinischen Beobachtung und Behandlung der Physis. Der Körper ist ein menschlicher Leib stets nur im Zusammenhang des psychischen und sozialen Lebens. Davon kann auch die Bioethik nicht absehen, will sie ihre Perspektive nicht von vorneherein drastisch reduzieren und so bestenfalls einen Teil des Terrains vermessen. In der Bioethik ist viel von der Würde des Menschen, von der Integrität der Person als (partiell) freiem und autonomem Individuum oder den unveräußerlichen Rechten des Menschen die Rede, deutlich weniger von den Gefühlen, von Ängsten und Hoffnungen, Verzweiflung oder prekärem Glück, von den Motiven und Wünschen jener Leute, die sich nicht nur als Nutznießer oder Opfer der experimentierenden Lebenswissenschaften und ihrer biomedizinisch-technologischen Errungenschaften sehen, sondern auch als Spielball einer intransparenten und unkontrollierbaren Biomacht erleben können, die das Leben im Namen des Lebens umwälzt – manchmal ohne den Lebenden wirklich eine Wahl gelassen zu haben.

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vanten gesellschaftlichen Folgen (z.B. für das Gesundheitswesen, für die Situation chronisch Kranker und behinderter Menschen, für die Stellung der Frau in der Gesellschaft, für das Selbstverständnis des Menschen) die Zulassung dieser Verfahren mit sich bringen würde, tritt dahinter zurück.“ (Graumann 2004: 122)

Dieser Befund ist so zutreffend wie ergänzungsbedürftig – zumal sich auch Graumann letztlich selbst nur um Fragen kümmert, die das epistemische und normative Potential des regulativen Konzepts der „Menschenwürde“ betreffen. Graumann merkt jedoch an, dass sich hinter scheinbar so speziellen Angelegenheiten wie PID oder ESF sehr viel weiter reichende, höchst komplexe sozio-kulturelle Phänomene sowie Diskurse verbergen, in denen es um „Sexualmoral, die Zukunft von Ehe und Familie, geschlechtsgebundene Rollenerwartungen und nicht zuletzt die Stellung der Frau in der Gesellschaft“ geht, schließlich auch um die Ambivalenz des wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Fortschritts für die Gesellschaft und den Einzelnen (ebd.: 124). Vielfach stehen zunächst einmal gar keine oder jedenfalls nicht ausschließlich dringend fällige Bewertungen und Urteile in ethischen und moralischen Angelegenheiten an, sondern zuallererst detaillierte empirische Bestandsaufnahmen. Die von Graumann erwähnten Aspekte öffentlicher Debatten müssen nicht immer gleich in ihren ethischen oder moralischen Dimensionen erörtert werden. Die Beantwortung der normativen Frage, wie man nach Maßgabe praktischer Vernunft entscheiden, handeln und leben solle, setzt im hier interessierenden Feld sehr häufig ein reichhaltiges empirisches Wissen über die Voraussetzungen, Implikationen und Folgen lebenswissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer Anwendungen voraus. Vielfach ist jedoch ziemlich unklar, was denn im psychosozialen Leben der Beteiligten – der verschiedenen handelnden Akteure und vor allem der von biotechnologisch fundierten Maßnahmen Betroffenen – eigentlich genau vor sich geht (vor sich gehen kann, in interindividuell womöglich höchst variabler Weise). Diese wichtige Frage wiederum bezieht sich nicht allein auf die gegenwärtige Lage, sondern erstreckt sich auf eine unbekannte, jedoch ersehnte und erhoffte oder ängstlich erwartete und befürchtete Zukunft. Es ist in vielerlei Hinsicht unklar, was heute und morgen ‚mit uns Menschen‘ passiert, wenn bestimmte lebenswissenschaftliche Forschungsprogramme realisiert und bestimmte Biotechniken an-

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gewandt werden. Selbst über das, was bereits geschieht, wissen wir eher wenig, soweit es um psychosoziale Aspekte geht. Antworten auf Fragen nach solchen Gesichtspunkten erfordern sozial- und kulturwissenschaftliche, nicht zuletzt psychologische Untersuchungen. Nur so könnte angemessen analysiert und reflektiert werden, was denn die gepriesenen und umstrittenen Fortschritte für das tagtägliche Leben und konkrete Erleben von Menschen bedeuten. Nur so ließe sich umfassend zeigen, in welcher Weise deren Denken, Fühlen, Wünschen, Wollen und Handeln berührt und verändert werden kann und mitunter schon massiv beeinflusst worden ist. Dazu gibt es erstaunlich wenige Forschungen. Verfügbare empirische Studien liefern überwiegend Umfrageergebnisse, die Auskünfte über die Akzeptanz allgemeiner biowissenschaftlicher und -technischer Fortschritte oder spezieller Forschungsprogramme und Nutzanwendungen liefern sollen. Befragt wurden und werden neben repräsentativen Stichproben aus der Bevölkerung eines Landes auch spezielle Berufsgruppen (wie im Fall einer Untersuchung der Einstellungen von Experten, die in der Reproduktionsmedizin tätig sind: Katzorke/Kolodziej, 2004). Neben bekannten methodischen Schwächen solcher Umfragen – die im Fall der repräsentativen Befragungen von Laien häufig nicht einmal absichern, ob die Befragten tatsächlich hinreichend über die Sachverhalte Bescheid wissen, über die sie Einstellungen bekunden sollen – ist das thematische Spektrum und die Reichweite solcher Studien offenkundig begrenzt. Tiefere Dimensionen der fraglichen Forschung und Praxis und ihrer lebensweltlichen Folgen bleiben in aller Regel unbeachtet. Von den gemachten oder möglichen, positiven oder negativen Erfahrungen und damit verwobenen Prozessen der Identitätstransformation bei Betroffenen und der Veränderung ihrer sozialen Beziehungen hört man wenig. Das liegt teilweise – aber eben nur teilweise – einfach daran, dass manche der bereits gefeierten Errungenschaften noch ausstehen oder bestenfalls in den Kinderschuhen stecken. In diesem Zustand nähren sie eher Hoffnungen oder wecken Wünsche, als dass sie drängende Bedürfnisse befriedigen könnten. Manches ist bloße ‚Zukunftsmusik‘. Die unübersehbaren wissenschaftlichen Fortschritte und Anwendungen innovativer biomedizinischer Techniken haben gleichwohl schon vielfältige Erfahrungen mit sich gebracht, und außerdem verlangen sie die imaginative Vorwegnahme und Reflexion zumindest

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möglicher Folgen, wenn aktuelle Errungenschaften und künftige Projekte mit guten – auch ethischen und moralischen – Gründen willkommen geheißen und gefördert oder aber abgelehnt und gestoppt werden sollen. Ein sozial- und kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, das sukzessive die hier geforderten Einsichten zu vermitteln in der Lage wäre – differenziert nach individuellen und typisierbaren Fällen –, steht bislang noch weitgehend aus. Es muss jedoch als ein dringendes Desiderat betrachtet werden, wenn Überlegungen über den lebenswissenschaftlichen Umbau überlieferter Menschenbilder und praktischer Selbst- und Weltverhältnisse nicht allein im Kreis und auf der Erfahrungsgrundlage von philosophischen und wissenschaftlichen Expertenstäben angestellt werden sollen, in spezialistischen Gremien für eine möglichst rationale Urteilsbildung und Entscheidungsfindung im Feld ethischer Fragestellungen und moralischer Dilemmata zumal. Es steht keineswegs nur eine vielfach begrüßte (und manchmal auch praktizierte) ‚radikaldemokratische‘ Ausweitung des Kreises der Diskussionsteilnehmer an, sondern auch und vor allem eine Verlagerung der Aufmerksamkeiten von Fragen des Sollens und Wollens auf Fragen des Seins und des faktischen Status Quo im Bereich psychischer und sozialer Tatbestände. Hier und da finden sich Hinweise auf die Betroffenendiskurse vor allem im World Wide Web. Sorgfältige empirische Studien – etwa nach dem Vorbild der Untersuchungen psychischer und sozialer Voraussetzungen, Implikationen und Folgen von Organtransplantationen oder anderer medizinischer Eingriffe nicht nur in den Körper, sondern in den Leib und das Seelenleben von Menschen – sucht man dagegen eher vergebens. Ich möchte im letzten Teil dieses Beitrags die antizipierte psychosoziale Bedeutung von diagnostischen, präventiven und therapeutischen Verfahren auf gentechnologischer Basis noch am Beispiel eines viel beachteten Textes illustrieren und bedenken. Man hätte auch einfachere Exempel wählen können, an denen sich obendrein die tatsächlichen, bereits eingetretenen psychosozialen Folgen und Nebenfolgen aktueller Biomacht demonstrieren ließen. Man denke etwa an die gentechnisch ins Werk gesetzten Vaterschaftstests, die kommerziell vertrieben und – vor allem von misstrauischen Vätern – bereits häufig in Auftrag gegeben werden (weit über 20.000 Mal in Deutschland schon im Jahre 2003). Solche Aufträge erfolgen nicht nur in einem Klima des Verdachts, sie schüren und stabilisieren dieses Klima

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auch erheblich – nicht zuletzt durch die möglich gewordene Aussicht, Gewissheit über die angezweifelte eigene Vaterschaft zu erlangen – ohne ins (vielleicht ohnehin überfällige) Gespräch mit der Partnerin eingetreten sein zu müssen. Das von mir gewählte Beispiel zehrt von der Vorstellung einer vielleicht möglichen, jedenfalls in Aussicht gestellten und vielfach auch angestrebten Zukunft. Als Hörer dieser ‚Zukunftsmusik‘ fungiert Jürgen Habermas, der seine Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken in dem bekannten Büchlein „Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?“aus dem Jahr 2001 dargelegt hat. Meine primär psychologischen Anmerkungen zu diesem Text ergänzen die sonst übliche Lesart im Kontext der (philosophischen) Bioethik.

M ENSCHENBILD UND GATTUNGSETHISCHES S ELBSTVERSTÄNDNIS : PSYCHOLOGISCHE A NMERKUNGEN Der besorgte Blick, den Habermas in die imaginierte Zukunft der menschlichen Natur schweifen lässt, ist keineswegs nur deswegen interessant, weil er philosophische Untiefen einer Debatte auslotet. Die Aussicht auf eine positive Ethik im Zeichen des Liberalismus und des Marktes kann sich bekanntlich auf keineswegs an den Haaren herbeigezogene Szenarien berufen, die nicht allein unser ethisches Reflexionsvermögen und unsere moralische Urteilskraft herausfordern. Sie verlangt uns mehr und anderes ab, und dies gerade auch dann, wenn wir zu wirklich umsichtigen, angemessenen und begründeten Urteilen in dieser Angelegenheit gelangen wollen. Habermas’ Ausführungen sind nicht nur deswegen bedenkenswert, weil sie uns ethische Fragen nach dem Selbstverständnis der Gattung, der einzelnen Person und speziell nach der moralischen Qualität intergenerationeller Beziehungen aufdrängen. Die Analyse der in Zukunftsszenarios beschriebenen Beziehungen, in denen Eltern sich nicht nur Kinder, und das heißt wohl so gut wie immer auch: Kinder mit bestimmten Eigenschaften wünschen, sondern sich diesen Wunsch auch erfüllen (lassen)

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können,8 bedarf zunächst einmal einer psychologischen Imagination und Urteilskraft besonderer Art. Habermas’ philosophischer Essay lässt sich entsprechend auch als eine Abhandlung lesen, in der die Leserschaft die Einübung einer ausgeprägten Sensibilität für die Situation gentechnisch manipulierter Nachkommen nachvollziehen kann. Der Autor versucht sich nämlich in einem Akt der prospektiven Perspektivenübernahme, in dem erwachsen gewordene Designerbabies sich als Wunschkinder von Eltern betrachten, die einige Eigenschaften ihrer Kinder auf dem Weg biotechnischer Eingriffe festzulegen trachteten und dabei womöglich Erfolg hatten. Habermas zeigt sich von dieser empathisch antizipierten Erfahrung irritiert und versucht, sich in das imaginierte (potentielle) Erleben der zukünftigen Betroffenen einzufühlen, als könne ihm die genetische Programmierung selbst noch widerfahren. Ohne diesen Schritt gibt es, so der Autor, kein angemessenes moralisches Urteil der interessierenden Techniken und Praktiken: „Jedenfalls können wir eine normative Bewertung nicht vornehmen, bevor wir nicht die Perspektive der betroffenen Person selbst einnehmen“ (Habermas 2001: 93).9 Dieser Akt der Empathie geht, wie könnte es anders sein, nicht ganz ohne Pathos vonstatten, und vielleicht spielen auch Projektionen der einen oder anderen Art eine gewisse Rolle. Er ist jedenfalls an subjektive (kognitive, emotionale, motivationale) Voraussetzungen vielfältiger Art gebunden – und genau deswegen psycho-

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Was natürlich bedeutet, dass dies auch rechtlich statthaft ist – was den Kern der von Habermas so genannten liberalen Eugenik ausmacht, die eben den von den Eltern frei wählbaren Eingriff in das Genom der befruchteten Eizelle vorsieht.

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Diese dezidierte Feststellung ist so wahr, wie sie eine erhebliche Schwierigkeit markiert, generell und gerade im interessierenden Fall des gedankenexperimentell vorgestellten programmierten Menschen! Niemand kennt dieses Wesen, wir alle sind auf unsere Phantasie, Imaginationskraft und unser Einfühlungsvermögen angewiesen. Die Bioethik bedarf wohl, scheint mir, sehr viel stärker einer empirischen Psychologie der Verletzbarkeit des Menschen, als es bislang wahrgenommen wird, und darüber hinaus eines gesteigerten Vermögens, sich neue Quellen von seelischen Verletzungen und Verwundungen vorstellen zu können. Es gibt keine Verantwortung für zukünftige Generationen ohne diese basale Mitleidsfähigkeit.

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logisch so interessant. Habermas’ Urteil über die imaginierte positive Eugenik setzt überaus komplexe Gedanken und Gefühle voraus, die zu verstehen (und sogar ‚virtuell‘ zu teilen) notwendig ist, will man das philosophische Bedenken wirklich begreifen und erörtern können. Die Vergegenwärtigung der subjektiven Voraussetzungen des philosophischen Statements macht dabei klar, wie sehr solche Propositionen prinzipiell von Personen abhängen, die ihre leiblichen Erfahrungen, ihre Überzeugungen und Wünsche, Sehnsüchte und Ängste in einer meistens schwer durchschaubaren und nur eingeschränkt ‚feinsäuberlich‘ analysierbaren Weise einbringen, wenn sie ethische Reflexionen anstellen und moralische Urteile fällen. Habermas’ moralische Irritationen und ethische Erwägungen beziehen sich auf das Ergebnis einer zweifellos rational motivierten Perspektivenübernahme, die das mögliche Selbsterleben und die darauf sich gründende potentielle Selbstauffassung gentechnisch programmierter Menschen vorwegnimmt. Das nun tut der Autor auf dem Boden einer ausgefeilten Theorie, die menschliche Beziehungen, soziale Beziehungen ebenso wie die Selbstbeziehung des Einzelnen, im Lichte kommunikativer Kompetenzen und, damit verflochten, autonomer Personalität betrachtet. Dieses eng mit der Theorie kommunikativen Handelns verwobene Menschenbild wird man zumindest in seinen elementaren Grundzügen als eine Auffassung ansehen können, die ‚unsere‘ (kulturell-partikulare, nicht aber die globaluniversale) Handlungs- und Lebenspraxis zutiefst prägt – ohne dass sich das in absehbarer Zeit ändern wird, jedenfalls nicht auf einen Schlag.10 Allerdings stellen sukzessive Aushöhlungen und schlei-

10 Einzelheiten von Habermas’ Begriffen der Person und der Autonomie brauchen hier ebenso wenig zu interessieren wie seine an ein ontologisches „Drei-Welten-Modell“ gekoppelte, rationalitätstheoretisch fundierte Handlungstheorie und Theorie kommunikativer Kompetenz. Es versteht sich von selbst, dass gegen diese komplexe Theorie vielfach Einwände erhoben wurden; was hier allein zählt, ist die elementare Tatsache, dass Habermas eine fest in der abendländischen Ideengeschichte und Lebenspraxis verwurzelte, normative Idee personaler Autonomie bzw. autonomer Personalität vertritt, der grundsätzlich viele zustimmen dürften – und die in der (systemischen und lebensweltlichen) Praxis moderner liberal-demokratischer Gesellschaften maßgeblich ist, mithin die allgemeinen Erfahrungen und Erwartungen durchdringt und bestimmt.

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chende Entwertungen des praktischen Welt- und Selbstverhältnisses autonomer Subjekte gerade jene von Habermas ins Auge gefasste Gefahr dar, die zu ignorieren schlicht weltfremd und obendrein verantwortungslos wäre. Was genau gibt der Autor zu bedenken, und worauf, speziell auf welche psychologischen Analysen imaginierten zukünftigen Menschseins, richten sich diese Bedenken? Eine an dieser Frage orientierte, entsprechend selektive Lektüre gelangt in etwa zu folgendem Resultat:11 Der Knackpunkt der ganzen Debatte über Bioethik liegt für Habermas im bislang nur unzulänglich durchschauten „Zusammenhang zwischen der Unverfügbarkeit eines kontingenten lebensgeschichtlichen Anfangs und der Freiheit zur ethischen Lebensgestaltung“ (ebd.: 127). Er selbst problematisiert, was andere für unbedenklich, ja sogar für ein liberales Grundrecht autonomer Erwachsener halten mögen: dass sie nämlich als werdende Eltern die

11 Man beachte in diesem Zusammenhang auch das um die Jahreswende 2001/2002 verfasste Postscriptum. Dort erwidert Habermas Anfragen und reagiert auf Einwände gegen seine vorgetragenen Überlegungen zu einer Ersetzung soziokultureller Überlieferungen, praktischer Erziehungs- und Bildungsprozesse durch eine Wirkungsgeschichte, welche die Nachgeborenen einseitig und irreversibel zu Produkten des Wunsches und Willens von Eltern macht, die sich der Expertise gentechnisch versierter Menscheningenieure bedient haben. Der Autor bewegt sich, was seine philosophische Argumentation angeht, auf dem Boden „nachmetaphysischen“ Denkens, zumindest der Absicht nach. Er will seine Sorge und Skepsis ja gerade jenen näher bringen, die (vor allem im angelsächsischen Sprach- und Kulturraum, in dem John Lockes Einfluss vergleichsweise stark ist) hoffnungsvoll auf zukünftige Erweiterungen liberaler Errungenschaften setzen und (wie etwa Thomas Nagel oder Thomas McCarthy) von biotechnischen Eingriffen keine umstürzenden ethischen oder moralischen Probleme erwarten. Habermas berichtet im Postscriptum speziell von seinen etwas pragmatischer eingestellten amerikanischen Kollegen. Diese würden längst vor dem Horizont einer aufscheinenden Zukunft des shopping in the genetic supermarket denken und sich vorwiegend mit Fragen des wünschenswerten Modus der Implementierung gentechnischer Errungenschaften und ihrer gerechten Verteilung befassen, nicht aber mit ihres Erachtens unfruchtbaren und ohnehin vergeblichen Fragen des „Obüberhaupt“ (s. Habermas 2001: Postscriptum).

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Eigenschaften ihrer Kinder festlegen dürfen, soweit ihnen dies eben möglich ist. Ob sich Eltern, so argumentieren Habermas’ Kontrahenten, in ihrem motivierten Bemühen, die qualitative Identität ihrer Kinder mit zu bestimmen, besonderer Erziehungsstile, pädagogischer Praktiken und edukativer Techniken bedienen, oder ob ihnen dabei verfügbare genetische Eingriffe zupass kommen, ist im Prinzip einerlei. Im einen Fall würden die Nachkommen so wenig gefragt wie im anderen. Beides Mal würden sie sich selbst als fremdbestimmt erfahren, ihre später errungene Autonomie als von Kontingenz und Heteronomie durchkreuzt rekonstruieren müssen. Dem nach Maßgabe elterlicher Werte und Normen und kaum reflektierter Präferenzen erzogenen, also dem im Sinne des – wie die Psychoanalyse sagen würde – identifikatorisch besetzten Wunschbildes erzogenen Kind geht es in diesem Punkt angeblich nicht anders als dem genetisch programmierten Nachwuchs. Kein Nachkomme hat, so bilanzieren die Kontrahenten von Habermas, mitreden können, als die Eltern maßgebliche Entscheidungen trafen, vom Entschluss für das Leben bis hin zum Versuch, das Kind nach eigenen Sehnsüchten, Wünschen und Vorlieben zu formen. Das gilt für Eltern, die sich (freiwillig oder gezwungenermaßen) auf ihre natürlichen Ressourcen beschränken ebenso wie für jene technisch assistierten Mütter und Väter, die auf gentechnologischer Basis Festlegungen treffen – bezüglich konkreter Merkmale wie der Augenfarbe und Körpergestalt der Kinder oder, falls das irgendwann möglich sein sollte, der Intelligenz oder emotionalen Stabilität, Offenheit oder Extraversion sowie weiterer komplexer Persönlichkeitsmerkmale.12 Wer die Sache so sieht, übersieht, so Habermas, den entscheidenden Unterschied. Während nämlich das erzogene Kind zu seiner Erziehung und ihrem Ergebnis Stellung nehmen kann, mithin sein Einverständnis zu dem von den Eltern angestrebten Bild des Kindes erklären und deren Willen in nun selbst zu verantwortender Weise fortsetzen oder aber sich ihm strikt widersetzen kann, ist das dem gentechnisch programmierten Menschen nicht möglich. Dieser ist in

12 Worum es da geht, zeigen ein kurzer Blick in ein beliebiges Lehrbuch der (Persönlichkeits- und Differentiellen) Psychologie oder auch schon lexikalische Informationen über bekannte Persönlichkeitsmodelle (wie etwa das faktorenanalytische Modell der sog. big five, die als wesentliche Persönlichkeitseigenschaften gelten).

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seinen biologischen Anlagen durch den Eingriff fremder Hand einseitig und irreversibel festgelegt. Hier gibt es nichts zu ändern und zu entgegnen und auch keine (zumindest im Laufe der Zeit erlangbare) Symmetrie und Reziprozität der Eltern-Kind-Beziehungen. Keineswegs handelt es sich in beiden Fällen einfach nur um die dem werdenden Kind ohnehin unverfügbare Kontingenz des lebensgeschichtlichen Anfangs und noch vieler weiterer biographischer Erfahrungen des Heranwachsenden, die ohne die bestimmende Anwesenheit und den Einfluss anderer gar nicht denkbar wären. Es ist keineswegs – nicht einmal ‚im Prinzip‘ – dasselbe, ob die Eltern ihrem Kind einen Vornamen verpasst haben und ihren Zögling, wiederum ohne zu fragen (und auch nur fragen zu können), in den Genuss dieses oder jenes geteilten Lebens sowie spezieller Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen haben kommen lassen, oder ob sie ihr ‚Projekt‘ schon vor der Geburt mit nach eigenem Geschmack und Gutdünken ausgewählten Spezialitäten aus dem genetischen Supermarkt versehen ließen. Ersteres mag mir als Heranwachsendem nicht gefallen, gewiss. Dazu kann ich mich allerdings verhalten. Ich kann meinen Vornamen ablegen und einen neuen, eigenen wählen. Ich kann jene Eigenschaften loszuwerden trachten, die die Eltern gerne haben sehen wollen. Das alles mag mühsam sein und nur teilweise gelingen. Es gehört dennoch zum Handlungspotential freier und partiell autonomer Subjekte, die ihr Leben, sobald sie dazu in der Lage sind, selbst in die Hand nehmen, gestalten und verantworten müssen. Letzteres dagegen, also die gentechnische Programmierung, untergräbt nolens volens die Idee freier und gleicher Subjekte sowie deren Autonomiebewusstsein (und damit die intergenerationellen Beziehungen). Habermas erörtert diese Statusänderung als ethisches, moral- und rechtsphilosophisches (und auch als konkretes rechtliches) Problem (ebd.: 153 f.). Die einschneidende biotechnische Manipulation nimmt, das ist dabei ganz unbestritten, niemandem Freiheiten, die einer Person, egal ob „natürlich gezeugt oder genetisch programmiert“ (ebd.: 132), „moralisch zustehen; aber sie berührt eine naturale Voraussetzung für das Bewusstsein der betroffenen Person, autonom und verantwortlich handeln zu können.“ (Ebd.; Hervorhebung im Original) Als mögliche Konsequenzen erörtert Habermas,

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• „dass sich programmierte Personen nicht länger selbst als ungeteilte

Autoren ihrer eigenen Lebensgeschichte betrachten, • und dass sie sich im Verhältnis zu vorangegangenen Generationen

nicht mehr uneingeschränkt als ebenbürtige Personen betrachten können.“ (Ebd.: 132 f.) Das betrachtet er als einen „potentiellen Schaden“, den er sodann genauer vermisst. Die positive Eugenik greift zwar nicht unmittelbar in die Handlungsfreiheit des programmierten Menschen ein, beeinträchtigt jedoch „den Status der künftigen Person als eines Mitglieds der universalen Gemeinschaft moralischer Wesen“ (ebd.: 133). Diese wird in ihrer qualitativen Identität festgelegt, noch bevor sie geboren wurde und „von ihrer Freiheit zur eigenen ethischen Lebensgestaltung Gebrauch machen wird“ (ebd.). Ich brauche diese zentrale philosophische Interpretation, die Habermas’ Sorge begründet, hier nicht in ihren einzelnen Verästelungen und Konsequenzen erörtern. Was mich jedoch interessiert und was ich festhalten will, ist die für Habermas’ Analyse notwendige Perspektivenübernahme, die uns ein mögliches Ergebnis der kommunikativen Verständigung künftiger programmierter Menschen mit sich und den anderen, ihren „Programmierern“ zumal, vor Augen führt. Dieses der Einbildungskraft und Empathie sich verdankende Resultat macht eine beschädigte Identität und beeinträchtigte kommunikative Selbstbeziehung anschaulich, eine Person mithin, die unter dem mentalen, kognitiven und emotionalen Eindruck einer einseitigen und irreversiblen, pränatalen gentechnischen Fremdbestimmung leidet. Man muss sich schon Personen vorstellen (können), die genau so empfinden, wie es Habermas in seiner vorausentworfenen Retrospektive auf eine mögliche Zukunft programmierter Subjekte zur Sprache bringt. Das ist der Dreh- und Angelpunkt einer Psychologie jener positiven liberalen Eugenik, die „realisierten“, materialisierten oder substantiierten Wunschkindern zumutet, sich mit der vorgeburtlichen genetischen Fremdbestimmung durch technisch assistierte Eltern abzufinden und einverstanden zu erklären. Solche Nachkommen müssten, wenn die althergebrachte Idee der Selbstbestimmung freier und verantwortlicher Subjekte unangetastet bleiben sollte, die gentechnisch ins Werk gesetzte Einschränkung der natürlichen Grundlagen von Verhaltensspielräumen so betrachten können, als hätten sie sie selbst auch unter der Bedingung absoluter Irreversibilität gewünscht und

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gewollt. Genau das verträgt sich offenbar schlecht mit der normativen Idee autonomer Personalität. Diese Bedingung ist hier entscheidend und unterscheidet den Fall des genetisch programmierten Menschen von allen Personen, die ihren Vornamen oder irgendeinen anderen Aspekt ihres kontingenten, zweifellos ebenfalls fremdbestimmten Schicksals ablehnen. Letztere können nicht nur Stellung nehmen zu dem, was ihnen andere angedeihen ließen und angetan haben, sondern dagegen angehen und neue, eigene Wege einzuschlagen versuchen. Den biotechnisch programmierten Subjekten ist ihr fremdbestimmtes Programm unabänderlich in ihr als körperliche Substanz aufgefasstes Leben, in ihre genetische Ausstattung eingeschrieben. Das ist, so Habermas, auf den verwirklichten Wunsch und Willen der Angehörigen einer Generation zurückzuführen, die den Faden zwischen partiell freien und autonomen, nur noch scheinbar oder vermeintlich gleichen und gleichermaßen für sich und einander verantwortlichen Personen zerschnitten hat. Damit werden soziale Beziehungen prinzipiell asymmetrisch: Designerbabies sind auch als Heranwachsende und erwachsen Gewordene nicht in der Lage, aus ihren Eltern Menschen nach eigenem Maß zu machen, jedenfalls nicht im Sinne der pränatalen gentechnischen Manipulation und Produktion ihres Erbgutes. Nun werden wohl gewiss nicht alle programmierten Subjekte unter dem von Habermas bedachten, für möglich gehaltenen Faktum leiden. Vielleicht betrifft Habermas’ Sorge sogar lediglich eine Minderheit imaginierter künftiger Menschen, wer weiß? Es reicht jedoch, wenn wir uns vorstellen können, dass die skizzierte, eigenartige kommunikative Beziehung zu sich und den anderen einige dieser neuen Exemplare der Gattung gerade so erleben werden wie angedeutet. Das zu sehen ist wichtig, und zwar ganz ungeachtet der allgemeinen philosophischen Überlegungen zum Status programmierter Menschen. Genau dieser im Kern psychologischen Sicht der Zukunft verschließen sich andere Autoren. Thomas Nagel, Thomas McCarthy oder auch Volker Gerhard (den ich pars pro toto zitiere: 2004) wundern sich über die Annahme, jemand könnte es dereinst so ergehen, wie Habermas es in seinem Akt der antizipierenden Perspektivenübernahme imaginiert, empfindet und beurteilt. Sie halten das alles für kontraintuitiv, ziemlich unwahrscheinlich oder sogar an den Haaren herbeigezogen, so dass ihnen die genetische Festlegung von Persön-

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lichkeitsmerkmalen jedweder Art weder zum Problem für das betroffene Individuum noch für dessen soziale Beziehung zur Generation seiner „Produzenten“ wird (vgl. dazu die Diskussion im mehrfach zitierten Buch von Habermas). Wenn die intentional handelnden, an ihren Präferenzen orientierten Eltern an die Stelle des Zufalls oder der Natur träten, änderte sich nach dieser Auffassung so gut wie gar nichts für das betroffene Subjekt, jedenfalls nichts lebenspraktisch besonders Bedeutsames, gar Einschneidendes oder Umstürzendes. Nach der Geburt sind die programmierten Menschen, sagen diese Autoren, (unter gewissen Bedingungen) freie und gleiche Personen wie alle anderen auch. Ihnen gebührt dieselbe Achtung und Anerkennung ganz unabhängig davon, worauf einzelne ihrer Merkmale zurückzuführen sind. Als Personen wird ihnen Autonomie und Verantwortung zugeschrieben und Solidarität gewährt. Nach der Geburt ist Schluss mit dem verdinglichenden Blick. Die Eltern schätzen das nach ihren Vorlieben und Vorgaben gentechnisch manipulierte Kind wie vorangegangene Generationen die Hervorbringungen des Zufalls und die Schöpfungen der Natur. Unterschiede im Prozess der Planung und Produktion gelten nach dieser Sicht der Dinge als praktisch irrelevant, psychisch und sozial bedeutungslos. Warum sollte das denn anders sein als im Fall der in unserer Mitte lebenden Retortenkinder? Dieter Birnbacher meint dann auch, dass wir uns ganz generell gegenüber reproduktionsmedizinisch optimierten oder auch geklonten Menschen nicht anders verhalten würden wie gegenüber allen anderen Menschen, die wir, völlig unabhängig von ihrem Zustandekommen, „als freie und gleiche Interaktionspartner“ anerkennen und behandeln (Birnbacher 2002: 124). Gentechnisch manipulierte oder anderswie reproduktionsmedizinisch gemachte Menschen verdienten (und bekämen) diesbezüglich dasselbe Entgegenkommen wie natürlich Geborene, zumal diese Variante vielleicht ohnehin schon bald zu einem eher zweifelhaften Privileg einiger Übriggebliebener und danach ganz verschwinden wird. Warum sollte man den künftigen Menschen nicht so haben wollen, wie man ihn sich wünscht und tatsächlich machen kann? Und wenn alle nach Maßgabe der Elterngeneration in ihren Merkmalen festgelegt worden sein werden, teilen sie bereits im vorgeburtlichen Zustand dasselbe Schicksal. Jeder vermeintliche Grund eines intergenerationellen Bruchs wird dann verblasst sein, wenn ohnehin so gut wie jede(r) einen Mitautor der eigenen Lebensgeschichte hat – und sich dennoch

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als freies und autonomes, für seine Lebensführung verantwortliches Wesen fühlen darf und auch so gesehen wird von seinesgleichen. Dies mag alles so sein, und dennoch hat diese Sichtweise einen Haken. Habermas geht es nämlich keineswegs um den Schaden, der durch die Herabsetzung programmierter Menschen, ihre Stigmatisierung und Diskriminierung entstehen könnte. Nicht Fairness, Gerechtigkeit und Gleichheit im Leben selbst, sondern die pränatale, gentechnisch bewerkstelligte Beeinträchtigung natürlicher Entfaltungsgrundlagen und Spielräume der ontogenetischen und, darauf aufbauend, der lebensgeschichtlichen Entwicklung ist das Problem, an dem der Philosoph laboriert. In dieser Manipulation, und sei sie zum vermeintlichen Wohl des in seiner genetischen Ausstattung optimierten Menschen unternommen worden, sieht Habermas eine potentielle Beschädigung personaler Identität, unter der der Heranwachsende womöglich leiden wird. Diese Möglichkeit als etwas Menschliches, ja allzu Menschliches einzuräumen und zu beachten, oder aber sie als eine unplausible, realitätsfremde Spekulation hypersensibler Philosophen abzutun, welche die unversehrte Subjektivität in überzogener Weise an die kommunikative Konstitution und Transformation personaler Identität binden – an dieser nach meinem Verständnis im Kern psychologischen Alternative scheiden sich die Geister. Habermas’ Auffassung des in vorausentworfener Retrospektive nacherlebten und reflektierten Schicksals programmierter Menschen ist mit einem normativ gehaltvollen (kulturspezifisch-partikularen) Begriff der autonomen Person und der Idee einer intersubjektiven Praxis verschwistert, in der die grundsätzliche Symmetrie und Reziprozität der Perspektive sowie die Kraft des auf Achtung und Anerkennung basierenden Dialogs entscheidend sind. Ohne diese theoretischen Voraussetzungen wären nicht bloß die ethischen und moralischen Irritationen im Denken von Habermas unverständlich, sondern ebenfalls, ja sogar ganz besonders das Mitgefühl und Mitleid, das aus dem kritischen Essay zur Möglichkeit einer liberalen Eugenik spricht. Der postmetaphysische Philosoph möchte seine Konzeption der Person und der Intersubjektivität gerne als Ergebnis einer rationalen Rekonstruktion pragmatischer Voraussetzungen sprach- und handlungsfähiger Personen verstanden wissen, die sich mit Leib und Seele, mit Leidenschaft und Vernunft in eine kommunikative Praxis verstrickt sehen, in der man sich etwas zu sagen hat und die Anderen mit non-persuasiven Mitteln zu ändern trachtet – idealiter durch den

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eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments, das den Angesprochenen neben neuen Einsichten vielleicht auch neue Aussichten auf ein ‚besseres‘, ‚reicheres‘ und ‚bereicherndes‘ Leben eröffnet. Worauf nach Habermas in solchen (dialogischen und diapraktischen) Zusammenhängen jedenfalls ganz verzichtet werden sollte, das sind der Zwang und die Gewalt eines technisch vermittelten Eingriffs in die biologische Natur des Gegenübers. Solche biotechnischen Eingriffe fasst Habermas als eine induzierte Selbstentwertung auf, die den Status des programmierten Menschen in einer Gemeinschaft von Programmierern notwendigerweise herabmindert. Der Designer mag gerecht vorgehen, dem Objekt seiner Manipulation alle denkbare Freiheit nach dem Eingriff zugestehen und ihn auch nicht direkt zu etwas zwingen: er greift dennoch „in die Identitätsbildung einer Person einseitig und irreversibel ein“ (Habermas 2001: 136), und just dies mögen die Betroffenen als Verdinglichung und Verletzung ihres Selbst erleben, das ihnen fortan – in einer in der Menschheitsgeschichte bislang unbekannten Weise – fremdbestimmt und fremd erscheint. Die Biowissenschaften eröffnen einen tatsächlich neuen Weg der Durchsetzung einer das Selbst von sich entfremdenden Heteronomie. Diesen Weg originärer Heteronomie haben die Betroffenen, nicht nur nicht selbst eingeschlagen – was nichts Besonderes wäre. Sie können ihn darüber hinaus auch nicht mehr verlassen. Er ist fortan verbindliches Programm, Bestandteil der eigenen, von anderen Menschen als Substanz begriffenen und gemachten Natur. Diese radikale Biologisierung bzw. Naturalisierung des Menschen entzieht die Identitätsbildung partiell dem Raum kommunikativer Verständigung mit anderen und sich selbst. Dabei geht es den DesignerInnen keineswegs um Rettung oder Heilung eines bedrohten Lebens, sondern um dessen Festlegung nach eigenem – persönlichem, sozialem bzw. kulturellem – Geschmack und nach dem Gebot der Eltern (AuftraggeberInnen). MenschenmacherInnen operieren fortan in einer Art Modebranche, in der es nicht nur um den Stoff über der Haut des menschlichen Leibs und andere „Oberflächlichkeiten“ geht, sondern um die Gestaltung der Substanz im Körper/des Körpers selbst – und auf diesem Umweg um „das Autonomiebewusstsein eines anderen“ (ebd.: 136). Das ist für Habermas die Crux:

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„dass der Designer nach eigenen Präferenzen eine nicht-revidierbare Weichenstellung für Leben und Identität einer anderen Person vornimmt, ohne auch nur kontrafaktisch deren Einverständnis unterstellen zu dürfen. Das ist ein Übergriff auf den deontologisch abgeschirmten Kernbereich einer künftigen Person, welche niemand von dem Ansinnen lossprechen kann, eines Tages ihre Existenz selbst in die Hand zu nehmen und ihr Leben ausschließlich in eigener Regie zu führen.“ (Ebd.: 144; Hervorhebung im Original).

Diese Vorstellung macht den um Perspektivenübernahme bemühten, emphatischen Philosophen leiden. Er jedenfalls ist besorgt darüber, dass die neue Form der biotechnischen Fremdbestimmung eine Identitätsdiffusion und Selbstentfremdung mit sich bringt, die die Betroffenen, so sieht es jedenfalls der empfindsame Philosoph voraus, nicht einfach wegstecken werden wie andere Erlebnisse unvermeidlicher und unausweichlicher Kontingenz und Heteronomie. Das gilt sogar für die zweifellos als Erweiterung von Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten intendierten gentechnischen Manipulationen, insofern nämlich kein Programmierer wissen kann, ob die technisch bewerkstelligten Änderungen von den Betroffenen selbst ebenso als erwünschte Erweiterungen ausgelegt und angenommen werden würden! Nicht jedes Geschenk ist ein willkommenes Geschenk. Manches ist sogar eine subtile Zwangsmaßnahme, durch die die schenkende Person ihren Einflussbereich auszudehnen sucht. Und wenn Geschenke nicht abgelehnt und unter keinerlei Umständen zurückgegeben werden können, sondern als biologisch materialisierte Maßgaben des eigenen Selbst zeitlebens wirksam bleiben, hat dies eben seine ganz eigene Brisanz. Ich resümiere: Das „Szenario einer verstellten Zukunft, wonach eigene Lebenspläne mit den genetisch fixierten Absichten anderer kollidieren“ (ebd.), verteidigt der hier ausführlich zu Wort gekommene Autor gegen verschiedene Einwände – und appelliert damit nicht zuletzt an das für die Wahrnehmung des Szenarios notwendige Einfühlungsvermögen. Dabei unterscheidet er – psychologisch höchst bedeutsam – eine „kognitive Rücksicht auf die Eigendynamik des Lebensprozesses“ von einer „praktischen Rücksicht, einer Art Respekt. Die Empathie oder das mitschwingende Verständnis für die Verletzbarkeit organischen Lebens, die eine Hemmschwelle im praktischen Umgang errichtet, gründet offensichtlich in der Sensi-

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bilität des eigenen Leibes und der Unterscheidung einer wie auch immer rudimentären Subjektivität von der Welt manipulierbarer Objekte.“ (Ebd.: 83; Hervorhebung im Original)

Diese Worte, Andeutungen eher als Ausführungen von Gedanken, machen klar, wie sehr der Autor hier auch auf einen alles andere als rationalistischen Begriff des Verstehens setzt und setzen muss. Sein Appell für die Übernahme der imaginierten Perspektive künftiger programmierter Menschen operiert zum einen mit hoch abstrakten Philosophemen, die die Verletzlichkeit des Menschen an eine Reduktion der Offenheit der lebensgeschichtlichen Zukunft und die Einschränkung individueller Freiheit und Autonomie bindet. Dabei setzt er ein aus eigenem Erleben vertrautes Gefühl voraus, das einem anthropologischleiblichen Sensorium entspringt: wir alle wissen um die Verwundbarkeit des Körpers ebenso wie eines Leibes, der Körpergrenzen nicht zuletzt mit der Unantastbarkeit persönlicher Würde verknüpft. Habermas’ Appell verwebt physische und psychische Integrität und bringt einen metaphorischen Begriff der Bewegungsfreiheit autonomer Subjekte ins Spiel, den empathische Personen auch auf den Fall der künftigen programmierten Menschen anzuwenden wissen. Wenn sie dies, wie Habermas, tun, ahnen sie etwas von jenem Leiden, welches den wie Dingen manipulierten Organismen widerfährt, sobald sie von den gentechnischen Eingriffen erfahren und sich ihres reduzierten und paradoxen Status als programmierte Person bewusst werden. Wie gesagt: dieses Verständnis hängt direkt von den (kognitiven, emotionalen und motivationalen) Voraussetzungen ab, die die verstehende Person mitbringt und einbringt in ihre imaginativ-empathische Perspektivenübernahme. Es hat mithin mit der um Verstehen bemühten Person mindestens so viel zu tun wie mit den imaginierten Menschen einer Zukunft, in der die positive Eugenik ein wichtiges Instrument der Optimierung und Normierung des Menschen sein könnte. Wirklich wissen, wie sich programmierte Nachkommen tatsächlich fühlen werden (in der zu erwartenden Vielfalt), kann heute freilich niemand. Die künftigen Menschen werden wohl anders sein, empfinden und denken werden als wir heutigen. Prospektive Akte der Empathie und Perspektivenübernahme sind jedoch niemals möglich ohne die Unterstellung, dass die Anderen nicht vollkommen anders sind und handeln als man selbst. Sie sind stets auch projektive Akte. Wie unvollkommen die analogisierende Übertragung eigener Erleb-

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nisse auch ausfallen muss, so ist es doch genau die allen Subjekten prinzipiell mögliche, prospektive Empathie und Perspektivenübernahme, ein einfühlsames, „mitschwingendes Verstehen“ mithin, das moralische Empfindungen weckt, moralische Urteile mit vorbereitet und ethische Reflexionen anstößt. Wer sich der positiven Eugenik so nähert, wie Habermas das unternimmt, leidet mit den künftigen Anderen bzw. in einer vorausentworfenen Retrospektive an ihrer Stelle, um ihnen das kraft spekulativer Imagination und eines ‚Einsatzes‘ der eigenen Person ‚vorerlebte‘ Leid zu ersparen. Ob sie dieses Leid wirklich empfinden und plagen würde (wie Habermas annimmt), oder ob sie der unabänderlichen Tatsache ihrer gentechnischen Programmierung durch technisch assistierte Eltern mit gelassenem Gleichmut begegnen oder ob sie diese Tatsache angesichts der bereits genossenen Effekte vielleicht sogar begrüßen würden, bleibt notwendigerweise offen. Diesbezüglich kann es keine Gewissheit geben. Das ist immer so, wenn Zukunftsszenarios den Rahmen einer prospektiven sozial- und kulturwissenschaftlichen Empirie bilden (in der es eher um begründete Erwartungen als um bloße Erfahrungen geht). Vielleicht teilen die Menschen von morgen gar nicht mehr unsere Bedürfnisse und Begehren. Womöglich haben sie sich gänzlich andere Maßstäbe für die Beurteilung eines mehr oder weniger gelingenden Lebens zurechtgelegt. Niemand kann ausschließen, dass bereits in ein paar Jahrzehnten alle unsere Nachfahren auf Autonomie pfeifen und ihnen auch die Reziprozität in symmetrischen sozialen Beziehungen gleichgültig ist. Who knows? Vielleicht wird es dereinst Menschen geben, denen solche Ideale zutiefst fremd sind und die auf keinerlei Erfahrungen mehr zu verweisen vermögen, aus denen sie sich speisen könnten. Niemand kann ausschließen, dass Menschen solche Ideale irgendwann ad acta gelegt haben werden und rundum damit zufrieden sind, sich selbst und ihre sozialen Beziehungen ausschließlich unter instrumentellen Gesichtspunkten an funktionalen Imperativen auszurichten (bzw. ausrichten zu lassen, nach allen Möglichkeiten jeweils verfügbarer Techniken). Lebewesen im Menschenpark könnten zum Beispiel ganz auf ökonomische Erfordernisse hin programmiert worden sein (und nichts dagegen gehabt haben). Sie mögen entsprechend Beziehungen nur noch deswegen eingehen und aufrechterhalten, weil und solange sie die eigene Karriere befördern und dem Wirtschaftssystem dienlich sind. Das vermeintlich anthropologische Bedürfnis nach langfristigen

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Bindungen, deren Wert in ihrer eigenen Qualität liegt, hätte dann eben überlebt und seine Lebensdienlichkeit eingebüßt. Nun, man sollte sich gleichwohl nichts vormachen: soweit ist es noch nicht, aller Voraussicht nach noch lange nicht. Nichts spricht bislang dafür, dass es so kommen muss und kommen wird. Menschen reagieren gemeinhin empfindlich, wenn andere sie bloß objektivierend und instrumentell, verdinglichend und kalkulierend betrachten und behandeln. Der Mensch als gentechnisches Produkt ist auch das Produkt eines solchen Umgangs, an dessen Anfang auf Seiten der MenschenmacherInnen eine gehörige Portion Narzissmus und libidinöse Besetzung eigener „Präferenzen“, ein unbedingter Macht- und Herrschaftswille sowie eine gewisse Lust an der Herstellung und FestStellung des anderen steht. Im Fall der Eltern ist die Mischung treibender Motive und leitender Intentionen gewiss anders als im Fall sonstiger „AuftraggeberInnen“, etwa der DesignerInnen sowie anderer beteiligter ExpertInnen und AssistentInnen, die mit ihren Dienstleistungen zur Verfügung stehen (und so ihre ökonomische Existenz sichern). Das sei hier dahingestellt. Wichtig bleibt die skizzierte, rational motivierte Quasi-Allergie gegen die Verdinglichung eines um die Offenheit seiner Zukunft gebrachten, in seiner Freiheit und Autonomie, seinem spontanen Selbstseinkönnen bewusst eingeschränkten Subjekts. Diese Allergie, die Habermas’ Sorge um die Zukunft der menschlichen Natur begleitet, attestiert seinen Überlegungen eine Art Hypersensibilität bezüglich eines ganz speziellen Aspekts unserer Praxis. Ohne ein Mindestmaß an Anerkennung des normativ gehaltvollen Begriffs der für Verletzungen verschiedener Art anfälligen Person, der dabei ins Spiel kommt, müsste dieser Appell verhallen, ja schlicht unverständlich bleiben. Wer nicht die in diesem Appell in Anspruch genommene Verletzlichkeit kennt, wird die vorgetragenen Bedenken in den Wind schlagen. Wer nicht davon ausgeht, dass Versuche einer genetischen Fixierung von Persönlichkeits- oder Identitätsmerkmalen anderer Menschen – der eigenen Kinder zumal – zu Identitätsproblemen der Heranwachsenden führen können und mutmaßlich führen werden, zu Identitätsproblemen und auch den besagten Transformationen des Generationenverhältnisses, die die Betroffenen leiden machen, wird mit der beschworenen Zerbrechlichkeit des Menschen wenig anfangen können (und sich nicht aufhalten lassen).

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Quod erat demonstrandum: Habermas’ philosophische Analyse ist offenbar mit einer Psychologie verschwistert, die die leib-seelische Integrität der Person an lebenslange Prozesse gelingender Identitätsbildung und im Prinzip symmetrische, reziproke Beziehungen koppelt. Die gentechnische Fremdbestimmung verstellt die Zukunft eines Lebens, weil und indem sie dessen ‚natürliche‘ Offenheit untergräbt. Diese in der Antizipation einer positiven Eugenik realistisch gewordene Option findet Habermas besorgniserregend und bedauerlich. Dagegen wenden sich seine philosophischen Analysen und Argumente. Das skizzierte Mitgefühl mit imaginierten Schicksalen dieser neuen Art ist indes nicht jedermanns Sache. Wo Habermas drohenden Verletzungen nachspürt, ziehen andere verständnislos oder betont gleichgültig die Augenbrauen hoch: So what? Es ging mir in dieser Abhandlung indes nicht darum, die Position von Habermas zu verteidigen (obschon ich ihr vieles abgewinnen kann). Es sollte vielmehr gezeigt werden, wie sehr moralphilosophische und bioethische Argumente von außerordentlich komplexen psychologischen Voraussetzungen abhängen, die zu artikulieren und möglichst genau zu beschreiben ins Aufgabenfeld einer theoretischen und empirischen Psychologie gehört. Diese Psychologie macht nicht davor halt, auf der Grundlage des je eigenen Erlebens und Selbstverständnisses bestimmter Menschen mögliche Verletzungen gentechnisch programmierter Exemplare der Gattung in einer vielleicht nicht allzu fernen Zukunft auszuloten. Diese Aufgabe ist ganz offenkundig mit zahlreichen Ungewissheiten befrachtet und für alle möglichen Projektionen offen. Sie lässt sich kaum anders bearbeiten als auf der Basis einer stets auch kulturspezifischen Psychologie und auf der Grundlage subjektiver Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme und Empathie, die ohne Phantasie und Imagination nicht auskommen. Das lässt sich nicht ändern. Diese Aufgabe anzunehmen und zu übernehmen ist dennoch ein unabdingbarer Bestandteil verantwortlichen Handelns in der Gegenwart – und eine Herausforderung auch für die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften. Zu ihrer Bewältigung kann die Psychologie etwas, sogar einiges beitragen. Diese Wissenschaft sollte sich demgemäß um die psychosozialen Folgen, welche die bereits gefeierten oder bedauerten sowie die noch erwarteten, erhofften oder befürchteten Errungenschaften der Lebenswissenschaften zeitigen, sehr viel stärker kümmern, als sie es bislang getan hat und gegenwärtig unternimmt. Wie anspruchsvoll diese Aufgabe ist – auch

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das zeigen die psychologisch voraussetzungsvollen und komplexen Überlegungen eines Philosophen, der sich in eine der aufsehenerregenden bioethischen Debatten unserer Tage als jemand einmischt, der nicht als ausgewiesener Experte in diesen Fragen spricht. Habermas erhebt hier seine Stimme vielmehr als ein besorgter Weltbürger, der zu hoffen wagt, dass seine Gefühle und Gedanken nicht als idiosynkratische Hypersensibilität eines philosophisch deformierten Gemüts und Geistes abgetan werden, sondern in einer Welt, die weit über die abendländische Tradition eines bestimmten Projekts der Aufklärung hinausreicht, auf offene Ohren stoßen und geteilt werden mögen. Erst eine eingehende und der Vielfalt des interessierenden Feldes entsprechend differenzierte empirische Rekonstruktion und theoretisch reflektierte Analyse lebensweltlicher Erfahrungen, Hoffnungen und Befürchtungen gestattete genauere Aufschlüsse über die psychosoziale Wirkmächtigkeit wissenschaftlich-technischer Innovationen. Sie erst erlaubte es, die anstehenden, die sich vollziehenden oder bereits erfolgten Transformationen menschlicher Selbst- und Weltverständnisse und praktischer Selbst- und Weltverhältnisse von Einzelnen oder bestimmten Gruppen zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären. Erst diese empirische Arbeit z.B. in sozial- und kulturpsychologischer Perspektive eröffnete Einsichten in die mitunter einschneidenden lebensweltlichen Auswirkungen der Lebenswissenschaften und Biotechniken auf das Erleben und Handeln ganz gewöhnlicher Leute. Während die Bioethik längst zu einer regelrechten Industrie akademischer Dienstleistungen avanciert ist, durch die auch PhilosophInnen ihr Auskommen finden, wird Tatsachen und möglichen Entwicklungen, für deren Erforschung die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften zuständig sind, teilweise erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Von einer Bioethnologie, Biosoziologie oder Biopsychologie13 und dergleichen spricht einstweilen noch niemand, jedenfalls nicht in einem Sinne, der auf die Analyse der (faktischen oder möglichen) kulturellen, sozialen und psychischen Vorausset-

13 Diese Bezeichnung gibt es allerdings; sie bezieht sich auf eine thematische und methodische Ausrichtung der Psychologie an der Biologie und den von dieser Disziplin zur Verfügung gestellten Erkenntnissen, die für die Erklärung psychischer Phänomene systematisch genutzt werden. Das ist hier natürlich nicht gemeint.

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zungen, Implikationen und Folgen lebenswissenschaftlicher Errungenschaften und ihrer Anwendungen gemünzt wäre.

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L ITERATUR Birnbacher, Dieter (2002): „Habermas’ ehrgeiziges Beweisziel – erreicht oder verfehlt?“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50, S. 121-126. Düwell, Marcus/Hübenthal, Christoph/Werner, Michael (Hg.) (2002): Handbuch der Bioethik, Stuttgart: Metzler. Düwell, Marcus/Steigleider, Klaus (2002) (Hg.): Bioethik. Eine Einführung, Frankfurt a.M: Suhrkamp. Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen: Sexualität und Wahrheit Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M.: Campus. Gerhard, Volker (2004): „Geworden oder gemacht? Jürgen Habermas und die Gentechnologie“, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 272-291. Graumann, Sigrid (2004): „Präimplantationsdiagnostik, embryonale Stammzellforschung und das Regulativ der Menschenwürde“, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 122-144. Habermas, Jürgen (2001): Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Katzorke, Thomas/Kolodziej, Franz B. (2004): „Neue Perspektiven für die Fortpflanzungsmedizin in Deutschland. Auswertung einer Umfrage“, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 103-121. Kettner, Matthias (2004) (Hg.): Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kollek, Regine (2006): „Schritte zur internationalen Verständigung über bioethische Fragen“, in: Deutscher UNESCO-Kommission (Hg.), Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte. Wegweiser für die Internationalisierung der Bioethik, Bonn: Köllen Druck und Verlag, S. 37-49. Lemke, Thomas (2007): Biopolitik zur Einführung, Hamburg: Junius. Lemke, Thomas/Krasmann, Susanne/Bröckling, Ulrich (2000): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Schicktanz, Silke/Tannert, Christof/Wiedemann, Peter (2003) (Hg.): Kulturelle Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religion und Alltagsperspektiven, Frankfurt a.M./New York: Campus. Steineck, Christian/Döring, Ole (2008) (Hg.): Kultur und Bioethik. Eigentum am Körper, Baden-Baden: Nomos. Tannert, Christof (2003): „Die Biomedizin als Gegenstand des interkulturellen Diskurses“, in: Silke Schicktanz/Christof Tannert/Peter Wiedemann (Hg.), Kulturelle Aspekte der Biomedizin. Bioethik, Religionen und Alltagsperspektiven, Frankfurt a.M./New York: Campus, S. 7-15. Wodarg, Wolfgang (2004): „Diesseits des Rubikon? Politische Standortbestimmung im Streit um die rechtliche und moralische Auslegung der Menschenwürde“, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 15-41.

Das Leben singen Biopopuläre Kulturen in der öffentlichen Debatte über die „Impfung gegen Krebs“1 K ATJA S ABISCH -F ECHTELPETER

Das Machen von Menschen ist mitunter ein vergnügliches Unterfangen. Da wird gelacht, gesungen, getanzt, gemalt, gefilmt, und man sucht vergeblich nach der öden wie sorgfältigen Verwaltung und rechnerischen Planung, die der Historiker Michel Foucault der Biomacht einst als Definitivum verpasste (vgl. Foucault 1976: 166). Gegenwärtig zeigt die Kampagne für die Impfung gegen das Humane Papillom Virus (HPV), dass Biopolitik ebenso cool und easy sein kann wie Bionade. Denn die Zulassung der Impfstoffe Gardasil® und Cervarix®, die gegen das sexuell übertragbare Virus schützen und damit Gebärmutterhalskrebs verhindern sollen, wurde von einer Werbestrategie flankiert, die auf eine beispiellose Weise Public Health und Pop Kultur verbindet: Während die Modedesignerin Jette Joop in einem Fernsehspot des Deutschen Grünen Kreuzes (DGK) die Impfung von jungen Mädchen fordert –

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Dieser Beitrag bezieht sich zum Teil auf meine Studie „,Hoffnungslos durchseucht‘. Zur diskursiven Infektiosität des Humanen Papilloma Virus in den deutschen Medien, 2006-2009“, die 2009 in der Zeitschrift „GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 1“ veröffentlicht wurde.

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„Als Mutter erlebe ich, wie schnell meine Tochter groß wird und bald ihr eigenes Leben führt. Ich will nicht, dass Gebärmutterhalskrebs dieses Leben in Gefahr bringt. Deshalb schütze ich meine Tochter schon heute vor dem Virus, das den Krebs verursachen kann. Tun Sie es auch!“ (WDR Fernsehen, 2008)

–, kämpft die Comicfigur Rixi auf der Internetseite des Pharmakonzerns GlaxoSmithKline in insgesamt drei Videos mit den Titeln „Scharfe Blicke“, „Spitze Krallen“ und „Heavy Mädel“ vorlaut und frech gegen HPV. Denn: „Was starken Mädchen nicht passt, das verhindern sie“.2 Die Deutsche Krebshilfe setzt dagegen in der Wahl der Medienmittel auch auf Altbewährtes. Unter der Überschrift „Mädchen checken das!“ ist eine Fotostory über Pia und ihre erste HPV-Impfung zu finden, die mit folgendem Text eingeleitet wird: „Pia (14 Jahre) ist seit zwei Monaten mit ihrem Schwarm Kevin (15 Jahre) zusammen und beide sind sehr glücklich. Sex hatten sie noch nicht, aber Pia hat sich schon über Verhütung informiert. Dabei hat sie von der so genannten HPV-Impfung erfahren, die für Mädchen vor dem ersten Sex wichtig sein soll und vor Gebärmutterhalskrebs schützen kann. Auch ihre Mutter hat bereits von dieser Impfung gehört und zeigt Pia einen Info-Flyer, den sie von ihrer Frauen3

ärztin bekommen hat. Sie spricht mit ihr darüber …“.

Da die Impfung von der Ständigen Impfkommission des Robert KochInstituts (STIKO) im April 2007 für alle 12- bis 17jährigen Mädchen empfohlen wurde, ließ ein Format für ältere Mädchen nicht lange auf sich warten: So adressiert die Kampagne der Projektgruppe Zervita, die auf Initiative des Tübinger Virologen Thomas Iftner gegründet wurde und organisatorisch an den Krebsinformationsdienst (KID) und das Deutsche Krebsforschungszentrums (DKFZ) angebunden ist, vornehmlich Mädchen ab 15 Jahren, indem sie auf den Internetseiten des Web 2.0-Portals My Space für die Impfung gegen HPV wirbt.4 Unter den 483 Freunden, die „Null Bock auf HPV“ unterstützen, sind keine

2

http://www.gebaermutterhalskrebs.com/abgeblitzt/index_ger.html.

3

Weiterzuverfolgen unter http://www.maedchen-checken-das.de/hpv-imp

4

http://www.myspace.com/zervita. Natürlich verfügen auch andere soziale

fung/fotostory-teil-1-erste-infos.html. Netzwerke über HPV-Communities, so z.B. Facebook (http://www.face book.com/hpvtogether?v=app_4949752878).

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Geringeren als die Fans der Pro Sieben Popstars-Band Queensberry oder die Hip Hop-Band Culcha Candela. Bemerkenswert ist zudem die unter der Überschrift „Nahaufnahme“ präsentierte Gebärmutter eines Comic-Mädchens: „Hallo! Hier kannst du aktiv werden und dich mit der Maus über den weiblichen Unterleib informieren. Im Schaubild siehst Du die Lage der Gebärmutter und in der Vergrößerung kannst Du Dir alles ganz genau anschauen“,5 ist dort zu lesen. Abbildung 1: www.zervita-girl.de

Allen voran ist es jedoch das Lied „Sing dein Leben“, welches die gelungene Allianz von Bio und Pop versinnbildlicht. Denn hier wird mit viel Pathos dem Pathogenen getrotzt – „Ich seh wie die Sonne langsam den Tag berührt. Ich fühle wie die Nacht einschläft. Ich hör die Geschichten, die mir der Wind erzählt, über mich und diese Welt. Hör auf dich und sing dein Leben, denn du gehst deinen eigenen Weg“ –, weil die Sängerinnen Elke, Marta, Stefanie, Suzie und Valentine von den Bands Paula, Die Happy, Silbermond und Klee auf diese Weise „über eine gesunde Lebensweise informieren, um frühzeitig die

5

http://www.zervita-girl.de/nahaufnahme/nahaufnahme.php?thisID=10.

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Basis für ein Leben ohne Krebs zu schaffen“.6 Um nun die Zusammenführung von Biomacht als einer Machtform, die den Körper und das Leben vereinnahmt, um es zu erhalten (Foucault 2003: 293) und Popkultur als einer Kulturform, die kommerziell Themen industriell produziert, um zu unterhalten (Jacke 2004: 22), erklären zu können, wird im Folgenden der Begriff Biopop verwendet. Der Begriff Biopop ist dabei analytisch von dem der Biomacht zu trennen, da er keine abstrakte Machtform, sondern vielmehr eine konkrete Handlungsform beschreibt. So wie die Philosophin Petra Gehring den Begriff Biopolitik handlungstheoretisch unterlegt und ihn in den „Bereich der bewussten Kalküle“ einordnet (Gehring 2006: 14), meint Biopop absichtsvolles popkulturelles Handeln, welches die Optimierung des Humanen durch massenmediales Vergnügen zu verwirklichen sucht. Diese Optimierung ist einer Logik verpflichtet, welche das menschliche Leben nicht einfach nur als verwend- und verwertbare, sondern vielmehr als „steigerbare Ressource“ (ebd.: 10) entwirft. Im Zentrum der Steigerungs-Logik steht dabei die biologische Fortpflanzung: Körper und Bevölkerung sind die beiden Pole, die seit dem 19. Jahrhundert das (bio)politische Handeln des Staates erfordern (vgl. Foucault 1976). Am Beispiel der Kampagne für die HPV-Impfung lässt sich diese Verschränkung fast mustergültig nachweisen, da durch die diskursive Adressierung und die medizinische Affizierung des Mädchenkörpers Bevölkerung gemacht wird – und zwar gesund, fruchtbar und leistungsstark. Und dies allem Anschein nach mit großem Vergnügen. Denn dass die Kampagne für die HPV-Impfung als paradigmatisch für biopopuläre Handlungen gelten kann, zeigten bereits die oben angeführten Beispiele aus den verschiedenen Bereichen der Populärkultur. Im Folgenden soll es nun darum gehen, Biomacht innerhalb des diskursiven Ereignisses „HPV“ aufzuspüren und ihre spezifischen Erscheinungsformen in den Massenmedien zu identifizieren: Wo tritt Biomacht in welcher Weise auf? Um diese Frage zu beantworten, wurde die öffentliche Debatte über die Impfung gegen Humane Papillom Viren zwischen 2006 und 2009 diskursanalytisch untersucht. Nach Foucault handelt es sich demnach nicht um einen Diskurs im strengen Sinne, sondern um ein „diskursives Ereignis“ (Foucault 1977: 39), welches als Katalysator

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Zu hören und zu sehen unter http://www.maedchen-checken-das.de/ downloads.html#c280.

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von spezifischen Diskursen (z.B. über Geschlecht, Körper oder Krankheit) wirken kann. Das diskursive Ereignis HPV besteht aus unterschiedlichen Textsorten, die ab Juni 2006 den Gegenstand HPV in ebenso unterschiedlicher Art und Weise virulent erscheinen ließen: Aus dem Bereich Printmedien wurden zum einen Artikel und Meldungen aus der überregionalen Tagespresse,7 zum anderen aus überregionalen Wochenzeitungen und -magazinen8 indexikalisch erfasst und untersucht. Mit der Zulassung des Impfstoffs Gardasil® im April 2007 ging eine Reihe von Stellungnahmen und Petitionen unterschiedlichster Institutionen und Akteure einher, die im Internet veröffentlicht wurden.9 Die bereits zu Beginn erwähnten Kampagnen der Impfstoffhersteller GlaxoSmithKline (www.gebaermutterhalskrebs.com) und Sanofi Pasteur MSD (www.tellsomeone.de) sowie die der Deutschen Krebshilfe (www.maedchen-checken-das.de) und des Deutschen Grünen Kreuz e.V. (Projektgruppe www.zervita.de) wurden zum Teil in TV-Werbespots übersetzt. Diese medialen Vorabend-Ereignisse müssen insofern bei der Diskursanalyse Berücksichtigung finden, als sie Anlass zu harscher Kritik an den Visualisierungs- und Emotionali-

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Eine vollständige Indexierung seit Juni 2006 erfolgte bei den Tageszeitungen „Ärzte Zeitung“, „Financial Times Deutschland“, „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, „Frankfurter Rundschau“, „Standard“ (Österreich), „Süddeutsche Zeitung“, „die tageszeitung“.

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Eine vollständige Indexierung seit Juni 2006 erfolgte bei den Wochenzeitungen und Zeitschriften „Focus Magazin“, „Der Spiegel“, „Die Zeit“, „Stern“, „Brigitte“, „Impf-Report“, „Deutsches Ärzteblatt“, „Der Frauenarzt“.

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Folgende Stellungnahmen wurden analysiert: Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V., Arbeitskreis Frauengesundheit in Medizin, Psychotherapie und Gesellschaft (AKF), Feministisches Frauengesundheitszentrum e.V. Berlin (FFGZ), Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V., Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V., LAG Mädchenarbeit in NRW e.V., Ständige Impfkommission des Robert Koch Instituts (STIKO), Projektgruppe „ZERVITA“, Bundesverband der Frauengesundheitszentren e.V., Netzwerk für unabhängige Impfaufklärung, Stuttgarter Elternstammtisch Impfen und Kindergesundheit, PaulEhrlich-Institut (PEI), European Medicines Agency (EMEA), HPV-Management-Forum.

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sierungsstrategien der HPV-Kampagne gaben. Diese Kritik wurde u.a. auch in den Sendungen „monitor“ und „frontal21“ geäußert.10

D IE D EBATTE ÜBER DIE HPV-I MPFUNG DEUTSCHEN M EDIEN , 2006-2009

IN DEN

Fasst man Biomacht mit Foucault als Abstraktum, so geht dies mit einer Entpersonalisierung einher: Biomacht muss täterlos gedacht werden (vgl. Gehring 2006). Dies fällt hinsichtlich der HPV-Debatte zunächst schwer, da hier die Komplizenschaft der Leitwissenschaften Biologie und Ökonomie mehr als offensichtlich ist: Das „Impfen gegen Krebs“ ist ein lukratives Geschäft; es beschert der Pharmaindustrie Rekordgewinne, da mit der Entscheidung der Ständigen Impfkommission des Robert-Koch-Instituts (STIKO) im März 2007, eine Impfempfehlung gegen HPV für alle 12-17jährigen Mädchen auszusprechen, die gesetzlichen Krankenkassen in die Pflicht genommen wurden. Die Verabreichung des Impfstoffes wurde zu einer Kassenleistung und bescherte dem Gardasil®-Hersteller Sanofi Pasteur MSD und dem Cervarix®-Hersteller GlaxoSmithKline allein im ersten Jahr 217 Millionen bzw. 14,4 Millionen Euro Gewinn. Angesichts dieser Summen ließen Korruptionsvorwürfe nicht lange auf sich warten. Mehrfach wurde in der Presse darauf hingewiesen, dass fast alle STIKO-Mitglieder mehr oder weniger enge Beziehungen zur Impfstoffindustrie unterhalten. Im Besonderen wurde kritisiert, dass der damalige STIKO-Vorsitzende Heinz-Josef Schmitt wenige Monate vor der Empfehlung einen mit 10.000 Euro dotierten Preis angenommen hatte – für sein besonderes Engagement zur Förderung des Impfgedankens –, der von Sanofi Pasteur MSD gestiftet war. Spektakulisiert wurden die Vorwürfe im Dezember 2008, als nicht nur Mitglieder der STIKO, sondern auch das Komitee für den Medizinnobelpreis unter Korruptionsverdacht geriet. Als der Tumorforscher Harald zur Hausen am 10. Dezember den Preis in Empfang nahm, ermittelte die schwedische Staatsanwaltschaft bereits wegen Bestechung. Denn der Phar-

10 „monitor“ vom 21.02.2008 „HPV-Impfung: Voreilige Entwarnung?“; „monitor“ vom 19.02.2009: „Geschönte Zahlen? Streit um die Wirksamkeit der HPV-Impfung“; „frontal21“ vom 19.02.2008: „Teuer und umstritten. Kritik an der HPV-Impfung“.

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makonzern Astra Zeneca, der Patente an dem HPV-Impfstoff hält, sponsert nicht nur zwei Unternehmen der Nobel-Stiftung, sondern auch das Komiteemitglied Bo Angelin. Dieses Konglomerat aus finanziellen Interessen und kriminellen Machenschaften kann mitunter zu einer vorschnellen Identifizierung biomächtiger Täter einladen – obwohl eine solche Perspektivierung der Komplexität des Diskurses über die Impfung gegen HPV bei weitem nicht gerecht werden würde. Denn die Schlagzeilen über millionenschwere Interessen der Pharmaindustrie und ihre Handlanger täuschen über eine machtvolle Diskursformation hinweg, die die (offenkundige) Profitabilisierung von Körpern mit der (weniger offenkundigen) Medikalisierung von Körpern zu vermengen sucht. Die GesundheitswissenschaftlerInnen Petra Kolip und Gerd Glaeske definieren Medikalisierung als einen „Prozess, in dem sich die Medizin für die Begleitung in (körperlichen) Umbruchphasen zuständig erklärt, bzw. – als Kehrseite der Medaille – bei dem die Verantwortung für normale Körperprozesse in die Hände der Medizin gegeben werden“ (Kolip/Glaeske 2002: 479). Und im Zentrum dieser medizinischen Bemühungen stehe der weibliche Körper, der vor allem in biografischen Umbruchphasen wie Schwangerschaft, Geburt oder Wechseljahre als behandlungsbedürftig konstituiert werde. Diese These erweist sich im Fall HPV insofern als anschlussfähig, als die Impfkampagne ebenfalls eine weibliche Umbruchphase fokussiert: die des ersten heterosexuellen Geschlechtsverkehrs, der nach einhelliger Meinung zwischen 12 und 14 Jahren stattfindet. Wie genau nun der abstrakte Begriff Biomacht in konkrete Aussagen über behandlungsbedürftige Mädchenkörper übersetzt wird, zeigt die nachstehende Engführung des diskursiven Ereignisses. 2006 Mit der Parole „Impfen gegen Krebs“ wird am 19.06.2006 die „effiziente Waffe“ gegen den „Krebs der Frauen“ im „Focus Magazin“ begrüßt. Der „Segen für die Frauengesundheit“, welcher schon bald in Verkörperung eines „Krebsimpfstoffs“ des Pharmakonzerns Sanofi Pasteur MSD zu erwarten sei, ist „ein echter Durchbruch“. Und die Frage, wer im Namen der Frauengesundheit gegen die HPV-Typen 16 und 18 zu immunisieren sei, steht schnell fest: Die Zulassung des Impfstoffs Gardasil® ist für die „Altersgruppe neun bis 26 Jahre alter

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Mädchen und Frauen“ beantragt. Denn diese seien besonders „gefährdet“. Auch die Berliner „tageszeitung“ (07.07.2006) und der „Spiegel“ (10.07.2006) wissen von dem „sensationellen Schutz“ der „Impfung gegen Krebs“ zu berichten. Das Interview mit dem Heidelberger Virologen Lutz Gissmann führt jedoch zu einer ersten Ernüchterung, „denn impfen können wir nur gegen Erreger, und der Gebärmutterhalskrebs ist bisher der einzige, von dem wir sicher wissen, dass er durch Viren ausgelöst wird“. Dem „Ärzteblatt“ zufolge wäre die „Einführung einer flächendeckenden Impfung“ dennoch lohnenswert, da „bis zu 70 Prozent aller Männer und Frauen [...] einmal eine HPV-Infektion“ durchmachen würden und so „zahlreiche Eingriffe bei Krebsvorstufen verhindert“ werden könnten (07.08. 2006). In diese frühe Zielgruppen-Diskussion mischt sich auch der Heidelberger Tumorforscher und Entdecker des „Krebsvirus“ zur Hausen ein. In einem Interview mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ vom 26.10.2006 spricht er sich für die Impfung von Jungen aus. Der Grund, warum die Impfung in den USA nur Frauen empfohlen werde, seien Bedenken, dass keine Studien für Männer vorliegen würden und man aufgrund „anderer Schleimhautverhältnisse“ nicht wisse, „ob die Impfung bei Männern genauso wirksam sei wie bei Frauen“. Zur Hausen hält dies für ein „Scheinargument“: „Männer haben zwar keine Gebärmutter, aber die Haut des Penis dürfte sich kaum unterscheiden von jener des äußeren weiblichen Genitales, der Vulva“. Auf die Frage, ob er für Studien an Männern plädieren würde, antwortet er: „Ja, aber auch dafür, Männer ohne Studien zu impfen“. Unter der Überschrift „Wer sollte wann, wie und wo geimpft werden“ meldet sich am 15.12.2006 das HPV-Management-Forum, eine Arbeitsgruppe der Sektion „Antivirale Chemotherapie“ der PaulEhrlich-Gesellschaft e.V. zu Wort. Im „Ärzteblatt“ definiert das Management-Forum folgende „Haupt-Zielgruppen“: 1. „Schulkinder (Mädchen und Jungen)“, die möglichst vor dem ersten Geschlechtsverkehr, „der heute mit circa zwölf bis 14 Jahren erfolgt“, geimpft werden sollten; 2. „Mädchen und junge Frauen zwischen zwölf und 25 Jahren“. Diese Dopplung irritiert angesichts der Management-Feststellung, dass „[m]ännliches Sexualverhalten und HPV-Infektionen des Penis [...] mit einem erhöhten Risiko für die Partnerin verknüpft“ seien, „an einem Zervixkarzinom zu erkranken“. Und mehr noch: „Die Übertragbarkeit von HPV kann durch Zirkumzision [Beschneidung, K.S.F.] und konsequenten Kondomgebrauch verringert werden“. Die

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Zuständigkeit der Männer für die Verbreitung des HP-Virus wird jedoch von den HPV-Managern nicht weiter verfolgt. Sie insistieren vielmehr darauf, dass „zum jetzigen Zeitpunkt [...] das primäre Ziel der HPV-Vakzinierungsprogramme eine möglichst große Zahl junger Mädchen sein“ sollte. Diese stillschweigende Übereinkunft verwundert nicht, führt man sich vor Augen, dass Mädchenkörper gemeinhin verfügbarer sind als Jungenkörper, da sie schon sehr früh in gynäkologische Praktiken eingebunden werden und durch ihre tatsächliche Präsenz in den eigens für sie eingerichteten „Mädchensprechstunden“ erreichbarer sind. Die Medikalisierung der weiblichen Pubertät, die sich vor allem in den unablässigen Fragen nach der Normalität des Zyklus, der Brüste, des Hormonspiegels etc. niederschlägt (vgl. Schmidt 2000), führt zu einer umfassenden Klientelisierung, welche den kontrollierten Zugriff auf den Mädchenkörper ermöglicht. Allerdings bedarf es für ein erfolgreiches Vakzinierungsprogramm nicht nur der Bereitstellung von Logistik, sondern auch der Bereitschaft zur Impfung. Und diese wird im folgenden Jahr durch die eingangs vorgestellten biopopulären Kulturen erreicht. 2007 Zu Beginn des Jahres 2007 wird jedoch zunächst die ZielgruppenDiskussion fortgesetzt. Der „Spiegel“ merkt in dem Artikel „Krebsspritze für Kinder“ vom 17.02.2007 an, dass das Virus „[a]bermillionenfach verbreitet“ sei, bei „Jung und Alt, Männlein wie Weiblein“. Letztlich seien also alle „sexuell aktiven Europäer [...] hoffnungslos durchseucht“.11 Dabei sei allerdings keinesfalls die Rede von HIV („dem Erreger der Immunseuche Aids“), sondern von HPV („dem humanen Papillomavirus“). Diese „Sex-Viren“ würden in den USA bereits bekämpft – „No vaccination, no school“ –, was das „Medizinerblatt Lancet“ zu der Forderung veranlasst hätte, „die Impfung gegen HPV für alle elf- bis zwölfjährigen Mädchen in der EU zur Pflicht zu erheben.“ Da jedoch die Impfprogramme – „bedauerlicherweise“ – schon Mitte der 1970er Jahre aus den deutschen Schulen verschwunden und Deutschland ohnehin in „Impffragen viel

11 „Krebsviren im Visier“, „Frankfurter Rundschau“ 17.04.2007.

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zu nachlässig sei“, bedürfe es einer „breiten Aufklärungskampagne“ der Deutschen Krebshilfe über HPV. Bevor diesem Wunsch durch TV-Werbespots und altersgerechte Internetauftritte von Rixie und Co. entsprochen werden konnte, wurden erste kritische Stimmen laut. Unter der Überschrift „Nur eines ist sicher – die Nebenwirkungen“ erscheint in der Januar/Februar-Ausgabe des „impf-reports“ ein Artikel, der die Nützlichkeit der Impfung grundsätzlich in Frage stellt, da „offiziellen Schätzungen zufolge [...] in Deutschland von ca. 40 Millionen Frauen jährlich bis zu 7.000“ erkranken. Das Risiko, an Gebärmutterhalskrebs zu erkranken, sei also „bereits ohne Impfung verschwindend gering, sogar weit unter einer Promille.“ Neben diesem Rechenexempel gerät vor allem die Zulassungsstudie über den Impfstoff Gardasil® ins Kreuzfeuer der Kritik. Diesbezüglich seien die entscheidenden „Phase-III-Studien“, die zur Zulassung führen, „noch gar nicht vollständig veröffentlicht“, was hieße, dass letztlich „Laien wie auch Mediziner [...] die Ergebnisse mehr oder weniger blind glauben“ müssten. Die Frage, ob der Impfstoff sicher ist, sei damit mehr als berechtigt. Deutlicher wird dieser Aspekt in einer Petition an den deutschen Bundestag formuliert, die die Rücknahme der Zulassung des Impfstoffs Gardasil® fordert.12 Unter Punkt 5 wird die „fehlende Impfstoffsicherheit“ ausgeführt. Da zudem die Wirksamkeit des Impfstoffs generell anzuzweifeln sei (Punkt 1) und eine „besorgniserregende Geheimhaltung“ bezüglich der Phase-III-Zulassungsstudie bestünde (Punkt 4), ist es kaum verwunderlich, dass die Petition pointiert endet: „Unsere Töchter sind keine Versuchskaninchen für Impfstoffhersteller!“. Die „Süddeutsche Zeitung“ beschäftigt sich derweil mit einem anderen Aspekt. Anlässlich der STIKO-Empfehlung vom 26.03.2007, die die Impfung gegen HPV für alle 12- bis 17jährigen Mädchen zur Pflichtleistung der gesetzlichen Krankenkassen erhebt, betont der Infektiologe Heinz-Josef Schmitt in dem Interview vom 27.03.2007, dass die Begeisterung für die Impfung nicht nur dem „Nutzen“ für die Frauen geschuldet sei, sondern zudem eine „einzigartige Möglichkeit für die Krankenkassen“ darstelle, „um Aufmerksamkeit zu bekommen, in dem härter werdenden Kampf um Mitglieder“. Und dies, obwohl

12 Eingereicht am 25.02.2007, Petitions-Nr.: 2-16-15-2120-02125; abgelehnt am 30.05.2007.

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der Impfstoff gar nicht der erste sei, der vor einer Krebserkrankung schützen würde. Die Impfung gegen das Hepatitis-B-Virus „schützt vor Leberkrebs und [...] ist seit 1995 empfohlen, aber niemand kümmert sich darum, dass sie auch verabreicht wird.“ Dies scheint sich im Fall von HPV anders darzustellen. Auf den Internetseiten des Zentrums für Gesundheit wird sogar die Frage aufgeworfen, warum „Eltern dazu gedrängt werden, ihre Töchter mit Gardasil® impfen zu lassen“.13 Die Antwort ist schnell gegeben: „Prognosen behaupten, dass Gardasil® des US-Pharmakonzerns Merck & Co einträglichste Geldquelle werden könnte, mit erwarteten Umsätzen von mindestens zwei Milliarden US-Dollar. Einkünfte, die der US-Pharmakonzern Merck & Co nach dem Vioxx-Skandal sehr dringend benötigt.“

Als dann das „Ärzteblatt“ am 25.05.2007 „Erste UAW-Verdachtsfälle [unerwünschte Arzneimittelwirkung, K.S.F.] nach HPV-Impfung mit Gardasil“ meldet, geraten solche Sanierungsvermutungen vorerst in Vergessenheit. Eine Anfrage der Verbraucherschutzorganisation Judicial Watch bei der amerikanischen Arzneibehörde Food and Drug Administration (FDA) hatte ergeben, dass seit der US-Zulassung 1.637 Berichte über unerwünschte Arzneimittelwirkungen eingegangen waren: „Darunter waren 371 schwere Ereignisse wie Fazialis-Lähmungen, Guillain-Barré-Syndrome und Krampfanfälle sowie drei Todesfälle.“14 Perfiderweise startet mit Bekanntwerden dieses „Horrorkatalogs“ am 29.05.2007 die bislang beispiellose Werbekampagne mit der Modedesignerin Jette Joop. Flankiert wurde dieses mediale Ereignis durch eine ostentative Öffentlichkeitsarbeit an Schulen. So berichtete die Berliner „tageszeitung“ am 08.08.2007 in dem Artikel „Sex ist blöd, davon kriegt man Krebs“, dass man es angesichts der Flyer und Broschüren, die in den Schulen verteilt werden, „mit der Angst zu tun“ bekommt: Das Virus, so der besagte Flyer, gelange beim Geschlechtsverkehr in den Körper und löse zu „99 Prozent“ den „zweithäufigsten Krebs der Frau aus“. Die „taz“ korrigiert die Zahlen:

13 www.zentrum-der-gesundheit.de/gebaermutterhalskrebs-ia.html. 14 www.judicialwatch.org/story/2008/may/judicial-watch-investigates-sideeffects-hpv-vaccine.

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„Tatsächlich war Gebärmutterhalskrebs bis zur Einführung des Früherkennungsprogramms im Jahr 1971 in Deutschland die häufigste Krebsart, rangiert mittlerweile aber an zehnter Stelle. Nicht hierzulande, sondern weltweit ist es der zweithäufigste Krebs bei Frauen. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation sterben jedes Jahr 250.000 Frauen daran, davon 80 Prozent in Entwicklungsländern.“

Aufgrund der fraglichen Prozentangaben vermittle der Flyer allerdings das Gefühl, „dass jeder das Leben seiner Tochter riskiere, wenn er diese nicht sofort zum Arzt schicke“ – so suggerierte es auch der oben erwähnte Fernsehspot mit Jette Joop, der nahe legte, Eltern würden verantwortungslos handeln, würden sie ihren Töchtern die Impfung vorenthalten. Diese Problematik wird auch von dem Stuttgarter Elternstammtisch aufgegriffen, der am 01.10.2007 das Flugblatt „Die HPV-Impfung ist echt uncool“15 veröffentlicht: „Wir fühlen uns von den Verantwortlichen manipuliert. Sie wittern das ganz große Geschäft und spielen mit unseren Ängsten und unserer Liebe zu unseren Kindern. Ein schlechtes Gewissen sollen wir haben, wenn wir unsere Töchter nicht impfen lassen. ‚Uncool‘ und ausgegrenzt sollen sich Mädchen fühlen, die im Gegensatz zu ihren Freundinnen ungeimpft sind.“

Doch angesichts der Nebenwirkungen der Impfung sei diese alles andere als „cool“. Der Stuttgarter Elternstammtisch richtet sich mit folgendem Satz an die „Lobby aus sogenannten Experten“: „Unsere Töchter stehen euch nicht als Versuchskaninchen zur Verfügung!“ Handelt es sich also hinsichtlich der HPV-Impfung um eine „Voreilige Vorsorge“, wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 06.10.2007 vermutet? Nach Ansicht „zahlreicher Experten“ hätte die STIKO vorschnell gehandelt, da die „Zulassung des Impfstoffs [...] auf sehr schmaler Wissensbasis“ erfolgt sei. Außerdem, so fügte die Berliner „tageszeitung“ am 16.11.2007 hinzu, gebe es „[f]ragwürdige Interessenkonflikte“ einiger STIKO-Mitglieder und verwies nochmals auf die engen Verflechtungen von Kommission und Industrie. Besonders kritikwürdig scheint jedoch die bereits weiter oben angesprochene „aggressive Propagierung“ der Impfung zu sein, die mit „Panikmache und Indoktrination“ gleichgesetzt wird. In der Stellungnahme „Mit Kano-

15 www.impfkritik.de/upload/pdf/HPV/HPV-Flugblatt.pdf.

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nen auf Spatzen schießen?“ des Bundesverbandes der Frauengesundheitszentren e.V. werden die „Ungereimtheiten der HPV-Impfung“ u.a. auf den „irreführenden“ Slogan „Impfung gegen Krebs“ zurückgeführt, dem dringend „umfassende und unabhängige Informationen“ gegenübergestellt werden müssten.16 Die Diskussion über mögliche Nebenwirkungen und Spätfolgen gewinnt gegen Ende des Jahres 2007 an Brisanz: Die 19jährige Österreicherin Jasmin Soreit verstirbt am 12.10.2007 – nur wenige Tage nach ihrer HPV-Impfung – an einer Atemlähmung im Schlaf. Zwar schließen die zuständigen Behörden einen Zusammenhang zwischen dem Tod der jungen Frau und der Impfung gegen HPV aus; die Eltern von Jasmin Soreit verfassen jedoch im Dezember 2007 einen offenen Brief, in dem sie feststellen, dass „eine Gesamtbetrachtung“ des Falls „zu dem Schluß führt, dass die HPV-Impfung der Auslöser für ihren Tod gewesen sein muß!“17 Fortan tobt in Österreich die Debatte über den ungeklärten Tod von Jasmin Soreit. Allen voran ist es der „Standard“, der mit Schlagzeilen wie „HPV-Impfung: Total alleingelassen“ (18.01.2008), „Aufklärung über Nebenwirkungen mangelhaft“ (19.01. 2008) oder „Rasch obduziert wird nur bei Mord“ (19.01.2008) den Aufklärungswillen der zuständigen Behörden hinterfragt. Wegen „Zweifel an der Unbedenklichkeit“ der Impfung, die sich durch weitere Meldungen von schweren Nebenwirkungen wie Multipler Sklerose erhärten,18 rät sogar der Präsident der österreichischen Krebshilfe Paul Sevelda von der Impfung ab und stoppt die Infokampagnen der Beratungsstellen (Standard, 18.01.2008). 2008 Die öffentliche Auseinandersetzung über mögliche Zusammenhänge von Impfung und Todesfällen wird in Deutschland etwas zögerlicher geführt. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) veröffentlicht am 18.01.2008

16 www.diametric-verlag.de/HPV-Impfung%20November%202007.pdf. 17 www.impfschaden.info/content/view/299/174/. 18 Zudem erscheint am 27.11.2008 ein Artikel, in dem darüber berichtet wird, dass „australische Ärzte eine Überprüfung des umstrittenen Impfstoffs Gardasil®“ fordern, „nachdem sich bei 3 Mädchen, kurz nach der Impfung mit HPV, eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse entwickelt hatte (www.zentrum-der-gesundheit.de/pankreatitis-und-hpv-impfung-ia.html).

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eine „Stellungnahme zum unklaren Todesfall aus Deutschland in zeitlichem Zusammenhang zu einer Gardasil-Impfung“.19 Hieraus wird ersichtlich, dass das PEI bereits im Sommer 2007 über „den plötzlichen und unerwarteten Tod einer 17-jährigen Frau aus Deutschland“ unterrichtet wurde, die „am Vortag“ ihres Todes „die zweite Injektion des HPV-Impfstoffes Gardasil erhalten hatte“. Da die Obduktion jedoch keine Hinweise auf eine mögliche Todesursache gab, wurde der „Fall als sogenannter ‚Plötzlicher ungeklärter Tod‘“ bewertet. Die „tageszeitung“ zitiert am 22.01.2008 den Präsident des Instituts Johannes Löwer, der für eine Zurücknahme der Zulassung für Gardasil® keinen Anlass sieht: „Plötzliche ungeklärte Tode treten auch ohne Impfungen auf.“ Allerdings sei es durchaus problematisch, dass die Impfung im zeitlichen Zusammenhang mit dem Tod stehe und als Ursache „theoretisch“ infrage komme. Ähnlich beurteilt auch die European Medicines Agency (EMEA) in ihrem „EMEA statement of the safety of Gardasil“ am 24.01.2008 die Impfung. Am 19.02.2008 meldet sich das PEI mit den oben erwähnten „Informationen zu den Untersuchungsergebnissen der beiden Todesfälle aus Deutschland und Österreich“ zu Wort.20 Hier wird abermals betont, dass „bei den beiden tragischen Todesfällen nach derzeitigem Kenntnisstand davon auszugehen“ sei, „dass es sich um ein zeitlich zufälliges Zusammentreffen, nicht jedoch um einen ursächlichen Zusammenhang mit der Gardasilimpfung handelt“. Dennoch liegt ein „Schatten über der Krebsimpfung“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 06.02.2008). Die Frauenzeitschrift „Brigitte“ fragt am 31.01.2008 „HPV: Riskante Krebs-Impfung?“ und scheut sich nicht, von einer „gigantischen Werbekampagne“ zu sprechen, die Frauen vermittle, dass – „wer seine Tochter nicht spätestens mit zwölf für die neue Impfung zum Kinderarzt oder Gynäkologen schleppt“ – eine „Rabenmutter“ sei.

19 www.pei.de/cln_115/nn_992504/DE/infos/fachkreise/am-infos-ablage/sik/ 2008-01-18-gardasil.html. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Stellungnahme „Fragen zur klinischen Prüfung und zur Zulassung“ vom 19.02.2008 (www.pei.de/cln_108/nn_992504/DE/infos/fachkreise/ impf-fach/hpv/studien.html). 20 www.pei.de/cln_115/nn_992504/DE/infos/fachkreise/impf-fach/hpv/obdu ktion.html.

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Bemerkenswert ist jedoch vor allem die Stellungnahme der Landesarbeitsgemeinschaft Mädchenarbeit NRW e.V., die in der Januar-Ausgabe der Fachzeitschrift „Betrifft Mädchen“ erschienen ist.21 Unter der Überschrift „HPV-Impfung: Eingeimpfte Ängste“ wird hier angemerkt, „dass eine Impfung ein massiver Eingriff in den Körper ist“. Und nicht nur dies: „Die Botschaft an die Mädchen lautet: Von Sex kriegen Mädchen Krebs“, was letztlich den Mädchen vermittle, sie seien „behandlungsbedürftig und dass mit ihrem Körper etwas nicht stimmt“. Die verkürzte Darstellung „Gesund ist, wer sich impfen läßt!“ unterwandere damit alle pädagogischen Bemühungen, „die Mädchen begleiten, sich in ihrem Körper (wohl) zu fühlen“. Ebenso deutliche Worte finden die Ärzte für individuelle Impfentscheidung e.V. in ihrer Stellungnahme vom 08.02.2008. Sie vermuten hier sogar, dass die Impfung „ein (oft trügerisches) Gefühl der Sicherheit“ vermittle und dadurch „negative Auswirkungen auf das Safer Sex-Verhalten und die Teilnahme an der Krebsvorsorge“ haben könnte.22 Im Februar werden zudem zwei TV-Beiträge gesendet, die die „Voreilige Entwarnung“ seitens der zuständigen Behörden hinterfragen. Während das ZDF-Magazin „frontal 21“ vor allem die unzulängliche Beratung kritisiert, deckt die Journalistin Sonja Mikich den Mangel an unparteiischer Beratung auf: Schüler und Schülerinnen, die im Rahmen einer HPV-Impfkampagne Besuch von der Arbeitsgemeinschaft PIKS bekommen hätten, würden nichts darüber erfahren, dass diese nicht nur von Land und Krankenkasse, sondern auch von Sanofi Pasteur MSD gesponsert wird.23

21 www.lippstadt.de/buergerservice/gleichstellung/arbeitsfelder_themen/HPV _Impfung_Kommentar.pdf. 22 www.individuelle-impfentscheidung.de/index.php?Itemid=13&id=39& opt ion=com_content&task=view. Hinsichtlich der „Früherkennung des Zervixkarzinoms“ bemerkt das „Ärzteblatt“ am 12.09.2008: „Daher muss die Zervixkarzinomfrüherkennung sowohl bei geimpften als auch bei ungeimpften Frauen unbedingt weitergeführt werden. Die HPV-Impfung wird dazu führen, dass die Zervixkarzinomfrüherkennung in ihrer jetzigen Form weniger effektiv wird.“ Vgl. „Die Krebsfrüherkennung ist keine Alternative zur HPV-Impfung“ (Ärzte Zeitung, 2.01.2009). 23 www.wdr.de/tv/monitor//sendungen/2008/0221/pdf/080221_c_impfung. pdf.

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Am 01.03.2008 ist es dann soweit: Das Feministische Frauen Gesundheits Zentrum Berlin e.V. (FFGZ) kommt in seiner Stellungnahme „Die HPV-Impfung – welchen Nutzen haben Mädchen und Frauen davon“ zu dem Schluss, „von der HPV-Impfung abzuraten“.24 Was auf diesen Beitrag folgt, sind mehrere Schriften, in denen nicht nur die „Infektionsprophylaxe gegen das humane Papillomavirus [...] uneingeschränkt befürwortet“ wird,25 sondern auch die „unrichtigen Behauptungen“ der Publikumspresse angeprangert werden.26 Alles in allem scheint jedoch der „Einbruch bei Krebs-Impfung“ (Frankfurter Rundschau, 17.06.2008) nicht mehr zu verhindern zu sein. Daher kommt der Nobelpreis für den Tumorforscher und Entdecker der krebsauslösenden Eigenschaften des Humanen Papillomvirus wie gerufen. „Nobelpreis für den Virologen Harald zur Hausen“, titelt das „Ärzteblatt“ am 10.10.2008. Doch auch zur Hausen trotzt der allgemeinen Begeisterung, wenn er auf einer Pressekonferenz anlässlich der Nobelpreisvergabe zu bedenken gibt, dass die „HPV-Vakzine schlicht zu teuer“ seien. In einem Interview mit dem „Focus Magazin“ vom 13.10.2008 unterstreicht er diese Meinung. Auf die Frage, ob sich seine 16jährige Enkelin auch hat impfen lassen, nimmt er zudem indirekt Bezug auf die unzureichenden Informationen der Impfstoffhersteller: „Aber auch meine Enkelin glaubte fälschlicherweise, dass sie nach der Impfung ‚safe‘ ist. Ich musste ihr erklären, dass sie trotzdem zu Vorsorgeuntersuchungen gehen muss, weil der Impfstoff nur zu 70 Prozent vor gefährlichen HPV-Viren schützt.“27 Angesichts dieser impliziten Kritik seitens des Erfinders wundert es nicht, dass die grundsätzliche wissenschaftliche Infragestellung der Impfung nicht mehr lange auf sich warten lässt: In der vielbeachteten Stellungnahme „Wissenschaftler/innen fordern Neubewertung der HPV-Impfung und ein Ende der irreführenden Informationen“ vom 25.11.2008 sprechen sich 13 MedizinerInnen und GesundheitswissenschaftlerInnen für die

24 www.frauengesundheitszentren.de/pdf/80414hpvstellungnahme.pdf. 25 Stellungnahme der Kommission für Infektionskrankheiten und Impffragen der DAKJ (Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendmedizin e.V.), April 2008 (www.dgpi.de/pdf/IK_SN_HPV_Befuerwortung_020408.pdf). 26 Stellungnahme der STIKO zur HPV-Impfung, April 2008 (www.ecomedmedizin.de/sj/impfdialog/Pdf/aId/10770). 27 Vgl. das Interview mit Harald zur Hausen im „Ärzteblatt“ vom 05.01.2009.

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umgehende Überprüfung der STIKO-Impfempfehlung aus.28 Diese sei erforderlich, da „zu dem Zeitpunkt der Empfehlung die Ergebnisse der entscheidenden Studien noch nicht publiziert“ waren. Diese „[h]eftige Kritik an Impfempfehlung“ (Süddeutsche Zeitung, 26.11.2008) gleicht einem „Nadelstich[e] vor dem Nobelpreis“ (Frankfurter Rundschau, 02.12.2008), denn „der Vorwurf, die Impfung sei – unter anderem auf Druck der Pharmakonzerne – übereilt eingeführt worden, ist bereits öfter erhoben worden, aber nicht in dieser Vehemenz.“ Das Robert-Koch-Institut sieht allerdings keinen Grund, die Impfung neu zu bewerten, und auch die STIKO sowie Harald zur Hausen weisen die Kritik der Dreizehn entschieden zurück (Ärzte Zeitung, 3.12.2008). In einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ vom 05.12.2008 gibt der Tumorforscher zu, dass er sich zwar „über einige Punkte in diesem Manifest sehr geärgert“ habe, räumt aber dennoch „Verbesserungsbedarf“ hinsichtlich der Datenlage ein. Der Streit um „Studien, Daten, Schuld und Moral“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2008) verschärft sich zusehends und führt zu einer „handfesten Eskalation“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2008): Auf der einen Seite wird das Manifest der 13 MedizinerInnen und GesundheitswissenschaftlerInnen als „anmaßend“ und ärgerlich bezeichnet, auf der anderen Seite wird es als Befreiungsschlag begrüßt.29 Dass der „Streit um Krebs-Impfung wuchert“ (tageszeitung, 10.12.2008) steht demnach außer Frage. Am 11.12.2008 kommen jedoch neue Vorwürfe hinzu: Die Nobel-Stiftung stehe unter Korruptionsverdacht, titelt die „Süddeutsche Zeitung“: „Bei Nobel fühlt man sich in der Nähe des Pharmariesen Astra Zeneca allzu wohl“, bemerkt die „Süddeutsche“ und gibt zu bedenken, dass die „Ehrung [...] der Impfung wohl zusätzliche Aufmerksamkeit beschert haben“ dürfte. Hat das „Nobelkomitee unter Verdacht“ (Süddeutsche Zeitung, 18.12.2008) den Prestige-Preis für illegale Werbezwecke benutzt?

28 www.uni-bielefeld.de/gesundhw/ag3/downloads/Stellungnahme_Wirksam keit_HPV-Impfung.pdf. 29 www.akf-info.de/conpresso/_data/StellungnahmeII_HPV_IMPFUNG.12. 08.pdf.

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2009 Diese Frage stellt sich auch der Bremer Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeseke. In dem Artikel der „Frankfurter Rundschau“ „Experiment an Gesunden“ vom 31.01.2009 wundert er sich, „warum der Preis ausgerechnet jetzt, wo der Impfstoff auf dem Markt sei, verliehen wurde – die eigentliche Erfindung liege ja schon 20 Jahre zurück.“ Am Beispiel der Projektgruppe „Zervita“ entfaltet der Artikel erneut die „Interessenverquickungen“ im HPV-Debakel, die „Wasser auf die Mühlen der Skeptiker“ darstellen: Die Gründung des Aufklärungsportals „Zervita“ erfolgte im Jahr 2006, also „exakt im Jahr der ersten Impfstoffzulassung“, auf Initiative des Tübinger Virologen Thomas Iftner. Seit November 2008 ist die Bundesforschungsministerin Annette Schavan Schirmherrin des Projektes, und kaum einer wisse, dass eben nicht die Politik, sondern vielmehr GlaxoSmithKline und Sanofi Pasteur MSD die Hauptsponsoren der Aufklärungskampagne seien. Dementsprechend falle die Botschaft von der Projektgruppe „Zervita eher schlicht aus: In bunten animierten Filmen (bis 15 Jahre), Videoclips à la Viva und MTV (ab 15 Jahre) und dem KampagnenSong „Sing Dein Leben“ werde den Mädchen vermittelt, dass sie sich vor dem ersten Sex impfen lassen müssen. Diese Botschaft setze nicht nur Mütter und Töchter unter Druck, so die Frauenbeauftragte Ulrike Hauffe, sondern funktioniere vor allem nach dem Motto: „Man ist selbst schuld, wenn man Krebs bekommt, denn man hätte sich ja impfen lassen können.“ Angesichts des Umstandes, dass Gebärmutterhalskrebs nach einer Schätzung des Robert-Koch-Instituts in Deutschland eine eher seltene Krebserkrankung bei Frauen ist, sei es fast so, „als wenn in unseren Breitengraden ein flächendeckendes Impfprogramm gegen Malaria gestartet würde.“ Auch zu Beginn des Jahres 2009 reißen die Schreckensmeldungen über unerwünschte Nebenwirkungen der Impfung nicht ab. So meldet das „Ärzteblatt“ am 10.02.2009, dass die spanische Regierung eine Charge des Impfstoffs Gardasil® suspendiert habe, nachdem zwei Mädchen nach der Impfung ins Krankenhaus mussten.30 Und nur eine Woche später wird über das „Guillain-Barré-Syndrom nach HPVImpfung“ berichtet, an dem in den USA 36 Menschen einige Wochen

30 Vgl. den „Standard“-Artikel „Krankheitsfälle nach HPV-Impfung“ vom 11.02.2009 sowie die Meldung der „tageszeitung“ vom 13.02.2009.

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nach der Impfung erkrankt seien (Ärzteblatt, 17.02.2009). Allerdings sieht die Europäische Arzneimittelagentur (EMEA) keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Gabe von Gardasil® und den schweren Krampfanfällen. Vielmehr rät sie – ebenso wie das PEI31 – den Mitgliedsländern, die Impfung gemäß den nationalen Impfplänen fortzusetzen (Ärzteblatt, 20.02.2009). Gleichzeitig sieht sich das PEI in Anbetracht der im November des vergangenen Jahres veröffentlichten Stellungnahme der 13 WissenschaftlerInnen in der Pflicht, die Impfung ins rechte Licht zu rücken. Am 19.02.2009 wird auf den Internetseiten des Instituts die Replik „Wie wirksam ist die HPV-Impfung? – Die Sicht der Zulassungsbehörde“ veröffentlicht.32 Hier wird zugestanden, dass „[g]rundsätzlich die Wirksamkeit [...] eines Impfstoffes an dem Ausmaß gemessen [wird], in dem diejenige Krankheit verhütet wird, die von den Erregern ausgelöst wird, gegen die der Impfstoff gerichtet ist.“ Noch deutlicher wird dieser Punkt im „Ärzteblatt“ vom 27.02.2009 formuliert. Das PEI macht hier nachdrücklich klar, dass es „absolut unethisch“ sei, „in einer klinischen Studie der Kontrollgruppe die Standardtherapie vorzuenthalten und auf das Auftreten des Karzinoms mit allen bekannten Risiken zu warten.“ Diese Engführung der medizinischen Debatte zu Beginn des Jahres 2009 darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass ebenso die Boulevard-Presse mit der Kritik an der HPV-Impfung hadert. Mit dem öffentlichen Sterben der englischen „Big Brother“Kandidatin Jade Goody,33 die den Kampf gegen den Gebärmutterhalskrebs am 22.03.2009 verlor, melden sich die BefürworterInnen der Impfung zu Wort. Am 24.03.2009 wird auf den Seiten der Austria Presse Agentur Gruppe (APA) der Artikel „Öffentlicher Tod der Jade

31 www.pei.de/cln_108/nn_992504/DE/infos/fachkreise/am-infos-ablage/sik/ 2009-02-12-hpv-spanien-info.html. 32 www.pei.de/cln_115/nn_992504/DE/infos/fachkreise/am-infos-ablage/sik/ 2009-02-19-hpv-stellungnahme-hpv-wirksamkeit.html. Die Replik erscheint am 19.02.2009, da die Stellungnahme der 13 Wissenschaftler/innen in modifizierter Form einen Tag zuvor in Ausgabe 8 des „Ärzteblattes“ online publiziert wurde. Vgl. „Diskussion um HPV-Impfung neu entfacht – eine Dokumentation“ (Ärzteblatt, 20.02.2009). 33 Vgl. „Sterben vor laufender Kamera“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.02.2009) sowie „Big Brother Star Goody ist tot“ (zeit online, 22.03.2009).

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Goody regt zum Nachdenken an“ publiziert.34 Hier wird zuallererst die Frage gestellt, warum man es Vorsorgemaßnahmen so schwer mache. Denn immerhin habe man „eine Impfung, die einen Großteil dieser Schicksale vermeiden könnte“, eine „Impfung gegen Krebs, für deren Grundlagen ein Mann 2008 den Nobelpreis erhalten hat, und wollen sie nicht?! Das ist doch unfassbar!“. Konsumenten müssten wissen: „Diese Vorsorgemaßnahme ist sicher und sinnvoll“, und daher sei es nicht nur „Zeit für einen Umschwung“, sondern auch Zeit für ein „Ende des Schürens irrationaler Ängste“, was im letzten Jahr „massiv passiert“ sei. Jade Goody hätte nun gezeigt, dass Gebärmutterhalskrebs kein „theoretisches Schicksal“ ist, was der Vorsorgemaßnahme wieder auf die Beine helfen könne, die „infolge des Tenors der medialen Berichterstattung zu diesem Thema“ doch arg in Verruf geraten sei. Auch das RTL Mittagsjournal „Punkt 12“ vom 24.02.2009 lässt es sich nicht nehmen, den Tod Jade Goodys mit einem Aufruf zur Impfung zu verbinden.35 Inwiefern sich diese Berichterstattung auf das Impfverhalten in Deutschland auswirkte – in Großbritannien soll der Krebstod Jade Goodys bereits zu einem Anstieg der Impfrate von 30 Prozent geführt haben – ist unklar. Und obwohl auch im Jahr 2010 weiter heftig über die Impfung gestritten wurde,36 ließen sich etwa 1,5 Millionen Mädchen und Frauen in Deutschland impfen.

TELL SOMEONE : I CH SAG ’ S WEITER

– DU

AUCH ?

Dieser Erfolg gründet meines Erachtens auf der gelungenen Verbindung von popkulturellen Strategien und biopolitischem Kalkül. Denn seien es soziale Netzwerke wie myspace oder Facebook, die durch das ihnen eigentümliche „Freunde-Sammeln“ neue Kommunikations- und Werbewege erschließen, oder das Lied „Sing dein Leben“, das als Empowerment junger Mädchen fungieren soll: Popula-

34 www.ots.at/presseaussendung.php?schluessel=OTS_20090324_OTS0158. 35 www.rtl.de/punkt12/punkt12.php. 36 Vgl. den Disput zwischen Harald zur Hausen und dem Vorsitzenden der Ärztekammer Günter Jonitz (http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch /0,1518,636343,00.html) oder die Diskussion über den Tod einer Engländerin nach der HPV- Impfung (http://www.spiegel.de/wissenschaft/medi zin/0,1518,651967,00.html).

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risierung meint hier BioPopularisierung. Während Mädchen als frech, stark, easy und cool adressiert werden, wird ihr Körper als gefährdet und behandlungsbedürftig konfiguriert. Diese Konfiguration führt nicht nur zu einer Gewinnmaximierung der Pharmaindustrie – gesund ist, wer sich impfen lässt –, sondern auch zu einer Kontrollmaximierung des weiblichen Körpers, da der Biopopularisierung die Medikalisierung des Mädchenkörpers inhärent ist. Werfen wir einen Blick auf die (kursiv gedruckten) Diskursstimmen, um die Medikalisierung im Fall der HPV-Impfung nachvollziehen zu können: Wenn ein Mädchen schon bald ihr eigenes Leben führt, so die einhellige Meinung, zeuge dies von einer bevorstehenden Zäsur, die nicht nur elterlichen, sondern vor allem medizinischen Schutz erfordere. Der Mädchenkörper wird allerdings nicht nur als bedroht, sondern vor allem als behandlungsbedürftig entworfen. An dieser Stelle zeigt sich, dass mit der Medikalisierung eine Stigmatisierung einhergeht: Da mit dem Mädchenkörper etwas nicht stimmt, bedarf er einer kontrollierten Behandlung. Diese erweist sich jedoch als ein schwieriges logistisches Unterfangen, da die Impfprogramme seit Mitte der 1970er Jahre aus den Schulen verschwunden sind. Deshalb wird eine weitere effiziente Waffe im Kampf um den Körper in Anschlag gebracht, die nicht das Einimpfen von Vakzinen, sondern das Einimpfen von Ängsten meint. Die Panikmache und Indoktrination der HPV-Kampagne führen zu einer Impfbereitschaft, die auf Schuldgefühlen und Angst gründet und damit das logistische Problem der Erreichbarkeit von Mädchenkörpern löst. Und nicht nur dies: Mädchen, die das checken, sagen es nicht nur weiter und lassen sich gewissenhaft impfen, sondern partizipieren zugleich an einer popkulturellen Community, die als EmpowermentBewegung designt ist und wohl am augenfälligsten durch den Song Sing Dein Leben repräsentiert wird. Damit setzt die Medikalisierung im Fall von HPV auf Popularisierung, was letztlich zu einer Profitabilisierung der Impfstoffe Gardasil® und Cervarix® führt. Denn My Space, Silbermond, Rixi und Jette Joop bieten nicht nur ungeahnte Möglichkeiten für die Krankenkassen im Kampf um Mitglieder, sondern auch ungeahnte große Gewinne für die Pharmaunternehmen. Hier zeigt sich das Definitivum der Silbe „Bio“ von seiner eindrücklichsten Seite: „Bio“ ist eng verflochten mit der Ökonomisierung des Lebens, da Leben im Kontext von „Bio“ eine steigerbare Ressource darstellt. Biopop ist vor diesem Hintergrund die Machtform,

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mit der sich lukrative Körpermärkte erschließen lassen. Als die Zusammenführung von Biomacht und Popkultur garantiert Biopop vor allem die Erreichbarkeit der Körper: Ikonisierung (Rixie), Emotionalisierung (Sing dein Leben) und nicht zuletzt Agitierung (myspace, Facebook) führen zu einer umfassenden logischen wie logistischen Medikalisierung des Mädchenkörpers.

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L ITERATUR Foucault, Michel (1973): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1976): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1977): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (2003): Die Anormalen. Vorlesungen am College de France (1974-1975), Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gehring, Petra (2006): Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M.: Campus. Jacke, Christoph (2004): Medien(sub)kultur. Geschichten – Diskurse – Entwürfe, Bielefeld: transcript. Kolip, Petra (Hg.) (2000): Weiblichkeit ist keine Krankheit. Die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen, Weinheim/München: Juventa. Kolip, Petra/Glaeske, Gerd (2002): „Die Medikalisierung weiblicher Biographien im mittleren Alter“, in: Schweizerische Ärztezeitung 10, S. 479-482. Sabisch, Katja (2009): „‚Hoffnungslos durchseucht‘. Zur diskursiven Infektiosität des Humanen Papilloma Virus in den deutschen Medien, 2006-2009“, in: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft 1, 2009, S. 107-124. Schmidt, Bettina (2000): „Mädchen als neue Klientel. Die Medikalisierung der Pubertät durch die Mädchengynäkologie“, in: Petra Kolip (Hg.), Weiblichkeit ist keine Krankheit. Die Medikalisierung körperlicher Umbruchphasen im Leben von Frauen, Weinheim/ München: Juventa. S. 31-57.

Psychologische und religiöse Verbesserungsprogramme der Seele

Heilung der Psyche, Optimierung des Selbst Diskursiver Wandel in den Psy-Disciplines: Der Fall der Familientherapie (1940-2000) J ENS E LBERFELD

Von der Familientherapie zur Lebensberatung, vom Paar-Seminar zum Stressmanagement-Ratgeber – Therapie, Beratung und Coaching sind zum festen und allgegenwärtigen Bestandteil unseres Alltags geworden. Dabei geht es gerade nicht mehr nur um die Heilung psychischer Krankheiten, sondern in einem weit umfassenderen Sinn um Arbeit am Selbst. Dies kann so verschiedene Dinge umfassen wie die Hilfe in privaten Lebenskrisen, die Lösung von Beziehungskonflikten oder die Steigerung der individuellen Leistungsfähigkeit. Der vielschichtige Prozess der Therapeutisierung, also die Ausbreitung und Anwendung therapeutischen Wissens und Praktiken in unterschiedlichsten Bereichen der Gesellschaft, zählen mittlerweile zu den wichtigsten Formen einer „Optimierung des Humanen“ (vgl. Maasen/ Elberfeld/Eitler/Tändler 2011). Mir geht es im Folgenden um die Erörterung der Frage, wie sich die Psychotherapie innerhalb weniger Jahrzehnte von einem sozialräumlich relativ begrenzten Phänomen zu einer gesellschaftlich breitenwirksamen „Technologie des Selbst“ (vgl. Foucault/Martin/Martin 1993) zu entwickeln vermochte. Dies war nur möglich, so die hier vertretene These, aufgrund eines tief greifenden Wandels im Verständnis von psychischer Krankheit. Durch diesen Wandel wurden neue Behandlungsgegenstände diskursiv konstruiert und die Erschließung weiterer Anwendungskontexte ermöglicht.

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Nachstehend konzentriere ich mich auf die Geschichte der Familientherapie und der daraus hervorgegangenen Systemischen Therapie und Beratung in der BRD seit den 1960er Jahren. Da diese nur vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Anfänge zu verstehen ist, werden sie ebenfalls betrachtet. Dort entstand die Familientherapie als neuartige psychotherapeutische Richtung, die sich explizit der Behandlung von Familien und Paaren verschrieb. Lassen sich erste Ansätze bereits in den 1930er und 1940er Jahren ausmachen, so wurden die zentralen Konzepte erst in den 1950er Jahren erarbeitet. Seit ihrer Institutionalisierung und Professionalisierung im nachfolgenden Jahrzehnt zählt sie heute zu den etablierten Schulen der Psychotherapie – neben Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Humanistischer Psychologie (die zum Teil selbst „familienorientierte“ Ausrichtungen entwickelten respektive von der Familientherapie übernahmen). Aus zweierlei Gründen bietet sich die Familientherapie als Untersuchungsobjekt an. Da sie die verschiedenen Wandlungen im Prozess der Therapeutisierung aktiv mitmachte und nicht wie manch andere Richtungen in angestammten Bereichen und etablierten Konzepten verharrte, lassen sich an ihr die diachronen Entwicklungen besonders gut verfolgen. Außerdem stellt sie eine außerordentlich selbstreflexive und selbstkritische Variante dar, woraus paradoxerweise eine stärkere Normalisierung resultierte (zur Normalisierung vgl. Link 1999). Folglich lassen sich an ihr die Ambivalenzen einer therapeutischen „Sorge um sich“ (Michel Foucault) prononcierter aufzeigen und problematisieren als bei offensichtlich normierenden und disziplinierenden Psy-Disciplines.1 Das Augenmerk richtet sich auf das Krankheitskonzept der Familientherapie, dessen Veränderungen und Verschiebungen idealtypisch nachgezeichnet werden. Entwicklungen im institutionellen Anwendungskontext und im dominierenden Sub-

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Den Begriff der Psy-Disciplines übernehme ich von Nikolas Rose. Anstatt die Grenzziehungen und Distinktionen zwischen den verschiedenen Disziplinen und Professionen, die sich im weitesten Sinn auf psychologisches Wissen beziehen, zu übernehmen, betont er die Heterogenität der Anwendung (Psychiatrie, Psychologie, Psychotherapie, Pädagogik, Beratung, Coaching, Seelsorge etc.) sowie die Diffusion in unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft (Medizin, Bildung, Soziale Arbeit, Sport, Wirtschaft etc.) (vgl. Rose 1998 und Rose 1999).

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jektivierungsmodus werden ebenso wie der weitere historische Kontext partiell berücksichtigt, ohne dass sie an dieser Stelle in der gebotenen Ausführlichkeit behandelt werden können. Abschließend wird eine systematische Einbindung des Begriffs der Optimierung in Foucaultsche Konzepte der Normierung und Normalisierung zur Diskussion gestellt.

E NTPATHOLOGISIERUNG PSYCHISCHER K RANKHEIT UND E NTSTEHUNG DER F AMILIENTHERAPIE IN DEN USA In ihrem Bemühen, ein anderes Verständnis von psychischer Krankheit sowie einen anderen therapeutischen Umgang mit ihren PatientInnen zu entwickeln, stand die Familientherapie nicht allein. Die Etablierung der Psychiatrie als Wissenschaft und medizinischer Profession in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelang ihr vor allem durch die Orientierung an Theorien und Methoden der Naturwissenschaften und der Abgrenzung von vermeintlich irrationalen und spekulativen Ansätzen wie der Hypnose (vgl. Schmitt 1983; Mayer 2002). Als Reaktion auf den von manchen BeobachterInnen als Vernaturwissenschaftlichung von Medizin und Psychiatrie beklagten physiologisch-anatomischen Reduktionismus entstanden alternative Richtungen, einschließlich der Psychoanalyse (wenngleich auch diese bereits seit Freud als Naturwissenschaft auftrat, was KritikerInnen dieser Auffassung als „szientistisches Selbstmissverständnis“ auslegten). In gewisser Weise führte die Etablierung der Psychiatrie um 1900 zur Entstehung und Ausdifferenzierung unterschiedlicher PsyDisciplines mit jeweils divergierenden Konzepten zur Erklärung und Behandlung psychischer Erkrankungen (vgl. Roelcke 2008). So grenzten sich die Psychoanalyse bzw. Psychotherapie dezidiert von der grundlegenden Annahme der damaligen Psychiatrie ab, die Wilhelm Griesinger, Professor an der Berliner Charité, Mitte des 19. Jahrhunderts auf die Formel brachte, Geisteskrankheiten seien Gehirnkrankheiten (vgl. Schott/Tölle 2006). Statt einer kausalen Rückführung auf körperliche Defekte im Individuum betonten KritikerInnen die Notwendigkeit, nach der Funktion und einem möglicherweise verborgenen Sinn seelischen Leids zu fragen (vgl. Engstrom/Roelcke 2003; Engstrom 2004). Dessen ungeachtet schaffte es die Psycho-

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therapie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum einmal, die Phalanx der medizinisch-somatischen Psychiatrie an den Kliniken und insbesondere den Universitäten zu durchbrechen. Die Psychoanalyse fand zumindest in urbanen Zentren wie Berlin, Wien, London, New York oder auch Kalkutta eine gewisse Verbreitung (vgl. Schröder 1995; Jensen 2011). Gleichwohl blieb sie gesamtgesellschaftlich betrachtet ein marginales und in der Anwendung sozial exklusives Phänomen. Am ehesten gelang ihr die Etablierung in den USA, wo sie seit der berühmten Vortragsreise Sigmund Freuds 1909 auch in der scientific community eine gewisse Anerkennung genoss (vgl. Zaretsky 2009: 97ff). Demgemäß fiel den USA eine Vorreiterrolle im Prozess der Therapeutisierung zu, der nach einer ersten Konjunktur in den 1920er Jahren spätestens seit den 1950er Jahren flächendeckend einsetzte (vgl. Illouz 2009; Moskowitz 2001; Capshew 1999; Herman 1995). Die Familientherapie entstand im Kontext einer kritischen Absetzbewegung vom psychiatrischen Mainstream. Zwei Entwicklungen griffen dabei ineinander. Zum einen wurde in verschiedenen Anstalten und Sanatorien bereits seit den 1930er Jahren der Versuch unternommen, psychotherapeutische Methoden bei der Behandlung von Psychosen anzuwenden (vgl. Beels 2002). Dies stellte einen Bruch mit dem orthodox-freudianischen Standpunkt dar, wonach nur Neurosen wie Neurasthenie oder Hysterie, nicht jedoch die schwereren Fälle der Psychosen, etwa die Schizophrenie, Gegenstand psychoanalytischer Verfahren sein konnten. Zu den ProtagonistInnen einer unorthodoxen Psychoanalyse bzw. Psychodynamik zählten unter anderem Harry Sullivan und Frieda Fromm-Reichmann. Beide betonten die Rolle familiärer Beziehungen für das Verständnis und die Heilung von SchizophreniepatientInnen. Besonders Fromm-Reichmanns ChestnutLodge-Sanatorium in Maryland wurde in den 1950er Jahren zur wohl einflussreichsten Geburtsstätte der Familientherapie. Zum anderen wurde seit Ende der 1940er Jahre an mehreren Orten nach neuartigen wissenschaftlichen Theorien zur Erklärung der Schizophrenie geforscht. Die wichtigsten Vorhaben wurden von Gregory Bateson am Veterans Administration Hospital im kalifornischen Palo Alto, von Theodor Lidz an der Yale University sowie von Lyman Wynne und Margaret Singer am National Institute of Mental Health bei Washington D.C. geleitet (vgl. Bateson 1956; Lidz/Fleck 1965; Wynne/Singer 1963). Allen gemeinsam war, dass sie die Entstehung

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der Schizophrenie nicht mehr auf die individuelle Psyche der betroffenen Person zurückführten, sondern auf Beziehungsstrukturen und Kommunikationsmuster in der Familie. Das hieß, nicht der Patient war geisteskrank, vielmehr trieb ihn das Verhalten seiner engsten Angehörigen sprichwörtlich in den Wahnsinn. Das letztlich einflussreichste und epistemologisch radikalste Konzept entwarf die Palo Alto-Group (vgl. Edmond/Picard 1991). Bateson, ursprünglich Anthropologe und zeitweise Ehemann von Margaret Mead, war als Teilnehmer an den berühmten MacyKonferenzen in New York Ende der 1940er, Anfang der 1950er Jahre direkt an der Entstehung der Kybernetik beteiligt. Die Kybernetik hatte, aufbauend auf interdisziplinären Forschungsprojekten während des Zweiten Weltkrieges, eine allgemeine Theorie der Steuerung von Systemen entwickelt. Dazu verband man Konzepte der Biologie und Physiologie mit der mathematischen Informationstheorie sowie ingenieurswissenschaftlichen Modellen der Selbstregulation. Egal ob Mensch oder Maschine, Zelle oder Gesellschaft, alles konnte als Kommunikationssystem begriffen werden, dass sich entsprechend des Feedback-Konzepts mittels Rückkopplungsschleifen steuert (vgl. Pias 2004; Heims 1991; Hagner/Hörl 2008). Anfang der 1950er Jahre beantragte Bateson bei der Rockefeller Foundation Gelder für ein Forschungsprojekt zu Interaktionsmustern bei Schizophrenen. Auf diese Weise verband sich der geschulte anthropologische Blick Batesons mit seinem neuen Interesse an Kybernetik und richtete sich statt auf exotische Südsee-Völker nun auf die nicht minder fremd erscheinende Welt der PsychiatriepatienteInnen am Veterans Administrations Hospital (vgl. Lipset 1980; Lutterer 2000). Resultat war die bekannte Double-Bind-Theorie (vgl. Bateson 1956). Laut ihr kann die Flucht in als schizophren wahrgenommenes Verhalten die Folge paradoxer Kommunikationsmuster sein, die auf unterschiedlichen Ebenen sich widersprechende Anforderungen enthalten. Klassisches Beispiel hierfür ist die Aufforderung einer Mutter an ihren Sohn, endlich selbstständig zu werden, während sie ihn fest umschlungen hält. Die Botschaften auf der verbal kommunizierten Inhaltsebene und auf der nonverbalen Beziehungsebene befinden sich in einem logischen Widerspruch und praktischen Widerstreit zueinander und können deshalb nicht beide gleichzeitig erfüllt werden – der Sohn steckt in einem double-bind fest. Egal welcher Mitteilung er schließlich Folge leistet, immer verstößt er gegen die andere; was ihm von der Mutter

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stets aufs Neue vorgeworfen werden kann. Ist es einem weder möglich, auf die Metaebene zu wechseln und das Paradox selbst zu thematisieren, noch die Interaktion schlichtweg abzubrechen, was in sozial und emotional engen Beziehungsformen wie der Familie oder Ehe nicht ohne weiteres durchführbar ist, wird die Flucht in scheinbar irrationales, dem sozialen Kontext nicht angemessenes Verhalten zur letzten Option. Mit diesem Konzept wurde der Grundstein einer kybernetischen Theorie und Methodik der Familientherapie gelegt. Zwar musste sie sich bis in die 1970er Jahre gegen konkurrierende psychoanalytische und psychodynamische Ansätze in der Familientherapie durchsetzen, aber auch in diese waren die zentralen Neuerungen der Kybernetik und Systemtheorie eingeflossen. In dreierlei Hinsicht stellten sie einen Bruch mit zentralen Axiomen der Psychiatrie und Psychotherapie dar. Behandlungsgegenstand war nicht mehr das Individuum, sondern die ganze Familie, verstanden als ein System. Damit wurde zugleich der eigentliche, so genannte Indexpatient entpathologisiert. Des Weiteren richteten die FamilientherapeutInnen ihr Augenmerk auf die zu beobachtenden Kommunikationsmuster und nicht auf den Körper, die Psyche oder das Verhalten. Und schließlich trat an die Stelle des naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungs-Modells, wie es in der medizinisch-somatischen Psychiatrie, aber auch in der (neo-)behavioristischen Verhaltenstherapie vorherrschte, das kybernetische Feedback-Konzept, in dem die Annahme linearer Kausalität durch die der Zirkularität verdrängt wurde. Die FamilientherapeutInnen zogen hieraus den Schluss, dass sich zur Veränderung eines Individuums dessen soziale Umwelt zu ändern habe: seine Familie.

S ELBSTREGULATION UND F AMILIENHOMÖOSTASE . N ORMALISIERUNG IM „ THERAPEUTISCHEN J AHRZEHNT “ Die Familientherapie entstand in Westdeutschland mit Gründung der Internationalen Arbeitsgemeinschaft für Familienforschung und Familientherapie, kurz AGF, 1972. Diesem Ereignis ging die Ende der 1950er Jahre einsetzende Rezeption US-amerikanischer Arbeiten voraus (vgl. Elberfeld 2011). Eine wichtige Rolle kam Helm Stierlin zu, ein junger Psychiater, der nach seinem Studium bei Alexander

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Mitscherlich und Viktor von Weizsäcker in den 1950er Jahren in die USA ging. Dort war er bis zu seinem Ruf an die Universität Heidelberg 1974 rund zwanzig Jahre wissenschaftlich und klinisch tätig und lernte durch seine Beschäftigungen am Chestnut-Lodge-Sanatorium sowie am National Institute of Mental Health die hic et nunc entstehende Familientherapie aus erster Hand kennen (vgl. Stierlin 2003; Roelcke 2004). Mit Rezensionen englischsprachiger Veröffentlichungen, Übersetzungen von Aufsätzen und dem Konzipieren von Themenheften war Stierlin maßgeblich für den Transfer ihrer Theorien und Methoden verantwortlich. Hierzu nutzte er die von Mitscherlich in der Nachkriegszeit gegründete Zeitschrift „Psyche“, die zum einflussreichsten Medium der westdeutschen Psychoanalyse wurde (vgl. Freimüller 2008; Dehli 2007). Die erste eigenständige deutschsprachige Publikation stammte jedoch aus der Feder des Gießener Psychiatrieprofessors Horst-Eberhard Richter. Dessen 1967 in zweiter Auflage als Rowohlt-Taschenbuch erschienene Monographie „Eltern, Kind und Neurose“ wurde weit über die Fachöffentlichkeit hinaus wahrgenommen und avancierte „plötzlich zu einem regelrechten Kultbuch und zur Pflichtlektüre für die Kinderladen-Gruppen“ (Richter 2001: 101). Das und die Veröffentlichung weiterer Bücher wie „Patient Familie“ und „Die Gruppe“ machten Richter Anfang der 1970er Jahre zum prominentesten Protagonisten der bundesdeutschen Familientherapie. Aber auch in organisatorischer Hinsicht nahm er eine wichtige Funktion ein, initiierte er doch mit einem Förderantrag bei der „Stiftung für die Deutsche Wissenschaft“ die Gründung der erwähnten AGF. Dieser Zusammenschluss von PsychiaterInnen, PsychologInnen, TherapeutInnen und Ehe-BeraterInnen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz stellte die erste familientherapeutische Vereinigung dar (vgl. Reiter 1991). Durch Vernetzung, Entwicklung eigener Konzepte und Popularisierung mittels breitenwirksamer Publikationen und öffentlicher Tagungen hatten die gut zwei Dutzend WissenschaftlerInnen entscheidenden Anteil am Entstehen der hiesigen Familientherapie (vgl. Richter/Strotzka/Willi 1976; Dierking 1980). Zwei Kontexte beeinflussten die rasche Entwicklung und können mit den Begriffen Psychiatrie-Enquête und Psycho-Boom umschrieben werden. Während psychotherapeutische Konzepte in der US-amerikanischen Psychiatrie schon seit längerem Verwendung fanden, wurden sie in den westdeutschen Anstalten noch kaum angewandt (vgl.

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Hanrath 2002). Dies begann sich erst im Laufe der 1960er Jahre zu ändern, als gerade seitens einer jüngeren Medizinergeneration neuartige Verfahren der Gruppen- und Gesprächstherapie ausprobiert wurden (vgl. Veltin 2003). Die inhaltliche Modernisierung wurde begleitet von Forderungen nach einer Demokratisierung des Klinikalltags und einer Liberalisierung des Arzt-Patient-Verhältnisses (vgl. Kersting 2003). Ihren Höhepunkt erlebte diese Reformbewegung mit der Psychiatrie-Enquête der 1970er Jahre (vgl. Deutscher Bundestag 1975). Obwohl nicht alle an sie geknüpften Hoffnungen erfüllt wurden, leitete sie gleichwohl einen tief greifenden Wandel der „psychiatrischen Ordnung“ (Castel 1979) ein. Entscheidend für den Prozess der Therapeutisierung war zum einen der Umbau des alten Anstaltswesens hin zu einem umfassenden System psychosozialer Versorgung (vgl. Aktion Psychisch Kranke 2001). Mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates im „sozialdemokratischen Jahrzehnt“ (Faulenbach 2004) entstanden zahlreiche Einrichtungen, die sich nicht mehr nur an psychisch Kranke im engeren medizinischen Sinn richteten (vgl. Grob 1991; Gijswijt-Hofstra/Oosterhuis/Vijselaar/Freeman 2005). Diese De-Institutionalisierung bedeutete zugleich eine sukzessive De-Psychiatrisierung, da in den neu entstandenen Strukturen VertreterInnen der nicht-medizinischen Psy-Disciplines, also klinische PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, SeelsorgerInnen, SozialarbeiterInnen und PädagogInnen, die Mehrheit stellen sollten. Damit wurde eine strukturelle Bedingung für die Therapeutisierung geschaffen. Zum anderen fanden sowohl innerhalb als auch außerhalb der Psychiatrie psychotherapeutische Methoden eine immer größere Verbreitung. Dazu bei trug das Entstehen immer neuer Therapien, die oftmals aus den USA rezipiert wurden. Neben der Familientherapie waren dies vor allem die Verhaltenstherapie sowie die Humanistische Psychologie bzw. die daraus hervorgegangene Gesprächstherapie (vgl. den Beitrag von Anna Sieben in diesem Band). Die zunehmende Akzeptanz der Psychotherapie zeigte sich zudem an der 1967 erstmals bundesweit geregelten Übernahme der Kosten seitens der Krankenkassen sowie an ihrem Einbezug in die überarbeiteten Curricula für das Medizin- und Psychiatriestudium (vgl. Roelcke 2008). Einher mit der Verbreitung der Psychotherapie ging der so genannte Psycho-Boom (vgl. Maasen 1998: 49-92; Tändler 2011). Seit Ende der 1960er Jahre fand Psychotherapie in einem wachsenden Ausmaß jenseits von etablierten Institutionen und Professionen Ver-

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breitung. Soziale Träger dieser Entwicklung waren unter anderem Teile der Neuen Linken „um 1968“, wie die berühmten Kommunen Eins und Zwei, die mit Freud, Marcuse und vor allem Reich für eine „Befreiung des Individuums“ von den Zwängen einer kapitalistischbürgerlichen Gesellschaft kämpften (vgl. Elberfeld 2010; Albrecht 2006; Krovoza 2001). Psychotherapie wurde dabei ohne professionelle ExpertInnen praktiziert und diente weniger der Behandlung psychischer Erkrankungen als einer politisch konnotierten Arbeit am Selbst. Eine Fortsetzung und Ausdehnung erlebte dieser ‚Graue Therapiemarkt‘ im ‚Alternativen Milieu‘ der 1970er Jahre (vgl. Reichardt/Siegfried 2010). Teilweise in Überschneidung zur Esoterik-Szene und später auch der New Age-Bewegung entstand ein schwer zu überblickendes Geflecht von Zeitungen, Läden, Instituten, Verlagen, Seminarhäusern etc., das losgelöst vom Feld der etablierten PsyDisciplines an den Universitäten und in den Kliniken bis heute prosperiert (vgl. Eitler 2007; Eitler 2010a). Die Neuartigkeit bestand darin, dass Therapie zu einer sozialen Praxis wurde, die man anwandte, ohne krank sein zu müssen, mit dem dezidierten Ziel, das eigene Selbst, die Psyche, den Körper oder das Karma zu verändern. Der Psycho-Boom war außerdem ein massenmediales Phänomen. Seit den späten 1960er Jahren führten immer mehr Zeitungen und Zeitschriften Ratgeberkolumnen ein, die sich psychotherapeutischer Konzepte bedienten, beispielsweise die Zeitschriften „Eltern“ oder „Bravo“, aber auch das Schweizer Boulevard-Blatt „Blick“ (vgl. Bänziger/Duttweiler/Sarasin/Wellmann 2010). 1974 war die Nachfrage so groß geworden, dass die deutsche Ausgabe von „Psychologie Heute“ herausgebracht und zum auflagenstärksten sowie wohl einflussreichsten Organ der Therapeutisierung werden konnte. Neben dem Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt vermochte sich ebenfalls gegen Ende der 1960er Jahre das Genre der Ratgeberliteratur zu etablieren (vgl. Raapke/Schindler 1988; Macho 1999). Zwar existiert die Tradition der Ratgeber schon wesentlich länger, neu war jetzt aber ihre im weitesten Sinn therapeutische Ausrichtung. Mittlerweile sind die unzähligen Lebensratgeber zu Fragen der Erziehung, Partnerschaft, beruflichem Erfolg oder einfach zum Glück eines der bedeutendsten Segmente nicht nur im deutschen Buchmarkt geworden. Wie gelang es nun der Familientherapie, in diesem Kontext Fuß zu fassen? Die Professionalisierung und Institutionalisierung der Familientherapie fand quer zu den bisherigen Disziplingrenzen und An-

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wendungsfeldern der Psy-Disciplines und insbesondere der Psychiatrie statt (vgl. Elberfeld 2011). Zu Zeiten der AGF prägten noch wissenschaftlich tätige Universitätspsychiater, allen voran Richter in Gießen, Stierlin in Heidelberg, aber auch Eckhard Sperling in Göttingen, die Szenerie. Mit der rasch steigenden Nachfrage nach einer Aus- bzw. Weiterbildung in Familientherapie im Verlauf der 1970er Jahre wandelte sich Zusammensetzung und Ausrichtung der Familientherapie. Fragen der konkreten therapeutischen Praxis, der Ausbildung sowie der Interessenvertretung gewannen dadurch erheblich an Gewicht. Dies führte letztlich auch zum Ende der AGF und der Gründung der „Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie“ (DAF) 1978, die zunächst als Zusammenschluss und Koordinationsinstanz für die bundesweit gegründeten Selbsthilfeinitiativen angehender FamilientherapeutInnen fungierte, jedoch schrittweise die Rolle eines Verbandes einnahm (vgl. Dierking 1979; Reiter 1991). Obschon nicht von allen AkteurInnen freudig begrüßt, begab sich die Familientherapie auf den steinigen Weg der Professionalisierung. Sie verfügte mit der DAF über eine eigenständige Organisation, besaß seit 1976 mit der von Stierlin und dem Zürcher Psychiater und Eheberater Josef-Duss von Werth herausgegebenen „Familiendynamik“ eine erste Zeitschrift und konnte auf verschiedene Institute zurückgreifen, die entweder an Universitätskliniken angesiedelt waren, wie in Heidelberg und Gießen, oder privat gegründet wurden, wie in Weinheim durch Maria Bosch (vgl. Familiendynamik 1988). Für die Ausbildung musste zudem entschieden werden, was und wie man Familientherapie lernt und lehrt (vgl. Familiendynamik 1976). Dabei wurde zum ersten Mal ein verbindlicher Wissenskanon festgelegt sowie die folgenreiche Öffnung der Familientherapie für die verschiedenen Berufsgruppen innerhalb der Psy-Disciplines beschlossen, also nicht nur für MedizinerInnen bzw. PsychiaterInnen, sondern auch für PsychologInnen, PsychotherapeutInnen, BeraterInnen, Sozial- und DiplompädagogInnen ebenso wie für TheologInnen und SeelsorgerInnen. Praktiziert wurde sie primär in vier institutionellen Anwendungskontexten: der ambulanten Psychiatrie, der Psychotherapie, der Ehe-, Familien- und Erziehungsberatung sowie in der Sozialen Arbeit und Pädagogik (vgl. Elberfeld 2011; Schneider 1983). Mit dem erwähnten Umbau und Ausbau der Psychiatrie entstanden neuartige Einrichtungen zur ambulanten psychiatrischen Versorgung. Dies sollte der (Re-)Integration psychisch Kranker helfen und dem Gros der Be-

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völkerung ein niedrigschwelliges Angebot eröffnen, bei persönlichen Problemen professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Familientherapie konnte sich im Bereich der Psychiatrie hier am ehesten etablieren, wohingegen sie in der stationären Psychiatrie kaum auf Resonanz stieß (vgl. Uchtenhagen/Zimmer 1980; Schaub/Schwall 1984; Weber 1985; Keller 1988). Im Bereich der privaten Psychotherapiepraxen, die mit der Krankenkassenregelung von 1967 zunahmen, steht die Familientherapie bis heute vor dem Problem der fehlenden Anerkennung und damit auch Approbation, die jedoch Voraussetzung ist für die Kassenzulassung und ohne die anfallende Kosten seitens der gesetzlichen Krankenkassen nicht übernommen werden (vgl. DGVT/DGSP/GwG 1979; von Sydow/Beher/Retzlaff/ Schweitzer 2007). Dennoch wurde und wird sie angewandt, allerdings müssen die entstandenen Kosten vom Patienten getragen werden, oder aber der Psychotherapeut bedient sich gewisser Tricks und Kniffe, um die herrschenden Regularien zu unterlaufen, etwa indem er oder sie eine weitere Ausbildung in einem anerkannten Verfahren abschließt. Wesentlich günstigere Umstände erlaubten die Verbreitung in den verschiedenen psychosozialen Beratungsstellen, die zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 1970er Jahre zu hunderten eingerichtet wurden (vgl. Wahl 1973; Heekerens 1986; Bundeskonferenz 1998). Da sich ein Großteil der Beratung Fragen der Ehe, Sexualität, Familie oder Erziehung verschrieben hatte, lag der Bezug auf familientherapeutische Konzepte nah. Außerdem blockierten hier keine alteingesessenen Professionen und Verbände den Zugang, wie in den beiden zuvor angeführten Fällen. Das gleiche galt für die Soziale Arbeit und Bereiche der Pädagogik (vgl. Junker 1971; Georg 1974; Melzer 1979; Schaub/Schwall 1984). Die Ausbreitung und Anwendung in verschiedenen medizinischen und nicht-medizinischen Bereichen war nur möglich, so meine These, aufgrund der Veränderungen im Krankheitskonzept der Familientherapie und der tendenziellen Entpathologisierung psychischen Leids. Seit den 1960er Jahren gewann das so genannte soziale Modell in den Psy-Disciplines an Bedeutung (vgl. Gijswijt-Hofstra/Oosterhuis/Vijselaar/Freeman 2005). Es wurde als Alternative zum medizinischen Modell des psychiatrischen Mainstreams, aber auch zum individuumszentrierten Ansatz der Psychoanalyse und Verhaltenstherapie entwickelt. In der westdeutschen Psychiatrie griff primär die entstehende Sozialpsychiatrie darauf zurück, welche zugleich vehe-

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mentester Verfechter der Psychiatrie-Enquête war (vgl. Kersting 2003). Die radikalste Ausprägung erlebte es mit der Antipsychiatriebewegung, die im deutschsprachigen Raum oftmals nur mit dem Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg verbunden wird, aber als oppositioneller Diskurs bis in die 1980er Jahre Verbreitung in linken und linksliberalen Kreisen, auch innerhalb der Psychiatrie, fand; mancherorts sogar bis heute (vgl. Bopp 1980; Brink 2003). Das soziale Modell resultierte aus einer zunehmenden Rezeption der Sozialwissenschaften in den Psy-Disciplines, war jedoch ebenso Ausdruck einer wachsenden Kritik an der Pathologisierung der PatientInnen und dem Umgang mit ihnen in der „totalen Institution“ (Goffman 2006) der Anstalt. Die Familientherapie stellte eine spezifische, kybernetische Variante des sozialen Modells dar, wie im vorherigen Abschnitt am Beispiel der einflussreichen Palo Alto Group dargelegt wurde. Erst mit der Familientherapie wurde „Familie“ als ein therapeutisches Objekt diskursiv konstruiert. Alltägliche Konflikte und Probleme in Fragen der Beziehung und Erziehung konnten und sollten nun mit Hilfe von FamilientherapeutInnen angegangen und gelöst werden. Diese signifikante Ausweitung des Behandlungsbereichs beruhte auf einem zusehends unklarer werdenden Grenzverlauf zwischen normal und pathologisch (vgl. Canguilhem 1977). „In der klassischen Psychiatrie und analytischen Psychotherapie konzentriert sich die psychopathologische Beschreibung auf intrapsychische Störungen. Im Mittelpunkt der Diagnostik und Behandlung steht das kranke Individuum. Dieses individualistische Krankheitsmodell liegt auch dem Krankheitsverständnis der somatischen Medizin zugrunde. Ganz anders in der Familientherapie: sie geht von der Voraussetzung aus, dass nicht das Individuum, sondern die innerfamiliären Beziehungen krank sind, d.h. Krankheit wird als Ausdruck eines interpersonalen Geschehens definiert. Die ganze Familie braucht therapeutische Hilfe, da jedes Familienmitglied das Wohlergehen des anderen mitbeeinflußt.“ (Buddeberg 1980: 126)

Demgemäß war das Individuum nicht mehr im herkömmlichen Sinn krank, hingegen erstreckte sich die Therapie jetzt auch auf Personen, nämlich die restlichen Familienmitglieder, die zuvor als gesund durchgingen. Allerdings resultierte aus der Entpathologisierung des Individuums nicht eine Pathologisierung der Familie, welche gleichwohl als neuartiges therapeutisches Objekt und Behandlungsgegenstand kon-

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stituiert wurde. In der Familientherapie ging es nicht mehr ausschließlich um die Heilung und Behandlung psychischer Krankheiten, sondern im zunehmenden Maß um die Veränderung von Kommunikationsstrukturen und die Wiederherstellung funktionaler Kommunikationsmuster (vgl. Bateson/Ruesch 1995; Watzlawick/Beavin/Jackson 1971). „Es gibt keine pathologische Familie. Es gibt nur normale Familien mit bestimmten dysfunktionalen Strukturen.“ (Hubschmid/Matter/ Spillmann 1981: 73) Eine derartige therapeutische Technik konnte prinzipiell für alles und jeden angewandt werden. Und das erlaubte es der Familientherapie, sowohl in medizinischen wie auch in nichtmedizinischen Bereichen tätig zu werden. In psychiatrischen oder psychotherapeutischen Kontexten konnten die entsprechenden Symptome als Folge dysfunktionaler Kommunikationsmuster betrachtet und behandelt werden. Ferner konnten FamilientherapeutInnen in anderen Kontexten, etwa in Familienberatungsstellen, die selben Konzepte und Methoden bei der Lösung zwischenmenschlicher Konflikte und privater Krisen offerieren, ohne dass eine psychische Erkrankung diagnostiziert werden musste, die es zu heilen galt. Indem gewöhnliche Erscheinungen des Familienlebens Gegenstand therapeutischer Praktiken werden konnten, adressierte die Familientherapie potentiell die gesamte Bevölkerung und richtete ihr Angebot nicht nur an den relativ kleinen Kreis jener, die im medizinischen Sinn als krank diagnostiziert wurden. Entpathologisierung und Therapeutisierung waren folglich zwei Seiten ein und derselben Medaille. Welche Effekte zeitigte das auf der Ebene der Subjektivierung? Wie bereits dargelegt, konstruierte die Familientherapie „Familie“ als ein sich selbst regulierendes Kommunikationssystem. In Analogie zum systemtheoretischen Homöostase-Modell entwickelte Donald D. Jackson, US-amerikanischer Familientherapeut und Mitglied der Palo Alto-Group, sein paradigmatisches Konzept der Familienhomöostase (vgl. Jackson 1957). An ihm lässt sich anschaulich zeigen, welche Folgen die „kopernikanische Revolution in der Psychotherapie“ (Guntern 1980) im Zeichen von Kybernetik und Systemtheorie für die Therapeutisierung des Selbst zeitigte. Das Konzept der Familienhomöostase basierte auf der Annahme, dass sich das Familiensystem in einem fortwährenden Interaktionsprozess befindet – nach innen zwischen seinen Elementen bzw. Subsystemen, den jeweiligen Familienmitgliedern, und nach außen zu seiner Umwelt, der restlichen

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Gesellschaft. Der Begriff der Homöostase bezeichnet einen bestimmten Vorgang oder Zustand des Fließgleichgewichts, in dem der Zustand des Systems sich immer wieder neu den inneren wie äußeren Veränderungen anpasst (vgl. Tanner 2008). Gemäß dem Konzept pendelt sich das Familiensystem zwischen zwei Polen ein, die es besser nicht überschreitet, da ansonsten sein Funktionieren und damit im schlimmsten Fall sein Fortbestand gefährdet ist. Auf der einen Seite dürfen die Strukturen nicht zu starr werden, da sie ansonsten nicht mehr angemessen auf Veränderungen reagieren können, auf der anderen Seite dürften sie nicht zu lose werden, da ansonsten die Unterscheidung zwischen System und Umwelt fragil wird und das System an sich bedroht ist. Für den Fall der Abweichung wurden verschiedene therapeutische Begriffe und Konzepte entworfen. Beispielsweise bezeichnet man mit Fusion einen Zustand, in dem sich einige bzw. alle Familienmitglieder in ihren Beziehungen zueinander so eng aneinander binden, dass sie nicht mehr in der Lage sind, sich als eigenständige Person zu entwickeln oder zu behaupten. Ein anderer Fall ist die so genannte Isolation, in der zumeist ein Mitglied von der restlichen Familie ausgeschlossen wird (vgl. Wirsching/Stierlin 1980). Sinn und Zweck einer Familientherapie bestand und besteht darin, das Funktionieren der Familie respektive die Herausbildung funktionaler Kommunikationsmuster zu ermöglichen, indem im System ein Wandel der bisherigen Strukturen evoziert wird. „Ein Weg, das Ziel der Familientherapie in allgemeiner Form zu umschreiben, wäre: Schaffung funktionaler Beziehungsmuster, die sich in positiver Gegenseitigkeit, in kontaktvollem Umgang und in altersrollengemäßer Verantwortung ausweisen.“ (Schneider 1983: 7)

Diese Sichtweise auf psychische Probleme und Konflikte in der Familie kann als substantielle Verschiebung im Diskurs vom Imperativ der Heilung und dem Code krank/gesund hin zum Imperativ der Veränderung und dem Code funktional/dysfunktional interpretiert werden. Im Zentrum der Familientherapie stand demzufolge nicht mehr die Behandlung individueller psychischer Krankheiten, sondern eine spezifische Arbeit am gesamten Familiensystem. Diese Arbeit am Familiensystem beinhaltete zugleich eine spezifische Arbeit am Selbst und war, wie ich nun zeige, sowohl eine Individualisierungs- als auch eine Beziehungstechnik, mit der ein

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soziales Selbst produziert wurde. In der Familientherapie, aber nicht nur dort, durchlief die Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen fundamentalen Funktionswandel (vgl. Paulus 2003; von Trotha 2008; Wirsching 2008; Peuckert 2008). Ihre primäre Aufgabe wurde seit den 1960er Jahren nicht mehr nur in der Sicherung der materiellen Existenz, der biologischen Reproduktion oder der Weitergabe gesellschaftlicher Werte und Normen gesehen. In erster Linie sollte sie nun die psychische ebenso wie die soziale und emotionale Entwicklung fördern helfen und so geartet die Grundlagen für die Entstehung selbstständiger Individuen bereitstellen. „Ehe, Familie und Erziehung in der Familie werden in der kritischen Öffentlichkeit heute nicht mehr als ‚Selbstverständlichkeiten‘ hingenommen, sondern auf ihre Angemessenheit zur Befriedigung der Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen hin befragt und gegebenenfalls als modifizierbar betrachtet.“ (Wahl 1973: 13)

Bezug nehmend auf zeitgenössische psychologische Bindungstheorien ging man auch innerhalb des kybernetisch-systemtheoretischen Ansatzes der Familientherapie davon aus, dass sich die Persönlichkeit am Besten in der Familie entfalten kann (vgl. u.a. Richter 1976). Die Familienmitglieder standen vor dem Problem, sich zwei widersprechenden Anforderungen ausgesetzt zu sehen: Sei ein unabhängiges Individuum, aber sei es bitte in einer Familie. Genau hier setzte die Familientherapie ein, bot sie doch Wissen und Methoden an, die Beziehungen in der Familie so zu gestalten, dass ein steter Ausgleich zwischen individueller Autonomie und Bindung an die Familie erreicht werden konnte (vgl. Elberfeld 2011). Diese allgemeine Form der therapeutischen Subjektivierung, die sich konkret unterschiedlich ausgestaltete, implizierte zudem ein neues Familienbild, wodurch diskursive Konvergenzen und Anknüpfungspunkte zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen gegeben waren. Aus dem relativ abstrakten kybernetischen Modell sowie dem psychotherapeutischen Verfahren resultierten bestimmte Wertvorstellungen, die weder explizit angeführt noch jeweils von allen Beteiligten individuell geteilt werden mussten, waren sie doch bereits von Anfang an in die familientherapeutischen Praktiken eingeflochten (vgl. Moldzio 1999). Dazu zählten insbesondere die Ideale der symmetrischen Beziehungsform, der individuellen Autonomie und der

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Empathie sowie die Wertschätzung der Diskussion als Mittel der Reflexion und des Aushandelns (vgl. u.a. Verheyen 2010). Im politischen Kontext der 1970er Jahre entsprachen diese Werte den neu entstehenden Beziehungs- und Erziehungsnormen. So bedeutete zum Beispiel eine symmetrische Beziehung zwischen den Geschlechtern letztlich nichts anderes als die Gleichstellung von Mann und Frau, welche zur selben Zeit vehement von der Zweiten Frauenbewegung eingefordert wurde (vgl. Lenz 2008; Notz 2004). Der Weg dorthin führte aber zwangsläufig über eine Stärkung der Rolle der Frau als bisher benachteiligter Person oder, in damaliger Diktion, über ihre Emanzipation und den Übergang vom Patriarchat zur Partnerschaft. Aber auch die Stellung des Kindes bzw. Jugendlichen wurde de facto aufgewertet. Dies zeigte sich schon an der Entpathologisierung des Indexpatienten, dessen Platz in Familien für gewöhnlich das Kind einnahm. Anstatt nun die Ursache oder gar Schuld für psychische Erkrankungen oder familiäre Probleme einzig und allein bei ihm zu suchen, wurde es zum Opfer dysfunktionaler Kommunikationsmuster erklärt (vgl. Selvini 1977). Eine solche Viktimisierung des Kindes war in den 1970er Jahren keine Seltenheit und prägte als Narrativ beispielsweise auch die zeitgenössischen historischen Forschungen zur Kindheit oder die Kritik an der bürgerlichen Kleinfamilie als Repressionsinstanz, wie sie von Teilen der 68er-Bewegung und der Kinderladen-Szene formuliert wurde (vgl. z.B. DeMause 1980; Baader 2008). Dem entgegengesetzt wurde zumeist ein Recht auf Kindheit als eigenständiger und gleichwertiger Lebensphase, ein auf Konsens und Kooperation abzielender Erziehungsstil sowie die Möglichkeit zur freien Entfaltung der individuellen Persönlichkeit, was wiederum anschlussfähig an Konzepte der Familientherapie war (vgl. van Rahden 2005; Kübler 2004). Diese implizierten jedoch nicht nur ein Empowerment der Ehefrauen und Kinder, sondern auch und gerade eine Veränderung des Ehemannes und der hegemonialen Männlichkeit. Zum einen wurden Beziehungsformen und Eigenschaften favorisiert, die sich kaum mit traditionellen Leitbildern des autoritären pater familias in Einklang bringen ließen. Vielmehr war jetzt eine „sanfte Männlichkeit“ und „zarte Väterlichkeit“ erwünscht, vor allem im Alternativen Milieu (vgl. Eitler 2010b). Zum anderen wurde die traditionelle Männlichkeit auf einmal zu einem therapeutischen Problem, da sie die Ausprägung dysfunktionaler Muster begünstigte.

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Wie dies konkret aussehen konnte, wird im Folgenden anhand eines exemplarischen Falls erläutert. In der September-Ausgabe der Zeitschrift „Psychologie Heute“ von 1976 beschrieb Horst-Eberhard Richter die Behandlung einer Familie. Hierzu nutzte er Tonbandprotokolle der Sitzungen, die in Auszügen abgedruckt wurden, um das eigene Vorgehen zu demonstrieren (vgl. Richter 1976). Im betreffenden Fall handelte es sich um eine fünfköpfige Familie, bestehend aus Ehemann, Ehefrau, zwei zehnjährigen Zwillingsbrüdern aus der ersten Ehe der Frau, die von ihrem neuen Mann adoptiert worden waren, sowie einer vierjährigen gemeinsamen Tochter. Anlass des Besuchs in der Familienambulanz der Psychosomatischen Klinik Gießen war die Empfehlung der Klassenlehrerin der Zwillinge, da diese laut ihr sehr scheu und am Unterricht zu wenig beteiligt seien. Dieser typische Weg in eine Familientherapie zeigt auf, wie sich ihr Anwendungsgebiet ausgeweitet hatte und in andere Institutionen wie die Schule einfloss. In der ersten Charakterisierung der Personen klingt bereits die Sichtweise bzw. Diagnose an. Während die Mutter zunächst als „schüchtern wirkende Frau, die oft den Kopf leicht gesenkt hält“, beschrieben wird, im Verlauf des Gesprächs jedoch „ziemlich freimütig über alle Schwierigkeiten“ spricht, ist es bei ihrem Mann genau anders herum. „Der Adoptivvater hingegen stellt sich auf den ersten Blick wie ein biederer, sehr selbstsicherer Patriarch dar. Die ganze Familie scheint daran gewöhnt zu sein, dass er im Namen aller spricht und stets zu wissen vorgibt, was mit den anderen vor sich geht.“ (Richter 1976: 38)

Im weiteren Gespräch verliert er seine „altväterliche Souveränität“: „In der Übereiltheit, in der er öfter auch für die anderen Familienmitglieder auf meine [des Therapeuten; J.E.] Fragen antwortet, enthüllt er Ängste, die Kontrolle über das Geschehen zu verlieren. Sein dominantes Verhalten steht also zweifellos unter einer gewissen Spannung.“ (Ebd.)

Entgegen der ersten Annahmen ist demnach die Frau die selbstsichere Person, die dies allerdings nicht nach außen trägt, um ihren Mann zu schützen. Dieser überspiele mit seiner zur Schau gestellten Dominanz nur seine eigenen Unsicherheiten und Ängste. Die Familientherapeuten arbeiteten in den gemeinsamen Sitzungen heraus, dass die

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Schüchternheit der Zwillinge darauf beruhe, wie in der Familie mit Ängsten umgegangen wird. Die Schlüsselposition nahm in gewisser Weise der Adoptivvater ein, der seine Ängste nicht offen thematisieren und diese darüber hinaus bei seinen Kindern nicht ertragen könne, da sie ihm so die eigenen Ängste vorhielten. Stattdessen trat er ihnen gegenüber autoritär auf, was ihnen nicht half, ihre mangelnde Selbstsicherheit zu steigern. Die Mutter hingegen reagierte mit einem gänzlich anderen Verhalten auf die Ängste der Brüder, indem sie sich aufgrund eigener Kindheitserfahrungen mit ihnen überidentifiziere und auf diese Weise überbeschütze, was ebenfalls nicht dazu diene, ihnen mehr Selbstbewusstsein zu vermitteln. „Beide Eltern laden die Jungen unbewußt dazu ein, an sie das Können abzutreten, für dessen Mangel sie die Kinder kritisieren.“ (Ebd.: 42) Es hätten sich folglich dysfunktionale Kommunikationsmuster ausgebildet, durch die die Familienmitglieder in bestimmten Rollen und asymmetrischen Beziehungsstrukturen feststeckten, was letztlich zu den Verhaltensauffälligkeiten geführt habe. Ohne diese Fallgeschichte im Detail erörtern zu wollen, veranschaulicht sie exemplarisch, wie sich die Familientherapie und der diskursive Wandel in den Geschlechter- und Generationenbeziehungen miteinander verbanden. Die passive Frau, die schüchternen Kinder und vor allem der selbstsichere Familienpatriarch waren zu einem Problem geworden. Die Lösung erblickte man im autonomen Individuum und der ihm angemessenen Beziehungsform der Partnerschaft. Dementsprechend stellte sich die therapeutische Aufgabe im konkreten Fall folgendermaßen dar: „Wie kann es diese Familie lernen, dass nicht immer ein Teil dem anderen das Können, das Reden, den Mut abnimmt, dass vielmehr alle nebeneinander einigermaßen gleichgewichtig aktiv hervortreten können?“ (Ebd.)

Die Familientherapie operierte im Modus der Normalisierung von Familie und Selbst. Das ergab sich schon aus ihrem Anspruch, die individuelle Entwicklung der Familienmitglieder zu ermöglichen. Eine Ausrichtung an festen und vorgegebenen Normen hätte dem von vornherein widersprochen. Vielmehr ging es im Kern darum, dass sich das Selbst innerhalb eines gewissen Rahmens individualisieren konnte und sollte. Entsprechend des kybernetischen Ansatzes war es demnach Aufgabe des Therapeuten, die beeinträchtigte Fähigkeit zur Selbst-

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regulation wiederherzustellen. Der Einfluss des Therapeuten war insofern beschränkt, als er nur indirekt und quasi von außen in ihr Kommunikationssystem intervenieren, nicht aber direkt die Ursachen beheben konnte. Seine Funktion bestand darin, der Familie und den betroffenen Individuen eben jene Fähigkeiten und Kompetenzen zu vermitteln, mit denen sie ihre Probleme selber lösen konnten. Folgerichtig war Familientherapie auch präventiv anwendbar, beispielweise in Form eines Elterntrainings. Der Abschied von der Norm zeigte sich darüber hinaus im Verzicht auf ein vorgegebenes Idealbild der Familie. „Wir verstehen diese Optik nicht als Anpassungsauftrag an ein normiertes Familienmodell. […] Damit ist auch gemeint, dass alle Eigenarten oder Besonderheiten menschlichen Zusammenlebens möglichst verstanden und akzeptiert werden sollen.“ (Schaub/Schwall 1984: 144)

Im Rahmen der Familientherapie sollten verschiedene Formen familiären Lebens Akzeptanz finden, so lange jedenfalls, wie sie die Funktionsfähigkeit im obigen Sinne nicht negativ beeinflussten. Damit wurde auch der gesellschaftlich vorzufindenden Normalität Tribut gezollt, indem die immer schon existierenden Abweichungen vom Ideal der bürgerlichen Kleinfamilie sozial weniger stigmatisiert wurden. Mit dem Abschied vom Idealbild der Familie in der Familientherapie veränderte sich auch die Einstellung zu Konflikten. An die Stelle der Utopie eines konfliktfreien Zusammenlebens trat die Sichtweise, dass Konflikte normaler Bestandteil des familiären Beziehungsgefüges sind und mitunter sogar eine Chance zur Reflexion und Veränderung darstellen. Dieser Einstellungswandel betraf schlussendlich sogar die Haltung zur Trennung, was umso bemerkenswerter ist, wenn man bedenkt, dass Familientherapie oftmals in Ehe- und Familienberatungsstellen unter konfessioneller Trägerschaft stattfand, in denen bis in die 1970er Jahre oberstes Ziel der „Dienst an der Ehe“ war, welcher Scheidung kategorisch ausschloss. Ungeachtet dessen wurde sie zu einer Option. „Eine Scheidung kann eine positive Lösung sein, und zwar dann, wenn eine konfliktbeladene Ehe die Familien-Harmonie zerstört und die Familienmitglieder Schaden nehmen. Stabile häusliche Verhältnisse in einer Restfamilie

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nach der Scheidung bringen für alle mehr, als wenn eine Ehe um jeden Preis aufrechterhalten wird.“ (Hetherington/Cox/Cox 1978: 34)

Indem es folglich um die Befähigung zum selbstständigen Handeln innerhalb eines mal mehr, mal weniger großen Spielraums ging und nicht um eine strikte Festlegung des sozial erwünschten respektive erlaubten Verhaltens, ist die Familientherapie samt ihres Konzepts der Familienhomöostase ein emblematischer Fall von Normalisierung. Das hieß freilich nicht, dass sie gar keine Normen aufwies. Abgesehen von konstitutiven Normen des Diskurses, wie der Bindung an die Familie oder der Entwicklung zu einem selbstständigen, individuellen Subjekt, betrafen diese Normen vor allem die historisch-kontingenten Grenzen des Normalen. Diese variierten zum Teil je nach Familientherapeut. So wurde zum Beispiel noch Ende der 1970er Jahre in einer Fallgeschichte, die in der wissenschaftlichen Zeitschrift „Familiendynamik“ erschien, eine Person pejorativ als „verwahrloster Jazzmusiker“ beschrieben und daran bereits eine zumindest problematische Psyche festgemacht (vgl. Moeller/Moeller-Gambaroff 1978: 58-62). Hieran zeigt sich, wie Abweichungen von den bürgerlichen Normen der Anständigkeit auch in der Familientherapie negativ bewertet wurden, auch wenn es sich hierbei um einen Einzelfall handelt. Auch andere Normen prägten Diskurs und Praxis der Familientherapie bis in die 1980er Jahre, allen voran die der Geschlechtsidentität und sexuellen Orientierung. So betrachtete ein nicht unerheblicher Teil der FamilientherapeutInnen die eindeutige und stabile Herausbildung einer mit den körperlichen Merkmalen übereinstimmenden Geschlechtsidentität als notwendigen Aspekt der gelingenden Entwicklung einer gesunden und funktionierenden Psyche (vgl. u.a. Boszormenyi-Nagy 1977; Grossarth-Maticek 1979). Der Spielraum für den Prozess der Individualisierung stieß hier folglich an eine Grenze. Dasselbe traf auf die sexuelle Orientierung zu, die, wenig überraschend, heterosexuell ausfallen musste (vgl. u.a. Paul/Paul 1979). Auch wenn gewisse homosexuelle Phantasien oder Handlungen in der Pubertät unter Umständen als ein normales Übergangsphänomen hingenommen wurden, musste am Ende und beim Eintritt ins Erwachsenendasein der „heterosexuellen Matrix“ wieder zu ihrem Recht verholfen werden. Tendenziell nahmen die Normierungen mit der Zeit ab, so dass der Raum des Normalen sich deutlich vergrößerte und mittlerweile familien- und systemtherapeutische Verfahren explizit von der Akzeptanz alter-

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nativer Geschlechtsidentitäten und sexueller Orientierungen ausgehen (vgl. Symalla/Walther 1997). Das hing wiederum eng zusammen mit der Durchsetzung des kybernetischen Ansatzes der Familientherapie Ende der 1970er Jahre, wodurch stärker medizinisch geprägte Verfahren mitsamt ihren Reststücken an medizinischen Krankheitsvorstellungen und ihrer konstitutiven Differenz von Normal und Pathologisch verdrängt wurden.

O PTIMIERUNG DES S ELBST . B ERATUNG UND C OACHING ALS NEOLIBERALE R EGIERUNGSTECHNOLOGIEN Seit den 1980er Jahren entstand in Westdeutschland mit dem Coaching eine neuartige Technik der Selbst- und Fremdführung in Unternehmen und Organisationen. Auf diese Weise erreichte der Prozess der Therapeutisierung das Wirtschaftsleben (zu Vorläufern vgl. Schrage 2001; Patzel-Mattern 2010; Rosenberger 2008). Auch die Anfänge des Coachings liegen in den USA, wo der Begriff in den 1970er Jahren aus dem Bereich des Sports übernommen wurde und in die ManagementTheorie einfloss. Er bezeichnete zunächst eine auf die individuelle Entwicklung abzielende Methode der Mitarbeiterführung durch Vorgesetzte (vgl. Rauen 2005). Seit den 1980er Jahren kam die bis heute praktizierte Variante der Betreuung und des Trainings von Führungskräften und leitenden Managern durch externe BeraterInnen dazu. Zur selben Zeit tauchten beide Coaching-Versionen auch erstmals in der BRD auf, vor allem in großen Unternehmen wie IBM, Hewlett-Packard, Hoechst, Nixdorf, Ford oder Porsche (vgl. Die Zeit 1989). Somit fand das Coaching als spezifische Form der Unternehmensberatung und als neuartiges Management-Coaching Verbreitung. Mitte der 1980er Jahre wurde dies auch einer interessierten Öffentlichkeit bekannt, als verschiedene Massenmedien das Thema aufgriffen. Neben wiederholten Artikeln in der erwähnten „Psychologie Heute“ befasste sich auch die Zeitschrift „Manager Magazin“ hiermit. Ein 1986 von Wolfgang Looss, einem der westdeutschen Coaching-Pioniere geschriebener Beitrag gilt als Geburtsstunde der Zunft (vgl. Looss 1986). Bereits Anfang der 1990er Jahre war der Begriff so geläufig geworden, dass er für gewöhnlich nicht weiter erklärt werden musste und diesbezügliche Artikel und Publikationen in schöner Regelmäßigkeit

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und steigender Zahl erschienen. Die sukzessive Etablierung belegte auch die öffentlich breit wahrgenommene Einrichtung eines CoachingZentrums des Volkswagen-Konzerns 1996, das in Zeiten wirtschaftlicher Rezession, umfassender Restrukturierungsmaßnahmen und zunehmender Kritik an den „Nieten in Nadelstreifen“ (Ogger 1992) die Weiterbildung und Schulung der Führungskräfte im Unternehmen voranbringen sollte (vgl. Kaul/Krapoth 2005). Die zweite und bis heute anhaltende Boom-Phase setzte Anfang der 2000er Jahre ein. Der Coaching-Markt wuchs ungemein und adressierte nicht mehr nur leitende ManagerInnen in Unternehmen. Vielmehr wurde Coaching außerhalb von Unternehmen und Organisationen praktiziert und wandte sich an jeden, von der Hausfrau bis zum Arbeitslosen. „Coaching ist eines der am meisten expandierenden Anwendungsfelder des systemischen Denkens […] Längst ist er [der Coaching-Begriff; J.E.] nicht mehr auf das ursprüngliche Feld der Beratung von Leistungsträgern in Unternehmen begrenzt, sondern wird mit allen möglichen lebensrelevanten Themen kombiniert.“ (Clement 2005: 231)

Zurzeit wird die Zahl derer, die Coaching im eigentlichen Sinn anbieten, auf 5000 geschätzt. Dazu kommen noch ca. 30.000 andere, die unter dem Label „Coaching“ unterschiedlichste Beratungs- und Trainingsprogramme offerieren, welche streng genommen kein Coaching darstellen, da sie andere Ansätze und Ziele verfolgen. Des Weiteren existieren mehr als zweihundert Ausbildungsinstitute, eine kaum überschaubare Palette an Ratgeberliteratur und mit Sendungen wie der „Super-Nanny“, „Zwei bei Kallwass“, „Rach der Restauranttester“ oder „Raus aus den Schulden“ hat sich Coaching in den vergangenen Jahren sogar zu einem äußerst beliebten TV-Format entwickelt. Etliche Studien haben bereits die Bedeutung des Coachings für den Siegeszug einer neoliberalen Gouvernementalität und die Konstituierung des „unternehmerischen Selbst“ hervorgehoben (vgl. Bröckling 2007; Traue 2010). So wiesen Nikolas Rose und Peter Miller nachdrücklich auf die Funktion der Psy-Disciplines in diesem Prozess hin und Ulrich Bröckling betonte den Einfluss kybernetischer Konzepte auf zeitgenössische Management-Ansätze (vgl. Rose/Miller 2008; Bröckling 2006). Mir geht es im Folgenden darum, anhand der Entwicklung der Familien- und Systemischen Therapie in der BRD aufzu-

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zeigen, wie einst therapeutische Techniken im wirtschaftlichen Feld Verbreitung finden konnten und inwiefern sie durch den ökonomischen Diskurs transformiert wurden. Ich vertrete das Argument, dass sich Coaching und Beratung endgültig von einem medizinischen Krankheitsbegriff lösten und erst so zu universal einsetzbaren und ubiquitär auftretenden Technologien des Selbst werden konnten. Dabei zogen ökonomische Rationalitäten der Leistungssteigerung und des Wettbewerbs in den therapeutischen Diskurs ein, wodurch aus einer Normalisierung eine Optimierung des Selbst wurde. Aus der Familientherapie ging in den 1980er Jahren die Systemische Therapie und Beratung hervor (vgl. Reiter/Brunner/ReiterThiel 1988; Stierlin 2001). Dies trug mit zur sukzessiven Ausdifferenzierung eines eigenständigen Feldes für psychosoziale Beratung im weitesten Sinne bei, welches nicht mehr an die Medizin und das Gesundheitssystem gebunden war. Die fortschreitende Professionalisierung und Institutionalisierung der Familien- und Systemischen Therapie zeigte sich zum Beispiel in der Gründung weiterer Verbände und Organisationen. So entstand 1987 der „Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten“ (DFS), der sich im Jahr 2000 mit der DAF zur „Deutschen Gesellschaft für Systemtische Therapie und Familientherapie“ zusammenschloss, die aktuell mehr als 3800 Mitglieder hat (vgl. DGSF 2011). Zudem existiert seit 1993 mit der „Systemischen Gesellschaft“ ein alternativer, kleinerer Verband, dessen Mitgliederzahl bei 800 liegt (vgl. SG 2011). Weitere Indizien für die fortschreitende Etablierung seit den 1980er Jahren waren die Gründung von sechs weiteren deutschsprachigen Zeitschriften, dutzenden von Ausbildungsinstituten, mehreren Publikationsreihen sowie eines eigenen Verlags. Die Ausdifferenzierung ging einher mit einer Binnendifferenzierung nach verschiedenen Schulen, Konzepten, Gegenständen und Anwendungsbereichen. Während sich die Familientherapie grosso modo noch als psychotherapeutisches Verfahren begriff, welches auch in Beratungsstellen genutzt wurde, versteht sich die Systemische Therapie eher als ein gemeinsames organisatorisch-konzeptionelles Dach, unter dem neben der Psychotherapie auch für Beratung, Coaching, Supervision Platz ist. Damit wurde eine semantisch-konzeptionelle Abgrenzung von Psychotherapie und Psychiatrie vollzogen, die es erlaubte, dezidiert therapeutische Techniken jenseits der medizinischen Behandlung psychischer Krankheiten und Störungen einzu-

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setzen. Die Grenzen verlaufen gleichwohl fließend und werden mitunter situativ dem institutionellem Kontext, Kundenkreis und der Nachfragesituation angepasst. Aufs engste verbunden war der Übergang von der Familientherapie zur Systemischen Therapie und Beratung mit der nachlassenden Fokussierung auf „Familie“. Dies betraf zum einen die Methode. Im Zentrum der Familientherapie standen lange Zeit die Abkehr von der individuumszentrierten Perspektive der Psychiatrie und Psychoanalyse und der Einbezug der ganzen Familie in die Sitzung. Nunmehr wurde auch „Familientherapie ohne Familie“ ein möglicher Weg (vgl. Weiss 1988). Ferner wurde im Rahmen des systemischen Ansatzes die Individualtherapie wieder entdeckt (vgl. Boscolo/Bertrando 1997). „Familie“ spielt in ihr nur insofern eine Rolle, als der Patient und sein Problem hiermit in Verbindung gebracht werden. Das hieß zudem, dass die Systemische Therapie ihr Tätigkeitsspektrum signifikant ausdehnte und sich nicht mehr auf Fragen der Familie, Erziehung, Partnerschaft oder Sexualität beschränkte, wenngleich sie bis heute wichtige Anwendungsbereiche geblieben sind. Diese Entwicklungen beruhten unter anderem auf einem Wandel der Theorie und Epistemologie. Seit Beginn der 1980er Jahre setzte eine konstruktivistische Wende in der Familientherapie ein, was sich an unzähligen Tagungen, Publikationen und Artikeln verfolgen lässt (vgl. Hoffman 1996). Auslöser dafür war die Rezeption des Radikalen Konstruktivismus und der so genannten Postmoderne, zumeist poststrukturalistischer Theorien von Jean-François Lyotard und Jacques Derrida, die nicht nur die FamilientherapeutInnen zu jener Zeit beschäftigte. Aus der Auseinandersetzung mit diesen Theorien gingen zwei Ansätze hervor, welche bis heute die Systemische Therapie prägen. Gerade in den USA wurden poststrukturalistische Theorien für die therapeutische Praxis operationalisiert. Dabei entstand der narrative Ansatz, der die Bedeutung von Sprache für die individuelle Wirklichkeitskonstruktion des Patienten hervorhob und sie als therapeutische Technik nutzt. Im deutschsprachigen Raum griff man auf konstruktivistische Weiterentwicklungen der Kybernetik zurück, wie sie die „Kybernetik Zweiter Ordnung“ Heinz von Försters, die Autopoiesis-Theorie Humberto Maturanas und Francisco Varelas sowie die soziologische Systemtheorie Niklas Luhmanns bereitstellten. Insbesondere Gregory Bateson und die Arbeiten der späteren Palo Alto

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School um Paul Watzlawick stellten diesbezüglich ein wichtiges Bindeglied zur Familientherapie dar. Anfänge eines systemischen Management-Coachings finden sich bereits in den 1970er Jahren. Heinz von Förster, aus Österreich stammender Physiker und Begründer der Kybernetik Zweiter Ordnung, hielt zunächst an verschiedenen wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten in den USA und anderswo, später auch vor leitenden Angestellten in großen High-Tech-Firmen, Vorträge zur Funktion der Wahrnehmung für den Wandel in Organisationen (vgl. Müller/Müller 2007). In der BRD kamen Mitte der 1980er Jahre erste Kontakte zwischen dem Heidelberger Team Stierlins, insbesondere Fritz B. Simon, und verschiedenen systemtheoretisch versierten OrganisationsforscherInnen und UnternehmensberaterInnen auf (vgl. Simon 2007). In den folgenden Jahren vertiefte sich diese Zusammenarbeit, etwa indem man gemeinsam Kongresse veranstaltete. Explizit systemische Konzepte entstanden zu Beginn der 1990er Jahre (vgl. Zeitschrift für Systemische Therapie 1991). Seitdem wurden immer mehr Agenturen und Institute für Systemisches Coaching gegründet, so dass es sich spätestens in den 2000er Jahren als eigenständiger Bereich innerhalb der Systemischen Therapie und Beratung sowie im Feld der Unternehmensberatung und des Management-Coachings zu etablieren vermochte (vgl. Bohn/Kühl 2004). Als Management- oder Business-Coaching wandte es sich primär an Führungskräfte in Unternehmen: „Ziel ist Erhalt und Steigerung der beruflichen Leistungsfähigkeit, Coaching dient der Verbesserung der beruflichen Situation und der Gestaltung der professionellen Rolle.“ (Emlein 2008: 14) Es geht also weniger um das individuelle Wohlbefinden als um Leistungssteigerung, die auch dem Arbeitgeber zugutekommen soll. Insofern ist Coaching eine spezielle Variante von Unternehmensberatung, die am individuellen Beschäftigten ansetzt. „Der Fokus liegt dabei nicht auf organisatorischen Strukturen und ihrer Veränderung, sondern auf der Person des Coaching-Kunden: Wie kann dieser sich erfolgreicher, adäquater und klarer an seinen Zielen orientiert bewegen in der Organisation, der er angehört?“ (Ebd.: 15)

Coaching war folglich nicht mehr nur eine Beratungsform in einem ökonomischen Kontext, sondern operierte auch in einer ökonomischen Logik von Leistung, Effizienz und Ertrag. „Coaches stellen eine

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psychologische Dienstleistung in einem Kontext zur Verfügung, der ausdrücklich nicht Therapie zum Inhalt hat.“ (Schwertl 2008: 4) Und dementsprechend grenzte es sich auch strikt von Psychotherapie ab. Oder wie es einer der Protagonisten auf den Punkt brachte: „Optimierung, Organisation oder Reorganisation von Leistungserbringung vs. Heilung von einem Beschwernis.“ (Wolf/Müller/Schwertl 2008: 48) Mit dem Coaching hatte sich der Therapeutisierungsprozess folglich endgültig von seinem Entstehungskontext in der Behandlung psychischer Erkrankungen zu lösen vermocht. Mit der zuvor analysierten Entpathologisierung und Normalisierung wurden therapeutische Praktiken zu universell einsetzbaren Technologien des Selbst, die auf eine Veränderung bzw. Verbesserung des Subjekts, seiner Wahrnehmung und seines Verhaltens durch ihn und durch andere abzielten. Insofern war die Unterscheidung krank/gesund nicht mehr leitend. Im Fall des Coachings nahm die Ökonomie den Platz des „leeren Signifikanten“ (Laclau 2002) ein und installierte den Code Leistung optimiert/nicht optimiert als neue Leitunterscheidung des Diskurses. Möglich wurde dies nicht zuletzt auf Grund der beschriebenen epistemologischen und daraus resultierenden konzeptionellen Verschiebung von Familien- zu Systemischer Therapie seit den 1980er Jahren. Die neuen konstruktivistischen Ansätze kritisierten an der bisherigen therapeutischen Praxis insbesondere die Konzentration auf Probleme und Defizite des Patienten. Stattdessen plädierten Vordenker wie der US-Amerikaner Steve DeShazer für eine alternative Perspektive, welche die Lösungen und schon vorhandenen Ressourcen des Klienten in den Mittelpunkt rückt (vgl. DeShazer 1997). Systemische Therapie wurde dergestalt zu einer Technik, mit der man die individuelle Handlungsfähigkeit zu steigern hoffte. Das lösungs- und ressourcenorientierte Paradigma, das seit den 1990er Jahren hegemonial wurde, bot diskursive Anknüpfungspunkte für eine sukzessive Ökonomisierung an. Am deutlichsten wird dies beim Coaching als Selbstmanagement. Coaching beschränkt sich dabei nicht auf die Leistungssteigerung in beruflichen Zusammenhängen (vgl. Wolf/Müller/Rauen/Schwertl 2008). Vielmehr leiteten die ökonomischen Kriterien den Umgang mit dem eigenen Selbst nunmehr in allen Bereichen des Lebens an. „Gutes Selbstmanagement – das ist das innere Rüstzeug für den Weg, auf dem ein geglücktes Leben selbst unter außergewöhnlichen Anforderungen

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eine hohe Wahrscheinlichkeit hat.“ (Senges-Anderson 2008: 33) Aus dem bisherigen Management-Coaching erwuchs in den letzten Jahren ein stürmisch wachsender Coaching-Markt für Angebote des Selbstmanagements. Sein Ziel ist es, allgemein eine Veränderung und Verbesserung beim Klienten herbeizuführen, denn: „Die Optimierung des eigenen Selbstmanagements macht Glück, Erfolg, Gesundheit und Zufriedenheit wahrscheinlicher und dürfte damit im Interesse eines Jeden sein.“ (Ebd.: 33-34) Die Inhalte waren äußerst disparat und konnten die Klärung von Sinn und Lebensziel-Fragen, das Selbstbild, Kognitionen ebenso wie Emotionen und den Körper umfassen. Selbst persönliche Werte wurden zu etwas, das bei „effektivem Wertemanagement“ versprach, Profit abzuwerfen in Form höherer Selbstzufriedenheit oder durch den Zugewinn an Authentizität und Glaubwürdigkeit. Individuelles Selbstmanagement und ManagementCoaching in Unternehmen standen gleichwohl nicht im Widerspruch zueinander. Vielmehr sollten Unternehmen ihre Mitarbeiter hierbei unterstützen: „Management bedeutet […] Schaffen von Bedingungen für die Möglichkeit von Selbstorganisation.“ (Haken/Schiepek 2006: 588) Selbstmanagement-Kompetenzen wurden deshalb zu einem essentiellen Bestandteil in der Ausbildung von Führungskräften erklärt, versprachen sie doch aufgrund von Synergieeffekten, sowohl im Interesse des Unternehmens als auch des Angestellten zu sein (vgl. Harvard Business Manager 2005). Während die Familientherapie sowie die spätere Systemische Therapie und Beratung, wie gezeigt, im Modus der Normalisierung abläuft, trifft dies auf das Coaching nicht zu. Bei ihm geht es um mehr als das einfache Erreichen eines Durchschnittswertes. Das Selbst muss sich an einem überdurchschnittlichen Bereich der Normalität orientieren, eben dem Optimum. Es reicht nicht mehr aus, so wie die anderen zu sein, man muss sich jetzt ständig steigern und besser sein als der Rest. Diese Verschiebung in der sozialen Rationalität der Subjektivierungspraktiken war zum Teil Ergebnis einer fortschreitenden Ökonomisierung auch im Diskurs der Psy-Disciplines, wodurch sich Wettbewerbslogiken und Konkurrenzdenken in die Arbeit am Selbst einschrieben. Indes ist der Aufstieg der Optimierung nicht gleichbedeutend mit dem Ende der Normalisierung. Vielmehr operiert sie im Rahmen dieser, basiert doch auch das Coaching auf Grenzen des Normalen, die es nicht zu überschreiten gilt. Auf der einen Seite ist es das passive,

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handlungs- und entscheidungsunfähige Subjekt, das die völlige Kontrastfolie zum Coaching-Subjekt abgibt. Allerdings ist es weniger problematisch, kann es doch mit Hilfe des Coachings wieder aktiviert werden (vgl. u.a. Frese/Zempel 1997). Ein schwerwiegenderes Problem für den Diskurs stellt die andere Seite des Spektrums dar, droht bei zu viel Aktivität, Handlungen und Entscheidungen ein Umkippen der Szenerie in ihr Gegenteil, das „erschöpfte Selbst“ (Ehrenberg 2004). Depression und Burn-Out gelten dementsprechend als Folgen einer Überschreitung der Grenzen dessen, was normal und angemessen ist. Aber auch hierbei kann Coaching Abhilfe schaffen, indem es für den nötigen Ausgleich – Stichwort Work-Life-Balance – und notwendige Phasen der Entspannung – Stichwort Wellness – sorgt, wobei Vorstellungen des Gleichgewichtszustandes aus Kybernetik und Systemtheorie aufgegriffen werden. Obendrein findet so auch die Gesundheit wieder Platz innerhalb des Coachings. „Dazu ist allerdings ein Gesundheitsverständnis notwendig, das weit über die ‚Abwesenheit von Krankheit‘ hinausgeht und Sinnfragen und Lebensbalancen ebenso erfasst wie die ‚klassischen‘ Gesundheitsfelder, wie Bewegung, Ernährung, Entspannung und Stressprotektion.“ (Lauterbach 2005: 234) Der Gesundheits-Begriff wurde selber optimiert und bezeichnet etwas, das man nicht einfach hat, sondern an dem man ständig arbeiten muss. Gesundheitsprävention ist moderne Diätetik von Leib und Seele respektive physischem und psychischem System.

F AZIT : G RAU , TEURER F REUND , IST ALLE T HERAPIE Am Beispiel der Familientherapie wurde aufgezeigt, wie im Prozess der Therapeutisierung diskursive Verschiebungen im Krankheitskonzept mit Veränderungen im Behandlungsgegenstand, dem Anwendungsbereich und dem vorherrschenden Subjektivierungsmodus zusammenhingen. Der Weg bis zur heutigen „Beratungsgesellschaft“ (Fuchs/Pankoke 1994) und dessen „Homo therapeuticus“ war kein gradliniger und konfliktfreier, sondern Effekt kontingenter und emergenter Entwicklungen. Dennoch lassen sich an Hand der Geschichte der Familientherapie gewisse Phasen und Konjunkturen idealtypisch ausmachen. So entstand die Familientherapie in den 1940er und 1950er Jahren in kritischer Absetzbewegung von der etablierten

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Psychiatrie. Diese basierte auf einem medizinischen Modell von psychischer Krankheit als Individualpathologie. Praktiziert wurde sie hauptsächlich in Anstalten und Kliniken. Dementsprechend richtete sie sich an „Kranke“ und wirkte normierend auf die Subjekte ein. Die Familientherapie griff demgegenüber auf kybernetische und systemtheoretische Konzepte zurück, mit Hilfe derer sie eine spezifische Variante des sozialen Modells psychischer Krankheit entwarf. Als Form der Psychotherapie und Beratung fand sie in der BRD der 1970er Jahre nicht nur in Kliniken und therapeutischen Praxen Anwendung, sondern auch in Beratungseinrichtungen und der Sozialen Arbeit sowie im Rahmen eines ‚grauen Therapiemarktes‘. Dementsprechend richtete sie sich nun potentiell an die gesamte Bevölkerung, können Beziehungskonflikte oder Erziehungsprobleme doch bei jedem und jeder vorkommen. Da die Familientherapie keine normierenden Verhaltensvorschriften geben wollte und stattdessen Hilfe zur Selbsthilfe anbot, operierte sie primär im Modus der Normalisierung. Schließlich entstand seit den 1980er Jahren mit dem Systemischen Coaching eine therapeutische Technologie des Selbst, die ohne Bezug auf ein Konzept von Krankheit auskam. An dessen Stelle trat das ökonomische Paradigma der Leistungssteigerung und ständigen Verbesserung. Auf diese Weise gelangte Familien- und Systemische Therapie schlussendlich in die Unternehmen und Organisationen. Nicht zuletzt über die Massenmedien und entsprechende Ratgeberliteratur richtete sich das Angebot, aber auch der Appell des Coaching neben Führungskräften auch an den Rest der Gesellschaft. Die Subjektivierung verlief in einem Modus der Optimierung, was als eine spezifische Ausprägung der Normalisierung interpretiert werden kann. Folglich würde ich dafür plädieren, im Anschluss an die Foucaultschen Konzepte der Normierung und Normalisierung nur bestimmte Phänomene als Optimierung zu begreifen, kann doch die Veränderung des Menschen im Lauf der Geschichte höchst unterschiedliche Formen annehmen, die eine stärkere begriffliche Differenzierung analytisch sinnvoll erscheinen lassen. Dem Prozess der Therapeutisierung im Allgemeinen, der Systemischen Therapie im Besonderen ist eine gewisse Ambivalenz eigentümlich. Im Unterschied zu stärker normierenden Techniken innerhalb der Psy-Disciplines und darüber hinaus führt die Kritik an einer vermeintlichen Festlegung des Subjekts und der Einschränkung seiner Handlungsmöglichkeiten hier nicht weit. Vielmehr liegt der Fall

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eines noch recht jungen Trends in der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Raphael 1996) vor, bei dem Kritik an ihren normierenden Effekten bereits selbstreflexiv aufgenommen und integriert wurde. Daraus resultiert eine fortschreitende Normalisierung, der mit Kritik im Gewand „alteuropäischer Semantik“ (Luhmann 1997: 954 ff.) nicht mehr beizukommen ist. Eher verfehlt eine Kritik an Therapeutisierung zwangsläufig ihr Ziel, solange sie sich emphatisch auf individuelle Autonomie und die Handlungsfähigkeit des Subjekts beruft und dabei verkennt, dass diese selber Produkt eben jener „Technologien der Freiheit“ (Osborne 2001) sind, vor denen man sie zu schützen sucht. Die Ambivalenz besteht darin, dass Individualität und Agency immer schon Bestandteil von zeitgenössischen gouvernementalen Praktiken der Selbst- und Fremdführung sind und deshalb nicht losgelöst von ihnen gesehen werden dürfen (vgl. Foucault 2004). Therapeutisierung kann folglich weder als helle noch als dunkle Seite humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme angemessen verstanden werden, sondern nur als unterschiedliche Stufen von Grau.

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Anorexia nervosa: psychische Störung oder Selbstoptimierung? G ALA R EBANE I believe in a wholly black and white world, the losing of weight, recrimination for sins, the abnegation of the body and a life ever fasting. ANA CREED

Mit der höchsten Letalitätsrate unter allen psychiatrischen Erkrankungen (vgl. Attia 2010) fordert Anorexia nervosa immer mehr und immer jüngere Opfer. Laut neuerer Daten hat sich die Inzidenzrate in den letzten Jahren weiter nach unten verschoben. Während in älteren Statistiken der Altersgipfel der Neuerkrankungen zwischen 14 und 16 Jahren lag, hat die Untersuchung von Berger et al. (2005) gezeigt, dass sich zunehmend viele Kinder bereits im Grundschulalter mit ihrer Figur und dem Idealbild des Schlankseins intensiv beschäftigen und proanorektisches Verhalten entwickeln.1 Im Vergleich zu anderen Formen von Essstörungen wie Bulimie, Binge Eating Disorder oder Adipositas2 werden bei Anorexia nervosa Diagnose und Therapie 1

Vgl. außerdem die „KiGGS“-Studie des Robert-Koch-Instituts (2006), die u.a. zeigt, dass bereits im Alter von 11 Jahren über 20% der Mädchen Anzeichen von essgestörtem Verhalten aufweisen; http://www.kiggs.de/exper ten/downloads/dokumente/kiggs_elternbroschuere.pdf, S. 50.

2

Bulimie oder Ess-Brech-Sucht ist eine Form von Essstörung, bei der die Heißhungeranfälle und die „regulatorischen“ Gegenmaßnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen, Einnahme von Diuretika und Laxantien usw. intermittierend stattfinden. Bei Binge Eating Disorder ist Verlust der Kontrolle über das Essverhalten weniger häufig als bei Bulimie, dabei wird

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häufig durch das Verleugnen der Erkrankung seitens der Patienten enorm erschwert. Die Verweigerung therapeutischer Intervention folgt nicht selten aus der Überzeugung, sich im Kampf für den einzig erstrebenswerten Idealkörper zu befinden. Tatsächlich scheint Anorexie3 mit einer Aura morbider Faszination umhüllt zu sein. Kaum eine andere Krankheit erregt so ein massives Interesse der breiten Öffentlichkeit und inspiriert dabei zahlreiche künstlerische Projekte, in denen die AnorektikerInnen als Märtyrer, Heilige oder aber auch Ketzer dargestellt werden.4 Das ursprünglich klinisch-medizinische Phänomen hat sich in den letzten Jahren auch die Züge einer spirituellen Bewegung angeeignet, die über eine eigene, um die virtuelle Figur der „Göttin Ana“5 konzentrierte, Mythologie verfügt und immer mehr AnhängerInnen, vor allem unter den jungen Mädchen in Europa und USA, um sich schart. Nicht selten sind auf den Pro-Ana Internetseiten gerade Aufrufe wie „Ich möchte auch Ana werden, helft mir“ zu finden6. Sie werden zwar von den meisten Mitgliedern dieser Online-Community ignoriert oder verpönt, veranschaulichen dennoch die Tatsache, dass Anorexie von einigen als ein legi-

aber anschließend nicht erbrochen. Als Adipositas (auch Esssucht oder Fettsucht) wird das regelmäßige Verschlingen von Nahrungsmengen bezeichnet, die die gesunde Energiebilanz übersteigen. 3

Im Folgenden wird Anorexia nervosa als „Anorexie“ oder „Magersucht“ bezeichnet, ohne Unterscheidung zwischen den verschiedenen, mittlerweile als eigenständig anerkannten Subformen wie Anorexia athletica.

4

Beispiele hierfür: Eleanor McEvoys „Sophie“, das Lied von NTL „Keramika (Anoreksija)“, Jeffree Stars „Anorexia“, Daniel Johns’ „Ana’s song“, oder Jill Sobules „Lucy at the gym“.

5

Während für die meisten AnorektikerInnen die „Göttin Ana“ als eine bloße Metapher für ihre Krankheit bzw. ihren Lebensstil dient, empfinden sie einige auch als eine wahrhaftige göttliche Kraft, die einem psychische Kraft beim Kampf um die Kontrolle über den eigenen Körper und das Essverhalten verleihen kann und an die man bei Kummer und Schwäche appellieren kann; siehe z.B. http://i-will-be-perfect.chapso.de, wo auch eine größere Sammlung der Texte von „Ana“ zu finden ist.

6

Siehe z.B.: http://www.paradisi.de/Health_und_Ernaehrung/Erkrankungen/ Essstoerungen/Forum/33355.php

oder

http://ana-die-fee.blogspot.com

/2009/01/pro-ana_12.html. Es gibt solche Einträge auf sehr vielen Foren, so dass diese Referenzen rein zufällige Beispiele sind.

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timer Lebensstil angesehen und sogar als eine wünschenswerte körperliche und geistige Lebenspraxis aktiv aufgesucht wird. Dies scheint ein relativ neuer Trend zu sein. Anorexie, die als eine eigenständige Krankheit im späten 19. Jh. von William Gull und Charles Lasègue beschrieben wurde, galt für lange Zeit als eine schwere psychiatrische Störung, der keinerlei modischer oder gar glamouröser Anschein anhaftete. Heute findet sie hingegen, trotz all der aufklärerischen Arbeit und Präsenz in den öffentlichen Medien, einen alarmierend positiven Anklang. In der Tat ist das populäre, teils mythisierte Bild von Anorexie mit solchen Vorstellungen und Konzepten besetzt, die gerade den gesellschaftlich hoch angesehenen Verhaltensmustern und Charaktereigenschaften entsprechen: Willensstärke, Selbstkontrolle, Disziplin und Zielstrebigkeit. Seltsamerweise – oder eben gerade nicht – sind es die typischen Tugenden der modernen Marktgesellschaft, deren zeitgenössische Biopolitik unter anderem auch eine aktive Fetthass-Propaganda führt (vgl. Pauly Morgan 2008: 146). Ferner kann man unter Vorbehalt sagen, dass die zentralen Merkmale von Anorexie als psychischem Zustand, wie Selbstentfremdung, Körperschemastörung, vor allem aber Fixierung auf ein irreales Selbstbild, welches sich in dem selbstdestruktiven Verhalten niederschlägt, tendenziell mit der medialen „Logik des Spätkapitalismus“ sensu Jameson (1991) einhergehen. Auf diese Punkte komme ich später zurück. Ich werde zunächst der – auf den ersten Blick ethisch fragwürdigen – These nachgehen, dass die heutige, im Westen nahezu pandemisch gewordene Anorexie7 eine Form der Selbstoptimierung darstellt, und zwar einer solchen, die einerseits den passiven Konsens mit der dominanten Gesellschafts-, Medien- und Biopolitik eingeht, sich andererseits aber auch als aktiver Protest gegen die Marktideologie entpuppt. Damit will ich Anorexie keineswegs verharmlosen oder gar

7

Laut der oben erwähnten „KiGGS“-Studie kann jedes fünfte Kind als essstörungs-auffällig bezeichnet werden; das Deutsche Institut für Ernährungsmedizin und Diätetik (DIET) schätzt, dass in der BRD heute mehr als 100.000 Menschen magersüchtig sind (vgl. http://www.bmfsfj.de/ Publikationen/genderreport/8-Gesundheitsstatus-und-gesundheitsrisiken -von-frauen-und-maennern/8-4-Gesundheitsbewusste-versusriskanteverhal tensweisen/8-4-2ernaehrung,did=55362,render=renderPrint.html,

20.03.

2011). An anderen Stellen werden häufig auch höhere Zahlen genannt.

214 | G ALA R EBANE

verherrlichen; das physische und psychische Leiden der Betroffenen ist unbestreitbar und darf nicht aus dem Blick geraten. Eine klinischmedizinische Pathologisierung und Pauschalisierung der Krankheit ist allerdings auch irreführend und sogar gefährlich. Wenn von Anorexie die Rede ist, werden häufig sowohl die wichtigen Unterschiede zwischen disparaten Gruppen der Erkrankten verwischt als auch die gesellschaftlichen Ideologien und Politiken ausgeblendet, die für den Fortbestand des Phänomens mitverantwortlich sind. Dazu kommt außerdem die sich fortwährend vergrößernde Kluft zwischen dem mittlerweile obsoleten Konzept von der „klassischen“ Anorexie, das als normative Richtlinie für das Verständnis über die Krankheit und ihre Diagnose gilt,8 und der Realität der heutigen Anorexie-Community. Es ist zu bemängeln, dass die Evolutionsdynamik und interne Ausdifferenzierung des Phänomens in der Forschung kaum thematisiert werden, obwohl bezüglich der Ätiologie und des Krankheitsbildes der modernen Anorexie viele veraltete Erkenntnisse offensichtlich nicht mehr vertretbar sind. Umgekehrt wird aber bei denjenigen Erklärungsansätzen, die auch die unabdingbaren psychosozialen und soziokulturellen Rahmenbedingungen für die Entstehung der Krankheit in Betracht ziehen und sie historisch zu kontextualisieren versuchen, ihre tiefere geistesgeschichtliche Dimension ausgeblendet (vgl. von Braun 1993: 220 f.). Im Folgenden möchte ich zeigen, dass die Pro-Ana-Bewegung samt ihren inhärenten Widersprüchen der modernen Gesellschaft eine Art verzerrten Spiegel gegenüberstellt. Einerseits versuchen ihre AnhängerInnen, sich den sanktionierten soziokulturellen Stringenzen anzupassen und bringen dabei ihre Vertracktheit zur Schau. Andererseits sehen sie den qualvollen Weg zur Selbstperfektion oft gerade als das Erlangen persönlicher Freiheit von der Konsumgesellschaft an.

8

Die zwei wichtigsten diagnostischen Klassifikationen der Anorexie sind in den sog. ICD-10 („International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“, 2006/rev. 2009) und DSM-IV („Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, letzte Version 2007) zu finden.

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E NHANCEMENT

Der Medizinhistoriker Urban Wiesing bezeichnet das Bedürfnis der Selbstverbesserung als eine anthropologische Konstante (vgl. Wiesing 2006). Diese hat in den verschiedensten Kulturen zahlreiche physische und geistige Praktiken ins Leben gerufen, deren Ausüben der Weiterentwicklung, Steigerung der körperlichen und mentalen Fähigkeiten und ganz allgemein der Vervollkommnung des Menschen dienen soll. Neuerdings wird diesem Bestreben, sich selbst effizient zu gestalten und eigene Potenziale voll entfalten zu können, mit medizinischen Angeboten entgegengekommen. Selbstoptimierung durch verschiedene Pharmaka und schönheitschirurgische Eingriffe – die als „(Neuro-)Enhancement“ bezeichnet werden – ist allerdings mit den herkömmlichen Arten der Selbstformung nicht gleichzusetzen. Während die klassischen Wege zur körperlichen wie mentalen Perfektion Mühe, Beharrlichkeit, vor allem aber enorme Geduld erforderten, wird beim Enhancement nichts erarbeitet. Das Gelingen bzw. Scheitern auf der Suche nach einem Ideal hängt hier fast ausschließlich von medizintechnischen und pharmakologischen Mitteln ab (vgl. Kipke 2007: 196, in diesem Band). Insbesondere in Bezug auf Optimierungen des Körpers ist sowohl das Angebot als auch das Interesse groß. Ersteres reicht von verschiedenen Diätpillen und Nahrungsergänzungsmitteln bis hin zu schönheitschirurgischen Interventionen wie Liposuktion, Hautstraffung, Silikonimplantaten, Magen-Bypass Operationen und plastischer Chirurgie im engeren Sinne. Die anscheinend unbegrenzten Möglichkeiten dieser Techniken liefern das Material für viele populäre Fernsehshows wie „THE SWAN“ oder „Spieglein, Spieglein…“,9 in denen die Verwandlung von „hässlichen Entlein“ in märchenhafte Schönheiten u.a. mit Hilfe von Schönheitsmedizin dokumentiert und bejubelt wird (siehe Ruck, in diesem Band). In diesen und ähnlichen Shows geht es allerdings nicht primär um Äußerlichkeiten, wie es zunächst den Anschein macht, „sondern um die Verkörperung von sozialen Normen“ (Villa 2008: 7). Diese Nor-

9

„The Swan“ ist eine erfolgreiche amerikanische Reality-TV Show aus dem Jahre 2004. „Spieglein, Spieglein…“ ist eine Doku-Soap, welche 2008 auf VOX ausgestrahlt wurde und für eine hitzige öffentliche Diskussion sorgte.

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men sind mit den politisch-ökonomischen Machtstrukturen unabdingbar verwoben und werden durch diese aktiv geformt und gesteuert. Das durch „visual eugenics“ (Tait 2007: 127) gezüchtete Ideal eines jugendlichen, schlanken Körpers ist Bestandteil eines komplexen Biomachtapparates, dessen „Gewichtsmanagement“ „auf eine Gesellschaft wachsamer und (vor allem selbst-)disziplinierter, gefügiger Individuen, von denen jedes einzelne gewogen und vermessen und geschlossenen Kategorien entlang einer Hierarchie von ,normal‘ bis ,fettleibig‘ zugeordnet wird“ (Pauly Morgan 2008: 151), abzielt. In den öffentlichen US-amerikanischen Medien werden übergewichtige oder „fettleibige“ Menschen als „innerstaatliche Bioterroristen“ bezeichnet;10 die breitdiskutierte Fett-Phobie betrifft aber auch viele andere westliche Gesellschaften (vgl. Lawrence 1986: 37). Die zur Epidemie erklärte Fettleibigkeit ruft Ängste vor sozialer Exklusion und Behindertenfeindlichkeit hervor und schlägt sich in erforderter Selbstdisziplinierung und zwanghafter Achtung auf das eigene Körpergewicht nieder (vgl. Pauly Morgan 2008: 152 ff.). Selbstverständlich kann dies keine alleinige Ursache für Magersucht sein, jedoch wird das (pro-)anorektische Verhalten durch sozialpolitische und mediale Sanktionen von Übergewicht zumindest stillschweigend legitimiert. Dabei handelt es sich nicht um die Anorexie selbst, sondern um ihre konstitutiven Merkmale wie die stetige Beschäftigung mit der eigenen Figur und dem Gewicht, die Fixierung auf den für „ideal“ gehaltenen, (extrem) niedrigen BMI, die Ablehnung der fetthaltigen Nahrung und die generelle Abscheu gegenüber Fett sowie das ständige Zählen von Kalorien. Daher wird auch die erste Phase der schleichend beginnenden Anorexie nur selten wahrgenommen, denn Diät machen und „auf die schlanke Linie“ achten gehören in der heutigen Gesellschaft zur Normalität des (überwiegend, aber nicht ausschließlich weiblichen) Alltags. Ich möchte deswegen auf die Darstellung von Anorexie (oder, besser gesagt, von proanorektischem Verhalten) als eine Selbstanpassung an die üblich gewordenen, durch die Medien verbreiteten, normativen Vorstellungen über einen „Idealkörper“ verzichten und stattdessen mein Augenmerk auf eine ganz spezielle Gruppe innerhalb der Pro-Ana-Community

10 Diese berüchtigte Formulierung stammt aus einer Rede des Leiters der amerikanischen Public Health Services Richard Carmona im Jahre 2006 an der South Carolina-Universität.

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richten, die die Anorexie als eine wahre Selbstverwirklichung und Selbstformung betrachtet und erlebt.

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VON

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GIRLS “

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Eines der größten Probleme bei den meisten Erklärungs- und darauf aufbauenden Therapieansätzen ist, meines Erachtens, die fehlende Kenntnisnahme der internen Ausdifferenzierung der Anorexie-Community. Ana hat viele Gesichter. In ihrer Studie versucht die US-amerikanische Sozialforscherin Eda R. Uca diese feinen Unterschiede, die aber als solche nur auf den ersten Blick als „fein“ erscheinen und bei näherer Betrachtung ganz eigene motivationale Fundierungen und Dynamiken aufweisen, aufzudecken. Ein wichtiger Parameter ist die unterschiedliche Stellungnahme zum gängigen Schönheitsideal: „[…] some pro-ana groups may embrace the mainstream ideal as a healthy medium of attainable beauty while other pro-ana groups feel that the mainstream ideal is settling for mediocrity. The latter pro-anas state that ‚the human form, like sculpting, is brought to perfection when nothing is left to take away.‘“ (Uca 2004: 15)

Die unkritische Unterwerfung dem Modediktat gegenüber, die seitens der ForscherInnen, vor allem in öffentlichen Diskussionen, den AnorektikerInnen oft vorgeworfen wird, läuft auf eine Pauschalisierung hinaus. Genau das Gegenteil scheint aber oft der Fall zu sein: „those groups which reject the mainstream ideal of beauty also mock those which embrace it for being imposters in the community“ (ebd.). Eine weitere wichtige Grenzlinie verläuft zwischen den „pro-anas“ und den „pro-eating disorder“ Community-Mitgliedern.12 Wobei die

11 Obwohl die Annahme, dass Anorexie eine rein weibliche Krankheit wäre, heutzutage als veraltet gilt, sind die meisten „Pro-Anas“ jedoch Mädchen und Frauen. Die Männer werden hingegen auf den Internetforen kaum vertreten und ihre Motivation zum anorektischen Verhalten unterscheidet sich in vielen Hinsichten von der der Frauen. Im Folgenden beschäftige ich mich ausschließlich mit den an Anorexie erkrankten Frauen.

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letzteren sich zu einer schweren psychosomatischen Störung bekennen, ahmen die pro-anas das anorektische Verhalten bewusst nach, um ihre Ziele zu erreichen: „[t]he overriding principle of pro-ana behaviour is the fulfillment of an individual’s divine right to perfection through the maximization of personal potential“ (ebd.: 66). Heterogenität herrscht dabei nicht nur zwischen den beiden Gruppen, sondern auch innerhalb von ihnen. Die „pro-eating disorder“ Gruppen teilen sich graduell je nach dem Schweregrad der Störung; sie sind jedoch nicht mit der „warning and recovery“-Bewegung, deren Name alleine für sich spricht, zu vermischen. Zu den „pro-eds“ gehören die Menschen, die ihre Krankheit als solche wahrnehmen, sie dabei aber auch als Teil der eigenen Identität akzeptieren. Am besten wird dies in den Worten einer Nutzerin ausgedrückt: „Nun zu den Pro Anas. Eine Definition dafür zu finden, die auf alle zutrifft, ist schwierig. Was uns aber sicher verbindet ist, dass wir diese Krankheit als Teil von uns akzeptieren, was er ja auch ist und vielleicht für immer sein wird. Wir bekämpfen die Krankheit nicht, denn dann würden wir einen Teil von uns selbst bekämpfen. […] Für wahre Hilfe sind selbst wir Pro Anas aufgeschlossen. Wenn es etwas gibt, was uns unsere Ängste nimmt, lehnen wir nicht dankend ab. Das wichtigste ist aber das Verständnis.“13

Auf den Seiten, die Ana als „Lifestyle“ propagieren, sind hingegen nicht selten Aussagen wie die Folgende zu lesen: „Wenn ich von Ana spreche meine ich nicht die Krankheit Anorexia Nervosa (eher bekannt als Magersucht) sondern den Lifestyle Ana. Lifestyle Ana bedeutet für mich sich an die Ana [R]egeln zu halten, sich in der Ana Community engagieren und dabei immer noch gesund leben! Was ist schlecht daran schlank zu sein?“14

12 Um eine terminologische Verwirrung zu vermeiden, sei hier angemerkt, dass sowohl die „pro-anas“ als auch die „pro-eating-disorder“ Gruppe zu der Pro-Ana-Community mit gleicher Stellung gehören. 13 http://diaet.abnehmen-forum.com/674059-post94.html, 20.02.2011. Hier muss man auch anmerken, dass die Selbstbezeichnungen verschiedener Gruppen innerhalb der Pro-Ana keine klaren Definitionskriterien anbieten. 14 http://love-ana-and-mia.chapso.de/ana-interpretation-s362761.html, 20.02. 2011.

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Während der letzte Satz die gesellschaftlich etablierte Norm apologetisch hervorruft, gibt es auch Aussagen, die die für zulässig gehaltene „Normalität“ aufgrund ihres Verstoßes gegen das menschliche Recht zu Selbstbestimmung kritisch hinterfragen: „AnA ist Lifestyle, und nicht Krank. […] Und das galt früher mal als Psychische Krankeheit! Normale Diäten sind ja auch ‚erlaubt‘ nur weil man seine ziele was höher setzt ist das doch nicht krank. Da ist man mal ein gutes Vorbild und ernährt sich gesund und treibt viel sport und das ist immer noch nicht gut. Aber zu fett sein ist auch nicht gut. dann hat man Adipositas und ist Esssüchtig.[…] NUN.. was ist wenn mir essen nicht mehr schmeckt und ich aus überzeugung ana bin? […] sonst müssen alle veganer, vegetarier, schwule, lesben, dicken, tierliebend/hassenden und sonstig herausragende menschen in therapie...“15

Dieses Zitat steht interessanterweise im Einklang mit der Sicht der Kulturtheoretikerin Christina von Braun, die in ihrem Vergleich des mittelalterlichen Fastens mit der modernen Anorexie ebenfalls nach den eigentlichen Gründen dafür fragt, warum „ein Zeitalter das weibliche Fasten in den Bereich der ,Heilslehre‘, das andere aber in den Bereich der Krankheit verweist“ (von Braun 1993: 221). Die Forscherin führt diese Tatsache auf die Ablösung der Rolle der Kirche und die Übernahme der Kontrolle des leiblichen Wohls seiner Bürger durch den Staat zurück. Einerseits wurde der Mensch als eine wichtige Produktionskraft zunehmend rationalisiert, andererseits verlagerten sich aber die spirituellen, im westlichen Christentum verankerten und nie überwundenen Zwangsmechanismen nach innen. Aus dieser Perspektive könnte man die moderne Anorexie unter anderem als eine Art geistige Auflehnung gegen die herrschende Ideologie der Rationalisierbarkeit und Optimierbarkeit des Menschen deuten, was umgekehrt auch die beharrliche Pathologisierung der AnorektikerInnen im staatsmedizinischen Betrieb erklärbar machen würde. Eventuell wäre hinter dem Phänomen der modernen Anorexie auch eine gewisse moderne Sehnsucht nach Spiritualität zu sehen, wofür einige Elemente der Pro-Ana Community zeugen.

15 http://www.angie-legerete.de.tl/Ana-Ist-Lifestyle.htm, 20.02.2011; Originalorthographie beibehalten.

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A NOREXIE ALS PARARELIGIÖSE S ELBSTOPTIMIERUNG ? Tatsächlich scheinen einige Aspekte der Pro-Ana-Bewegung einen religiösen Hauch zu haben. In ihrer Studie widmet Eda R. Uca dem Phänomen „Ana als Religion“ ein eigenes, wenn auch kleines Kapitel, in dem sie sich wie folgt zu dieser Verbindung äußert: „An offshot of the pro-ana faction is a group which considers [their] choice of lifestyle a religion. Control, austerity, persistence and endurance are the four unwritten pillars of Ana. Ana is a monotheistic religion and followers pray to Goddess Ana. The sacred texts of this religion include the Letter from Ana, The Ana Creed and the Ana Psalm. Individuals may also write a Letter to Ana and an Incarnation of Ana. These texts are not only used by those who practice Ana religiously; it is rare that a site falling under pro-ana or pro-eating disorder does not include at least some of them.“ (Uca 2004: 74)

Allerdings wäre diese kollektive Mythologie alleine nicht ausreichend, um über die Pro-Ana Bewegung als eine religiös zu verstehende Praxis sprechen zu können, denn selbst viele Community-Mitglieder reagieren auf Anas „heilige Schriften“ skeptisch: „Die meisten Essgestörten, auch die, die sich Pro Ana nennen, halten das für Quatsch“.16 Vielmehr lässt sich der mutmaßlich spirituelle Hintergrund der Anorexie in denjenigen Eigenschaften erkennen, die zum angestrebten Ziel führen, in der Lebensphilosophie, die sich hinter diesem Ziel verbirgt, sowie in der spezifischen Weise des Erlangens. Der in der Forschung herrschende Konsens besagt, dass die Magersüchtigen über eine besondere Willensstärke, Intelligenz, Zielstrebigkeit und Leistungsfähigkeit verfügen (vgl. z.B. Selvini Palazzoli 2004). Tatsächlich werden ein unbiegsamer Wille und Selbstunversöhnlichkeit dem konsequenten, die ganze Existenz der AnorektikerInnen um sich zentrierenden Abmagern vorausgesetzt. Bei denjenigen Pro-Ana-AnhängerInnen, die ihre Krankheit selber nicht durch eine pathologisierende Brille betrachten, kommt außerdem der unerschütterliche Glaube daran hinzu, den qualvollen Weg wahrhaftig nötig zu haben. Es sind sowohl die in den „heiligen Schriften“ als auch in den Aussagen der Gruppenmitglieder angegebenen Beweggründe,

16 http://diaet.abnehmen-forum.com/674059-post94.html, 20.02.2011.

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die auf einen kulturgeschichtlichen, von der christlichen Tradition stark geprägten Hintergrund deuten. Das zweite Gebot der „Göttin Ana“ lautet: „I believe that I am the most vile, worthless and useless person ever to have existed on this planet, and that I am totally unworthy of anyone’s time and attention.“ („Ana Creed“, zit. nach Uca 2004: 43) Die gebotene Bekundung des eigenen verachtenswerten, vor allem weiblichen Selbst, die mit der Stellung der Frau im mittelalterlichen Christentum einhergeht (vgl. Deschner 1974: 209 f.), bekräftigt von Brauns Schluss, dass einige der Gründe für die Erkrankung an Anorexie tiefere geisteshistorische Wurzeln haben, als generell geglaubt wird, und zwar „in der Geschichte christlicher Vorstellungen über die Frau […] und paradox genug – in tradierten Verhaltensmustern weiblicher Auflehnung gegen diese Vorstellungen“ (von Braun 1993: 221 f.). In ihrem historischen Überblick betont die Forscherin, dass die mittelalterliche weibliche Askese große Unterschiede zur männlichen Askese aufwies. Die Frauen fasteten, um sich von ihrem eigenen, zum Ort der Niederlassung der Sünde erklärten weiblichen Körper zu befreien, während Mönche sich durch das Fasten von der Unreinheit des außerhalb ihres Körpers liegenden Weltlichen lösten (vgl. von Braun 1993: 215 f.). Die Analyse von den historisch tradierten Fällen des freiwilligen Hungerns bis zum Tode führt von Braun zur Schlussfolgerung, dass „mit der weiblichen Nahrungsverweigerung letztlich die ,Befreiung‘ vom weiblichen Körper gemeint ist – oder genauer: das Entweichen aus den Zuschreibungen, in denen dieser befangen ist“ (ebd.: 214), und dies sowohl im Mittelalter als auch heute. Durch das Fasten erlangten die Frauen die ihnen sonst vorenthaltene Autonomie und die Freiheit, selbst über ihren Körper und ihr Leben zu entscheiden. Dies ist auch bei der modernen Anorexie der Fall. Die Studien belegen, dass viele AnorektikerInnen in ihrer Krankheit gerade den Ausweg aus den zu eng gewordenen Familienbünden oder zu hohen, von außen auferlegten Erwartungen suchen. So wird die Nahrungsverweigerung zu einem aktiven Protest gegen die von außen ausgeübte Kontrolle. Von Braun rückt die Frage der weiblichen Autonomie als Drehund Angelpunkt bei der Anorexie stark in den Vordergrund und ist gegenüber der verbreiteten psychoanalytischen Erklärung, die die Krankheit auf eine „Ich-Schwäche“ zurückführt, kritisch gesinnt (vgl. von Braun 1993: 220). In der Tat zählen viele TherapeutInnen mangelnde Identität und das Verlangen nach Autonomie zu den

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zentralen Konfliktbereichen bei essgestörten PatientInnen (vgl. Orlando 2005: 84). Die Beiträge auf den Pro-Ana Internetforen bestätigen beide Annahmen. Wo es nicht um das Abnehmen, sondern um die Kachexie17 geht, gibt es, so Uca, zwei verschiedene Gruppen: „The pro-ana groups idealize emaciation as an image of will-power and strength whereas the pro-choice groups idealize emaciation because their members’ consumption with self-loathing makes them wish to disappear“ (Uca 2004: 16). Dies widerspricht aber kaum der These von Brauns. Wie sie selber ausführt, „[…] gibt es kaum Beispiele eines männlichen Fastens ‚bis zum Tode‘, während der Tod zum eigentlichen Ziel des weiblichen Fastens wurde. […] Für die Frauen hieß das Fasten einerseits strikte Befolgung christlicher Lehren; andererseits beinhaltete es aber auch die ‚Erlösung‘ von diesen Lehren: die letzte Möglichkeit, die Autonomie zu erringen – eine Autonomie, die darin besteht, mit Gott in direkte Beziehung zu treten – unter Umgebung von Vätern, Ehemännern und dem Klerus selbst.“ (von Braun 1993: 216)

Diese Art der Befreiung von der patriarchalen Macht scheint auch die moderne Anorexie zu kennzeichnen, denn laut von Braun spiegelt sie die „Verweltlichung und Verinnerlichung christlicher Lehren“ (ebd.: 223) wider. Obwohl Anorexie von den ForscherInnen überwiegend durch eine medizinisch-pathologische Brille betrachtet wird, einigen sich viele Erklärungsansätze zumindest in ihren Prämissen (wenn nicht in ihren Schlüssen) darauf, dass gerade bei jungen Frauen und Mädchen die Nahrungsverweigerung, die unter anderem die Unterentwicklung von sekundären Geschlechtsmerkmalen und das Ausbleiben der Monatsblutung (Amenorrhö) zur Folge hat, vom generell unbewussten Wunsch her kommt, dem Erwachsenwerden entgegen zu steuern,18 sowie vom allgemeinen Verlangen nach einer autonomen Selbst-

17 Unter Kachexie (wörtlich: „schlechter Zustand“) versteht man eine starke, krankhaft gewordene Abmagerung. 18 Diese These ist vor allem in den psychoanalytisch ausgerichteten Ansätzen zu finden, wo der abgemagerte, „geschlechtsneutrale“ Körper als ein „autonomer Phallus“ erfasst wird. Ferner wird sie oft auch in familiendynamischen, sozialpsychologischen, feministischen Ansätzen mit angeführt. Während einige Forscher das weibliche Verlangen nach einem ausgezehrten Körper als unbewussten Wunsch, sich zu einem „autonomen

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bestimmung und -gestaltung, die ihnen durch die patriarchalen gesellschaftlichen Strukturen nur unter Vorbehalt gewährt wird (vgl. Scheffler 1987: 127). Für diese These gibt es auch zahlreiche Belege aus dem Netz. Ein Zitat, welches von der Internetseite einer 20jährigen anorektischen Frau stammt, fasst die Tatsache mit brutaler Knappheit zusammen: „Ich konnte meinen Körper besiegen, konnte meinen Körper kontrollieren. Trotzdem wurde ich immer weiblicher, wurde zu einer Frau. Ich wollte nie eine Frau werden. Auch wenn ich schon als Mädchen gefickt worden bin, so war mir klar das[s] ich als Frau erst recht gefickt werden würde.“19

Was mir in der Diskussion über Anorexie als eine parareligiöse Selbstformung auch von großer Bedeutung zu sein scheint, ist die Wahl der „Mittel zum Zweck“. In der Fachliteratur über Essstörungen wird manchmal zwischen zwei Typen von Anorexia nervosa unterschieden. Verzicht auf fetthaltige, kalorienreiche Nahrung und Verringerung der Nahrungsmengen, die auch mit intensiven sportlichen Aktivitäten ergänzt werden können, charakterisieren den ersten, sogenannten „passiv-restriktiven“ Typus von Anorexie. Im Unterschied hierzu spricht man vom „aktiven“ Typus, wenn die Abmagerung u.a. mittels Laxantien, Diuretika und anderen abführenden Medikamenten sowie Erbrechen erreicht wird. Da der aktive Typus dadurch der Bulimie ähnelt, wird er auch häufiger als „bulimische Form von Anorexie“ bzw. eine schwer definierbare Mischform zwischen den beiden Essstörungen beschrieben. Hier sei auch angemerkt, dass, obwohl gelegentliche bulimische Episoden auch für den Verlauf der „klassischen“ Anorexie nicht untypisch sind, es innerhalb der Pro-Ana-Community eine Trennlinie zwischen den „Anas“ und „Mias“, den BulimikerInnen, gibt:

Phallus“ zu verwandeln, betrachten (vgl. Willenberg 1989: 197), weisen andere darauf hin, dass die angestrebte „Befreiung von eigener Weiblichkeit“ oft eine Reaktion auf sexuelle Gewalt sei (vgl. Sloan/Leichner 1986: 659). Der feministische Ansatz richtet sein Augenmerk auf die allgemeinen Gewaltverhältnisse in der heutigen Gesellschaft, denen insbesondere Frauen ausgeliefert sind (vgl. Stroot 1990). 19 http://niemandkind.de.tl/Mein-Brief-an-Ana.htm, 20.02.2011.

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„While bulimics are also food conscious and weight conscious, the act of vomiting is less easily romanticised than starving; take, for example, the image of the ‚starving artist‘. Moreover, vomiting is considered to be a more specialised skill than starving and therefore not open to all community members. Indeed it is often thought of as the less preferred method of weight loss and is used as a compensatory rather than prolific weapon in the battle against fat.“ (Uca 2004: 49 f.)

Es geht in beiden Gruppen im Wesentlichen um den Kampf des Geistes gegen eigene körperliche Verlangen und Bedürfnisse, die für verachtenswert gehalten werden. Dennoch sind das individuelle psychische Vermögen an Selbstkontrolle sowie die Motivation zu stetiger Mäßigung unterschiedlich ausgeprägt. Während die BulimikerInnen psychisch unter Kontrollverlust leiden, der ihr Selbstbild ausschlaggebend prägt und für Schamgefühle und Selbstverachtung sorgt (vgl. Focks/Trück 1987: 25), geht es bei AnorektikerInnen um die Aufrechterhaltung der Kontrolle. Ihr Erfolg ruft Stolz auf die Stärke des eigenen Willens hervor: „Die Fähigkeit, sich selbst mäßigen und hungern zu können, verleiht ein moralisches Prestige und reicht damit weit über den bloßen Wunsch abzunehmen hinaus“ (Lawrence 1986: 31). Dieses Prestige ist mit der westlichen Kulturtradition und gar mit den normativen Erwartungen und Werten einer individualistischen Gesellschaft eng verwoben; bis hin zum Ideal eines sein Leben und Schicksal in eigene Hände nehmenden Individuums, dem Erfolg und Anerkennung zustehen.

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Im heutigen Neoliberalismus ist der Zwang, sich selbst stetig optimieren zu müssen, um gesellschaftliche Akzeptanz zu erlangen und eigene Existenz ökonomisch zu sichern, stärker denn je geworden. Man muss sich zu einem „Allrounder“ und „Multitasker“ entwickeln, wenn man im Wettbewerb erfolgreich bestehen möchte (vgl. Bröckling 2007, Rieger, in diesem Band). Es wird in der Essstörungs-Forschung häufig bemerkt, dass insbesondere Frauen vom gesellschaftlichen Wandel oft negativ betroffen sind. Die größere Bedeutung des Aussehens einer Frau im Gegensatz zu dem des Mannes ist im Bild traditioneller Geschlechterrollen hoch angelegt; heutzutage kommt der

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Zwang, „modern“ zu sein (vgl. Jameson 2002: 211), noch hinzu. In seiner Darstellung der heute bestehenden Modernität als Ideologie merkt der Kulturtheoretiker Fredric Jameson unter anderem an, dass „[…] today once again people are beginning to raise the issue of beauty, the central subject of an aesthetics whose bourgeois motivation can be registered in its twin end points: the trivializations of the purely decorative and enjoyable on the one hand, and the sentimental idealism of the various ideologies of aesthetic justification on the other.“ (ebd.: 3)

Die zwanghafte Bestrebung einer „Modernität“ stellt zwar an beide Geschlechter gewisse Forderungen, aber nicht in identischen Sphären und auch nicht im gleichen Maße. Gerade im Bereich der Äußerlichkeit sind die Frauen vielmehr unter Druck gesetzt, als die Männer (vgl. Penz 2010: 9). Die Sozial- und Geschlechterforscherin Nina Degele merkt an, dass „[a]uch wenn der männliche Körper als Schönheitsträger ins massenmediale Interesse gerät, ist es […] doch vor allem der weibliche Körper, der zur Problemzone wird und in Form gebracht werden muss.“ (Degele 2004: 170) Im Bezug auf Schönheitshandeln spricht Degele vom Leiden unter Modernisierung und den damit verbundenen Schönheitsnormen und -zwängen, denen die essgestörten Frauen sich im größeren Maße ausgeliefert fühlen: „[Sie sehen für sich] in der Kontrolle über den eigenen Körper und das eigene Essverhalten den letzten Rest an Gestaltungsmöglichkeit.“ (Ebd.: 155) Heute wird Schönheit mehr denn je zum Instrument der sozialen Macht und zu einem wichtigen asset. Dabei ist Mode, die sowohl Kleidung als auch Körperpflege und Körperform betrifft, ein Bestandteil der allgemeinen Forderung an Modernität. Mit dem „modernen“ Aussehen werden Effizienz und sozialer Aufstieg verbunden, denn es ist vor allem die Oberschicht, die sich als Träger der angesagten „Modernität“ zu profilieren versucht. Im Bezug auf die heutige „moderne“ Körperform lässt sich folgendes sagen: „Die Oberschicht spezifiziert sich auf ein ,schlankes Körperideal‘, das von den unteren Schichten erst mit Verzögerung nachgeahmt wird“ (Grauer/Schlottke 1995: 117 f.). Optimierung des eigenen Körpers nach den gesellschaftlich dominanten Vorstellungen hängt mit dem sozialen Status eng zusammen: „Wer sich schön macht, steigert seine Erfolgsaussichten, und Schönheitshandeln erscheint als Versuch der Teilhabe an sozialer Macht“ (Degele 2004: 15).

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Interessanterweise deuten sowohl Bourdieus breit rezipierte Untersuchung als auch neuere Studien (vgl. Penz 2010) darauf hin, dass, während Frauen aus den mittleren und unteren Schichten eher dazu neigen, auch das Angebot an Enhancement zu ergreifen, OberschichtFrauen das Aussehen vielmehr mit den moralischen Tugenden und dem Ausdruck einer stetig betriebenen Selbstformung im klassischen Sinne in Verbindung setzen (vgl. ebd.). Daraus ergibt sich eine bemerkenswerte Parallele mit den Ergebnissen einiger ForscherInnen, die die Korrelation zwischen der sozialen Schicht und der Anfälligkeit für verschiedene Essstörungen beobachteten und Anorexie daraufhin als „Oberschichtskrankheit“ deuteten (vgl. Bruch 1978). In traditioneller Auslegung steht Anorexie meistens mit einem höheren Leistungsdruck, der Aufrechterhaltung einer „perfekten Fassade“ und der Ausklammerung der Emotivität innerhalb der Familie in Verbindung. Überdies hinaus könnte man mit der Bezeichnung von Anorexie als Oberschichtskrankheit noch vermuten, dass das soziokulturell geprägte Selbstbild einer der Oberschicht angehörigen Frau nicht nur das Ideal des Schlankseins beinhaltet, sondern auch den impliziten Zusammenhang der Körperform mit den charakterlichen Eigenschaften und dies demnach auch mit einem gewissen, wiederum kulturell tradierten Ethos in Bezug auf die „zulässigen“ Methoden verbunden ist.

A NOREXIE : ZWISCHEN E NTLEIBUNG UND V ERGEISTIGUNG Kann man also Anorexie als Selbstoptimierung betrachten? In einer abstrakten, formalistischen Perspektive würde man dieser Sicht vielleicht zustimmen können. Doch das gilt definitiv nicht für alle Gruppen der Magersüchtigen, denn die motivationalen Gründe und die Stellungnahmen zur Krankheit unterscheiden sich stark voneinander. Auch aus pragmatischer Perspektive lässt sich Anorexie kaum als Selbstoptimierung betrachten, denn das angestrebte Endziel vieler Anorektikerinnen – anerkannt, respektiert und sozial erfolgreich zu werden – lässt sich gerade aufgrund des bewusst (und vielmehr unbewusst) ausgesuchten Weges nicht erreichen und entpuppt sich als Fata Morgana. Dabei bleibt die Frage offen, warum sich so viele Mädchen und Frauen der Pro-Ana Bewegung anschließen, obwohl die

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Unversöhnlichkeit ihres Zieles mit der ausgesuchten Methode auf der Hand liegt. An dieser Stelle möchte ich eine These wagen: gerade das Phänomen der Anorexie soll einen über die in der westlichen Kulturtradition tief verankerte kartesische Dualität von Körper und Geist nachdenklich stimmen, die den Verstand (res cogitans) über das körperliche Erleben und die materielle Welt (res extensa) stellt. Hans Ulrich Gumbrecht (2004) behauptet, dass die „Entleibung“ des Körperlichen und der Materie überhaupt, die in der Postmoderne ihren Apogäum erreicht und so gut wie alle Lebensbereiche des westlichen Menschen durchdrungen hat, auch mit der Geschichte des Christentums eng verbunden sei. Als Beispiel führt er die Eucharistie und ihre theologisch-philosophischen Interpretationen an. Während im frühen Christentum und in der katholischen Tradition das Blut und das Fleisch von Jesus bei der Eucharistie verdinglicht wurden, stellt sich der Protestantismus dieser Deutung kritisch gegenüber und kodiert den Wein und die Oblate als Evokationen neu um. Dies erklärt Gumbrecht aus dem sich langsam etablierenden modernen Geschichtssinn, der die zeitliche Distanz für körperlich unüberbrückbar hält (vgl. Gumbrecht 2004: 29 f.). Das Plädoyer des Kulturtheoretikers – „I believe that we should try to reestablish our contact with the things of the world outside the subject/object paradigm (or in a modified version of it)“ (ebd.: 56) –, mit dem er sich eigentlich an die GeisteswissenschaftlerInnen wendet, würde zweifelsohne auch für die AnorektikerInnen gelten, denn das im Epigraph zitierte Postulat von Ana befürwortet unter anderem die Verleugnung und Missachtung des eigenen Körpers sehr stark. Ein weiteres Paradox besteht dennoch darin, dass die moderne Schulmedizin selber überwiegend auf dem kartesischen Weltbild ruht. Die prinzipielle Untrennbarkeit von Geist und Körper wird nicht mal in allen Bereichen der Psychosomatik, die der Anorexie heute überwiegend zugeordnet ist, konsequent eingehalten. Diese kulturell eingeprägte Dualität spiegelt sich auf dramatische Weise im Krankheitsbild der Anorexie selbst wider. Die Therapieansätze wie Body-Image-Correction, Spiegeltherapie, Videotherapie, Tanztherapie und viele andere zielen auf eine positive Anerkennung des eigenen Körpers ab, dem aber in der westlichen Kulturtradition ein gewisser Minderwertigkeitsstatus anhaftet. Dazu kommt außerdem die postmoderne relativierende Vorstellung von Materie und Körper als bloße Projektionsflächen, in die verschiedenste

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Inhalte eingeschrieben werden können, die unendlich form- und gestaltbar wären und denen keine Immanenz zugeschrieben werden könne (vgl. Jameson 1991). Anders herum verstärken die psychologisch oder psychoanalytisch orientierten Therapiemethoden die Idee vom Primat des Geistes über den Körper. Paradoxerweise ist diese aber genau die zentrale Auffassung vieler AnorektikerInnen, die dadurch zusätzlich bestätigt und untermauert werden kann. Zugespitzt ausgedrückt: Wie kann man einen von größerer Wichtigkeit des Körperlichen überzeugen, wenn der menschliche, um Selbstbestimmung ringende Geist in der westlichen Kultur und Philosophie eben zur Gewähr für persönliche Freiheit und Autonomie seit jeher erklärt wurde?

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Tatsächlich wirft Anorexie unter anderem die Frage der gesellschaftlich tolerierbaren Autonomie des Subjekts auf. Es wurde oftmals betont, dass Disziplin und Selbstkontrolle die Dreh- und Angelpunkte bei den AnorektikerInnen seien. Dieser Punkt offenbart ein Paradox. Während ein „self-made man“ in individualistischen Industriegesellschaften zu einem idealisierten Topos geworden ist und es von einem Individuum eigentlich erwartet wird, starke Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung und Selbstformung aktiv zu üben, die mit beruflichem sowie privatem Erfolg einhergehen, setzen die gesellschaftlichen Normen solcher Selbstentfaltung die Grenzen. Es lässt sich allgemein sagen, dass der Aufruf zu Individualität und Autonomie als Persönlichkeitsdesiderata einerseits, andererseits aber der Zwang zum Konformismus, zwei Pole darstellen, zwischen denen man den eigenen Weg suchen muss. Der Versuch, sich von Fremdbestimmungen und Abhängigkeiten zu befreien, kann dabei leicht zu Stigmatisierung und Exklusion führen. Seit fünf Jahren läuft in Deutschland eine Gegenkampagne zu ProAna, an der unter anderem die Kommission für Jugendmedienschutz beteiligt ist. Die entsprechenden Internetforen werden verfolgt und im Einvernehmen mit den Anbietern gesperrt. Die Inhalte dieser Seiten

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erklärt Ursula von der Leyen zu „einer Einleitung zum Selbstmord“,20 und der O-Ton dieses und anderer Artikel über Pro-Ana21 strahlt – außer der Besorgnis um das Wohl von jungen BürgerInnen – dasselbe Unverständnis aus, dem viele Magersüchtige sowieso tagtäglich ausgesetzt werden. Was bei der Lektüre solcher Artikel auch nicht unbemerkt bleiben darf, sind die Schuldzuweisungen, die an ähnlichen rhetorischen Fäden ziehen, wie in der bereits erwähnten FetthassPropaganda, und dabei höchstproblematische Konjunkturen in der heutigen Kultur und Gesellschaft außer Acht lassen. Wenn es um externe Faktoren, die die Erkrankung begünstigen, geht, so wird immer nur einer benannt: das besagte „Modediktat“; natürlich kommen dabei die Betroffenen selbst nicht zu Wort. Dies ist bereits in moralischer Hinsicht deswegen fragwürdig, weil es Grundzüge der „Othering“Praxis (sensu Said 1978) aufweist. Die „Ana girls“ haben jedoch ihre eigene dezidierte Sicht darauf: „People think that by shutting them [the internet forums; G.R.] down they are doing something to help to cure the problem, but this is where they are mistaken. They are leaving those with eating disorders more alone, and this isolation is what causes so many of us to retreat even further into our obsession with food and calories. These sites by no means do anything to help treat the disorder, but they make it manageable, which is all those that are not ready for recovery are looking for.“ („We need a place to belong“, zit. nach Uca 2004: 64)

Aus kulturkritischer Perspektive stellt sich bei moderner Anorexie das Problem ihrer Interpretation. Beiträge auf den Pro-Ana-Foren zeugen davon, dass Anorexie als Lebenspraxis für viele mit dem Recht auf Selbstbestimmung, Befreiung aus der traditionellen Frauenrolle im Patriarchat und der Ablehnung der Konsumgesellschaft verbunden ist. Die MedizinerInnen und die besorgte Öffentlichkeit ringen um die Bekämpfung der gefährlichen Krankheit. Die einen neigen zwar oft dazu,

20 Vgl. „Wetthungern im Internet“ in: Stern, 18.02.2008, http://www.stern. de/gesundheit/gesundheitsnews/sucht-wetthungern-im-internet-611525.ht ml (23.02.2011). 21 Vgl. z.B. „Kultur der Knochen“ in: Spiegel 18 (2007), S. 166-168, „Hungern bis zum Ende“ in: Focus Magazin 42 (2008), S. 154-157, „Mode für Doppelnullen“ in: Focus Magazin 45 (2006), S. 160-163.

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das eventuell tödliche Finale zu übersehen; die anderen tendieren wiederum zu verabsolutierter Pathologisierung der AnorektikerInnen – eine Position, die es ihren VertreterInnen ermöglicht, die sowohl ethisch als auch politisch brisante Frage der persönlichen Selbstbestimmung stillschweigend zu übergehen. Und noch einmal zur Anorexie als Selbstoptimierung bzw. Selbstformung: Das Ziel einer solchen Fragestellung ist gar nicht die „Normalisierung“ der Krankheit. Ihr eigentlicher und einziger Legitimitätsgrund besteht meines Erachtens darin, dass sie einige bedeutsame Kontexte ins Blickfeld rückt, die sonst kaum in das Gesamtbild integriert werden. Gerade die Freiheitsproblematik macht die Ambiguität des Phänomens sichtbar, weil sie auch einige zentrale ethische Fragen mit sich führt: Welche Forderungen stellt die moderne Gesellschaft eigentlich an das Individuum, wenn die Selbstanpassung für viele einen so hohen Preis kosten soll? Und ferner: Welche unsichtbaren Zwangsjacken binden den heutigen Menschen, sodass die bewusste Selbsttötung als der einzige Ausweg zur Freiheit erscheint? Wo liegen die Grenzen persönlicher Autonomie und Selbstbestimmung? Es gibt zwar keine befriedigenden Antworten, jedoch müssen diese Fragen unbedingt gestellt werden, da eventuell nur das Verständnis – für das Andere wie für das Eigene – den „Ana’s girls“ tatsächlich helfen kann.

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NERVOSA : PSYCHISCHE

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Eupsychia oder Walden Two? Ein Vergleich zwischen psychologischen Optimierungsdiskursen im Behaviorismus und der humanistischen Psychologie A NNA S IEBEN

E INLEITUNG Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei der Psychologie geradezu um eine Wissenschaft zur Optimierung des Menschen handelt. Insbesondere in ihren sogenannten Anwendungsbereichen (etwa der Klinischen Psychologie, der Pädagogischen Psychologie, der Verkehrspsychologie oder der Arbeits- und Organisationspsychologie) wird nicht nur Leiden verhindert, geheilt oder Schaden abgewendet, sondern auch an einer Verbesserung der menschlichen Psyche gearbeitet.1 Im Rahmen der Psychologie als der Wissenschaft vom menschlichen Denken, Fühlen, Wollen, Handeln und Verhalten kann erforscht werden, wie sich effektiver arbeiten, intensiver erleben, schneller denken, besser erinnern, weniger schlafen oder wirkungsvoller lernen lässt. Exemplarisch werden in diesem Beitrag zwei zentrale psychologische Schulen des 20. Jahrhunderts unter die Lupe genommen: der Behaviorismus und die Humanistische Psychologie. Wie ich zeigen,

1

Siehe für eine diesbezügliche Analyse des Therapeutisierungsprozesses: Elberfeld, in diesem Band.

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sind sich beide Theorieströmungen in einem Punkt einig: Eine Optimierung des Menschen mithilfe der Psychologie ist nötig und möglich. Dabei entwickeln beide psychologischen Traditionen jedoch ganz unterschiedliche Vorstellungen davon, was der Mensch ist und wie er optimiert werden kann. Die Differenzen zwischen dem Antihumanismus des Behaviorismus (Straub 2010) und dem erklärten Humanismus der sich als dritte Kraft verstehenden Humanistischen Psychologie könnten an vielen Stellen kaum größer sein. In diesem Beitrag werden beide Optimierungsprogramme vorgestellt und anschließend verglichen. Der Kontrast zwischen beiden Ansätzen wird genutzt, um ein kritisches, aber differenziertes „weder-noch“ zu beiden Formen der Optimierung des Menschen zu entwickeln: Weder das autoritäre behavioristische Modell der Optimierung durch Konditionierung noch die von der Humanistischen Psychologie anvisierte Selbstoptimierung sind aus meiner Sicht erstrebenswert. Diesem inhaltlichen Programm entsprechend gliedert sich der vorliegende Beitrag in drei Abschnitte. Zunächst werden die Optimierungsentwürfe des Behaviorismus und der Humanistischen Psychologie beschrieben. Es folgt ein kritischer Vergleich anhand von vier Aspekten. Zusätzlich enthält dieser Beitrag einen Exkurs mit dem Titel „Über unglückliche Hausfrauen und unerfüllte Homosexuelle. Geschlecht und Sexualität in psychologischen Optimierungsdiskursen“. In diesem Exkurs gehe ich den Fragen nach, ob erstens die Optimierung des Menschen an seine Sexualität gekoppelt wird und zweitens, ob Optimierung geschlechtsspezifisch konzeptualisiert wird (ob zum Beispiel Frauen und Männer unterschiedlich zu optimieren sind). Wiederum werden Humanistische Psychologie und Behaviorismus miteinander verglichen.

B EHAVIORISMUS : O PTIMIERUNG

ALS

BEHAVIORAL ENGINEERING Behavioristische Theorien haben das Verhalten von Menschen und Tieren sowie die Veränderung dieses Verhaltens durch Lernprozesse zum Gegenstand. Mentale, psychische Phänomene werden auf manifestes Verhalten zurückgeführt und ihrerseits als irrelevant für die Erklärung von Verhalten angesehen. Lernen wird durch Konditionierungsprozesse, namentlich operantes und klassisches Konditionieren,

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erklärt. Methodisch orientieren sich behavioristische Theorien am naturwissenschaftlichen, experimentellen Vorgehen. Umweltreize werden gezielt variiert, um ihre Wirkung auf das Verhalten eines Organismus systematisch beobachten zu können. Behavioristen postulieren eine starke Formbarkeit und Umweltbedingtheit des Menschen. Behavioristische Theorien wurden vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Abgrenzung zu den psychologischen Ansätzen der Gestaltpsychologie, Psychoanalyse und der Bewusstseinspsychologie entwickelt. Der Begriff „Behaviorismus“ wurde in programmatischer Absicht das erste Mal von Watson 1913 verwendet (Lück 2009). Als wichtigste Vertreter des Behaviorismus werden Ivan P. Pavlov, Edward L. Thorndike, John B. Watson, Edward Tolman und Burrhus F. Skinner aufgezählt (Stanford Encyclopedia of Philosophy 2007, Lück 2009). Auch wenn der Behaviorismus als dominantes psychologisches Paradigma circa seit den 1960er Jahren durch den Kognitivismus abgelöst wurde (der heute vor allem mit verschiedenen Spielarten einer biologischen Psychologie konkurriert), ist er nach wie vor in der Psychologie präsent. Besonders wichtig sind die behavioristischen Lernprinzipien für die „orthodoxe Verhaltenstherapie“ (Lück 2009: 116). Aber auch in zahlreichen anderen Anwendungsfeldern, vor allem im Ausbildungs- und Weiterbildungsbereich, werden behavioristische Theorien stark rezipiert. Ich lege in diesem Beitrag den Schwerpunkt auf Skinners Roman „Walden Two“. In diesem utopischen Werk entwirft er die Vision einer idealen menschlichen Gesellschaft, die auf den Prinzipien des Behaviorismus basiert. Skinner überträgt in diesem Roman die behavioristischen Lernprinzipien auf Fragen der Gesellschaftsordnung und expliziert in utopischer Form, was er unter dem ‚optimierten Menschen‘ versteht. Aus diesen Gründen eignet sich der Roman besonders gut, um Skinners behavioristisches Optimierungsprogramm herauszuarbeiten. An einigen Stellen greife ich ergänzend auf Textstellen aus Skinners Werk „Jenseits von Freiheit und Würde“ (1973) zurück. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass Skinner nicht der einzige Behaviorist ist, der Vorstellungen von einer utopischen Gesellschaft entwickelt, die auf der behavioristischen Theorie aufbauen: Vor allem Watson (1930) und Tolman (1951) hatten ähnliche Gedanken, auch wenn sie diese bei weitem nicht so ausführlich darlegen wie Skinner. Ich greife später einzelne Aspekte von Tolman und Watson auf.

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Im Jahr 1948 verfasste Skinner seinen Roman über die utopische Gesellschaft Walden Two. Er beschreibt darin das Zusammenleben einer circa 1000 Mitglieder umfassenden, wirtschaftlich größtenteils autarken Gesellschaft in den USA. Das Ziel dieser Gesellschaft ist ein friedliches und zufrieden stellendes Zusammenleben. Im Zentrum der Utopie steht der Gedanke des Fortschritts und der Optimierung menschlichen Lebens, und das sowohl in technischer als auch in psychologischer Hinsicht. Ersteres soll durch ausgefeilte und moderne Technologien sowie eine konstante Weiterentwicklung von Architektur, Lebensmittelproduktion oder Maschinen, letzteres durch die Anwendung der behavioristischen Lerngesetze, herbeigeführt werden. Dieses Konzept wird als social, cultural oder behavioral engineering bezeichnet. Um die konstante Weiterentwicklung sicherzustellen, ist Walden Two als Experiment konzipiert. Jede Neueinführung wird überwacht und ihr Effekt auf das Zusammenleben beobachtet. Die von Skinner entwickelten Ideen zur Veränderung gehen weit über einen behavioristischen Rahmen im engeren, wissenschaftlichen Sinn hinaus. So spricht er sich zum Beispiel gegen Konkurrenz, für einen 4-Stunden-Tag, für die Förderung der Künste, für eine freie Wahl der Arbeitsbetätigung, für Gesundheit, Entspannung und ausreichend Schlaf, für die Förderung von individuellen Fähigkeiten oder für intime und befriedigende Beziehungen aus (Skinner 1948: 146166). Trotzdem stehen die behavioristischen Prinzipien im Zentrum der Utopie – allen voran die Vorstellung der Formbarkeit sämtlicher menschlicher Verhaltensweisen.2 Damit grenzt sich die Utopie von Walden Two von Gesellschaftsentwürfen ab, die von einem ‚ursprünglich Guten‘ (oder Schlechten) im Menschen ausgehen. Der Mensch ist stattdessen radikal veränderbar. Mithilfe der Mechanismen des operanten Konditionierens werden in Walden Two positive Emotionen wie Liebe, Freude oder Begeisterung gezielt konditioniert. Unerwünschte Emotionen wie Neid, Eifersucht oder Feindseligkeit werden den Kindern nicht ‚beigebracht‘. Zu diesem Zweck werden Kinder ab der Geburt nach strengen wissenschaftlichen Richtlinien institutionell und nicht bei ihren Eltern aufgezogen. Skinner beschreibt, dass die genetische Ausstattung der Menschen keine große Rolle in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit spielt. Da bis-

2

Da auch psychische Phänomene wie Sprache, Emotionen, Erinnerungen als Verhalten definiert werden, wird auch ihre Formbarkeit postuliert.

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lang in der Geschichte aber nie eine optimale und vergleichbare Lernumgebung für alle geschaffen wurde, konnte die Frage nach der Bedeutung der Erbanlage bisher nicht endgültig entschieden werden. Möglicherweise würden sich unter optimalen Bedingungen die genetischen Unterschiede zwischen den Individuen zeigen. Dieser Skepsis gegenüber der Bedeutung der Gene steht entgegen, dass Skinner in Walden Two auch den Gedanken der genetischen Planung einführt: „Our people will marry as they wish, but have children according to a genetic plan.“ (Ebd.: 133) Walden Two stellt einerseits die Gemeinschaft ins Zentrum und erinnert an kommunistische Utopien, andererseits werden die persönliche Entscheidungsfreiheit und Lebensgestaltung betont und so Vorstellungen vom amerikanischen Liberalismus geweckt. Kinder wachsen in Kindergruppen auf, gegessen wird in gemeinsamen Räumen, abends finden Kulturveranstaltungen statt. Aber jede Person hat auch ihr eigenes Zimmer, kann ihre Arbeit frei wählen, genauso wie ihre Essens- und Schlafzeit, es gibt keine großen Hallen für Massenveranstaltungen und jede Menge kleine Räume stehen für Einzelpersonen oder Kleingruppen zur Verfügung. Kontrolle wird bereits durch gezielte positive (und negative) Verstärkung in der Erziehung so implementiert, dass keine störenden Emotionen, Handlungen oder Entscheidungen auftreten können. Daher ist zu einem späteren Zeitpunkt keine Kontrolle oder Reglementierung mehr nötig. Zudem führt der hohe und ständig im Prozess der Verbesserung begriffene Lebensstandard zu einer solchen Zufriedenheit, dass keine störenden Emotionen entstehen. Auch Tolman zieht wie Skinner in dem Text „Psychological man“ (1951) seine behavioristische Theorie heran, um gesellschaftspolitische Phänomene zu erklären und in Richtung einer utopischen Gesellschaft zu verbessern. So legt er sich die Frage vor, welche Motive des Menschen zum Krieg führen (Tolman 1951). Als allgemeine Motive zählt Tolman „the id wants, the ego wants, the superego wants, and the enlarged ego wants“ (Tolman 1951: 208) auf. Er analysiert verschiedene historische gesellschaftliche Ordnungen hinsichtlich ihrer Befriedigungsstruktur und stellt die These auf, dass zu verschiedenen Zeiten die vier Bedürfnisse verschieden gewertet wurden. In allen gesellschaftlichen Ordnungen kam es nach seiner Auffassung zu Ungleichgewichten zwischen den Bedürfnissen. Tolman ordnet den ‚spiritual man‘ der Zeit des Christentums, den

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‚intellectual man‘ der Aufklärung, den ‚economic man‘ der Industrialisierung und den ‚heroic man‘ dem Faschismus zu. Es sei die Motivstruktur des ‚heroic man‘ – eine besonders starke Befriedigung der Über-Ich- und erweiterten Ich-Bedürfnisse, eine schwache Befriedigung der Es-Bedürfnisse und eine geringe Befriedigung der IchBedürfnisse –, die zum Krieg geführt habe. Als utopische Gegenidee entwirft Tolman den ‚harmonious man‘ oder ‚psychological man‘, bei dem „all four sets of wants [...] would be brought into harmony with one another and all granted reasonable amounts of satisfaction in both the masses and the élite“ (ebd.: 215). Die Psychologie beziehungsweise „we psychologists here in America“ (ebd.: 218) sollen das notwendige Wissen über die Bedürfnisse und ihre Befriedigung bereitstellen, das dann von den Regierenden umgesetzt werden kann. Besonders wichtig ist aber die Implementierung von „everlasting teaching and propaganda always in the direction of the harmonious balancing in all classes of the id satisfaction, the ego satisfaction, the superego satisfaction, and the enlarged ego satisfaction“ (ebd.: 217). An den behavioristischen Gedanken der radikalen Formbarkeit des Menschen anschließend entwickelt auch Watson utopische Vorstellungen einer besseren Gesellschaft. Der Behaviorismus als Wissenschaft vom Verhalten der Menschen soll bei den gesellschaftlichen Veränderungen eine entscheidende Rolle spielen. Watson spricht sich nicht für eine Revolution aus, sondern für eine andere Kindererziehung nach den Maßstäben einer „behavioristischen Freiheit“ (Watson 1930: 295). „Wertvolle und wunderbare Menschen“ würden sich entwickeln, wenn „wir es [das Kind] sich selbst richtig entwickeln ließen und ihm dann eine Umgebung zur Verfügung stellten, in der es diese Organisation üben könnte – eine Umgebung, die nicht durch legendäre Volksmärchen über Ereignisse vor Tausenden von Jahren eingeengt wäre“ (ebd.: 294).

O PTIMIERUNG DES S ELBST ALS P ROGRAMM H UMANISTISCHEN P SYCHOLOGIE

DER

Die Humanistische Psychologie entstand zu Beginn der 1960er Jahre in den USA als selbst so bezeichnete „dritte Kraft“ in der Psychologie (Bühler 1973). Sie grenzte sich sowohl vom Behaviorismus als auch von der Psychoanalyse entschieden ab und bezog sich stattdessen

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positiv auf die Tradition der Gestaltpsychologie. Als weitere wichtige theoretische Traditionen werden die philosophischen Ansätze des Humanismus und des Existentialismus angeführt, wobei die theoretischen Verbindungslinien jedoch zum Teil sehr diffus bleiben (Lück 2009, Straub 2010, 2011). Als wichtige VertreterInnen sind unter anderen Abraham Maslow, Carl Rogers, Charlotte Bühler, Frederik Perls, Fred Massarik, Rollo May und Sidney Jourard anzuführen. Bekannt geworden ist die Humanistische Psychologie vor allem durch die Neuentwicklung von Psychotherapierichtungen, allen voran der Klientzentrierten Gesprächstherapie von Rogers und der Gestalttherapie von Perls. Zentrales Charakteristikum der Humanistischen Psychologie ist ihr Anspruch auf eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen. Folgende Eigenschaften werden dem Menschen zugeschrieben: Kreativität, das Potential zur Selbstverwirklichung und Orientierung des eigenen Handelns und Lebens an Werten. Die Natur des Menschen wird als neutral oder gut betrachtet. Die empirischen Forschungsarbeiten der Humanistischen Psychologie rücken das subjektive Erleben des Menschen in den Mittelpunkt und ersetzen die Fokussierung des Behaviorismus auf menschliches Verhalten. Damit geht eine Verschiebung der verwendeten Methoden hin zu qualitativen Verfahren und interpretativen Auswertungsmethoden einher (die im Vergleich mit den Standards avancierter qualitativer Forschung damals und heute allerdings nicht besonders ausgefeilt erscheinen; vgl. Mey/Mruck 2010). Dabei reicht das Spektrum von der systematischen Beobachtung von Psychotherapieverläufen über Einzelfallstudien bis hin zur Selbstbeobachtung. Die verschiedenen Ansätze der Humanistischen Psychologie verbindet das gemeinsame Ziel, zur Optimierung des menschlichen Lebens und Erlebens beizutragen. Wie ich nun anhand der Arbeiten von Maslow (1968, 1970), Perls (Perls 1985, Perls/Hefferline/Goodman 1995), Rogers (1991, 1987) und Bühler (Bühler/Massarik 1969, Bühler/Allen 1973) zeige, stellen Überlegungen zur Optimierung des Humanen nicht einen Nebenaspekt der Humanistischen Psychologie dar, sondern stehen im Zentrum der Theorien. Bei den berücksichtigten Werken handelt es sich ausdrücklich um theoretische Grundlagentexte der Humanistischen Psychologie und nicht um Texte über praktische Anwendungen, insbesondere Psychotherapieverfahren (als Ausnahme wurden von Perls auch Texte einbezogen, in denen er sich mit den theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie aus-

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einandersetzt, z.B. Perls/Hefferline/Goodman 1995). Aus diesem Grund kann ich weder eine Aussage über die in praktischen Kontexten artikulierten Optimierungsprogramme treffen, noch etwas über tatsächlich stattfindende Optimierungen aussagen. Zu diesen Zwecken müsste anderes empirisches Material herangezogen werden, zum Beispiel Material zur Ausbildung von GeprächspsychotherapeutInnen, Therapieverlaufsstudien, Erfahrungsberichte et cetera. Am Anfang der Überlegungen steht bei allen AutorInnen die Diagnose der Krise. Die Menschheit in den westlichen Industrienationen befinde sich im 20. Jahrhundert in einem katastrophalen Zustand. Die Erfahrungen zweier Weltkriege und der zunehmenden Individualisierung, Kapitalisierung und Vereinsamung der Menschen werfe die Frage auf, wie der Mensch in Zukunft besser leben könne. Die Humanistische Psychologie sucht nach Strategien, um der „wachsenden sozialen und kulturellen Krise und dem Gefühl der Entmenschlichung und der Vermassung des Individuums im zwanzigsten Jahrhundert wirksam entgegentreten zu können“ (Bühler/Allen 1972: 6). Perls (1985) argumentiert, dass durch die aktuelle Gesellschaft der Mensch von der eigenen Natur entfremdet sei. Mit ihrer Kritik an der Gesellschaft steht die Humanistische Psychologie in enger Verbindung zu den Studierendenprotesten in den 1960er Jahren, sowie, wie Bühler beschreibt, zu den Emanzipationsbewegungen von Schwarzen, Frauen und Homosexuellen. Dabei bilden die USA den primären soziokulturellen Kontext der Humanistischen Psychologie.3 Der ‚kranken‘ Gesellschaft stellt die Humanistische Psychologie den zu Gesundheit fähigen Menschen entgegen. Sie plädiert – in Abgrenzung zur Psychoanalyse – für das Studium psychischer Gesundheit. Der bisherige Schwerpunkt auf Phänomenen der Krankheit habe den Blick auf das Potential gesunder Menschen und den Weg hin zu Gesundheit verstellt. Nur wer hinreichend Kenntnisse über Gesundheit erlangt habe, könne diese auch gezielt herstellen. Oder wie Maslow dies formuliert: „This health psychology will give us more possibility

3

Trotzdem gab es stets einen engen Austausch mit Entwicklungen in Europa: Einige der humanistischen PsychologInnen mussten aus Deutschland emigrieren; theoretisch spielte die aus Deutschland stammende Gestaltpsychologie eine wichtige Rolle; Entwicklungen der Humanistischen Psychologie wurden in Europa rezipiert; die Studierendenbewegung in den 1960er Jahren fand auch in Europa statt.

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for controlling and improving our lives and for making ourselves better people. Perhaps this will be more fruitful than asking ‚how to get unsick‘“ (Maslow 1968: 5). Die psychische Gesundheit wird dabei von humanistischen PsychologInnen als Zustand der Verwirklichung des natürlichen Potentials des Menschen verstanden. Die Natur des Menschen sei gut und positiv und dränge zur Entfaltung. Gelingt dies, so stelle sich der Zustand der Gesundheit ein, wird die Natur unterdrückt, so werden Menschen krank. Maslow geht so weit, dieses Abweichen von der eigenen Natur als Sünde zu bezeichnen. Er bemüht den christlichen Begriff der Acidia, der die Faulheit oder Trägheit als eine der sieben Hauptlaster bezeichnet. Für Perls geht der Zustand der Natürlichkeit mit einer integrierten Persönlichkeit einher. Bedürfnisse und Eigenschaften müssten in diesem integrierten Zustand nicht in dualistischer Weise abgespalten werden und könnten in das Leben eingefügt werden: „Die Bildung vollständiger und umfassender Gestalten ist Voraussetzung psychischer Gesundheit und psychischen Wachstums“ (Perls 1995: 15). Maslow und Bühler charakterisieren die menschliche Natur näher, indem sie ihre Bedürfnisse (Maslow) beziehungsweise Grundtendenzen (Bühler) beschreiben. Maslows hierarchisch angeordnete Liste der menschlichen Bedürfnisse ist auch außerhalb der Humanistischen Psychologie stark rezipiert worden. Er listet • • • • •

physiologische Bedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Liebe, Bedürfnisse nach (Selbst-)Wertschätzung und Selbstaktualisierungsbedürfnisse

auf. Dabei unterscheidet er zwischen den Mangelbedürfnissen (1-4) und dem Wachstumsbedürfnis nach Selbstaktualisierung (5). Während die Beseitigung eines Mangels und die Wiederherstellung einer Homöostase die Mangelbedürfnisse verschwinden lasse, können Wachstumsbedürfnisse eigentlich gar nicht befriedigt werden. Sie trieben den Menschen zu fortlaufender Entwicklung an. Bühler (1969: 86) stellt folgende Liste der vier menschlichen Grundtendenzen auf: • Bedürfnisbefriedigung (Liebe, Familie, Sexualität, Selbstzufrieden-

heit),

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• selbstbeschränkende Anpassung (Vorsicht, Anpassungsfähigkeit,

Unterwerfung, Vermeidung von Schwierigkeiten), • schöpferische Expansion (Selbstentwicklung, Macht, Ruhm), • Aufrecherhaltung der inneren Ordnung (moralische Werte, poli-

tische oder religiöse Hingabe, Erfolg). In diesen Grundtendenzen sind durchaus einige der von Maslow aufgelisteten Bedürfnisse wiederzuerkennen. Für den hier interessierenden Aspekt der Optimierung ist vor allem hervorzuheben, dass sowohl Maslow als auch Bühler die Fähigkeit zur (Selbst-) Entwicklung zur Natur des Menschen zählen. Sowohl die Tendenz zur Selbstaktualisierung als auch diejenige zur schöpferischen Expansion gehören zur menschlichen Natur. Bühler beschreibt dabei Selbstentwicklung einerseits als Findung des eigenen Selbst, andererseits aber auch als dessen Transzendenz. Der Mensch entwickle sich im Leben gleichzeitig auf seinen eigenen innersten Kern hin und über sich hinaus. Die Konzepte der Selbstaktualisierung und Selbstentwicklung durchziehen nicht nur die Schriften von Bühler und Maslow, sondern auch die von Perls und Rogers. Es ist zweifellos einer der zentralen Gedanken der Humanistischen Psychologie, dass der Mensch qua seiner Natur nach Selbstaktualisierung und Vervollkommnung strebt. Wie an den folgenden Ausführungen deutlich werden dürfte, sind die positiven Erwartungen an den sich selbst entwickelnden Menschen dabei zahlreich und hoch. Maslow entwickelt aus diesem Gedanken sowohl das Konzept eines Persönlichkeitstypus als auch das eines speziellen Gemütszustands. Er argumentiert, dass sich erstens die „sich selbst aktualisierende Persönlichkeit“ von anderen Menschen abgrenzen ließe. Zweitens gebe es den Erlebniszustand der peak experience. Gewissermaßen erlebten Menschen im Zustand einer peak experience das, was bei sich selbst aktualisierenden Persönlichkeiten eine dauerhafte Eigenschaft ist. Dass dieser Zustand aus vielerlei Gründen anzustreben und höherwertig ist, wird an folgender Liste von Maslow deutlich. Menschen im Zustand einer peak experience seien nach Maslow (1968) unter anderem • integrierter, harmonischer und effizienter organisiert als andere, • ganz sie selbst, • verbunden und verschmelzend mit der Welt,

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• • • • • • • •

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nicht blockiert und im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten, frei von Zweifeln, spontan, expressiv und unkontrolliert, einzigartig und individuell, kreativ, frei von Bedürfnissen, fähig zur poetischen und mystischen Kommunikation, zur Transzendenz der eigenen Person und zum Gefühl all umfassender Liebe.

Rogers verweist auf ähnliche Phänomene, wenn er von der Aktualisierungstendenz des Menschen und der fully functioning person spricht. Der Begriff der Aktualisierungstendenz bezeichnet die dem Organismus innewohnende Tendenz zur „Entwicklung all seiner Möglichkeiten [...]. Der Begriff beinhaltet die Tendenz des Organismus zur Differenzierung seiner Selbst und seiner Funktionen, er beinhaltet die Erweiterung im Sinne von Wachstum, die Steigerung der Effektivität durch den Gebrauch von Werkzeugen und die Ausweitung und Verbesserung durch Reproduktion. Dies meint die Entwicklung hin zu Autonomie und weg von Heteronomie oder der Kontrolle durch äußere Zwänge.“ (Rogers 1987: 21, 22)

Eng verbunden mit der Aktualisierungstendenz sei die Fähigkeit des Menschen zur Selbstheilung. Aus diesem Gedanken heraus entwickelt Rogers das Konzept der Gesprächspsychotherapie. Therapeutisch wird hier die Heilung nicht herbeigeführt, sondern nur unterstützt. Hierzu sollten TherapeutInnen sich in einer ehrlichen Beziehung zu ihren KlientInnen befinden, diesen uneingeschränkt positive Beachtung und Wertschätzung entgegenbringen und mit ihnen empathisch sein. Gesunde Menschen, die ohne Einschränkungen zur Selbstaktualisierung fähig sind, bezeichnet Rogers als fully functioning. Da sie keine Aspekte ihres Selbst unterdrückten, lebten sie in einem Zustand der Kongruenz zwischen dem Selbst und den aktuellen Erfahrungen. Im Gegensatz dazu führten unterdrückte Aspekte des Selbst dazu, dass sich der Radius möglicher Erfahrungen einenge. Auf diese Weise schütze sich der Mensch vor der Entdeckung seines Selbst, reduziere aber seine Erlebnis- und Erfahrensfähigkeit und schade sich auf lange Sicht selbst. Für Rogers ist die Selbstaktualisierungstendenz eine

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menschliche und evolutionäre Universalie. Alles organische Leben dränge nach der Verwirklichung seiner selbst. So zeige auch die Evolution eine Entwicklung hin zur höheren Ordnung und das gesamte Universum weise eine sogenannte „formative Tendenz“ auf. Selbstverwirklichung wird in allen Theorien so konzeptualisiert, dass sie mit einer zunehmenden Unabhängigkeit von der Umwelt einhergeht. Nach Maslow sind die Ziele der selbstverwirklichenden Entwicklung Selbstbestimmtheit, Individualität und Freiheit. Ähnlich wie Rogers sieht er hier eine Analogie zur Evolution. In beiden Fällen bedeute Weiterentwicklung zunehmende Unabhängigkeit von der Umgebung. Auch Perls definiert Reifen als Prozess, bei dem der Mensch sich von der notwendigen Unterstützung durch die Umwelt löst und hin zu einer Unterstützung durch sich selbst entwickelt. Interessanterweise beschreibt Rogers selbst seine therapeutischen Erfahrungen mit Großgruppen, sogenannten encounter groups, als Individualisierungsprozesse. Menschen erlebten in diesen Gruppen die Wertschätzung durch andere Menschen und ein transzendierendes Gefühl des Einsseins. Beides ermögliche den TeilnehmerInnen, auch wenn dies paradox klingen mag, sich selbst und ihre Individualität zu finden. Auf diesen Vorstellungen der individuellen Entwicklung aufbauend entwickeln Maslow und Rogers Ideen einer utopischen Gesellschaft. Diese werden allerdings nicht im Detail dargestellt (wie etwa bei Skinner), sondern nur in einzelnen Sätzen angedeutet. Maslow spricht von einer utopischen Gemeinschaft mit dem Namen „Eupsychia“ (Maslow 1970). Sie setze sich aus 1000 gesunden Familien zusammen, die an einen einsamen Ort migrierten. Diese Menschen seien anarchistisch, ehrlich, weniger kontrollierend, nicht-eingreifend, liebend und taoistisch (was nicht näher erklärt wird). Rogers Vorstellungen einer idealen Gemeinschaft leitet er aus seinen Erfahrungen mit den encounter groups ab. Er verspricht sich einen positiven Einfluss von diesen Gruppenerfahrungen auf die Politik. In diesem Zusammenhang erwähnt er die damalige Neugründung des EUParlaments, mit der er folgende Hoffnung verbindet: „Man stelle sich vor, dass die Mitglieder eines solchen internationalen Parlaments den Punkt erreichen, wo sie einander wirklich hören und verstehen und respektieren können, wo sich ein kooperativer Gemeinschaftsgeist entwickelt und Humanität einen höheren Rang einnimmt als Macht.“ (Rogers 1991: 104)

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K RITISCHER V ERGLEICH : E UPSYCHIA W ALDEN T WO ?

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Behaviorismus und Humanistische Psychologie streben beide die Verbesserung menschlichen Lebens mithilfe der psychologischen Wissenschaft an. Vor dem Hintergrund zweier Weltkriege und der Erfahrung von Faschismus und Holocaust attestieren sie die Notwendigkeit einer radikalen Veränderung des Menschen. Nur so könne man in Zukunft gut und friedlich zusammen leben. Trotz dieser Gemeinsamkeit gehen die Utopien Eupsychia und Walden Two von ganz anderen Annahmen über den Menschen aus. Auf der einen Seite steht die Vorstellung der radikalen Formbarkeit des Menschen, die gezielt eingesetzte, wissenschaftlich kontrollierte Konditionierungsmaßnahmen notwendig macht. Auf der anderen Seite wird die Natur des Menschen bereits als gut, zur Selbstentfaltung und Gesundung drängend konzipiert – Optimierungen des Menschen gehen dementsprechend auch von diesem Selbst aus. Ich nutze im Folgenden diese Kontraste zwischen behavioristischen und humanistischen Optimierungsdiskursen, um eine eigene kritische Sichtweise zu entwickeln. Dabei nehme ich vier verschiedene Aspekte in den Blick, erstens die Frage nach dem Subjekt der Optimierung, zweitens die Frage nach ihrem Ideal, drittens die nach den Gewinnern und Verlierern der Optimierung und zuletzt die nach dem Verhältnis der Optimierung des Individuums zu der Optimierung der Gesellschaft. Es sei den vergleichenden Überlegungen der Hinweis vorangestellt, dass es sich hierbei um einen asymmetrischen Vergleich handelt, der durch die Unterschiedlichkeit des verfügbaren Materials zustande gekommen ist. Dies betrifft zunächst den Umfang der berücksichtigten Werke. Es finden sich insgesamt mehr relevante Texte zur Optimierung des Menschen im Kontext der Humanistischen Psychologie als im Behaviorismus. Während ich also fast ausschließlich auf Skinners Arbeiten auf der einen Seite eingehe, ziehe ich auf der anderen Seite Werke von verschiedenen AutorInnen heran. Des Weiteren handelt es sich bei „Walden Two“ um einen Roman, bei allen anderen Texten um theoretische, wissenschaftliche Monographien. Ich nehme diese Asymmetrie in Kauf, da „Walden Two“ ein so reichhaltiges Material zur Analyse des behavioristischen Optimierungsprogramms bietet, an das Überlegungen in wissenschaftlichen Texten bei Weitem nicht heran

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kommen. Außerdem haben humanistische PsychologInnen ganz einfach keinen utopischen Roman verfasst, den ich untersuchen könnte. Das Subjekt der Optimierung Wer ist eigentlich das Subjekt behavioristischer und humanistischer Optimierungen? Wer führt diese aus und wer ist für sie verantwortlich? Mit dem Behaviorismus liegt ein Modell der (fast) vollständigen Umweltbedingtheit des Menschen vor. Der Mensch wird nur mit einigen rudimentären Reflexen geboren und durch die spezifische Verstärkungsstruktur der Lebensumgebung geformt. Eine radikale Veränderung des Menschen in Richtung seiner Optimierung muss dementsprechend an einer Veränderung der Umwelt ansetzen. Menschen sind so gut, wie es ihnen ihre Umgebung ‚beibringt‘. Der optimierte Mensch erscheint dadurch nicht als Subjekt seiner Optimierung, sondern als Objekt optimierter Lebensbedingungen. Damit ist das Subjekt der Optimierung gewissermaßen die Umwelt. Oder eben diejenigen, die diese Umwelt gezielt gestalten, um den Menschen zu optimieren. In seinem Roman „Walden Two“ erfindet Skinner die Person des Gründers der utopischen Gemeinschaft, Frazier. Frazier leitet das Projekt der Optimierung. Als ausgebildeter Psychologe und Behaviorist verfügt er hierfür über die nötigen Kenntnisse. Gemeinsam mit einem Komitee entscheidet er, wie der Mensch werden soll und durch welche Umweltveränderungen dies herbeizuführen ist. Auch bei Tolman sind es die Psychologen, die auf der Basis ihres Sachverstands eine Umgebung kreieren sollen, die den harmonious man herstellt. Tolman spricht sich für den gezielten Einsatz von Lehrmethoden und Propaganda durch Psychologen aus. Skinner schreibt der Person Frazier abwechselnd diktatorische und göttliche Kompetenzen bei der Erschaffung des optimierten Menschen zu. Diese Notwendigkeit der Kontrolle von außen erübrigt sich laut Skinner, wenn die utopische Gemeinschaft einmal etabliert ist. Eine perfekte Verstärkungsstruktur lässt die Entwicklung des optimierten Menschen zu einem Selbstläufer werden. Das Problem des Subjekts ist im Zusammenhang mit dem Behaviorismus intensiv diskutiert worden und wird häufig mit der Frage „wer konditioniert den Konditionierer?“ angesprochen. Diese Frage weist darauf hin, dass dem Konditionierer Eigenschaften zugesprochen werden, die selbst nicht, zumindest nicht ohne weiteres,

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durch Prozesse der Konditionierung erklärt werden können. Zum Beispiel wird im Falle von Walden Two dem Gründer Frazier die Fähigkeit zugesprochen, sich für bestimmte Werte des guten Lebens zu entscheiden. Ist diese Entscheidung selbst das Ergebnis von Konditionierungsprozessen? Im schärfsten Gegensatz zum Behaviorismus betrachtet die Humanistische Psychologie das Selbst als das Subjekt der Optimierung. Das Selbst drängt zur Entfaltung, Verwirklichung oder Aktualisierung. Da die Natur des Selbst als gut konzipiert wird, führt die ungehinderte Entfaltung desselben automatisch zur Optimierung des Humanen. Die Umgebung des Menschen spielt dabei eine sekundäre Rolle. Zwar können bestimmte Umgebungsfaktoren die Selbstverwirklichung erschweren, letztendlich kann die Initiative aber immer vom Selbst ausgehen. Im Prozess der Selbstverwirklichung wird der Mensch zunehmend unabhängig von der Umgebung. Damit stellt die Humanistische Psychologie im Vergleich zum Behaviorismus ein dezidiert anti-autoritäres Modell der Veränderung des Menschen zur Verfügung. Das Individuum wird zum Akteur der eigenen Emanzipation. Diese Sicht auf den Menschen spiegelt sicherlich den soziokulturellen Kontext der Humanistischen Psychologie wider, vor allem ihre starke Beeinflussung durch anti-autoritäre Ideale der Studierendenbewegung. Und auf den ersten Blick ist ihr zuzustimmen, denn wer würde sich bei der Wahl zwischen der gezielten Konditionierung durch eine Autorität und der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung nicht für letztere entscheiden? Doch wer sich selbst verwirklichen und optimieren kann, ist gleichzeitig auch hierfür verantwortlich. Die Fähigkeit zur Selbstheilung wird demnach allzu leicht auch zur Pflicht zur Genesung. Das optimistische Bild der möglichen Unabhängigkeit von der Umgebung beinhaltet als Vexierbild die Pflicht zur Selbstverwirklichung auch unter widrigen Umständen. Interessanterweise sprechen sich humanistische PsychologInnen explizit gegen die Zurichtung des Menschen durch sich selbst aus. So kritisieren Perls, Hefferline und Goodman (1995) die Selbstbeherrschung in Form der Selbst-Vergewaltigung. Es bleibt aber dabei völlig unklar, wie sich die Verwirklichung des wahren Selbst von der Herrichtung eines falschen Selbst unterscheiden lässt (dies leitet über zum nächsten Punkt, der Frage nach dem Ideal der Optimierung). Nimmt man Foucaults 1977 vorgetragene Kritik an der Repressionshypothese zur kritischen Interpretation der Humanistischen

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Psychologie zu Hilfe, so erscheint die Redeweise über das durch die Gesellschaft unterdrückte und zur Verwirklichung drängende Selbst zusätzlich suspekt. Foucault weist im ersten Band von „Sexualität und Wahrheit“ (1977) die These zurück, dass der machtvolle Zugriff auf Sexualität primär durch Unterdrückung vonstatten gehe. Stattdessen sieht er die Wirkung der Macht auch wirksam in der angeprangerten Unterdrückung und der geforderten Liberalisierung und Emanzipation. Diese Forderung führe zur Hervorbringung, zur Sichtbarmachung von Sexualität. Macht erweise sich in Bezug auf Sexualität nicht nur als repressiv, sondern auch als produktiv. Ähnliches kann über den Diskurs der Optimierung des Selbst in der Humanistischen Psychologie gesagt werden. Sie kritisiert die Macht, die von der Gesellschaft ausgeht und die die Entfaltung des Selbst und somit die des innersten menschlichen Potentials verhindert. Sie tritt an, das Selbst zu befreien, es zum Vorschein zu bringen. Mit Foucault ließe sich argumentieren, dass sie dadurch einen machtvollen Anspruch erhebt: Sie fordert die Menschen zur Produktion eines Selbst auf, das sich angeblich verwirklicht, tatsächlich aber ganz neu geschaffen wird. Es ist des Weiteren möglich, dass die durch die Humanistische Psychologie viel beschworene Selbstverwirklichung und Unabhängigkeit von der Umwelt eigentlich die genau gegenteilige Tendenz verdeckt. In Bezug auf den Diskurs über „interkulturelle Kompetenz“ stellt Straub (2011) fest, dass die Funktion dieses Diskurses gerade darin bestehen kann, „jenen Mangel zu verschleiern und zu verdecken, den zu beseitigen man überall und immerfort vorgibt. Vielleicht redet man auch deswegen unentwegt von Toleranz und Anerkennung sowie den anderen Sonnenseiten interkultureller Kompetenz, weil sie faktisch Mangelware und obendrein oft gar nicht wirklich angesagt sind.“ (Straub 2011)

Analog wäre es denkbar, dass die Humanistische Psychologie, vor allem auch in Bezug auf die Psychotherapieverfahren, die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung und Selbstheilung so betont, um die tatsächlich stattfindende Beeinflussung, ja vielleicht sogar regelrechte Manipulationen ihrer KlientInnen zu verdecken. Wer dem anderen als autonomem Subjekt die volle Verantwortung zuspricht, kann sich selbst ziemlich bequem aus der Bredouille ziehen.

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Das Ideal der Optimierung Wie erfolgt im Behaviorismus und in der humanistischen Psychologie die Festlegung des Ideals und Ziels der Optimierung? Was ist der optimierte Mensch? Skinner bringt in seinem Roman seine Ideale des guten Lebens zum Ausdruck, ohne sie explizit zu diskutieren. Er unterscheidet negative und positive Emotionen voneinander, als sei diese Unterscheidung selbst evident. Arbeitszeitverkürzung, künstlerische Betätigung oder Eheschließungen erscheinen als Ziele an sich, es wird nicht diskutiert, ob sie eigentlich von allen geteilt werden. Es wird daran deutlich, dass die behavioristische Theorie Skinner zwar Mittel an die Hand gibt, den Menschen zu verändern, aber keine Annahmen darüber macht, was gut und schlecht ist. Der Mensch ist radikal formbar, er kann zu fast allem gemacht werden – was dabei anzustreben ist, muss ‚irgendwie‘ von außen festgelegt werden. Wie Straub (2010) beschreibt, schlägt Skinner in „Jenseits von Freiheit und Würde“ vor, auch diese Wertfrage experimentell zu lösen. Gut sei das, was sich als gut erweise und zur Zufriedenheit der Menschen führe. Die Humanistische Psychologie löst das Problem der Richtungsweisung von Optimierungsprozessen, indem sie ‚einfach‘ die Natur des Menschen als gut bestimmt und von diesem Punkt ausgehend ihre Verwirklichung als erstrebenswert betrachtet. Bühler spricht davon, dass das Leben eines gesunden Menschen sich an seinem Kern ausrichte. Dabei wird die Natur des Menschen durchaus in einem ganz wörtlichen Sinne als biologisch bestimmt verstanden. So bildet Rogers zum Beispiel die bereits beschriebene Analogie der Selbstverwirklichung zu formativen Tendenzen im Universum und in der Evolution. Er verwendet diese Analogie, um zu untermauern, dass die menschliche Tendenz zur Selbstentwicklung wirklich natürlich sei. Maslow führt explizit aus, dass die Werte des menschlichen Lebens in seiner Natur zu fundieren sind. Er argumentiert, dass Werte aus der Kenntnis der psychologischen Natur des Menschen abgeleitet werden sollten und spricht sich damit explizit für einen Sein-Sollen-Schluss aus (der in der Philosophie bekanntlich seit langem als logisch nicht zu rechtfertigender Fehlschluss diskutiert wird). Wie bereits geschildert, betrachtet er ein Leben wider die eigene Natur als moralisch falsch, als Sünde. Maslows Theorie enthält eine weitere Pointe: So stellt er die These auf, dass Menschen im Zustand der peak experience (oder alternativ, wenn sie fully functioning sind) einen epistemologischen Vorteil

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besäßen, der es ihnen ermögliche, die wahre psychologische Natur des Menschen zu erkennen. In der fully functioning person vereine sich dementsprechend das Wahre, das Gute und das Schöne (Maslow 1968). Im scharfen Kontrast zu dieser geforderten Beschreibung der psychologischen Natur steht ihre faktische Unterbestimmtheit in Theorien der Humanistischen Psychologie. Zwar zählen Maslow und Bühler Grundtendenzen und Bedürfnisse des Menschen auf, das reicht aber bei weitem nicht für eine Qualifizierung der menschlichen Natur. Die Lage spitzt sich zu, wenn man das Konzept des Selbst betrachtet. Das Selbst wird überhaupt nicht beschrieben. Abgesehen davon, dass es sich ständig aktualisiert, bleibt es vollkommen unsichtbar. Hieran schließen sich weitere Fragen an, zum Beispiel: Wie entsteht neben der allgemeinen menschlichen Natur die individuelle Ausformung des Selbst? Und woher kommt das Selbst – ist es angeboren, stammt es aus einem vorherigen Leben, hat Gott es geschaffen? Diese Fragen sind umso drängender, als es sich beim Selbst um das zentrale Konzept der Humanistischen Psychologie handelt. Ich fasse zusammen, dass weder der Behaviorismus noch die Humanistische Psychologie die Frage nach der Richtung der Optimierungsprozesse befriedigend beantworten. Beide versuchen sich – recht erfolglos, wie ich meine – in der ‚Rehabilitierung‘ des naturalistischen Fehlschlusses. Der Behaviorismus ist in dieser Frage ganz einfach inkompetent. Er spricht dem Menschen die Fähigkeit zur Setzung von Werten und Zielen ab und betrachtet ihn als konditionierten Organismus. Damit bleibt zwangsläufig unklar, wer wie entscheidet, was ein guter Mensch ist. Dass Skinner mit der Person Frazier jemanden erfindet, der in gottähnlicher Manier allen anderen Menschen diese Entscheidungen abnimmt, macht die Theorie nicht gerade sympathischer – überzeugender schon gar nicht. In der Humanistischen Psychologie changieren in merkwürdiger Weise biologistische Legitimationen mit religiösen Metaphoriken und humanistischen Werten. Hinter ihren wissenschaftlichen und emanzipatorischen Gehalt ist ein großes Fragezeichen zu setzen. So mag es zwar manchmal widerständig sein, sich auf die menschliche Natur zu berufen und ihre Unterdrückung durch die Gesellschaft anzuprangern. Genauso gut kann die menschliche Natur aber als Legitimation konservativer Vorstellungen genutzt werden (z.B. wenn es um die angebliche Natur von Männern und Frauen geht).

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Gewinner und Verlierer der Optimierung Die Idee der radikalen Formbarkeit im Behaviorismus ist durchaus als egalitär einzuschätzen: Von den optimierten Verstärkungsstrukturen können alle Menschen in gleicher Weise profitieren. In einer optimalen Umgebung werden alle Menschen gefördert. Skinners Vorstellung der utopischen Gesellschaft Walden Two weist in diesem Sinne sozialistische Züge auf (was sich auch daran zeigt, dass er persönliches Eigentum ablehnt). Einschränkend ist darauf hinzuweisen, dass Skinner sich selbst über die Rolle der Genetik im Unklaren ist. Inwieweit die Genetik die Entwicklung eines Menschen beeinflusse, sei noch nicht bekannt. Er stellt aber trotzdem die gezielte Reproduktion von genetisch höherwertigen Menschen als vielversprechende Strategie für die Zukunft dar. Die Humanistische Psychologie führt im Gegensatz zum Behaviorismus zahlreiche Kriterien an, um Menschen voneinander zu unterscheiden und diese Unterscheidung mit Bewertungen aufzuladen. So lassen sich gesunde von kranken Menschen unterscheiden, die fully functioning person grenzt sich von anderen Menschen ab. Dass hiermit durchaus elitäre Vorstellungen verbunden sind, lässt sich vor allem bei Maslow zeigen. So stellt er die Humanistische Psychologie als Psychologie der Gesundheit der sogenannten „cripple psychology“ (Maslow 1970: 149) entgegen. Seine utopische Gemeinschaft „Eupsychia“ ist gesunden Familien vorbehalten. Und sich selbst-aktualisierende Menschen sind „highly evolved and matured“ (Maslow 1968: 135). Auch nur sie sind dazu in der Lage, sich bei einer Reihe von verfügbaren Optionen für die für sie richtige und gesunde zu entscheiden. Sie könnten einen gesunden Hedonismus leben. Diese Fähigkeit zur Entscheidung für sich selbst spricht Maslow anderen (kranken) Menschen ab. Auch wenn die Humanistische Psychologie die Annahme vertritt, dass alle Menschen die Tendenz zur Selbstverwirklichung aufweisen, so geht sie offensichtlich dennoch davon aus, dass diese in einem sehr unterschiedlichen Ausmaß verwirklicht ist. Grundsätzlich ist natürlich nichts daran auszusetzen, sich wie die Humanistische Psychologie dem Studium psychischer Gesundheit und ‚weit‘ entwickelter Menschen zuzuwenden. Problematisch wird diese Tendenz, wenn hierdurch rhetorisch eine Gruppe höherentwickelter, gesunder Menschen konstruiert wird. Dies trägt den bitteren Beigeschmack von Elitenbildung und heroischer Überhöhung bestimmter

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Persönlichkeitstypen. Menschen, die sich nicht selbst verwirklichen, geraten als Schattenmenschen erstens aus dem Blickfeld der Humanistischen Psychologie und erfahren zweitens eine negative Bewertung. Es bleibt drittens unklar, warum sie eben nicht zu einer fully functioning person werden konnten – schließlich haben doch angeblich alle Menschen das Potential zur Selbstverwirklichung und Selbstheilung. Viertens verschärfen sich die benannten Schwierigkeiten noch dadurch, dass keineswegs immer klar ist, nach welchen exakt ausgewiesenen Kriterien die benutzten Unterscheidungen eigentlich getroffen wurden. Optimierung des Humanen oder Optimierung der Gesellschaft Die Fragen nach den Ursachen und Kriterien für misslungene Selbstoptimierungen leiten über zur Frage nach der Notwendigkeit der Optimierung der Gesellschaft. Inwieweit ist die Optimierung des Humanen an die Optimierung der Gesellschaft gekoppelt? Wie bereits dargestellt, impliziert das behavioristische Modell der Umweltdeterminiertheit des Menschen die Notwendigkeit der primären Veränderung der Umgebung. Der Mensch ändert sich, wenn seine Umwelt sich verändert hat. Im Gegensatz dazu argumentieren humanistische PsychologInnen, dass der einzelne Mensch auch in einer kranken Gesellschaft gesund werden könne: „Sick people are made by a sick culture; healthy people are made possible by a healthy culture. But it is just as true that sick individuals make their culture more sick and that healthy individuals make their culture more healthy. Improving individual health is one approach to making a better world.“ (Maslow 1968: 6)

Des Weiteren wird von der Humanistischen Psychologie die Unabhängigkeit von der Gesellschaft als Zustand psychischer Gesundheit definiert. Perls definiert den Reifeprozess als zunehmende Unabhängigkeit von der Umwelt. Maslow (1970) beschreibt, dass sich selbstverwirklichende Menschen unabhängiger von der Enkulturation werden. Im Zustand einer peak experience mache man Erfahrungen, die stärker absolut und weniger relativ bzw. weniger an einen spezifischen kulturellen Kontext gebunden seien. Die Theorien der Huma-

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nistischen Psychologie lassen sich also durchaus als Plädoyer für Individualismus und Weltflucht lesen. Man wird von ihr nicht zur Veränderung der Gesellschaft aufgefordert – deren Schlechtigkeit zwar immer wieder angeprangert wird –, sondern zur Selbstverwirklichung angehalten. Wer daran scheitert, begeht im schlechtesten Falle – gemäß Maslow – Sünde an der eigenen Natur. Fazit Mir erscheint weder ein Leben in Eupsychia noch eines in Walden Two als besonders erstrebenswert – von der Machbarkeit dieser vermeintlich wissenschaftlich fundierten Optimierungsvisionen und Perfektionsideale ganz zu schweigen. Es ist die Fremdbestimmtheit und Unfreiheit, die mich an Walden Two abschreckt. Die totalitären Züge von Skinners Utopie lassen die Frage entstehen, ob es hier wirklich noch um eine „Optimierung“ des Humanen oder nicht vielmehr um die antihumanistische „Verabschiedung des Menschen“ geht (Straub 2010). An der Idee von Eupsychia irritieren mich vor allem ihr elitärer Zug, ihre Inanspruchnahme des Selbst und ihr Individualismus. Die gesellschaftlichen und individuellen Heilsversprechen einer gelungenen Selbstverwirklichung mögen zwar wunderbar klingen, sie stehen meines Erachtens aber prekären Formen der Selbstbeherrschung viel näher, als das humanistische PsychologInnen zugeben möchten. Der vorliegende kontrastierende Ansatz hat mit dieser Kritik an beiden psychologischen Ansätzen seine eigenen Grenzen erreicht. Er kann den Weg zu einer Kritik an Optimierungsprogrammen weisen. Jedoch, wer ständig zwischen vollkommener Autonomie und totaler Heteronomie des Menschen abzuwägen versucht, kommt einer positiven Antwort auf die Frage, welche Optimierung eigentlich anzustreben sei, vermutlich nicht näher. Der kontrastierende Vergleich wirkt wie ein Kippbild: Man sieht nur das eine oder andere Extrem. Auf lange Sicht erscheint es daher ratsam, in dieser Frage nicht so sehr das „weder-noch“, sondern das „sowohl-als auch“ stark zu machen und so vor allem die ‚gemeine Mitte‘ des durch die Extreme abgesteckten Kontinuums nicht aus den Augen zu verlieren. Denn vermutlich liegt das Menschenbild möglicher und erstrebenswerter Optimierungsprogramme irgendwo in diesem mittleren Bereich und verlangt nach differenzierten Konzepten partieller Autonomie des

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Menschen. Dass man hiernach sowohl im Behaviorismus als auch in der Humanistischen Psychologie vergeblich sucht, habe ich in diesem Beitrag gezeigt. Eine weiterführende Entwicklung eines (psychologischen) Optimierungsprogramms des Menschen liegt jenseits der Absichten dieser Abhandlung – was allerdings nicht bedeutet, dass ich diesem Unterfangen jeden positiven oder emanzipatorischen Wert abspreche.

E IN FEMINISTISCHER UND QUEERER E XKURS ZUM S CHLUSS : Ü BER UNGLÜCKLICHE H AUSFRAUEN UND UNERFÜLLTE H OMOSEXUELLE . G ESCHLECHT UND S EXUALITÄT IN PSYCHOLOGISCHEN O PTIMIERUNGSDISKURSEN Der oben erfolgte Rekurs auf Foucaults Werk „Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I“ (1977) legt eine abschließende Überleitung zum Thema Sexualität nahe. Foucault argumentiert, dass in der Moderne die Sexualität ein zentrales ‚Einfallstor‘ zur Bemächtigung des Menschen darstellt. Wie Sarasin (2005) beschreibt, erzeugt die Macht in der Moderne die Sexualität, um den Körper zu kontrollieren. Dabei wird die Sexualisierung des Menschen mit seiner Subjektivierung verknüpft. Wer ein modernes Subjekt werden möchte, muss in der Lage sein, über die eigene Sexualität Auskunft zu geben. Es wird suggeriert, der Mensch könne über die Kenntnis seiner Sexualität zur Erkenntnis seines Selbst gelangen. Für Foucaults Überlegungen spielt die psychoanalytische Theorie eine zentrale Rolle. In Anknüpfung an seine Ausführungen lässt sich fragen, wie sich die Verbindung zwischen anderen psychologischen Theorien und Sexualität gestaltet. Welche Rolle wird Sexualität im Behaviorismus und der Humanistischen Psychologie, vor allem im Verhältnis zur Optimierung des Menschen, zugewiesen? Von Foucault ausgehend wäre zu vermuten, dass sich eine entsprechende Diskursivierung der Sexualität auch im Behaviorismus und der Humanistischen Psychologie finden lässt und Sexualität in das Projekt der Optimierung eingebunden wird. Diese These ist insgesamt zurückzuweisen. Wie ich nun darstelle, spielt Sexualität nur eine Nebenrolle. Aus feministischer Perspektive ist im Anschluss an Foucault auf die enge Verbindung zwischen Geschlechtlichkeit und Sexualität hin-

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gewiesen worden (besonders prominent von Judith Butler 1991, 1993). Ich folge dieser Tradition und lege im Folgenden dar, wie Behaviorismus und Humanistische Psychologie die Phänomene Geschlechtlichkeit und Sexualität in ihre Optimierungsdiskurse einbinden. Vier verschiedene Thematisierungen werden zunächst deskriptiv vorgestellt und sodann jeweils kritisch diskutiert. Es sei den Ausführungen der Hinweis vorangestellt, dass ich mich an dieser Stelle nicht auf die frühen Werke von Charlotte Bühler beziehe, die im Kontext der Würzburger Schule entstanden, sondern allein ihre späteren, der Humanistischen Psychologie zuzuordnenden Schriften berücksichtige (in ihren frühen Schriften legt sie eine Theorie der Sexualitäts- und Geschlechtsentwicklung vor, die allerdings nicht der Humanistischen Psychologie zuzuordnen ist). Die Rolle der (Haus-)Frau Skinner spricht sich in seinem utopischen Roman „Walden Two“ für die Befreiung von Frauen aus ihrer Hausfrauenrolle und für eine radikale Gleichheit der Geschlechter aus. Mit dem einzigen Unterschied, dass Frauen schwanger werden und gebären, sollen beide Geschlechter die gleichen Aufgaben und Funktionen übernehmen. Die Gleichberechtigung der Geschlechter in Walden Two spiegelt sich auch darin wider, dass das Planungskomitee aus drei Frauen und drei Männern besteht. Durch die institutionelle Kindererziehung wird diese Befreiung aus der Sicht von Skinner möglich. Die Hausfrauenrolle bewertet Skinner negativ, da sie erstens die Frau einsam macht (Skinner 1948: 35) und zweitens eine unökonomische Bewältigung von Hausarbeit darstellt. Durch die Industrialisierung der Hausarbeit in Walden Two wird diese mit weniger Kapazitäten erledigbar. In der Kindererziehung arbeiten sowohl Männer als auch Frauen, wodurch die „Freudian problems which arise from the asymmetrical relations to the female parent“ (ebd.: 134) eliminiert werden können. Kinder wachsen ohne eine spezielle mütterliche Liebe auf: „But we don’t limit it [the love] to mothers. We go in for father love, too – for everybody’s love – community love, if you wish.“ (Ebd. 90) An anderer Stelle widerspricht sich aber Skinner selbst, indem er beschreibt, dass die meisten Mütter in der Kinderbetreuung arbeiten, und er die Väter gar nicht erst erwähnt. Auch die mit der Erziehung betrauten Personen sind ausschließlich Frauen. Skinner resümiert, dass Walden Two „as a

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revised family, has changed the place of women more radically than that of men“ (ebd.: 137). Interessant ist auch, dass Skinner in einem 1976 verfassten Vorwort seine Motivation zum Schreiben von Walden Two folgendermaßen beschreibt: „The dissatisfaction which led me to write Walden Two were personal. I had seen my wife and her friends struggling to save themselves from domesticity, wincing as they printed ‚housewife‘ in those blanks asking for occupation.“ (Skinner 1976: V) Die Utopie von Walden Two ist durchaus als Kritik nicht nur an den Geschlechterrollen, sondern auch allgemeiner an dem Konzept der Familie zu lesen. Skinner beschreibt das Scheitern der Familie als ökonomische und soziale Einheit und als „transmitter of culture“ (Skinner 1948: 291). Die Familie ist nach Skinner wie die Kategorie race scheinbar auf dem Konzept der Blutsverwandtschaft aufgebaut, beide sind aber als Einheiten des Zusammenlebens abzulehnen: „Race, family, ancestor worship – these are the handmaidens of history, and we should have learned to beware of them by now.“ (Ebd.: 224) Mit der Berufstätigkeit der Frau und ihrer Rolle als Hausfrau setzt sich auch Bühler an einzelnen Stellen auseinander, allerdings weniger ausführlich und weniger kritisch als Skinner. In ihren Schriften beschreibt sie ausschließlich Frauen als mit der Hausarbeit und der Kindererziehung beschäftigt. Sie erwähnt, dass Frauen einen Konflikt zwischen Familien- und Berufsorientierung erleben. Jedoch wird nicht klar, welche Position Bühler hierzu einnimmt und welche Lösung ihr vorschwebt. Bühler bezieht Männer nicht in diesen Konflikt oder seine Lösung mit ein. Nur an einer Stelle (Bühler 1962: 378) erwähnt sie, dass die ambivalente Rolle der Frau ein Problem für die Familiendynamik darstelle. Es steht für Bühler außer Frage, dass die gute Behandlung eines Kindes durch eine liebende Mutter Grundvoraussetzung für gesundes emotionales Wachstum ist. Sie warnt vor der „kalten Mutter“ (Bühler/Massarek 1969: 150). Im Vergleich dazu sei der Vater in den ersten Jahren für das Kind unbedeutend. Ähnlich wie Bühler betrachtet auch Maslow die mütterliche Zuwendung als natürlich und notwendig. Er zählt das mütterliche Verhalten zu den physiologischen Grundbedürfnissen. Markant sind des Weiteren die Textstellen, in denen Bühler zum Ausdruck bringt, dass die eigentlich als menschliche Universalie beschriebene Tendenz zur Selbstverwirklichung bei Männern und Frauen unterschiedlich ausgeprägt ist. Zwei Beispiele können dies illustrieren,

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die beide konkreten Beschreibungen von Personen und Lebensläufen entnommen sind: „So können wir zwar in Herbert die Tendenz zur Selbstverwirklichung erkennen, jedoch keineswegs in Maria. Was erwartet denn eine Frau wie Maria vom Leben? Sie kritisiert ihres Mannes Tendenz, Sicherheit für weitreichende Pläne aufzugeben. Ihr liegt das nicht. Sie zieht bescheidenere Umstände vor, auf die sie sich verlassen kann“ (Bühler 1962: S. 117).

Und weiter: „Während ich bei dem letzten Typ, für den Herbert ein Beispiel ist, eine Tendenz zur schöpferischen Expansion sehe, finde ich bei Menschen wie Maria die Tendenz zu selbstbeschränkender Anpassung vorwaltend“ (ebd.: 118). „So zeigt zum Beispiel eine andere Frau, Ursula, einen gesunden, aber engeren Aufbau der Persönlichkeit. Ursula war sich ihrer Grenzen klar bewusst, als sie im Augenblick ihrer Verehelichung den Plan einer eigenen beruflichen Karriere abbrach. Sie beendete zwar ihr Universitätsstudium, widmete sich danach jedoch völlig ihrem Mann und ihrem Haushalt, weil, wie sie sagte, sie nur eine Sache im Leben tun könne“ (ebd.: 227).

In beiden Fällen geht Bühler nicht darauf ein, dass Ursula und Maria nicht nur individuelle Personen mit einem je eigenen Leben sind, sondern dass sie ihr Leben in geschlechtsspezifischer Weise führen. Die in beiden Fällen beschriebenen Einschränkungen der Lebensläufe und der Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung kommentiert sie nicht kritisch. Es ist zusammenzufassen, dass Skinner einen stärkeren Optimierungsbedarf bei Frauen als bei Männern diagnostiziert, die aus ihrer einengenden Rolle als Hausfrau befreit werden müssen. Auch wenn man seine utopischen Vorstellungen zur institutionellen Kindererziehung nicht begrüßen mag, ist ihm durchaus eine gewisse feministische Radikalität zuzuschreiben. Eine vergleichbare Thematisierung sucht man in den Schriften der Humanistischen Psychologie vergeblich – und das, obwohl Bühler und Allen (1973) ihre politische Nähe zur Frauenbewegung thematisieren. Bühlers eigene Haltung zur ‚Frauenfrage‘ erscheint als ambivalent, zum Teil auch deshalb, weil sie sich nicht ausführlich mit diesem Thema auseinandersetzt. Sie stellt

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nicht in Frage, warum es bei Frauen unter Umständen eine geringere Tendenz zur Selbstverwirklichung gibt. Die Versorgung von Kindern durch ihre Mütter wird als eine biologische und psychologische Notwendigkeit angesehen. Es ist vor diesem Hintergrund bedenkenswert (und auch ein wenig erstaunlich), dass sich feministische PsychologInnen häufig positiv auf die Humanistische Psychologie beziehen. So präferiert zum Beispiel Matlin (1987) in ihrer „Psychology of Women“ die Humanistische Psychotherapie im Vergleich zur Psychoanalyse und Verhaltenstherapie, da diese den Fokus auf die Entwicklung des Selbstbewusstseins von Frauen lege. Diese Form der Frauenförderung konnte ich in meiner Textanalyse jedenfalls nicht entdecken, was jedoch nicht ausschließt, dass sie in anderen Texten zu finden ist. Liberalisierung der Sexualität und Optimierung der Liebe Eine Liberalisierung der Sexualität wird von behavioristischen und humanistischen Theorien gefordert, auch wenn in den Schriften der Humanistischen Psychologie eine größere Skepsis mitschwingt. Skinner schildert, dass mit Sexualität in Walden Two ein liberaler Umgang gepflegt wird. Vor allem die Sexualität von Heranwachsenden wird als etwas Natürliches angesehen: „Sex is no problem in itself. Here the adolescent finds an immediate and satisfactory expression of his natural impulses.“ (Skinner 1948: 121) Dieser Umgang wird dadurch unterstützt, dass Jugendliche sehr früh heiraten und bereits ab circa 16 Jahren Kinder bekommen. Gleichzeitig schreibt Skinner aber, dass es in Walden Two nicht mehr Promiskuität oder „bastardy“ (ebd.: 187) als in der normalen Gesellschaft gäbe. Es bleibt unklar, was er unter „bastardy“ versteht und was das Problem mit Promiskuität ist. Beide werden als unhinterfragt zu vermeidende sexuelle Phänomene behandelt. Erweiterungen des sexuellen Erfahrungshorizonts werden von humanistischen PsychologInnen grundsätzlich positiv bewertet. So begrüßt zum Beispiel Rogers (1991), dass es ihm im Alter gelinge, mehr Intimität zuzulassen und mehr Körperlichkeit mit Frauen und Männern zu leben. Sexualität wird insgesamt als wichtiger Bestandteil eines gelungenen Lebens betrachtet. Gleichzeitig bemühen sich alle AutorInnen um eine differenzierte Sicht. Ihnen ist gemeinsam, dass sie

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nicht allen Formen der sogenannten „sexuellen Revolution“ positiv gegenüber stehen. Die rein quantitative Erweiterung von Sexualität lehnen sie ab und fordern stattdessen eine Erhöhung der Qualität von Sexualität. Perls spricht davon, dass Menschen zwar mittlerweile häufig Sex hätten, dieser aber von Leere, Ekel und Perversionen geprägt sei. Er lehnt den gesellschaftlichen Druck ab, möglichst sexy zu sein und so häufig wie möglich Sex zu haben. Selbstkritisch merkt Bühler an, dass auch in manchen encounter groups eine zu starke und unfreiwillige Sexualisierung der Mitglieder stattgefunden habe. Von Rogers selbst findet man hierzu in den analysierten Schriften keine Kommentare. Er gibt an, dass sexuelle Untertöne und Verhaltensweisen immer Bestandteil von Gruppendynamiken seien. Maslow und Bühler betonen den Unterschied zwischen Sexualität und Liebe. Auch wenn idealerweise beides zusammenkomme, kann es durchaus ‚leere‘ Sexualität ohne Emotionalität geben. Maslow wendet sich auch in diesem Themenbereich den besonders gesunden, sich selbst aktualisierenden Menschen zu. Sie seien liebende Menschen, die aber weniger als andere von Liebe abhängig seien. Dasselbe gelte für Sexualität: Sie seien in der Lage, Sexualität mehr als andere zu genießen, könnten aber auch ohne Probleme verzichten. Zwei Formen der Liebe lassen sich nach Maslow (1968) unterscheiden: Die sogenannte D-love ist definiert als „deficiancy love“ oder egoistische Liebe und wird der erstrebenswerten B-love entgegengesetzt. Das B steht für „love for the Being of another person“ (Maslow 1968: 42). Diese Liebe sei durch Selbstlosigkeit gekennzeichnet. Sie sei des Weiteren als angstfrei, offen, respektvoll, das Selbst transzendierend, absichtslos, altruistisch und die Individualität bewahrend zu beschreiben (Maslow 1970). Bühler kritisiert, dass viele junge Menschen versuchen, über den Weg der Sexualität zu wahrer Liebe zu gelangen, was ihrer Meinung nach eine Illusion sei. Als Beispiel zitiert sie eine Frau, die mit Ende 30 noch nicht verheiratet ist, mit den folgenden Worten: „Mein Gewissen quält mich, nicht weil ich promiskuos lebe und allerlei Affären habe [...]. Aber ich fühle mich schuldig, weil ich mich bei alldem als Person nicht weiterentwickle, weil ich nichts wirklich zustande bringe.“ (Bühler/Allen 1972: 67) Diese Form des schlechten Gewissens bezeichnet Bühler als „humanistisches Gewissen“ (ebd.). In ähnlicher Weise betrachtet Bühler auch die Homosexualität nicht als moralisch falsch, aber als problematisch, weil sie zu einem

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unerfüllten Leben führe. Aus ihrer Sicht ist die als Lebensphase auftretende Homosexualität normal, die anschließende Entwicklung von Heterosexualität aber erstrebenswert: „Sehnsüchtig und suchend sind sie beide, und beide sind von Natur bestimmt, in einander Ergänzung zu finden, Ergänzung zu vollständigerem Menschentum, als männliches oder weibliches Wesen allein es darstellen“ (Bühler 1975: 75). Zur Umstellung auf Heterosexualität komme es laut Bühler dann, wenn sich die Betroffenen darüber klar werden, „dass sie ein unvollständiges, voller innerer Entwicklung ermangelndes Leben“ (ebd.: 29) führen, ausgelöst durch die Unmöglichkeit, eine Familie und Kinder zu haben. An anderer Stelle (Bühler 1962: 287) zählt sie als Gründe für die Umstellung das Bedürfnis nach Familienbeziehungen, die Schwierigkeiten in den Beziehungen zwischen Homosexuellen, die Furcht vor Einsamkeit im späteren Leben und den sozialen Makel beziehungsweise Strafbarkeit in manchen Ländern auf. Die Umstellung durch „Analyse oder Psychotherapie“ (ebd.: 287) sei nicht immer erfolgreich, „unter Umständen jedoch gelingen diese ‚Heilungen‘, wenn man sie als solche bezeichnen will“ (ebd.: 287). Während Skinner eine als naiv-optimistisch zu bezeichnende Haltung gegenüber der sexuellen Liberalisierung einnimmt, sind die VertreterInnen der humanistischen Psychologie vorsichtiger und anspruchsvoller. Sie fordern nicht mehr Sexualität, sondern wahre Liebe, tiefe Beziehungen und ein selbstverwirklichendes Liebesleben. Diese Skepsis wird zum Teil damit begründet, dass im Zuge der sexuellen Befreiung viele Menschen unfreie und unglückliche Erfahrungen mit Sexualität gemacht hätten. Gleichzeitig schwingen aber in Ausführungen der humanistischen PsychologInnen zu problematisierende normative Aspekte mit. So scheint das höchste Gut der Humanistischen Psychologie – Selbstverwirklichung – gerade denjenigen verwehrt zu sein, die von der Norm der monogamen, heterosexuellen Beziehung abweichen. Die geschilderten unglücklichen Fälle sind Homosexuelle, unverheiratete Frauen oder, bei Perls: Menschen, die Perversionen ausleben. Es wird an dieser Stelle besonders deutlich, wie problematisch es ist, die Werte des guten Lebens – wie von der Humanistischen Psychologie – aus der vermeintlichen Kenntnis der Natur des Menschen und den eigenen Erfahrungen guten Lebens abzuleiten. Das erfüllte und glückliche Leben bzw. das, was gerade dafür gehalten wird, wird so zum allgemeinen moralischen Standard. Wer vom Weg der Selbstverwirklichung der menschlichen Natur abweicht,

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begeht (nach Maslow) Sünde und bleibt unerfüllt. Dass Menschen möglicherweise aufgrund erfahrener Diskriminierung ein unerfülltes Leben führen müssen, wird dabei nicht bedacht. Ein weiterer Aspekt soll hier erwähnt werden: Die Humanistische Psychologie spricht sich gegen eine zwanghafte Sexualisierung der Gesellschaft aus. Diese Kritik scheint aus meiner Sicht durchaus berechtigt. Jedoch ersetzt sie die Forderung nach mehr Sexualität durch den noch höheren Anspruch an wahre Liebe, sogenannte B-love. Man könnte mit Bezug auf Foucault argumentieren, dass hierdurch das Subjekt nicht einem machtvollen Zugriff entzogen, sondern noch auf einer anderen Ebene vereinnahmt wird. Es wird eine – aus meiner Sicht vollkommen unrealistische – Form der Emotionalität von ihm verlangt. Sexuelle Handlungen an sich werden als hohl und damit falsch bloßgestellt, anzustreben ist eine selbstlose Form der Liebe für den anderen. Es erscheint als besonders perfide, dass eine Psychologie, die eine absolute Überhöhung des Selbst und der Selbstverwirklichung betreibt, gleichzeitig das Ideal der Selbstlosigkeit predigt. Vereinigung von Männlichkeit und Weiblichkeit In den Schriften von Maslow und Perls findet man den Gedanken, dass eine integrierte, gesunde Person sowohl weibliche als auch männliche Anteile in sich vereine. Weiblichkeit schreibt Maslow die Eigenschaften Passivität und Rezeptivität zu, Männlichkeit die Eigenschaften Aktivität, Kontrolle und harte Arbeit. Perls beschreibt die rechte Hand als männlich, motorisch, aggressiv, kontrolliert und bestimmt und die linke Hand als weiblich, nicht so gut koordiniert und emotional. Menschen auf der höchsten Entwicklungsstufe vereinen beides in sich und entwickeln dadurch ein hohes Maß an Kreativität (Maslow) und Genialität (Perls). Dabei betont Maslow (1970), dass manche Menschen beide Anteile in sich vereinen können, weil sie sich ihrer eigenen Weiblichkeit oder Männlichkeit so gewiss sind. Zu diesen Ausführungen ist kritisch anzumerken, dass sie einerseits die Überwindung von Geschlechterstereotypen als Prozess der zunehmenden Integration begrüßen, andererseits aber auch die Dualität von Männlichkeit und Weiblichkeit festschreiben. So wird die Gleichsetzung von Männlichkeit mit Aktivität, Kontrolle, Arbeit und Aggressivität nicht in Frage gestellt, sondern lediglich ihre Kombination mit Weiblichkeit gefordert.

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Abgrenzung von der Psychoanalyse Die Humanistische Psychologie grenzt sich massiv von der Psychoanalyse ab. Im Zentrum der Kritik steht einhellig der Vorwurf, dass Freud die Sexualität in seiner Theorie überbetont habe. Bühler (1962: 243) schreibt, „dass Freud mit seiner Beschränkung auf die Rolle der Sexualität und des Trieblebens die Rolle des Schöpferischen im Menschen sowie seines echten Dranges unterschätze, Werte zu verwirklichen und mit anderen Menschen sozial verbunden zu sein.“ Sie spricht sich für die Ergänzung der Libido durch die Funktionslust aus – ein Konzept, das sie von Karl Bühler übernommen hat – und fordert empirische Untersuchungen vor allem des kindlichen Verhaltens. In „Psychologie im Leben unserer Zeit“ (ebd.) zählt Bühler folgende sechs Kritikpunkte an der Psychoanalyse auf: 1. Beschränkung der Psychoanalyse auf die Sexualität und die Unter-

schätzung des Schöpferischen im Menschen; 2. Betrachtung des menschlichen Wertstrebens als sekundär und auf-

gezwungen; 3. Unterschätzung der menschlichen Freiheit und Betrachtung des Menschen als Sklaven der Triebe und der Gesellschaft; 4. der Genuss ist nicht das letzte Ziel der Menschheit; 5. Vernachlässigung der Entwicklung hin zur Selbstverwirklichung und Selbsterfüllung; 6. fehlende Berücksichtigung der kulturellen Einflüsse auf das Individuum. Ich gehe an dieser Stelle nicht ausführlich auf die (manchmal oberflächliche) Rezeption der Psychoanalyse in Theorien der Humanistischen Psychologie ein. Hierzu wäre einiges mehr zu sagen, unter anderem, dass es viele positive Bezugnahmen gibt, trotz der vordergründig entschiedenen Ablehnung. Stattdessen versuche ich eine erste Interpretation des Abgrenzungsmanövers selbst. Die Humanistische Psychologie stellt der Psychoanalyse ihr humanistisches Menschenbild entgegen: Der Mensch ist kreativ, schöpferisch, gut, nach Selbstverwirklichung drängend. Der Psychoanalyse wirft sie vor, dass sie den Menschen in ungerechtfertigter Weise auf seine Libido reduziere. Dabei wird die Libido im engeren Sinne als Sexualtrieb verstanden. Dass auch Freud die Libido an Phänomene wie Kreativität oder

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Produktivität bindet, bleibt unberücksichtigt. Damit verbindet die Humanistische Psychologie den (angeblichen) Antihumanismus der Psychoanalyse untrennbar mit ihrer Theorie der menschlichen Sexualität – und macht es sich damit selbst unmöglich, Sexualität in die eigene Theorie umfassend zu integrieren. Hierdurch wird die Sexualität (wieder) zu einem Tabuthema. Ich denke, dass die im vorhergehenden Abschnitt geschilderte Forderung nach wahrer Liebe und die Ablehnung reiner Sexualität auch vor diesem Hintergrund betrachtet werden muss. Foucaults auf die Psychoanalyse gemünzte These der Kopplung von Subjektivierung und Sexualität muss also gewissermaßen zwangsläufig in Bezug auf die Humanistische Psychologie scheitern. Um das humanistische Selbst ins Zentrum der Optimierungsbemühungen zu stellen, grenzt sie sich von einer Theorie der menschlichen Sexualität ab. Das Phänomen der Liebe tritt zumindest partiell an die Stelle der Sexualität. Diese ist aber dezidiert nicht bedürfnisorientiert oder -befriedigend, sondern selbstlos. Die höchste Aufgabe eines optimierten Selbst ist also, überraschend genug für eine Psychologie der Selbstaktualisierung und Selbstverwirklichung, seine Selbstaufgabe. Dass dies wohl nicht das letzte Wort sein muss, zeigen nicht allein Schriften aus den Reihen der Humanistischen Psychologie selbst. Diese Strömung in der modernen Psychologie erweist sich damit nicht nur in erhebliche Ungereimtheiten und Selbstwidersprüche verwickelt, sondern auch einem durchaus zwielichtigen Programm der Optimierung des Humanen verpflichtet, das unverkennbar religiöse Züge und speziell sogar christliche Wurzeln aufweist (neben allen möglichen Anleihen aus anderen Weltreligionen und esoterischen Spezialitäten). Vielleicht steht diese psychologische Richtung damit jedoch – noch im 21. Jahrhundert – keineswegs allein da. Womöglich repräsentiert sie in diesem Punkt eine nur schlecht (und manchmal, etwa bei Maslow, auch gar nicht) kaschierte allgemeinere Tendenz. Die sich profan gebende wissenschaftliche Psychologie haftet sehr viel häufiger an religiösen Traditionen, als ihr und ihren AnhängerInnen bewusst ist und lieb sein mag. Die Säkularisierung des religiösen Menschen durch seine Transformation in den zeitgenössischen Homo psychologicus vollzieht sich zumindest teilweise in der Form einer Optimierung, die religiöse Ideen und Ideale keineswegs vollkommen abgestreift hat. Doch das ist, wenngleich kein ganz neues, ein anderes Thema.

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L ITERATUR Bühler, Charlotte (1962): Psychologie im Leben unserer Zeit, München: Droemer Knaur. Bühler, Charlotte/Massarik, Fred (Hg.) (1969): Lebenslauf und Lebensziele. Studien in humanistisch-psychologischer Sicht, Stuttgart: Gustav Fischer. Bühler, Charlotte/Allen, Melanie (1973): Einführung in die humanistische Psychologie, Stuttgart: Ernst Klett. Bühler, Charlotte (1975): Das Seelenleben des Jugendlichen. Versuch einer Analyse und Theorie der Pubertät. 6. Auflage, Frankfurt a.M.: Fischer. Butler, Judith (1990): Gender trouble: feminism and the subversion of identity, New York: Routledge. Butler, Judith (1993): Bodies that matter: on the discursive limits of „sex“, New York: Routledge. Foucault, Michel (1977): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit Band 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Lück, Helmut E. (2009): Geschichte der Psychologie. Strömungen, Schulen, Entwicklungen. 4. Auflage, Stuttgart: Kohlhammer. Maslow, Abraham H. (1954/1970): Motivation and Personality. 3. Auflage, New York: Harper & Row. Maslow, Abraham H. (1968/1962): Toward a psychology of being. 2. Auflage, New York: Van Nostrand Reinhold. Matlin, Margaret W. (1987): The Psychology of Women, New York: Holt, Rinehart and Winston. Mey, Günter/Mruck, Katja (Hg.) (2010): Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie, Wiesbaden: VS Verlag. Perls, Friedrich S. (1980/1985): Gestalt, Wachstum, Integration. Aufsätze, Vorträge, Therapiesitzungen. 2. Auflage, hg. v. Hilarion Petzold, Paderborn: Junfermann-Verlag. Perls, Frederick S./Hefferline, Ralph F./Goodman, P. (1951/1995): Gestalttherapie. 3. Auflage, Stuttgart: Klett-Cotta. Rogers, Carl R. (1980/1991): Der neue Mensch, Stuttgart: Klett-Cotta. Rogers, Carl R. (1987): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientzentrierten Ansatzes, Köln: GwG. Sarasin, Philipp (2005): Michel Foucault. Zur Einführung, Hamburg: Junius.

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Ignoriert, dementiert, kritisiert: menschliche Selbstformung im Schatten der technischen Optimierungsstrategien R OLAND K IPKE

E INLEITUNG Viel ist heutzutage von der technischen Optimierung des Menschen die Rede. Genetische Manipulation, Gehirn-Doping, Anti-Aging – diverse Techniken stehen bereit oder werden zumindest für vorstellbar gehalten, mit denen der menschliche Körper und Geist verbessert werden sollen. Eine umfangreiche Debatte in Wissenschaft und Öffentlichkeit bewegt Ziele, Mittel und Folgen, Chancen und Risiken, Motive und anthropologische Hintergründe dieser Optimierungsstrategien, die von der einzelnen „Konzentrationspille“ bis zur weit ausgreifenden Idee des Transhumanismus reichen. Zweifellos sind das wichtige Debatten. Und dennoch haben sie eine seltsame Schlagseite. Versteht man sie als Spiegelbild der lebensweltlichen Wirklichkeit, kann man den Eindruck gewinnen, dass Menschen sich nur mit medizinischen, technischen, pharmakologischen Mitteln zu optimieren versuchen. Doch abgesehen davon, dass viele dieser Techniken kaum die erwünschten Wirkungen hervorbringen und bislang weit hinter ihren Versprechen zurückbleiben, ja sogar nur als bloße Idee existieren, ist es doch so: Wenn Menschen sich selbst verbessern wollen, versuchen sie das vor allem durch ihre Lebensführung und durch die Arbeit an sich selbst. Die technische Verbesserung des Menschen spielt bei weitem nicht die Rolle in unserer Lebenswelt,

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wie es die wissenschaftliche und öffentliche Debatte suggeriert. Das gilt insbesondere für die Verbesserung mentaler Eigenschaften, also kognitiver Fähigkeiten, emotionaler und motivationaler Dispositionen. Während der Selbstentwicklungsmarkt boomt, unzählige Internetforen sich der Arbeit an sich selbst widmen, Seminare zur Persönlichkeitsentwicklung ausgebucht sind, Bücher zur Selbstformung die Buchhandlungen füllen und Bestsellerlisten stürmen, diskutieren PhilosophInnen, SoziologInnen, KulturwissenschaftlerInnen etc. hauptsächlich über die technische Optimierung des Humanen. Diese Asymmetrie zwischen Diskurs und Wirklichkeit ist bedauerlich. Denn sie wird nicht nur der Wirklichkeit und Vielfalt des menschlichen Selbstverbesserungsstrebens nicht gerecht, sie schenkt nicht nur einer wichtigen menschlichen Praxis zu wenig Aufmerksamkeit, sondern sie erschwert auch die ethische Urteilsbildung bezüglich der technischen Optimierungsstrategien. Denn die nicht-technische Selbstverbesserung ist die Kontrastfolie, vor deren Hintergrund das Spezifische der technischen Optimierung erst deutlich hervortritt und sich ihr Wert und Unwert genauer bestimmen lässt. Das heißt, wenn die nicht-technischen Selbstverbesserungsmethoden im diskursiven Schatten der technischen Optimierung stehen, drohen auch letztere nicht angemessen beurteilt zu werden. Das betrifft vor allem die Bestrebungen, durch medikamentöse Mittel mentale Fähigkeiten zu verbessern, das also, was seit einigen Jahren unter dem Stichwort „NeuroEnhancement“ diskutiert wird. Sein nicht-technisches Pendant ist die Verbesserung der eigenen mentalen Fähigkeiten durch mentale Arbeit an sich selbst. Ich nenne diese Arbeit Selbstformung. Was genau ist mit „Selbstformung“ gemeint? Ich verstehe darunter die absichtliche, nicht-therapeutische Gestaltung eigener mentaler Dispositionen, die von einzelnen Gewohnheiten über kognitive und kommunikative Fähigkeiten bis hin zu tief verankerten Charakterzügen reichen. Es handelt sich um ein Verhältnis, bei dem Subjekt und Objekt des Handelns identisch sind. Auch wenn die Person stets Teil der sozialen Welt ist und Ziele, Werte und Methoden der Selbstformung kulturell geprägt sind, ist die Person die Akteurin der Selbstformung. Der Wunsch nach Selbstformung entspringt einer als negativ bewerteten Diskrepanz zwischen (deskriptivem) Selbstbild und (normativem) Selbstentwurf. Zur Selbstformung ist stets eine mehr oder weniger erhöhte mentale Aktivität der Selbstaufmerksamkeit und Selbststeuerung nötig. Mentale Dispositionen widersetzen sich jedoch einer raschen

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Veränderung, so dass Selbstformung wiederholter Übung bedarf und zumeist als mühsam erfahren wird. Das ist die abstrakte Bestimmung einer Vielzahl konkreter Praktiken. Selbstformung umfasst Konzentrations- und Gedächtnistrainings ebenso wie Meditation oder das Bemühen, seine Verhaltensweisen im sozialen Leben zu ändern, zum Beispiel seine Schüchternheit zu überwinden oder Geduld zu üben. Selbstformung kann gemeinsam oder allein, systematisch nach einem festgefügten Trainingsplan oder unsystematisch betrieben werden. Und sie kann unterschiedlichen Motiven und Zielen folgen. Auch wenn Selbstformung offene Grenzen zu anderen Praktiken und praktischen Selbstverhältnissen hat, ist es doch eine Handlungsform mit spezifischen Charakteristika. So sehr diese Selbstformung lebensweltliche Relevanz hat, so wenig wird ihr im wissenschaftlichen, vor allem philosophischen Diskurs Aufmerksamkeit geschenkt. Nicht nur das: Wenn sie doch einmal ausnahmsweise theoretisch in Erscheinung tritt, stößt sie auf massive Kritik. Und zum Teil wird sie sogar für unmöglich erklärt. Diesen dreifach negativen Umgang mit Selbstformung – Ignorieren, Dementieren, Kritisieren – werde ich im Folgenden nacheinander darstellen und selbst einer Kritik unterziehen. Ich stelle also nicht nur die drei Negativstrategien dar, sondern analysiere auch, inwiefern sie unberechtigt und schädlich sind. Positiv formuliert: Ich vertrete die These, dass Selbstformung, die im wissenschaftlichen Diskurs zu oft im Schatten der technischen Optimierung steht, erstens theoretisch wichtig, zweitens praktisch möglich und drittens ethisch wertvoll ist. Ein kurzes Fazit beleuchtet die Ergebnisse.1

I GNORIEREN Die Einschätzung, dass Selbstformung zu wenig philosophische Aufmerksamkeit erhält, kann auf den ersten Blick erstaunen. Ist doch allenthalben von Selbstgestaltung, Selbsterfindung, Selbstsorge, Selbsttechnologien, Selbstbildung, Selbstbestimmung etc. die Rede. Doch die Vielfalt an verwandten Begriffen in diesem Themenfeld ist eher ein Zeichen für die mangelhafte philosophische Aufarbeitung der gemeinten Selbstformung. Es gibt keinen etablierten Terminus Techni-

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Der Artikel geht auf mein Buch „Besser werden“ zurück, vgl. Kipke 2011.

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cus. Vor allem aber sind zumeist andere Praktiken und Selbstverhältnisse gemeint, zum Beispiel: • die Selbstgestaltung als das äußerst breite Spektrum von Arten, wie

Menschen auf sich selbst einwirken, was von der Prägung gesellschaftlicher Sitten bis zu Tätowierungstechniken reicht, sowohl körperliche als auch geistige Vorgänge umfasst und sowohl absichtlich als auch unabsichtlich geschehen kann; • die Selbstbestimmung als Struktur menschlichen Handelns, das sich auf verschiedenste Gegenstände bezieht und zwar persönlichkeitsprägend sein kann, aber diese Prägung nicht zum Ziel hat; • die Selbstinterpretation im Sinne des deskriptiven und evaluativen Selbstverstehens, wozu auch die absichtliche Bildung neuer Selbstbilder und -entwürfe sowie die Erzählung seiner Lebensgeschichte gehören. Wenn von Selbsterfindung, Selbsterschaffung, Selbstgestaltung etc. gesprochen wird, ist fast immer eines dieser praktischen Selbstverhältnisse gemeint, kaum jedoch die absichtliche Änderung mentaler Dispositionen durch mentale Arbeit an sich selbst. In vielen Fragen, Thesen, Diskussionen wird Selbstformung allenfalls berührt, aber nicht getroffen. Sie bleibt zumeist eine Leerstelle, ein weißer Fleck auf der Landkarte philosophischer Reflexion. Ihren Ort hätte sie vor allem in der praktischen Philosophie. Ich werde im Folgenden drei Gebiete der praktischen Philosophie herausgreifen und an ausgewählten Autoren knapp aufzeigen, wie das Ignorieren der Selbstformung funktioniert und sich negativ bemerkbar macht: erstens die Theorie der Person und personalen Identität, zweitens die Theorie der Willensfreiheit, drittens die Theorie des guten Lebens. a) Der Begriff der Person ist in den letzten Jahrzehnten in den Mittelpunkt einer Reihe philosophischer Bemühungen gerückt. Mit Michael Quante wähle ich einen der profiliertesten Persontheoretiker der gegenwärtigen deutschsprachigen Philosophie. Seine Persontheorie ist um eine umfassende Berücksichtigung unterschiedlicher Ebenen, Bedingungen und Ausformungen von Personalität bemüht. Quante betont den „aktivische[n] Charakter, der sich mit der personalen Lebensform verbindet.“ (Quante 2007: 146) Dazu gehöre nicht nur die Eigenschaft von Personen, die eigenen Handlungsweisen, Motive und mentalen Zustände im Lichte des eigenen Selbstbildes zu deuten und so aktiv

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Kohärenz zu schaffen, sondern auch das praktische Bemühen um eine Lebensführung, die den eigenen Vorstellungen vom guten Leben entspricht: „Wir versuchen, in unserer zeitlich ausgedehnten Existenz eine Persönlichkeit zu entwickeln und Pläne zu verwirklichen, in denen sich manifestiert, wer wir sein und was wir erreichen wollen.“ (Ebd.: 147, vgl. 165) Doch was ist mit diesem „wer wir sein wollen“ gemeint? Die Beispiele, die Quante heranzieht, bewegen sich ausschließlich auf der Ebene äußerer Lebensziele, wie der Wunsch, ein erfolgreicher Leistungssportler zu werden (vgl. ebd.: 152). Wünsche, die sich auf eigene Persönlichkeitsmerkmale beziehen, kommen nicht vor. Eine weitere Frage ist für Quante die Einheit dieser Persönlichkeit. Das ist die Frage, wie die Veränderung einer Persönlichkeit als die einer Persönlichkeit zu verstehen ist: die Frage nach der biographischen Kohärenz. Auch hier betont er das Moment der Aktivität, die „aktivische Verfasstheit der biografischen Kohärenz“ (ebd.: 175). Spätestens an dieser Stelle wäre es angebracht, auf die Selbstformung zu verweisen, insofern gerade sie die aktive Hervorbringung von Kohärenz gewährt. Aber der Ertrag von Quantes Untersuchung konzentriert sich in der Aussage, „dass sich die Veränderung der Persönlichkeit für die jeweilige Person selbst und für die interpretierenden Subjekte als aktives Erzeugen einer biografischen Kohärenz durch Identifikation mit gegenwärtigen, vergangenen (beim Erinnern) und zukünftigen (beim Antizipieren) Eigenschaften und Wünschen verständlich machen lässt.“ (Ebd.: 174)

Das heißt, Quante hebt die aktive Schaffung biographischer Kohärenz hervor und reduziert sie dann doch wieder auf den kognitiven Akt der Identifikation mit vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Eigenschaften und Wünschen. Diese Identifikation ist sicherlich eine notwendige Bedingung für biographische Kohärenz, aber es wäre zu überlegen, ob sie ausreicht, ob zur Schaffung einer starken Kohärenz nicht auch eine praktische, direkte, absichtliche Arbeit an eigenen Persönlichkeitsmerkmalen nötig ist. Bei Quante ist also, wie auch bei anderen Persontheoretikern, die persontheoretische Anschlussstelle für das Phänomen der Selbstformung vorhanden, sie wird jedoch nicht gefüllt. Die Idee der Selbstformung liegt auf der Hand, wird aber nicht ergriffen. Die auf sich

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selbst bezogene Aktivität wird betont, aber zugleich auf Identifikationsakte verkürzt. b) Frappierender ist das Desiderat eines Konzepts der Selbstformung in der Philosophie der Freiheit, weil die theoretische Lücke hier noch breiter ist. Mit „Freiheit“ meine ich hier nur die Willensfreiheit, also das Vermögen, seinen Willen selbst zu bestimmen und handlungswirksam werden zu lassen.2 Mit Harry G. Frankfurt wende ich mich einem der international einflussreichsten Denker zu. In seinem frühen Ansatz erklärt Harry Frankfurt die Willensfreiheit mit einem Modell der hierarchischen Wunschstrukturen. Er hebt die Tatsache hervor, dass Personen nicht nur Wünsche haben, etwas Bestimmtes zu tun, sondern auch Wünsche, die sich auf die ersten Wünsche beziehen. Man kann sich wünschen, etwas zu wünschen oder nicht zu wünschen. Frankfurt spricht von „Wünschen zweiter Ordnung“. Wenn jemand auf dieser höheren Stufe wünscht, dass ein Wunsch erster Stufe handlungswirksam ist, wenn er also „möchte, daß ein bestimmter Wunsch sein Wille sei“, dann ist das eine „Volition zweiter Stufe“ (Frankfurt 1997: 292). Willensfreiheit liegt dann vor, wenn der handlungswirksame Wunsch (Wille) und die Volition zweiter Ordnung übereinstimmen; wenn man also bejaht, was man will. Frankfurts Theorie der höherstufigen Wünsche führt eigentlich geradewegs zur Frage nach Selbstformung. Das zeigt sich jedoch nur, wenn man nicht auf den Idealzustand der Freiheit blickt, sondern auf die Unfreiheit. Denn wenn sich Volition zweiter Ordnung und Wille decken, gibt es für die betreffende Person kein Problem. Sie hat den

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Auf den ersten Blick mag es aussehen, als sei das Thema der Selbstformung nicht für die kompatibilistische Fraktion der Freiheitstheoretiker von Interesse, das heißt für jene Autoren, für die freies Wollen ein determiniertes Wollen in einer determinierten Welt ist. Denn sich selbst zu formen bedeutet, sich ein anderes Handeln-Können anzueignen, und die Verneinung des Anders-handeln-Könnens macht ja gerade den Kern der kompatibilistischen Position aus. Doch das wäre ein Missverständnis, denn der Kompatibilismus bestreitet nicht die Möglichkeit, neue Fähigkeiten auszubilden und somit anders handeln zu können als zu einem früheren Zeitpunkt, sondern nur, in einer bestimmten Situation unter denselben Bedingungen so oder anders handeln zu können. Die kompatibilistische Negation der Möglichkeit des Anders-handeln-Könnens betrifft also gar nicht das Potenzial der Selbstformung.

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Willen, den sie haben will. Für Selbstformung besteht kein Anlass. Anders der Fall der Unfreiheit, wo jemand zwar Volitionen zweiter Ordnung hat, die handlungswirksamen Wünsche aber anders orientiert sind. Die Person hat einen Konflikt zwischen Wille und höherstufiger Volition. Wann tritt so etwas auf? Dann, wenn die höherstufige Bewertung den unerwünschten Wunsch erster Stufe nicht zum Verschwinden bringt. Das ist ja ein häufiger Fall: Wünsche lösen sich in der Regel nicht auf, sobald sie von der betreffenden Person negativ bewertet werden. Und sie lassen sich nicht nur nicht rasch verscheuchen, sondern sie büßen auch oft nicht ihre Handlungswirksamkeit ein. Sonst gäbe es für Menschen, die Volitionen zweiter Ordnung haben, nicht das Problem der Unfreiheit. Dass Wünsche zählebig sind und trotz der höherstufigen negativen Bewertung handlungswirksam bleiben, heißt, dass sie in dauerhaften Persönlichkeitsmerkmalen verankert sind bzw. selbst welche sind: langlebige Bedürfnisstrukturen, die sich immer wieder erneut als Wunsch bemerkbar machen, Wünsche generierende Charakterzüge wie der Hang zu Neid oder Eifersucht etc. Um Freiheit zu erlangen, das heißt um den erwünschten Willen zu haben, müsste die Person die Persönlichkeitseigenschaft, zu der der unerwünschte Wunsch gehört, so weit umformen, dass er nicht mehr handlungswirksam wird. Um von der Unfreiheit zur Freiheit zu gelangen, wäre nach Frankfurts Theorie also Selbstformung vonnöten. Frankfurt deutet das vorsichtig an, wenn er davon spricht, dass die unfreie Person einen Willen hat, „den sie los sein will.“ (Ebd.: 294) Aber dieses den-Willlen-Loswerden thematisiert Frankfurt nicht weiter. Das Thema Selbstformung steht ebenfalls unmittelbar vor der Tür, wenn er sagt: „manche haben es leicht, in den Genuß der Freiheit zu kommen; andere müssen kämpfen, um sie zu erlangen.“ (Ebd.: 298) Aber was das für ein Kampf sein soll, darüber verliert er kein Wort. Frankfurt bewegt sich also ganz deutlich in Richtung Selbstformung, behält sie aber nicht im Auge. Sein Interesse gilt der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Freiheit und Unfreiheit, der Weg von der einen zur anderen ist nicht sein Thema. Das ist nicht illegitim, aber mit dieser Fokussierung entgehen ihm wichtige Nuancen der Freiheit. Denn auch wenn sich der erwünschte Wunsch durchsetzt und handlungswirksam wird, kann es sein, dass der missbilligte Wunsch bestehen bleibt, sich immer wieder bemerkbar macht und nach Handlungswirksamkeit ,verlangt‘. Nach Frankfurt wäre das ein Fall von Freiheit, weil für ihn Freiheit ausschließlich in der Übereinstimmung

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zwischen Wille und höherstufiger Volition besteht. Aber zwischen dem Weiß der Freiheit und dem Schwarz der Unfreiheit gibt es eine Vielzahl von Graustufen. Die beschriebene Situation ist für die Person hinsichtlich ihrer Freiheit kein optimaler Zustand und kann als ausgesprochen unangenehm erlebt werden, weil die Freiheit labil ist. Hier wäre Selbstformung gleichfalls angebracht, nämlich die Bearbeitung des Wunsches, nicht um Freiheit zu erringen, sondern um sie zu stabilisieren. Die Lücke in puncto Selbstformung füllt Frankfurt auch nicht mit seinen späteren theoretischen Weiterentwicklungen. Der ungeteilte Wille (wholeheartedness), zu dem sich eine Person entscheidet, die endgültige Verbindlichkeit, mit der sie sich einem Wunsch verschreibt, ändert nichts an der massiven Barriere, die manche persönliche Eigenschaften und die damit einhergehenden Wünsche für diesen entschiedenen Willen darstellen. Frankfurt sieht diese Problemlage selbst: „Es ist gut möglich, daß der Konflikt zwischen den zwei Wünschen so virulent bleibt wie vorher.“ (Frankfurt 2001b: 131) Aber er verhindert die Einsicht in die Notwendigkeit von Selbstformung, indem er von diesem Konflikt sagt, dass er nicht mehr „innerhalb der Person“ liegt: „So hat sich der Konflikt zwischen den Wünschen in einen Konflikt zwischen einem der Wünsche und der Person transformiert, die sich mit dem konkurrierenden Wunsch identifiziert.“ (Frankfurt 2001b: 131) Damit meint Frankfurt zwar etwas Richtiges, nämlich dass ein abgelehnter, aber fortlebender Wunsch nicht dem höherstufigen Wunsch der Person gehorcht, nicht mit ihren Entscheidungen und Werten kohärent ist und gewissermaßen ein Eigenleben führt. Aber durch seine Formulierung erweckt Frankfurt den Eindruck, als liege der Wunsch ,außerhalb‘ der Person. Und damit wäre er einem selbstformerischen Zugriff entzogen. Tatsächlich jedoch ist ein solcher Wunsch selbstverständlich Teil der Person. Das ist ja gerade ihr Problem. Andererseits ist er ihr gerade dadurch grundsätzlich verfügbar, und sie kann sich ihm mit der Absicht der Umformung aktiv zuwenden. Diese Möglichkeit, ja Notwendigkeit der Selbstformung – sofern die Person an der Überwindung des Konfliktes und damit an ihrer Freiheit interessiert ist – blendet Frankfurt durch seine Darstellungsweise aus. In noch späteren theoretischen Anläufen berührt Frankfurt aufs Neue implizit die Frage nach Selbstformung. Nämlich dann, wenn er die Freiheit als Liebe deutet. Liebe versteht er als ein liebendes Sich-

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sorgen um den geliebten Gegenstand, sei es eine Person, ein Ideal oder eine Tätigkeit. Diese Liebe ist eine Nötigung, insofern wir die Gegenstände unserer Liebe nicht wählen. Aus Liebe zu handeln, bedeutet seinen „volitionalen Notwendigkeiten“ zu folgen, seinen zutiefst persönlichen Interessen nachzugehen. Damit diese Liebe gelingt, müsste die liebende Person dafür Sorge tragen, dass sie die dazu erforderlichen Fähigkeiten besitzt. Tatsächlich kommt Frankfurt darauf zu sprechen: „Weil Liebe zur Folge hat, daß der Liebende bestimmte volitionale Einstellungen gegenüber dem Gegenüber seiner Liebe hat, hat sie auch zur Folge, daß er entsprechende volitionale Einstellungen sich selbst gegenüber besitzt. […] Im Maße dessen er sich um den Gegenstand seiner Liebe kümmert, sorgt er sich daher notwendigerweise auch um sein eigenes Verhalten. Sich um das, was man liebt, zu sorgen, ist dann gleichbedeutend damit, sich um sich selbst zu sorgen.“ (Frankfurt 2001a: 179)

Dieser Gedanke verweist zwar erkennbar auf Selbstformung, aber Frankfurt führt ihn wiederum nicht aus. Ist denn so klar, was diese Sorge um sich selbst bedeutet, dass man auf eine konzeptionelle Klärung verzichten kann? Versteht es sich von selbst, was damit gemeint ist, sich „um sein eigenes Verhalten“ zu kümmern? Nein. Vor allem verschweigt Frankfurt, dass es nicht damit getan ist, das geforderte Verhalten zu wünschen, dass vielmehr dieser Wunsch – und damit die Realisierung der Liebe – allzu oft daran scheitert, dass die nötigen Kompetenzen nicht gegeben sind, dass die Liebe also die aktive Arbeit an den eigenen Fähigkeiten erfordert. Frankfurts freiheitstheoretische Ansätze sind also auf das Moment der Selbstformung angewiesen, aber er berücksichtigt diesen Zusammenhang nicht. Dasselbe Phänomen findet sich auch bei anderen AutorInnen (vgl. z.B. Pauen 2005). Das ist eine bedauerliche konzeptionelle Lücke, die die Freiheitstheorie unvollständig macht. An dieser Stelle ließe sich einwenden, dass Selbstformung für das Thema Willensfreiheit ein zwar interessanter, aber vernachlässigenswerter Aspekt sei, weil er nicht die zentralen freiheitstheoretischen Fragen berühre. Schließlich, so der Einwand, geht es bei der Selbstformung allenfalls um Fragen der Realisierung von Freiheit, die Philosophie der Freiheit aber fragt hauptsächlich nicht danach, wie sich Freiheit herstellen lässt, sondern was sie ist. Doch der Einwand über-

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sieht den Zusammenhang beider Fragen. Denn zur Klärung dessen, was Freiheit ist, gehört es, die Bedingungen ihres Auftretens zu bestimmen. Und wenn Selbstformung eine dieser Bedingungen ist, zumindest in manchen psychischen Konstellationen, verdient das Thema die uneingeschränkte philosophische Aufmerksamkeit. Außerdem ist Willensfreiheit kein wertneutraler Gegenstand, sondern den meisten Freiheitstheoretikern ist explizit oder implizit daran gelegen. Dann sollte sich unser Interesse darauf richten, unter welchen Bedingungen dieses Vermögen gedeiht. c) Zum dritten philosophischen Themengebiet, auf dem sich die Ignorierung der Selbstformung zeigt: der Ethik des guten Lebens. Sie fragt nicht wie die Moralphilosophie danach, wie wir handeln sollen, sondern wie wir (um unseres Glückes willen) handeln sollten.3 Demzufolge hängt das Glück des Einzelnen von seinem Handeln ab. Wenn das stimmt und das Handeln zumindest teilweise von den Eigenschaften der eigenen Persönlichkeit abhängt, liegt die Vermutung nahe, dass Selbstformung für das Glück eine Rolle spielt und in den entsprechenden Theorien Berücksichtigung finden müsste. Mit Martin Seel nehme ich mir einen der prominentesten deutschsprachigen GlückstheoretikerInnen vor. Martin Seels glücksphilosophischer Vorschlag besteht darin, „das gute Leben als ein in weltoffener Selbstbestimmung geführtes Leben zu verstehen.“ (Seel 1999: 178) In dem Konzept der weltoffenen Selbstbestimmung verbindet Seel das Element der Wunscherfüllung mit dem Element des unverhofft erfüllten Augenblicks. Weltoffene Selbstbestimmung – das heißt einerseits Streben nach Erfüllung (zumindest einiger) wesentlicher Wünsche und das Führen des Lebens nach eigenen Vorstellungen, andererseits die Offenheit für das Unerwartete und für die vom Leben angebotenen Möglichkeiten. In den Mittelpunkt seiner Bestimmung des gelingenden Lebens stellt Seel damit eine bestimmte mentale Fähigkeit. Vom Vorhandensein und Gebrauch dieser Fähigkeit hängt ab, in welchem Maße ein Leben gelingt oder misslingt. Wer also nach einem gelingenden Leben strebt, und das tun wir alle, dem müsste an Entwicklung und Erhalt dieser Fähigkeit gelegen sein. Das ist die Aufgabe von Selbstformung. Die Er-

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„Glück“, „gutes Leben“ und „gelingendes Leben“ verwende ich hier und im Folgenden synonym.

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wähnung dieser menschlichen Selbstverbesserungspraxis stände somit auch Seels Theorie gut zu Gesicht. Doch er verliert dazu kein Wort. Es ist immer wieder verblüffend, wie philosophische AutorInnen die Thematisierung der Selbstformung umschiffen. So findet sich bei Seel der Satz: „Das gelingende oder gute Leben ist eines, das sich – auch durch krisenhafte Zustände hindurch – in der Verfassung eines selbstbestimmten Lebens hält oder immer wieder zur Form eines solchen Lebens findet.“ (Ebd.: 179) Das klingt, als sei das menschliche Leben ein homöostatisches System. Das ist jedoch nicht der Fall. Damit das Leben in Seels Sinne gelingt, muss es auf bestimmte Weise geführt werden, und zwar im Gebrauch einer bestimmten Fähigkeit. Und wenn diese Fähigkeit mangelhaft ausgebildet ist, fehlt die Bedingung für ein gelingendes Leben. Mit seiner Formulierung verschleiert er die Herausforderung der Selbstformung, vor der der Mensch steht, der ein gelingendes Leben führen will. Ähnlich verfährt Seel, wenn er konstatiert: „Das, was alle im Interesse an einem guten Leben wollen sollten, ist […] vor allem ein Wie des Wollens […], eine bestimmte Freiheit des Wollens.“ (Ebd.: 180) Da ein bloßes Wünschen solch eines Wollens nicht ausreicht, heißt die Aussage, dass alle Menschen dies wollen sollten, nichts anderes, als dass alle Menschen an der Entwicklung, Stärkung und Erhaltung der Fähigkeit weltoffener Selbstbestimmung arbeiten sollten. Mit anderen Worten: Sie sollten entsprechende Selbstformung betreiben. Doch zu dieser Aussage ringt sich Seel nicht durch. Wir sehen: Selbstformung wird in vielen philosophischen Themenbereichen und Ansätzen ignoriert, obwohl ihre Berücksichtigung sachlich angemessen oder gar notwendig wäre. Ein Konzept der Selbstformung ist an vielen Stellen ein Desiderat.

D EMENTIEREN Doch nicht überall in der Philosophie wird Selbstformung ignoriert. In manchen Ansätzen kommt dieses Phänomen durchaus zur Geltung. Der vielleicht bekannteste Ansatz ist der von Michel Foucault und der ihm nachfolgenden Lebenskunstphilosophie. Unter den Stichworten „Selbstsorge“, „Selbsttechnologie“ und „Selbstgestaltung“ spielt Selbstformung hier eine zentrale Rolle. Interessanterweise stößt diese

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Lebenskunstphilosophie auf eine massive Kritik, die im Kern darauf hinausläuft, die Möglichkeit von Selbstformung abzustreiten. Zunächst zu Foucaults Ansatz: In seinem Spätwerk entwickelt er anhand des Studiums antiker Quellen das Konzept der Selbstsorge. „Selbstsorge“ bezeichnet für ihn eine Lebensregel und Haltung, die forderte bzw. beinhaltete, sich um sich zu kümmern, sich selbst Aufmerksamkeit zu schenken. Dieses Selbstverhältnis sieht er zum ersten Mal bei Sokrates ausdrücklich auftauchen und dann bis zum frühen Christentum die antike Kultur maßgeblich prägen (vgl. Foucault 1989, 1993). Zu diesem Sich-um-sich-selbst-Kümmern gehörte auch die gezielte Veränderung mentaler Dispositionen: „ich glaube, dass es bei den Griechen und den Römern [...] um sich richtig zu verhalten und den rechten Gebrauch von der Freiheit zu machen notwendig war, dass man sich mit sich selbst befasste, dass man sich um sich selbst sorgte, einerseits um sich zu erkennen [...] und andererseits um sich zu formen, um sich selbst zu verbessern und um in sich die Begierden zu meistern, die einen mitzureißen drohen.“ (Foucault 2005: 880)

Der Begriff der „Technologien des Selbst“ bezeichnet für Foucault die in der Selbstsorge angewendeten Methoden. Der Ausdruck „Technologie“ geht dabei über dessen heutige enge alltagssprachliche Bedeutung hinaus und meint im Anschluss an die griechische techné eine zweckgerichtete Praxis, eine methodische Betätigung, ein Können. Foucault definiert die Selbsttechnologien als Praktiken, „die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit oder der Unsterblichkeit erlangt.“ (Foucault 1993: 26)

Eine Nachfolge hat Foucault mit der Philosophie der Lebenskunst gefunden, wie sie im deutschen Sprachraum gegenwärtig vor allem von Wilhelm Schmid vertreten wird (vgl. Schmid 1998). Er löst Foucaults Konzept der Selbstsorge aus seiner historischen Gebundenheit, plädiert für eine bewusste und reflektierte Lebensführung zugunsten eines erfüllten, gelingenden, „schönen“ Lebens und untersucht einige der dazu

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notwendigen Bedingungen. Dazu gehört zuvorderst die Selbstformung oder, wie er sie nennt: die „ethisch-asketische Selbstgestaltung“ – „,ethisch-asketisch‘ zu verstehen als Arbeit des Selbst an sich und bewusste Einwirkung auf sich, um sich zu formen und zu transformieren.“ (Schmid 1998: 241, Hervorheb. gelöscht) Schmid versucht, einige Elemente und Typen der Selbstgestaltung zu unterscheiden, doch gelingt es ihm nicht recht, dem Konzept mehr Kontur zu geben. Vor allem verwischt er immer wieder den Unterschied zwischen der Selbstgestaltung und der Lebensgestaltung und verhindert damit die Einsicht in das Spezifische der Selbstformung. So wie Schmid generell eher eine rhapsodische Philosophie ohne systematischen Anspruch bietet, so ist auch sein Begriff der Selbstgestaltung kein gründlich durchdachtes Konzept aus einem Guss. Auch Foucaults Ansatz hat erhebliche Schwächen. Erstens bleibt das Konzept der „Selbstsorge“ diffus, insofern nicht klar wird, ob es sich auf die Entwicklung mentaler Dispositionen beschränkt oder auch pure Selbsterkenntnis umfasst, oder ob sich die Selbstsorge auch auf den Körper erstreckt. Damit gelingt es Foucault nicht recht, das Spezifische und Andersartige der Selbstformung herauszuarbeiten. Sie droht bei ihm in einem breiten Sammelbecken menschlicher Selbstverhältnisse unterzugehen. Zweitens fehlt es Foucault an einer ausgearbeiteten ethischen Theorie der Selbstsorge, die seiner lebenskunst-philosophischen Anregung Substanz verleihen könnte. Denn er will nicht nur die Selbstsorge als eine Praxis vergangener Epochen untersuchen, sondern plädiert vehement für eine neue Ästhetik der Existenz. Zugleich hält er ein schlichtes Anknüpfen an die Antike nicht für möglich. Was die moderne Existenzästhetik stattdessen aber sein kann oder soll, verrät er nicht. Doch trotz dieser Mängel kommt Foucault zweifellos das Verdienst zu, das Thema der Selbstformung überhaupt in die moderne wissenschaftliche Diskussion eingeführt zu haben. Und auch bei Schmid ist anzuerkennen, dass er sich ernsthaft um eine adäquate Beachtung des Phänomens Selbstformung bemüht. Anders als bei den oben behandelten Ansätzen haben wir es hier also mit Konzepten zu tun, die die Selbstformung nicht ignorieren, sondern ihr – zumindest in lebenskunstphilosophischer Perspektive – einen gebührenden Platz zuweisen. Umso bemerkenswerter, dass dieses zarte Pflänzchen einer Selbstformungstheorie von anderer Seite radikal in Frage gestellt wird. Wolfgang Kersting ist einer der Kritiker der Lebenskunstphilosophie und spricht von einer „freiheitstheoretischen und praxeo-

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logischen Verfehlung“. Seiner Meinung nach unterliegt die Lebenskunstphilosophie einem gravierenden Missverständnis, sie „versteht Leben nicht als Praxisvollzug, sondern als Herstellungsprozess, als extern beherrschbare poiesis.“ (Kersting 2007: 21) Das Leben sei aber nicht zu „machen“ und entziehe sich daher dem weit gehenden Gestaltungswillen der Lebenskunstphilosophen. Dagegen setzt Kersting den Praxis-Charakter des Lebens: „Leben ist kein Werk, dem man sich von außen nähern könnte, um ihm seine Qualitätsvorstellungen aufzuprägen. [...] Leben ist Praxis, unaufhörlicher, sich jeder theoretischen wie praktischen Vergegenständlichung entziehender Vollzug.“ (Ebd.: 55f.) Mit dem verzerrten Handlungs- und Lebensbegriff überfordere die Lebenskunst das menschliche Leben. Sie betreibe einen „Selbsterschaffungsfuror“ (ebd.: 38), verfolge einen Anspruch auf „gottgleiche Selbstmächtigkeit“, klammere „Zufall, Schicksal und Endlichkeit“ aus (ebd.: 36) und übersehe „die Wirklichkeit der Abhängigkeiten und Unveränderlichkeiten“ (ebd.: 37). Dieter Thomä haut in dieselbe Kerbe. Er wendet sich gegen die Rede vom „Leben-Können“: Das Leben sei keine Tätigkeit und daher nicht zu „können“. Das Sprachspiel des Könnens lasse sich nicht sinnvoll auf das Leben anwenden (vgl. Thomä 2007: 241f.). In diesem Sinne diagnostiziert er der Lebenskunstphilosophie eine „handlungstheoretische Einengung“ (ebd.: 244) und einen verfehlten „imperiale[n] Gestus“ (ebd.: 260). Ähnlich argumentiert Ludger Heidbrink, insofern er der Lebenskunstphilosophie einen übersteigerten und naiven Autonomiebegriff zum Vorwurf macht. Die Philosophen der Lebenskunst kümmerten sich nicht um die Grenzen der Autonomie. Sie lieferten „ein technokratisches Zerrbild des autonomen Individuums, das fähig ist, seine Existenz in ein Artefakt zu verwandeln, in dem auch noch die Zufälle und Widerfahrnisse dem Pinselstrich der eigenen Lebensführung folgen.“ (Heidbrink 2007: 285) Diese Argumentation ist keine normative Kritik, sie will also nicht von Lebenskunst abraten, weil diese kein erstrebenswertes Ziel sei. Nein, sie läuft vielmehr darauf hinaus, dass es Lebenskunst, so wie ihre Protagonisten sie sich vorstellen, überhaupt nicht geben könne. Das Vorhaben scheitere an unüberwindlichen anthropologischen Hürden. Der Mensch sei nicht dazu fähig, sein Leben in dieser anspruchsvollen Weise in die Hand zu nehmen und nach eigenen Idealen zu formen. Sofern die Selbstformung Teil der Lebenskunst ist, trifft das Verdikt auch sie: Selbstformung ist demnach nicht möglich. Sie ist ein

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Trugbild eines fehlgeleiteten Denkens. Kaum wird also Selbstformung einmal im philosophischen Kontext als Handlungsmöglichkeit erkannt, als Steigerung des Lebens empfohlen, theoretisch zumindest ansatzweise eingeordnet, stößt sie auf erbitterten philosophischen Widerstand und wird für unmöglich erklärt. Diese fundamentale Kritik an der Lebenskunstphilosophie und die damit einhergehende Dementierung der Möglichkeit von Selbstformung wirken berechtigt und überzogen zugleich. Einerseits ist es zweifellos richtig, dass das Leben sich weitgehend der Verfügbarkeit entzieht und kein Gegenstand ist, den man gleichsam bildhauerisch bearbeiten kann. Andererseits schießt die Kritik über das Ziel hinaus, verlangt eine allzu große Bescheidenheit und widerspricht der Lebenserfahrung unzähliger Menschen in Vergangenheit und Gegenwart. Was kann zum Beispiel der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmid meinen, wenn er sagt: „Ich habe mich im Laufe des Lebens schon relativ früh zur Gelassenheit erzogen.“? (Schmidt 2009) Woran erinnert sich Tenzin Gyatso, besser bekannt als 14. Dalai Lama, wenn er beschreibt, wie er bei bestimmten Übungen sich darauf konzentrierte, „Mitgefühl für alle lebenden und fühlenden Wesen zu entwickeln.“? (Dalai Lama 2001: 190) Wovon spricht der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, wenn er von einer Arbeit an seinen mentalen Prozessen berichtet: „So lernte ich, Fehler zu vermeiden und am Vorgang der Entscheidungsfindung zu feilen“? (Kasparow 2008: 21) So verschieden die Persönlichkeiten, die kulturellen Prägungen, die Ziele und Mittel sind, stets arbeiten Menschen an ihren mentalen Eigenschaften, sie verändern einen Teil ihrer Persönlichkeit.4 Auch wenn etwas Berechtigtes an der Kritik sein mag, die Dementierung der Möglichkeit von Selbstformung erscheint ideologisch, weil sie eine offensichtliche Tatsache leugnet. Wir kommen dem Grund für die ambivalente Wirkung der Verneinung jeder Lebenskunst auf die Spur, wenn wir Lebensführung und Selbstformung deutlich voneinander unterscheiden. Die Lebenskunstlehre bezieht sich auf beides: Das Leben soll bewusst geführt, schön gestaltet, nach individuellen Vorstellungen geformt werden; und das

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Genau genommen handelt es sich bei diesen Zitaten nicht um Zeugnisse der Selbstformung, sondern um solche der subjektiven Erinnerung an vollzogene Selbstformung. Wir haben jedoch keinen Anlass, grundsätzlich von der Falschheit solcher Zeugnisse auszugehen.

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Selbst soll modelliert, die Persönlichkeit bearbeitet, Fähigkeiten sollen entwickelt werden. So sehr diese beiden Projekte aufeinander bezogen sind, unterscheiden sie sich doch erheblich in ihren Chancen. Die Führung des Lebens stößt tatsächlich immer wieder auf Hindernisse in Gestalt unvorhergesehener Ereignisse, das Leben entzieht sich mit seinen Zufällen dem planenden Zugriff. Die Formung des Selbst hingegen kann weitgehend unabhängig von den Wechselfällen des Lebens in Angriff genommen werden. Sie hat zwar bestimmte mentale Voraussetzungen, die durch die Lebensbedingungen bereitgestellt werden müssen, wie ein Mindestmaß an Selbstreflexionsfähigkeit und Selbststeuerung, sind diese jedoch vorhanden, steht der Selbstformung nichts mehr grundsätzlich im Wege. Der Prozess der Selbstformung kann durch das Leben zwar belastet werden, aber er liegt in unserer Hand, sieht man einmal von einschneidenden Ereignissen ab, die die mentalen Voraussetzungen der Selbstformung untergraben. Den Lauf unseres Lebens bestimmen wir nur zu einem kleinen Teil. Aber ob, wann und wie wir an uns selbst arbeiten und diesen Prozess fortführen, darüber entscheiden wir, auch wenn Ideale und Methoden der Selbstformung kulturell geprägt sind und somit nicht allein unserer Wahl unterliegen. Im einen Fall sind unsere Handlungen nur ein Faktor unter vielen, im anderen Fall hängt das Geschehen allein von unserer Aktivität ab. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung können wir feststellen: Während die Kritik an den weit reichenden Idealen der Lebenskunstphilosophie in Bezug auf die Lebensführung richtig ist, hat sie in Bezug auf die Selbstformung keine Berechtigung. Da die Kritiker den Unterschied nicht erkennen, kommen sie zu der pauschalen Ablehnung des Selbstmächtigkeitsanspruchs. Die Leugnung der Möglichkeit von Selbstformung ist also falsch. Der Fehler gründet in einer mangelnden Einsicht in den Unterschied zwischen Lebensführung und Selbstformung und in den Charakter der letzteren. Die Selbstformung wird für unmöglich erklärt, ohne dass sie dabei angemessen in den Blick gerät. Insofern hängt das übereifrige Bestreiten der Möglichkeit von Selbstformung mit der oben behandelten philosophischen Ignoranz ihr gegenüber zusammen. Die fehlende Differenzierung zwischen Selbstformung und Lebensführung ist allerdings nicht allein den Kritikern anzulasten. Die Lebenskunstautoren selbst gehen zu ungenau mit diesem Unterschied um. Während Foucault die Charakteristik der Selbstformung gar nicht erst genügend aus dem breit angelegten Konzept der Selbstsorge

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herausschält, erkennt Schmid die Eigenart der Selbstformung zwar, arbeitet den Unterschied zur Lebensführung jedoch nie systematisch heraus und ebnet ihn immer wieder terminologisch ein.5 Zum Teil beziehen sich die Leugner der Selbstformung sogar ausdrücklich auf einzelne Selbstformungspraktiken oder -ziele. So zum Beispiel Dieter Henrich, wenn er über die Lebensfreude schreibt: Diese Eigenschaft könne man nicht „als einen Gewinn verstehen, welcher der Übung in einer Kunst verdankt wird.“ Lebensfreude „kann nur spontan aufkommen.“ Zwar gesteht er zu, dass man „sie sogar sich zu bewahren oder wiederzugewinnen suchen“ kann, doch nur, um sogleich wieder einzuschränken: „dies alles aber allein dadurch, daß man sich von dem fernhält, was ihr Aufwachsen hindern muß. Einem planenden Zugriff und der bewußten Gestaltung in der Lebensführung ist sie entzogen“ (Henrich 2007: 361). Offensichtlich hält Henrich diese Aussage für dermaßen selbsterklärend, dass er sich kaum zu einer Begründung verpflichtet sieht. Er scheint zu meinen, dass Lebensfreude nicht gestaltungsfähig sei, weil sie eine sich auf „das Ganze des Lebens“ beziehende Gestimmtheit ist. Doch erstens ist sie dies oftmals nicht, sie kann sich auch lediglich auf eine Etappe des Lebens beziehen oder sich aus der Lebenssituation in ihr speisen. Aber vor allem ist zweitens auch dann, wenn sie sich aufs Ganze bezieht, nicht zu erkennen, warum sie sich einem formenden Zugriff grundsätzlich verweigern sollte. Denn Lebensfreude ist maßgeblich abhängig von Einstellungen, und die lassen sich selbstredend gezielt verändern. Genau das tun Menschen, die beispielsweise versuchen, eine positive Haltung gegenüber ihrer Lebenssituation zu entwickeln, oder, wie man umgangssprachlich sagt: zufrieden zu sein mit dem, was sie haben. Daher kann man eine Stellungnahme wie die von Henrich nur als Ausdruck der Unwissenheit bezüglich menschlicher Handlungskompetenzen erstaunt zur Kenntnis nehmen.

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So spricht Schmid einerseits von der „Gestaltung des Lebens und des Selbst“ (z.B. ebd.: 72, 87), ersetzt sie aber andererseits durch Formulierungen, die nur die Lebensgestaltung beinhalten, obwohl an diesen Stellen offensichtlich auch oder nur die Selbstgestaltung gemeint ist (vgl. z.B. ebd.: 92). Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Rede von der „Gestaltung des Lebens und des Selbst“ eine tautologische Formulierung ist, die ohne Bedeutungsverlust gekürzt werden kann. Diese terminologische Ungenauigkeit ist der Klarsicht in Bezug auf Selbstformung abträglich.

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Wie verkehrt die radikale Verneinung der Selbstformungsmöglichkeit ist, wird auch daran erkennbar, dass sie in Widersprüche führt, sobald die Autoren eine positive Alternative zur Lebenskunst bzw. Selbstformung zu formulieren versuchen. Dies lässt sich z.B. bei Kersting beobachten. Denn er rügt nicht nur den vermeintlich überspannten Gestaltungswillen der Lebenskunst, sondern empfiehlt auch einen alternativen Weg. Anstelle „verkrampfte(r) Selbstmächtigkeit“ befürwortet er Gelassenheit, also das richtige Maß an Passivität, um mit den unvermeidlichen Wechselfällen des Lebens zurechtzukommen (Kersting 2007: 37). „Selbstbestimmung muß daher aller aggressiven Formierungsgewalt abschwören und lernen, sich anzupassen, anzuschmiegen an die Verhältnisse, sich von den Umständen bestimmen zu lassen.“ (Ebd.: 79) Kersting übersieht, dass dieses sich-Anpassen, diese aktive Heteronomie ein Können ist, eine Fähigkeit, die gelernt werden muss, sofern sie einem nicht in die Wiege gelegt wurde. Und dafür ist genau das notwendig, was er vehement in Frage stellt: Selbstformung. Das heißt, auch mit seinem Gegenvorschlag, mit dem er das realistischere Verständnis menschlichen Daseins für sich in Anspruch nimmt und sich mithin anthropologisch überlegen wähnt, bleibt er auf Selbstformung angewiesen, deren Möglichkeit er fortwährend negiert (vgl. auch Thomä 2003: 142-191). Einmal mehr zeigt sich, dass, sofern es um ein gutes menschliches Leben geht, theoretisch und praktisch an Selbstformung kein Weg vorbeiführt.

K RITISIEREN Selbstformung wird nicht nur ignoriert und für unmöglich erachtet. Teilweise erfährt sie durchaus Beachtung und wird für eine bedeutsame soziale Realität gehalten. Als solche stößt sie auf die dritte Negativstrategie: ihre Ablehnung in praktischer Hinsicht. Hierbei wird sie nicht als eine unrealistische Idee verworfen, sondern als eine schädliche Praxis kritisiert. Zwei zentrale Kritikpunkte beleuchte ich im Folgenden kurz: erstens die Kritik am sozialen Druck zur Selbstformung, zweitens die Kritik an der Überforderung des Menschen.

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a) Die Kritik am sozialen Druck findet sich zum Beispiel in den Arbeiten des Soziologen Ulrich Bröckling.6 Er arbeitet an einer „Soziologie der Sozial- und Selbsttechnologien“ (Bröckling 2007: 12f.) und widmet sich dazu seit geraumer Zeit der Erforschung von Phänomenen, die im Bereich der Selbstformung liegen, wie des Empowerments, der Kreativitätssteigerung etc. Nach Bröckling handelt es sich jedoch bei solchen Selbstformungsaktivitäten nicht um ein autonomes Handeln, sondern um „normative Anforderungen“ und „Rollenangebote“, die einen „gesellschaftlichen Sog“ auslösen und ein „Kraftfeld“ entstehen lassen (ebd.: 7). Sog, Druck, Zwang – das Streben nach Selbstformung beschreibt er nur in Kategorien der Unfreiheit. Eine Aktivität der Subjekte erscheint nur in Gestalt der „Verfahren, mit denen sie ihre eigenen Bewegungen auf den Sog einstellen“ (ebd.: 8), also lediglich als Reaktion und Anpassung. Bröcklings Untersuchungen sind nicht nur Gesellschaftsanalyse, sondern eine scharfe Gesellschaftskritik. Er geht explizit von einem „Unbehagen“ aus (ebd.: 17) und scheut sich nicht vor polemischen Formulierungen. Für ihn ist die gegenwärtige Selbst-Kultur eine „totale Mobilmachung“ (ebd.: 222) und als solche kein isoliertes Phänomen: „Die individuelle Mobilmachung erfolgt vielmehr im Zeichen einer umfassenden Ökonomisierung aller sozialen Beziehungen – einschließlich der zu sich selbst“ (ebd.: 243). Der sich selbst formende Mensch ist ein „unternehmerisches Selbst“. „Die Anrufungen des unternehmerischen Selbst sind totalitär.“ (Ebd.: 283) Was ich oben als eine autonome Arbeit an sich selbst beschrieben habe, erscheint hier also nur noch als unfreie Reaktion auf sozialen Druck. Was in der Auseinandersetzung mit den ersten beiden Negativstrategien als eine für das menschliche Leben wertvolle menschliche Praxis erkennbar wurde, erscheint hier als Zwang und als Instrument der Hegemonie des Ökonomischen. Für manche Forderungen an Selbstverbesserung und für manchen Umgang mit Selbstformungsprojekten ist diese Analyse sicherlich zutreffend. Und eine bissige Kritik daran kann ein hilfreicher Mahnruf sein, um sich die Gefahren eines sozialen Drucks zur Selbstformung zu vergegenwärtigen. Aber die Grundsätzlichkeit, mit der Bröckling

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Interessanterweise ist die Kritik an der Selbstformung vor allem das Geschäft von SoziologInnen, während sich die Unmöglicherklärung vor allem bei PhilosophInnen findet.

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seine Kritik vorbringt, ist nicht berechtigt. Die partielle Verbindung mancher Selbstformungsziele mit ökonomischen Interessen rechtfertigt kein generelles Misstrauen gegenüber dem Ansinnen der Selbstverbesserung. Dass es einen gesellschaftlichen Druck zu manchen Arten der Selbstformung gibt, heißt nicht, dass jede Selbstformung nur auf solchen Druck hin zustande kommt. Aus der Analogie mancher Selbstformungsziele (wie der der Kreativitätssteigerung) mit ökonomischen Interessen ist nicht abzuleiten, dass Selbstformungsprojekte grundsätzlich durch ökonomische Zwänge gelenkt werden. Bröckling kommt zu seinen Schlussfolgerungen keineswegs durch eine empirische Untersuchung der tatsächlichen Motive heutiger Selbstformungsakteure, sondern durch eine Analyse einiger programmatischer Texte.7 So stülpt er einer menschlichen Aktivitätsform, die ein breites Spektrum an Zielen, Mitteln und Motiven aufweist, eine einseitige gesellschaftskritische Interpretation über und verkennt das Moment der Autonomie.8 Eine Art Autonomie tritt bei Bröckling allenfalls als Negation auf, als Verweigerung des Selbstoptimierungsstrebens, als „Indifferenz“, als „Spiele der Nutzlosigkeit“, als „Nichttun“, als „permanente Absetzbewegung“, als der Versuch „anders anders zu sein“ (ebd.: 286). Damit verfällt Bröckling demselben Widerspruch, wie wir ihn bei manchen Verleugnern der Selbstformung kennen gelernt haben: Denn auch solche Haltungen und Praktiken sind oder verlangen eine gewisse Selbstformung. Vor allem aber wird gar nicht verständlich, inwiefern die Verweigerung des Selbstformungsstrebens eine Alternative zur Fremdbestimmung sein kann, wie sie also eine autonome Praxis sein soll. Neinsagen ist noch keine Freiheit. Bröckling hat keinen positiven Begriff von Autonomie. Dieses Manko unterhöhlt die kritische Kraft seiner Analyse. Er kritisiert vehement, aber der Maßstab seiner Kritik bleibt gestaltlos. Bröckling weiß das selbst und bezeichnet seine Kritik

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So ist für ihn die Tatsache, dass einigen US-amerikanischen Kreativitätsforschern zufolge die Kreativitätssteigerung dem wirtschaftlichen Fortschritt und der militärischen Vormachtstellung dient, Beleg für den Verdacht, dass das Streben nach schöpferischen Fähigkeiten per se von ökonomischen Interessen geleitet ist (vgl. ebd.: 162-165).

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Somit ist diese Kritik gewissermaßen eine Übergangsform zwischen dem Dementieren und dem Kritisieren, da ich Selbstformung als eine autonome Praxis definiert habe.

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als eine „Kritik ohne festen Standort“ (ebd.: 44). Was ein wenig kokett klingt und vielleicht auch den Eindruck von Unabhängigkeit erwecken soll, macht tatsächlich die Brüchigkeit seines Ansatzes deutlich: Bröckling liefert eine stark normative Kritik ohne normatives Fundament. Paradoxerweise würde ein positiver Begriff von Autonomie die Kritik kaum stärken, sondern ihre Fragwürdigkeit nur deutlicher werden lassen. Denn würde Bröckling Autonomie positiv skizzieren, wäre noch weniger nachvollziehbar, warum nicht auch ein Selbstverbesserungsstreben derart autonom strukturiert sein können soll. Wie also ist Autonomie in Bezug auf Selbstformung zu verstehen? Zunächst sind drei Mindestanforderungen zu stellen, die jedes Handeln erfüllen muss, um als autonomes Handeln klassifiziert werden zu können: Urheberschaft, Freiwilligkeit und Informiertheit. Das heißt erstens, die Selbstformung betreibende Person ist die Urheberin dieser Aktivität. Sie formt sich selbst. Es ist kein Prozess, der sich an ihr vollzieht. Zweitens erfolgt das Selbstformungshandeln nicht unter Zwang, sondern freiwillig. Dazu gehören auch Selbstveränderungsprozesse, zu der die Person durch externe Faktoren gedrängt wird, die aber dennoch nicht unfreiwillig erfolgen. Zu denken ist hier an solche Selbstformung, die eine Person zwar bejaht, zu deren Realisierung sie von sich aus aber nicht genügend Motivation gehabt hätte. Drittens besteht die gemeinte Autonomie darin, dass die sich selbst formende Person über ein Mindestmaß an Information verfügt. Sie weiß, was sie tut. Um von Autonomie sprechen zu können, sind zwar keine profunden Einsichten in die eigene Persönlichkeit und kein umfassendes Wissen über die gewählten Wege der Selbstformung notwendig, aber die Person muss eine angemessene Vorstellung von Art und Zweck der an sich selbst vollzogenen Handlungen haben. Diese Autonomie ist immer die Autonomie eines Individuums, aber sie sollte nicht individualistisch missverstanden werden. Die autonom sich selbst formende Person ist selbstverständlich immer schon sozial konstituiert, wenn sie mit der Selbstformung beginnt. Ebenso sind die Ideen und Praktiken der Selbstformung in den meisten Fällen keine individuellen Erfindungen, sondern kulturell vorgegeben. Die Überzeugung, dass man Selbstformung betreiben sollte, in welche Richtung sie führen soll, das Angebot an Methoden, die damit zu verfolgenden Ideale, all das ist abhängig von kulturell geprägten Deutungsmustern und sozialen Verhältnissen. Auch wer sich von den vor-

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herrschenden Maßstäben zu befreien versucht, bleibt auf diese Maßstäbe bezogen. Sogar die Bestimmung dessen, was ein gelungenes Können, eine ausgebildete oder nicht ausgebildete Fähigkeit überhaupt ist, also die Standards des Gelingens sind sozial definiert. Dennoch können wir uns dazu frei verhalten. Wir können vorhandene Überzeugungen und Haltungen überprüfen und ablehnen oder uns aneignen und sind so zu einem selbstbestimmten Handeln fähig. Wir können uns dafür entscheiden, an uns selbst zu arbeiten, dabei bestimmte Ziele zu verfolgen, andere zu vernachlässigen und bestimmte Methoden zu praktizieren. Urheberschaft, Freiwilligkeit und ein Mindestmaß an Informiertheit sind notwendige Elemente von Autonomie, aber Autonomie in einem starken Sinn erschöpft sich nicht darin. Dass eine Handlung freiwillig vollzogen wird, heißt nicht, dass die Person diese Handlung wirklich will. Was ist damit gemeint? Wir kennen die Erfahrung, dass wir zwar etwas freiwillig und wissentlich tun, hinterher aber bemerken, dass wir es eigentlich nicht wollten, dass es zwar unser handlungsleitender Wunsch war, er aber nicht unseren langfristigen Interessen, Zielen und Werten entsprach. Die handlungsleitenden Wünsche, die diesen höherrangigen Wünschen entsprechen, nenne ich die wirklichen Wünsche. Es sind Wünsche, die von der Person bei näherer Betrachtung bejaht werden, mit denen sie sich identifiziert (vgl. Frankfurt 1997). Solchen tiefen Wünschen im Handeln zu folgen, stellt ein höheres Maß an Autonomie oder Freiheit dar. Versteht man die langfristigen, tiefen, persönlichkeitskonstitutiven Wünsche einer Person als ihren Selbstentwurf, das heißt als das normative Konzept der eigenen Persönlichkeit und des eigenen Lebens, ist das Handeln mit starker Autonomie mit der Verwirklichung des eigenen Selbstentwurfs identisch, ist also in einem nicht-trivialen Sinne Selbstverwirklichung. Bemerkenswert ist nun, dass das selbstformerische Handeln nicht nur wie jedes Handeln auf diese Weise autonom sein kann, sondern eine besondere Tendenz zu dieser stärkeren Form von Autonomie hat. Und das liegt in ihrer spezifischen Handlungsstruktur begründet. Selbstformung erfordert ein mehr oder weniger langfristiges Engagement. Sie zeichnet sich durch wiederholte Übung aus. Dadurch wird die handelnde Person immer wieder mit ihren handlungsleitenden Wünschen konfrontiert. Angesichts der Anstrengung, die mit Selbstformung verbunden ist, ist die Person gewissermaßen gezwungen, diese Anstrengung vor sich selbst zu rechtfertigen und die handlungs-

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leitenden Wünsche zu reflektieren. Zudem ist Selbstformung nicht ohne ein erhöhtes Maß an Selbstaufmerksamkeit möglich. Auch dieser intensivierte Blick auf sich selbst trägt dazu bei, dass Selbstformung eher von starker Autonomie geprägt ist. Damit kein Missverständnis entsteht: Die starke Autonomie ist nicht zwingend bei jedem Selbstformungshandeln gegeben. Es ist nicht unmöglich, Selbstformung – zumindest zeitweise – unbedacht zu betreiben. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen im starken Sinne autonom handeln, ist bei Selbstformung aufgrund ihrer spezifischen Handlungsstruktur wesentlich höher. Die Kritik an der Unfreiheit des Strebens nach Selbstveränderung ist nicht nur falsch, weil einseitig, sondern sie geht komplett an dem Spezifikum von Selbstformung vorbei, insofern sie das außergewöhnliche Autonomiepotential der Selbstformung übersieht. Mit dem erhöhten Autonomiepotential haben wir auch einen markanten Unterschied zu technischen Selbstverbesserungsmethoden entdeckt. Von Interesse ist dieser Unterschied vor allem in Bezug auf das Neuro-Enhancement, weil hier dieselben Ziele wie bei Selbstformung, aber mit anderen Mitteln verfolgt werden. Die Verbesserung mentaler Eigenschaften durch Neuro-Enhancer funktioniert schnell,9 ist anstrengungslos möglich und erfordert keine mentale Aktivität. Die Entscheidungen mögen freiwillig sein, aber die andersartige Handlungsstruktur vereinfacht enorm die Verwirklichung von Wünschen, die aus unüberlegten Einfällen, kurzfristiger Unzufriedenheit, sozialem Druck oder schnelllebigen Moden entstehen. Die inhärente Neigung zur starken Autonomie findet sich beim Neuro-Enhancement nicht. Gerade dasjenige, was zunächst als Nachteil von Selbstformung erscheinen mag – die Langsamkeit, die erforderliche Aktivität, die Anstrengung – entpuppt sich im Hinblick auf Autonomie als Vorteil. b) Die zweite Kritik richtet sich gegen eine permanente Überforderung durch Selbstformung. Das Streben nach Selbstformung ist für viele AutorInnen Teil und Radikalisierung der modernen Tendenz zur Individualisierung und zur Schaffung einer eigenen Identität. In einer Gesellschaft, in der traditionelle soziale Bindungen und Sicherheiten wegfallen, wird von uns nicht nur die Führung des eigenen Lebens verlangt, sondern auch die Führung und Formung des Selbst. Wie

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Ich blende hier das Problem aus, dass die heute verfügbaren Medikamente, die als Neuro-Enhancer genutzt werden, von zweifelhafter Wirksamkeit sind (vgl. DAK 2009: 46-49; Repantis et al. 2009).

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Ulrich Beck formuliert: „In der individualisierten Gesellschaft muß der einzelne entsprechend bei Strafe seiner permanenten Benachteiligung lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebensverlauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“ (Beck 1996: 217, Hervorheb. R.K.) Und nach Alain Ehrenberg sieht sich das moderne Individuum insbesondere der Anforderung gegenüber gestellt, mentale Eigenschaften zu entwickeln: „Gestern verlangten die sozialen Regeln Konformismen im Denken, wenn nicht Automatismen im Verhalten; heute fordern sie Initiative und mentale Fähigkeiten.“ (Ehrenberg 2004: 9) Das Streben nach Selbstformung ist – zumindest potentiell – unabschließbar. Für jede Fähigkeit ist eine weitere Steigerung denkbar, und weitere Eigenschaften können zum Ziel von Verbesserungsmaßnahmen erkoren werden. Eine Verbesserung eigener mentaler Eigenschaften anzustreben bedeutet, dass der aktuelle Zustand von der jeweiligen Person nicht als optimal beurteilt wird. Selbstformung ist also stets mit einer zumindest partiellen Selbstkritik verbunden. Diese Unabschließbarkeit von Selbstformung und die kritische Selbstbeurteilung können ein Gefühl dauerhaften Ungenügens erzeugen, das als Belastung empfunden wird. Diese Belastung stößt auf Kritik. Nach Ehrenberg führt die Situation permanenten Ungenügens zur Depression, die für ihn die Krankheit der Moderne ist: Die Depression ist die Krankheit „eines Individuums, das nur es selbst sein will und diesem Anspruch nie gerecht wird, als liefe es beständig hinter dem eigenen Schatten her“ (Ehrenberg 2004: 265). Die Depression ist eine „Krankheit der Unzulänglichkeit“ (ebd.), „eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl der Minderwertigkeit vorherrscht“ (ebd.: 4).10 Auch Bröckling kritisiert diese negativen emotionalen Folgen. Mit Blick auf die Arbeit an „Eigenschaften wie Aktivität und Flexibilität“ bemerkt er, dass sie nur „Fluchtpunkte“ markieren, „an denen man sich ausrichten, die man aber, weil es sich um per se unabschließbare Anforderungen handelt, niemals erreichen kann.“ (Bröckling 2007: 167) Deshalb ruft auch ihm zufolge die Verfolgung dieser Selbst-

10 Ehrenberg versteht seine Untersuchung ausdrücklich als „Sozialkritik“, als „präskriptiv“; sie „zielt weniger auf eine wissenschaftliche Wahrheit als darauf, einen Beitrag zur öffentlichen Diskussion zu liefern“ (Ehrenberg 2004: 13).

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formungsziele „ein Gefühl permanenten Ungenügens“ hervor (ebd.). Dieser Vorwurf richtet sich letztlich gegen alle Selbstformungsprojekte. „Gemessen an ihrem Anspruch ist die Produktion unternehmerischer Individuen wie andere Subjektivierungsprogramme auch zum Scheitern verurteilt. Weil die Anforderungen unabschließbar sind, bleibt alles Bemühen ungenügend“ (ebd.: 283). Auch diese Kritik ist keineswegs völlig abwegig. Aber sie pauschalisiert ungerechtfertigterweise, und in ihrer groben Pauschalisierung verkennt sie das spezifische Potential der Selbstformung. Erstens ist das Selbstformungsstreben nicht notwendigerweise unersättlich. Wer sich beispielsweise vornimmt, eine gegenüber dem Jetztzustand verbesserte Konzentrationsfähigkeit zu erringen, kann dieses Ziel erreichen und ist nicht gezwungen, sich nach Erreichen dieses Ziels weiter gehende Ziele zu setzen. Zweitens ist Selbstformung nicht identisch mit unrealistischer Zielverfolgung. Wer sich selbst formen will, ist nicht zu der Annahme genötigt, dass ihm seine Persönlichkeit in Gänze gewissermaßen als Modelliermasse zur Verfügung steht. Selbstformung ist stets eine Umgestaltung des Gewordenen. Ohne Auseinandersetzung mit dem, wie wir geworden sind, ist keine Selbstformung möglich. Und diese Gewordenheit werden wir nie vollständig beseitigen können. Wir können nicht bei Null anfangen. Ausdrücke wie „Selbsterschaffung“ und „Selbsterzeugung“ klingen nach einer utopischen creatio ex nihilo und sind deshalb unangemessen. Innerhalb gewisser Grenzen ist die willentliche Veränderung persönlicher Eigenschaften jedoch möglich (vgl. Roth 2007: 303-313). Drittens: Ein kluger Umgang mit Selbstformungsvorhaben berücksichtigt diese Grenzen der Selbstformbarkeit. Zwar ist eine Überforderung durch das Streben nach Selbstformung nicht ausgeschlossen, doch dass es einen unklugen Umgang mit Selbstformungszielen gibt, heißt nicht, dass alle Selbstformung unklug ist. Vor allem ist die Gegenstrategie gegen die Überforderung wiederum auf Selbstformung angewiesen. Denn wie kann man sich der Überforderung entziehen? Indem man eine andere Haltung entwickelt und verankert, eine Haltung der Selbstakzeptanz, eine Selbstliebe, ein Annehmen seiner selbst. Der Verzicht auf eine immer weiter gehende Perfektionierung, die Anerkennung des Gegebenen ist keineswegs mit der gedanklichen Einsicht und einem einfachen Entschluss getan. Vielmehr muss eine affektiv verankerte Einstellung zu sich selbst verändert werden. Auch

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die Selbstakzeptanz ist eine Eigenschaft, die es zu entwickeln gilt. Das heißt, es bedarf einer bestimmten Art der Selbstformung. Viertens schließlich gibt es zwar durchaus weit gehende Selbstformungsziele, die trotz großen Engagements in einem Leben nie vollständig erreicht werden können. Doch das muss keinesfalls von Nachteil sein. Vielmehr kann gerade die Orientierung an langfristigen und unabschließbaren Selbstformungsprojekten dem menschlichen Leben Sinn verleihen. Diesen Punkt möchte ich etwas ausführlicher untersuchen, weil er uns eine weitere hervorragende Leistung der Selbstformung vor Augen führt. Das tue ich anhand des philosophisch etablierten Begriffs des Lebensplans. Mit „Lebensplan“ ist nicht ein starres und detailliertes Programm gemeint, das ungeachtet der realen Lebensverhältnisse durchzusetzen versucht wird, sondern eine hierarchische und zeitliche Ordnung unserer langfristigen Ziele und Wünsche. Lebenspläne können sich auf unterschiedliche Tätigkeits- und Erfahrungsfelder erstrecken, auf berufliche Vorhaben, zum Beispiel Komponist zu werden, oder auf private, zum Beispiel eine große Familie zu gründen. Nicht wenige AutorInnen sind der Auffassung, dass eine wesentliche Bedingung für menschliches Glück in der Verfolgung solcher Lebenspläne besteht. John Rawls stellt fest: Man kann „einen Menschen als glücklich ansehen, wenn er in der (mehr oder weniger) erfolgreichen Ausführung eines vernünftigen Lebensplanes begriffen ist“ (Rawls 1979: 447; vgl. Sturma 1997: 296-306; Steinfath 1998: 7679; Seel 1999: 88-96; Fenner 2007: 80-90). Lebenspläne dienen einem glücklichen Leben in zweierlei Hinsicht: • Sie ermöglichen uns, die Gesamtheit des Lebens in den Blick zu

nehmen. Mit der Orientierung an einem Lebensplan zerfällt unser Leben nicht in einzelne Episoden, sondern hat eine kohärente Gestalt. Damit gewinnt unser Leben für uns an Sinn – „Sinn“ in seiner sprachlich-semantischen Bedeutung, insofern unser Leben sich unter der Ägide eines Lebensplans in eine narrative Form bringen lässt (vgl. Fenner 2007: 82f.). Mit einem einheitlichen Lebensplan werden wir uns selbst transparenter. • Sinn gewinnt das Leben durch einen Lebensplan noch in einer zweiten Weise: Sinn im evaluativ-normativen Sinne. Ein in diesem

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Sinne sinnvolles Leben ist nicht nur erzählbar, sondern richtet sich an dem aus, was wir für gut halten (vgl. ebd.: 83). Lebenspläne können sich nicht nur auf bestimmte Tätigkeiten, Erfahrungen und Besitztümer richten, sondern ebenso auf die eigene Persönlichkeit. Lebenspläne können also auch Selbstformung einschließen. Parallel zu „Lebensplänen“ kann man geradezu von „Selbstplänen“ oder besser: „Selbstformungsprojekten“ sprechen. Selbstformung hat immer den Charakter mehr oder weniger langfristiger Projekte, da ihre Ziele nicht sofort zu erreichen sind. Auch wenn Lebenspläne und Selbstformungsprojekte in enger Beziehung zueinander stehen und sich im Lebensvollzug und im Bewusstsein der jeweiligen Personen schwer trennen lassen, auch wenn Selbstformungsprojekte als Teil von umfassenden Lebensplänen verstanden werden können, unterscheide ich sie hier, um den spezifischen Beitrag der Selbstformung für das Glück herausarbeiten zu können. Die Vorzüge von Lebensplänen, die ich oben aufgelistet habe, kommen den Selbstformungsprojekten ebenso zu: Sie bringen das Leben in eine einheitliche, erzählbare Form und machen es für die betreffende Person wertvoll. Wenn also der Entwurf und die Verfolgung von Lebensplänen dazu beitragen, dass ein Leben ein glückliches Leben ist, dann gilt dies auch für Selbstformung. Doch in einem entscheidenden Punkt sind Selbstformungsprojekte den Lebensplänen überlegen: Sie sind weniger störanfällig. Lebenspläne können wir zwar aufstellen und zu realisieren versuchen, aber ihr Gelingen ist von vielen Faktoren abhängig, die nicht in unserer Hand liegen. Unsere Pläne für unsere Lebensgestaltung können zerstört werden durch die biologischen und sozialen Widerfahrnisse des Lebens, durch all das, was nicht in unserer Macht steht: Krankheiten, Unfälle, Arbeitslosigkeit, unvorhergesehene Begegnungen, die Eigendynamik menschlicher Beziehungen. Niemand weiß, was sich in seinem Leben zutragen wird, wann ihn welche Krankheit aus der Bahn wirft, wem er begegnet, wie stark diese Begegnungen ihn beeinflussen, seinen Lebensweg abändern, seine Pläne durchkreuzen. Nicht nur auf dem Wege zum Ziel, sondern auch dann, wenn wir sie vorerst erreicht haben, sind Lebenspläne zerstörbar: Unsere Position als leitender Manager, von der wir Jahre geträumt haben, können wir nach kurzer Zeit wieder verlieren, wir können entlassen oder arbeitsunfähig werden. Und eine so kurze Dienstzeit lässt sich kaum als erfolgreiche Zielerreichung verstehen, denn zur Erfüllung von Lebenszielen dieser Art

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gehört es, dass sie nicht in einem Augenblick, sondern in einer mehr oder weniger langen Zeitspanne besteht. Selbstformungsprojekte hingegen sind deutlich weniger dafür anfällig, von unvorhersehbaren Ereignissen zunichte gemacht zu werden. Wir können trotz Arbeitslosigkeit und Krankheit an den Persönlichkeitsmerkmalen arbeiten, die uns wichtig sind. Der Prozess der Selbstformung ist zwar nicht völlig unempfindlich gegenüber äußeren Ereignissen, er kann aber sehr viel unabhängiger davon fortgeführt werden. Und wenn ein Selbstformungsprojekt zum (partiellen) Erfolg geführt hat, ist dieser Erfolg, wenn nicht unverlierbar, so doch viel schwerer zu verlieren. Allenfalls außerordentlich erschütternde Schicksalsschläge oder persönlichkeitsverändernde Hirnschädigungen können den Verlust des einmal Erreichten bewirken (vgl. Krämer 1992: 184). Wenn wir zentrale Lebensziele nicht erreichen oder das Erreichte rasch wieder aus der Hand geben müssen, kann dies die Entwertung von Lebensabschnitten oder des ganzen Lebens bedeuten. Der Beitrag von Lebensplänen zum menschlichen Glück ist also äußerst fragil, während die diesbezügliche Leistung von Selbstformungsprojekten verlässlicher ist. Selbstformungsprojekte sind nicht nur weniger angreifbar als Lebenspläne, sie können auch einen Beitrag zu deren Realisierbarkeit und Realisierung leisten. Denn Lebenspläne scheitern nicht nur an der Unverfügbarkeit des Lebensgeschehens, sondern auch an den Unzulänglichkeiten der Person selbst, an den Grenzen, die durch ihre eigenen Eigenschaften gesetzt sind. Wer Spitzenpolitiker werden will, aber entscheidungsschwach und langsam im Urteilen ist, wird sein Ziel kaum erreichen können. Richtet sich aber sein Selbstformungsprojekt auf diese Persönlichkeitsmerkmale, kann er zumindest die internen Bedingungen zur Erreichung seines Ziels entwickeln. Die These, dass Selbstformungsprojekte einen spezifischen Beitrag zum Glück leisten können, kann einige Missverständnisse provozieren, von denen ich zwei sogleich ausräumen möchte. Erstens ist zu betonen, dass dieser Blick auf die Funktion von Selbstformung keinen (Wieder)Einstieg in eine naiv-rationalistische Glückskonzeption darstellt, nach der das Leben in Gänze autonom und vernünftig planbar ist. Vielmehr bedeutet er die Entdeckung, dass innerhalb des zerbrechlichen, fragmentarischen Lebensverlaufs Chancen der selbstgesteuerten Kontinuität liegen. Selbstformungsprojekte ermöglichen, bei

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aller Widerspenstigkeit des Lebensverlaufs, „den Kurs eines nach eigener Vorstellung gelebten Lebens zu halten“ (Seel 1999: 120). Zweitens: Das Konzept von Kontinuität und Ordnung durch Selbstformung mag sich in manchen Ohren nach einer Neuauflage traditioneller ethischer Vorstellungen anhören, nach einem Revival stoischer Vorstellungen von Autarkie und Ataraxie. Doch der Eindruck täuscht, denn mit der Unterstreichung der Ordnungsfunktion von Selbstformungsprojekten geht keine Festlegung einher, welche Selbstformungsziele der Einzelne verfolgen soll. Nicht bestimmte Selbstformungsziele schaffen diese wenig störanfällige Lebensordnung, sondern dass überhaupt an Selbstformungsprojekten gearbeitet wird. Statt innerer Ruhe, Gleichmut und seelischer Unempfindlichkeit können ebenso gut Spontaneität, Ausgelassenheit und Sensibilität für die Umwelt Aufgaben langfristig angelegter Selbstformungsprojekte sein. Gegenüber all dem ließe sich einwenden: Selbstformungsprojekte mögen diese positive Funktion haben, insofern sie auf Realisierung ausgerichtet sind und diese Realisierung im Horizont des Erreichbaren liegt. Doch nicht wenige Selbstformungsprojekte sind zu anspruchsvoll, können niemals vollständig erreicht werden und führen somit über kurz oder lang unweigerlich zu Frustration, Defiziterfahrung und Depression. Doch der Einwand verkennt immer noch die sinnstiftende Ordnungsfunktion von Selbstformungsprojekten. Nicht allein der tatsächliche Erfolg, sondern gerade auch die Ausrichtung auf diesen erhofften Erfolg stiftet in einem Leben Sinn. Eine – zumindest teilweise – Realisierung ist zwar wichtig, aber nicht sie allein. Aber, so lässt sich nochmals kritisch nachhaken, auch wenn die Ausrichtung auf den Selbstformungserfolg wesentlich ist, bleiben Sinn, Erfüllung, Glück aus, wenn dieser Erfolg sich nicht irgendwann einstellt. Und weit reichende Selbstformungsprojekte können die mit ihnen verbundenen Hoffnungen kaum je erfüllen. Tatsächlich sind weit reichende Selbstformungsprojekte tendenziell unabschließbar. Sie sind immer mehr oder weniger auf ein noch nicht vollständig erreichtes Ziel, auf ein noch nicht gänzlich erfülltes Ideal bezogen. Es bleibt ein Rest übrig, der noch zu bearbeiten ist, eine Zielvorstellung, die es zu verwirklichen oder zu vervollständigen gilt. Das Projekt bleibt auch Projekt. Das ist der berechtigte Punkt der oben genannten Kritik. Ist das eine Schwäche von Selbstformungsprojekten? Von manchen Selbstformungsakteuren wird dies sicherlich so empfunden. Doch auch diese permanente Zukunftsorientierung hat ihr Gutes hinsichtlich

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des Glücks. Jedenfalls dann, wenn man mit verschiedenen AutorInnen die Überzeugung teilt, dass zu einem glücklichen Leben nicht so sehr gehört, dass alle unsere (wichtigen) Wünsche in Erfüllung gehen, sondern auch das Nach-Erfüllung-Streben. Neben der Erfüllung gehört das Verlangen nach Erfüllung dazu, das nur allmähliche Wachsen, das „Auf-dem-Wege-sein-zu-etwas“, wie Martin Seel sagt (Seel 1999: 100). Auch Dieter Birnbacher hebt diesen immanenten Glückswert des Strebens, der Hoffnung, der zuversichtlichen Erwartung hervor: „Eine wesentliche Bedingung des Glücks scheint gerade darin zu bestehen, dass zumindest einige Wünsche unerfüllt bleiben, zumindest noch nicht erfüllt sind – gewissermaßen als utopischer Horizont seliger Sehnsucht.“ (Birnbacher 2005: 12; vgl. Krämer 1998: 122) Selbstverständlich ist ein Ideal, sagen wir: höchster Kreativität, zusammen mit tief verankerter seelischer Ausgeglichenheit sowie Intelligenz, Verantwortungsgefühl und einer Reihe weiterer gemeinhin als wertvoll anerkannter Eigenschaften, wie es von Bröckling angegriffen wird, kaum in Gänze erreichbar. Warum das jedoch Grund sein sollte, sich nicht an diesem Ideal zu orientieren und in realistischer Selbsteinschätzung seinen Teil zur Annäherung daran zu leisten, ist nicht erkennbar. Die Kritik, wie sie Bröckling und andere vorbringen, ist letztlich billig, weil sie lediglich das Charakteristikum eines jeden weit reichenden Persönlichkeitsideals als gewichtige kritische Einsicht präsentiert. Denn solche Ideale haben es an sich, dass sie erstens nicht der Wirklichkeit entsprechen und zweitens diese Wirklichkeit als unvollkommen erscheinen lassen. Die Kritik unterscheidet sich daher kaum vom altbekannten Tadel des spießbürgerlichen Skeptikers an jeder Form von Idealismus, nur dass sie nun in emanzipatorischem Gewande erscheint, weil scheinbar um das Wohl des Einzelnen bemüht, der sich nicht mit Selbstvorwürfen plagen soll. Die Kritik richtet sich nicht gegen einzelne unrealistische und daher änderungswürdige Zielvorstellungen, sondern generell gegen den Entwurfscharakter jedes Persönlichkeitsideals, seine Zukunftsausrichtung, seinen weit ausgreifenden Radius, sein Noch-nicht-Realität-Sein. Dieser eigentümliche Zug von Selbstformungsprojekten ist es aber gerade, der nicht nur Unmut über die gegebene Wirklichkeit erzeugt, sondern in dieser Wirklichkeit auch Glück zu stiften vermag, indem er als sinnvoll erlebte Herausforderungen schafft, Orientierung bewirkt und Hoffnung erzeugt.

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F AZIT Wir haben einen dreifach negativen Umgang mit Selbstformung unterschieden und seine Argumentationen nachverfolgt. Dabei hat sich gezeigt, dass und inwiefern diese drei Negativstrategien falsch sind. Eine menschliche Handlungsweise, die für verschiedene philosophische Fragen von erheblicher Bedeutung ist, wird innerhalb der Philosophie weit gehend ignoriert und unzureichend erforscht. Eine Praxis mit starker lebensweltlicher Verankerung wird für unmöglich erklärt. Ein praktisches Selbstverhältnis, das einen erheblichen Gewinn für ein gutes menschliches Leben verspricht, wird von mehreren Seiten aus massiv unter Beschuss genommen. Das Ignorieren ist unberechtigt, das Dementieren abwegig, die Kritik unzutreffend. Zudem übersehen die genannten Autoren mehrfach, dass die von ihnen favorisierten Gegenund Alternativstrategien selbst auf Selbstformung hinauslaufen. Die drei Negativstrategien schließen sich nur scheinbar aus, tatsächlich sind sie aufeinander bezogen. Die falsche Dementierung und die einseitige Kritik zehren von der Ignorierung. Denn die fehlende philosophische Aufarbeitung des Phänomens trägt dazu bei, dass es auf verschiedene Weise verkannt wird. Die Dementierung leistet wiederum der Ignorierung Vorschub, denn was vermeintlich nicht existiert, braucht man auch nicht zu untersuchen. Und die Kritik ist zum Teil auch eine Form der Dementierung, insofern sie die Autonomie von Selbstformung bestreitet. Wir haben nicht nur die drei Umgangsweisen unterschieden, analysiert und kritisiert, sondern bei der Kritik an ihnen wurde jeweils auch etwas von den Spezifika der Selbstformung erkennbar – und das nicht nur in deskriptiver, sondern auch in ethischer Hinsicht. Das heißt, es ist nicht nur deutlich geworden, was Selbstformung von anderen praktischen Selbstverhältnissen unterscheidet und wo sie eine Rolle spielt, sondern vor allem auch, welcher Wert ihr für ein gelingendes Leben zukommt. Abschließend noch ein Wort zur Überzeugungskraft einer Argumentation, die sich auf die Idee eines guten, gelingenden oder glücklichen Lebens bezieht. Sie könnte auf Unverständnis stoßen. Gilt es für viele doch als ausgemacht, dass wir darüber in der Moderne keine allgemeingültigen Aussagen mehr machen können. Zu unterschiedlich seien die Vorstellungen vom guten Leben, als dass sich damit überzeugend normativ argumentieren lasse. Bei aller berechtigten Skepsis ge-

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genüber vorschnellen Urteilen über dasjenige, was ein gutes Leben ausmacht, sollte man nicht in das gegenteilige Extrem übermäßiger glückstheoretischer Bescheidenheit verfallen. Auch wenn eine fundierte philosophische Theorie des guten Lebens vor großen Schwierigkeiten steht, gibt es doch eine Reihe menschlicher Eigenschaften, Erfahrungen und Selbstverhältnisse, die – zumindest im so genannten westlichen Kulturkreis – weithin Anerkennung genießen. Dazu gehören Autonomie, Selbstverwirklichung und biographische Kohärenz. Diese Elemente sind so grundlegend, dass sie ein enorm weites Feld tatsächlicher und möglicher Lebensentwürfe abdecken. Mit der argumentativen Orientierung an solchen weithin geteilten Überzeugungen ist daher schon viel für die ethische Bewertung gewonnen, auch wenn sie nicht auf eine im strengen Sinne universale Anerkennung rechnen kann. Dass Selbstformung solchen grundlegenden Elementen eines guten Lebens dient, ist daher eine gewichtige Einsicht, insbesondere auch für den Vergleich mit technischen Optimierungsstrategien (vgl. Kipke 2010; Kipke 2011).

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Der Mensch – ein dilettantisches Subjekt Ein inkompetenztheoretischer Blick auf das vermeintlich eigene Leben R OLAND R EICHENBACH Am liebsten wäre ich ich selber, aber das ist natürlich unmöglich HANS MAGNUS ENZENBERGER Alles arme Schweine, die Menschen. So verzweifelt. Da denken sie, sie könnten über ihr Leben bestimmen. Das kann doch keiner SIBYLLE BERG Ja, mach nur einen Plan sei nur ein grosses Licht und mach dann noch ’nen zweiten Plan gehen tun sie beide nicht BERTOLD BRECHT

E RSTE

KURZE

V ORBEMERKUNGEN

Eine instinktgeleitete Lebensweise ist dem Menschen insgesamt verwehrt. Er befindet sich in Raum- und Zeitverhältnissen, in Selbst- und Sozialverhältnissen und es wird von ihm erwartet, dass er sich zu diesen Verhältnissen selbst noch verhält. Dies muss aber nicht wirklich von ihm „erwartet“ (im Sinne von „verlangt“) werden, da es ihm so-

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wieso sehr schwer fällt, sich nicht zu diesen Verhältnissen in ein jeweils mehr oder weniger reflektiertes Verhältnis zu setzen (vgl. Kugler/Kurt 2007). Jedenfalls ist ein solches Unterfangen als dauerhafter Lebensstil wenn nicht unmöglich, so doch sehr unwahrscheinlich. Die fehlende Instinktleitung kann aber – zumindest zeitweilig und in bedeutsamen Entscheidungssituationen – nur „dilettantisch“ oder „stümperhaft“ kompensiert werden. Den immer deutlicher werdenden und aufdringlicher erscheinenden Optimierungszumutungen unserer Zeit – die auch als Dilettantismusüberwindungsaufforderungen gedeutet werden können – gilt es, die nicht-optimierbaren Seiten des Menschen und Grenzen des menschlichen Optimierungswillens entgegenzuhalten, wohl hoffend, in diesen Grenzen gerade die Grundlage der Freiheitspraxis „dilettantischer“ Subjekte sehen zu können. Der folgende Beitrag sucht den Dilettantismus als Remedium gegen das zeitgenössische Optimierungsfieber herauszustellen. Nach noch weiteren Vorbemerkungen folgen drei Teile, wobei im ersten Teil die peinliche Figur des Dilettanten dargestellt wird, im zweiten Teil Erläuterungen zur psychologischen Struktur des Dilettantismus folgen und im dritten auf die moralische Situation des dilettantischen Menschen eingegangen wird. Der Beitrag ließe sich etwa so zusammenfassen: Es soll gezeigt werden, dass der dilettantische Mensch zwar eine peinliche und insofern ärgerliche Figur ist, die in ihren vielfältigen Weltbezügen und -interessen sozusagen konstitutiv auf Versagen angelegt und moralisch besonders in der modernen Situation permanent überfordert ist. Aber in diesem Unvermögen, also dem nicht-souveränen und amateurhaften Leben, scheint sich die Möglichkeit der Freiheit gerade besonders auszudrücken, was für demokratische Lebens- und Regierungsformen von Bedeutung sein könnte.

N OCH

EINIGE – ETWAS ZU LANGE – V ORBEMERKUNGEN Zu wissen, wer man ist, bedeutet, zu wissen, was man will. Nicht zu wissen, was man will und was man nicht will, heißt, nicht zu wissen, wer man ist. Das Wissen über sich selbst fällt also im Grunde zusammen – das ist die hier mit Charles Taylor (1996) vertretene Behauptung – mit dem Wissen über meine Bindungen an bestimmte Werte und meine Aversion gegen bestimmte Unwerte. Identitäts-

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diffusion meint letztlich, diese Bindungen nicht mehr zu kennen oder zu fühlen. „Fühlen“ heißt nach Agnes Heller, in etwas involviert sein, und dieses „etwas“ kann „alles sein, also z.B.: ein anderer Mensch, eine Idee, ich selbst, ein Vorgang, ein Problem, eine Situation, ein anderes Gefühl. Dass ich in etwas involviert bin, heißt bei weitem nicht, dass dieses ‚etwas‘ ein konkret-bestimmtes Objekt ist.“ (Heller 1980: 19) Manchmal legt sich aber ein „Nebel“ über die Dinge, die einem wichtig waren (und vielleicht noch wichtig sind oder sein sollten), so dass sie nicht mehr erkannt werden können. Nur: Woher kommt denn dieser Nebel? Wann und wie ist er aufgetaucht? Wir wissen es meist nicht. Wie eine unschöne Stimmung, die unvermittelt entsteht und wir wissen nicht wodurch und woraus. In diesem Nebel mag das Leben seicht und fad und vielleicht sogar sinnlos erscheinen. Dasselbe könnte aber auch zutreffen für ein Leben im gnadenlosen Licht, wo jeder Schatten und Nebel fehlt. Manchmal weiß man zwar noch, was wichtig ist, aber nur noch theoretisch und hülsenhaft, dann mag man seine Sicht gar nicht mehr leidenschaftlich verteidigen, es stört dann sogar kaum noch, wenn diese Werte oder Güter, von denen wir meinten, sie seien die unsrigen, von anderen angegriffen werden. Das vergleichgültigte Leben strahlt eine gewisse Ruhe aus, es ist zumindest demokratietauglich, denn es ist anti-fundamentalistisch, so fällt das vielfältige Koexistieren leicht, und man fragt sich, wie es überhaupt möglich war, sich je einmal über dieses oder jenes aufgeregt zu haben. Stellen Indifferenz und die allgemeine wechselseitige Nicht-Beachtung möglicherweise die höchste Form aller realistischen Formen von massengesellschaftlichem Zusammenleben dar? Doch was ist der Preis für die Leidenschaftslosigkeit? Und vor allem: wie werden wir wieder leidenschaftlich, wenn wir es nicht mehr sind? Das ist wahrscheinlich wieder eine von diesen Fragen, die nicht wirklich zu beantworten sind. Wenn die Bindungskraft fehlt, bilden die vermeintlich wichtigen Dinge zwar immer noch einen Horizont, vor welchem man sich interpretiert und vor welchem man die kleinen und größeren Alltagsdinge erledigt und manchmal – allerdings selten – auch wirklich handelt und sich nicht immer nur bloß verhält, so wie meistens. Wenn die Leidenschaften ruhen und wir das Leben vor allem „absolvieren“, die Zeit ohne großes Aufheben hinter uns bringen, lernen wir die Lauheit

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vielleicht sogar noch als Tugend schätzen, so suggeriert es zumindest Garnier (2001). Doch wahrscheinlich packt einen im allzu lauen Leben das plötzliche Unbehagen, die sogenannte „German Angst“, und der ganze Alltagsnihilismus wird zu einem riesigen, so sinnlosen wie wortlosen, so vernunftlosen wie grundlosen Vakuum, und es braucht jetzt sehr viel stoische Ruhe (das ist die Variante für die LiebhaberInnen des Klassisch-Antiken) oder sehr viel Vergleichgültigungsanstrengung (für die AmateurInnen der Postmoderne) oder ganz dringend autogenes Training und progressive Muskelrelaxation (für die vielen AnhängerInnen der Psychotechnik), damit man jetzt nicht ausflippt, implo- oder explodiert. Aber ohne diese energetische Voraussetzung, ohne dieses Empörungspotential, können Identitätsfragen weder interessieren noch beunruhigen. Deshalb ist es vielleicht sinnvoll und funktional, das eigene Leben zumindest zeitweilig als eine einzige Verfehlung zu begreifen; vielleicht gilt: je später im Einzelleben dieses Gefühl (möglich wird), umso schlimmer. Deshalb nun folgende pädagogische Empfehlung: Früh und wohldosiert die Empörungskapazität in Bezug auf die wichtigen Dinge kultivieren, damit sowohl die häufigen „Sklerosen der Selbstverständigungshermeneutik“ (eine Begrifflichkeit von Arnold Schäfer) als auch die hysterischen, permanent-nervösen Selbstfraglichkeitsbereitschaften vermieden werden. Das Zuviel an Selbstfraglichkeit nennen wir am besten „Neurose“, das Zuwenig „Charakterneurose“. Will heißen: Menschen, die sich nicht auch Rätsel sein können, sind uns – wenn wir ehrlich sind – doch einfach unerträglich, und ihre durchsichtige Selbstverständlichkeit raubt einem noch die letzte Hoffnung und Sehnsucht auf ein besseres Leben. Von diesen Zeitgenossen muss man sich fernhalten, denn sie nehmen einem noch das Beste, was man hat. Mit Baudrillard (1995) sei hier an aggressive JoggerInnen erinnert (liebe JoggerInnen: das ist nur eine Metapher), mit denen man an der Ampel steht und die dabei unablässig, selbstbewusst und als ob sie eine Mission hätten, vor Ort hüpfen, selbst dann noch, wenn sie einen nach dem Weg fragen. Diese Hüpferei hat etwas Alibihaftes, sie strahlt den Versuch einer absoluten Existenzberechtigung aus. Solche JoggerInnen können sich ihre Missetaten sogar noch selber verzeihen, sie brauchen einen nicht, sie würden auch allein durchs All joggen. Kurz: was hier gesagt werden wollte, Joggen erscheint – wie andere Aktivitäten auch – mitunter als Ausdruck des Versuches, eine bodenlose Verzweiflung zu kaschieren.

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Doch Menschen, die sich – umgekehrt – immer und immer nur Rätsel sind, ganz unabhängig davon, ob sie dieses Sich-Rätselsein selbstverliebt oder auf alarmierte Weise pflegen, vergehen sich im Grunde ebenfalls an humanen Bildungsidealen, so scheint es wenigstens: Diese Selbstbeschäftigung, die nie erwachsen werden will, dieser Selbstbeobachtungszwang und Gefühlssolipsismus, der nichts außer sich erkennen und anerkennen will, diese luxuriöse und parasitäre Form der Selbst- und Seelsorgerei. Natürlich: Vielleicht kommen diese Extremtypen realiter nur selten vor, vielleicht findet das normale und gewöhnliche Leben wieder einmal zwischen zwei mehr oder weniger extremen Polen statt, vielleicht sollte man sich wieder einmal auf den sogenannten goldenen Mittelweg zubewegen, und vielleicht ist dies ja auch das implizite Ziel aller Erziehung und Bildung: das eigene Leben als Kompromiss zu begreifen. Und für diese Sicht gibt es gute, aber auch unattraktive Gründe, wie so oft in der Erziehung. Doch dann wieder: Warum sollten die guten Gründe auch attraktiv sein, oder wenigstens schwer verständlich oder doch von Schönheit? Das gewöhnliche Leben, eine halbwegs normale Lebenstauglichkeit, ein bisschen das tun, was zu tun ist, ein bisschen Glück auch erfahren, und das Leben mit seinen Aufs und Abs akzeptieren lernen etc., solches ist den TheoretikerInnen der Bildung schon immer zu wenig gewesen; jedenfalls hat der moderne Bildungsdiskurs immer mehr versprochen. Ein eigenes Leben zu führen, kann modern sowohl als ein Versprechen als auch eine Aufgabe und eine Zumutung begriffen werden. Ich möchte mit den folgenden, nun etwas systematischeren Überlegungen und mit Bezug auf die Metapher des Dilettantismus und einer Affinität zur Kompetenzkritik dafür plädieren, dass dieses Bildungsversprechen, nämlich ein eigenes Leben zu führen und sich in einem starken Sinne Ich-Identität zu erarbeiten, sowohl als notwendig als auch als nicht einlösbar zu verstehen ist. Das könnte damit begründet werden, dass Dinge tun zu müssen, die wir nicht beherrschen und nie beherrschen werden, und dennoch so zu tun oder tun zu müssen, als ob sie beherrschbar wären und wir sie zunehmend beherrschen würden, wahrscheinlich zur Grundstruktur des modernen Lebens gehört. Mehr noch: es zeigt sich m.E. sogar, dass die Selbsttäuschung gerade über solche Fähigkeiten, die wir entwickelt haben müssten, eine ganz besondere Fähigkeit darstellt, auf die wir sozusagen nicht verzichten können.

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Da das Universum der Inkompetenz prinzipiell viel größer ist als jenes der Kompetenz, um es mit Marquard (1981) zu sagen, da also auch der Einzelmensch Zeit seines Lebens – und mag er sich noch so viele Kompetenzen auf verschiedensten Gebieten aneignen – zur Inkompetenz verdammt ist, scheint es gerechtfertigt, dieses Faktum auch in der bildungs-, identitäts- und subjekttheoretischen Diskussion zu berücksichtigen und es nicht nur als Störvariable bzw. das zu Überwindende anzusehen. In Anlehnung an eine Anthropologie, die mit Helmuth Plessner oder Eugen Fink, aber auch Hannah Arendt illustriert werden könnte, und mit welcher das Spezifikum des Menschen weniger mit einem bestimmten, herausragenden Können verbunden wird, als vielmehr mit einer spezifischen Lebenssituation, die letztlich darin besteht, die eigene Existenzform als problematisch zu erkennen – zwar auch ein Können, welches sich aber negativ definiert, nämlich als Erkennen des eigenen Unvermögens –, soll hier versucht werden, die Seite der Inkompetenz des Menschen für das Subjekt stark zu machen. Kurz: es gibt Schwächen des starken Subjekts (die überzeugend analysiert und kritisiert worden sind) –, es gilt aber auch, die Stärken des schwachen Subjekts (d.h. eines schwachen Subjektbegriffs) ins Auge zu fassen. Damit soll behauptet werden, dass die prinzipielle Inkompetenz des Menschen und – damit verbunden – sein Dilettantismus, als Ermöglichungsbedingung von Freiheit fungieren bzw. dass – zumindest in einem zu erläuternden Sinne – nur Dilettanten frei sein können. Daher benötigen Dilettanten gegen Übergriffe des Optimierungswillens einen gewissen Schutz… Synonyme für „Dilettant“ sind beispielsweise Anfänger, Nichtskönner, Unkundiger, Nichtfachmann, Laie, aber auch Pfuscher, Ignorant, Besserwisser, Banause etc., das heißt in der Regel durchaus keine schmeichelhaften Worte.1 Unter Dilettantismus kann – allgemein

Der Beitrag ist im Folgenden auf der Grundlage meiner Habilitationsschrift Demokratisches Selbst und Dilettantisches Subjekt (Reichenbach 2001) geschrieben.

1

Zur Herkunft des Wortes schreibt Best: „Der Ausdruck ‚Dilettant‘ wurde bezeichnenderweise um 1770, d.h. zur Zeit beginnender Trivialisierung

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und neutral formuliert – die Betätigung in einem Feld verstanden werden, welche die betreffende Person nicht beherrscht, in welchem sie keine Souveränität besitzt. Sich als Dilettant betätigen, heißt also, sich versuchen. Dilettantismus scheint allerdings nie rein oder wirklich unschuldig zu sein, zeigt nicht nur bloßes Unvermögen an, sondern wird auch mit einem moralisierenden Unterton beurteilt. Dilettantismus deutet auf eine Schwäche hin, die unter anderem darin besteht, sich in einem Feld mit einer Attitüde zu betätigen, welche ein entsprechendes Können vorgibt oder vorzugeben scheint, wobei aber offensichtlich wird, dass die gezeigte Performanz eher Inkompetenz als Kompetenz illustriert. Dies scheint dem dilettantischen Akteur mitunter nicht ganz klar oder aber gleichgültig zu sein. Dilettantismus ist so nicht immer frei von Peinlichkeit. Wenn es also geht, wendet man sich vom entlarvten Dilettanten ab. Man hat ein ungutes Gefühl in seiner Nähe: er ist bisweilen nicht nur eine lächerliche Figur, sondern auch ein Ärgernis.2 Eine historische Bemerkung: Es gab Epochen, in denen die Frage nach dem Wesen des Dilettantismus mehr interessierte als heute. Der Begriff des Dilettantismus wird im 18. und 19. Jahrhundert vor allem mit kunsttheoretischen Diskursen in Verbindung gebracht. 1799 hatten beispielsweise Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller (zusammen mit Heinrich Meyer) das relativ kurz nach seiner Geburt gestorbene „Dilettantismusprojekt“ ins Leben gerufen, mit welchem geplant war, den „Dilettantismus als Phänomen des zeitgenössischen deutschen Kunstlebens in all seinen Auswüchsen zu analysieren und darzustellen.“ (Vaget 1971: 9)3

und Subjektivierung der Literatur aus dem Italienischen entlehnt, wo er ‚Sich Ergötzender‘, also Liebhaber, bedeutet“ (Best 1985: 68). 2

Ärger ist eine häufige Konsequenz von Schamgefühlen bzw. eine Form ihrer Bewältigung (vgl. Lewis 1992: 149-153). Man schämt sich für den Dilettanten bzw. dafür, in seiner Nähe zu sein; man schämt sich für das Faktum der Unbildung, die er entblößt. Der Dilettant stellt die Unbildung dar, ohne sie scheinbar recht zu erkennen, man entlarvt ihn als oberflächlichen Plagiator, der mit „zusammengeplünderten Phrasen und Formeln“ um sich wirft (vgl. Best 1985: 69).

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Es ging darum, dem Dilettantismus und der Pfuscherei, „den abwegigen und falschen Tendenzen der zeitgenössischen Kunst, endlich den Prozess“ zu machen und der Kunst „in ihrem wahren, d.h. klassizistischen Ver-

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Goethe selber, gerade weil er sich in so vielen Gebieten betätigte, galt schon Zeit seines Lebens – aber auch danach – im positiven wie im negativen Sinn als Dilettant (vgl. z.B. Kassner 1910: 51); er selber bezeichnete z.B. seine Versuche in der Farbenlehre als Dilettantismus (Vaget 1971: 11). Selbst als Dichter wurde ihm Dilettantismus vorgeworfen, und noch in neuerer Zeit urteilte z.B. Thomas S. Eliot: „he dabbled both in philosophy and poetry and made no great success of either“ (zit. nach Vaget 1971: 11). Goethe, der mit dem Dilettantismusprojekt gegen Dilettantismus ankämpfen wollte, ihn mitunter geradezu hasste, verkörpert also gleichzeitig selber das vielseitige, unprofessionelle Liebhabertum, das heißt den Dilettantismus.4 Damit ist nicht gemeint, dass Vielseitigkeit immer Dilettantismus bedeute, sie ist aber eine notwendige Voraussetzung (vgl. Saulnier 1940: 21).5 Das Interesse Schillers und Goethes am Dilettantismus war, wie Vaget (1971) in seiner Dissertation aufzeigt, nicht nur kulturpolemischer Natur, sondern – zumindest über eine gewisse Zeit – auch vornehmlich pädagogisch motiviert.6

ständnis [...] endgültigen Durchbruch und den Sieg“ zu sichern (ebd.). Allerdings wurde das Projekt angesichts erschlagender Komplexität bald aufgegeben. 4

So behauptete Emerson: „This lawgiver of art is not an artist (...) He is the type of culture, the amateur of all arts and sciences and events, artistic, but not artist, spiritual, but not spiritualist“ (zit. nach Vaget a.a.O.: 12).

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Dass aber auch ein Goethe scheinbar als Dilettant gegolten hat, ist tröstlich für alle, die sich zwar nicht mit Goethe vergleichen können, aber doch auf so vielen Gebieten DilettantInnen sind. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Angedeutet sei mit dem kurzen Blick auf Goethe vielmehr, dass Dilettantismuskritik und die Einsicht in den eigenen Dilettantismus durchaus zusammengehen können. Das ist weniger selbstverständlich als es zunächst anmutet.

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Der Dilettant sollte eher als Schüler denn als Pfuscher erkannt und anerkannt werden bzw. – als praktischer Kunstliebhaber – in der Mitte zwischen Schüler und Meister, d.h. keineswegs nur Gegenstand der Kritik oder Ironie sein (Vaget 1971: 95). Die pädagogische Orientierung am Kunstschüler bestand in der Abwehr falscher und irreführender Ansprüche und in der „Hinführung zu einem bereits vorhandenen, bewährten Bestand künstlerischer Errungenschaften“ (ebd.: 93). Einem „eingefleischten Dilettantismus“ sollte allerdings entgegengewirkt werden, um, „was [...]

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(„Wahre“) Meisterschaft ist selten, Dilettantismus aber verbreitet. Es ist schon deswegen prekär, das Phänomen nur negativ zu konnotieren. Dilettantismus zu verdammen, trägt denn nicht nur elitäre, sondern auch undemokratische Züge. Das wird mit dem sozialpsychologischen und kulturkritischen Essay von Rudolf Kassner, Der Dilettantismus, 1910 erschienen, ebenfalls recht deutlich. Dilettantismus wird hier als Décadance verstanden, diese als das Beiprodukt allgemeiner Demokratisierung. „Dass wir heute alles dessen, was nur von ferne an Hierarchie, Rangordnung erinnert, entbehren, eine solche nicht mehr verstehen wollen, ja verabscheuen, ist eine der Ursachen, warum es bei uns so viele innere, gleichsam unerkannte Dilettanten gibt.“ (Kassner 1910: 13)7 Doch die demokratische Lebensform fordert, Dilettantismus zu billigen. Bei Kassner heißt es: „Es gibt Epochen, die reich sind an vielen Dingen und Werten, und diesen folgen dann solche, in denen aller Reichtum und alle Vielfältigkeit und aller Wert im Menschen zurückgeblieben ist und dort, möchte man sagen, stocken. – Diese sind die demokratischen, jene die aristokratischen.“ (Ebd.: 16)

Es fehle der Demokratie an äußeren, bestimmten und überzeitlichen Werten. Der Dilettant vermöge so nicht „über der Zeit zu stehen. Der Dilettant ist immer in der Zeit“ (ebd.: 17), er habe übertriebene Vorstellungen vom „Zeitgemäßen“, an welchem er alles messe, bleibe deswegen ohne überzeitliche Maßstäbe. Damit ist sein Problem schließlich, dass er zu viele Maßstäbe hat; der Dilettant ist alles und nichts: „Anarchist, Aristokrat, Übermensch, Theosoph, Monist, Anhänger der Entwicklungslehre, Erotiker, Naturist, Asket, Reisender, Photograph, Theatergeher, Melancholiker aus Beruf, Renaissancemensch, Mystiker, Automobilist, Flugtechniker und vieles noch. In Wirklichkeit ist er vielleicht nichts oder nur ein Kritiker oder nur ein Mensch in Not oder nur ein Mensch, der eben die Not

perfektibel ist, zu überwachen und zu fördern, damit ein angeborenes Talent nicht verwildere und ihm erlaubt werde, die Mängel und Gefahren seiner eigenen Ausbildung der Gesellschaft aufzubürden“ (ebd.: 215 f.). 7

Die innere Verbindung zwischen Dilettantismus und dem Egalitätsprinzip sei weiter unter – dort aber unter positiven Vorzeichen – fokussiert.

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gar nicht kennt. – Oder er ist einer der vielen Menschen, die sich ‚entwickeln‘.“ (Ebd.: 17 f.)

Dieses Alles-sein-Wollen oder wenigstens Möglichst-viel-sein-Wollen, das den Dilettanten am Ende „zum Nichts“ mache, wird von Kassner quasi als Ausdruck und Resultat eines gierigen demokratischen Individualismus gesehen. „Der Dilettantismus bildet sich mit Vorliebe am Individualismus [...]. Der Individualist neigt zum Dilettanten“ (ebd.: 20). Oft seien die beiden kaum zu unterscheiden und „junge Leute sind meist solche Dilettanten“ (ebd.: 21). Doch die Überwindung der Jugendzeit schütze nicht vor Dilettantismus, den es auch bei „Leuten >gibt@, die nicht alt werden und reifen können“ (ebd.: 21). Entscheidend für die Charakterisierung des Dilettanten ist an dieser Stelle, dass er keinen Einblick in tiefe Wahrheiten hat, weil er keinen Begriff für das Ganze besitzt, mehr noch, dass der Dilettant der „die höchsten Zwecke leugnende Mensch“ ist (ebd.: 24). Dilettanten hielten sich für sensibel, seien es aber natürlich gerade nicht, vielmehr sei ihre Sensibilität „gleichsam isoliert, pathologisch“ und könne darum nicht dem Ganzen dienen (ebd.: 26 f.). Dem Dilettanten fehle das Ganze und dessen Zusammenhang in sich, weshalb er auch stets die Ziele und Absichten außer sich verfehle (vgl. ebd.: 27). Dilettanten seien zwar nicht etwa „einfach oberflächliche Menschen“, sondern vielmehr „untief, ohne Spürsinn, ohne Instinkt, ohne Witterung für die Gefahr, schlechte Schützen, möchte man sagen; sie haben eigentlich überhaupt keine Oberfläche, sondern sind zerstreut, verwischt, unreif, ziellos“ (ebd.: 58). Dilettanten schafften zwar, würden aber nicht wirken, überschätzten zudem immer, was sie tun (vgl. ebd.: 59). Doch diese Form des (alten) Dilettantismus erlebe unter modernen Bedingungen zunehmend ungünstige Veränderungen. „Wer ist überhaupt heute noch Dilettant im populären Sinne: Wer ist nicht so klug, eine Sache lieber nicht zu machen, bevor er sie schlecht macht?“, fragt Kassner (ebd.: 64, kursiv R.R.). Surrogate moderner „Dilettantismen“ eines „maschinellen, wissenschaftlichen, arbeitenden, lebensgierigen und doch nicht ganz im Leben heimischen Geschlechts“ (ebd.: 65) verhindern gleichsam den blumigen Dilettantismus des alten Liebhabertums. Zum Beispiel verbiege und verrenke die Maschine „den Menschen, und der Mensch wird durch sie nur ein Glied, ein Arm, fünf Finger, zwei Augen, ein Nacken, aber er wird kein Dilettant“ (ebd.: 63). Die „wahren Dilettanten“ sind jene, die „das Echte nicht

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mehr zu erkennen wissen“ (ebd.: 65). Der moderne Dilettant sei aber vielmehr formlos und herzlos, unterliege einem „Mangel an Charakter“; er könne – im Unterschied zum alten, exzentrischen Dilettanten – nicht mehr aus sich heraus, deshalb müsse er jede Größe leugnen bzw. versuche, sie durch Intimität zu ersetzen (ebd.: 67 f.).8

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PSYCHISCHEN S TRUKTUR DES DILETTANTISCHEN M ENSCHEN Eine psychologisch differenzierte Analyse des Dilettantismus stammt von Claude Saulnier (1940). Erläuterungswert sind einige der von Saulnier untersuchten Aspekte des Phänomens auch, weil sie eine historisch interessante Illustration der psychischen Verfasstheit des modernen Subjekts und seiner potentiellen Problematik für den Bildungsgedanken bieten, insbesondere hinsichtlich der internen Pluralität und der Diskontinuität der persönlichen Erfahrungen. Wie bei Kassner (1910) oder Faguet (1911) wird der Dilettantismus auch von Saulnier nur negativ bewertet. Klarer als Kassner schält Saulnier zunächst heraus, dass der Dilettantismus vor allem in vorangeschrittenen bzw. ausdifferenzierten Gesellschaften, in denen die dringendsten (Über-) Lebensnotwendigkeiten – wenigstens für sehr weite Bevölkerungsanteile – sichergestellt sind, zum allgemeinen Phänomen wird (ebd.: 14). Bedeutsam ist Saulniers Prämisse, weil mit ihr klar wird, dass Dilettantismus wie jede andere soziale Praxis keineswegs allein das Produkt des Individuums ist (ebd.: 18).

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Diese letzten Charakterisierungen der Figur des Dilettanten, wiewohl 1910 niedergeschrieben, beinhalten auffällige Parallelen zu den Analysen eines von der Intimität tyrannisierten Individuums (Sennett 1986), welches unter den Bedingungen demokratischer Lebensformen zunehmend psychologisiert wird, sich dabei zunehmend isoliert und schließlich erkennen muss, dass es in der Tiefe seines Selbst keine Wahrheit finden kann. Die Bedingungen für diesen Dilettantismus wurden mit den soziologischen Modernediagnosen insbesondere bei Beck (1986) diskutiert. Im Folgenden gilt es die Kennzeichnungen des dilettantischen Subjekts – auch in psychologischer Hinsicht – zu systematisieren.

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Saulnier differenziert mehrere den Dilettantismus konstituierende Elemente, die nur in ihrem Zusammenspiel das Phänomen erhellen, im einzelnen aber durchaus nichts mit Dilettantismus zu tun haben müssen. Unter anderem: Multiplizität oder Polyvalenz, Diskontinuität (Polymorphismus und Polyfinalismus), Lust auf das Spektakuläre (Ästhetizismus), Spielcharakter, Egotismus. Diskontinuität (Polymorphismus und Polyfinalismus) Verbunden mit der Reichhaltigkeit der Ichformen charakterisieren zwei Formen von Diskontinuität den Dilettantismus: die psychische Struktur wird als polymorph und polyfinal beschrieben (ebd.: 22). Der Dilettant will sich nicht festlegen, d.h. er mag seinen „inneren Reichtum“ an Ichformen nicht durch das Setzen von Prioritäten reduzieren.9 Sich nicht festlegen heißt, potentiell alles besitzen.10 Diesen Weltbezug bringt Saulnier mit der Deutschen Romantik in Verbindung. Ein extremer Polyfinalismus, weil er konsequentes Handeln verhindert, entpuppt sich aber schließlich als Afinalismus (ebd.: 23): Alles anstreben heißt dann, nichts anstreben. Polymorphismus und Polyfinalismus sind aber, gerade weil sie von einem großen inneren Reichtum zeugen oder aber einen solchen versprechen, attraktiv. Der Höhepunkt der Vielfältigkeit ist im bewundernswerten Universalgenie verkörpert. Normalsterbliche aber macht die durch eine polymorphe und polyfinale psychische Struktur mitbedingte Diskontinuität des Tuns, Erlebens und Wünschens zu Dilettanten. Dies trifft natürlich umso mehr zu, je weniger die vielfältigen Ichformen „synthetisiert“ oder wenigstens verbunden werden können. Diskontinuität in diesem psychischen Sinn ist nicht das exklusive Problem des Multitalents, sondern das Problem aller Vielinteressierten und Neugierigen. Auch aus diesem Grund ist der schöne Gedanke, demzufolge es „auf eine möglichst vielseitige Berührung mit den Bildungsgehalten“ ankomme, „damit sich das Subjekt nach allen Seiten hin entfalten kann“ (Bollnow

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Mit Taylor (1996) könnte formuliert werden, er verweigert sich eine dominante Hypergutperspektive, wobei dieser Zug letztlich dem Hypergut des expressiven Lebens entspricht.

10 „Ne rien vouloir posséder réellement, se contenter de tous les possibles, et les posséder tous ensemble, en en possédant les apparences, c’est remplacer lacer l’attitude de conquête par l’attitude spectaculaire.“ (Ebd.)

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1959/1977: 121), – vor allem in Verbindung mit der Situation (Illusion oder Ideologie), die persönliche Zukunft sei für die unabhängige Gestaltung des eigenen Lebens offen – problematischer als vielleicht gemeinhin angenommen. Lust auf das Spektakuläre (Ästhetizismus) Neugier und Diskontinuität gehören zusammen, sie beziehen sich auf das Einzigartige, das – weil es einzigartig ist – (mehr oder weniger) spektakulär ist und Freude bereitet. Der Dilettant sucht in der Begegnung mit dem Spektakulären das Glücksgefühl; sein ästhetischer Hedonismus (ebd: 35) macht ihn für seine Zeitgenossen moralisch suspekt. Diese merken, dass er den raffinierten Genuss sucht, ohne sich aber dafür anzustrengen (ebd.: 37). Die „Leichtigkeit“, mit welcher er die Welt nimmt, kommt dem „Vagabundieren“ des dilettantischen Geistes entgegen (ebd.: 38); Anstrengung und ernste Arbeit zerstören den Unterhaltungswert des Lebens, welcher in der ästhetizistischen Begegnung mit dem Spektakulären gesucht wird. Das Leben soll Spektakel und Amüsement sein (ebd.: 39). Spielcharakter Der Dilettant, seine Zeit auf vielfältige Weise und in Umgehung großer Hindernisse vertreibend, ist ein Spieler. Er bindet sich an das Spektakuläre, ohne sich von Fragen beunruhigen zu lassen: ob es nützlich ist oder nicht, ob sein Unternehmen im Erfolg enden wird oder in einer Niederlage (ebd.). Er spielt mit sich selbst und mit den anderen. Er darf seinen Gefühlshaushalt, seine affektiven Bezüge nicht allzu ernst nehmen; das ist aber schwieriger als der spielerische Umgang mit dem Intellekt, mit Ideen und Plänen (ebd.: 40). Aus diesem Grund könne man den Dilettantismus mit einem „genossenen“ Skeptizismus in Verbindung bringen, mit einem „halben“ oder „falschen“ Skeptizismus (ebd.). Zur ordentlichen Skepsis fehlt dem Dilettanten ein gute Dosis Pessimismus. Während die Metaphysik oder der Mystizismus des Moralisten seinem realen Leben Sinn verleihen soll, vollzieht der Dilettant eine Trennung von seinem Leben, um es – nicht ohne Lust und nicht ohne Virtuosität – zu betrachten. Er spielt sein Leben, und er spielt es, im Unterschied zum Spiel des Kindes, mit Ironie, im Wissen, dass es bloß bestimmte Formen sind, die er ausfüllt

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und die auch anders sein könnten. Er spielt sein Spiel und versucht es zu genießen, und gleichzeitig will er ihm möglichst viel entnehmen; sein Spiel aber ist reflexiv, intellektuell, der Dilettant lehnt sich immer wieder zurück, betrachtet sich selbst im Spiel und liebt es, sich als Spieler zu analysieren (vgl. ebd.: 41). Saulniers Dilettantismusuntersuchung umfasst neben der Beschreibung der genannten Konstitutionselemente eine Vielfalt von Unterscheidungen zu Typen und Formen des Dilettantismus. Zum einen ist evident, dass die beschriebenen Elemente unterschiedliche Ausprägungen haben können (ebd.: 52), so kann – zwar recht ungenau – zwischen einem „normalen“ oder unauffälligen (dilettantisme primaire) und einem „krankhaften“ oder exzessiven Dilettantismus (dilettantisme morbide) unterschieden werden (ebd.: 52). Zum anderen drücken sich dominante Konstitutionselemente in „typischen“ Tätigkeiten oder Beschäftigungen aus; das Element der Multiplizität etwa im Sammler, d.h. im Liebhaber von Objekten, die gesammelt werden (ebd.: 53 ff.), das Element des Spektakulären etwa im Zuschauer (ebd.: 59 ff.), z.B. im Theaterliebhaber, das Element des Spontanen und des Virtuosen beispielsweise im Amateur-Essayist (ebd.: 61 ff.). Die höchste Form sieht Saulnier im ironisch-ästhetischen Habitus (ebd.: 63 f.) realisiert. Diese Ausgestaltungen können, wie erwähnt, unaufdringlich sein, aber auch pathologisch anmuten. Weiter unterscheidet Saulnier drei „Charaktere“ des Dilettantismus: den Handlungsdilettantismus bzw. aktiven Dilettantismus (dilettantisme actif), den Gefühlsdilettantismus (dilettantisme sentimental) und den intellektuellen Dilettantismus (dilettantisme intellectuel). Der Träumer oder Verliebte ist ein Prototyp des Gefühlsdilettanten (ebd.: 77). Er scheint von (s)einer Leidenschaft ganz in Anspruch genommen zu sein („un véritable passionné“). Doch der Schein trüge, vielmehr stehe seine Person etwa für den klassischen „Flirter“, den ästhetischen Liebhaber (ebd.: 78). Im Grunde praktiziere er bloß einen „emotiven Impressionismus“: „il aime les émotions pour leur variété et parce qu’il s’y contemple“ (ebd.:. 77), kurz: er ist primär an sich selbst interessiert. Seine Träumereien, die sich auf die Vergangenheit oder die Zukunft beziehen, kommen aber nicht ohne sentimentale Ironie aus, d.h. Melancholie (ebd.: 79). Er unterliegt der Sehnsucht nach Gefühlen, von denen er meint, einst ganz ergriffen gewesen zu sein oder von denen er ergriffen werden möchte.

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Im Unterschied zum Gefühlsdilettanten ist der aktive Dilettant „intellektueller“ und umtriebiger. Er muss ständig in Bewegung bleiben, er braucht Projekte, aber seine Impulsivität und sein Vielinteresse lassen ihn kaum eines zu Ende bringen, da er immer wieder schon ein neues anfängt. „Handeln“ ist ihm alles (ebd.: 80 f.), nicht zu handeln, eine Qual. Die typischste Form des Dilettantismus bleibe aber der intellektuelle, der sich unauffällig und längerfristig realisieren kann, u.a. weil sich Ideen bzw. Gedanken leichter vom Selbst trennen lassen als konkrete Handlungen oder Gefühle (ebd.: 81). Der intellektuelle Dilettant treibt den Polymorphismus und den Polyfinalismus auf die Spitze. Er besitzt die Ironie des Spielers und ist durchaus kein Melancholiker. Den Gipfel des Dilettantismus lokalisiert Saulnier im Zusammenspiel dieser drei Formen zum metaphysischen Dilettantismus (ebd.: 82), welchen er ohne Scheu mit Religion und vor allem mit der deutschen Romantik in Verbindung bringt, d.h. mit der Liebe zum Absoluten (ebd.: 81). Diese ist dem Autor zufolge die Quelle des Motivs, (möglichst) alles zu kennen, zu wissen und/oder zu besitzen. Dem Motiv entspricht die Idee eines befreiten, absoluten Ich, welches das Universum in sich birgt (ebd.: 104 f.). In der Idee eines Kontakts mit dem Absoluten bzw. des Aufgehens des Ich im Absoluten offenbare sich jener großartige Dilettantismus, der zu oberflächlichen (religiösen, mystischen, philosophischen) Synthesen des Unvereinbaren neige (ebd.: 176), der zu überwinden sucht, was – als „UrTeilung“ (Hölderlin 1795/1970: 840) von Sein und Bewusstsein – Denken überhaupt ermöglicht. Die große Vereinigung kann aber nur dilettantisch sein. Im Leben des modernen Menschen gibt es keine nicht-dilettantischen Vereinigungen: weder zwischen dem Absoluten und dem Relativen, noch zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen oder dem Universellen und dem Partikularen. Wer sich des Dilettantismus solcher Projekte bewusst ist, weiß auch, dass das Leben (höchstens) ein Kompromiss ist (vgl. Saulnier, ebd.: 381). Aus diesen Bemerkungen zur Psychologie des dilettantischen Subjekts, auch wenn sie sich vorwiegend auf eine Lektüre beziehen, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfasst worden ist, lassen sich einige Schlüsse ziehen, auch wenn weder beansprucht werden kann, dass das Phänomen des Dilettantismus in seiner Psychologie hier gründlich ausgeleuchtet worden sei, noch behauptet, dass eine in irgendeiner Weise ‚exakte‘ Psychologie ausgebreitet worden wäre.

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Aus heutiger Sicht können die psychischen Attribute des Dilettanten, die mit Saulnier hervorgehoben worden sind, kaum noch vorwiegend negativ bewertet werden, da sie zu einem großen Teil ins „Standardinventar“ der Selbstbeschreibung des (spät-)modernen Menschen gehören (!). Dieser erlebt sich ja als vielfältig und mitunter auch als fragmentiert (in Bezug auf seine sozialen Rollen, Wünsche, Bedürfnisse, Ideale, Moralen) und zur Diskontinuität verdammt. Er erfährt sich ebenfalls immer wieder als Spieler, dem es scheinbar an Authentizität und Ernsthaftigkeit mangelt bzw. an einem transsituational konsistenten Selbst, dieser psychologischen Fiktion, mit welcher die psychische Verfassung gerne – quasi „vormodern“ – gesehen wird, und er kann immer wieder auch praktisch gar nicht anders, als „ich-zentriert“ entscheiden und argumentieren. Das hat weniger mit Egozentrismus oder Amoralismus zu tun als vielmehr mit der Situation der moralischen Überdetermination, in welcher der Dilettant permanent oder regelmäßig steckt. Kurz: Er ist in entscheidenden Fragen dilettantisch, weil er sich versuchen muss, d.h. handeln muss, ohne Souveränität zu besitzen. Mit den psychischen Kennzeichnungen des Dilettanten wird aber auch einsichtig, dass jeder ernsthafte Anti-Dilettantismus heute in erhebliche Probleme gerät. Das Elitäre des Anti-Dilettantismus besteht primär darin, dass er im moralischen und ästhetischen Bereich, aber auch in Wahrheitsfragen, Einblick in eine objektive Vernunft beanspruchen muss: Kontingente kulturelle bzw. moralische Standardkriterien können einen dezidierten Anti-Dilettantismus nicht legitimieren; denn was hier und zu diesem Zeitpunkt als dilettantisch gilt, muss es dort und/oder zu einem anderen Zeitpunkt noch lange nicht sein. Und wer unter bestimmten Gesichtswinkeln als notorischer Dilettant gilt11, mag unter verändertem Gesichtspunkt als Genie gefeiert sein. Statt von bloßer Exzentrizität oder Perversion kann von Genie gesprochen werden, wenn „eine private Zwangsvorstellung eine Metapher hervorbringt, für welche wir Verwendung haben“, so Rorty (1991: 74). Das ist eine Frage der Kontingenz, der glücklichen oder unglücklichen Umstände. Ein dezidierter Anti-Dilettantismus beansprucht hingegen die Kenntnis des archimedischen Punkts, des übergreifenden Sprachspiels; damit aber erscheint er nicht nur elitär,

11 Bekannte Beispiele: Johann Wolfgang von Goethe, Michel de Montaigne, Ernest Renan, Anatol France, u.a. (vgl. Chaix 1930; Saulnier a.a.O.).

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sondern unter spätmodernen Bedingungen letztlich selber dilettantisch, nämlich als ein ironieloser Urteilspurismus, der einen privilegierten Zugang zum Absoluten behaupten muss, das nur noch als Fiktion interessieren kann. Antidilettantismus überlebt aus diesem Grund nur (noch) esoterisch, nämlich im mehr oder weniger geschlossenen kulturellen oder akademischen Kreis, dessen Mitglieder eine jeweils bestimmte Autorität der Person oder des Wortes und korrespondierende Exklusionspraktiken devot akzeptieren. Anti-Dilettantismus muss sich der Gültigkeit seiner Prinzipien sicher sein. Das kann er auf Dauer nur, wenn er sich den irritierenden Diskursen verschließt, in denen seine Kriterien als ungültig oder als gleichgültig gehandelt werden. Das Faktum der Pluralität der Menschen und ihres kulturellen Schaffens ist also nicht nur die Quelle von Nicht-Souveränität und, damit verbundenen, Dilettantismus, sondern auch der Grund dafür, dass sich Anti-Dilettantismus mit dem demokratischen Ethos, welches dem Faktum menschlicher Inkompetenz und Unverbesserlichkeit auf eine besondere Art begegnet, nicht verträgt. Zwischen Demokratie und Dilettantismus gibt es in der Tat intime Affinitäten.

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Gerade dort, wo die Idee eines autonomen und souveränen Subjekts etwas ‚taugen‘ sollte, nämlich in Situationen dilemmatischer moralischer Entscheidungen, kommt zum Ausdruck, dass unklar bleibt, was die kompetenztheoretisch gedachten Begriffe Autonomie und/oder Souveränität in ihrer Anwendung bedeuten sollen. Die Behauptung sei vertreten, dass Dilemmata – sofern sie solche sind – uns moralisch bzw. moralkognitiv – d.h. als moralisches Subjekt – einfach überfordern. Für die Situation des Dilemmas sind (subjektiv!) gleich schlechte bzw. gleich problematische Handlungsalternativen konstitutiv, d.h. moralische Rationalität und Argumentation hilft im Dilemma gerade nicht, eine der Alternativen insgesamt als wünschenswerter oder richtiger zu evaluieren. In der dilemmatischen Situation kann es deswegen keine Souveränität geben, aber auch keine Autonomie; autonomes Handeln (bzw. Entscheiden) würde sich an verallgemeinerungsfähigen Willensmaximen orientieren müssen, ohne dass aber ebenso verallgemeinerungsfähige Willensmaximen, die für die Alternative

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sprechen, mit den ersteren konfligieren. Kant hatte die Möglichkeit von Pflichtenkollisionen mit gutem Grund rigoros bestritten (1797/ 1990: 59 f., vgl. auch 1981; Höffe 1983), denn mit der Existenz von Pflichtenkollisionen wird der kategorische Imperativ in seiner Bedeutung limitiert und das moralische Subjekt gewissermaßen entthront. Während diskursive Verfahrensethiken das Problem der Pflichtenkollision umgehen, indem sie unermüdlich und in der Faktizität des Lebens reichlich hilflos auf die Prozedur verweisen, die am Schluss den Konsens gebären soll, stehen die Menschen im Berufs- und Privatleben sowie im öffentlichen Leben hundertfach in dilemmatischen Situationen und wissen, dass weder langes Reden noch langes Nachdenken um gültige Prinzipien, wiewohl beides unverzichtbar sein mag, am Schluss jene validen Gründe für die Wahl und gegen die Alternative liefern kann, die nötig wären, damit man sich in jener moralischen Sicherheit wägen kann, ohne welche die Begriffe Souveränität oder Autonomie sowieso fehl am Platz sind. Nun mag man argumentieren wollen, dass dilemmahafte Situationen, in denen die Souveränität des moralischen Subjekts verschwindet, nur exklusiven Charakter hätten, also nicht so häufig vorkommen würden. Dieser Einwand ist aus zwei Gründen nicht sehr überzeugend. Erstens ist das moralische Subjekt als Subjekt im engeren Sinne nur in Dilemma-Situationen gefordert, da es in nicht-dilemmatischen Situationen mehr oder weniger routiniert, quasi mit der moralischen Bodenhaftung von Konvention und Sitte, handeln kann; es weiß, was zu tun ist, weil es Mitglied einer bestimmten – u.U. noch so ‚offenen‘ – Lebensform und dem ihr zugehörigen Ethos ist. Autonomie und Souveränität ‚erübrigen‘ sich hier sozusagen als Konstitutionselemente. Zweitens, und das ist bedeutsamer, kann argumentiert werden, dass die Pflichtenkollision bzw. die moralische Überdetermination gerade die typische Situation der Moderne ist. Wilhelm Vossenkuhl (1997) redet von ihr als der „moralischen Normalsituation“: „Beinahe jede moralisch relevante Situation ist in dem Sinn normativ überdeterminiert, dass jede einzelne Person Verpflichtungen zu erfüllen hätte, die er oder sie nicht gleichzeitig erfüllen kann. Das individuelle Handeln ist in vielen Situationen durch zu viele einander konkurrierende Verpflichtungen überbeansprucht.“ (Ebd.: 73)

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Jeder Zeit- und Investitionsaufwand in einem Sektor des Lebens (z.B. Beruf) konkurriert mit allen anderen (z.B. Familienleben, politisches Engagement oder Pflege der Sozialkontakte) und aus diesen allen können moralische Imperative bzw. normative Ansprüche entwachsen, die zwar nicht ignoriert werden sollten, aber im einzelnen immer wieder verletzt werden müssen. „Was immer aufgrund begrenzter Zeit, Aufmerksamkeit oder Kraft an Verpflichtungen unerfüllt bleibt, rächt sich auf Dauer in unterschiedlichen Weisen des Versagens, sei es als familiäres Unglück, als beruflicher Misserfolg oder als politische und soziale Desintegration.“ (Ebd.) Entscheidend ist für die moderne Situation, mit anderen Worten, dass das vom Sollen verlangte oder unterstellte Können prinzipiell nicht ausreicht. Die moderne Überbestimmung des moralischen Urteilens und des Handelns unterläuft das meta-ethische Prinzip, wonach Sollen Können einschließt (ebd.: 76). Dagegen hilft nach Vossenkuhl auch nicht das aristotelische oder tugendethische Prinzip der Klugheit. Die Klugheit ist „gegenüber moralischen Dilemmas ebenso ratlos, wie sie es gegenüber den schicksalhaften Alternativen in antiken Tragödien war“ (ebd.: 78), weil es zwischen heterogenen und inkompatiblen Mengen von Verpflichtungen keine Mitte geben kann. Der Glaube an die kluge Entscheidung oder die tugendethische Orientierung am Gemeinwohl ist deshalb gebunden an die Ignorierung der normativen Überdeterminiertheit (vgl. ebd.: 79). Das Erkennen der „moralphilosophischen Illusion“, wonach Pflichten, wenn sie existieren, auch einlösbar seien, führt jedoch nicht notwendigerweise in moralische Skepsis und Pessimismus (ebd.). Vielmehr ist Vossenkuhl zufolge damit angezeigt, dass nur die erste Person Singular sich selber Vorwürfe machen dürfe, wenn sie eine Pflicht „beim besten Willen nicht erfüllen konnte“ (ebd.: 83), d.h. nur „ich selbst kann von mir – und nur von mir – mehr verlangen, als ich kann.“ (Ebd.) Mit diesen Bemerkungen zur moralischen Überbestimmtheit des modernen Lebens wird erkennbar, warum das moralische Subjekt als dilettantisch bezeichnet werden kann: Die Tatsache, dass es immer etwas ‚falsch‘ macht, dass es niemals letzte Gründe für seine Entscheidung angeben kann, dass es immer Opfer mit sich bringt, deren Leid oder Schaden es nicht kontrollieren kann, schlicht: dass es so vieles unerfüllt lässt, was zu erfüllen wäre, ist in der Vielfalt seines Ichs, z.B. seiner sozialen Rollen, Mobilität und Flexibilität begründet,

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die es zum diskontinuierlichen Leben treiben und aus welchem ihm Einsichten in moralische Verpflichtungen erwachsen, denen es niemals wird souverän nachkommen können; es ist, mit anderen Worten, zur „Halbbatzigkeit“12 verdammt, d.h. es fängt die Dinge an und kann sie doch nicht ‚ordentlich‘ zu Ende führen. Wie das Alles-Wollen in kulturellen bzw. Lebensstilfragen notgedrungen zum Dilettantismus führt, kommt es – überspitzt formuliert – mit dem Alles-Sollen in der moralischen Situation zum Dilettantismus des moralischen Subjekts. Es handelt sich dabei weniger um eine moralische Inkompetenz des Individuums an sich als vielmehr um eine ihm durch die Situation aufgezwungene Inkompetenz, in welcher die Bedeutung des selbstbestimmten Entscheidens seinen souveränen Charakter vollends verliert. Die moralische Freiheit, mit welcher sich das Individuum in dieser Situation konfrontiert sieht und die es keineswegs herbeigewünscht hat, ist einfach eine Zumutung und Überforderung – es ist m.E. schwer nachzuvollziehen, warum dieses Faktum theoretisch so wenig interessiert. Solange es die Gleichberechtigung der in Frage stehenden moralischen Güter oder Werte anerkennt, ist es sich damit seines Dilettantismus bewusst. Die unangenehme Irritation und moralische Bodenlosigkeit, die das Individuum erfährt, ist aber auch der Grund, warum es den Zwang, den es sich mit einer Entscheidung auferlegt, nicht auf andere übertragen kann oder will. Die Person im Dilemma ist jedoch keineswegs bloß unentschieden, sie steht nicht in der Situation der Präferenzwahl, sondern sie hat vielmehr ein gravierendes moralisches Problem, das sie weder meistern noch wirklich lösen kann. In moralischen Fragen gibt es weder Meisterschaft noch Expertise. Die im Dilemma stehende Person hat sich zu entscheiden und weiß, dass sie in jedem Fall einen Teil ihres moralischen Selbstverständnisses verletzt und dass die endlich ausschlaggebenden Motive ihr entweder verschlossen bleiben oder arbiträr erscheinen. Diese Überlegungen haben nicht primär mit Skepsis oder Relativismus zu tun, sondern v.a. mit einer Überforderung der Person als moralisches Subjekt. Ihre Entscheidung wird weder die richtige noch die falsche sein, sie wird weder gut noch böse sein, sie wird nicht von ‚außen‘, aber auch kaum von ‚innen‘ valide zu beurteilen sein, und trotzdem ist sie in keinem Fall beliebig oder

12 Ein helvetischer Ausdruck; „halbbatzig“ meint „ungenügend“, „nicht zu Ende geführt“, „halbherzig“ (vgl. Duden).

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gleichgültig, vielmehr gerade von herausragender persönlicher Bedeutung. Begriffe wie ethischer Relativismus, Skeptizismus oder postmoderne Beliebigkeit sind in Bezug auf den Dilettantismus des moralischen Subjekts unangebracht.

S CHLUSSBEMERKUNGEN Der Begriff des dilettantischen Subjekts kann sich nur auf ein Subjekt beziehen, dass im Kampf zwischen Werten oder Gütern steht, mit denen es sich definiert. Dieser Kampf ist so evident wie er unlösbar ist. Der Kampf zwischen einem anerkannten obersten Gut und anderen Gütern, die es in bestimmten Situationen einschränkt, kann zwar schwierig und schmerzvoll, niemals aber dilemmatisch sein, da sozusagen von vornherein klar ist, dass sich die Perspektive des obersten Gutes durchsetzen wird. Relativistisch verfährt eher die zwischen „Eclair und Blätterteigstückchen abwägende“ Person, um ein Beispiel Taylors (1996) aufzugreifen. Ihre Wahl ist moralisch indifferent. Es handelt sich jedoch um kein Dilemma, weil die Person sich hier nicht zwischen widerstreitigen Selbstinterpretationen entscheiden muss. Ob man sich eher als Eclair- oder aber Blätterteigstückenliebhaber versteht, ist höchstens ein Streit zwischen ästhetizistischen Selbstinterpretationen, welche ohne jede starke Wertung auskommen. Im moralischen Dilemma sind starke Wertungen aber entscheidend, weil sie so „ich-nah“ bzw. konstitutiv für das Selbst sind, ist der Streit zwischen ihnen eine Zumutung, die das moralische Subjekt als Subjekt, d.h. als ein der moralischen Selbstbestimmung fähiges Subjekt im Kern erschüttern. Diese Erschütterung offenbart dem Subjekt die Eigentümlichkeit, dass Freiheit nur in Abwesenheit von Souveränität möglich ist, und damit auch das Paradox, dass Freiheitspraxis nicht freiwillig gesucht wird. In diesem Sinne ist die oben schon erwähnte Behauptung zu verstehen, dass nur Dilettanten frei sein können. Sie müssen sich entscheiden bzw. handeln, ohne wissen zu können, ob sie das Richtige tun. Solches ‚Tun‘ heißt: (Sich-)Versuchen. Es ist dies die dilettantische Tätigkeit par excellence, die Tätigkeit des überforderten Menschen, der seine Freiheit praktiziert. Die Dilemma-Situation zeigt, dass die Idee des (mit sich) identischen Subjekts zu hinterfragen ist und dass Kohärenz ein angemessener Begriff ist, um den Zusammenhalt des Subjekts heute zu

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thematisieren (vgl. Schmid 1996: 375-379). Kohärenz herzustellen, ist die Kunst, „die verschiedenen Aspekte, die allesamt ‚Ich‘ sagen und damit jeweils die Gesamtheit des Subjekts in Anspruch nehmen“ (ebd.: 376), in eine Beziehung zu setzen. Gegebenes, Gefundenes und Erfundenes würden darin Eingang finden (ebd.). In der Spannung des Dilemmas, im Kampf der Güter und Selbstinterpretationen zeigt sich dem Subjekt, dass es nicht richtig wissen kann, wer es ist, oder – positiv formuliert: dass es unterschiedliche überzeugende Perspektiven einnehmen kann, die einander aber widersprechen, dass es sein „Hypersubjekt“ scheinbar nicht kennt und deshalb in einem starken Sinn des Begriffs auch keine Identität hat. In diesen Situationen des Streits der Ichformen bemüht sich das Subjekt um Einheit und Identität, es sucht die Autorität der wahren Interpretation. Es muss sich entschließen und entschließt sich schließlich, ohne diese Wahrheit gefunden zu haben. Es ist die Autorität der Entschlossenheit, die sich durchsetzt und das Risiko in Kauf nimmt, wenn es die Zeit verlangt. Dieser Akt ist ganz ohne Souveränität, er ‚geschieht‘ in einem gewissen Sinne, hätte aber auch anders geschehen können. So widerspiegelt sich im Kopf oder Herz des Individuums, was sich in demokratischen Lebensformen zwischen den Individuen abspielt: Ein Kampf um die richtige Interpretation und die besseren Argumente, der schließlich nicht aufgrund der Autorität der besseren Interpretation oder der besseren Argumente beendet werden kann, sondern im Entschluss oder in der Prozedur, mit dem bzw. mit welcher keine Wahrheits- oder Richtigkeitsansprüche verbunden werden können. Das ist der noble, für die demokratische Lebensform bedeutsame Zug des Dilettantismus: dass er – im Unterschied zum Anti-Dilettantismus – nicht beansprucht, die Wahrheit zu kennen.

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Mission possible? Der Glaube an die Macht des ‚besseren Menschen‘ Strategien der religiösen Optimierung und Normierung M AIK A RNOLD

E INLEITUNG :

DER WELTBILDKONSTITUTIVE UND HANDLUNGSLEITENDE C HARAKTER VON Ü BERZEUGUNGEN Über die Bestimmung und das Wesen des Menschseins gibt es bekanntlich unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen. Dies gilt insbesondere für dessen religiöse, spirituelle und weltanschauliche Standortbestimmung. In jedem Fall handelt es sich um einen Akt der Selbstdeutung, wenn der Mensch nach sich selbst und seiner Kreatürlichkeit fragt, sein Verhältnis zur ihn umgebenden Umwelt, zu anderen Lebewesen und zu imaginierten höheren und transzendenten Wesen und Mächten zu klären versucht. Bei der qualitativen Bestimmung von wesentlichen Eigenschaften der conditio humana werden im Allgemeinen stets zwei Aspekte voneinander unterschieden: Einerseits wird nach den empirisch-humanwissenschaftlich erfassbaren Gehalten des Menschseins und nach seinem Ist-Zustand gefragt. Dabei steht meist nicht nur die evolutionäre, biologische, humangenetische, physiologische, entwicklungs- und kognitionspsychologische Erforschung seiner leiblichen und seelischen Existenz (Gregersen 2002: 1046ff.), sondern auch die soziale und kulturelle Bedingtheit seines Handelns, Denkens, Fühlens und Urteilens im Vordergrund. Andererseits wird mit dem menschlichen Sein und seiner Existenz stets auch ein ‚Sinn‘ ver-

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bunden. Eine Normierung erfährt der Mensch immer dann, wenn er feststellen will, was er war, ist und werden soll (zur kritischen Würdigung der Normativitätsfrage im Identitätsdiskurs vgl. z.B. Straub 2004: 281f.). Wie Bohlken und Thies (2010: 2f.) betonen, kann eine Differenzierung zwischen empirisch-beobachtbarer und normativ-ontologischer menschlicher Existenz letztlich nur durch eine integrative Anthropologie überwunden werden, die in der Lage ist, Erfahrungshorizonte und Wissensbestände verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen in systematischer Absicht zusammenzuführen: Letztlich bedürfen empirische Erkenntnisse stets auch einer Deutung und Interpretation, wobei sowohl analytisch-konstruktive als auch synthetische Urteile gefällt und miteinander verknüpft werden müssen (ibid.). Es gibt nur wenige anthropologische Ansätze, die diesem Anspruch tatsächlich gerecht zu werden versuchen. Beispielsweise wird in der von Joest (1996) entworfenen philosophisch-theologischen Anthropologie nicht zuerst nach dem Menschen selbst, sondern seiner Beziehung zu Gott gefragt, wohl wissend, dass sowohl das von „Gott beschlossene Urteil über den Menschen“ als auch die menschliche „Selbstbefreiung aus der Bindung an Gott“ sozialempirische und auch ethisch-moralische Implikationen besitzt (Joest 1996: 345f.). Empirische und normative Einsichten in die Natur des Menschen bedingen sich wechselseitig und können nicht völlig voneinander getrennt werden. Sie sind untrennbar miteinander verbunden und wirken gewissermaßen ‚ineinander hinein‘: Sozialtheoretische und empirische Fragestellungen können ein bestimmtes Menschenbild voraussetzen, wie auch normative und valorative Ideen des Menschseins nicht ohne empirische Erkenntnisse raum- und zeitlos formuliert werden können. Die Relation beider Ebenen der anthropozentrischen Rückfrage an das Menschsein und seiner Selbstdeutungen offenbart geradezu den widersprüchlichen, ambivalenten und ‚wahrhaften‘ Charakter der menschlichen ‚Natur‘ und damit verbundener Menschen- und Weltbilder. In dieses Spannungsfeld ist auch der im Folgenden untersuchte weltbildkonstitutive, evaluative und handlungsleitende Charakter jener Überzeugungen und Glaubensvorstellungen, welche allgemein auf eine Optimierung und Normierung von Anderen und Fremden sowie der Handelnden selbst ausgerichtet sind, eingebettet. Die begrifflichen, sprach- und alltagspraktischen Bedeutungen und der spezifische Charakter von Überzeugungen können an Attributen festgemacht werden, die zwischen einem ‚Glauben-an‘ und einem ‚Wissen-dass‘ changieren

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können, wie z.B. „Gewissheit, Fundamentalität, Subjektskonstitution, Weltbildkonstitution, Versprechens- und Prognosecharakter, Evaluation und Handlungsleitung“ (Schärtl 2003: 29; Hervorhebung im Original). Überzeugungen lassen sich auf zwei Grundtypen zurückführen: „Zum einen solche Überzeugungen, die normalerweise jeder Zweifelsmöglichkeit entzogen sind und all unseren Herangehensweisen an die Welt zugrunde liegen. Zum anderen Überzeugungen, die wir uns auf der Grundlage von Gründen bilden und die durch Angabe guter Gegengründe geändert werden können.“ (Stosch 2003: 111f.)

Während dem zweiten Typus empirisch fassbare, kognitiv strukturierte Zusammenhänge zugrunde liegen, die reversibel, annullierbar und falsifizierbar sind, handelt es sich bei ersterem Typus eher um unbezweifelbare, gewöhnlich unhinterfragte, weltbildkonstitutive Überzeugungen, auf denen unsere normativen und valorativen Weltdeutungen und Weltanschauungen beruhen und durch die der Mensch überhaupt erst in der Lage ist, sich sprachlich präzise artikulieren und damit verbundene Erfahrungen machen zu können (ibid.). Der Begriff ‚Optimierung des Humanen‘ findet hier seine Verwendung, wenn er das Handeln von MissionarInnen auf Grundlage christlicher Überzeugungen und Orientierungen beschreibt, das „intentional, ziel- und zweckgerichtet“ (Straub 1999: 101ff.) ist und auf eine Verbesserung und Vervollkommnung des Menschen zielt, um die Komplexität, Fragilität und Kontingenz des eigenen Seins zu bewältigen, eine eigene Identität gegenüber den anderen Fremden auszubilden und das eigene Selbst den wechselhaften Bedingungen, Anforderungen, psychosozialen Belastungen und Herausforderungen über Zeit und Raum hinweg situationsflexibel anzupassen. In der Handlungstypologie von Habermas (1981) wird das „zweckrationale Handeln“ (Weber 1965: 1) in ein „teleologisches“ Handlungsschema eingeordnet, wenn vom Handelnden unter Einsatz von „erfolgsversprechenden Mitteln“ bewusst ein bestimmter Zweck verwirklicht und/oder „erwünschter Zustand“ erreicht werden soll und der Handelnde sich zur Realisierung seiner Ziele auf eine „Entscheidung zwischen Handlungsalternativen“ stützt (Habermas 1981: 126; Hervorhebung im Original) Oft entspringt das zweck- und zielgerichtete Handeln aber taktischen Effizienzüberlegungen. Dann wird das

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„teleologische [...] zum strategischen Handlungsmodell erweitert, wenn in das Erfolgskalkül des Handelnden die Erwartung von Entscheidungen mindestens eines weiteren zielgerichtet handelnden Aktors eingehen kann. Dieses Handlungsmodell wird oft utilitaristisch gedeutet; dann wird unterstellt, daß der Aktor Mittel und Zwecke unter Gesichtspunkten der Maximierung von Nutzen bzw. Nutzenerwartungen wählt und kalkuliert“ (Habermas 1981: 127).

Im Sinne dieser intentionalistischen Theorie des Verhaltens ist nicht nur das ziel- und zweckorientierte Handeln des Einzelnen selbst, sondern allgemein interpersonale Kommunikation und Interaktion als ein zielgerichteter, strategischer Austausch mit den Anderen zu verstehen (Abels 2009: 182). Dieser Handlungstyp besitzt noch weitere Merkmale (Schimank 2010: 38f.): Er muss sich zunächst nicht immer auf andere Personen beziehen. Strategisches Handeln kann also entweder selbstbezüglich (Selbstoptimierung) oder aber auf andere Akteure gerichtet sein (Fremdoptimierung). Im letzten Fall geschieht es in der Absicht, die AdressatInnen des eigenen Handelns zu bestimmten Aktivitäten anzuregen oder bei laufenden Aktivitäten zu beeinflussen („Gerichtetheit“). Der subjektive Handlungssinn bzw. eigene Handlungsentwürfe beinhalten stets auch einen Bezug zum Verhalten anderer („Bezogenheit“). Von einer Optimierung oder Normierung wird hier gesprochen, wenn es sich um Strategien der gerichteten Veränderung anderer und der absichtsvollen Transformation ihrer personalen Identitäten bzw. Selbstbilder handelt. Vor diesem Hintergrund wenden sich die nachfolgenden Überlegungen der Frage zu, welche (kultur- und sozial-)psychologischen Bedeutungen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen und Handlungsorientierungen im Rahmen von religiösen Optimierungen zukommen. Da dies nur selektiv und eklektisch geschehen kann, werden vier Aspekte fokussiert: Zunächst steht die Idee vom ‚besseren Menschen‘ im Vordergrund: Dem Menschenbild der christlichen Traditionen wird dabei eine besondere Bedeutung zugesprochen, weil dieses wesentliche Bedingungen und unabdingbare Merkmale für das Verständnis der strategisch ausgerichteten, persuasiv-kommunikativen Handlungspraxis im Rahmen religiöser Mission liefert und eine handlungstheoretische Einbettung des Begriffs der Optimierung ermöglicht. Die anschließende Erörterung eines spezifischen Typs der ‚Optimierung des Humanen‘, welcher auf eine religiös motivierte Veränderung und Vervollkommnung der Anderen, z.T. auch der Handelnden

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selbst, ausgerichtet ist, wird sich in erster Linie mit dem bereits anderenorts empirisch untersuchten missionarischen Handeln von deutschen ProtestantInnen beschäftigen (Arnold 2010). Dabei stellt sich heraus, dass dieser spezifische Modus des Handelns aufgrund von christlichen Überzeugungen, Werthaltungen und Handlungsorientierungen auf einen allgemeinen, sozialtheoretisch bzw. anthropologisch bedeutsamen Aspekt menschlicher Existenz hinweist: Die MissionarInnen demonstrieren eindrücklich, dass ein auf die Optimierung, Veränderung und Vereinnahmung von Anderen und Fremden gerichtetes Handeln nicht ohne eine Verinnerlichung, Imagination von und Sehnsucht nach einem Bild des ‚besseren Menschen‘ auskommt. Im Zuge der Verwirklichung dieser Idee der Verbesserung im Zeichen der Vervollkommnung kommen verschiedene Strategien zur Optimierung von als veränderungs- und optimierungsbedürftig anerkannten kulturellen Lebens- und Handlungsformen zum Einsatz. Wie abschließend gezeigt wird, stellen Strategien religiöser Optimierung in der Mission letztlich einerseits einen ‚Möglichkeitsraum‘ (Matthes 1993) und andererseits eine empirische Konkretisierung bzw. Variante des ‚Prototyps‘ (Saler 1993) einer Optimierung des Humanen dar.

D ER G LAUBE AN DEN ‚ BESSEREN M ENSCHEN ‘: K ONTUREN EINER KULTURELLEN L EBENSFORM ZUR R EALISIERUNG EINES CHRISTLICH MISSIONARISCHEN M ENSCHEN - UND W ELTBILDS Die Beantwortung der Fragen, warum und wie Menschen einander von ihren jeweiligen Einsichten von einem sinnvollen, glücklichen und erfüllten Leben zu überzeugen trachten, hängt unmittelbar mit den zugrunde gelegten ‚Menschenbildern‘ zusammen, die Ergebnis des Suchens und Findens von universalisierbaren Modellen zur Beschreibung, Deutung und Erklärung menschlicher Existenz sind. Es gibt bekanntlich eine ganze Reihe von Menschenbildern, die ein vollkommenes oder um Vervollkommnung bemühtes Wesen zu zeichnen versuchen. Unter Menschenbildern wird eine Vielzahl von kulturspezifischen, normativen Modellen oder Vorstellungen über das Wesen des Menschen und seine Existenz zusammengefasst, welche das soziale Zusammenleben maßgeblich strukturieren, (meist) in einem Spannungsverhältnis zur empirisch erfassbaren Umwelt stehen und eine ge-

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wisse ‚Passung‘ und Gültigkeit über Raum und Zeit, soziale Rollen und Kontexte sowie kulturelle Grenzen hinweg beanspruchen (Gladigow 2005). Menschenbilder werden als soziale Konstruktionsleistungen aufgefasst, die sowohl kulturspezifisch geprägt sind, wie z.B. durch kollektiv geteilte Kategorisierungen und Wert- und Moralvorstellungen, als auch individual-biographische Züge aufzeigen können. Trotz ihres weitgehend impliziten Charakters und ihrer mitunter logischen Inkonsistenz sind Menschenbilder sinn- und ordnungsstiftend sowie handlungsleitend (Oerter 2007: 495). Sie stellen eine grundlegende Voraussetzung für die Konstitution, Entwicklung, Transformation und Abgrenzung von Identitäten dar. Sie haben maßgeblichen Einfluss auf Alltags- und subjektive Theorien von Individuen und prägen deren Handeln, Denken und Fühlen. Wie angedeutet ist das, was für die qualitative Bestimmung von Aspekten der conditio humana jeweils als selbstverständlich angenommen wird, variabel, bedarf entsprechender Anpassungen und ist sowohl in kulturhistorischer als auch kulturpsychologischer Hinsicht stets dynamisch, revidierbar und wandelbar (Gladigow 2005). Menschenbilder besitzen in kultur- und sozialpsychologischer Hinsicht oft ganz verschiedene Merkmale, die einen weitreichenden Einfluss auf die menschliche Wissensproduktion und Lebenspraxis haben (Oerter 2007: 522f.): • Menschenbilder stellen kommunikativ vermittelte Abstraktionsleis-

tungen dar, die von Laien oder Wissenschaftlern (z.B. Antecedensbedingungen wissenschaftlicher Untersuchungen) entworfen werden und stets Interpretiertes und Interpretierbares darstellen; • in Menschenbildern kann der Mensch sich z.B. als autonom oder heteronom, independent oder interdependent handelndes Subjekt entwerfen (vgl. Markus/Kitayama 1991; Straub/Chakkarath, 2010); • in der geistigen und ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Menschsein wie z.B. in der Kunst, Literatur, Musik und Religion werden vorhandene Menschenbilder aufgegriffen und/oder neue Kompositionen entworfen; • mit der Bildung und Verwendung von spezifischen Menschenbildern verbinden sich Legitimations- und Geltungsansprüche (z.B. zur Rechtfertigung von religiösen Lebensweisen und Handlungsüberzeugungen sowie politischen Entscheidungen).

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Menschenbilder erlauben verschiedene Binnendifferenzierungen, partielle Anpassungen und Relativierungen aufgrund unterschiedlicher Lebensformen und Lebensweisen in einer Gesellschaft („zentrifugale Dynamik“); außerdem besitzen sie „system(re)integrierende“ Funktionen (z.B. Konsensbildung, Lebensentwürfe) bzw. können sie Orientierungskonflikte überhaupt erst verursachen (Gladigow 2005: 74f.). Mit der Konstitution, Entwicklung und Transformation von Menschenbildern verbindet sich schließlich ein grundsätzliches Problem aller „Lebenswahlen“ (Gladigow 2005: 80): Aufgrund seiner Fähigkeit zur Selbstreflexion und ‚Selbsttranszendenz‘ (Joas 2004) ist der Mensch in der Lage, sich mit seinem Wesen und seiner Kreatürlichkeit auseinanderzusetzen, verschiedene Formen der Lebensführung zu denken und – jedenfalls in einem gewissen Maß – auch spezifische kulturelle Lebensformen und Lebensweisen zu wählen oder abzulehnen. Selbstverständlich wächst jeder Mensch zunächst in eine sozio-kulturelle Lebensform hinein, die er nicht selbst gewählt hat. Zu dieser kontingenten Sozialisation und Enkulturation kann der oder die Heranwachsende jedoch mehr und mehr Stellung nehmen – wenngleich niemals im Ganzen. Vermeidet man rationalistische Übertreibungen, lässt sich festhalten: Ein handelndes, sich selbst als „gefährdet“ (Grünschloß 2002: 1053) wahrnehmendes Individuum kann seine vergangene, gegenwärtige oder zukünftige soziale und kulturelle Rolle und Situation transzendieren. Bedeutsame Lebensentscheidungen trifft eine Person meist in konflikthaften Situationen, in denen das Binnen- und Außenverhältnis des eigenen Selbstbilds in Frage gestellt wird (Boesch 1991). Die Wahl aus einer Vielzahl von möglichen Lebensformen ist häufig unvollkommen, partiell, vorläufig und prekär. Lebenswahlen werden aufgrund der Deutung und Interpretation der eigenen Lage und Situation sowie durch Abwägen des verfügbaren und möglichen ‚Handlungspotentials‘ (ibid.) getroffen. Manche Möglichkeiten werden ausgeschlossen, andere von vorherigen Wahlen übernommen oder durch das eigene Handeln neu erschlossen. Die schließlich gewählte Lebensform stellt nicht zuletzt ein realisiertes Menschenbild dar, das in einen bestimmten sozialen, historischen und kulturellen Kontext eingeordnet ist. Sozio-kulturelle Lebensformen und Menschenbilder bedingen sich daher gegenseitig und stehen in einem dynamisch-relationalen Verhältnis. Zur Veranschaulichung dieser Relation kann auf den von Gladigow (2005: 82f.) in die Debatte eingeführten (ethnologischen) Begriff der ‚Passung‘ zurückge-

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griffen werden: Im Laufe der Menschheitsgeschichte, der damit einhergehenden funktionalen Ausdifferenzierung von unterschiedlichen (Sub-)Systemen und dem ‚kulturellen Austausch‘ (Burke 2000) haben sich verschiedene Handlungsmodelle herausgebildet, die Möglichkeiten zur (Re-)Kombination von ‚alten‘ kulturkonstitutiven Elementen bekannter Traditionen und die Inkorporation bzw. Anpassung von Komponenten ‚fremder‘ Kulturen bieten. Menschenbilder unterschiedlicher kultureller und religiöser Gruppen betreffen nicht nur die Vorstellung vom Menschsein im Allgemeinen bzw. ‚an sich‘, sondern auch die ‚signifikanten Anderen‘ (Mead 1978) und die nicht der eigenen Gruppe, Gesellschaft oder Kultur Angehörigen. Einen wichtigen Aspekt der Verwirklichung und Transformation bestimmter Ideen vom Menschen in konkreten Lebensformen stellen eben weltbildkonstitutive, handlungsleitende und evaluative Überzeugungen dar, die auf verschiedene Art und Weise weitergegeben werden (z.B. Tradition, Ritual, Proselytismus). In diesem Sinne wird auch das im Weiteren analysierte missionarische Handeln als (selbst-)gewählte kulturelle Lebensform zur Realisierung eines bestimmten christlichen Menschen- und Weltbildes betrachtet, mit dem spezifische Werte und Normen, Handlungsorientierungen und Glaubensvorstellungen verbunden sind, aufgrund derer die danach handelnden MissionarInnen Anders- und Nichtgläubige zu bekehren und so nach Maßgabe des ‚Eigenem‘ zu optimieren beabsichtigen. Imaginationen vom Menschen im Sinne des christlichen Selbstverständnisses und Weltverhältnisses orientieren sich an seiner „Geschöpflichkeit“ und „Gottesebenbildlichkeit“ sowie „Sündhaftigkeit“ und „Erlösungsbedürftigkeit“ (Mieth 2009: 205f.). Der für die christlich-theologische Anthropologie relevante Leitbegriff der ‚Gottesebenbildlichkeit‘ hat aufgrund der Vielfalt an denominationellen und konfessionellen Ausdifferenzierungen sowie der damit verbundenen Moral- und Frömmigkeitsvorstellungen unterschiedliche Ausprägungen erfahren. Auf die Frage nach dem Wesen des Menschen antworten die meisten Theologen für gewöhnlich mit einem Hinweis auf Gottes andächtiges Sinnen und seiner unmittelbaren Mitteilung an sein alter ego: Nur von Gott her lässt sich der (christliche) Mensch denken. Erkenntnisse über seine Gottesebenbildlichkeit sind auch solche über den Menschen. Die conditio humana erfährt in der christlichen Tradition im imago dei eine kulturspezifische Konkretisierung anhand der zwei „Stände“

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des Christenmenschen (Joest 1996: 348ff.): einerseits die substantiale bzw. ontologische Interpretation der Welt (unverwechselbare Würde des Menschen und dessen Wesensähnlichkeit mit Gott) und andererseits die relationale Beziehung des antwortenden menschlichen Verhaltens auf Gottes Aufruf (das Verhalten des Menschen zu Gott, zu anderen Menschen und zu nichtmenschlichen Kreaturen). Nach protestantischer Lehrauffassung steht dabei im ersten Fall die Intention des durch Gott erschaffenen und mit seiner geschöpflichen Bestimmung übereinstimmenden, gerechten Menschen (de statu integritatis) und zweitens der gefallene, sündige und in Widerspruch zu seinem Schöpferwillen lebende Mensch (de statu corruptionis) im Zentrum der Betrachtung (ibid.). In diesem ambivalenten Spannungsverhältnis gewinnt die abstrakte Dichotomisierung menschlicher Existenz in einen materiellen, vergänglichen Leib und eine immaterielle und unvergängliche Seele, welche die gesamte Heils- und Menschheitsgeschichte durchzieht, an Bedeutung (Mieth 2009: 250f.). Beide Eigenschaften der menschlichen Natur – sowohl seine Endlichkeit und Geschöpflichkeit als auch seine Bestimmung und Unendlichkeit – sind aneinander gebunden (Joest 1996: 352): Das Wesen des status integritatis besteht schließlich in der gottesebenbildlichen Erschaffung des Menschen und der allezeit überdauernden Bestimmung und Ausrichtung des gesamten menschlichen Lebens auf die Beziehung zu Gott. Dieser Stand vereinigt verschiedene göttliche Merkmale: Gerechtigkeit, Gotteserkenntnis, Leidensfreiheit und Sündenlosigkeit sowie Einheit von menschlichem und göttlichem Willen. Im Zustand des status corruptionis wird der Mensch aufgrund der einmaligen Tat der Ersterschaffenen (Sündenfall) aus dem Stand der ursprünglichen Gerechtigkeit herauskatapultiert. Dieser Stand wird durch Ungehorsam und Unglaube, Fehlerhaftigkeit und Fehleranfälligkeit gegenüber der göttlichen Autorität charakterisiert. Der gescheiterte, sich in „religiöser Hinsicht als heilsbedürftig“ (Mieth 2009: 254) betrachtende und sich moralisch entwickelnde Mensch findet schließlich in der Rechtfertigung seiner Sünden eine göttliche Entsprechung, Antwort und Zuwendung. Im Laufe der Geschichte wurden unterschiedliche theologische Modelle der Rechtfertigung entwickelt, die dazu dienen, den qua Geburt zu unmoralischem Handeln neigenden Christenmenschen zu einerseits Selbstzucht und Selbstliebe sowie andererseits zu Gottgehorsam und Nächstenliebe anzuleiten und zu erziehen (z.B. Joest 1996). Selbstlosigkeit als Ziel altruistischen Handelns, Denkens, Wer-

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tens und (Mit-)Fühlens stellt dabei ein zentrales Wesensmerkmal des christlichen Menschenbilds dar: In sowohl ethisch-moralischer als auch handlungspraktischer Hinsicht ist der selbstlose, uneigennützige, aufopfernde und mildtätige Dienst am Nächsten nicht nur auf SelbstVeränderung der fremden Nicht- und Andersgläubigen, sondern auch auf solche im Alltag der Gläubigen gerichtet. Die Verwirklichung dieses Zieles ermöglicht dem heilsbedürftigen Menschen – neben aller Zurückstellung der eigenen Interessen und Selbstaufopferung – schließlich auch ein gottgefälliges Leben, das zur endzeitlichen Erlösung führt – ohne jedoch die eigene Sündhaftigkeit durch geeignete Taten beseitigen zu können (ibid.). Die Imagination vom (religiösen) Wesen des Menschen ist nicht allein selbstbezüglich und auf die Aufrechterhaltung der eigenen Gemeinschaft ausgerichtet, sondern wird als eine universale missionarische Aufgabe betrachtet.

S TRATEGIEN DER RELIGIÖSEN O PTIMIERUNG IN DER CHRISTLICH - PROTESTANTISCHEN M ISSION In diesem Sinne wird auch das missionarische Handeln von ProtestantInnen als (selbst-)gewählte kulturelle Lebensform zur Realisierung dieses spezifischen christlichen Menschen- und Weltbildes betrachtet, aufgrund dessen die danach handelnden MissionarInnen Anders- und Nichtgläubige bekehren wollen. Die im Folgenden dargestellten missionarischen Strategien der Optimierung basieren auf einer interpretativen, komparativen Analyse autobiographischer Erzählungen von deutschen ProtestantInnen unterschiedlicher Missionsgesellschaften und Denominationen, die zwischen 25 und 55 Jahre alt sind und in verschiedenen Ländern, u.a. Russland, Frankreich, Spanien, Philippinen, tätig waren (Arnold 2010). Dabei wurde der allgemeinen Frage nachgegangen, welche spezifischen Erfahrungen in missionarischer Absicht handelnde Individuen machen und wie diese Erfahrungen deren alltägliches Leben beeinflussen und ihr Selbstbild strukturieren. Im Folgenden werden, wie angekündigt, bestimmte Forschungsergebnisse ausgewählt und in aller Kürze präsentiert: Wie sich gezeigt hat, ist missionarisches Handeln in einen Prozess der Erfahrungs- und Erkenntnisbildung eingebunden, in dessen Verlauf die Akteure bemüht sind, das Denken, Handeln und Urteilen ihrer fremden Gegenüber unter Maßgabe und vor dem Hintergrund des ‚Eigenen‘ zu optimieren

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und zu normieren. Die (religiöse) Identität der MissionarInnen bleibt davon nicht unberührt: neben den Fremdoptimierungen kommt es gelegentlich auch zu Selbstoptimierungen. Kulturelle Anpassung durch Improvisation und Ausbildung einer komplementären Lebensform Die MissionarInnen berichten ausführlich von Erfahrungen und Erlebnissen, die ihnen im Hinblick auf die jeweilige kulturelle Lebensform ihrer AdressatInnen oder der Gastkultur gewisse Anpassungen und Improvisationen abverlangt haben. In einem hohen Maße versuchen sie, Rücksicht auf die lokalen Gewohnheiten und Umgangsformen zu nehmen (z.B. Verzicht auf allzu freizügige Bekleidung und den Genuss von Alkohol, Flexibilität in der Tagesplanung, Zieloffenheit in allen Lebenslagen), um vertrauensvolle und persönliche Beziehungsverhältnisse zu etablieren. Die kulturelle Anpassung wird in der Forschung als (interkultureller) transformativer Lernprozess beschrieben, in dem gewisse Einstellungen und Verhaltensweisen adaptiert und möglicherweise in das eigene Wissens-, Handlungs- und Orientierungssystem übernommen werden (vgl. z.B. Straub 2010; Taylor 1994; Thomas 2003; Weidemann 2007). Immer dann, wenn die MissionarInnen eine bestimmte Erfahrung kultureller Differenz machen, die sich nicht in ihren Erfahrungsraum und Erwartungshorizont einordnen ließ, ‚müssen‘ sie eine neue differenziertere Sichtweise entwickeln, um handlungsfähig zu bleiben. Mit der Entwicklung neuer Perspektiven auf das eigene Handeln geht auch eine Erweiterung des eigenen Handlungspotentials einher, das durch folgende Aspekte gekennzeichnet ist: Die MissionarInnen sind darum bemüht, den Anderen und Fremden mit größtmöglicher Achtung und Anerkennung gegenüberzutreten. Gleichzeitig ist jedoch die Wahrung ihrer protestantischen Identität in der religiösen Mission ihr oberstes Ziel, weshalb eine vollkommene Angleichung an die Gastkultur und die Überzeugungen der Andersund Nichtgläubigen ausgeschlossen wird. Anpassung kann im Kontext von Mission in aller Regel nur selektiv erfolgen. Es gibt bestimmte elementare Grundorientierungen des christlich-protestantischen Glaubens, die nicht einfach beiseite gewischt oder durch andere Verhaltensund Glaubensgewissheiten ersetzt werden können. Grundlegend für missionarische Überzeugungen ist ihr ambivalenter Charakter – zwi-

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schen einer weitestgehenden Anpassung einerseits sowie Selbsttreue und Selbststärkung andererseits. Im Kontext missionarischen Handelns zeigt sich deutlich, wie Strategien der Selbst- und Fremdoptimierung Hand in Hand gehen, mithin zwei Seiten einer Medaille darstellen: Gerade weil es das primäre Ziel der Mission ist, das Selbst der Anderen zu verändern und diese für den christlichen Glauben anzuwerben, sind die MissionarInnen kontinuierlich ebenso herausgefordert, sich auch um eine Stabilisierung und Stärkung des eigenen, „glaubenden Selbst“ (James 1981: 283) zu bemühen. Im Rahmen dieser (teilweisen) Anpassung an fremdkulturelle Lebensformen wird weder das bisher selbstverständliche Eigene vollständig aufgegeben noch das ursprünglich Fremde vorbehaltlos in das eigene Wissens-, Handlungs- und Orientierungssystem übernommen. In diesem Sinne favorisieren die MissionarInnen eine ‚komplementäre und hybride Lebensform‘ (Ackermann 2004) bestehend aus Elementen verschiedener Kulturen. Diese Elemente sind miteinander verbunden, können partiell ergänzt und teilweise auch modifiziert werden, ohne dass jedoch eine schlichte Aufsummierung dieser Elemente angestrebt wird. Im Kontext religiöser Mission können sich durchaus verschiedene Intentionen kultureller Adaptionsprozesse überlagern: Während missionarisches Handeln vor allem durch die kulturelle Anpassung ‚als Strategie‘ und ‚taktische Effizienzüberlegung‘ des Handelnden gekennzeichnet ist, regen Kontakte und Begegnungen stets auf beiden Seiten des Missionsfelds zu gegenseitigen Adjustierungen im Rahmen adaptiver Lernprozesse an, die sich aus dem Interesse und der Überzeugung, etwas von den Anderen (den MissionsadressatInnen und MissionarInnen) lernen zu können und zu wollen, speisen. Persuasive Kommunikation im Kontext von Mission Die missionarische Verständigung stellt eine Art ‚persuasive Kommunikation‘ (z.B. Cialdini 2007) unter Einsatz mäeutischer und kommunikativer Gesprächsmethoden und elaborierter Psychotechniken dar, durch die dem Glauben fern oder distanziert gegenüberstehende und nichtgläubige Andere für die religiösen Überzeugungen der MissionarInnen angeworben und langfristig gewonnen werden sollen. Die MissionarInnen sind in erster Linie daran interessiert, sich und ihren Glauben verbal und visuell präsent zu machen und ihre Missions- und Optimierungsabsicht den Anderen offenzulegen. Das zeigen Berichte

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über evangelistische Aktionen, wie z.B. das Verteilen von biblischen Schriften, Traktaten und Informationen über christliche Veranstaltungen, die Durchführung von zahlreichen Großevangelisationsveranstaltungen und die Anbahnung von Kontakten während Freizeitbetätigungen. Persuasive Verkündigungsstrategien wirken auf drei verschiedenen kommunikativen Ebenen zwischen MissionarInnen und ihren AdressatInnen: Der persuasive Charakter bzw. die Bekehrungsabsicht als Ziel des missionarischen Handelns wird erstens nicht immer als zentrale Strategie, primäres Ziel und direkter Weg zur Bekehrung der MissionsadressatInnen gewählt, sondern kann teilweise auch als peripherer Weg der Kommunikation angesehen werden (Petty/Cacioppo 1986). In diesem Sinne kann man von einer indirekten, stillschweigenden Optimierung der Anderen und Fremden sprechen. Auch der scheinbar noch so selbstlose Dienst am Nächsten bringt die eigenen verinnerlichten Ziele und Absichten zur Veränderung der kulturellen Lebensformen des Gegenübers nicht restlos zum Verschwinden, denn für den eigenen Glauben gewonnen werden sollen die Anderen in gewisser Weise schon. Die Bereitschaft, seinen Mitmenschen zu helfen, für sie Opfer zu erbringen, ist für die MissionarInnen zwar ein zentrales Anliegen und Ausdruck ihrer christlichen Werthaltungen. Sie wollen ihre kulturspezifisch westliche Sichtweise und ihren religiösen Glauben den Anderen nicht einfach vorgeben, sondern die AdressatInnen zur Selbsterkenntnis führen und zum Nachdenken anregen, damit diese später zum Christentum konvertieren. Trotz all des gezollten Respekts und der Achtung des Gegenübers begegnen die MissionarInnen zweitens den Nicht- und Andersgläubigen also nicht ohne Vorbehalt und eigenes Interesse. Wie in anderen Berufs- und Handlungsfeldern auch erfolgt der Dienst am Nächsten weder als bloße Selbstaufopferung oder aus reinem Mitgefühl, noch als alleiniger Selbstzweck oder purer Altruismus. Vielmehr sind die missionarischen Strategien religiöser Optimierung durch einen – im christlichen Menschenbild konstitutiven – Zwiespalt zwischen Selbstlosigkeit und Bekehrungsabsicht gekennzeichnet. Die Bereitschaft, ihren Mitmenschen zu helfen, für sie Opfer zu erbringen, ist für die MissionarInnen überaus wichtig. Gleichzeitig sind sie ohne Zweifel an der zielorientierten Umgestaltung und den Veränderungen der kulturellen Lebensformen ihres jeweiligen Gegenübers in nicht unerheblichem Umfang beteiligt. Oft sind sie die entscheidende, unmittelbar

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auslösende und manchmal die nachhaltig manipulierende Kraft. Selbstloses und uneigennütziges Handeln stellt nur partielle bzw. vorübergehende Lösungen für soziales Handeln dar (vgl. James 1981). Vollständige soziale Uneigennützigkeit kann es nicht geben, da dies zu einer vollständigen Selbst-Aufgabe und zu ‚sozialem Selbstmord‘ führen würde (vgl. Todorov 1998). Die aufopfernde Nächstenliebe gerät dort an ihre Grenzen, wo sie nicht mehr nach der selbsterkannten Hilfsbedürftigkeit der Empfangenden fragt. Eine unerwartete oder nicht gewünschte Hilfeleistung kann auch missverstanden, mitunter als eine Einschränkung der eigenen Handlungsfähigkeit und ‚Abstempelung zur Unmündigkeit‘ empfunden werden. Für die Interviewten stellt es keinen Widerspruch dar, dass sie sich in einem Zwiespalt zwischen der Durchsetzung ihrer Bekehrungsabsichten und der Einübung in eine durch Altruismus und durch Nächstenliebe gekennzeichnete Lebensform befinden. Sie wollen damit ihre kulturspezifisch westliche Sichtweise und ihren religiösen Glauben den Anderen nicht einfach aufzwingen, sondern die AdressatInnen anregen, eines Tages aus eigener Erkenntnis und freien Stücken zum Christentum zu konvertieren. Scheinbar belanglose, periphere und nicht in bewusster missionarischer Absicht geführte Gesprächsangebote eröffnen manchmal plötzlich neue Möglichkeiten, oder es bieten sich unversehens ‚Berührungs- und Anknüpfungspunkte‘ im alltäglichen Leben der zu Missionierenden (wie z.B. durch Etablierung individueller und persönlicher Beziehungen während verschiedener Freizeitaktivitäten). Die MissionarInnen sind auf Hörersignale und Rückmeldungen angewiesen, die eine Weitergabe oder Vertiefung der biblischen Botschaft ermöglichen. Mission funktioniert drittens zum Teil aber auch so, dass man sich einfach einen kleinen Gefallen erbittet, den das Gegenüber praktisch nicht ausschlagen kann (sog. ‚Foot-in-the-door‘-Methode; vgl. Burger 1999). Der Kontakt zu den Anderen und Fremden kommt um die Adaption und Imitation bestimmter kulturspezifischer Werte und Normen, Traditionen und Regeln nicht umhin, wie z.B. bei Ritualen der Gegenseitigkeit. Mitunter können bewusste Übertretungen und Verstöße gegen gesellschaftliche Konventionen und Gepflogenheiten sowie das Ausnutzen der eigenen Position als ‚unwissender Ausländer‘ eine Veränderung der Gesprächssituation herbeiführen. Bei Verfolgung von solchen verdeckten und die Anderen möglicherweise

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täuschenden Absichten stößt missionarisches Handeln an moralische Grenzen. Selbst-Veränderung der Anderen durch Behauptung des Eigenen Trotz der verschiedenen Versuche der MissionarInnen, sich den Fremden und Anderen anzunähern, können kulturelle Differenzen weder nihiliert noch ignoriert werden. Die kulturellen Lebensformen der Anderen und Fremden, welche die MissionarInnen zu ändern und zu korrigieren beabsichtigen, werden aus der eigenen Perspektive und Sichtweise evaluiert: Es sind die eigenen christlichen Wertüberzeugungen, moralischen Ansprüche oder Vorstellungen von einem gottgefälligen Leben, die als Grundlage für die Selbst-Veränderung der Anderen und Fremden herangezogen werden. Die MissionarInnen betrachten ihre eigene Kultur mitunter als die bessere, stärkere und bisweilen überlegene, und das sowohl im Hinblick auf die Gestaltung des religiösen als auch des alltäglichen Lebens. Es geht dabei nicht nur um eine Gewinnung von neuen Anhängern für die eigene Glaubensgemeinschaft, sondern auch um die ‚Vervollkommnung‘, ‚Verbesserung‘ und ‚Heilung‘ ganzer Gesellschaften oder Kulturen. Das Ringen um Anerkennung ist im Rahmen der Optimierung der Anderen stets zentral: Man ist bestrebt, die eigene Identität zu behaupten, die Existenz als MissionarIn anerkannt zu bekommen und sich den Wert des eigenen (missionarischen) Handelns kontinuierlich bestätigen zu lassen.

S EHNSUCHT NACH UND G LAUBE AN DIE M ACHT DES ‚ BESSEREN M ENSCHEN ‘: A NTHROPOLOGISCHE R ELEVANZ EINES AUF O PTIMIERUNG ZIELENDEN H ANDELNS

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Allgemein kann festgestellt werden: Mission zielt auf eine Veränderung der Nicht- und Andersgläubigen. MissionarInnen gehen davon aus, dass die ihnen begegnenden Individuen irgendwie ‚falsch gepolt‘ sind oder sich nicht auf dem ‚rechten und wahren Weg‘ befinden (Straub/Arnold 2009). Deren Denken, Fühlen und Glauben erscheint ihnen als korrekturbedürftig. Mit anderen Worten: Der Glaube an den einen und wahren Gott soll gestärkt und die Gemeinschaft der Gläu-

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bigen vermehrt werden. Missionarisches Handeln steht immer auch in einem ambivalenten Spannungsfeld zwischen friedlichen Zielen und dem (moralischen) Anspruch einer ‚Vervollkommnung‘ und ‚Verbesserung‘ der Anderen. Die Intentionen und Ziele missionarischen Handelns mögen als moralisch gut oder schlecht evaluiert werden; aber selbst wenn die Implikationen dieses wertgebundenen Handelns und Überzeugtseins als belanglos oder bösartig erscheinen, sollte bei der Untersuchung dieser Praxis gewissermaßen ‚wertfrei‘ auf die Erfahrungen geblickt werden, die MissionarInnen an Werte und Überzeugungen binden. Eine Untersuchung religiöser Strategien der Optimierung von Anderen ist nicht auf die damit verbundenen ethisch-moralischen, normativen und valorativen Ansprüche begrenzt. Was uns das Beispiel interreligiöser Kommunikation im Rahmen christlicher Mission vor Augen führt, ist im Übrigen nichts Außergewöhnliches oder Unmögliches. Macht nicht das hier beschriebene missionarische Handeln auf einen allgemein bedeutsamen Aspekt interpersonaler Kommunikation aufmerksam? Ist nicht allgemein jedes intentionale, ziel- und zweckorientierte Handeln, welches auf eine strategische Veränderung und Vervollkommnung von anderen ausgerichtet ist, stets fragwürdig, in der Regel zwielichtig? Nicht immer passt der Andere und Fremde genau in das Bild, das man gern von ihm haben möchte. Der Andere kann sein, wie er will, er wird nie ganz genau so sein, wie man ihn haben will. Die Anderen sind gerade dazu da, um – unter Maßgabe der eigenen Absichten und Ziele – verändert und anhand eines impliziten, verinnerlichten, imaginierten und ersehnten ‚vollkommenen‘ und ‚besseren‘ Bildes vom Menschen ‚optimiert‘ zu werden. Diese Art zu fragen geht sicherlich über den spezifischen Missionskontext hinaus. Was hier eingefordert wird, ist eine verallgemeinerungsfähige anthropologische Erklärung. Vor dem Hintergrund, dass zielorientiertes, strategisches Handeln in einer kulturell differenzierten, in Fragen der Lebensführung liberalisierten, pluralisierten und individualisierten Welt nicht selten problematisch und prekär ist, zielen die folgenden Überlegungen – auf Basis der empirischen Konkretisierung im Rahmen christlicher Mission – auf eine Abstrahierung des ‚Prototyps‘ (Saler 1993) einer Optimierung des Humanen. Diese Praxis kennzeichnet ganz allgemein ein auf die Selbst- und Fremdoptimierung zielendes Handeln: Persuasive Kommunikation zeichnet sich erstens insbesondere dadurch aus, die eigenen Ansprüche und Überzeugungen zu verwirk-

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lichen, wobei sich die Akteure dabei verschiedener manipulativer Mittel bedienen. Menschen mögen noch so großen Respekt gegenüber dem freien Willen der Anderen haben, die Freiwilligkeit des Gewissens betonen, die Überzeugungen und Orientierungen der Anderen wertschätzen und Werte und Normen eines guten, erfüllten und glücklichen Lebens verinnerlicht haben. Im Dialog und Austausch mit den Mitmenschen kommt es dennoch oft anders. Menschen wissen zu einem doch beträchtlichen Teil um ihre individuellen Ansichten, Lebensgrundsätze und Orientierungen und handeln wissentlich danach, um den ‚ganzen‘ Menschen, den sie vor sich haben (und der auch man selbst sein kann), umzugestalten. Die (friedliche) Koexistenz und Kooperation mit den Anderen und der noch so uneigennützige Dienst gegenüber dem Nächsten dient häufig auch deren gezielter Überzeugung und Überredung zum Zwecke ihrer Veränderung. Diese Einverleibung der fremden Anderen mit dem Ziel der Anpassung an das Eigene verträgt sich nicht immer mit den (noch so begrüßenswerten) altruistischen Motiven und der Achtung und Anerkennung fremder kultureller Lebensformen, was gemeinhin als ein Ziel ‚interkultureller Kommunikation‘ bzw. ‚interkultureller Kompetenz‘ angesehen wird (Straub 2007). Der Anspruch einer Optimierung der Anderen trifft zweitens in einer durch das Gebot der Achtung, Anerkennung und Toleranz geprägten multikulturellen ‚Welt(risiko)gesellschaft‘ (Beck 2007) oft auf Kritik und Unverständnis. Wie sollte es auch anders sein? Dem Optimierungsanspruch haftet etwas an, womit man sich weder abfinden kann noch will: Dominanz, Absolutheit und eine ethnozentrische Verengung. Neben aller Selbstlosigkeit des eigenen Handelns, neben altruistischen Einstellungen und pro-sozialem Verhalten geht es auch um eine Transformation und Ausbreitung der eigenen Überzeugungen und Geltungsansprüche. Und dennoch können Optimierungsstrategien nicht einfach mit Gewalt oder Intoleranz gleichgesetzt werden, so fragwürdig und bedenkenswert diese Spannungsverhältnisse auch bleiben mögen. Das Streben nach Überzeugung und Veränderung der fremden Anderen ist stets ambivalent: Die Anderen und Fremden werden als veränderungsbedürftig betrachtet und gerade nicht so angenommen, wie sie eben sind. Strategisches, zielgerichtetes Handeln zur Optimierung und Veränderung der Anderen ist im Zentrum des skizzierten, komplexen und anspruchsvollen Spannungsfeldes angesiedelt: Eine Überzeugung von Anderen scheint aber auch unmittelbar mit dem

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Willen zur ‚Selbstentfaltung und -verwirklichung‘ und zugleich mit dem Streben nach Anerkennung und Toleranz verknüpft zu sein. Intendierte Veränderungen sind immer auch eine Arbeit am eigenen Selbstbild, Fremd- und Selbstoptimierungen gehen Hand in Hand. Ein auf die Optimierung anderer ausgerichtetes, zweckorientiertes Handeln zeitigt schließlich drittens gewisse Folgen für die zwischenmenschliche Verständigung, nämlich immer dann, wenn im Rahmen des absichtsvollen kommunikativen Handelns (wie z.B. im Rahmen von Missionierungs- und Persuasionsstrategien) ‚Phänomene der dritten Art‘ auftreten, die für verschiedene Formen von Kommunikation und Interaktion charakteristisch sind. Eine dialogische und kommunikative Praxis, die zielgerichtet und absichtsvoll geschieht, kann bei allen Akteuren zu nicht gewollten, aber dennoch (auch implizit) vollzogenen ‚Veränderungen‘ führen. Keiner der Beteiligten wird aus dem Gespräch so herausgehen, wie er hineingegangen ist. In der interkulturellen Hermeneutik spricht man diesbezüglich auch von Horizonterweiterungen und Selbstveränderungen auf Grundlage der Begegnung von ‚Eigenem‘ und ‚Fremden‘. Auch wenn diese Veränderungen gering ausfallen sollten, schafft der dialogisch-diskursive Austausch stets neue Verhältnisse und verändert alle Beteiligten gleichsam, die absichtsvoll und zweckorientiert handelnden Akteure selbst und die fremden AdressatInnen dieses Handelns.

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Verdatete Normalisierungen und Optimierungen

Erinnerung an den (flexibel-) normalistischen Rahmen von HumanOptimierungsprozessen in modernen okzidentalen Gesellschaften J ÜRGEN L INK

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf eine Reihe recht verschiedener Tendenzen zur Optimierung (enhancement) menschlicher Eigenschaften: Von psychologischen Trainingsprogrammen zur Selbstformung (vgl. die Beiträge von Sieben und Elberfeld in diesem Band) über chemisches neuro-enhancing, polemisch als ‚Gehirn-Doping‘ bekannt (vgl. Kipke in diesem Band), über kosmetische Chirurgie zwecks gesteigerter ‚Schönheit‘ (vgl. Ruck in diesem Band) bis hin zu Möglichkeiten genetischer Manipulation. Obwohl diese Tendenzen nicht bloß sehr verschiedene, weniger oder stärker technische Verfahren benutzen – obwohl sie historisch gesehen teils auf Traditionen zurückblicken, teils ganz neu emergieren – obwohl sie unter ethischen Gesichtspunkten ebenfalls stark zu differenzieren sind, gibt es auch für ihre synthetische Betrachtung gute historische Gründe. Von einem dieser Gründe, nämlich dem gemeinsamen normalistischen Rahmen sämtlicher Optimierungstendenzen, soll im Folgenden die Rede sein. Bekanntlich sind moderne Gesellschaften okzidentalen Typs unter technischen Gesichtspunkten industrialistisch, wissenssoziologisch gesehen szientistisch, ökonomisch kapitalistisch, sozial individualistisch, politisch massenmedialdemokratisch und noch einiges mehr. All diese, miteinander interferierenden Determinanten werden von der Normalis-

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mustheorie vorausgesetzt. Im Unterschied zu ihnen beschränkt sich der Normalismus auf eine Praxis der hauptsächlich quantitativen Registrierung, Kontrolle und ggf. nachträglichen Adjustierung und Regulierung. Er besitzt keine eigene determinationsträchtige Substanz, lässt sich aber auf alle substanziell determinierenden Praktiken anwenden und taugt daher als kultureller Integrator ersten Ranges. Er benutzt den Umstand, dass moderne Gesellschaften nicht bloß industrialistische, kapitalistische usw., sondern auch verdatete Gesellschaften sind.

D ER N ORMALISMUS IN VERDATETEN G ESELLSCHAFTEN Ich beginne demnach mit einer – notwendig sehr konzentrierten und entsprechend verkürzten – Skizze des andernorts ausführlich – systematisch und historisch – entwickelten Konzepts „Normalismus“ (Link 2009). Nun gehört das Wortfeld des „Normalen“ („normal“, „Normalität“, „Normalisierung“), einschließlich des „Anormalen“ („abnorm“, „Abnormität“, „Anomalie“), zwar zu den sicherlich am häufigsten benutzten in aktuellen Diskursen, aber auch zu den unschärfsten, widersprüchlichsten und konfusesten. Vermutlich deshalb hat sich die Soziologie in der letzten Zeit nicht mehr mit der Normalität beschäftigt, während noch ein Klassiker wie Émile Durkheim ihr eine ganze Publikation gewidmet hatte. Meine Studie über den Normalismus beruht auf der These, dass die Kategorie der Normalität nicht nur faktisch eine dominierende Rolle in modernen Spezial- und Interdiskursen spielt, sondern dass es sich dabei im Kern um einen Komplex handelt, der sich durchaus operativ definieren, analysieren und beschreiben lässt. Normalismus nenne ich ein Regime der Regulierung moderner Dynamiken auf der Basis statistischer Verdatung. Was sind verdatete Gesellschaften? Verdatete Gesellschaften sind solche, in denen ein ‚Wille‘ zur möglichst totalen statistischen Selbsttransparenz herrscht. Historisch gesehen, werden in zunehmend vielen gesellschaftlichen Bereichen flächendeckend und routinemäßig kontinuierlich Massendaten erhoben, um die jeweiligen Massenverteilungen konstruieren zu können. Diese Verdatung beginnt historisch mit direkt physisch messbaren Feldern wie meteorologischen, demografischen, ökonomischen (Waren- und Kapitalströme), körperbezogenen (Körpergröße, Körpergewicht usw.), medizinischen (Körpertemperatur

E RINNERUNG

AN DEN

R AHMEN

VON

H UMAN -O PTIMIERUNGSPROZESSEN

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usw.) und soziologischen (Einkommensverteilung usw.). Später werden indirekte Methoden der Messung entwickelt, um auch psychische Phänomene verdaten zu können. Die Methode der anonymisierten Umfragen beruht auf der Annahme, dass absichtliche Täuschungen selten sind und sich in der Masse ausgleichen. Tatsächlich entsteht bei den Subjekten verdateter Gesellschaften eine Art ‚Wille zum Bekenntnis der eigenen Daten‘. Die Methode der Tests beruht dagegen auf der Annahme, dass für unzugängliche Objekte messbare Symptome gefunden werden können (Intelligenzquotient, Stresstest usw.). Schließlich werden sowohl bei Befragungen wie bei indirekten Leistungsmessungen imaginäre Punkte-Skalen entwickelt, und diese tendenziell totale ‚Verpunktung‘ ist vielleicht die am meisten charakteristische Tendenz der Verdatung. All das gehört zum Alltag eines praktischen Soziologen und fällt vielleicht deshalb in den toten Winkel der reflektierenden Aufmerksamkeit. Was sind nun die Charakteristika des spezifisch normalistischen ‚Blicks‘ auf die Daten? Verdatung ist noch nicht Normalismus – sie ist dessen notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung. Der normalistische Blick auf die Daten ist allgemein an Verteilungskurven und insbesondere am Vergleich mit den normalistischen Basiskurven, also der Normalverteilung in der Synchronie (im räumlichen Nebeneinander) bzw. der wachsenden Schlange in der Diachronie (im zeitlichen Nacheinander), interessiert. Unter der wachsenden Schlange verstehe ich eine ununterbrochene Serie logistischer Kurven, wie sie den Idealtyp des normalen Wachstums, etwa als ideale Kurve der Konjunktur, darstellt: starker Aufschwung, Abflachung bis zum Nullwachstum, neuer Aufschwung und so weiter. Da beide Kurven perfekt symmetrisch sind, scheinen sie zu signalisieren, dass eine konkrete Massenverteilung bzw. dass ein konkretes massenhaftes Wachstum sich in einem Zustand von Gleichgewicht bzw. Stabilität befindet. Hier zeigt sich also die Funktion der Normalität als dynamische Spielart von Stabilität. Ein fortgesetztes exponentielles Wachstum würde, wie intuitiv deutlich ist, in eine katastrophische Situation führen. Es muss also zyklisch jeweils wieder ‚gebremst‘, d.h. ‚normalisiert‘ werden. Man kann daher den Normalismus auch bildlich als die notwendige Bremse für den Motor der modernen Wachstumsdynamik begreifen.

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G RENZEN

DER

N ORMALITÄT

Dabei geht es in der historischen Konkretion keineswegs um mathematisch exakte Normal- bzw. Logistik-Kurven, sondern meistens lediglich um vage Annäherungen an die Glockenform, die ich als „symbolisch gaußoide“ Verteilungen bezeichne (bzw. entsprechend an die Logistik-Kurven): Im ersten Fall deutliche Zentraltendenz (mainstreaming, d.h. quantitatives Überwiegen der Zone der Durchschnitte) und zwei annähernd symmetrische, glockenartig gegen Null abfallende Seitenäste (Extreme). Normalistisch ist nun die Auffassung, dass der Grad an Normalität je nach Segment der Kurve steigt bzw. fällt: In der mittleren Zone der Durchschnitte ist der Grad an Normalität maximal, nach beiden Richtungen fallend nimmt er graduell ab, bleibt aber noch im sogenannten normal range (im normalen Spektrum), bevor er an den beiden Extremen minimal wird. Beim Übergang von Graden, die noch knapp im normal range liegen, zu minimalen Graden liegen nun die für normalistische Regulation wichtigen Normalitätsgrenzen. Angenommen, ein IQ-Wert von 65 werde als Symptom von kognitiver Anormalität (‚geistiger Behinderung‘) interpretiert, so ergeben sich daraus möglicherweise gesellschaftliche Konsequenzen von enormer Tragweite (institutionelle Separation oder gar Sterilisierung bis hin zu Tötung im Dritten Reich). Analoges gilt für sämtliche Bereiche (medizinisch etwa Blutdruck- und andere Körperwerte, soziologisch etwa Minimaleinkommen usw.). Allerdings löst die Überschreitung von Normalitätsgrenzen in den meisten Fällen zunächst nur ein sogenanntes Frühwarnsignal (early warning signal) aus, das Handlungsbedarf signalisiert, worunter im Normalismus eben Normalisierungsbedarf zu verstehen ist. Im historischen Verlauf lassen sich sehr verschiedene Strategien der Festlegung von Normalitätsgrenzen sowie der Reaktion auf deren Überschreitung beobachten: idealtypisch zwischen den Polen extrem ‚enger‘ und rigider Normalitätsgrenzen mit ‚harten‘ Reaktionen (Protonormalismus) und extrem ‚weiter‘ und poröser Handhabung und ‚weichen‘ Reaktionen (flexibler Normalismus).

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Der ‚Wille zur Optimierung‘ ist dabei jeweils auf das obere Kurvensegment, auf die Annäherung an die und die Überschreitung der oberen Normalitätsgrenze, also auf die ‚Supernormalität‘ gerichtet. Tatsächlich gehört es zu den wesentlichen Unterschieden zwischen Protonormalismus und flexiblem Normalismus, dass der zweite die Supernormalität nicht länger wie der erste für wenige ‚Genies‘ reserviert (die dabei stets unter dem schaudererregenden, mit der Formel „Genie und Wahnsinn“ bezeichneten Risiko des Absturzes in die Subnormalität leben), sondern dass er das Streben nach Supernormalität popularisiert. Dementsprechend funktioniert die obere Normalitätsgrenze im flexiblen Normalismus grundsätzlich anders als die untere: die obere wird ambivalent zwischen Attraktion und Repulsion. Sie wird attraktiv, indem sie peak experiences verheißt, bleibt aber ambivalent, indem sie gleichzeitig immer vor großen Risiken der Transgression, typischerweise Risiken der Sucht, warnt. Flexibel-normalistisch ist also eine Art Spiel mit der oberen Normalitätsgrenze und mit der Supernormalität, bei dem die versichernde Rückkehr in den normal range stets offengehalten werden soll. Diese ambivalente Attraktivität der oberen Normalitätsgrenze (die sie grundsätzlich von der unteren unterscheidet) war jedoch, historisch betrachtet, von Anfang an in jeder Form des Normalismus angelegt. Denn als Bremse des Motors der modernen Wachstumsdynamik ist der Normalismus wesenhaft auf den großen ‚Willen zum Fortschritt‘, auf den großen Trend zu epochalem enhancement, auf das große thumps up der okzidentalen Moderne bezogen. Die in der Synchronie nur scheinbar statische Normalverteilung muss daher stets der Wachstumsdynamik in der Diachronie untergeordnet werden. Es ist wie paradigmatisch im Sport: Was letztlich zählt, ist nicht der Sieg in der Synchronie des einzelnen Wettkampfs, sondern der stets höher ausgreifende Rekord in der Diachronie. Was vor 100 Jahren ein langes Leben war, ist heute Durchschnitt, was damals ein hoher Lohn oder ein hoher Profit, wäre heute hunger- bzw. insolvenzträchtig. Was Gerhard Schulze (2004) als „Steigerungsspiel“ bezeichnet, meint genau diese Tendenz zu growth (und damit Optimierung) auf allen, sowohl physischen wie psychischen Ebenen, in der okzidentalen Moderne. Die Normalverteilung verschiebt sich also historisch nach oben, und der

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‚Wille zur Supernormalität‘ war dabei von Beginn an der heimliche Motor.

F RANCIS G ALTON UND T HILO S ARRAZIN : N ORMALISTISCHE O PTIMIERUNG DER I NTELLIGENZ Niemand hat diese strukturelle Dynamik des Normalismus so deutlich im Blick gehabt, niemand hat sie – avant Thilo Sarrazin, der ihn deshalb noch heute wie einen Heiligen verehrt – gleichzeitig so sehr gefürchtet (weshalb er die Eugenik erfand) wie Darwins Vetter Francis Galton (zu Galtons Schlüsselrolle in der Geschichte des Normalismus siehe ausführlich: Link 2009: 233-243). Wie sein bornierter Epigone Sarrazin war Galton ein Fanatiker der Statistik und genauer der Messung sogenannter human faculties, also menschlicher Leistungen. Dabei interessierten ihn besonders – nomen est omen – die sports, d.h. die Höchstleistungen, anders gesagt, die Überschreitung der oberen Normalitätsgrenze und die Supernormalität. So erfand er auch die systematische (auf Genealogie und Hypothesen der Vererbung begründete) Genieforschung, die Zwillingsforschung, die Korrelationsanalyse und das Galtonbrett (Quincunx) zur Simulation der Entstehung von Binomialverteilungen (mit der Tendenz Normalverteilung) bei Massen mit gleichen Verteilungschancen. Auch für die quantitative, auf Kalkulationsfähigkeit getrimmte, ‚Intelligenz‘-Forschung, die dann von Binet und Simon in Richtung IQ systematisiert wurde, leistete er wesentliche Vorarbeiten. Wie im „Versuch über den Normalismus“ (Link 2009) ausführlich dargestellt, begriff Galton als erster deutlich den Zusammenhang zwischen der Normalverteilung in der Synchronie und der Wachstumskurve des Fortschritts in der Diachronie. Er interpretierte diesen Zusammenhang aber als latent tragisch: Da ihm die Vorstellung der wachsenden Schlange (also der Serie logistischer Kurven) fehlte, benutzte er als Basiskurve für die Diachronie die sogenannte „Ogive“, die in einen exponentiellen Aufschwung zur ‚Genialität‘ mündet. Dieser exponentielle Ast erschien nicht bloß als gefährliche Tendenz, sondern ließ sich, wie die Vererbungsstudien zu Genies ergaben, auch nicht genetisch stabilisieren – alle sports fielen später in den normal range zurück, was Galton als „Gesetz der Regression“ formulierte. Galtons subjektiver Denormalisierungsangst (er durchlebte, wie er in seiner Autobiografie schildert, Phasen schwerer psychophy-

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sischer Störungen) entsprach also eine objektive: Der ‚Fortschritt‘ schien wie die Echternacher Springprozession immer erneut zurückgeworfen zu werden. Deshalb erfand Galton schließlich auch noch die Eugenik, deren Verfahren von Sarrazin getreu kopiert wurden: Durch Heiratsverbote sollte die Fertilität des „unteren Quintils“ reduziert und durch positive Anreize die des oberen verstärkt werden. Denn die Hebung der gesamten synchronischen Normalverteilung schien nur durch massenhaftes enhancement erreichbar zu sein. O-Ton Galton (fast wörtlich von Sarrazin übernommen und von der SPD als „normale Position einer linken Mitte“ abgesegnet): „Wir hören als Nation auf, Intelligenz zu züchten [breed intelligence], wie wir es vor 100 bis 50 Jahren taten. Das geistig bessere Erbgut [mentally better stock] in der Nation reproduziert sich nicht mehr mit derselben Rate wie früher; die weniger Fähigen und weniger Energischen sind fruchtbarer als das bessere Erbgut. Kein Schema breiterer und besserer Erziehung kann auf der Intelligenzskala schwaches Erbgut auf das Niveau von starkem Erbgut bringen. Das einzige Heilmittel besteht darin [...], die relative Fruchtbarkeit des guten und schlechten Erbguts in der Gemeinschaft [community] zu modifizieren.“ (Link 2009: 239)

Dazu Sarrazins (2010) Konkretisierung ein gutes Jahrhundert später: „Es führt zu nichts, im Zusammenhang mit der Pisa-Diskussion Umwelt und Erblichkeit gegeneinander in Stellung zu bringen. Bei einer Erbkomponente von 80 Prozent und einer Umweltkomponente von 20 Prozent könnten günstige Umweltbedingungen den gemessenen IQ um sieben Punkte erhöhen, wenn sich die Umweltbedingungen um eine Standardabweichung verbessern. [... ] Die beste Schule macht ein dummes Kind nicht klug, und die schlechteste Schule macht ein kluges Kind nicht dumm.“ (Sarrazin 2010: 215)

Sowie: „Wie viele Emotionen in all diesen Fragen stecken, offenbarte sich beim Kitastreik im Sommer 2009. Es ging dabei auch um die Qualität der Ausbildung von Erzieherinnen. Forderungen wurden laut, den Beruf des Erziehers an ein Hochschulstudium zu binden. Damit wäre der Gipfel einer verqueren Logik erreicht, die durch folgende Überspitzung auf den Punkt gebracht wird: Kinderlose beziehungsweise kinderarme akademisch ausgebildete Erzieherinnen ver-

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zichten auf eigenen, möglicherweise intelligenten Nachwuchs, um sich der frühkindlichen Erziehung von Kindern aus der deutschen Unterschicht und aus bildungsfernem migrantischen Milieu zu widmen, die im Durchschnitt weder intellektuell noch sozial das Potential mitbringen, das ihre eigenen Kinder hätten haben können. Ist das die Zukunft der Bildungsrepublik Deutschland?“ (Ebd.: 245)

Bei Sarrazin geht es wie schon bei Galton um die Optimierung der Intelligenz – worunter beide vor allem kalkulatorische Fähigkeiten verstehen, wie sie auch von den marktgängigen IQ-Testbatterien angelsächsischen Typs gemessen werden. Das insbesondere in den USA verbreitete Training für optimale IQ-Testresultate zählt durchaus zur „Optimierung menschlicher Leistungen“, wird aber meistens nicht zu deren engeren Spielarten gezählt. Allerdings lässt sich konstatieren, dass Galton auch die meisten der Dimensionen für aktuell diskutierte Optimierungen (wie Gesundheit, besonders geistige Gesundheit, Stärke und Schönheit) bereits im Blick hatte. Hier muss ein weiterer eminent wichtiger Faktor in Galtons normalistischem Dispositiv ergänzt werden, und zwar der der Konkurrenz. Genuin normalistische Konkurrenz in diesem Sinne meint nicht irgendeine Art von Rivalität oder Kampfspiel, sondern präzise den quantitativen (‚verpunkteten‘) Vergleich individueller Leistungen innerhalb einer eng definierten Dimension (eines Normalfelds) – typisch dafür ist eine Schönheitskonkurrenz. Genau solche Konkurrenzen (zwischen Stärke und Schönheit) verpunktete Galton in seinem biometrischen Labor. Jedes Individuum wird dabei auf seine Leistung in einem speziellen Normalfeld reduziert, gemessen und gerankt.

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Die Rekonstruktion des normalistischen Rahmens (illustriert am historisch paradigmatischen und exemplarischen Fall Galton) erlaubt nun einen spezifischen Blick auf die aktuellen Verfahren der Human-Optimierung. Diese Verfahren erweisen sich als größtenteils normalismuskompatibel, ja sogar – nicht nur, aber auch – normalismuskonstituiert. Galton war – ebenfalls avant Sarrazin – der Typ des Protonormalisten, der die untere Normalitätsgrenze sehr hoch (über dem untersten Quin-

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til) ansetzte und der für rabiate, eben eugenische, Methoden der Ausdünnung von Subnormalität eintrat. Gleichzeitig leistete er durch seine stark dynamische, auf Optimierung zielende Auffassung von Normalität aber auch indirekt Vorarbeit für deren spätere Flexibilisierung. Wenn er auch besonders Genialität ‚züchten‘ wollte, so sah er die massenhafte, breite ‚Züchtung von Intelligenz‘ durch körperliche und geistige Trainingsprogramme sowie eugenische Aufklärung für die Massen als notwendige Bedingung für das Auftauchen von Genialität. Der historische Erfolg des flexiblen Normalismus in den westlichen Ländern mit relativ hohem und relativ glockenförmig verteiltem Lebensstandard nach 1945 machte nun den Weg frei für sämtliche Tendenzen der Human-Optimierung. In dem Kapitel „Die eklektizistische Massen-Therapie-Kultur (‚Therapie der Normalen‘) in den USA“ des „Versuchs über den Normalismus“ (Link 2009: 400-407) wird dargestellt, wie die verschiedenen Theorien und Therapien des personal growth – die mehr quantitativen wie die mehr qualitativen, die mehr behavioristischen wie die mehr humanistischen (vgl. zu diesen beiden Hauptströmungen auch den Beitrag von Anna Sieben in diesem Band) – in ihrer eklektischen Massifizierung sich um den gleichen Vektor dimensionsspezifischer Optimierung ordnen. Um das von Roland Kipke in seinem Beitrag zu diesem Band diskutierte Beispiel einer positiv interpretierten Selbstformierung aufzugreifen: Wenn er diese Art Optimierung scharf von dem „unternehmerischen Selbst“, wie Ulrich Bröckling (2007) es beschrieben hat, abgrenzen möchte, so könnte der normalistische Aspekt als zusätzliches Kriterium dienen. Kipke kritisiert an Bröcklings Sicht imgrunde einen ökonomischen Reduktionismus. Tatsächlich begreift Bröckling das Paradigma des entrepreneurialen Subjekts aber nicht als eindimensional ökonomisch (monetär), sondern als multidimensional kulturell – normalismustheoretisch ließe sich präzisieren, dass es dem unternehmerischen Subjekt nicht bloß um monetären, sondern immer gleichzeitig auch um normalistischen growth geht: Es strebt potentiell auch nach growth in Kreativität („Kreativwirtschaft“). Allerdings bleibt die normalistische Verpunktung von Kreativität solange ein Problem, wie sie noch nicht – etwa durch gehirninvasive Methoden – direkt gemessen werden kann. So lange dienen verpunktete Expertenschätzungen (etwa bei Förderungsanträgen von „Kreativ“-Startups) als Ersatz. Insgesamt und in der Masse fallen indirekte Methoden der

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Verpunktung schließlich meistens dennoch auf das monetäre Kriterium der Messung zurück. In Kipkes „Lebensplänen“ soll es dagegen um eine gänzlich qualitative, gänzlich autonome Human-Optimierung ohne jede Verpunktung oder gar Monetarisierung des growth gehen. Das ist ein transnormalistisches, eurhythmisches Konzept („Eurhythmie“ verstanden als „gut rhythmisiertes Leben“). Es setzt als conditio sine qua non genuine Autonomie voraus. Der normalismustheoretisch informierte Blick wird ein solches Projekt mit viel Sympathie begrüßen, seine Chancen aber auch mit einer gewissen realistischen Skepsis einschätzen. Das Problem liegt im Begriff der „Autonomie“: Dabei wäre zwischen individueller und sozialer Autonomie zu unterscheiden. Eine individuelle Autonomie ohne soziale Autonomie, anders gesagt eine lediglich auf individueller Ebene reklamierte Autonomie in einer heteronomisch strukturierten Gesellschaft, riskiert die Überdetermination durch eine oder mehrere Heteronomien. Eine solche Heteronomie stellt der normalistische Rahmen moderner okzidentaler Gesellschaften nicht weniger als ihr kapitalistischer Rahmen dar. Die realexistierende Autonomie ist die individualistische, deren jeweiliger growth aber normalistisch und konkurrenzlogisch nach jeweiligen Normalfeldern dimensioniert, auf dieser Basis mit anderen Individuen verglichen und tendenziell verpunktet wird. Das ist eine gesellschaftliche Tendenz, die unabhängig von individuellen Automonieansprüchen wirkt. Das lässt sich exemplarisch am Beispiel des anti-behavioristischen und humanistischen Psychotherapeuten Gordon Allport bestätigen. Allport polemisiert scheinbar anti-normalistisch oder zumindest protonormalistisch gegen die Statistik in der Psychologie. Seine Hauptthese, derzufolge jedes Individuum kraft eines einmaligen „Proprium“ von jedem anderen diskontinuierlich geschieden wäre, erweist sich jedoch de facto als durchaus kompatibel mit kontinuierlich gestreuten growth-Kurven und damit mit kontinuierlichen Normalfeldern. Von Alfred Adler übernimmt Allport die Vorstellung einer steigenden (growth) teleologischen Lebenskurve. Sein symbolischer Fall ist Roald Amundsen, der seit dem Alter von 15 Jahren bis zu seinem Tode das Ziel der Erreichung beider Pole konsequent verfolgt habe (Allport 1958: 50-51; 64). Ein solches „Eigenstreben“ (propriate) sei aber „jeder Persönlichkeit“ eigen (ebd.: 51). Allport weiß nicht, wieviel er damit sagt. Der Amundsen-Mythos des Wettlaufs zum Pol ist einer der konstitutiven Mythen von Leistungskonkurrenz im 20. Jahrhundert: Er hat buchstäb-

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lich die Konkurrenz zweier paralleler und konvergierender Lebenslinien in den Schnee der Antarktis eingeschrieben. Nichts kann schöner als die flache Schneefläche des sechsten Kontinents ein homogenes Normalfeld symbolisieren. Nichts zeigt deutlicher, dass Allports pathetisch beschworene „Propria“ insgesamt einen homogenen Kurven-Fächer bilden. Das Individualitäts-Pathos erweist sich also als durchaus kompatibles und vor allem sehr brauchbares Ingrediens des Flexibilitäts-Normalismus: Es stärkt die Bewegungs-Energie der Lebens-Linien, ihre Kreativität, Spontaneität und Bereitschaft, in Risikozonen auszuschwärmen und borderline-Zonen zu explorieren. Dafür gibt es kein schöneres Symbol als die Pole in ihrer Doppeldeutigkeit von Extremen und Konvergenzpunkten. Denken wir uns statt des Wettlaufs der Zwei zum Pol einen Massenwettlauf, dann entsteht daraus – wie beim Massenmarathon – die annähernde Normalverteilung mit kleiner Spitze, breitem Mittelfeld und kleinem Schwanz. Ein ähnliches Resultat dürfte jeder massenhafte Optimierungswettlauf zeitigen – unabhängig von explizit normalistischem oder aber extrem individualistischem Selbstverständnis. In der US-amerikanischen Massentherapiekultur der zweiten Nachkriegszeit (einschließlich Selbsterfahrung) sind die meisten aktuellen Optimierungsprojekte bereits angelegt. In dieser flexibel-normalistischen Kultur lässt sich die starke Tendenz zur Normalisierung auch qualitativer Verfahren von enhancement beobachten, sobald sie en masse implementiert werden: So wie die Motivation die subjektive Gleitschiene der modernen Motorisierung (im weiten Sinne) ist, so der Optimismus (thumps up!) die der Optimierung. In beiden Fällen erzwingt das Konkurrenz-Dispositiv den dimensionsbezogenen Vergleich zwischen den Individuen, woraus ihre zunächst imaginäre, dann tatsächliche Verpunktung und daraus das normalistische Ranking entspringt. Die Verpunktung muss dann nur noch monetarisiert werden, um auch dem Kapitalismus zu genügen. Die Schwierigkeiten eines Ausbruchs aus diesem Rahmen zugunsten eines ganz anderen, ganz autonomen Typs von Optimierung, für den dieser Begriff allerdings kaum noch angemessen erscheint, sollten nicht unterschätzt werden.

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L ITERATUR Allport, Gordon Willard (1958): Werden der Persönlichkeit. Gedanken zur Grundlegung einer Psychologie der Persönlichkeit, Bern: Huber. Bröckling, Ulrich (2007): Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Link, Jürgen (2009): Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 4. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, 12. Aufl., München: Deutsche Verlags-Anstalt. Schulze, Gerhard (2004): Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? Frankfurt a.M.: Fischer.

Divide et Impera Parallelismus als Selbstoptimierung S TEFAN R IEGER Ich bin zwei Öltanks. WERBESLOGAN DER HAASE GFKTECHNIK GMBH Ich darf daher jetzt wohl glauben, dass nach solchen Betrachtungen niemand mehr über Möglichkeit oder Nichtmöglichseyn der Zerstückung von Seelen sich den Kopf zerbrechen werde! Der in viele Stückchen zerschnittene Trembley´sche Polyp, der wie der Quecksilbertropfen nur sein eigenes Wesen immer von Neuem wiederholt, sagt am Besten hier die ganze und einzige Wahrheit. CARUS 1986: 35

I. Der Flaschenhals bringt nicht nur die intellektuelle Befindlichkeit der Technik an den Tag. Einem der Begründer der modernen Datenverarbeitung, dem amerikanischen Informatiker John Warner Backus zufolge, veranschaulicht die Metaphorik des bottleneck die Möglichkeitsbedingung und zugleich ein Grundproblem der Datenverarbeitung überhaupt – ihren technisch bedingten Hang zur Serialität. Anlass dieser Überlegungen sind Rechner mit der dreigeteilten und nach

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Mathematiker John von Neumann (1903-1958) benannten John-vonNeumann-Architektur, bestehend aus einer CPU (Central Processing Unit), Speichereinheiten und einem Bussystem für Daten und Adressen. Die Abarbeitung der binär codierten und im selben Speicher wie die verwendeten Daten vorliegenden Befehle erfolgt dabei streng seriell.1 Beschrieben wird dieser für die moderne Rechnerentwicklung maßgebliche Typ im „First Draft of a Report on the EDVAC“. Dieser Entwurf aus dem Jahr 1945 war zunächst als internes Selbstverständigungspapier für eine Gruppe von Wissenschaftlern geplant, die an der EDVAC, dem Nachfolgemodell des ersten Röhrencomputers ENIAC arbeiteten. Über interne Kreise gelangte das zunächst unveröffentlichte Manuskript jedoch schnell an die wissenschaftliche Öffentlichkeit. Das dort vorgestellte Modell verpflichtet die Datenverarbeitung auf ein Prinzip des schieren Nacheinanders, demzufolge sich im Flaschenhals Verarbeitungsprozesse stauen, was wiederum Verzögerungen zur Folge hat. Damit war eine Eigenheit benannt, für die Backus 1977 in seiner ACM Turing Award Lecture die Rede vom John-von-Neumann-Bottleneck geprägt und damit eine Formulierung in die Welt gesetzt hat, deren Lesarten zwischen einem Wörtlichnehmen und ihren übertragenen Verwendungsweisen oszilliert. „Surely there must be a less primitive way of making big changes in the store than by pushing vast numbers of words back and forth through the von Neumann bottleneck. Not only is this tube a literal bottleneck for the data traffic of a problem, but, more importantly, it is an intellectual bottleneck that has kept us tied to word-at-a-time thinking instead of encouraging us to think in terms of the larger conceptual units of the task at hand. Thus programming is basically planning and detailing the enormous traffic of words through the von Neumann bottleneck, and much of that traffic concerns not significant data itself, but where to find it.“ (Backus 1977: 615)

Mit der Befundlage einer Metapher, die ihr Maß immer schon am menschlichen Körper genommen hat und ihrer Übertragung auf die intellektuelle Problemlage einer technischen Datenverarbeitung ist die Suche nach Optimierungen, nach alternativen Architekturen und

1

Ein Modellrechner dieses von Neumann Typs steht unter der Bezeichnung MOPS zum Download bereit. Vgl. dazu http://www.heise.de/software/ download/mops/57789; (letzter Zugriff: 24.09.09).

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Programmierstilen eröffnet (vgl. Backus 1977: 613-641). Diese findet ihr Telos in Strategien der Parallelverarbeitung, des Time-Sharing und des Multi-Tasking.2

II. Mit dem Befund, dass im Parallelismus ein großes Optimierungspotential gegenüber der Serialität schlummert, ist ein Allgemeinplatz nicht nur der technischen, sondern auch der anthropologischen Datenverarbeitung aufgerufen. Unter dieser Formel sollen im Folgenden Operationen gefasst werden, deren Ziel in der Optimierung des Menschen und seiner Vermögen liegt. Die folgenden Ausführungen kaprizieren sich dazu auf die Erfolgs- und Überlieferungsgeschichte operativ verbesserter Gedächtnisleistungen. Die memoria, als Systembestandteil der antiken Rhetorik für die Prozessierbarkeit zu haltender Reden zuständig, untersteht Strategien der Selbstoptimierung, in deren Gefolge sich eine eindrucksvolle Kultur der Sorge um das Gedächtnis als Exemplum anthropologischer Parallel-Datenverarbeitung etabliert (vgl. Rieger 1997). Ihre Historiographie gibt immer wieder personale Beispiele dafür an, dass und wie Menschen sich optimiert haben oder als optimierte geschildert wurden – indem sie sich zu vervielfältigen wussten.3 Als Gewährsleute geglückter Selbstoptimierung werden von der Gedächtniskunstberichterstattung Feldherren wie Cäsar oder Napoleon ins Feld geführt, von denen wundersame Anekdoten von Parallelverarbeitung überliefert und als Lernziel für künftige Adepten eigens benannt sind – etwa die Fähigkeit, mehreren Schreibern gleichzeitig in die Federn zu diktieren. Gleichzeitigkeit und Parallelismus werden zum Erfolgsprinzip – wie es ein „Compendium der Mnemonik oder

2

Der Parallelismus wird zum einen als Besonderheit des menschlichen Gehirns herausgestellt. Dafür einschlägig sind die Arbeiten von David E. Rumelhart und James L. McClelland über Parallel Distributed Processing (PDP). Zum anderen findet der Parallelismus Einzug in Rechnerarchitekturen, um so den Flaschenhals zu umgehen.

3

Einen Spezialfall kulturtechnisch vermittelter Selbstvervielfältigung stellt der Ventriloquismus dar. Vgl. dazu Flatau 1899; ders./Gutzmann 1894; Rieger 2010.

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Erinnerungswissenschaft“ von 1804 gleich für die Vertreter mehrerer Berufsstände verspricht. „‚Ein Advokat, sagt er, der zu gleicher Zeit 100 und mehr Prozesse führt, kann, mit Hülfe dieser Kunst, sie alle, nach ihrer ganzen factischen Mannichfaltigkeit, dem Gedächtniss einverleiben, dass er jedem seiner Clienten, gleichviel in welcher Ordnung diese vor ihm auftreten, so zu antworten vermag, als ob er die Schriften eines Jeden vor sich hätte und läse; und soll er plaidiren, so kann er nicht nur die factischen und Rechtsgründe seiner Partei, sondern auch die Gründe und Einwürfe seines Gegners, genau behalten. Vieles, was man in einer Bibliothek in verschiedenen Büchern gelesen hat, kann man dem Gedächtnis so fest einverleiben, dass man im Stande ist, solches zu Hause, noch nach einigen Tagen, zu Papier zu bringen. Wer diese Kunst versteht, fährt SOMMER fort, kann 10, 20, 30 und mehr Schreibern, zu gleicher Zeit ganz verschiedene Materien diktiren.‘“ (Klüber 1804: 9 f.)4

Sich selbst zu teilen, um verbessert über sich und andere zu herrschen, ist die Basisoperation geglückter Parallelaktionen und als solche erreicht sie zwangsläufig eine auf Steigerung angelegte Moderne. Fernab soziologischer und psychologischer Theoriebildung macht sie dort ihren Einfluss in einer Fülle von Selbstoptimierungsratgebern geltend, die neben allen Verbesserungen und Anpassungen an die Erfordernisse einer veränderten Lebens- und Arbeitswelt auch die Gedächtniskunst nicht vergessen.5 Das Divide et Impera, das seine prominente Heimstatt in den Maximen machiavellistischer Machtpolitik und seinen Vorläufer in der chinesischen Kriegskunst des Generals Sunzi hat, taugt so als Versatzstück einer Arbeit an und einer Sorge um sich – im Sinne jener Bestimmung, die ihr die entsprechenden Überlegungen Foucaults zugedacht haben (vgl. Il Principe 1532). Es wäre nun ein leichtes, historische Beispiele in all ihrer Kunstfertigkeit anzuführen oder die Überreste solcher Selbsttechniken in der Ratgeberliteratur

4

Wie man mehrere Briefe zugleich dictiren könne, wird als Selbstoptimie-

5

Stellvertretend für die Konjunktur der Gedächtniskunst in der klassischen

rungsstrategie direkt benannt. Vgl. dazu Kästner 1804: § 53. Moderne, die mit dem Verweis auf die Lernzeit selbst im Zeichen einer der Optimierung steht, vgl. Weber-Rumpe 1910.

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dingfest zu machen.6 Das Prinzip der Steigerung, auf das der Mensch im Zuge der Selbstoptimierung verpflichtet wird und auf das er sich verpflichten lässt, mündet allerdings nicht nur in eine unablässige Arbeit an den eigenen Ressourcen. Vielmehr gerät dieses Maßnehmen auch immer wieder an die Welt technischer Medien, die ein entsprechendes Vergleichsfeld bereitstellen und damit Begriff wie Sache einer anthropologischen Datenverarbeitung Vorschub leisten. Gerade bei numerisch fassbaren Größen wie der Kapazität von Speichern und der Geschwindigkeit von Verarbeitungsschritten liegen die unmittelbaren Bezugnahmen auf der Hand und können zu einer Bewegung der aemulatio führen, zu einem regelrechten Überbietungswettkampf, in dem das Hintertreffen, in das die Menschen gegenüber irgendwelchen Maschinen nachgerade notorisch zu geraten scheinen, besonders eklatant und sinnfällig wird (vgl. von Neumann 1991).7 Eine solche Verpflichtung auf Vergleich und Steigerung sollte gerade für die Moderne kennzeichnend sein, sind diese doch gekoppelt an das Prinzip einer Individualisierung, das in der Moderne selbst bereits auf ausgesprochen paradoxen Füßen steht. Luhmanns Frage, wie man sich auf solcher Grundlage die Steigerung von Individualität vorzustellen habe, gewinnt gerade dort Evidenz, wo entsprechende Phänomene im Wortsinne ausgeklammert sind. „Denn wie sollte man sich die Steigerbarkeit der Individualität des Individuums (was ja nicht heißen kann: psychische Fähigkeiten, Kompetenzen, kognitive Komplexität, entwicklungslogische Errungenschaften usw.) eigentlich vorstellen? Oder um es im heutigen Jargon der Identität zu formulieren: wie sollte man es sich vorstellen, daß ein Individuum identischer ist als andere?“ (Luhmann 1993: 154)8

Das, was die Systemtheorie hier in Klammern stellt, ist zum Ort und Interventionsfeld von Selbsttechniken und Selbstoptimierungsbe-

6

Zu möglichen Einsatzgebieten vgl. stellvertretend Kosnick 1927 sowie

7

John von Neumann hat den Bezug im Jahr 1945 und vor seiner kon-

Gerling 1920. junkturellen Verwendung ausgearbeitet. Auch in der Kybernetik sind entsprechende Engführungen einschlägig. 8

Zur Steigerbarkeit der Individualität und ihrer Kopplung an die Medien vgl. Rieger 2001.

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mühungen geworden. Deren besondere Pointe ist es, dass sie im Vergleich mit technischen Medien ein Moment der Quantifizierung erreicht haben: Im Maßnehmen anthropologischer Größen an den numerischen Vorgaben einer externalisierten technischen Datenverarbeitung, mithin im Gegeneinanderhalten bloßer Zahlen, konturiert sich eine Medienanthropologie, die in ihrer kürzesten Form zumindest eines klarstellt, dass nämlich jegliche Rede über den Menschen zugleich auch eine über die medialen Gegebenheiten ist, innerhalb derer sie angesiedelt ist.9 Ob das als entfremdender Einbruch technischer Gegenstandsbereiche in die gehegten Reservate der Anthropologie bedauert oder als medial aufgeklärtes Selbstverständnis des Menschen veranlagt wird, bleibt Einstellungssache.

III. Unbeschadet solcher Einstellungen soll im Folgenden gezeigt werden, wie sehr Sichtweisen und bloße Meinungen die Sache dieses Menschen zu verfehlen in der Lage sind und wie aussagekräftig gerade derlei Verfehlungen ihrerseits zu sein vermögen. Ein Argument aus dem historischen Segment von 1800 führt ein solches Versagen anlässlich von Kategorien wie Natur und Kultur, Organismus und Technik in eindrucksvoller Form vor. Was dort unter der Hand, weil zum Teil auf der vermeintlich unscheinbaren Ebene der Performanz von Wissenschaftsprosa verhandelt wird, würde den Kulturwissenschaften ein Arbeitsfeld, einen Geltungsbereich und eine Legitimität verschaffen, die in den leidigen Diskussionen um die Zahl der zwei oder drei Kulturen verstellt bleibt.10 Aber worum geht es? Im Jahr 1812 erscheint ein Buch mit dem eigenwilligen Titel „Beyträge zur Physiognosie und Eautognosie, für Freunde der Naturforschung auf dem Erfahrungswege“. Autor dieser durchaus diffusen Textsammlung ist Franz von Paula Gruithuisen (1774-1852), ein wohl wenig bekannter Physiologe, den der Schriftsteller Arno Schmidt anlässlich eines Essays mit dem Titel „Die Kreisschlösser“ als quijotisch-ingeniösen Mann charakterisiert hat.11 Solche Bezeichnungen

9

Dafür einschlägig sind die Arbeiten Friedrich Kittlers.

10 Zum Selbstmissverständnis dieser Debatte vgl. Pias 2008. 11 Zur Person Gruithuisens vgl. Schmidt 1979.

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sind immer verdächtig und vor allem für eines gut, dafür nämlich, dass man die Betreffenden nicht wahr und noch weniger ernst zu nehmen braucht. So geschehen im Fall Gruithuisens. Zieht man einschlägige Quellen zu Rate, so scheint von seinen Forschungsergebnissen lediglich ein Beitrag für die Urologie Bestand gehabt zu haben. Es handelt sich dabei um ein Verfahren, das die Zertrümmerung von Harnsteinen betrifft. Ansonsten glitzern die Sterne, namentlich dort, wo Gruithuisen als Astronom in Erscheinung tritt und über den Mond und seine Bewohner nicht nur en Detail berichtet, indem er die von ihm mittels Oberflächenautopsie beobachteten Spuren auf die Struktur ihres Verkehrswesens und ihrer Wohnformen hochrechnet, sondern indem er aus den selenitischen Gegebenheiten gleich noch Rückschlüsse für eine mögliche Kontaktaufnahme von der Erde aus erwägt (Gruithuisen 1824). Ort solcher Erwägungen ist der Text „Entdeckung vieler deutlicher Spuren der Mondbewohner; besonders eines collossalen Kunstgebäudes derselben“ aus dem Jahr 1824. Weil die Seleniten nach Gruithuisen der Geometrie mächtig sein müssen, das jedenfalls schließt er aus ihren Bauwerken, scheint eine Kommunikation in den Formalismen der Mathematik besonders vielversprechend. Riesige Steckrübenfelder in Gestalt des pythagoräischen Lehrsatzes, für deren Anpflanzung er die Weiten Russlands in Erwägung zieht, sollen daher die Seleniten vom Bewohntsein der Erde und von den Eigenheiten ihrer Bewohner in Kenntnis setzen. Ein anderer Text aus Gruithuisens bunter Sammlung heißt schlicht „Ueber die Zertheilbarkeit des Ich’s im Menschen“, führt also die Vervielfältigung des Anthropologicums als Option im Titel.12 Während andernorts und häufig unter sehr ähnlicher Titelgebung solcherlei Teilung pathologische Züge anzunehmen hat und stracks den Weg in den disziplinär dafür zuständigen Wahnsinn weist, beschwört Gruithuisen im Namen des Nicht-Identischen gerade das Identische und die Fähigkeit zur Selbstteilung als die ganz besondere Leistung des Menschen. Der Text beginnt zunächst nüchtern mit der Beschreibung einer programmatischen Vermögensteilung, angesichts derer Gruithuisen aber dann doch zunehmend ins Schwärmen geraten wird.

12 Von der Systematik, mit der Gruithuisen nicht nur Einzelpersonen, sondern auch die Wissenschaft selbst verbessern will, handelt die Abhandlung „XXXI. Von der Idee einer Experimentalphysiologie“.

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„Es wird im Menschen bey vielen Gelegenheiten eine Art von Zertheilung desjenigen Vermögens, auf Affizirung von Außen ganz und zweckmäßig thätig zu seyn, wahrgenommen; doch so, daß die Theile des so zertheilten Ichs dabey dennoch miteinander in genauer Correspondenz stehen.“ (Gruithuisen 1812: 37)

Um dem Ganzen den Anschein des Widersinnigen zu nehmen, verweist er auf zahlreiche „Gelegenheiten“, in denen die Zerteilung fernab aller uneigentlichen Rede „sich selbst im Raume sogar ausdrückt“ (ebd.). Das führt ihn in die Welt körperlicher Anomalien, zu in der einschlägigen Literatur belegten Schilderungen von Monstren, von siamesischen Zwillingen und Kindern mit zwei Köpfen. „Es ist Schade, daß im Buche de rebus Scoticis (von Buchanan) vom Manne mit zwey Oberleibern und nur einem Becken und zwey Füßen, welcher 1490 in Schottland gebohren wurde und den Johannes der Vierte zur Musik sehr gut abrichten ließ, über dessen Verstand so wenig gesagt ist, und nur dieses erhellet, daß die beyden Oberleiber über den gemeinschaftlichen Hüften (welche wahrscheinlich auch nur ein Heiligenbein miteinander hatten) manchmal sich über ein Beginnen berathschlagten, oft aber auch uneinig wurden. An den Hüften und Füßen hatten sie jede Empfindung gemeinschaftlich: ein Zeichen, daß das Rückenmark, oder dessen Roßschweif wenigstens, in Gemeinschaft waren. Sehr stark mochte der Verstand bey diesem Monstrum nicht gewesen seyn, weil die Trennung der Rümpfe schon zu tief unten sich befand. Mehr noch spaltet sich das Ich zweyer zusammengewachsener Individuen, wenn sie nur einzelne Organe miteinander gemein haben, z. B. jenes bekannte zusammengewachsene Ungarische Mädchenpaar, bey welchem der Mastdarm in einem Kanal zusammen lief, durch den sie zwar den Drang zum Stuhl zugleich fühlten, nicht aber den Drang zum Uriniren, weswegen sie sich in der Jugend oft zankten.“ (Gruithuisen 1812: 38 f.)13

Gruithuisens kurioser Drang zur Kasuistik erschöpft sich allerdings nicht in der bloßen Schilderung solcher Merkwürdigkeiten einer vielgestaltigen Natur. Theoretisch relevant und nachgerade intrikat wird die ganze Sache dort, wo Gruithuisen zu einem weiteren Vergleich anhebt, und mit diesem Vergleich eine Frage aufwirft, die im Jahr

13 Vgl. dazu auch den unmittelbar folgenden Text „IV. Ueber die zwey Hauptrichtungen des Ichs“ in Gruithuisen 1812.

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2009 als Belletristikbuchtitel aus der Philosophenfeder Richard David Prechts die Bestsellerlisten füllt: „Wer bin ich und wenn ja wie viele?“ (Precht 2007). „Aus ähnlichen Beispielen sieht man“, so sein einleitender Befund, „daß die Natur durch solche Evolutionen und Involutionen doppelt lebender Wesen sich noch immer äußerst flexibel verhält. Warum sollte sie es bey einfachen Menschen nicht auch vermögen?“ (Gruithuisen 1812: 39). Die Natur malt Gruithuisen in Farben einer Flexibilität, die auch die menschlichen Fähigkeiten soll betreffen können. Ausgehend von organischen Gegebenheiten spekuliert der Physiologe über die künstliche Potenzierung des menschlichen Geistes und verfällt zu deren Beschreibung ausgerechnet auf eine alte Kulturtechnik. „Sollten nicht in Hinsicht auf innere Einrichtung des Nervensystemes eine ähnliche doppelte Beschaffenheit jene Gedächtnißkünstler haben, die nicht selten ohne künstliche mnemonische Anweisung beynahe Wunder thun; konnten hierin zwey Personen in Einer nicht mehr leisten als Eine?? Wahrhaft, es scheint, daß die Natur durch solche Evolutionen einen neuen Weg einst finden wird, den Verstand des Menschen zu potenziren; denn ihrer Zwey und Drey in Einem können mehr lernen, und als Lehrer durch ihre Einheit des Gelernten mehr leisten als zehn tausend Gelehrte: denn wie oft hat nicht schon Einer tausend Andere seines Fachs weit übertroffen. Sollte ein Solcher nicht als doppelt angesehen werden dürfen?“ (Gruithuisen 1812: 39 f.)

Es ist die Pointe von Gruithuisens Gedankengang, dass die Mnemonik, also die Kulturtechnik der Auswendigkeit, zur Veranschaulichung natürlicher Gegebenheiten führt, und dass gerade durch den Bezug auf sie die besondere Effizienz einer natürlichen Organisation sichtbar werden soll. Flankiert wird dieses Anliegen mit einer Beispielsammlung natürlicher Vervielfältigungen in Tieren mit doppelten Köpfen oder Lebewesen mit doppelter Organbestückung, bis schließlich Kulturtechniken und in diesem Zuge strickende Frauen mitsamt den Freuden der Handarbeit angeführt werden.14 An allen Fronten und

14 Und selbstredend verweist er auf seine eigenhändig vorgenommenen Enthauptungen an Fröschen, Truthühnern, einer Ente und einem Igel sowie auf seine Abhandlung: „Ueber die Existenz der Empfindung in den Köpfen und Rümpfen der Geköpften und von der Art, sich darüber zu belehren“, Augsburg 1808.

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selbst an denen des Haushalts herrscht Potenzierung der Vermögen, eine Parallelverarbeitung, die im Zuge einer weiteren Topik selbstredend ebenso unbewusst wie unabschließbar zu erfolgen hat. Abkürzungen wie ein u.s.w. und ein dergl. entheben Gruithuisen weiterer Detailschilderungen und streichen die Vielfalt, damit das Grundlegende des Befundes umso deutlicher heraus. „Man gehe nur in die Werkstätte der Künstler und Handwerker. Diese Menschen unterhalten sich während ihrer Arbeit mit Gedanken an ihre Geliebte, mit Gesängen, mit Gesprächen, sie necken sich u.s.w. Das Frauenzimmer, welches strickt, näht, spinnt, stickt u. dergl. spricht dabey sehr klug mit Andern in ihrer Gesellschaft. Hier ist eine Kreuzung der Sinne, und es scheint, daß jene Sinnesaffektionen, welche hier doppelte Empfindungen zum Bewußtseyn steigern, sich gar nicht miteinander mischen, sondern nur harmonisch in einander eingreifen: z. B. ich habe zur Sommerszeit etwas Interessantes vorzulesen; während dessen sticht mich öfter eine Mücke in die Wade, die ich mit dem andern Fuße stets abzutreiben bemühet bin: hier sind offenbar zwey ganz voneinander, der Qualität nach, verschiedene und leicht unterscheidbare Funktionen, die alle durch einen besonderen Sinnenapparat verrichtet werden, wobey vielleicht selbst im Nervensystem zwey verschiedene Regionen dazu gebraucht werden.“ (Gruithuisen 1812: 41)

Die so gezeichnete Welt der Parallelverarbeitung endet somit in einem ökonomischen Idyll praktischen Gelingens und unermüdlichen Tätigseins. Was sein Gefüge des harmonischen Ineinandergreifens sichtbar macht, betrifft ein zentrales Anliegen auch der technischen Parallelverarbeitung, die Frage nämlich, wie Ereignisse auf der Grundlage der Zersplitterung der Aktanten ihrerseits synchronisiert zu werden vermögen.15 Gruithuisens Szenarien sind der Pragmatik geschuldet und umgehen die immensen theologischen, philosophischen und sonstigen Überlegungen, die der Selbstteilung üblicherweise anhaften. Gerade die Diskussion um bestimmte Tiere und namentlich den Polypen hat die metaphysischen Kapriolen und die Tragweite solcher Organisationsformen eindrucksvoll vor Augen geführt (dazu Rieger 2006). Zur Topik multipler und gesteigerter Persönlichkeiten gehört daher neben ihrer Effizienz und neben der von Gruithuisen angeführten Harmonie zwischen den Instanzen und den Resultaten einer solchen Parallelver-

15 Vgl. zur Frage nach der Einsinnigkeit von Handlung Kursel/Schäfer 2004.

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arbeitung zugleich auch ihre unendliche Gefährdung – ein Argument, das in der Historiographie der Gedächtniskunst immer wieder aufscheint.16

IV. Was auf diese Weise nicht zuletzt auch im Durchgriff auf die Performanz von Gruithuisens kurzer Abhandlung sichtbar wird, sind die Resultate geglückter Selbstteilung: Das Phantasma, einer und doch mehrere zu sein und sein zu können, ein Phantasma, das syntaktisch so unvorhergesehen ist wie der werbetaugliche Befund von der doppelten Ich-Identität zweier Öltanks – das Phantasma, numerisch mehr zu gelten als jene Einheit eins, ist umgesetzt. Ein Mensch, der mehr zählt als eben nur eins, ist potenziert und gilt in seiner Vielheit den mit sich identischen Anderen überlegen. Damit ist jenes Zauberland eines nicht psychoanalytisch, sondern leistungsmäßig zu belangenden Unbewussten eröffnet, das gerade die klassische Moderne kaum ein Dezennium später so vielfältig zu besetzen und systematisch auszunutzen wusste. Arbeitswissenschaft und Psychotechnik, Musikpädagogik und Sport, Kraftfahrtwesen und Boxen, Tanz und Industriearbeit – sie alle träumen in seinem Zeichen den Traum einer Effizienz, die ein Effekt paralleler Verarbeitungsstrategien ist.17 Das Ende des vermeintlichen Mythos folgt jäh. Der Traum von der Selbstoptimierung durch strategisch, weil kulturtechnisch induzierte Selbstteilung mag von den Betroffenen weiter geträumt werden – das ändert nichts daran, dass er wissenschaftlich nicht gedeckt ist und die dort erhobenen Ergebnisse ernüchternd ausfallen.18 Menschen, die gleichzeitig mehrere Dinge tun, Gerätschaften bedienen, unterschiedliche Kommunikations- und Datenverarbeitungsmittel gleichzeitig unterhalten, sind nicht nur die Karikaturen moderner Leistungsgesellschaften geworden, sie scheinen vor allem alles andere als effizient. Einmütig bescheiden moderne Arbeitswissenschaften, Multitasking

16 Zur Bedrohung allgemein und aus dem gleichen zeitlichen Segment vgl. Reil 1808, sowie für den Fall der Mnemotechnik Rieger 2000. 17 Zu den Selbstbeschreibungen in den Wissenschaften vom Menschen siehe Flatau 1925/26. 18 Zu einer eher neutralen Beschreibung vgl. Lee/Taatgen 2002.

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bringe die gewünschten Vorteile in Sachen Arbeits- und Selbstoptimierung keineswegs. Ein feuilletonistischer Beitrag fasst die Befundlage zusammen und seine Ergebnisse favorisieren die Serialität: „Schön der Reihe nach statt Multitasking“ – so lautet dessen Überschrift und an anderer Stelle ist gar die Rede von der „‚Zeitfalle‘ Multitasking – aufgrund einer Illusion verschwendeten Menschen täglich wertvolle Arbeitszeit und eine Menge Geld auch“ (Blawat 2007). Eine dort angeführte Studie des Psychologen von der Vanderbilt University im amerikanischen Nashville will herausgefunden haben, dass zu viele Tasks im Gehirn zu einem Entscheidungsstau führen und dass zur Beschreibung dessen, was da im Gehirn stattfindet, die Rede vom Flaschenhals zutreffend sei.19 Die Folgen sind verheerend: Nicht nur im Fall der realen Ökonomie, für die eine New Yorker Beratungsfirma der amerikanischen Wirtschaft Kapazitätsverschwendung von circa 28 Milliarden Arbeitsstunden und durch den stetigen Tätigkeitswechsel verursachte Gesamtkosten von 588 Milliarden Dollar im Jahr attestiert. Auch für derart optimierte Individuen verheißt Multitasking nichts Gutes, fördert es doch „einen schizoiden Denkstil“ und lässt ausgerechnet „das Gedächtnis verkümmern“ (Blawat 2007).

19 Dazu Dux/Ivanoff/Asplund/Marois (2006).

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Literarische Entwürfe und Praktiken des besseren Menschen

Optimierung und Authentizität Zu Psychopharmaka und autobiographischer Literatur in den USA und Frankreich (Lauren Slater, Marie Cardinal) M ARIE G UTHMÜLLER

Fluoxetine, ein 1988 vom Pharmakonzern Eli Lilly unter dem Markennamen Prozac auf den Markt gebrachtes Antidepressivum,1 das zur Gruppe der Serotoninwiederaufnahmehemmer (SSRI) zählt, führt in den 1990er Jahren in den Vereinigten Staaten zu einem grundlegenden Wandel in der medizinischen Behandlung der Depression und anderer psychopathologischer Störungen wie Magersucht und zwanghaftes Verhalten. Dieser Wandel ist prägnant und provokativ auf den Punkt gebracht worden: Nicht nur tritt innerhalb der Psychiatrie die Magnetresonanztomographie des Gehirns immer mehr an die Stelle psychopathologischer Fallgeschichten und ersetzen zehnminütige Evaluationen fünzigminütige Therapiesitzungen, der Blick in die Vergangenheit der PatientInnen wird durch die Verschreibung von Medikamenten abgelöst, an die Stelle der ‚retrospection‘ tritt die ‚prescription‘ (vgl. auch Metzl 2002: 351). Dabei handelt es sich nicht nur um eine wichtige Etappe innerhalb der neurophysiologischen Wende der Psychiatrie und um einen entscheidenden gesundheitsökonomischen Faktor, sondern auch um ein Medienereignis von nationalen Ausmaßen: Ausgelöst unter anderem 1

Fluoxetine wurde 1974 von Eli Lilly entwickelt und 1987 in den USA zugelassen.

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durch die offensiven Werbekampagnen des Pharmakonzerns Eli Lilly, der in Frauenzeitschriften mehrseitige Anzeigen schaltet, wird Prozac in den USA zu einem umfassend diskutierten und medial behandelten Phänomen. Magazine wie „Time“, „Fortune“, „Newsweek“ widmen dem Mittel über Jahre hin Titelgeschichten, ProzacnutzerInnen treten in der Oprah Winfrey Show auf, es erscheinen Anthologien mit Erfahrungsberichten von ÄrztInnen und PatientInnen, Autobiographien und autobiographische Romane von insbesondere weiblichen ProzacKonsumentInnen, die nach langjährigen erfolglosen Psychotherapien und Klinikaufenthalten durch die Einnahme des Psychopharmakums nicht nur zu psychischer Stabilität, sondern häufig auch zu Produktivität und gesellschaftlichem Erfolg gefunden haben.2 In den Debatten um die Medikation wird häufig die Frage gestellt, inwieweit diese Form der ‚Optimierung‘ die Persönlichkeit eines Menschen verändert – ein Kontext, in dem immer wieder der Begriff und das Konzept der ‚authenticity‘ auftaucht. ‚Optimierung‘ durch Psychopharmaka wird offensichtlich als etwas verstanden, das die ‚Authentizität‘ eines Menschen potentiell gefährdet. Der vom Diskurs der Postmoderne totgesagte Authentizitätsbegriff scheint in den Debatten zur psychopharmakologischen Optimierung äußerst lebendig zu sein, wird hier doch die Gefahr eines Verlusts an Unmittelbarkeit, Ur-

2

Vgl. etwa Elizabeth Wurtzel (1995): „Prozac Nation: Young and depressed in America“ (2001 verfilmt mit Christina Ricci), Persimmon Blackbridge (1997): „Prozac Highway“, Lauren Slater (1998): „Prozac Diary“, sowie Essays von Slater (1996): „Black Swans“, Pagan Kennedy (1994): „Shrinks“ und Gary Krist (1994): „Medicated“. Die Reihe ließe sich fortführen. Metzl setzt sich mit diesen Texten in „Prozac and the Pharmacokinetics of the Narrative Form“ (vgl. Metzl 2002 sowie Metzl 2003: Kap. 5) detailliert auseinander, wobei er den Schwerpunkt auf Genderfragen legt. Zu nennen ist hier auch John Schilb, der in seinem Aufsatz „Autobiography after Prozac“ Aspekte des historischen und psychologischen Materialismus zusammen denkt und sich in Auseinandersetzung mit einigen der oben genannten Texte, insbesondere mit „Black Swans“, die Frage stellt, wie sich Krankheitsbilder durch die psychopharmakologische Medikation verfestigen und wie autobiographische Texte damit umgehen (vgl. Schilb 1999).

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sprünglichkeit oder Echtheit eines Menschen immer wieder zum Thema.3 Eines der US-amerikanischen ‚Prozac Narratives‘, die sich mit der Frage nach der ‚Authentizität‘ des eigenen Ich unter einer erfolgreichen psychopharmakologischen Medikation auseinandersetzen, ist Lauren Slaters 1998 erschienene Autobiographie „Prozac Diary“, ein Bestseller, der als Penguin Books Taschenbuch mit begleitendem ‚reader guide‘ hohe Auflagenzahlen gehabt hat und von der Presse gefeiert wurde.4 Im Folgenden möchte ich diesen Text zur Geschichte einer erfolgreichen Psychoanalyse aus dem Frankreich der 1970er Jahre in Beziehung setzen, zu Marie Cardinals 1975 bei Grasset erschienenem autobiographischen Roman „Les mots pour le dire“ (dt. „Schattenmund. Die Geschichte einer Analyse“). Auch hierbei handelt es sich um einen Bestseller, der als Taschenbuch mehrfach neu aufgelegt wurde. Im Rahmen der gegenwärtigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Debatten zur ‚Optimierung des Menschen‘, die immer auch Debatten darüber sind, was den Menschen ‚als Menschen‘ ausmacht und was es heißen kann, ihn zu ‚verbessern‘, interessiert mich als Literaturwissenschaftlerin, welche Auffassungen von Krankheit und Gesundheit, ‚Optimierung‘ und ‚Authentizität‘ in diesen beiden so populär gewordenen autobiographischen Texten verhandelt werden. Ich verwende ‚Authentizität‘ im Folgenden als heuristischen Begriff, der die Annahme eines Gegensatzes von (unmittelbarer) Erscheinung und (eigentlichem) Sein als Möglichkeit zu Täuschung und Fälschung voraussetzt. Als ‚authentisch‘ kann ein Mensch (aber auch ein Ding, ein Ereignis, eine Handlung) dann gelten, wenn Schein und Sein in Übereinstimmung befunden werden.5 Das Selbstschreibe-

3

Susanne Knaller und Harro Müller zeigen in der Einleitung zu ihrem Sammelband „Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs“ (2006) ganz unterschiedliche Diskurse auf, in denen Authentizität heute „[z]umindest als semantisches Ereignis“ Konjunktur hat (Knaller/Müller 2006: 7). Der Optimierungsdiskurs wäre hier zu ergänzen.

4

So schrieb etwa die „New York Times“: „Powerful … It must surely be among the best ones available on the long-term effects of the drug… The chemistry of ‚Prozac Diary‘ is beautiful.“ (Christopher Lehmann-Haupt, vgl. Slater 1998: Klappentext).

5

Zum Bedeutungswandel des Begriffs ‚Authentizität‘, der bei seinem Aufkommen im 18. Jahrhundert selbst noch in einem anderen Sinn (im seman-

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projekt der Moderne arbeitet sich seit seinen Anfängen an diesem Konzept ab: In den „Confessions“ klagt Jean Jacques Rousseau, dass Sein und Erscheinung in der Welt fatal auseinanderklaffen und setzt dagegen ein autobiographisches Schreiben, das dieser Entzweiung entgegenarbeitet, indem das Ich sich dem Leser „in seiner ganzen Wahrheit“ zeigt (Rousseau 1973 [1782]: 33). In Abgrenzung zur Verstellung ‚der anderen‘ entwirft Rousseaus schreibendes Ich sich als unverstellt. Es verspricht, alles zu sagen, in unmittelbarer, direkter, ungekünstelter Form. Was Rousseau in den „Confessions“ entwickelt, ist eine ‚Rhetorik der Authentizität‘, die darin besteht, das autobiographische Schreiben zum direkten Ausdruck des gegenwärtigen ‚sentiment‘ zu erklären. So kann auch Widersprüchliches nebeneinander stehen, Fragen können offen bleiben und Lücken sichtbar werden (vgl. Starobinski 1971: 216-239). Nach einer kurzen Einführung in die US-amerikanischen Debatten um das Medikament Fluoxetine frage ich danach, wie das Ich bei Cardinal und Slater die Geschichte seiner Krankheit und Heilung erzählt und welche subjekttheoretischen Implikationen sich daraus jeweils ergeben. Ich vermute, dass beide Texte, anders etwa als die explizit an postmoderne Konzepte anschließende ‚Nouvelle Autobiographie‘,6 Vorstellungen von einem ‚authentischen‘ Ich nicht nur transportieren, sondern auch in Szene setzen und möchte untersuchen, wie diese sich zur Geschichte der ‚Selbstoptimierung‘ verhalten, die einmal durch ein Antidepressivum und einmal durch eine ‚talking cure‘ erreicht wird. Besonders interessiert mich dabei, wie die Erzählerinnen jeweils mit ihrer Vergangenheit umgehen und in welches Verhältnis sie diese zu ihrer Gegenwart setzen. Lassen sich Unter-

tischen Feld der ‚Urheberschaft‘) gebraucht, zugleich aber in zentralen aktuellen Bedeutungskomponenten (im semantischen Feld von ‚sincère‘, ‚juste‘, naturel‘, ‚vrai‘, ‚non affecté‘) mit anderen Begriffen vorbereitet wird, sich im 20. Jahrhundert dann an seine aktuellen Bedeutungen im Bereich der Ästhetik annähert und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem „Hauptwort der Moderne“ (Knaller/Müller 2006: Einleitung, 7) avanciert, vgl. Knaller: „Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs“ (Knaller/Müller 2006: 17-35). 6

Zur ‚Nouvelle Autobiographie‘ vgl. Alain Robbe-Grillets Ausführungen „Du Nouveau Roman à la Nouvelle Autobiographie“ von 1994 (RobbeGrillet 2003).

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schiede zwischen der Zeitstruktur eines autobiographischen Textes, der unter einer psychopharmakologischen Therapie verfasst wurde, und der eines autobiographischen Textes, der von einer psychoanalytischen Therapie erzählt, ausmachen? Und in welchem Verhältnis stehen diese Zeitstrukturen jeweils zum Authentizitätsanspruch, den das schreibende Ich, wie ich annehme, in beiden Texten inszeniert, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise?

*** Die US-amerikanische Diskussion um das Antidepressivum Fluoexetin bewegt sich zwischen mehreren Positionen, die auch in Lauren Slaters „Prozac Diary“ pointiert verhandelt werden: Zum einen erscheint Prozac als ein Medikament, das Depressionen, Magersucht und Zwangsstörungen heilt und vormals durch ihre Krankheit behinderten und vom Suizid bedrohten Menschen ein beschwerdefreies und selbst bestimmtes Leben ermöglicht, zum anderen wird es als modernes ‚soma‘ im Sinne Aldous Huxleys betrachtet, als Droge, die Menschen an eine normierte Leistungsgesellschaft anpasst und sie funktionsfähig, produktiv und dabei glücklich macht.7 Die Frage wird auch so gestellt: Stellt die Medikation den ‚alten‘, ‚ursprünglichen‘, ‚gesunden‘ Menschen wieder her, indem sie ihn von der Depression und anderen Symptomen befreit, oder eliminiert sie seine widerständige Persönlichkeit und schafft einen neuen, normierten Menschen, der erst unter dem

7

In Huxleys dystopischem Roman „Brave New World“ von 1932 dient ‚soma‘ dazu, die Angehörigen insbesondere der unteren Kasten einer von Alpha Plus Menschen regierten Gesellschaft ruhig zu halten, sie zu entspannen und ihnen positive Gefühle zu verschaffen. Durch die Droge wird ihnen, aber auch den Angehörigen der höheren Kasten, das Bedürfnis zum kritischen Denken und Hinterfragen ihrer Weltordnung genommen. Mustapha Mond, einer der Regierenden, beschreibt die Errungenschaften der Neuen Welt wie folgt: „The world’s stable now. People are happy; they get what they want, and they never want what they can’t get.“ (Huxley 1994: 200) Und weiter: „And if ever, by some unlucky chance, anything unpleasant should somehow happen, why, there’s always soma to give you a holiday from the facts. And there’s always soma to calm your anger, to reconcile you to your enemies, to make you patient and long-suffering.“ (Ebd.: 217)

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Medikament in der Lage ist, den gesellschaftlichen Anforderungen – die ihn unter Umständen erst krank gemacht haben – zu genügen, blind für herrschende Verhältnisse?8 Ermöglicht die antidepressive Medikation dem Kranken, wieder ‚er selbst‘ und somit ‚authentisch‘ zu sein – oder verändert sie den Menschen so, dass er jeden Anspruch, ‚authentisch‘ zu sein, zwangsläufig verlieren muss? Eine dritte Position vertritt der Psychiater Peter Kramer in seinem 1993, fünf Jahre vor Slaters „Prozac Diary“ erschienenem Buch „Listening to Prozac: A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self“. Aufgrund von Erfahrungsberichten einiger seiner PatientInnen, die erzählen, sich unter der Fluoxetinmedikation ‚better than well‘, ‚besser als gut‘ zu fühlen, diskutiert Kramer die philosophischen, ethischen und sozialen Konsequenzen, die es hätte, das Psychopharmakum auch bei gesunden Personen zur Veränderung der Persönlichkeit einzusetzen und ihnen so beispielsweise ein aktiveres Sozialleben oder beruflichen Aufstieg zu ermöglichen. Kramer, der den Begriff der „cosmetic pharmacology“ (Kramer 1993: 246) prägt, definiert Prozac klar als potentiell persönlichkeitsverändernd und steht dem weitgehend positiv gegenüber. Er fragt nach der moralischen Legitimität, dem Einzelnen die „optimistische“, „energievolle“ und „selbstbewusste“ geistige Verfassung, die unter der Medikation erreicht werden kann, vorzuenthalten und beschreibt diese auch als Vorzug in der von Konkurrenz geprägten Welt der amerikanischen Wirtschaft: „How might a substance like Prozac enter into the competitive world of American business? Psychiatrists have begun to recognize a normal or near-normal mental condition called ‚hyperthymia‘, which corresponds loosely to what the Greeks called sanguine temperament. […] Hyperthymics are optimistic, deci-

8

Das kann auch positiv gewendet werden: Wie Metzl nachweist und kritisiert, wird Prozac im Zuge postmoderner Selbstentwürfe in mehreren USamerikanischen Romanen, so in Elisabeth Wurtzels „Prozac Nation“ und in Persimon Blackbridges „Prozac Highway“, als ein Mittel inszeniert, das, weil es bei allen „gleich“ wirkt, die bürgerliche, weiße und misogyne Psychoanalyse überwindet und Freiheit von den ‚klassischen‘ Determinanten der Identitätsbildung (‚gender‘, ‚race‘, ‚class‘) verspricht (vgl. Metzl 2002).

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sive, quick of thought, charismatic, energetic, and confident. Hyperthymia can be an asset in business.“ (Ebd.: 16-17)

Die Diskussion, die in den 1990er Jahren in den USA um die Einnahme und die Effekte von Fluoxetine geführt wurde, greift also nicht nur Fragen nach den Grenzen psychischer Gesundheit und Krankheit, nach dem Normalen und dem Pathologischen auf und spitzt sie zu (so wird etwa die Hyperthymie, zuvor lange als Zustand erhöhter Erregung und übermäßigen Selbstvertrauens betrachtet, innerhalb der Psychiatrie mittlerweile häufig als Normalzustand behandelt),9 sie zielt auch in den Kern der Debatten um das, was der Mensch unter den Bedingungen und mit den Möglichkeiten moderner Anthropotechniken sein kann, sein darf und sein soll. Interessanterweise gab es in Frankreich keine vergleichbare Diskussion. Obwohl die FranzösInnen in den 1990er Jahren nach den USAmerikanerInnen die weltweit stärksten Psychopharmaka KonsumentInnen waren – und heute, 2011, sogar die Nummer eins sind –, wird der mediale und akademische Diskurs über psychopathologische Fragen in Anschluss an einflussreiche AnalytikerInnen wie Jacques Lacan, Françoise Dolto und an die Antipsychiatriebewegung um Gilles Deleuze und Félix Guattari weiterhin von der Psychoanalyse geprägt, die eine psychopharmakologische Medikation der Depression entschieden ablehnt.10 Obwohl oder vermutlich gerade auch weil die Einnahme von Psychopharmaka Teil des Alltags ist, gab es in Frankreich, wo die Humanwissenschaften und mit ihnen die Psychoanalyse generell einen stärkeren Einfluss auf die Medien haben als in den

9

In „Manic-depressive illness“ definieren Goodwin und Jamison den „hyperthymischen“ Typ als eine lebensangepasste, noch nicht krankhafte Form der Hypomanie, bestehend aus einer Dreiheit von hoher Energie, übermäßig hohem Selbstvertrauen und optimistischer Lebenseinstellung, übrigens durchaus begleitet von gelegentlichen depressiven „dips“ (Goodwin/Jamison 2007: 85).

10 Zur gesellschaftlichen Akzeptanz, die die Psychoanalyse in Frankreich nach wie vor genießt, vgl. auch die Debatten, die 2001-2004 um die Einführung eines Gesetzes geführt wurden, das von jedem Psychotherapeuten und Analytiker künftig eine staatlich anerkannte Ausbildung verlangt: „Ne touches pas a mon psy!“, „Laissez-nous nos charlatans!“ lauteten hier die Schlagworte.

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USA, nie einen breiten, öffentlichen Dialog, der dies kontrovers diskutiert hätte – über die subjekttheoretischen Implikationen einer psychopharmakologischen Medikation hat zwischen Psychoanalyse, klinischer Psychiatrie und konsumierender Öffentlichkeit in dieser Form keine Diskussion stattgefunden. Vor dem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass sich in literarischen Texten kaum Auseinandersetzungen mit diesem für die französische Gesellschaft so einschneidenden Phänomen finden lassen.11 Auch in der deutschen medialen Öffentlichkeit wurde der pharmakologische Aspekt einer Optimierung des Menschen noch wenig diskutiert. Er wird erst jetzt, über die Frage des ‚Neuro-Enhancement‘, allmählich zum Thema.12 Allerdings haben die Debatten, die in Deutschland in den 1990er Jahren, also zeitgleich zur Fluoxetinedebatte in den USA, über die Möglichkeiten und Grenzen der Humangenetik geführt wurden und die sich 1999 und 2000 in der Diskussion um Peter Sloterdijks Essay „Regeln für den Menschenpark“ (1999) kristallisiert haben, mit jenen durchaus strukturellen Ähnlichkeiten: Wenn es um Fragen der Anpassung des menschlichen Körpers und der menschlichen Psyche an praktische und imaginäre Anforderungen der gegenwärtigen – oder einer zukünftigen – Gesellschaft geht, werden Regeln für die Anwendung der Humangenetik ebenso zum Ver-

11 Psychopharmaka spielen in zeitgenössischen französischen Romanen selten eine Rolle, wenn sie es tun, dann unter einer von vornherein pejorativen Perspektive: Die Romanfiguren, die Psychopharmaka einnehmen, neben der Ich-Erzählerin von Marie Cardinals „Les mots pour le dire“ etwa die Ich-Erzählerin von Justine Lévys autobiographischem Roman „Rien de grave“ werden als unfrei, abhängig und selbst entfremdet dargestellt (vgl. Lévy 2004), auch in der in Frankreich sehr erfolgreichen Übersetzung des spanischen Romans „Amor, Curiosidad, Prozac y dudas“ (1997) von Lucia Etxebarria (frz. „Amour, Prozac, et autres curiosités“, 1999) wird die Emanzipation und Selbstfindung der drei Protagonistinnen in ihrer Befreiung von Drogen und Psychopharmaka (Ecstasy, Benzodiazepine und Fluoxetine) in Szene gesetzt. 12 Vgl. etwa das im November 2009 erschienene Memorandum „Das optimierte Gehirn“ der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Gehirn und Geist“ und die Arbeiten von Roland Kipke (2010, 2011). Bei den Debatten um ‚Neuro-Enhancement‘ stehen nicht Antidepressiva im Mittelpunkt, sondern konzentrations- und leistungssteigernde Präparate.

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handlungsgegenstand wie solche für den Gebrauch von Psychopharmaka?13 Genetik wie Psychopharmakologie sind wirkungsmächtige Anthropotechniken, die, sobald sie zur Verfügung stehen, die Frage provozieren, ob in der demokratischen Gesellschaft verhandelt werden kann, darf und soll, wie der gegenwärtige und künftige Mensch sich definiert. Der Begriff der ‚Optimierung‘ changiert dabei in beiden Fällen zwischen der Vorstellung, etwas als gegeben Betrachtetes freizulegen oder wiederherzustellen (den gesunden, leistungsfähigen Menschen) – oder etwas Neues zu schaffen (einen neuen Menschen, dessen Humanität dann in Frage stehen kann). In diesem Kontext berührt er sich mit dem Begriff der ‚Authentizität‘. Eben hier situiert sich Lauren Slater. In ihrer 1998 erschienenen Autobiographie „Prozac Diary“ schildert die Ich-Erzählerin, eine der ersten LangzeitnutzerInnen von Prozac überhaupt, ihre Erfahrungen mit der Einnahme des Medikaments und stellt ihre praktische und theoretische Auseinandersetzung mit seiner Wirkung auf ihre Psyche und ihren Körper dar. Slaters Protagonistin, die wie die Autorin seit ihrer frühsten Jugend unter Depressionen, autoaggressivem Verhalten und Zwangsstörungen leidet und zahlreiche Klinikaufenthalte hinter sich hat, erzählt eine Heilungs- und Erfolgsgeschichte, die sich unter der Medikation abspielt, berichtet aber auch über Nebenwirkungen und über Phasen, in denen die Wirkung des Fluoxetines plötzlich vollkommen aussetzt. Die Ich-Erzählerin, die im Laufe des Textes unterschiedliche Perspektiven einnimmt und unter anderen auch Peter Kramers Position zitiert, diskutiert Fragen der Persönlichkeitsveränderung, der Drogen- und Medikamentenabhängigkeit,14 einer sich unter dem

13 In der Literatur scheint die Diskussion der pharmakologischen Optimierung der der genetischen voraus zu gehen: Was in Aldous Huxleys „Brave New World“ von 1932 durch die Distribution von ‚soma‘ möglich wird, die Existenz glücklicher menschlicher Wesen von zweifelhafter Humanität, wird es in Michel Houellebecqs „Les particules élémentaires“ 1998 durch das Klonen. In dem Roman findet sich ein enges Netz an inhaltlichen und formalen Bezügen zu Huxleys Dystopie (siehe Komorowska/Steigerwald, in diesem Band). 14 Die durchlässige Grenze zwischen (meist illegalen) Drogen und (legalen) Medikamenten wird in der Verwendung des englischen Worts ‚drug‘ deutlicher als in der deutschen und französischen Unterscheidung zwischen ‚Droge‘ bzw. ‚drogue‘ und ‚Medikament‘ bzw. ‚médicament‘.

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Antidepressivum wandelnden Genderidentität und der unfairen Vorteilsnahme gegenüber anderen durch eine auch als Doping betrachtbare Medikation: „I am also aware of the possibility that on the days Prozac works for me, the days when I am free of obsession and depression, I am powered beyond me, pushed into a realm where unfair advantage becomes mine. ‚I wish I was sick enough to take that stuff‘, my friend Susan sometimes says to me. ‚You’re one of the most amazingly productive people I know.‘“ (Slater 1999: 194)

Dabei berührt sie immer wieder den Zusammenhang zwischen ihrer Krankengeschichte und der ihr neuen, noch unvertrauten Identität als symptomfreier, „gesunder“ Mensch. Am Ende einer Reihe von Zitaten, die die Positionen der pharmakologischen Psychiatrie widerspiegeln und mit denen sich die Ich-Erzählerin auseinandersetzt, steht folgende Aussage, die den durch das Aufkommen wirksamer Antidepressiva eingeleiteten Wandel im medizinischen Umgang mit psychischen Krankheiten auf den Punkt bringt: „In light of these findings, the patient’s past, the story of self, is no longer relevant [Herv. der Verf.] We do not need to explain mental illness in the context of history. We can place it, and its cures, firmly in the context of chemicals.“ (Ebd.: 108)

Als Produkt chemischer Prozesse im Gehirn wird die Krankheit rein präsentisch konstruiert, die Vergangenheit des Patienten, die Geschichte des kranken Ich, spielt in der Diagnose wie in der Therapie keine Rolle mehr. Anders als in der Psychoanalyse und in tiefenpsychologischen Therapieformen, die an sie anschließen, wird der Symptomkomplex psychischer Krankheiten von der pharmakologischen Medizin nicht mehr als Produkt neurotischer Mütter und einer neurotischen Zivilisation betrachtet; der „Weg zurück“ in die eigene Kindheit, die Aneignung der Vergangenheit zur Lösung der Symptome wird somit überflüssig. Wenn es in der Psychoanalyse darum geht, die Symptome als Sinn tragend zu betrachten und zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte zu machen, verlieren sie unter der pharmakologischen Perspektive ihren Sinn. Es ist gerade Aufgabe der Medikation, sie zum Verschwinden zu bringen.

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*** Wie wird diese Problematik, die Lauren Slater auf der ‚histoire‘-Ebene ihrer Autobiographie diskutiert, von der Erzählstruktur des Textes reflektiert? Was sagen die narrativen Strukturen einer unter einem Antidepressivum verfassten autobiographischen Pathographie über das Verhältnis von ‚prescription‘ und ‚retrospection‘? Wie wird die Vergangenheit hier mit dem Krankheitsbild, und wie mit dem gegenwärtigen „gesunden“ Ich in Verbindung gebracht? Das Spezifische an Slaters „Prozac Diary“ tritt deutlich hervor, wenn man den Text auf der Folie von Marie Cardinals über 20 Jahre zuvor, 1976, erschienenem psychoanalytischen autobiographischen Roman „Les mots pour le dire“ liest. Denn beide Ich-Erzählerinnen beschreiben die Geschichte einer Heilung von psychopathologischen Störungen und zugleich ihren Weg hin zu sozialer Funktionsfähigkeit, größerer Produktivität und gesellschaftlichem Erfolg – aber während der eine Weg mit dem Absetzen aller Medikamente beginnt, das eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den psychosomatischen Symptomen gewährleisten soll, setzt der andere gerade mit ihrer ersten Einnahme ein, durch die sämtliche Symptome zum Verschwinden gebracht werden sollen. Beide Autopathographien beginnen ohne andere Einführung mit der Beschreibung des ersten Besuchs bei dem jeweils behandelnden Arzt: Cardinals Erzählerin bei dem Analytiker, der als Bedingung für die Behandlung das Absetzen der Medikamente fordert15 und Slaters Erzählerin bei dem Kliniker, der ihr Prozac verordnet. Mit ihren ersten Sätzen schildern die Ich-Erzählerinnen jeweils den Weg hin zu ihrem Therapeuten, die Beschreibungen lassen sich zugleich als Charakterisierungen der therapeutischen Wege lesen, die beide gegangen sind. Ein unterschiedlicher Umgang mit dem Thema Vergangenheit scheint sich hier bereits anzukündigen: „La ruelle en impasse était mal pavée, pleine de trous et de bosses, bordée de minces trottoirs en partie détruits. Elle s’enfonçait comme un doigt crevassé entre des maisons particulières à un ou deux étages, serrées les unes contre les

15 „[…] j’ai le devoir de vous avertir d’une part qu’une psychanalyse risque de bouleverser totalement votre vie, d’autre part que vous devez cesser dès maintenant de prendre tout médicament, que ce soit pour vos hémorragies ou votre système nerveux.“ (Cardinal 1975: 31)

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autres. Au fond, elle butait contre deux grilles envahies par une verdure mesquine.“ (Cardinal 1975: 7) „Where he waits: To get there, you turn left off the highway and drive down the road bordered on one side by pasture. And then, a radio song or so later, you turn right into the hospital’s gated entrance, easing your car up the slope that leads to the turreted place where he waits. Safety screens cover all the windows. The stairs are steep, and exit signs cast carmine shadows on the concrete floors. Four flights you must travel, before you finally come to his office.“ (Slater 1999: 3)

Marie Cardinals Ich-Erzählerin beschreibt, im Imperfekt, ein schlecht gepflastertes, gewundenes Sträßchen voller Schlaglöcher und Stolpersteine, das abseits der großen Boulevards liegt, links und rechts von alten, niedrigen Häusern gesäumt. Das geschichtsträchtige Sträßchen, das die Erzählerin zu Fuß entlang geht, stellt ein Rückzugsgebiet in der hektischen Metropole Paris dar. Der Psychiater und Analytiker erwartet seine PatientInnen hinter einem mit Unkraut überwucherten Gitter. Im Folgenden wird ausgeführt, dass es sich um einen kleinen, älteren Herrn handelt, dessen Behandlungszimmer Teil seines Privathauses ist. Die PatientInnen warten in einem Esszimmer, das mit antiquarischen Möbeln im Henri II-Stil ausgestattet ist. Lauren Slaters Ich-Erzählerin dagegen beschreibt eingangs, im Präsens, die Strecke, die man mit dem Auto auf dem Highway zurücklegen muss, das Abbiegen auf eine Nebenstraße, die man ein Stück entlang fährt, bis man ein neutrales, modernes Klinikgebäude erreicht, das mit zahlreichen Sicherheitsvorkehrungen ausgestattet ist. Sie gibt dem Leser eine Wegbeschreibung, die sich wie eine Gebrauchsanweisung auf einem Beipackzettel liest. Der Doktor, der der Erzählerin und Protagonistin Prozac verschreiben wird, ist, wie kurz darauf geschildert wird, jung, sehr gepflegt und gut aussehend, seine funktionale, blitzsaubere Praxis ist mit Werbeartikeln der Pharmafirma Eli Lilly ausgestattet.16 Die beiden Erzählanfänge wecken Erwartungen, die jeweils zu dem zu passen scheinen, was man mit der Erinnerungsarbeit im Rah-

16 In einer späteren Sitzung wird der Arzt ihr die Wirkungsweise des Antidepressivums in Form eines überdimensionalen neuronalen Synapsenmodells aus Plastik vorführen (vgl. Slater 1999: 51f.).

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men einer Psychoanalyse gemeinhin verbindet bzw. was die oben zitierten Aussagen zu einer psychopharmakologischen Therapie nahe legen: Während Cardinals Ich-Erzählerin inmitten alter Häuser auf einem holprigen Weg auf ein Grundstück zugeht, dessen Zugang von Unkraut überwuchert wird, bewegt Slater sich in ihrem Auto schnell und gradlinig auf einen hermetisch abgeriegelten Klinikkomplex zu, in dem sie sich anhand technischer Hilfsmittel orientiert. Cardinals IchErzählerin wird vermutlich, im Einklang mit den Annahmen der Psychoanalyse, die Geschichte einer langwierigen, von Widerständen geprägten Ich-Konstitution in Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit erzählen, Slater dagegen scheint die pharmakologische, präsentische Perspektive einzunehmen, in der das Ich biologisiert und naturalisiert wird. Werden diese Erwartungen von den beiden autobiographischen Texten im Folgenden bestätigt?

*** In „Les mots pour le dire“ wird die Geschichte einer erfolgreichen Psychoanalyse erzählt, in deren Verlauf die Analysandin sich im Dialog mit dem Analytiker mit ihren Symptomen konfrontiert und sich von diesen in die Vergangenheit und somit zu den Ereignissen führen lässt, die sie ausgelöst haben. In den sieben Jahren der Analyse gelingt es der Ich-Erzählerin, ihre bewussten und unbewussten Erinnerungen allmählich in einen Zusammenhang zu bringen, sie versteht, warum sie krank geworden ist und ist auf dieser Basis in der Lage, eine kohärente Lebensgeschichte und ein offensichtlich langfristig stabiles Ich zu konstituieren. Dieser Prozess wird als Weg von einem Zustand des Nicht-Authentischen und der Entfremdung hin zu Authentizität und Gesundheit beschrieben. Der Symptomkomplex, mit dem Cardinals Erzählerin etwa seit ihrem 20. Lebensjahr zu kämpfen hat, besteht in Panikattacken („la chose“), Angst, Atemnot, Herzrasen, Schlaflosigkeit und schweren Depressionen. Als erster Versuch einer Therapie nimmt sie Beruhigungsmittel und Schlafmittel ein, während ihres Klinikaufenthalts, auf den ihre Familie bestanden hatte, dann auch ein wirkungsmächtigeres, neues Psychopharmakum („Ils parlaient d’un nouveau traitement, d’un électrochoc chimique, difficile encore à manier mais dont les résultats étaient bien meilleurs que ceux de l’électrochoc habituel.“ (Cardinal 1975: 24)) Vermutlich handelt es sich dabei um

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Diazepam, Markenname Valium, das in den frühen 1960er Jahren auf den Markt kam. Die Medikation führt zu einer Beruhigung und zu zunehmender Passivität, die Panikattacken und Depressionen gehen zurück, dafür treten verstärkt psychosomatische Symptome auf, ein gynäkologisch nicht zu erklärender permanenter Blutfluss und eine immer wiederkehrende Halluzination, die darin besteht, dass ein Fernrohr sich an ihr rechtes Auge heftet. Die Medikation nimmt also die Angst und Depression, setzt an ihre Stelle aber, neben die psychische Passivität, starke körperliche Symptome, die das Leben der Ich-Erzählerin qualvoll zu bestimmen beginnen. Sobald sie die Psychoanalyse beginnt und in diesem Kontext alle Medikamente absetzt, setzt der Blutfluss wieder aus, Angst und Depression dagegen tauchen verstärkt auf. Wie der Psychoanalytiker so geht auch die Erzählerin von einem Sinn der Symptome aus: „Sans le sang, sans la sueur, sans le cœur déchaîné, sans les tremblements, sans l’oppression des poumons, sans le brouillard qui bouchait mes yeux et mes oreilles, est-ce que j’aurais eu le courage de m’enfoncer encore et encore dans l’analyse? Je ne le crois pas. Si je n’avais pas eu la chance de tomber profondément dans la maladie, je n’aurais peut-être pas eu la force d’aller au bout de l’affrontement avec moi-même.“ (Ebd.: 292f.)

Die Behinderung und Belastung durch die Symptome werden als Chance betrachtet, immer tiefer in die Analyse einzusteigen und somit in der Konfrontation mit sich selbst „bis zum Ende“ zu gehen. Die Symptome sind Wegmarken und Hilfestellungen für die Ich-Konstitution, ihre Aufhebung durch die Medikation dagegen wird als gewaltsame Unterdrückung entscheidender Persönlichkeitsanteile und als Gefahr eines Selbstverlusts dargestellt. Die Erzählerin lässt deutlich werden, dass die Medikation ihr den Weg zu ihrem verloren geglaubten ‚Ich‘ weiter verstellt, die psychoanalytische Behandlung, die eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ermöglicht, ihn dagegen öffnet. In „Les mots pour le dire“ erzählt die Protagonistin nicht nur die Geschichte einer persönlichen Befreiung von den Ansprüchen ihrer lieblosen neurotischen Mutter, die versucht hatte, ihr Kind abzutreiben, sie erzählt auch die exemplarische Geschichte der Befreiung einer jungen bürgerlichen Frau von den gesellschaftlichen Zwängen, denen ihr Geschlecht, ihre Klasse und, über den kolonialen Kontext in

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Algerien, auch ihre ethnische Zugehörigkeit unterworfen sind: Der Roman endet mit einer Parallelisierung ihres letzten Besuchs beim Analytiker und des Ausbruchs der 68er Revolte in Frankreich: „XVIII QUELQUES jours plus tard c’était Mai 68.“ Die persönliche und die gesellschaftliche Ebene werden durchgängig eng miteinander verknüpft: So wird die Auseinandersetzung mit dem Abtreibungsgeständnis der Mutter in einen langen Monolog eingebettet, in dem diese die Tochter sexuell aufgeklärt und in einem Zug mit den Konventionen ihres Standes und ihres Geschlechts in der kolonialen Gesellschaft vertraut macht. Die Analyse, die um dieses Geständnis kreist, ist zugleich eine Auseinandersetzung mit der restriktiven Erziehung, der ihre Mutter sie unterzogen hat. Am Ende des Romans behauptet die Erzählerin ein durch die Erinnerungsarbeit nicht nur gesundetes, sondern zugleich auch von Gender-, Rassen- und Klassenkonventionen befreites, und gerade durch diese Befreiung ‚authentisch‘ gewordenes, Ich. Obwohl die Erzählerin ihre Ich-Konstitution auf der Basis der Erinnerungsarbeit denkt und in Anschluss an die Psychoanalyse grundsätzlich von einem historischen, gewordenen Ich ausgeht, arbeitet sie mit der Vorstellung eines ‚Kerns‘, den sie im Laufe der Analyse freilegt. Der gesamte Text ist von einer Metaphorik der ‚zweiten Geburt‘ durchzogen, die diesen Prozess beglaubigen soll. „Il [le docteur] venait de m’aider à accoucher de moi-même. Je venais de naître. J’étais neuve!“ (Ebd.: 152) heißt es etwa, oder die Erzählerin beschreibt, wie sich während der Analyse ihre Erinnerungen zu verändern beginnen und sie sich an Szenen aus ihrer Kindheit und Jugend zu erinnern beginnt, in denen sie sich selbstbewusst und rebellisch verhalten hat: „J’ai d’abord revécu des moments qui m’ont servi de bouclier contre la chose, comme si je voulais lui prouver et me prouver à moi-même que je n’avais pas toujours été une malade, qu’il existait en moi un embryon caché [Herv. der Verf.] que je pouvais retrouver et à partir duquel je m’épanouirais.“ (Ebd.: 17

171f.)

17 „Quand j’avais commencé à me mettre au monde, à me considérer comme une personne indépendante, comme un individu […]“ (Cardinal 1975: 198); „J’étais presque construite.“ (Ebd.: 205) etc.

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Diese Szenen werden von der Erzählerin zu Erinnerungen an ihr ‚authentisches‘ Ich erklärt, ein Ich, das sie durch den Gang in die Vergangenheit in seiner embryonalen, unverdorbenen Form wieder entdecken, befreien und entwickeln konnte. Es ist gerade nicht so, dass die Erzählerin ihre Widerständigkeit, ihren Freiheitswillen, ihren Körper und ihre Wut in der Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit er-findet, sie geht durchgängig davon aus, es wieder zu finden (vgl. etwa „retrouver ma violence“, ebd.: 203), um sich von dort, von dieser wieder gefundenen ‚Kernidentität‘ aus, in einem zweiten Schritt als „personne“ zu konstituieren. Die Metaphorik dieser Selbstoptimierungsgeschichte, die mit der Vorstellung einer Wiederherstellung des Ich auf der Basis eines ‚ursprünglichen Persönlichkeitskerns‘ arbeitet und die Wiedergewinnung von ‚Authentizität‘ geradezu feiert, macht es den LeserInnen schwer, der Erzählerin ihre Geschichte als die einer Befreiung von familiären und gesellschaftlichen Konventionen abzunehmen. Zudem kommt es auch innerfiktional zu einigen Widersprüchen: So wird etwa in der Art, in der die Ich-Erzählerin das Verhältnis zu ihrem Mann beschreibt, mit dem sie während der Psychoanalyse wieder zusammenkommt, klar, dass sie in ihrer Partnerschaft die immer wieder kritisierten Genderverhältnisse ihrer Zeit letztlich reproduziert – auch als ‚gesunde‘ Frau. Aus der Retrospektive hat sie Verständnis dafür, dass ihr Mann sie während der Zeit, als sie versucht hatte, den gesellschaftlichen Konventionen zu genügen und ihre Angst mit Beruhigungsmitteln zu betäuben – kurz nach einer Entbindung und neben ihrem Beruf als Lehrerin allein für die Kinder und die Haushaltsführung zuständig – „[a]vec une femme qui vit, une femme qui m’aime“ (ebd.: 212), mit einer ‚lebendigen‘, offensichtlich auch von der Erzählerin als authentisch betrachteten Frau, betrogen und sie und die Kinder kurz darauf verlassen hat. Stärker noch als Inhalt und Metaphorik der Heilungsgeschichte aber ist es ihre Erzählstruktur, die das Entstehen von Authentizitätseffekten beim Leser verhindert. Denn der Prozess der Ich-Konstitution ist narratologisch klar vom Erzählzeitraum getrennt, die Zeitstruktur des Romans lässt sich zusammenfassen als „ich erinnere mich, wie ich mich, damals, d.h. in der Zeit der Analyse, erinnert habe“. Die Erzählerin erinnert einen in sich abgeschlossenen Zeitraum, den der siebenjährigen Psychoanalyse, in dem sie sich intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Ihr aktuelles, schreibendes Ich, eine Ende

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30jährige, gesunde, berufstätige Mutter dreier Kinder, die gerade ein Buch in einem bekannten Verlag veröffentlicht hat, ist das Ergebnis dieser Analyse, es schaut aus einer zeitlichen Distanz auf die Erinnerungsarbeit der Analysandin zurück. Diese erste, gegenwärtige Zeitebene, der Erzählzeitraum, ist von der zweiten Zeitebene, dem Analysezeitraum, klar abgetrennt.18 Nur von hier aus wird, innerhalb der Erzählung der Analysesitzungen, der Weg zurück in die eigene Kindheit und Jugend gegangen. Diese stellen eine dritte Zeitebene dar, die nur mit der zweiten, über bewusste Erinnerungen und über Assoziationen, im Austausch steht. Hier wird die Kindheit und Jugend der Analysandin erzählt: zunächst, in weitgehend chronologischer Form, die „bewussten“ Erinnerungen (ihre Besuche bei dem von der Mutter geschiedenen Vater, dessen Tod, ihr schwieriges Verhältnis zur Mutter, die Traumata ihrer kindlichen Sexualität, schließlich das Geständnis der Mutter), dann, ausgehend von Assoziationen zu ihrer Halluzination und ihren Träumen während der Analysezeit, die „unbewussten“ Erinnerungen. Vom Erzählzeitzeitraum aus gesehen liegt die eigentliche Erinnerungsarbeit der Erzählerin von „Les mots pour le dire“ somit also in der Vergangenheit, die Konstruktion der ‚history of self‘ ist nicht mehr Teil des Erzähl- und Schreibprozesses selbst, sondern geht diesem voraus. Sichtbar wird, dass sowohl die Metaphorik einer ‚zweiten Geburt‘, die die Ich-Erzählerin in „Les mots pour le dire“ immer wieder bemüht, als auch die Zeitstruktur des autobiographischen Romans zur eingangs evozierten Geschichte einer Konstituierung des Ich in Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im Widerspruch stehen. Auf der ‚histoire‘-Ebene klagt die Ich-Erzählerin in hohem Maße ein, durch den psychoanalytischen Weg zurück wieder sie selbst und somit authentisch geworden zu sein. Ihre Erziehung ebenso wie die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gender-, Rassen- und Klassenkonventionen ihrer Zeit, haben sie, so ihre Darstellung, krank und somit unauthentisch werden lassen, ein Prozess, der sich über die Analyse habe rückgängig machen lassen. Auf der ‚discours‘-Ebene aber gelingt

18 Dieser wird weitgehend chronologisch erzählt, beginnt mit der ersten Sitzung, darauf folgt die zweite, die folgenden werden häufig iterativ erzählt, nur die Sitzungen, die sich an wichtigen Wendepunkten der Analyse situieren, singulativ. Die letzten Sitzungen kurz vor Ende der Analyse werden wieder enger herangezoomt.

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es Cardinals Ich-Erzählerin nicht, diesen Anspruch einzulösen und einen Eindruck von Authentizität zu erzeugen. Das scheint insbesondere daran zu liegen, dass die gegenwärtige Erzählerin durch den dauernden Einsatz einer dritten Zeitebene, die zwischen der Gegenwart und der Erzählung ihrer Kindheit und Jugend liegt, selbst nicht Teil der Erinnerungsarbeit ist. Da diese bereits abgeschlossen ist, bevor die Erzählung beginnt, können in der Darstellung keine Lücken, Widersprüche oder Verzögerungen entstehen – und eben diese scheinen es zu sein, die Authentizität nicht etwa infrage stellen, sondern Authentizitätseffekte erst hervorrufen. Dem Anspruch „les mots pour le dire“, „die Wörter um es zu sagen“ zu finden, wird Cardinals Erzählerin somit nicht gerecht, sie kann nur mitteilen, dass ihr dies damals, im Rahmen der Analyse, gelungen ist. Cardinal behauptet Authentizität auf der ‚histoire‘-Ebene, ohne sie auf der ‚discours‘-Ebene zeigen zu können.

*** Die Ich-Erzählerin in Lauren Slaters „Prozac Diary“ scheint den Fokus ihrer Erzählung tatsächlich nicht auf die Vergangenheit, sondern vielmehr auf die Gegenwart zu legen. Bereits der Titel, Prozac Tagebuch, impliziert ein präsentisches, gleichzeitiges Erzählen (eben dadurch unterscheidet sich die Gattung Tagebuch von der Autobiographie), und tatsächlich sind einzelne Passagen in Tagebuchform verfasst. Im Zentrum der Aufmerksamkeit liegt bei Slater weder die Krankheit selbst, noch die Kindheit und Jugend der Erzählerin, sondern die Heilung und das „neue“ Leben als gesunder Mensch, das ihr unvertraut ist und das sie erst lernen muss. Von Beginn an wird thematisiert, dass es sich nicht um die Rückkehr zu einem ‚gesunden‘ Zustand handeln kann, da sie diesen ja gar nicht kennt, sondern dass es um das Betreten von Neuland geht. Ohne die Symptome, das zwanghafte Verhalten, die Essstörungen, die Depression, die unter der Fluoxetinemedikation in Rekordzeit verschwinden, bewegt sich Slater auf gänzlich unbekanntem Terrain, findet sich auf diesem aber schnell immer sicherer zurecht. Sie gewinnt Freude am Essen und am Nichtstun, entwickelt Sozialkompetenz, absolviert in kürzester Zeit ein Studium in Havard, baut eine stabile Beziehung zu einem Mann auf und wird schließlich selbst Leiterin einer psychiatrischen Tagesklinik in Boston. Slaters

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Erzählerin ist, so könnte man ohne weiteres mit Kramer sagen, seit dem Verschwinden der Symptome „better than well“. Neben der Heilungs- und Erfolgsgeschichte, die sich unter der Medikation abspielt, berichtet die Ich-Erzählerin auch über Nebenwirkungen wie sexuelle Störungen, verminderte Kreativität, Gedächtnisstörungen, zitternde Hände, eine allmähliche Toleranzentwicklung und Phasen, in denen die Wirkung des Fluoxetines vollkommen aussetzt. Die Ich-Erzählerin ist um die Darstellung eines möglichst umfassenden Spektrums an Wirkungen und Nebenwirkungen bemüht, was dazu geführt hat, dass Slaters „Prozac Diary“ in der Presse als besonders ehrliche Auseinandersetzung mit dem Antidepressivum wahrgenommen wurde: „Prozac’s most honest narrator yet“ urteilt das Magazin „Elle“, „Brutally honest and brave“, „Entertainment Weekly“ (vgl. Slater 1999: Klappentext auf dem Paperbackumschlag). Tatsächlich scheint hier ein Ich mit dem Vorsatz „alles zu sagen“ über seine Krankheit und seine Versuche der Selbstoptimierung zu schreiben und somit eine wesentliche Forderung des von Rousseau begonnenen autobiographischen Projekts der Moderne zu erfüllen: „Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature; […].“ (Rousseau 1973 [1782]: 33) heißt es zu Beginn der „Confessions“. Slater schildert die ersten Effekte des Fluoxetine, die Zweifel, die sie überkommen, die Fragen, die sie sich über die Wirkung der Medikamente auf ihre Persönlichkeit stellt, ihre ständige Scham gedopt, drogenabhängig, nicht ‚sie selbst‘ zu sein, die radikale Veränderung ihres Lebens, aber auch die Erfahrungen damit, dass die Medikation aussetzt und den Versuch, Selbstheilungskräfte zu entwickeln. Mit der Frage, ob sie unter Prozac ein anderer Mensch wird, beschäftigt sie sich immer wieder: Zum einen setzt sie die Sehnsucht nach ihrem vertrauten, kranken Ich in Szene, zum anderen konfrontiert sie ihr Streben nach Authentizität mit Zweifeln an deren Zeitmäßigkeit. In diesem Kontext gibt sie Ausschnitte aus einem Gespräch mit einem Freund wieder: „‚Oh, please‘, my friend Ian says to me. […] He teaches at MIT, and he’s well versed in Derrida, Lacan, Adorno, in postmodern concepts that claim authentic identities are illusory remnants of the romantic age and that the truth is no truth at all. […]‚You’re thinking too much about a real self. At the very least, it’s passé. The real self as a belief went out in the seventies‘.“ (Slater 1999: 196)

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Somit dekonstruiert sie augenzwinkernd ihren eigenen, zugleich aber auch den Diskurs ihres im postmodernen Denken wohl bewanderten Freundes. Die Zeitstruktur von Slaters Autobiographie unterscheidet sich insofern wesentlich von der Cardinals, als hier nur zwei Zeitebenen vorherrschen: Der Erzählzeitraum, in dem die Ich-Erzählerin als verheiratete Mittdreißigerin, Publizistin und Klinikleiterin von ihren Erfahrungen mit der medikamentösen Therapie berichtet, ist, anders als bei Cardinal, Teil des Therapiezeitraums; anders als Cardinals Erzählerin schreibt Slaters Erzählerin während der bereits zehn Jahre andauernden Therapie über die Therapie, sie schreibt unter der Medikation über die Medikation: Sie erzählt den Zeitraum zwischen dem ersten Besuch bei dem Arzt, der ihr Prozac verschreibt, bis zum Erzählzeitpunkt. Dabei widmet sie den ersten Tagen, Wochen und Monaten unter dem Medikament besondere Aufmerksamkeit: Sie schildert, teilweise in Tagebuchform, die Effekte des Fluoxetine, die Fragen, die sie sich über die Wirkung der Medikamente auf ihre Persönlichkeit stellt, die Erfahrungen, wenn die Medikation aussetzt. Diese erste Zeitebene, die einen Großteil des Textes ausmacht, inszeniert in der Tat eine Aura des Präsentischen. Aber ist die Erzählerin wirklich von ihrer Vergangenheit abgeschottet? Erzählt sie eine ‚creatio ex nihilo‘? Die zweite Zeitebene in Slaters „Prozac Diary“, die einen wesentlich kleineren Teil des Gesamttextes ausmacht und keiner linearen Chronologie folgt, bilden Erinnerungen an die Zeit vor der Medikation, insbesondere handelt es sich dabei um Kindheitserinnerungen. Die Passagen machen deutlich, dass die Erzählerin ihren Symptomkomplex aus Depression, Essstörungen und zwanghaftem Verhalten, der sich unter der Medikation aufgelöst hat, durchaus in Beziehung zu ihrer familiären Sozialisation bringt, insbesondere zum Verhältnis zu ihrer neurotischen Mutter. In über den gesamten Text verteilten, meist kurzen Szenen erzählt sie Bruchstücke aus der Geschichte der Krankheitsentstehung. Die meisten dieser Kindheitserinnerungen werden in „Letter to my doctor“ betitelten Zwischenkapiteln erzählt, in denen die Erzählerin zunächst auf die einzelnen Fragen eines klinischen Anamnesebogens antwortet, sich dann aber jeweils von diesen frei macht und eigene Textformen entwirft, die passagenweise den Charakter von Prosagedichten haben und in scharfem Kontrast zu dem gesetzten klinischen Rahmen stehen. Obwohl also der Schwerpunkt des „Prozac Diary“ auf dem Leben mit

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der Gesundheit, dem Neulernen, der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit dem Medikament und nicht mit der eigenen Vergangenheit liegt, bildet diese trotz ihres fragmentarischen Charakters eine Ebene, die den präsentischen, tagebuchartigen Charakter des Textes permanent unterläuft. Das gesunde Ich wird somit als prekär inszeniert, die Vergangenheit scheint in den Text einzubrechen wie die Krankheitssymptome ins Leben, wenn die Fluoxetinemedikation aussetzt. Das Wiederauftauchen der Symptome wird gelegentlich auch unmittelbar mit dem Wiederauftauchen von Kindheitserinnerungen verknüpft, so öffnet das plötzliche erneute Auftreten des Zähl- und Kontrollzwangs ein Fenster in die Vergangenheit: Verstreutes Mehl in der Küche löst bei Slaters Ich-Erzählerin den Impuls aus, sich hinein zulegen und in dem weißen Puder einen perfekten Körperabdruck zu hinterlassen, sie ist versucht, eine erinnerte Szene aus ihrer Kindheit zu wiederholen, in der sie im Schnee einen Körperabdruck hinterlassen und danach stundenlang obsessiv versucht hat, ihn zu perfektionieren (vgl. ebd.: 96-99). Im Kapitel „The Third Person“ wird, durchgängig in der dritten Person, erzählt, wie die Protagonistin mit ihrem Freund Benett ihr mittlerweile leer stehendes Elternhaus besucht, um ihn mit dem Gefahrenpotential zu konfrontieren, das von ihrem unter der Medikation unsichtbaren „alten Ich“ ausgeht. „Every day she takes pills whose purpose is to hide her history.“ (Ebd.: 136) heißt es hier und kurz darauf wird ein Gang in ihre Vergangenheit inszeniert, indem nicht sie, sondern ihr Freund es ist, der anhand der einzelnen Räume des Elternhauses kurze Szenen aus ihrer Kindheit erzählt, die er aus ihren eigenen Erzählungen bereits zu kennen scheint. Die Ich-Erzählerin, die unter der Medikation über ihre Erfahrungen mit der Medikation schreibt und ihre gegenwärtige Identität als gesundes Ich als fremd erlebt, experimentiert mit einer Vielfalt narrativer Formen, mittels derer sie versucht, ihre Gegenwart und ihre Vergangenheit miteinander in Berührung zu bringen. Indem sie Textpassagen in Tagebuchform mit retrospektiven Passagen über ihre Kindheit und Jugend, mit Erzählungen anderer und mit theoretischen, essayartigen Abschnitten scheinbar unverbunden nebeneinander stellt, bringt sie ihre „fremde“ Gegenwart permanent mit ihrer durch die „vertraute“ Krankheit geprägten Biographie in Austausch. Auf der ‚discours‘-Ebene erweckt Slaters Erzählerin, die sich auf der ‚histoire‘-Ebene der psychopharmakologischen Therapie unterzieht,

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immer wieder den Eindruck, dem Postulat der psychoanalytischen ‚talking cure‘ zu folgen: In den fiktiven Briefen sucht sie einen Dialog mit ihrem Arzt und scheint in eine therapeutische Deutungsbeziehung eintreten zu wollen. Sie ruft den Eindruck hervor, assoziativ zu arbeiten, alles auszusprechen, was ihr durch den Kopf geht, mit der Polysemie der Sprache zu spielen und permanent ihre Möglichkeiten auszuloten. Auf der ‚discours‘-Ebene inszeniert Slater, so könnte man sagen, eine psychoanalytisch inspirierte Selbsttherapie. Die Textstrategien, die Slater in ihrem autobiographischen Text einsetzt, unterscheiden sich diametral von denen Cardinals: Während diese Authentizität nachdrücklich behauptet und einklagt, dekonstruiert Slater das Konzept auf der ‚histoire‘-Ebene, führt es aber auf der ‚discours‘-Ebene wieder ein: Slaters Erzählerin kommt nicht nur der Rousseauschen Forderung nach, „alles zu sagen“, sie breitet ihr autobiographisches Material auch, scheinbar unverbunden, vor dem Leser aus und überlässt ihm so die Synthese. Eben dadurch ruft der Text den Eindruck von Authentizität in hohem Maße hervor.

*** Was nun trägt die Lektüre dieser beiden autobiographischen Texte, die sich auf der ‚histoire‘ wie auf der ‚discours‘-Ebene mit der alten wie mit der neuen psychopathologischen Therapieform, mit ‚retrospection‘ und ‚prescription‘, auseinandersetzen, zur Frage nach dem Zusammenhang von Optimierung und ‚Authentizität‘ bei, die in den Debatten zur psychopharmakologischen Medikation immer wieder auftaucht? Wie antwortet Slaters Text, gelesen auf der Folie von dem Cardinals, auf die Frage danach, ob die antidepressive Medikation dem Kranken ermöglicht, wieder „er selbst“ und somit ‚authentisch‘ zu sein – oder ob sie den Menschen vielmehr so verändert, dass er auf Authentizität keinen Anspruch mehr erheben kann? Cardinals Erzählerin, die Authentizität in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Zwängen in hohem Maße für sich einklagt und damit an einen rousseauschen Duktus anschließt, nimmt ungeachtet des Erzählanfangs, der Gegenwart und Vergangenheit eng miteinander verknüpft, zu ihrer Kindheit und Jugend eine klare Distanz ein, indem sie die Auseinandersetzung mit ihr als mit der Analyse abgeschlossen betrachtet. Die Ich-Erzählerin setzt sich im Rahmen einer Psychoanalyse zwar intensiv mit ihrer Vergangenheit auseinander, erzählt diese aber

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erst nach Abschluss der Behandlung, ganz aus der Retrospektive. Und das, was sie aus der zeitlichen Distanz erzählt, ist eine ungebrochene, lineare Erfolgsgeschichte der eigenen Selbstfindung. Durch die Psychoanalyse, der sie sich unterzieht und der gegenüber sie sich unkritisch verhält, ist sie, so ihre Darstellung, zu ihrem durch die restriktive und verlogene Erziehung verstellten Selbst ‚zurückgekehrt‘. ‚Schein‘ und ‚Sein‘ sind mit Abschluss der Analyse wieder zusammen gefallen. Die Gefahr, die von den Erlebnissen in ihrer Kindheit und Jugend ausging, ist zum Zeitpunkt des Schreibens endgültig gebannt. Die Vergangenheit stellt keine Fragen mehr an die Gegenwart, letztlich wird sie, obwohl die Auseinandersetzung mit ihr im Mittelpunkt der Selbstoptimierungsgeschichte steht, ad acta gelegt. Der Anspruch der ‚talking cure‘, der im Titel des autobiographischen Romans aufgegriffen wird, steht zu seiner narrativen Struktur in Widerspruch. Cardinals Roman „Les mots pour le dire“ gelingt es nicht, einen Eindruck von Authentizität zu erzeugen. Slaters Erzählerin dagegen konfrontiert ihr scheinbar präsentisches Erzählen, das sie zu Beginn des Textes mit dem Besuch bei ihrem Psychiater einführt, immer wieder mit Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend und experimentiert dabei mit einer Vielzahl narrativer Formen. Ihr Text ist es, dem es im Gegensatz zu dem Cardinals gelingt, einen Eindruck von Authentizität hervorzurufen. Slaters IchErzählerin, die die Möglichkeit, unter einer psychopharmakologischen Medikation ‚authentisch‘ zu sein, auf der ‚histoire‘-Ebene immer wieder in Frage stellt, schreibt während der Therapie und ist dabei der ständigen Gefahr ausgesetzt, dass die Medikation nicht mehr wirkt und sie über die Symptome in schmerzhafter Form wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Durch das Schreiben setzt sie sich mit dieser Gefahr permanent auseinander, so dass man den Eindruck gewinnt, als schreibe sie geradezu gegen die Implikationen der psychopharmakologischen Therapie an. Obwohl sie gerade keinen Anspruch auf Authentizität erhebt, scheint Slaters Erzählerin darum bemüht zu sein, nicht nur die Verbindung zu ihrem ‚alten‘, kranken Ich, sondern auch zu ‚in den 1970ern ausgelaufenen‘ Authentizitätskonzepten und somit zum ‚alten‘, modernen Menschen zu halten. Es sind die verstörenden Folgen der Medikation, die eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen überhaupt angestoßen haben – so schreibt es zumindest die Ich-Erzählerin: „This is Prozac’s burden and its gift, keeping me alive to the must human of questions, bringing me forward, bringing

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me back, swaddling and unswaddling me, pushing me to ask which wrappings are real.“ (Ebd.: 200) Lauren Slaters Erzählerin scheint „alles“, auch die negativen Details, zu sagen und somit – jenseits von Postmoderne und Nouvelle autobiographie – an das Selbstschreibeprojekt der Moderne und seine Forderung nach einer Übereinstimmung von Erscheinung und Sein anschließen zu wollen. Anders als Cardinal, aber ebenfalls in einem Duktus, der – in anderer Weise – dem Rousseaus in den „Confessions“ ähnelt, bietet Slaters Text dem Leser keine Synthese eines Lebens an, sondern stellt ihm vielfältige, vorgeblich ungeordnete Erinnerungsmaterialien zur Verfügung, die immer wieder dadurch verifiziert sind, dass sie jeweils als unmittelbarer Gefühlsausdruck der schreibenden Ich-Erzählerin präsentiert werden. Über die Simulation eines unabgeschlossenen Schreibprozesses, der die Gegenwart zum Bezugspunkt des Textes macht, lässt sich Authentizität heute offensichtlich erfolgreicher inszenieren als über eine kohärente ‚history of self‘. Slaters Erzählerin entwickelt über die Vielfalt an Textformen, die narrative Unverbundenheit, die Widersprüchlichkeit, die Erinnerungslücken, das Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Positionen etc. eine ‚Rhetorik der Authentizität‘, die auf dem Wissen aufbaut, das Authentizität Ende des 20. Jahrhundert nur gezeigt, nicht aber gesagt werden kann. Deutlich wird, dass Authentizität kein Zustand ist, sondern das Ergebnis eines Beglaubigungsprozesses. Wie man sie, als psychoanalytisch oder psychopharmakologisch optimierter Mensch, in Szene setzen und somit für sich in Anspruch nehmen kann, lässt sich offensichtlich immer noch von Jean Jacques Rousseau lernen – insofern man die „Confessions“ nicht wie Marie Cardinal, sondern wie Lauren Slater liest.

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L ITERATUR Blackbridge, Persimmon (1997): Prozac Highway, Vancouver: Press Gang. Cardinal, Marie (1975/2010): Les mots pour le dire, Paris: Grasset & Fasquelle. Etxebarria, Lucia (1997): Amor, Curiosidad, Prozac y dudas, Barcelona: Plaza & Janés. Gehirn und Geist (2009): Das optimierte Gehirn, Memorandum, November 2009. Goodwin, Frederick K./Redfield, Kay (1990/2007): Manic-depressive illness, Oxford: University Press. Houllebecq, Michel (1998/2010): Les particules élémentaires, Paris: Editions J’ai Lu. Huxley, Aldous (1932/1994): Brave New World, London: Flamingo. Kennedy, Pagan (1994): „Shrinks“, in: Pagan Kennedy, Stripping and Other Stories, New York: High Risk, S. 49-66. Kipke, Roland (2010): „Was ist so anders am Neuroenhancement? Pharmakologische und mentale Selbstveränderung im ethischen Vergleich“, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 15, S. 69-99. Kipke, Roland (2011): Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement, Paderborn: Mentis. Knaller, Susanne/Müller, Harro (2006): „Einleitung: Authentizität und kein Ende“, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink, S. 7-16. Knaller, Susanne (2006): „Genealogie des ästhetischen Authentizitätsbegriffs“, in: Susanne Knaller/Harro Müller (Hg.), Authentizität. Diskussion eines ästhetischen Begriffs, München: Fink, S. 17-35. Kramer, Peter D. (1993): Listening to Prozac. A Psychiatrist Explores Antidepressant Drugs and the Remaking of the Self, New York: Penguin Publishers. Krist, Gary (1994): „Medicated“, in: Gary Krist, Bone by Bone, New York: Harcourt Brace, S. 239-257. Lévy, Justine (2004): Rien de grave, Paris: Stock. Metzl, Jonathan (2002): „Prozac and the Pharmacokinetics of the Narrative Form“, in: Signs 27, S. 347-80. Metzl, Jonathan (2003): Prozac on the Couch. Prescribing Gender in the Era of Wonder Drugs, Durham and London: Duke University Press.

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Robbe-Grillet, Alain (1994/2003): „Du Nouveau Roman à la Nouvelle Autobiographie“, in: Olivier Corpet (Hg.), Le voyageur. Textes, causeries et entretiens (1947-2001), Paris: Seuil, S. 287-298. Rousseau, Jean Jacques (1973): Confessions [1782], hg. v. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, Paris: Gallimard. Schilb, John (1999): „Autobiography after Prozac“, in: Jack Selzer, Sharon Crowley (Hg.), Rhetorical Bodies, Wisconsin: The University of Wisconsin Press, S. 202-217. Slater, Lauren (1996): „Black Swans“, in: Missouri Review 19, S. 144161. Slater, Lauren (1999): Prozac Diary [1998], New York: Penguin Books. Sloterdijk, Peter (1999): „Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus“, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Starobinski, Jean (1971): Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle, suivi de Sept essais sur Rousseau, Paris: Gallimard. Wurtzel, Elizabeth (1995): Prozac Nation: Young and depressed in America, New York: Riverhead.

Die Selbstpoetik des guten Lebens Optimierungsprogramme in der Diaristik seit der Frühen Neuzeit R ALPH K ÖHNEN Es denkt, sollte man sagen, so wie man sagt: es blitzt. Zu sagen cogito, ist schon zu viel, sobald man es durch Ich denke übersetzt. Das Ich anzunehmen, zu postulieren, ist ein praktisches Bedürfnis. LICHTENBERG 1994: 412

Selbstschriften boomen – und haben doch ihren Zenit noch vor sich: Nicht nur ließe sich mit Blick auf den Buchmarkt von einer autobiografischen Gegenwartsepoche sprechen, vielmehr bilden mittlerweile die digitalen Tagebuch- und Kurznotate eine eigene Universalgattung in der Blogosphäre. Dort spiegeln die Texte das Selbsterleben und ermöglichen es, ‚Stile‘ zu entwickeln – ein Schriftdoppel des Lebens, das in seinem Terror der Präsenz aber auch bedrohlich werden kann, insofern es die normierende Kraft einer Disziplinarstrategie gewinnen kann. Dass VerfasserInnen von Tagebüchern und Autobiografien lauter Wahrheit sprechen, sich als reine Rhapsoden ihrer selbst betätigen oder authentisches Zeugnis geben, ist so oft vermutet wie widerlegt worden – und doch als Phantasma eine wichtige Annahme geblieben. So hat Philippe Lejeune (1975/1994) das Konzept eines ‚pacte autobiographique‘ zwischen AutorIn und LeserIn formuliert – dieser solle sich darauf verlassen können, ein nicht-fiktionales Buch in Händen zu halten, sofern der Autor versichere, dass erzählendes Ich und Autor-

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Ich identisch seien. Und noch triftiger ließe sich die Hypothese ausweiten auf den Diaristen, der seine Tagebuchblätter als Spiegel oder Dialogpartner benutzt. Trotz aller Bekenntnisse aber zur Aufrichtigkeit einer Selbst-Herzensschrift, die im christlich-augustinischen Imperativ der Innenschau ihr Fundament hat und durch Rousseaus „Confessions“ (geschr. 176570, veröff. 1781) im Anspruch der Natürlichkeit und Authentizität stilbildend bekräftigt worden ist: ‚Wahre‘ Texte, die eine unverstellte Aussicht in das Innere geben würden, entstehen dabei wohl nie. Das Vorzeigen des Selbst durch die Schrift ist immer auch ein Verbergen, Umformulieren, Neuschöpfen – die Haut des Körpers und die Haut des Buches, das Papier, sie sind Membrane, jedoch für Wahrheiten nur halb durchlässig. Roland Barthes hat dies treffend und seinerseits mit Bekennerschrift formuliert: „Ich schreibe dies Tag für Tag; und es wird und wird: der Tintenfisch produziert seine Tinte: ich verschnüre mein Imaginarium (um mich zu verteidigen und zugleich darzubieten)“ (Barthes 1978: 176). Dass TagebuchschreiberInnen bereits bei der Abfassung Täuschungsversuche unternehmen, ist ebenso zum Topos geworden wie die Beobachtung, dass DiaristInnen und AutobiographInnen in ihrer Erinnerung fehlgehen, Lücken füllen, sich konstruktiv betätigen oder Spuren legen, die irritieren oder sonstwie in die Vergangenheit extrapolieren. Man schreibt Selbsttexte aber nicht nur, um Tages- oder Jahresbilanz zu ziehen, sondern um daraus folgend Lebenseinstellungen zu formulieren und sich Konturen zu geben. Ehrlichkeit, Wahrhaftigkeit oder Aufrichtigkeit von solchen Texten zu erwarten, zeugt von einem naiven Verismus: Es ist schiere Konstruktion, was AutobiographInnen oder DiaristInnen von sich geben. Und doch wird man darin weniger die souveräne Geste des Schöpfers seiner selbst sehen dürfen, der sich geniegleich aus dem Geist seiner Schrift erschafft. Denn voraussetzungslos schreibt niemand – politische, ökonomische und diskursive Netze lassen sich nicht abschütteln. Das Thema der Autobiographie als Selbstpoetik, als Schöpfung des Schreibenden, hat weite Tradition. Die antiken und stoischen Selbsttechniken bilden dabei einen Kontrast zum sich formierenden christlichen Humanitätsideal, das auf Unterwerfung unter ein Allgemeines beruht – vielmehr soll eine radikale Selbstbesinnung ermöglicht werden, die erst im zweiten Schritt auf einen gesellschaftlichen oder moralischen Zusammenhang abzielt. Das passende Medium hierfür waren

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die Hypomnemata, jene antiken Notizbücher, die das Gewerbe- oder Amtsleben dokumentieren, aber auch individuelle knappe Aufzeichnungen enthalten konnten – dies allerdings nicht im Sinne von Selbsterfahrung, sondern in Form von ethischen Lehrsätzen oder Leitfäden zur Lebensführung, die zur Überlieferung gedacht waren. Hierauf hat Michel Foucault in seinen späten Texten („Der Gebrauch der Lüste“, 1989, und „Die Sorge um sich“, 1986) hingewiesen, wenn er dort als Gegenkraft zu den diskursiven Determinanten des Subjekts die je eigene Erfahrungsqualität beschwört, wie sie besonders in der Selbstschrift zu kultivieren sei. Bei den Stoikern, insbesondere Seneca und Marc Aurel, mündeten diese notizhaften Selbsttexte in den konsequenten Selbstblick. Und so, wie Foucault damit grundlegend die Lebensmöglichkeit des sich Erschreibens sieht, kann er vom Menschen als „Erfahrungstier“ sprechen – und gesteht damit dem Subjekt, das er vormals nur als drangsaliertes „Geständnistier“ im Auge hatte, positive Gestaltungsmöglichkeiten zu. Einerseits ist die Kultur des Geständnisses in allen Diskursbereichen (Justiz, Medizin, Pädagogik, Familien- und Liebesbeziehungen und der Kindererziehung) wirksam geworden – Wahrheit wird durch Geständnisse gegenüber einer Machtinstanz produziert (Foucault 1983 76 ff.). Die Intentionen und Wirkungsformen haben sich verstreut, und aus der diskursivierten Sünde gehen allerhand Textsorten hervor – Verhöre, autobiographische Berichte, Briefe oder Protokolle werden zu Dossiers zusammengestellt oder den Archiven einverleibt (ebd.: 81). Macht- und Geständnisformen sind nicht nur repressiv, sondern wirken andererseits konstruktiv. Insofern ist der folgende Schritt nicht abwegig, in der formulierten, diskursivierten Erfahrung schließlich eine Möglichkeit der Ich-Findung und des persönlichkeitserweiternden Versuchs zu sehen: „Ich bin ein Experimentator in dem Sinne, daß ich schreibe, um mich selbst zu verändern und nicht mehr dasselbe zu denken wie zuvor“ (Foucault 1996: 24). Es handelt sich dabei nur scheinbar um eine Abwendung von der Machtanalytik: Das Ich hat durchaus an Souveränität gewonnen und steht nicht mehr allein in diskursiven Abhängigkeiten, sondern versucht, diese für sich zu nutzen. Es handelt sich um eine Gratwanderung: Selbstreflexion geschieht nicht im neutralen, souveränen Raum, sondern durch Arbeit in den Diskursnetzen, die zur Unterwerfung wie auch zur Befreiung führen kann. Daraus wird die Absicht Foucaults nachvollziehbar, die von ihm durchaus geschätzte Symbolphilosophie Cassirers zu erweitern:

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„Das Subjekt bildet sich nicht einfach im Spiel der Symbole. Es bildet sich in realen und historisch analysierbaren Praktiken. Es gibt eine Technologie der Selbstkonstitution, die symbolische Systeme durchschneidet, während sie sie gebraucht.“ (Dreyfus/Rabinow 1987: 289)

In diesem Sinne sind auch die fröhlichen Selbsterschaffungspläne der DiaristInnen und AutobiographInnen von normierenden Diskursen umgeben. Um nun aber über die Binsenweisheit hinaus zu gelangen, dass Tagebuchschrift via Selbstreflexion immer einen regulativen und damit optimierenden Anspruch verfolgt, soll anhand von Beispielen eine historische Entwicklung angedeutet werden. • Die Hypomnemata bilden das Fundament für die beiden Eckpfeiler

der Selbstschrift: die Gewissenserforschung bzw. Innenschau sowie die ökonomischen Aufzeichnungen, die sich mit den spätmittelalterlichen Handlungs- bzw. Kaufmannsbüchern spezialisieren. Die doppelte Buchführung, die der Mönch Luca Pacioli als Bilanzform von Aktiva und Passiva erfand, prägt seit dem 15. Jahrhundert die Finanzbücher – auch davon schlagen sich vereinfachte Formen im Tagebuch nieder. • In der Frühen Neuzeit tritt ein weiteres Motiv hinzu, das zum Beispiel an Galileis „Sidereus Nuncius“ (1610) deutlich wird: Die naturwissenschaftliche Dokumentation überwältigender neuer Erkenntnisse. Die diarische Form ist dabei nicht zufällig gewählt, sondern erkenntnisleitend: Sie protokolliert sowohl die durch den Fernrohrblick gewonnenen Erkenntnisse als auch die Selbsterfahrung des Forschers, die sich in der möglichst authentischen und expressiven Niederschrift artikuliert. Nicht nur soll dadurch das Forschungsprojekt an Kontur gewinnen, auch das Forschersubjekt konstituiert sich dabei. Dieser Stil wird vielfach abgewandelt – zum Beispiel in Lichtenbergs „Sudelbüchern“ bzw. „Tagebüchern“, die wissenschaftliche Beobachtungen und Datenreihen mit Aspekten literarischen und philosophischen Denkens sowie Aufzeichnungen privater Gefühlslagen verbinden. • Aus den Traditionen resultieren Mischformen wie etwa die Tagebücher von Samuel Pepys, bei denen das handelnde Subjekt sich mit privaten Erfahrungsräumen und öffentlichen Wirkungsfeldern darstellt – ein Dokument, das die unterschiedlichen Funktionen entwickelt und eine Vielfalt von Schreibweisen bereits in den 1660er

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Jahren zeigt. James Boswells 100 Jahre später geschriebenen Tagebücher stellen ein Bindeglied zur folgenden Diaristik dar, indem sie unter dem Motto des ‚Know thyself‘ die moralische Haltung und die Fähigkeit zum Selbstausdruck verbessern wollen, um die subjektiven Launen in eine nützliche Bahn zu bringen (Boswell 1762/63: 39). • Die pietistische Bewegung, die wiederum die Gewissensfunktion durch Innenschau stärken will und hierfür bestimmte Textformate einrichtet (Sündenerkenntnis und Reue, Umkehr und Erneuerung), stellt eine Erneuerung der religiösen Tradition dar (gleichsam eine Diarisierung des Bußsakraments, das seit dem Laterankonzil von 1215 vorsah, dass jeder Christ einmal im Jahr alle Sünden zu beichten hatte). Zweifellos entsteht durch Säkularisierungsprozesse eines weltimmanent sich begründenden Subjekts der ‚Erfahrungsseelenkunde‘ bzw. der Anthropologie die moderne Psychologie, wobei Tagebücher eine wichtige Rolle spielen (z.B. Albrecht von Haller, der als in Europa führender Mediziner vor allem literarische Bücher rezensiert (1734-1777), Ulrich Bräker, aber auch Karl Philipp Moritz, der mit seinen Selbst- und Fremddokumentationen den Weg von der pietistischen Innenschau zur modernen Psychologie weist). Darin wiederum wird der Zusammenhang mit dem juristischen Dispositiv deutlich, insofern der Weg vom Tatstrafrecht zum Täterstrafrecht mit der Idee der Besserung durch Internalisierung von Normen und Überwachungssituationen strikt verknüpft ist. Die geläufige These jedoch, das pietistische Tagebuch habe sich gattungsimmanent psychologisiert (Niggl 1977: 94), greift zu kurz, insofern die anderen Diskursfelder hier ebenso beteiligt bleiben und zu berücksichtigen sind (Steinmayr 2006). • Denn auch die wissenschaftlichen Formen des Kurznotats werden weiter ausgebildet – so ist Herders „Journal meiner Reise 1769“ nicht nur literarisch-ästhetisches Dokument des Sturm und Drang, sondern ebenso Bildungs- und Universalgeschichte, also eine Polygraphie aus geografischen, literarisch-philosophischen und anderen Daten. • Während im 19. Jahrhundert die Tradition der Herzensschrift gepflegt wird (Friedrich Hebbel spricht vom „Notenbuch meines Herzens“ (1966 I: 7), nimmt die Schrift des Ich in den Daten im 20. Jahrhundert zu, und zwar wechselhaft auf bedrohliche oder euphorische Weise. Während Carl Schmitts „Buribunken“-Satire (1918)

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den panoptischen Überwachungsstaat skizziert, der sich alle Selbstschriften einverleibt, kann Rainald Goetz (1999) im digitalen Medium seinen „Abfall für alle“ sortieren und auflisten – und mit wiederum avancierten, medienbewussten Formen eine Fülle von Schreibweisen für Blogger bereitstellen. Eine solche Tagebuchführung ist nicht mehr Gewissensmarter der Innenschau, wie sie Nietzsche im „Nachlaß der Achtzigerjahre“ kulturgeschichtlich pointiert hatte: „Wir sind die Erben der Gewissens-Vivisektion und Selbstkreuzigung von zwei Jahrtausenden: darin ist unsre längste Übung, unsre Meisterschaft vielleicht, unser Raffinement in jedem Fall; wir haben die natürlichen Hänge mit dem bösen Gewissen verschwistert“ (Nietzsche 1973; III: 482). Die Beichtfunktion hat weitgehend ausgedient. Dem integrationsfähigen diarischen Diskurs werden weitere Diskursfelder eingeschrieben, anders gesagt: Sprachspiele im Tagebuch ermöglichen bestimmte Wege der Selbstkultivierung und bisweilen auch Stilisierung, die sich aus dem Zeichenrecycling unterschiedlicher Diskursfelder speisen. Damit wird der (pan-)ästhetische Grundzug der Moderne virulent, der sich mit den nützlichen Funktionen verbindet. Wenn Foucault an antiken Hypomnemata und medizinisch-diätetischen Schriften die Möglichkeit diskutiert, Stilkriterien und Selbsttechnologien zu gewinnen (Foucault 1989: 18), kommen moderne, anspruchsvolle TagebuchschreiberInnen an der ästhetischen Regelschöpfung im engeren Sinne noch weniger vorbei. Die literarische Ambition und Formprägung bleibt zumindest im Hintergrund beteiligt – auch noch dann, wenn man sich im Statistischen oder Dokumentarischen erschöpft, ist dies in der Moderne eine bewusst eingeschaltete Strategie. Zu beobachten ist, wie die Daten, die Erstellung von Listen und alles Bestreben nach Quantifizierung eine Dialektik der Optimierung zeigen. Die Selbstverzifferung wird zum Dispositiv: Die Formen, derer man sich bedient, die Statistiken, die die Lebenserfahrungen zu benennen helfen, geben auch das Denkformat vor, unter dessen Horizont sich die Selbstschrift vollzieht (vgl. Dusini 2005). Diese kann zur privaten Obsession werden, zur Sache für Staatsarchive – oder eben doch zu einer kreativen Gestaltung des eigenen Lebens. Dass die psychotechnischen Optimierungen sich auch in historisch wandelbaren Tagebuchformen niederschlagen und erkenntnisleitend zum Aufbau des

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verschrifteten Selbst wirken, ist die mediologische Grundannahme der folgenden fünf Beispielstudien.

F ABER FORTUNAE : S AMUEL P EPYS „D IARIES “ 1660-1669 Bereits im späten Mittelalter gab es Handlungsbücher, die wirtschaftliche Aufzeichnungen mit einem durchaus persönlichen Charakter verbanden. Es gibt aber wohl kaum ein Zeugnis diarischer Arbeit, das vielseitiger orientiert und konsequenter durchgeführt wäre als Samuel Pepys’ Tagebücher aus dem London der 1660er Jahre. Noch ganz ungetrennt und im Rohzustand werden die unterschiedlichsten Funktionen des Tagebuchs sichtbar: Es fungiert als Haushaltsbuch mit Rechnungen, Posten und Bilanzen wie auch Reflexionen über den (anglikanischen) Gottesglauben, es verbindet private Dinge – bis zu intimen Geständnissen und Darstellungen über den Ehestand – mit öffentlichen Fragen, politischen Nachrichten und Staatsangelegenheiten, in denen sich Pepys als aufstrebender Sekretär im Marine-Ministerium gut auskannte. Er gehörte zu jenem Typus des Geschäftsmannes und Politikers, der sich zugleich als ‚man of pleasure‘ und Frauenkenner verstand – und sich durch geschickt geknüpfte Beziehungen und offenbar geschätzte Verwaltungsarbeit zu den einflussreichen Kreisen in London hochgearbeitet und ein entsprechendes Selbstbewusstsein entwickelt hatte. Offenbar hat Pepys, bekennender Verehrer Francis Bacons und besonders von dessen Stück „Faber Fortunae“ wie auch seines „Organon“, sich dessen Maxime zu eigen gemacht, die er in dem „Essay on Travel“ äußerte – nämlich das Tagebuch für Aufzeichnungen aller überhaupt interessanten Dinge zu nutzen. Dort findet sich eingangs eine Passage, die Anweisungen zur Protokollstrategie („things to be seen and observed“) des Tagebuchschreibers gibt und dabei schlicht alle sichtbaren Manifestationen von Politik, Religion und Kultur bzw. „whatsoever is memorable in the places where they go“ für notatfähig erklärt (Bacon 1985: 43). Die empirische Beobachtung wird (viel mehr noch als Michel de Montaignes „Essais“) zum modernen diarischen Programm, das Pepys noch einmal bereichert. Denn er gibt nicht nur Dokumentationen, sondern auch Erlebnisberichte, Gesprächsinhalte und Plaudereien mit

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Freunden wieder, reflektiert über Literatur und Kunstereignisse (vor allem Theaterbesuche), Speisepläne, Kleidungsmode, Perücken etc. – kurzum, prinzipiell jede Art von Alltagsbegebenheit ist aufschreibwürdig. Kontinuierlich verfolgte Themen sind der ökonomische Rechenschaftsbericht, Betrachtungen über die eigene (und anderleuts) Gesundheit, politische Protokolle, die Pepys auch als Gedächtnisstütze brauchte. Gelegentlich unternimmt er Abschweifungen in wissenschaftliche Gebiete, in denen er immerhin dilettierte. All dies wird oft übergangslos gemischt mit privaten Rechenschaftsberichten, die fröhlich erinnernd, jedoch auch selbstermahnend ausfallen können. Es wird in den Jahren ein ausgearbeitetes „Gelübdesystem“ (Winter 1997: 484) kultiviert, das sich auf moralische und ethische Selbstanweisungen erstreckt, mithin auf die tatsächlich umfassenden kulinarischen, kunstmäßigen, aber auch erotischen Vergnügungen. Diese können in gemischter Sprache artikuliert und vor allem durch Gebrauch einer geheimen Stenographieschrift vor seiner Frau versteckt werden. Insofern verwundert es nicht, dass sich auch Schilderungen von imaginierten und realisierten Ehebrüchen finden: „Seit meine Frau fort ist, treibe ich es in meiner Phantasie mit allen möglichen anderen Frauen; ich schäme mich sehr und werde versuchen, das abzustellen.“ (29.6.1663; Winter 1997: 171; „But I have used of late, since my wife went, to make a bad use of my fancy with whatever woman I have a mind to, which I am ashamed of, and shall endeavour to do so no more.“).

Seelische und ökonomische Dinge stehen eng zusammen und sollen durch Selbstregulierungen im Schreiben rückverstärkt werden: „Meine Seele ist jetzt in einem herrlichen Zustand der Ruhe und Zufriedenheit, seit ich mich nur meinen Dienstgeschäften widme. So wirken sich die Gelübde gegen Theaterbesuche und Weintrinken positiv aus. Mit Gottes Hilfe werde ich standfest bleiben, denn mein Beruf ist mir eine Freude, er bringt mir große Anerkennung, und auch meine Börse wird gefüllt“ (28.6.1662; ebd.: 127; „My mind is now in a wonderful condition of quiet and content, more than ever in all my life, since my minding the business of my office, which I have done most constantly; and I find it to be the very effect of my late oaths against wine and plays, which, if God please, I will keep constant in, for now my business is a delight to me, and brings me great credit, and my purse encreases too.“).

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Die Versicherung in Gott darf nicht zu wörtlich genommen werden (Pepys besuchte anglikanische und puritanische Gottesdienste gleichermaßen und geht mit Geboten oder Vorschriften situationsethisch gelockert um). Finanzielle Dinge werden kontinuierlich durchgesehen, sei es recht profan mit Geldbeträgen von Ausgaben, Schulden oder Einnahmen und Guthaben, nicht selten aber auch in Verbindung mit Gottesdank für den zunehmenden Wohlstand: „Den ganzen Morgen gerechnet. Stellte fest, daß ich jetzt £ 80 besitze, wofür mein Herz Gott dankte. Am Nachmittag erzählte mir Mr. Sheply, daß Mylord mir 70 holländische Gulden gutgeschrieben hat, das Herz lachte mir darüber.“ (30.5.1660; ebd.: 27; „All this morning making up my accounts, in which I counted that I had made myself now worth about 80 £l., at which my heart was glad, and blessed God […] In the afternoon Mr. Sheply told me how my Lord had put me down for 70 guilders among the money which was given to my Lord’s servants, which my heart did much rejoice at.“)

Selbstermahnungen zur Sparsamkeit erfolgen häufig, und rückkoppelnd wird die gelegentlich gute Wirksamkeit, aber auch Verfehlung der Vorsätze beobachtet und wiederum notiert. In Monats- und Jahresabschlüssen tritt der meist erzählerische Charakter zurück zugunsten eines resümierenden, dann aber auch pastoralen Stils: „Ich selbst, der Herr sei gesegnet, bin in guter Verfassung und fest entschlossen, meinen Posten gut auszufüllen, damit ich ordentlich Geld verdiene und dem König treue Dienste leiste, wobei mir Gott helfe. So endet das alte Jahr“ (31.12.1663; ebd.: 192; „Myself, blessed be God! in a good way, and design and resolution of sticking to my business to get a little money with doing the best service I can to the King also; which God continue! So ends the old year.“).

Damit werden insgesamt Muster des bürgerlichen Erwerbseifers und Arbeitseinsatzes gegeben, die in Deutschland erst im fortgeschrittenen 18. Jahrhundert virulent werden. Medizinische Selbstbeobachtungen und auch diätetische Regelkundgebungen zum klugen körperlichen Verhalten (auch etwa zu Verdauungsvorgängen) finden sich in Fülle (z.B. im Tagebucheintrag vom 13.10.1663):

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„And so rose in the morning in perfect good ease […] continued all the morning well, and in the afternoon had a natural easily and dry stoole, the first I have had these five days or six, for which God be praised, and so am likely to continue well, observing for the time to come when any of this pain comes again 1. To begin to keep myself as warm as I can. 2. Strain as little as ever I can backwards, remembering that my pain will come by and by, though in the very straining I do not feel it. 3. Either by physic forward or by clyster backward or both ways to get an easy and plentiful going to stool and breaking of wind. 4. To begin to suspect my health immediately when I begin to become costive and bound, and by all means to keep my body loose, and that to obtain presently after I find myself going the contrary.“ (Ebd.: 183)

Neben den Selbstanweisungen zur Besserung und neben den Gedächtnis- und Wissensfunktionen hat das Tagebuchschreiben offenbar eine hoch kultivierte rituelle Funktion. Das tägliche Schreibexerzitium zeugt von strenger Disziplin im doppelten Wortsinn, nämlich Schulgang und Regelbefolgung – bedenkt man, dass Pepys fast zehn Jahre (vom 1. Januar 1660 bis zum 31. Mai 1669) lang sein Leben aufschrieb, täglich über verschiedene Stufen der Textorganisation mindestens eine Seite niederlegte (und letztlich nur durch ein Augenleiden gestoppt wurde), ist viel regulierte Lebenszeit in das Unternehmen geflossen. Gelegentliche Selbstberichte aus der Tagebuchwerkstatt zeigen, dass Pepys in mindestens drei, wahrscheinlich fünf Stufen gearbeitet hat: Das Rohmaterial bilden Rechnungen, Aufzeichnungen, Protokolle, die auch in Listen und Tabellen organisiert sein können, hinzugefügt werden Notizen, diese wiederum in Merkbücher eingetragen, daraus wird die Reinschrift im Tagebuch formuliert, und auch diese kann noch einmal revidiert werden (Winter 1997: 484). Das Unternehmen ist also recht strikt organisiert und über die Länge der Zeit mit großer Disziplin durchgeführt – die Arbeitsethik erstreckt sich auch auf den Schreibprozess. Hochbetagt vermachte Pepys seine Tagebücher dem Magdalene College in Cambridge, was auch den Schluss darauf zulässt, dass bereits der aufgestiegene Beamte im 17. Jahrhundert ein geschichtliches Verständnis der eigenen Existenz hatte, die er als exemplarisch begriff. Die Aufbewahrung der in Kurzschrift abgefassten Texte erfolgte zu Lebzeiten an geheimer Stelle; Pepys ließ seine Aufzeichnungen dann

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binden und stellte sie in seiner Bibliothek ein, die am Ende 3000 Bände umfasste und nach dem Erbe in der von ihm minutiös entworfenen Aufstellung erhalten werden sollte. Die Entdeckung der Aufzeichnungen erfolgte denn auch erst posthum, nämlich 1818 – so unauffällig-offenkundig war die Postierung der Selbstschriften. Mittlerweile sind die „Diarys“ auch Gegenstand einer sukzessiven Veröffentlichung im Internet (pepysdiary.com) – Zeichen nicht nur für die Aktualität ihres lebensfreudigen und (bei allen Ermahnungen) konstruktiven Stils, sondern auch Reanimation des Typus „öffentlich geglücktes Ich“ (Goetz 2011: 102), das sich im urbanen Sinn der Gegenwart präsentieren will und konsequente Selbstpoetik betreibt. Denn zugleich schreibt Pepys eines der frühen Zeugnisse dafür, dass die private und die öffentliche Sphäre unterschieden werden und zusammen passen können.

L ERNFAHRT IM D ATENMEER : H ERDERS „J OURNAL “ ALS W ISSENSOPTIMIERUNG Herders „Journal meiner Reise im Jahre 1769“ ist zwar kein Tagebuch im Sinne einer exakten Datierung von Erlebnissen oder kalendarisch markierten Gedanken, auch kein nur summarisch gefasster Reisebericht, der an einer deutlichen Kette von Stationen bzw. empirischen Orten entlang erzählt wäre. Nur zu Beginn wird eine Datierung angedeutet, weiterhin finden sich nur noch ganz wenige zeitliche Hinweise – das „Journal“ ist aus der Retrospektive zu weiten Teilen in Nantes und schließlich in Paris zu kleineren Teilen geschrieben. Dennoch werden dort wichtige Aspekte des Tagebuchschreibens im 18. Jahrhundert ablesbar: Es soll hieran vor allem ein Antagonismus beobachtet werden, der prägend für das sich verschriftende moderne Ich sein wird – Individualitätskult und Allmachtsphantasien des unmittelbaren Erlebens einerseits, Daten- und Wissenszuwachs als überstrapaziertes Bildungsprogramm andererseits. Jeder engherzigen Studiermentalität stellt Herder einen emphatischen Naturbegriff entgegen: die unendlichen Weiten, die sich dem Auge auf dem Schiff darbieten, stellen das bisherige Dasein mit seiner verengten Optik in den Schatten und übertreffen die angelernte Perspektive bei weitem:

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„So denkt man, wenn man aus Situation in Situation tritt, und was gibt ein Schiff, das zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! Das flatternde Segel, das immer wankende Schiff, der rauschende Wellenstrom, die fliegende Wolke, der weite unendliche Luftkreis! Auf der Erde ist man an einen toten Punkt angeheftet; und in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen. Oft ist jener der Studierstuhl in einer dumpfen Kammer, der Sitz an einem einförmigen, gemieteten Tische, eine Kanzel, ein Katheder [...] Nun trete man mit Einmal heraus, oder vielmehr ohne Bücher, Schriften, Beschäftigung und Homogene Gesellschaft werde man herausgeworfen – welch eine andre Aussicht! Wo ist das feste Land, auf dem ich so feste stand? und die kleine Kanzel und der Lehnstuhl und das Katheder, worauf ich mich brüstete? wo sind die, für denen ich mich fürchtete, und die ich liebte! – – O Seele, wie wird dirs sein, wenn du aus dieser Welt heraustrittst? Der enge, feste, eingeschränkte Mittelpunkt ist verschwunden, du flatterst in den Lüften, oder schwimmst auf einem Meere – die Welt verschwindet dir – ist unter dir verschwunden! –Welch neue Denkart! aber sie kostet Tränen, Reue, Herauswindung aus dem Alten, Selbstverdammung!“ (Herder 1769: 14 f.)

Zweifellos wird in Herders „Journal“ im Muster der authentischen Gattung bzw. der pietistischen Bekenntnisliteratur geschrieben. Diese wird jedoch zu strategischen Zwecken genutzt, um nämlich damit ganz andere Dinge zu erproben: das persönliche Sichfreischreiben, die Rekapitulation der eigenen Lektüre, Skizzen eines Bildungsprogrammes bzw. Curriculums, aber auch Epistemologie wird getrieben nebst vielen Erwägungen zur Lektürediätetik: Wie viel Lektüre pro Tag erträgt der Mensch, wie viel sollte er nützlicherweise leisten, mit welchen Gefahren hat aufgeklärte Lektüre zu kämpfen? Und was davon ist aufzuschreiben? Dies sind Fragestellungen, die Herder auch angesichts des weiten Himmelszeltes fortdauernd beschäftigen. Sie werden nach dem Maximumprinzip des Nutzens beantwortet, wie eine programmatische Anmerkung zum eigenen Schreiben zeigt: „So lernte ich ganz mein Leben brauchen, nutzen, anwenden; kein Schritt, Geschichte, Erfahrung wäre vergebens [...] Dazu reise ich jetzt: dazu will ich mein Tagebuch schreiben: dazu will ich Bemerkungen sammlen: dazu meinen Geist in eine Bemerkungslage setzen: dazu mich in der lebendigen Anwendung dessen, was ich sehe und weiß, was ich gesehen und gewesen bin, üben! Wie

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viel habe ich zu diesem Zwecke an mir aufzuwecken und zu ändern!“ (Ebd.: 32)

Der Vorsatz – dies zeigt sich noch an der aufgeregten Interpunktion – steht im Diskurs der Aufmerksamkeit, die man im 18. Jahrhunderts als bewusste Lenkung der Seelenenergie (Thums 2008) konzipierte. Das Auf- oder Bemerken soll durch die Schrift ermöglichen, Erfahrung zu fixieren, zu sammeln und anwendbar zu machen. Dass Herder die Fiktion des autobiographischen Genres gebraucht, soll als authentisch verbürgte Erkenntnis der rationalistischen Tradition Descartes’, Gottscheds oder Christian Wolfs (sowie später noch: Kant) entgegen gehalten werden. Die Kategorie der Erfahrung vor abstraktem Buchstabenwissen soll nun auch auf der performativen Ebene des Gattungsmusters das Bildungsprogramm plausibilisieren. Die spezifische Modernität von Herders Reisetagebuch, die auch für heutige Diaristen noch als intertextueller Bezugspunkt von Belang sein kann, liegt zweifellos in seiner Multifunktionalität. Dort sind nicht nur die unterschiedlichen Diskurssysteme von Historie, Literatur oder Philosophie verflochten (vgl. Nübel 1994). Dass ästhetische Anteile einen weiten Raum im „Journal“ einnehmen, ist für diese noch nicht ausdifferenzierte Tagebuchform ebenso kennzeichnend wie die Thematisierung epistemologischer Fragen des Wissens- und Datensammelns. Damit verknüpft ist wiederum das breite Spektrum bildungstheoretischer und -praktischer Fragen. Grundsätzlich geht die Intention dahin, „Menschenkenntnisse“ zu einem Journal zu bündeln, „die ich täglich aus meinem Leben, und derer, die ich aus Schriften sammle“ (Herder 1769: 32 f). Hilfestellung soll dazu die „beständige Lektüre von Menschheitsschriften“ (ebd.; 33) geben, die allgemein zu einer anthropologischen Enzyklopädie und praktisch zu einem „Jahrbuch der Schriften für die Menschheit“ (ebd.: 33, kursiv im Orig.) für ein breites Lesepublikum gebündelt werden sollen. Euphorisch und ambitioniert arbeitet Herder an „Archiven des Menschlichen Geschlechts“ (ebd.: 105) und gibt dies als Schreibrezept aus – ohne allerdings zu sehen, dass sein exemplarisches Tagebuch zu übersteigerter Informationssammlung führen kann, jener Schattenseite der Omnidatierung, der sich auch Staatsorgane bemächtigen können (wie Carl Schmitt 1918 bissig zeigen wird). Die Begriffe ‚Data‘ oder ‚Datis‘ verwendet Herder weniger in der auch heute gebräuchlichen statistischen Bedeutung eines auszuwertenden Materials („will ich in der Geschichte aller

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Zeiten Data sammeln“; ebd.: 30), sondern mehr im Sinne von praktischen, sinnfälligen Beispielen oder Fakta, die durch Erzählungen oder Bilder zu Lehrinhalten werden). Die derart gesammelten „Data nach Datis“ (ebd.: 108) werden an den Imperativ geknüpft, überhaupt aufgeschrieben zu werden, durchaus unsystematisch und aus der Fülle erst die Kategorien stiftend. Im Idealfall sollen alle Schreiber zum Gesamtwissen beitragen, wenn sie denn Innovatives hinzufügen können. Aufschlussreich ist indessen der Bruch, der Vorhaben und Realisation durchzieht. Denn der weite Kreis des Himmels schrumpft schließlich doch wieder auf Bibliotheksformat, d.h. auf die Bereitschaft, das riesige Lektürepensum zu erfüllen, das Herder für sein Schulmodell vorschwebt und das in langen Listen im „Journal“ entworfen ist. Der eröffnete Horizont ist nicht der gepriesene Weltraum, sondern eher ein Lese- und Denkraum, auch wenn Herder sich an vielen Stellen für den möglichen Lebensgenuss, die „reelle Wissenschaft“ und Anwendung (ebd.: 13) ausspricht. Tatsächlich schreibt Herder aber nichts über ‚leibhaftige‘ Erlebnisse und gibt er auch nicht die von ihm geforderten Data der Sinnesereignisse. Welt, Menschen, Frauen, Vergnügungen bleiben virtuell, keine Anschauungen werden ihm zuteil, Naturerfahrungen finden auf seiner Reise eigentlich nur dann Aufmerksamkeit, wenn sie zum Anlass von Reflexionen werden – oder Auslöser eines umfangreichen ‚namesdropping‘, mit dem der Autor seine Belesenheit demonstrieren will oder übermütig neue Forschungspläne ins Auge fasst. Dieser performative Selbstwiderspruch von unmittelbarer Erfahrung und Wissenssammlung, den er selbst forciert, bleibt Herder auf der Ebene des Textinhalts verborgen. Gerade dieser blinde Fleck aber hilft dem Ich, sich zu programmieren, und zwar mit Bildungsvorsätzen, aus denen um 1800 Curricula und Lehrpläne erwachsen werden: „Und das wäre erst der Ursprung! Nun die Züge! Die Origines Griechenlands, aus Egypten, oder Phönicien? Hetruriens, aus Egypten oder Phönicien, oder Griechenland? [...] Welch ein Werk über das menschliche Geschlecht! den Menschlichen Geist! die Kultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Polizei und Philosophie! Aegyptische Kunst und Philosophie und Polizei! Phönicische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches Alles! Römisches Alles!“ (Ebd.: 19).

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Solche Gegenstände und viele andere sollen schließlich eine „Universalgeschichte der Bildung der Welt!“ eröffnen (ebd.: 19), die Herder euphorisch fordert, um damit ein Programm der vielen Bildungsprogramme zu schreiben, auf die die Spätaufklärung sich stützen wird. Ein Gebot der Bildung ist dabei auch die Selbstentfernung, die zur Ausweitung der mannigfachen Gesichtspunkte führen soll – die eigene Bildungsreise wird universalisiert, der Autor wirft sich zum Exemplum der Menschheit auf. Am Ehrgeiz des Bildungsprogramms wird aber auch deutlich: Ohne Bibliothekswissen zählt auch das Ich nichts. In der Steigerungssemantik des proliferierenden Wissens, für das die Schifffahrt metaphorisch einsteht, ist eine deutliche Nähe zur aufklärerischen Pädagogik zu erkennen. Der ehrgeizige Plan eines Gesamttagebuchwerks soll nun den Schreiber zum Leser und wieder zum Schreiber machen, indem er die Schreib- und Lesetätigkeiten fortführt, um seine „technisch-ökonomische Rationalität“ zur kompetenten Nutzung von Vernetzungswegen des Wissens auszubauen (vgl. Wegmann/ Bickenbach 1997: 404 ff.).

K ARL P HILIPP M ORITZ : S ELBSTSCHRIFT FÜR DAS U NTERNEHMEN ‚M ENSCHENWISSENSCHAFTEN ‘ Moritz ist als Diarist zwar weniger bekannt, hat sich aber als solcher vielfältig betätigt. Seine Aufzeichnungen sind, auch unter dem Eindruck der Anthropologie (und diese rückverstärkend), zum Ausgangspunkt eines Riesenprojektes geworden, womit er den Weg von der pietistisch-zerquälten Aufzeichnung über die neugierige Selbsterkundung bis zur Sammlung von Innenschau-Notizen durchläuft. Diese nimmt er von sich selber, von Freunden, Schülern oder Fremden, etabliert sie im „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ als Aufschreibtechnik und fiktionalisiert sie parallel dazu im „Anton Reiser“ zum Bildungsroman. Das Unternehmen ist ebenfalls enzyklopädisch und um Sammlung möglichst vieler Ansichten bemüht – die anders als bei Herder aber in die Innenwelt gerichtet sind. Rohstoff dafür sind zunächst Selbstbeobachtungen: „Ich entschloß mich, ein eignes Journal hierüber zu halten, welches ich auch getan, und es bis jetzt fortgesetzt habe. Man sammlet tägliche Beobachtungen,

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dacht’ ich, über das Wetter, und den Menschen sollte man dessen nicht wert achten?“ (Moritz 1981; III: 97)

Auch Moritz bleibt nicht beim Individuum stehen, auch seine Selbstnotizen sind Heuristiken für die Universalbeobachtung. Dazu sind Techniken nötig, deren erste Voraussetzung das Gebot der Selbstdistanz ist: „Wer Beobachtungen über sich selber zum Besten andrer Menschen anstellen will, muß die Zeit über, da er es tut, von allen Leidenschaften frei sein, übrigens aber starke Leidenschaften haben, weil sonst die Geschichte seiner Gedanken und seiner Empfindungen nicht so nützlich sein wird. Er muß also die Kunst lernen, in manchen Augenblicken seines Lebens sich plötzlich aus dem Wirbel seiner Begierden herauszuziehen, um eine Zeitlang den kalten Beobachter zu spielen, ohne sich im mindesten für sich selber zu interessieren. Auf die Art könnte einer die Geschichte seiner Augenblicke, zum Nutzen der Menschheit, beschreiben.“ (Ebd.; III: 8)

Den Betrachtungsvorgang fasst Moritz immer wieder in die Theatermetapher, wenn er sich etwa vornimmt, sich selbst „so wie ein Schauspiel zu betrachten“ (ebd.; III: 16) und sich zum Gegenstand der „eignen Beobachtung“ zu machen, „als ob ich ein Fremder wäre, dessen Glücks- und Unglücksfälle ich mit kaltblütiger Aufmerksamkeit erzählen hörte“ (ebd.; III: 94). Damit nimmt Moritz auch eine Selbstumschulung vom heißen Sündenbekenntnis, das seine Reste in den gelegentlichen Formen erlebter Rede des „Anton Reiser“ hat, zum „kalte[n] Beobachter“ (ebd.; III: 9) vor, der sich selbst zum Gegenstand machen soll auch dann, wenn er sich sterben sehen würde – und auch dabei „kaltblütig denken“ will (ebd.; III: 14). Mit dem Modus der unparteiischen Selbstbetrachtung ist auch eine ästhetische und kontemplativ-spielerische Nuance angesprochen. Für Moritz, Experimentator seiner selbst, wird das Innere zum Schauspiel, an dem er als Beobachtender teilnimmt, möglichst aber, ohne gefühlshalber involviert zu sein. Das entspricht dem ästhetischen Urteil in Kants „Kritik der Urteilskraft“, welche sich ohne alles Interesse und ohne vorgefasste Begriffe betätigen, damit aber jenseits des Subjektiven ein allgemeines Prinzip vorstellig machen soll (zusammenfassend § 59 der KdU; Kant 1983: 462).

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Die Vorzüge dieses Wissenschaftsverständnisses lassen sich vor allem in ihrem innovativen Wert beschreiben: Außerhalb von Moral und Religion (oder anderen ‚Interessen‘) soll geforscht werden, auch sollen die Ergebnisse vorab keinem Zweck genügen. Bei diesem Vorgehen von Selbstreflexion, Spiegelung in Fremderzählungen und Verallgemeinerung ins Anthropologische wird es zum Leitprinzip, ohne wertende Vormeinung an das Unternehmen zu gehen und deduktive Vorschlüsse zu unterlassen, Gesichtspunkte der Moral und natürlich der Religion auszuschließen. Entsprechend ist es Aufgabe des Erfahrungsseelenkundlers, einzig und allein zu beobachten, „wie die Dinge wirklich sind, und Untersuchungen anzustellen, warum sie so sind: nicht aber, zu bestimmen, wie sie nach seiner Meinung seyn sollen“ (Moritz 1979, Bd. VII, 3. Stück: 6). Auch wenn das Erkenntnisprogramm in dieser Richtung nicht mehr klar problematisiert wird: Mit der Exzentrierung der Ich-Perspektive scheint Moritz auch das Problem ausschalten zu wollen, dass der Selbstuntersuchende seine je eigene Perspektive und also auch seine blinden Flecke mitbringt. Dies vor allem bezweckt wohl die nimmermüde Sammlung von (Fall-)Beispielen: Erst aus einer großen Zahl von Selbsterzählungen lässt sich im relativen Abgleich Erkenntnis gewinnen. Darin ist Moritz einer der konsequentesten Selbstdenker der Aufklärung, wenn er die Relativität des Ich-Standpunktes aufs Spiel setzt und die je eingenommenen Perspektiven in ihrem Möglichkeitshorizont sieht: „Indem wir aber unsre Ideen ordnen, so sollen wir den rechten Gesichtspunkt selbst erst finden – wir nehmen auf gut Glück einen an“, sodann wählt man einen anderen Gesichtspunkt, und kommt schließlich „durch mehrere mißlungene Versuche auf den rechten – so wie bei einer Art von Rechenexempeln, wo man auch erst durch eine Anzahl möglicher Fälle, die man setzt, das Verlangte herausbringt“ (Moritz 1981; III: 339). Die Sammlung der erzählten Fallbeispiele soll grundlegende Einsichten in die Menschenseele ermöglichen, und Exzentrizität ist dabei ebenso wichtig wie Quantität, um eine Optimierung des Erkenntnisstandes zu erzielen: Die ideale Optik des Beobachters wäre in diesem Sinne eine Art göttlicher Panoptik (vgl. ebd.: 306 f.). Das Vorgehen zeigt sich schon in der Diarik Moritz’ selbst: Aus dem Problem der relativen Gesichtspunkte erwächst die Forderung nach Vielfalt, was auch mit sich bringt, dass die Selbsterzählungen variiert, aus hinzugefügten Spuren neu zusammengesetzt, also erzählerisch komponiert

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werden. Das Verfahren macht Moritz auch transparent: „Man wird finden, daß mehrere Bruchstücke aus dem Tagebuche des Verfassers hier so zusammengesetzt sind, daß sie gewissermaßen ein Ganzes ausmachen“ (ebd.: 9). Authentizität wird also hier zugunsten des Allgemeininteresses zurückgestellt, wenn befunden wird, dass schließlich nicht jede Stunde aufzeichnenswürdig sei, sondern oft erst Tage und Stunden „zusammengenommen“ einen ganzheitlichen Zusammenhang ergeben (ebd.: 16). Man kann darin eine Verfälschung des Objektivitätsgebotes sehen, doch wird dessen Empirie auch nur auf Ebene der elementaren Beobachtungen reklamiert. Dass die vielen Einzelansichten, Gedanken und Einbildungstätigkeiten zu einer größeren Perspektive zusammengesetzt, also Modell-Ich und Komposit-Fälle gewonnen werden, hängt mit dem klassischen Kunstdispositiv zusammen, zu dem Moritz entscheidend beigetragen hat: Die Einheit in der Mannigfaltigkeit zu suchen und in der größeren, kunstmäßigen Darstellung das Exempel zu gewinnen, das ‚den‘ Menschen zeigt. Damit benennt Moritz auch schon einen (selbst-)therapeutischen Weg. Aus der Autopsie und der Sammlung der Einzelansichten soll ein Eindruck des Ganzen gewonnen werden, woraus Rückschlüsse auf das Einzelne gezogen werden. Der hermeneutische Grundgedanke wird grundsätzlich an dem Vorsatz erkennbar, „das Ganze mit Rücksicht auf das Einzelne und das Einzelne mit Rücksicht auf das Ganze [zu] betrachten“ (ebd.: 273). Darüber gewinnt das Unternehmen auch eine zeitliche Dimension, wenn im Kleinen auch „das Gegenwärtige, Vergangene, und Zukünftige mit einem Blick umfaßt“ werden soll (ebd.: 306). In dieser Steigerungssemantik soll sich die Bewegung der einzelnen Erkenntnispunkte zu einer höheren Rationalität bzw. einem „göttlichen Verstande“ schließlich „wie ein Zirkel darstellen“, der im „vollkommensten Verstande“ beschlossen ist (ebd.: 306). So spekulativ diese kühnen Entwürfe auch sind, die auf den Schwingen des Zeitgeistes in Richtung eines (freilich säkular gedachten) höheren Prinzips fliegen, werden doch auch Umrisse einer Ethik für den Einzelnen erkennbar, die mitunter ratgeberhafte Züge trägt. So will Moritz nicht nur in jeder „Beßrungsgeschichte von Jünglingen, und Erwachsenen in jedem Alter“ Aufschlüsse gewinnen (ebd.: 89), sondern auch Beispiele aus autobiographischen Schriften dafür sammeln, „wie es jemandem gelungen ist, irgend einen besonderen Fehler, als Zorn, Hochmut oder Eitelkeit abzulegen“ (ebd.: 89). Gültig bleibt der Imperativ zur Selbstbeobachtung: „Hüte dich, daß du dich

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selber nicht aus den Augen verlierst!“ (Ebd.: 55) In den glücklichsten Momenten wird dann das gelingende Selbstgefühl erkennbar – was wiederum aufgeschrieben wird: „Ich habe doch heute einmal die ganze Wonne des Daseins empfunden – als ich alles, was ich um mich her erblickte, in mich hineindachte, und es gleichsam mit mir selber verwebte“ (ebd.: 69). Gerade diese „süßesten Augenblicke“ sind der Ort für eine „große, seltne Empfindung“ (ebd.: 76). Daraus erwächst die kairologische Maxime, keinesfalls Zeit ungenutzt verstreichen zu lassen, und wie bei so vielen Autobiographen des 18. Jahrhunderts verbindet sich der augustinische Imperativ der Selbstbesinnung mit dem bürgerlichen Produktivitätsideal: „sei alsdann ja keinen Augenblick untätig“, „nutze ja den günstigen Zeitpunkt“ (ebd.: 29) – so lauten die lebenspraktischen Anweisungen, die Moritz wieder und wieder formuliert (ebd.: 12), um die verstärkte Selbstaufmerksamkeit im praktischen Leben fruchtbar zu machen. Auch wenn für ihn selbst diese Momente seltene Ausnahmen bleiben, werden daraus doch Exempel des „wohlangewandten“ Tages (ebd.: 63), des spielerischen Vergnügens und des schönen Augenblicks geformt, für den der Bezug auf das Ganze kennzeichnend bleibt: „Ich habe doch heute einmal die Wonne des Daseins empfunden – als ich alles, was ich um mich erblickte, in mich hineindachte, und es gleichsam mit mir verwebte.“ (Ebd.: 69) Der Kairos, der zur Tätigkeit genutzt werden soll, gibt nicht nur die gesteigerte Produktivität der Geschäfte und Unternehmungen, sondern auch die Möglichkeit, neue Keimzellen für die Selbstschrift zu finden. Aus dieser ließen sich sukzessive auch Pläne für die eigene Zukunft gewinnen, Entwürfe also für den eigenen Lebenshorizont zu gestalten (ebd.: 17), was Jean Paul 1799 mit dem Modell einer Konjekturalbiographie aufgreifen wird, wenn er in der Schrift seine Zukunft imaginativ vorwegnimmt (vgl. Köhnen 2001). Das Individuum wäre damit jene selbstzweckliche Gestalt, im Stande eines „vollkommen sich selbst gleich seins“, wie es im „Anton Reiser“ heißt (Moritz 1981; I: 227). Und zweifellos macht sich in der Experimentalseelenlehre auch ein ästhetischer Aspekt bemerkbar mit der Absicht, „den Kreis des menschlichen Denkens überhaupt zu veredeln, und zu verschönern, und allen übrigen Dingen im Leben mehr Interesse, und Würde zu geben“ (Moritz 1981; III: 166), um darin seinen schließlichen Selbstzweck zu sehen (ebd.: 293). Damit lässt Moritz‘ Programm der Selbstschrift des späten 18. Jahrhunderts eine „ästhetische Anthropodizee“ (Schrimpf 1980: 58) erkennen, eine radikale Be-

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gründung des Menschen selbst, bei der allerdings offen bleibt, ob die (Lebens-)Ästhetik Selbstzweck oder doch Mittel zu einem noch übergeordneten Zweck ist. Genau zwischen dieser Mittel- und Zweckbestimmung schwankt auch die Experimentalseelenlehre: Einerseits wird mit dem anatomischen, sezierenden Blick der Lebensschrift an der Emanzipation, mehr noch: am Glück des Einzelnen gearbeitet. Andererseits bleibt das Unternehmen den übergreifenden anthropologischen, menschenwissenschaftlichen Interessen verpflichtet (vgl. Nübel 1994: 177). Als großes Projekt bleibt, aus den „Fakta“ der Innenschau ein Archiv des menschlichen Unbewussten zu schaffen, um mit den Geschichten aller Augenblicke „zum Nutzen der Menschheit“ einen „allgemeinen Grundriß“ zu zeichnen (Moritz 1981; III: 8) – womit die anthropologische Dimension gehalten wäre. Doch bleibt die Steigerung des Einzelnen auf das große Ganze – eine gängige Denkfigur der Goethezeit – ebenso wie die Machtanalytik gerade psychologischer Erkenntnisformen noch ein blinder Fleck; die Arbeitsweise der „Geständnis-Wissenschaft“, die Foucault (Foucault 1983: 82 f.) in der Union von Medizin, Psychiatrie und Pädagogik um 1800 am Werk sieht, könnte die guten Absichten aufzehren. Wenn mit Basedows Pädagogik und Saltzmanns Experimentalschule die Jugend diszipliniert werden soll, Erzieher, Beamte, Ärzte und Eltern hier eine Allianz bilden und Mediziner ‚den‘ Menschen immer mehr in Statistiken einschreiben, Register bilden und Abweichungen registrieren und verwalten (vgl. ebd.: 43ff.), können damit nicht nur Eltern und Erzieher, sondern auch staatliche Behörden in Alarm versetzt werden. Moritz‘ Experimentalseelenkunde ist damit ethisch und ‚im Geiste‘ durchaus nicht kompatibel, kann aber dem Buchstaben nach bzw. vermittels der Aufschreibtechniken eben auch hierfür gebraucht werden. Zwischen den emanzipatorischen Ansprüchen und ästhetischen Reizen des Selbstschreibers einerseits und andererseits Gefahren dieser ausgeweiteten Selbstschrift breiten sich die Möglichkeiten des Diariums in der Moderne aus.

A UFZEICHNUNGSTERROR /1900: C ARL S CHMITTS „B URIBUNKEN “ Im Zeitalter einer rapiden Aufrüstung von Speicher-, Produktions- und Sendemedien kann das Subjekt – zumal, wenn es medienbewusst

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schreibt – die Techniken des 18. Jahrhunderts radikalisieren. Unter dem Eindruck der Schreibmaschine, des Grammofons und Holleriths Lochkarte, die das digitale Speicherprinzip für statistische Erhebungen nutzbar machte, ändern sich die Strategien der Selbstschrift noch einmal. Diese Bedingungen, aber auch expandierende staatliche Verwaltungsorgane haben Carl Schmitt zu einem ironischen Pamphlet veranlasst, das den Staatsbürger als Schriftproduzenten zeigt. Lebenswichtig für den Buribunkenstaat ist: „Jeder Buribunke und jede Buribunkin ist verpflichtet, für jede Sekunde ihres Daseins Tagebuch zu führen. Die Tagebücher werden mit einer Kopie täglich abgeliefert und kommunalverbandweise vereinigt. Die gleichzeitig vorgenommene Sichtung erfolgt sowohl nach Art eines Sachregisters wie nach dem Personalprinzip.“ (Schmitt 1918: 345)

Der konsequente Selbstschreiber wird angehalten, simultan zu seinen Lebensvollzügen diese auch aufzuzeichnen. Der Buribunke ist gleichsam Kopfflaneur, denn nichts Erlebtes schreibt er auf, sondern das Erlebte hat seine Existenz nur in der Schrift und ihrer Publikation. Mit der endlosen Druckspur des Ich weiß der Schreibende sich „in jedem Augenblick seines bewegten Lebens“ im Zentrum der Gesellschaft, nämlich „Auge in Auge mit der Geschichtsschreibung oder der Presse, mitten in den nervenpeitschenden Ereignissen kurbelt er mit kühler Gelassenheit die wechselnden Filmbilder in sein Tagebuch, um sie der Geschichte einzuverleiben“ (ebd.: 341 f.). Das ist praktizierter Panoptismus, den der Schreibende eilfertig umsetzt (Foucault 1995: 251 ff.) – das wachhabende Auge wird durch das Aufschreiben derart internalisiert, dass der Buribunke auch ohne tatsächliche Kontrolle diese Instanz in sich spürt und zum noch effektiveren, besseren, staatstragend handelnden Subjekt wird. Die einstmalige Herzensschrift des Selbstbetrachters zieht sich nunmehr in die Anonymität zurück. Das moderne Subjekt – wenn es bei den Buribunken überhaupt noch eine Chance hat – imprägniert sich gegen polizeiliche Verfolgung sowie verwaltenden Zugriff und tritt die Flucht in die Anonymität an; das Ich verschwindet in Statistiken, Stilen und Sprachmaschinen und verbirgt sich hinter ihnen (vgl. Schneider 1986). Das bekennende Ich verwandelt sich zum Schreibautomaten, der seine Innerlichkeit neutralisiert. Damit lässt sich der/die Schreibende nicht nur täglich zu den Akten legen, sondern auch nach Sachgebieten rubrizieren. Intention ist die

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Zusammenfassung der „Eintragungen erotischer, dämonischer, politischer und so weiter Natur“, Ziel ist aber auch, dass die Verfasser „distriktweise katalogisiert“ werden, um dann per Zettelkatalog „die jeweils interessierenden Verhältnisse der einzelnen Personen zu ermitteln“ (Schmitt 1918: 345) So mögen den Psychopathologen die Träume der Pubertierenden interessieren, die Historiker wiederum interessieren sich für den Psychopathologen, für diesen wiederum interessieren sich in aufsteigender Beobachtungsordnung die Politiker bis zum Chef des Buribunkendepartements. Im Besitz der Daten ist der Buribunkenstaat stark genug, Meinungsäußerung zu fördern oder gar grundlegende Kritik zu tolerieren – noch die Schreibverweigerung soll aufgeschrieben werden, solange eben nur geschrieben wird. Wer aber in dieser totalen Schreibgesellschaft das Schreiben unterlässt, wird zu rein mechanischen Tätigkeiten gezwungen – eine Auslese, die verdoppelt wird durch den „geistigen Kampf der Tagebücher“ (ebd.: 347), die auch zur Evolutionsbeschleunigung eingesetzt werden, wenn die Höherentwicklung sogar dem Buribunkenfötus ermöglichen soll, Tagebuch zu führen (ebd.: 348). Fast prophetisch für heutige Publikationspraktiken und Einschaltquotenkämpfe klingen die Sätze über den Mitschreibverweigerer, der schließlich seiner Präsenz beraubt wird und in der „Selektion der Bessern“ (ebd.: 347), das heißt der Schreibenden, untergeht: „Da er nicht mehr schreibt, kann er sich gegen etwaige Unrichtigkeiten, die seine Person betreffen, nicht mehr wehren, er bleibt nicht mehr auf dem Laufenden, er verschwindet schließlich von der Bildfläche der Monatsberichte und ist nicht mehr vorhanden.“ (Ebd.: 348)

Denken, Reden, Schreiben und Publizieren in fortlaufender Kette werden zum Imperativ, der zugleich eine vollendete Disziplinarmacht der Schriftexekutive darstellt – dies erst soll es dem Ich ermöglichen, über sich selbst und damit nicht nur sich selbst zu schreiben. Darin liege seine Chance einer allseitigen Teilhabe, einer Entindividuation und der Entgrenzung in die geschichtliche Weite: „Ich bin also ein Buchstabe auf der Schreibmaschine der Geschichte. Ich bin ein Buchstabe, der sich selbst schreibt. Ich schreibe aber strenggenommen nicht, daß ich mich selbst schreibe, sondern nur den Buchstaben, der ich bin. Aber in mir erfaßt, schreibend, der Weltgeist sich selbst […] In jeder Sekunde

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der Weltgeschichte schnellen unter den schnellen Fingern des Welt-Ichs die Buchstaben von der Tastatur der Schreibmaschine auf das weiße Papier und setzen die historische Erzählung fort.“ (Ebd.: 349)

In bissiger Manier werden die aufklärerischen Arbeiten des Selbstschreibers am Wissensarchiv der Welt kommentiert und in ihren Folgen ad absurdum geführt – einschließlich des Hegelschen Weltgeistes, der dem Weltschreibmaschinenverein vorsitzt. Mit allem Willen zur Macht vitalistisch aufgeladen, erzwingt er in der Schrift die Zusammenkunft der Zeitstufen: Jede aufgeschriebene Sekunde verschlingt die Zukunft und konsumiert die Vergangenheit, der durch das millionenfache individuelle Aufschreiben überhaupt erst Sinn zugebilligt wird. Desillusioniert wird damit allerdings das aufklärerische Bestreben nach individueller Autonomie: „Wir durchschauen die Illusion der Einzigkeit. Wir sind die von der Hand des schreibenden Weltgeistes geschnellten Buchstaben und geben uns mit dieser schreibenden Macht mit Bewußtsein hin. Darin erblicken wir die wahre Freiheit.“ (Ebd.: 351)

Einzig der Schluss des Pamphlets lässt ein selbstpoetisches Schlupfloch offen, wenn dort dem Schreibenden die Perspektive gestattet wird, durch die Zeitmitschrift die Rolle des patiens zu überschreiten zum actor: „ohne aufzuhören geschrieben zu werden – setzen wir uns dennoch gleichzeitig als Schreibende. So überlisten wir die List der Weltgeschichte. Indem wir sie schrieben, während sie uns schreibt.“ (Ebd.: 351) Genau in dieser Illusion aber liegt die Wirkung der Buribunkologie: im Totalitarismus, der alle Kräfte des Individuums aufbraucht und zum puren Interessenobjekt ihrer Forschungsabsichten degradiert, und in der Technik, die sie dazu einsetzt. Diese ist nicht an sich übel, vielmehr sei es, wie Schmitt in seinem „Begriff des Politischen“ später ausführt, die zugrunde liegende „Überzeugung einer aktivistischen Metaphysik, der Glaube an eine grenzenlose Macht und Herrschaft des Menschen über die Natur, sogar über die menschliche Physis“, die die Entpersonalisierung „satanisch“ vorantreibe (Schmitt 1932: 92). So grotesk die Schreibphantasien klingen mögen: Sie entfalten nicht nur in der technischen Realität der Realaufzeichnungsmedien (Grammofon, Serienfotografie und Film) oder der Schriftproduktion

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(Schreibmaschine, Rotationsdruck) einen mächtigen Wirkungszusammenhang, sondern auch in den diskursiven Umgebungen der experimentellen Psychologie. Denn zweifellos steht deren Aufzeichnungswut ebenfalls Pate für die Schreibphantasien der Buribunken. Die Pariser Salpêtrière ist der mächtige Beobachtungsapparat, der „alles erspäht, organisiert, provoziert, notiert“ und so als „Anreizungs-Maschinerie“ wirkt (Foucault 1983: 72) – und auch dieser Hospitalname ist nur noch stellvertretend für ganze Forschungsbranchen. So wie die ProbandInnen durch Elektrostimulation oder Reflexaufzeichnung (auch von Sprachorganen, Händen und Gehwerkzeugen) in den Apparaten vernetzt werden, wird das Speichern ihrer Äußerungen zum Selbstzweck, wo nicht zum verwendbaren Wissen. Die anthropometrischen Vermessungen, die Bertillon in den 1880er Jahren vorgenommen hat, sind ebenfalls analytisch orientiert: Körperteile werden vermessen oder Gesichtspartien fotografisch serialisiert, sodann werden Merkmalskombinationen in einer Buchstabenformel zusammengefasst, woraus gewaltige Archive entstehen (vgl. Asendorf 1989: 29 ff.). Der Film führt als polizistische Spurensicherung diese Strategie der Aufzeichnung weiter. Unter diesen Bedingungen wird der Mensch selbst zum Medium: Reflexe werden kontrolliert und rhythmisiert, um damit die Leistungsfähigkeit zu optimieren. Ähnlich funktioniert der Buribunkenstaat als totale Koordination des Wissens und Erlebens seiner Mitglieder oder Insassen – und erfüllt darin die zynische Seite aller Steigerungslogiken der Neuzeit. Darin liegt der Hauptangriffspunkt des kultur-, zeit- und modernitätskritischen Impetus Schmitts und dessen Diagnose der Individualitätszersetzung eines gesellschaftlichen Motors, der den Einzelnen vernichte, ohne dass dieser seine Aufhebung fühle. Den Auseinanderfall von Augenschein und manipulativen Vorgängen, die Vertuschung von Maskenspielen der Macht und deren selbstreferentielle Arbeit hat Schmitt in seiner juristischen Staatslehre weiter untersucht und dabei vor allem die vorgebliche Scheindemokratie des bürgerlichen Rechtsstaats kritisiert. Der Schritt zu seiner fatalen politischen Theologie wird dadurch etwas besser nachvollziehbar – ein kirchlichautoritär geprägter Staat ist es nach Schmitts Vorstellungen, der Erscheinung und Sein zur Deckung bringen könne und mit Entscheidungsgewalt befugt werden solle (Schmitt 1932). Diese sonderbare Volte von der Machtkritik zur Bejahung eines totalen Staates ist das

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ziemlich offenkundige Ergebnis einer Ratlosigkeit und eines Ohnmachtsgefühls, das Schmitt anders nicht aufzulösen sah. Technisch hat die Produktion der Selbstschrift längst Wege gefunden, die die simultane Selbstschrift ermöglichen könnten. 1945 hat der amerikanische Ingenieur und Militärtechniker Vannevar Bush in seinem Essay „As we may think“ einen Memory Extender (MEMEX) bzw. eine Wissens- bzw. Datensammelmaschine entworfen, die zwar noch nicht digital, sondern mit Mikrofilm und Analog-Rechenmaschinen operieren und eine riesige Menge von Daten bewältigen sollte, die als eine Art Enzyklopädie untereinander vernetzbar sein und von einem breiten Publikum genutzt werden sollten. MEMEX sollte helfen, die Datenmengen für individuelle Zwecke zugänglich und verarbeitbar zu machen, und gedacht ist dabei nicht nur an Maschinenschrift, sondern auch Handschrift oder Bilder. Auch wenn Bush die technische Umsetzung noch eher mutmaßend imaginiert: Der prinzipielle Schritt von der nur militärischen zur privaten Datenverarbeitung im Namen der Gedächtnisoptimierung ermöglicht die elektronische Geschichte des Selbstmanagements, die in die Schreibpraktiken und Gedächtniskonzepte der Gegenwart hineinwirkt. Im Extrem münden diese Konzepte ins Lifelogging, die technisch erst in Ansätzen realisierte Möglichkeit, eine komplette Aufzeichnung aller Körperdaten, Gefühlszustände und Wahrnehmungen durchzuführen (Bell/Gemmell 2009). Auch wenn dieses aber technisch möglich wird, unter naiver Suspension der Frage, wie die lebensnotwendige Funktion der Verdrängung noch wirken könnte, bliebe im Falle eines solchen Komplettgedächtnisses die Frage nach der Organisation des individuellen Datenstroms, also seiner Relevantsetzung – hermeneutisch gesagt: seiner Sinngebung.

B LOGOSPHÄRE /2000. R AINALD G OETZ ’ S ELBSTSCHRIFT ALS D ATEI Rainald Goetz veröffentlichte 1998/99 seine Tagesnotizen im Internet unter dem Titel „Abfall für alle“. Das ist sowohl eine Anspielung auf Lichtenbergs ganz unsystematische „Sudelbücher“ und seine Empfehlung, die „Schmierbuch-Methode“ zu verfolgen, als auch ein Hinweis auf das Credo der Pop Art, das Andy Warhol mit dem Kampfruf ‚Everything is pretty‘ pointierte und in der Praxis des Tape-Recordings

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und Filmens umsetzte. Für Goetz ist nun alles Alltägliche aufschreibenswert, insofern er durch den Alltag raved und surft und scratched, aber auch als ausgebildeter Mediziner mit dem Archivieren in Speichersystemen (Irre) vertraut ist. Dabei werden sprachliche Fertigteile durchgespielt, wobei sich der organisierende Autor teilweise selbst außer Kraft setzt und Sprache sprechen lässt; sie werden durchformalisiert und mit Ziffern versehen bzw. in Listentechnik typografisch organisiert (entsprechend der DJCulture, für die Ulf Poschardt das Programm geschrieben hat). Das schreibende Selbst setzt sich diesen Sprachteilen gegenüber, konfrontiert sie mit Datums- und Uhrzeitangaben und versucht, sich in ein neues Verhältnis zu ihnen zu bringen. Darin liegt denn auch der ästhetische Gewinn des Verfremdungseffektes, der Fremdsein einerseits dokumentiert, andererseits kultiviert – dies lässt sich an den beiden Internettagebüchern „Abfall für alle“ (Goetz 1998/99) und „Klage“ (Goetz 2007/08) an den Schreibstrategien sowie permanenten Medienreflexionen bestens zeigen. Mit seinem Online-Tagebuch „Abfall für alle“, das er über das Jahr 1998 im Netz und 1999 als Buch veröffentlicht hat, begibt sich Goetz auf die Gratwanderung zwischen Buchsozialisation und Aufgeschlossenheit gegenüber dem neuesten Medium. Das zeigt sich zunächst an etlichen Reflexionen über die Schreib- und Veröffentlichungsgeschwindigkeiten sowie das Lesetempo und damit über das neue Schreibinstrument als „dauernd laufende Entwurfs-Auswurfsmaschine“ (Goetz 1999: 103). Dies entspricht der ebenfalls provisorischen, fragmentarischen Tagebuchform als Erzählbedingung. Zwar ist das Tagerzählen nicht interaktiv verfasst, neu ist es aber im Bewusstsein einer anderen Öffentlichkeit und eines Bildschirms als Schreibpartner. Dieser kann zum „Erinnerungsfenster“ (ebd.: 151) werden oder zum „Textlichtding“ (ebd.: 373), auf dem die Ankunft der Buchstaben frenetisch gefeiert wird. Den glühenden Bildschirm beschreibt Goetz – ähnlich wie Vilém Flusser die Bildschirmmagie darstellt (Flusser 1992: 69 ff.) – als eine Art Lagerfeuer, ein bannendes, Kommunikation und Produktion forderndes Element. Das blaue Windows-Fenster geht auf wie eine Morgensonne, „Leute, das sind Glücksmomente, Wahnsinn“ (Goetz 1999: 250), ruft der Autor den Lesern zu. Windows ist für Goetz das „Fenster zur Welt“ (ebd.: 232), das den Blick auf ein rechteckiges Feld lenkt, um ihn dann zu zerstreuen. Daraus ergibt sich ein Schreibrezept:

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Immer geht es darum, den naturellmäßig zu verhakten, verbohrten, auch zu konzentrierten Blick zu DEZENTRIEREN, zu öffnen, den in ihm angelegten Krampf zu lösen, Panik und Druck rauszunehmen, alle äußeren Pflichten, Zusagen und Pläne abzusagen, um dann endlich, von allem befreit, im Freien die Zeit ihre Arbeit in einem tun lassen zu können (ebd.: 353 f.). Die Verfremdungsstrategien der klassischen Moderne zeigen ihre Nachwirkungen. Dazu passt die Vorstellung eines unabschließbaren Schreibens als acte gratuit, bei dem man am Bildschirm stolz auf das Geschaffte starrt, das wiederum die Fortsetzung der erzählerischen Formpraxis fordert (ebd.: 251), eine Schrift, die sogar eine „Lebensformmöglichkeit“ darstellt (ebd.: 277). So ist es „das Fluidum der computerisierten Textgestalt“, welches das Internettagebuch zum Sprechen bringt (ebd.: 315). Zunächst ist dies auf die Buchstaben bezogen, die etwas Körperhaftes bekommen und mit deren typografischer Gestaltung immer wieder gespielt wird, in einem schlafwandlerischen Zustand: „Im Konzentratschlaf eben sah ich wieder Bildschirmtext, tilgte Buchstaben vom Wortende her, neuer Sinn entstand“ (ebd.: 318). Dasselbe gilt für den bewussten Einsatz von Leerzeilen oder unbeschriebener, reiner Bildschirmfläche, auf der die Wörter wie Lichtpunkte tanzen (ebd.: 497), um dann auf der Retina als Nachbild zu leuchten. Erzählerisches Ziel ist es, das gewohnte Wahrnehmungskontinuum aufzulösen, wofür wiederum der Autor als Voraussetzung sieht, sich selbst zu „dezentrieren“ (ebd.: 18). Die Strategie der Verzifferung, mit der Goetz seinen Notaten mit Uhrzeit, Woche und Monat im minutiösen Protokoll ein Gerüst verleiht, unterstützt diese Objektivierung. Andererseits zeigt sich eine Authentizitätsmaske in der Erzählform, die an etlichen Stellen aufgelöst wird zum Staccato – als Imitation der gesprochenen Sprache, fast als écriture automatique, jedoch im umfassend maschinellen Sinn. Vielfach erscheinen nur noch Wortlisten, die weite Assoziationshorizonte eröffnen: Daten, Namen, Stimmen, Inschriften, verbale ready-mades im Auf- und Abschreiben von Begriffen. In Text 7.5 vom 20.03.98 heißt es etwa: „Die Institutionen. Der Geisteszustand. Stimulantien. Welche Realität.

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Welche Medien. Welches Leben. Externe Position. Beweglichkeit. Vision vom Ganzen. Verlorenheit ans Detail. Permanente Oszillation. Alle Orte. Welches Menschenbild. Welche Erfahrungen. Du mußt dein Leben ändern. Hartnäckigkeit. Enttäuschungsresistenz. Die Individualkonstitution. Let the motherfucker ROCK. PRAXIS.“ (Ebd.: 131 f.)

Eine Kaskade von Stichworten wird hier aufgeboten, die aber zu keiner These mehr verbunden sind. Die Satzhierarchie wird aufgelöst und bietet im cut-up-ähnlichen Verfahren beliebig viele Schnittstellen. Das Rilke-Zitat aus dem „Panther“-Gedicht erscheint gleichrangig neben Pop-Jargon und systemtheoretischer sowie existenzphilosophischer Begrifflichkeit – gegeben werden vielmehr Anstößigkeiten und Anlässlichkeiten, deren fast meditativer Rhythmus durch die schnelle Zeilenschaltung der Return-Taste getaktet ist – Alltagsversatzstücke werden gegen die Höhenkammkunst aufgeboten, um deren Bastionen im culture jamming zu schleifen. Vollständige Sätze sind nicht mehr die Essenz der Erzählung, sondern einzelne Wörter, die als optisches Erlebnis funktionieren und die Bildschirmfläche um sich herum aktivieren, eindrücklicher noch als das Papierweiß des später gedruckten Tagebuches. Durch dieses Vorführen bzw. Inszenieren der Einzelwörter ergibt sich ein Effekt des foregrounding (Jakobson 1993: 150), wenn das Wortmaterial selbst die Initiative des Sehens übernimmt. An anderer Stelle profiliert sich Goetz dann wieder als glanzvoller Essayist, womit eine weitere von vielen möglichen Erzählformen angegeben ist. Goetz konstatiert selber die „häppchenartige Form“ und das Ideal einer Sprache, die „alltäglich, zugänglich, lebensnah“ ist, wie der Klappentext der Buchfassung behauptet. Der schnelle Blickwechsel am Bildschirm beeinflusst die raschen Themenwechsel der Notate,

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begünstigt noch durch die Tagebuchform. Einsetzen und Abbrechen, Auslassen und Insistieren andererseits sind die Prärogative des Erzählens, die Goetz reklamiert (Goetz 1999: 187). Im Sprung von Beobachtungen zu Plänen und Versuchen wird die Textmaschine, die präzise Mechanik der Wörter in Gang gehalten. Goetz bleibt allerdings nicht beim Lettrismus; das angestrebte Projekt ist die Erweiterung der Selbstschrift in ein Gesamtkunstwerk, das unter dem Leitmotiv des Lichts entsteht – eine Anspielung auf Karlheinz Stockhausens epochalen Tonzyklus „Licht“, der nach 25 Jahren Arbeit 2002 beendet wurde. Ein Weg dahin verläuft über die graphischen Möglichkeiten der digitalen Animation. Die Buchstaben, Ziffern und Erzählfragmente von „Abfall für alle“ erscheinen damit als visuelle Reizflächen, die selbst zu handelnden Agenten werden und die Semantik auf ihre Seite ziehen. Es entspricht dem dokumentarischen Vorgehen Goetz’, der zum Beispiel in seinem Medientagebuch „1989“ eine Zitatencollage aus Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehtexten bzw. -bildern versammelt hat, dass dieses Sehen Kameraeigenschaften hat und auf das Sammeln möglichst großer Quantitäten zielt. Ähnlich wie in Virilios Beschreibung der Visionik hat dieses Sehen aber auch eine automatenhafte Seite, die dem Videokameraeinsatz entspricht, der auch ohne menschliche Steuerung in der Industrie oder im Kriegseinsatz möglich ist (Virilio 1992: 33). Im diarischen Diskurs bietet Goetz eine mögliche Schreibweise von Authentizität, aber als inszenierte Form: Das einzelne Wort, die Assoziation im elliptischen Satz, die Notate in Listenform mit Zeitziffernangabe – sie lassen die Signifikantenqualität von Sprache aufscheinen im theatralen Modus des Vorführens. Damit wird auch das von Andy Warhol zitierte Projekt erweitert, dessen Reproduktionsund Serialisierungsprinzip noch auf nichtdigitale Bildträger angewiesen war: „I was taping and Polaroiding everything in sight, but I didn’t know what to make of it all“ (Goetz 1993: 166). Öffentliche Bezugnahme, Interaktivität einerseits und andererseits die Intimisierung des Blicks, der selbstgenügsam ins magische Blau starrt, gehen in der Bildschirmpoetik von Goetz zusammen. Eine entsprechende Wahrnehmung beschreibt Goetz auch in seinem neuen Netztagebuch „Klage“, das von Februar 2007 bis Juni 2008 über das Portal der Zeitschrift „Vanity Fair“ veröffentlicht und wiederum in Buchform publiziert wurde. Über Videoblogging heißt es da:

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„Die Leute stellen sich in einer Direktheit und Nacktheit vor einen hin, dass man erschrickt und staunt, man befindet sich ja nur etwa 20 Zentimeter weit weg von ihnen. Dagegen war Fernsehen, die alte Nacktmaschine, ein Medium höflichster Diskretion. Das Internet hat in seiner Vertracktheit beides radikalisiert: die Bilder und die Schrift. Die Schrift will denken, die Bilder erzwingen physische Präsenz.“ (Goetz 2008: 147)

Wiederum wird deutlich, wie sich Goetz über die Bildschirmoptik auf die Materialität des Schreibens einlässt. Ähnlich wie in „Abfall für alle“ lässt er seine Stichwortlisten (oder eine „Poetik der Liste“, ebd.: 279) mit Fundstücken des Alltags aufleuchten und nobilitiert so das (scheinbar) Belanglose, das als vorgeführtes Fertigteil aber auch im VEffekt wahrnehmbar wird – wie etwa eine Telefonansagestimme (ebd.: 123) oder eine Flughafenanzeigetafel, deren flüchtige Lettern zum „Weltgedicht“ avancieren und abgeschrieben werden (ebd.: 234). Mit Wortzusammensetzungen wird gebastelt im phonetischen und lettristischen Experiment (ebd.: 103, 369, 426 f.) und Schnipsel werden in Inventurform kompiliert (ebd.: 152). Bildschirmbeobachtung und Schrift als Material sind aber ebenso Teil einer Ich-Konstitution. Im theatralen Modus formuliert Goetz sein Konzept des Netzschreibens, das er in einem prekären Dreieck von Adjektiven lokalisiert: „bewusstlos“, „ichstark“ und zugleich „quasi autorschaftsfrei“ soll der Text sein „wie das im Geschehen sich verlierende Auftreten“ des dargestellten Menschen (ebd.: 105). Gegen das eitle Aufplustern und alle Selbsthysterie solle die Ichfigur auf Distanz bleiben und die Selbstblindheit gegenüber dem Schreiben beibehalten, denn „Resonanzen stören diese Selbstunsichtbarkeit, das selig Automatische, das das Schreiben anfangs haben kann“ und das nur so auf Entdeckungsreise geht (ebd.: 105). Die Erwartung an den „authentoiden Autor“ (ebd.: 176) ist es dann, den „Text ins Fliegen zu bringen“, was im „LOSLABERN“ passiert, welches die „schönste und höchste Form von Literatur“ sei (ebd.). Dieser Text übertrifft seinen Schreiber, der von dem Wissen und den „dauernd gegen ihn laufenden Beobachtungen durch den eigenen Text bedroht“ ist (ebd.: 344). Das Prinzip der gesellschaftlichen Partizipation, der Alltagsmitschrift und ihrer medienbewussten, experimentellen Überformung gilt also auch hier und scheint sich als eine Schreibweise zu etablieren. Als figurierte Klage auftretend und sich inszenierend hat Goetz die Notate, Essays, Gedichte und Spontanstenografien zu einem polemischen

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Konvolut anwachsen lassen, das bereits im Internet KritikerInnen auf den Plan gerufen hat. Zwischen Ich und Text entspannt sich ein Möglichkeitsraum, der auch hier durch Selbstreflexion medial erweitert ist. Wenn nun der Ich-Alltag durch Schrift konstruiert wird, so äußert Goetz in der mitlaufenden Beobachtung weniger ideologisch motivierte, sondern ganz schreib- und erfahrungspraktisch begründete Kritik: Im „Diktat der Maschinen, der Diktatur der Medien“ (ebd.: 324) mutieren halbwegs gescheite Menschen zu Puppen, was in vielfachen Szenarien besonders an PolitikerInnen und Showstars gezeigt wird. Auch das eigene Veröffentlichungsmedium mit seinen Räumen wird skeptisch gesehen: „riesige Supercomputer / errechnen eine Vielzahl von Entwürfen / und simulieren Sichtbarkeit / DER NEUZEITLICHE MENSCH / steht in der Irre“ (ebd.: 12), so heißt es in Gedichtzeilen und mit existentieller Klagestimme, wogegen allerdings stets die Lust am Experiment aktiviert wird. Bei vollem Bewusstsein riskiert dieser Selbstschreiber das Aufgehen in der vom Medium vorgegebenen Form, in der Selbstverzifferung, in den Daten und Satzfetzen, die den Aufschreiberhythmus takten – und probt sein Enhancement durch Anverwandlung, durch schlaue Mimikry an die umliegenden Diskurse. Die Crux bleibt bei allen Selbstreflexionen, die das Medium zum Thema machen, dass auch hier Teilhabe gefordert ist – wer nicht im Netz präsent ist und gezählt werden kann, der zählt nichts (vgl. Gold/ Holm/Bös/Nowak 2008), und das Wort von der ‚Anschlussfähigkeit‘ kann dann seinen finsteren Sinn offenbaren, wenn es nur noch um Publizität geht und um nichts sonst.

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Im Namen der Kommunikation geht es heutigen TagebuchschreiberInnen kaum mehr um kontemplative Selbstbesinnung, um Bilanz oder Planung, sondern vor allem um die knappe Ressource Aufmerksamkeit, die sie in der weltweiten Öffentlichkeit beanspruchen: Bin ich gut vernetzt, wie oft wird mein Blog aufgerufen, wer ist mein Publikum – und mit wem und wie vielen kommuniziert wiederum dieses Publikum? Die schiere Quantität der Homepage-Zugriffe, des Gelistetseins in Google und Yahoo oder des Gekauftseins in den Amazon-Charts entscheidet genauso wie die Blogcharts über das Gelingen von Selbstschrift – und darin wird die alteuropäische Norm der Selbsterkenntnis

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zu einem problematischen Organ, ja zu einem Dispositiv der Normalisierung ausgeweitet, deren Anpassungsdruck Foucault (1983; 1995) in seiner Machtanalytik nachdrücklich beschrieben hat. Damit sind die Schreibenden zweifellos avantgardistisch, indem sie ihre Selbstkunst in den Alltag entgrenzen. Doch stehen sie weithin in der gezeigten Tagebuchtradition, die bei allem Hang zur Innenschau immer auch das Prozessieren von Daten im Sinn hatte, um nach einem ‚plus ultra‘ der permanenten Optimierung zu streben. Im Vergleich zu den nunmehr realisierten Möglichkeiten der digitalen Suchmaschinen mit ihren Totalaufzeichnungen wirken Carl Schmitts gallige Visionen des Buribunkenstaates fast als linkisches, eben papiernes Bastelwerk eines riesigen Zettelkastens an. Die Zukunft könnte ein Totalitarismus werden, der das Optimum des Datengewinns zurückschlagen lässt – bestenfalls in den spielerischen Unsinn einer nur noch phatischen Kommunikation, die lediglich die Funktion ihrer Kanäle prüft und keine Inhalte mehr kennt, schlimmstenfalls in die dauernde Selbst- und Fremdüberwachung der vergessensresistenten Maschinen. Eine angestammte Funktion der Selbstschriften, die Gedächtnisbildung, ist damit im Zeitalter ihrer technischen Perfektionierung auf dem Prüfstand. Ist die ars memoria durch eine ars oblivionis abzulösen, durch einen schlichten Befehl: DELETE? Die Forderung nach einer solchen Vergessenskultur ist nicht mehr exotisch – dass vielmehr auch digitale Daten eine Verfallszeit haben sollen, um nach ihrem Auftauchen in bestimmter Frist automatisch gelöscht zu werden, stellt die Studie von Mayer-Schönberger (2010) mit plausiblen Anhaltspunkten zur Diskussion. Immer noch ist Selbstschrift ein Möglichkeitsfeld, ein Raum von Zeichen, der zur Selbstverständigung dienen kann. Hat das Ich dessen Potenzial erst einmal entdeckt, wird es nicht aufhören, sich zu schreiben, seine Spiegelungen auszuprobieren, fiktive Gewänder überzustreifen, dies mehr oder weniger ausführlich, auch mehr oder weniger über Stile verfügend. Selbstschrift ist und bleibt ein ansteckender Virus – ebenso wie die diskursiven sowie macht- und medienpolitischen Bedingungen, unter deren Aufsicht das Ich schreibt.

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Schöne neue Menschen Michel Houellebecqs „Les particules élémentaires“1 A GNIESZKA K OMOROWSKA UND J ÖRN S TEIGERWALD

Die Frage nach dem Wesen des Menschen, mithin nach dem Menschenbild, steht seit alters her nicht nur im Zentrum jeder philosophischen Anthropologie, sie benennt auch einen wesentlichen Fokus der westeuropäischen Literaturen seit der Frühen Neuzeit. Genauerhin lässt sich sagen, dass die Künste und Literaturen seit der Renaissance für sich in Anspruch nehmen, nicht nur Menschenbilder zu gestalten, sondern auch diese Modellierung in der Darstellung zu reflektieren, wodurch jede Repräsentation eines Menschen immer gebunden wird an eine bewusste Wahl der KünstlerInnen, die sowohl den darzustellenden Menschen als auch den Modus der Präsentation betrifft. Systematisch gilt es dementsprechend zu unterscheiden zwischen idealisierten und realistischen Portraits von Einzelpersonen sowie zwischen utopischen und realistischen Darstellungen von Gemeinschaften, in denen diese Einzelpersonen integriert sind. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass diese Darstellungen von Menschenbildern von Anfang an in Verhandlungen eingebunden waren, die aus dem Spannungsverhältnis von fiktional repräsentierten Menschenbildern und den in den anthropologischen, philosophischen und theologischen Diskursen niedergelegten Menschenkonzepten resultieren. Allerdings veränderte sich dieses Wechselspiel von idealisierter und realistischer Repräsentation von Mensch und Gesellschaft grund1

Zitiert wird nach den Ausgaben Michel Houellebecq 1998 und Michel Houellebecq 2008.

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legend mit der Etablierung der modernen Natur- und Gesellschaftswissenschaften im 19. Jahrhundert, da diese die zuvor unhintergehbare Einbindung des Menschen in ein metaphysisch verbürgtes Denksystem aufkündigte und den Menschen in einer anthropologischen Wende naturalisierte, um erstens ein positives Wissen über ihn zu erhalten und um ihn zweitens im Rahmen der Biopolitiken des 19. Jahrhunderts zu normalisieren und dergestalt gesellschaftstragend zu formen.2 Parallel dazu radikalisierten sich die Verhandlungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften Ende des 19. Jahrhunderts durch das Aufkommen der biologischen, medizinischen und soziologischen Diskurse. Denn diese ermöglichten einerseits eine erste Stufe der praktischen, das heißt praktizierbaren Optimierung des Menschen durch den Eingriff von außen in den menschlichen Organismus.3 Andererseits ging mit dieser diskursiven Objektivierung beziehungsweise Optimierung des Menschen die Ausbildung eines literarischen Konterdiskurses einher, der ganz neue Formen der künstlerischen Darstellung von Menschenbildern hervorbrachte, insofern diese eine eigene Pragmatik in Bezug auf die gegebene Episteme ausbildeten.4 Dieses Bedingungsverhältnis der Menschenbilder wird in der Gegenwart nochmals auf radikal neue Weise geprägt, insofern der Mensch zum Gegenstand gentechnischer Eingriffe wird und folglich ganz andere Möglichkeiten der Optimierung eröffnet werden, die den Genotyp und den Phänotyp gleichermaßen betreffen.5 Aus diesen biotechnologischen Gegebenheiten resultieren allgemein die Fragen nach dem jeweils voraus liegenden Menschenkon-

2

Die Loslösung der modernen Anthropologie von ihren metaphysischen Ursprüngen lässt sich leicht nachvollziehen anhand von deren Neukonzeption durch die „Idéologues“ um 1800, die bewusst den metaphysisch grundierten Begriff der „anthropologie“ verabschieden zugunsten der „observation de l’homme“. Siehe hierzu die immer noch grundlegende Studie von Moravia 1977 sowie die neueren Studien von Williams 1994, O’Neal 1996, Riskin 2002 und Steigerwald 2003.

3

Verwiesen sei hierzu nur auf die Entwicklung der Mikrobiologie, die zugleich eine ganz neue Form der Experimentalkultur bewirkte. Siehe Latour 2001 und Rheinberger 2001.

4

Siehe hierzu grundlegend Foucault 1966, besonders S. 57-59, sowie von

5

Siehe für den wissenschaftshistorischen Kontext die Studie von Kay 2001.

literaturwissenschaftlicher Seite Warning 1999.

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zept, aufgrund dessen die Neugestaltung beziehungsweise Optimierung des Menschen vorgenommen wird, sowie nach dem Menschenbild, das durch den Eingriff konturiert werden soll. Hinzu kommen speziell die literarische Formung von Menschenbildern betreffend die Fragen, welche Verhandlungen bzw. Vermittlungen unter den aktuell gegebenen Bedingungen zwischen den Künsten und den Wissenschaften vom Menschen möglich sind und darauf aufbauend, welche Position die Künste im Allgemeinen und die Literatur im Speziellen innerhalb dieser Verhandlungen einnehmen können, aufgrund der ihr eigenen Problematisierungsleistung.6 Vor diesem Hintergrund nimmt Michel Houellebecqs 1998 erschienener Roman „Les particules élémentaires“ eine paradigmatische Position ein, insofern er erstens exemplarisch für die in der Gegenwartsliteratur virulenten eugenischen Fiktionen einstehen kann und zweitens die Verhandlungen zwischen wissenschaftlichen Menschenkonzepten und literarischen Menschenbildern in Moderne und Nachmoderne prägnant zusammenführt.7 Dadurch wird im Roman sowohl eine Reflexion der zeitgenössischen „condition humaine“ angeregt als auch eine mehrfache Problematisierung des gegenwärtigen Menschen (-Bildes) geleistet, die zum einen die historisch vorausliegenden Modellierungen ‚optimierter Menschen‘, insbesondere von Aldous Huxleys „Brave New World“, und zum anderen die in Zukunft möglichen ‚optimalen Menschen‘ betrifft. Das vorderhand desaströse Menschenbild der Gegenwart, das in den „Particules élémentaires“ zum Ausdruck kommt, ist folglich eingebettet in eine Zeitstruktur, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zueinander in Bezug setzt, um nach den Bedingungen und Möglichkeiten von Optimierungen des Humanen zu fragen. Hervorgetrieben wird dieses Bild wiederum durch die Konfiguration von Literatur, Naturwissenschaften und Soziologie, die durch die Darstellung von Menschenwissen und Menschengestalten

6

Zum Konzept der Verhandlung siehe Greenblatt 1993 sowie zum Konzept

7

Zu Michel Houellebecqs Roman „Les particules élémentaires“ sei nur

der Vermittlung Köhler 1976. verwiesen auf die folgenden Studien, die für die vorliegenden Überlegungen von besonderem Interesse waren: Biénczyk 1999; Schober 2001; Hülk 2002; Asholt 2002; Dahan-Gaida 2003; Van Wesemael 2004; Lindemann 2004; Prill 2005; Thoma 2005; Woyke 2006; Pröll 2007; Berger 2007; Ahrens 2008; Steigerwald 2010.

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vor allem Eines deutlich macht: Den Eingriff in den Menschen durch die Modellierung eines Menschenbildes. Dementsprechend möchten wir eine Lektüre von Houellebecqs Roman vorschlagen, die den Fokus auf dessen Repräsentationslogik der Menschenbilder richtet. Ausgangspunkt hierfür sei die Überlegung, dass in den „Particules élémentaires“ die Verhandlung von konkurrierenden Menschenbildern die Basis bildet, um erstens die Voraussetzungen und Ziele von Optimierungen des Menschen in der Fiktion zu reflektieren und um damit zweitens die LeserInnen mit ihrem gegenwärtigen Menschenbild zu konfrontieren. In Szene gesetzt wird diese Reflexion, so die These, durch das Zusammenspiel von Beobachtung, Darstellung und Wissen vom Menschen, das den Menschen vorzugsweise als Glück suchendes Wesen präsentiert, dessen Suche auf Grund soziokultureller sowie genetischer Bedingungen zum Scheitern verurteilt ist, wobei dieses Scheitern unter dem Zeichen von Scham und Depression steht. Um diese These zu plausibilisieren werden wir zunächst die der Erzählung zugrundeliegende Repräsentationslogik nachvollziehen, um dann die im Roman präsentierten anthropologischen Voraussetzungen für die Optimierung des Humanum in Gestalt eines schönen neuen Menschen zu beleuchten, bevor im abschließenden dritten Teil deren spezifisch literarische Reflexion präziser konturiert wird.

D IE R EPRÄSENTATIONSLOGIK

DES

R OMANS

Michel Houellebecqs bekanntester Roman erzählt die Geschichte von zwei ungleichen Halbbrüdern, die auf verschiedene Weise von einem ‚mal de siècle‘ erfasst sind: Während der Molekularbiologe Michel Djerzinski sich in einer Mischung aus Ennui und Ekel in seine Forschungsarbeit zurückzieht, verliert sich der Lehrer und Hobby-Schriftsteller Bruno Clément in einer rastlosen Suche nach dem sexuellen Abenteuer, die statt in der gesuchten Ekstase in einem Sanatorium endet. Ist Bruno zu Beginn der Handlung als Lust suchender Egoist vorzüglicher Repräsentant seiner Epoche, so wird der asketisch lebende Michel im Prologue als Wegbereiter der „troisième mutation métaphysique“, der dritten metaphysischen Wandlung im Sinne Auguste Com-

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tes eingeführt, die den wohl radikalsten Wandel in der Geschichte des Menschen bewirkte.8 Allerdings gilt es zu beachten, dass der Roman vergleichsweise handlungsarm ist und in hohem Maße auf Dialogen zwischen den Figuren und der daraus resultierenden Vor- und Rückschau der Protagonisten abhebt sowie die damit verbundenen Beobachtungen und Reflexionen der eigenen Gesellschaft in Szene setzt. Das Spiel von Vor- und Rückblenden wird in der Erzählung auf weitere Zeitebenen ausgeweitet, wobei ein komplexes Verweissystem von vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Menschenkonzepten entsteht. Somit trägt der Roman einer Problematik Rechnung, die vielen literarischen Zukunftsvisionen gemein ist: Aus welcher Perspektive kann man vom Menschen sprechen, wenn es keinen Menschen mehr gibt?9 Darauf antwortet der Roman, indem die Lebensgeschichten der Halbbrüder von einer Erzählinstanz präsentiert werden, die selbst auf bemerkenswerte Weise in die Geschichte integriert ist: Wie insbesondere Prologue und Epilogue verdeutlichen, haben wir eine Erzählinstanz vor uns, die bereits ein Bewohner jener neuen Welt ist, die erst durch die Forschungen Michels möglich geworden sein wird. Dadurch haben wir narratologisch gesehen drei Ebenen, die durch Vor- und Rückblenden miteinander verbunden sind und divergierende Perspektiven ausprägen: Erstens die Ebene der Handlung, die Ende der 1990er Jahre spielt. Zweitens die Ebene der eigentlichen Narration, bei der ein Erzähler aus der schönen neuen Welt im Jahre 2079 auf die

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„Michel Djerzinski ne fut ni le premier, ni le principal artisan de cette troisième mutation métaphysique, à bien des égards la plus radicale, qui devait ouvrir une période nouvelle dans l’histoire du monde; mais en raison de certaines circonstances, tout à fait particulières, de sa vie, il en fut un des artisans les plus conscients, les plus lucides.“ „Michel Djerzinski war weder ein Vorkämpfer noch der wichtigste Wegbereiter dieser dritten, in vielerlei Hinsicht radikalsten metaphysischen Wandlung, die eine neue Epoche in der Weltgeschichte einleiten sollte; doch aufgrund einiger außergewöhnlicher Lebensumstände war er ein besonders bewusster, besonders hellsichtiger Wegbereiter dieser Wandlung.“ (Houellebecq 1998: 8; Houellebecq 2008: 8)

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Vgl. hierzu auch den Beitrag von Nicolas Pethes im gleichen Band, der diese Frage aus der Perspektive des literarischen Genres des Gedankenexperiments untersucht.

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Lebenswege der beiden Brüder Michel und Bruno blickt und diese vor dem Hintergrund seines Wissens als Exempla westlicher Lebensläufe in den 1990er Jahren ausstellt.10 Genauer heißt das, dass die Lebensgeschichten von Bruno und Michel von einem schönen neuen Humanum erzählt werden, um zu begründen, warum es einer radikalen Optimierung des Menschen bedarf, einer Rundumerneuerung des Humanum, die notwendigerweise ihn und seine optimierte Gesellschaft als logisches respektive bio-logisches Produkt hervorbrachte. Bemerkenswerter Weise bleibt diese optimierte Gesellschaft wie auch das optimierte Humanum außerhalb der erzählten Geschichte und bildet gerade dadurch eine produktive Leerstelle aus, da es dem Leser aufgegeben wird, sich deren Realität selbst vorzustellen, mithin diese Optimierung imaginativ zu leisten.11 Die dritte, historisch nicht näher bestimmbare Ebene der Erzählung liegt außerhalb der Handlung und beschreibt eine Perspektive, von der aus sowohl die Handlung der Protagonisten als auch die Narration der posthumanen Erzählinstanz gestaltet und damit erneut problematisiert wird: eine Reflexion, deren Adressat der heutige Leser ist und dessen Botschaft schlicht und einfach lautet: tua res agitur. Sie ist somit in

10 Zum Exemplum als literarischer Darstellungsform siehe besonders Lyons 1989. 11 Siehe: „Ayant rompu le lien filial qui nous rattachait à l’humanité, nous vivons. À l’estimation des hommes, nous vivons heureux; il est vrai que nous avons su dépasser les puissances, insurmontables pour eux, de l’égoïsme, de la cruauté et de la colère ; nous vivons de toute façon une vie différente. […] Aux humains de l’ancienne race, notre monde fait l’effet d’un paradis. Il nous arrive d’ailleurs parfois de nous qualifier nous-mêmes – sur un mode, il est vrai, légèrement humoristique – de ce nom de ‚ dieux ‘ qui les avait tant fait rêver.“ „Dadurch dass wir das verwandtschaftliche Band, das uns an die Menschheit fesselte, zerrissen haben, leben wir. Dem Urteil der Menschen zufolge leben wir glücklich; allerdings haben wir es auch verstanden, die für sie unüberwindbaren Kräfte des Egoismus, der Grausamkeit und der Wut zu bezwingen; wir führen ohnehin ein anderes Leben. […] Auf die Menschen der ehemaligen Rasse wirkt unsere Welt wie ein Paradies. Es kommt im Übrigen vor, dass wir uns selbst – wenn auch mit einer Spur von Humor – mit dem Namen ‚Götter‘ bezeichnen, der so viele Träume bei ihnen ausgelöst hat.“ (Houellebecq 1998: 316 f.; Houellebecq 2008: 379 f.)

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eine Teleologie der Erzählung eingebunden, die das Gegeneinander der Menschenbilder vermeintlich aufhebt, indem sie alle drei Zeitebenen zwangsläufig auf die dritte metaphysische Mutation hinauslaufen lässt, die Divergenzen zwischen altem und neuem Humanum de facto indes nur umso deutlicher ausstellt. Präsentiert wird diese dreiteilige Abfolge durch die Zusammenstellung von drei paradigmatischen Paaren, den Brüdern Julian und Aldous Huxley, den Halbbrüdern Bruno und Michel sowie der nicht weiter benannten Erzählinstanz und dem ‚Erfinder‘ der schönen neuen Welt, Frédéric Hubczejak. Diese drei Paare repräsentieren eine teleologische Ordnung, die auf dem Zusammenwirken von wissenschaftlichem Handeln und erzählerischer Gestaltung basiert. Aldous Huxley setzte Ende der 1920er Jahre das eugenische Wissen, für das sein Bruder Julian in der Praxis einstand, in seinem Roman „Brave New World“ als prospektive Dystopie um.12 Brunos Beschreibung seiner Fin de Siècle-Gesellschaft begleiten und legitimieren Ende der 1990er Jahre die wissenschaftlichen Untersuchungen Michels, die eine Transformation zur neohumanen Gesellschaft initiieren. Die Narration der Erzählinstanz hingegen erfolgt aus der Realität gewordenen Huxleyschen Dystopie, die aber nun als real gewordene Utopie gesetzt wird, wodurch ein Chiasmus eingeführt wird. Die prospektive Dystopie von Huxleys schöner neuer Welt wird von der schönen neuen Erzählinstanz ersetzt durch eine retrospektive Dystopie, die unsere heutige Gesellschaft beschreibt. Im Roman wird die chronologische Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ersetzt durch die narrative Abfolge von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart, wodurch zum einen der Blick auf die Gegenwart einen besonderen Status erhält, insofern er von einer zukünftigen, das heißt potentiellen Perspektive aus gerichtet ist und zum anderen die Reflexion der Gegenwart einer eigenen Logik unterliegt. Bemerkenswerterweise baut die Erzählung hierbei strukturell auf Comtes wissenschaftsphilosophischem Modell der Zeitenfolgen auf, das er im „Système de philosophie positive“ (1851-

12 Julian Huxleys Überlegungen zur Eugenik legte er insbesondere in einer zeitgenössisch berühmten Essaysammlung nieder, siehe Huxley 1928. Siehe zudem Smith 2003; und Phillips 2007. Zu Aldous Huxleys Roman siehe zudem Fietz 1969; Deery 1998; Menninghaus 2000; Fietz 2005.

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1854) niedergelegt hat.13 Dementsprechend kann man die eigene Gegenwart nur dann verstehen lernen, wenn man die Zeitenfolge nach dem Modell von Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart begreift, da allein die potentielle Zukunft Auskunft über die gegenwärtige Ordnung des Wissens gibt. Gleichwohl fungiert das Comtesche Zeitenmodell in Houellebecqs Roman allein als Strukturmodell, das dadurch zum einen bewusst das Comtesche Theoriegebäude hintanstellt. Zum anderen wird dadurch die traditionelle literarische Experimentierform der prospektiven Utopie beziehungsweise Dystopie durch eine komplexe Zeiten- und Wissensstruktur ersetzt, die gegenüber der kritischen Präsentation von zukünftig optimierten Menschen die reflexive Repräsentation von gegenwärtigen Menschenbildern unter der Bedingung ihrer realen, eugenischen Optimierbarkeit präferiert.

D IE ANTHROPOLOGISCHEN V ORAUSSETZUNGEN FÜR DIE ZUKÜNFTIGE O PTIMIERUNG DES M ENSCHEN Um die in den „Particules élémentaires“ reflektierten, konkurrierenden Menschenbilder und ihre anthropologischen Voraussetzungen zu untersuchen, gilt es zunächst, die Repräsentationslogik des Romans nachzuvollziehen, die weitgehend auf der Doppelfunktion der Brüder als Beobachter und Repräsentanten ihrer Gesellschaft aufbaut. Bruno plausibilisiert zum Beispiel seine Lebens- und Leidensgeschichte, indem er sie, unter Rekurs auf aktuelles soziologisches und psychologisches Wissen über den Menschen, als Resultat der sexuellen Revolution der 1968er Generation versteht. Aktualisiert der Roman mit der expliziten Integration und Modellierung zeitgenössischer wissenschaftlicher und lebensweltlicher Wissensdiskurse somit einerseits ein Verfahren des naturalistischen Romans im 19. Jahrhundert, so inszeniert er mit Bruno einen Experten, der die von ihm besprochenen Praktiken zugleich experimentell durchläuft und dank seiner langjährigen

13 Zu Houellebecq und Comte siehe besonders Houellebecq 2009. Dieser Essay erschien zuerst in Bourdeau et al. 2003; auch die Studien von Chabert 2002 und Aurora 2003. Darüber hinaus sei verwiesen auf Laudan 1981; Lepenies 1985; Grange 1996; Macherey 1989; Wernick 2000; Bourdeau/Chazel 2002.

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Erfahrung mit der Psychoanalyse selbstreflexiv zu deuten vermag. Die sexuelle Revolution der 68er Jahre wird in Brunos Deutung zum zentralen historischen und persönlichen Ereignis, in dem sich die verschiedenen (Neu-)Bestimmungen des Menschen bündeln. Zielte diese Bewegung mit dem Anspruch der individuellen, insbesondere sexuellen Befreiung und einem damit einhergehenden neuen Körperbewusstsein sowie den Entwürfen einer alternativen Gemeinschaft ihrerseits auf eine Optimierung des Menschen, so fokussiert Bruno seinerseits die Schattenseiten der daraus resultierenden Eingriffe in das alteuropäische Menschenbild: Gemäß seiner Argumentation hat die sexuelle Revolution nicht nur zur Auflösung der traditionellen Kleinfamilie, sondern auch zur stetigen Vereinsamung des Menschen geführt. Ergebnis dieses post-68er Individuierungsprozesses ist, dass sich das Subjekt nun schutzlos durch den von ihm propagierten Körper- und Jugendkult einem Konkurrenzkampf ausgeliefert sieht, bei dem der ökonomische Liberalismus zum dominanten Modell für die Beziehung zwischen den Geschlechtern geworden ist. Unter Rekurs auf ökonomische und sozial-psychologische Erklärungsmodelle reflektiert Bruno kritisch die Glückssuche der 68er Befreiungsideologie als Geschichte einer gescheiterten Utopie, an dessen vorläufigem Ende das depressive und beschämte Subjekt der Nachmoderne steht.14 Sinnbild des Scheiterns dieser Utopie ist für Bruno das von ihm besuchte Feriencamp „Lieu de Changement“, „ORT DER WANDLUNG“, das von einer alternativen Gemeinschaft gegründet wurde, die den alten „esprit 68“ mit dem neuen des New Age kombinierte. Umgesetzt wurde dies durch diverse Praktiken der Persönlichkeitsentwicklung in Form von Gestaltpsychologie und Zen-Meditation, die sich gemäß dem Gründer dieses Feriencamps dem Begriff der „humanistischen Psychologie“ subsumieren lassen (Houellebecq 1998: 102; Houellebecq 2008: 119). Hiermit wird auf eine in den 1960er Jahren

14 Brunos Kritik weist hierbei starke Parallelen zu zeitgenössischen kultursoziologischen Studien auf. Vergleiche exemplarisch für die Auswirkungen spätkapitalistischer Arbeitskultur auf das (nach)moderne Subjekt Richard Sennetts Konzept des flexiblen Menschen (Sennett 1998) und Zygmunt Baumans Arbeit zum fragmentierten Leben (Bauman 1995). Zu neuen Diskursen der Sexualität vgl. Giddens 1992 und Illouz 2008: 105-151. Für die französische Debatte vgl. insbesondere Boltanski 1990, 1993 und ders./Chiapello 1999.

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entstandene, einflussreiche psychologische Strömung verwiesen, die explizit auf eine ganzheitliche (Selbst-)Optimierung des Menschen zielt (vgl. Straub 2012, Sieben in diesem Band). Bemerkenswerterweise wird die humanistische Psychologie insbesondere in Theorien der Unternehmenspsychologie und in Handbüchern für ManagerInnen breit rezipiert und popularisiert, wobei diese Verbindung von Selbstpraxis und Ökonomie im Roman anhand der Entwicklung des von Bruno aufgesuchten Feriencamps zugespitzt wird. Entsprechend erfuhren die 68er Optimierungsversuche im Zuge der ökonomisch bedingten Neuausrichtung des Camps in den 1980er Jahren eine Umdeutung, insofern die neuen, auf Manager zugeschnittenen Zen-Kurse als Möglichkeit zum Erwerb von sozialen Kompetenzen und vermarktbaren Soft Skills präsentiert wurden, wodurch das Modell des ganzheitlichen und befreiten Menschen von einem vom Markt flexibilisierten Menschen abgelöst wurde. Prägnant wird diese Verabschiedung des althergebrachten anthropologischen Konzepts sowie der altgedienten 68er von Brunos Ferienbekanntschaft Christine auf den Punkt gebracht, wenn sie die Differenz zwischen dem behaupteten spirituellen Ideal und der desaströsen Realität der KursteilnehmerInnen herausstellt: „Interroge-les cinq minutes, tu verras qu’elles ne croient pas du tout à ces histoires de chakras, de cristaux, de vibrations lumineuses. Elles s’efforcent d’y croire, elles tiennent parfois deux heures, le temps de leur atelier. Elles sentent la présence de l’Ange et la fleur intérieure qui s’éveille dans leur ventre; puis l’atelier se termine, elles se redécouvrent seules, vieillissantes et moches. Elles ont des crises de larmes. […] En général elles ont fait une analyse, ça les a complètement séchées. Les mantras et les tarots c’est très con, mais c’est quand même moins cher qu’une analyse.“ (Houellebecq 1998: 146 f.) „Unterhalte dich mal fünf Minuten mit ihnen, dann stellst du fest, dass sie überhaupt nicht an all diese Geschichten mit den Chakren, Kristallen und Lichtvibrationen glauben. Sie geben sich Mühe, daran zu glauben, manchmal schaffen sie es zwei Stunden lang, solange der Kurs dauert. Sie spüren die Gegenwart des Engels in sich und die innere Blume, die sich in ihrem Bauch entfaltet; dann ist der Kurs zu Ende und sie sind wieder allein, ziemlich alt und hässlich. Und dann kriegen sie Weinkrämpfe. […] Im Allgemeinen haben sie eine Psychoanalyse gemacht und sind dadurch völlig pleite. Die Sache mit den Mantras und Tarots ist zwar bescheuert, aber wenigstens ist das nicht so teuer wie eine Analyse.“ (Houellebecq 2008: 173 f.)

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In Christines ironischer Überspitzung werden die neuen Subjekttechniken als verzweifelte Versuche einer individuellen Sinnstiftung beschrieben, die den Menschen jedoch nicht über die Quellen seines Leidens hinwegtäuschen können: Alter und Einsamkeit. Diese beiden Leiden werden zudem in ein Bedingungsverhältnis gesetzt, das in der Erzählung als logische Konsequenz des „esprit 68“ erscheint. Zugleich resultieren daraus zwei grundlegende gesellschaftliche Transformationen: Erstens wird das, was in der Ideologie der 68er die Quelle des Glücks sein sollte, nämlich die expressive Sexualität des Subjekts mitsamt der lustvollen Betonung des Körpers, ab den 1980er Jahren zum ökonomischen Imperativ, an dem der Mensch sein Glück messen muss. Zweitens wird im Zuge der Herausbildung des neuen flexibilisierten Subjekts die Zerbrechlichkeit und Anfälligkeit des Körpers zur Quelle des Unglücks und der Scham. Der menschliche Körper, so legt es die Teleologie der Erzählung nahe, rückte folglich geradezu zwangsläufig in den Fokus neuer Optimierungsversuche des Menschen. Ähnelt diese Diagnose bemerkenswert stark den Ergebnissen zeitgenössischer kultursoziologischer Studien (vgl. dazu Komorowska 2011), so hebt sie sich in ihrer Deutung entscheidend von ihnen ab, indem sie die Optimierungsversuche nicht als Schattenseiten aktueller anthropologischer Konzepte fasst, sondern als ihren logischen Zielpunkt. Plausibilisiert wird diese Modellierung des Menschenbildes in der Erzählung durch eine Neuperspektivierung von vergangenen und aktuellen utopischen Menschenbildern insbesondere in den Gesprächen der Brüder Bruno und Michel im zweiten Teil des Romans. Bruno argumentiert hierbei aufbauend auf seinen Beobachtungen der aktuellen Gesellschaft sowie seinem sozial-psychologischen Wissen über den Menschen, und erweitert dies, indem er auf utopische Literatur der klassischen Moderne rekurriert, da ihm diese ermöglicht, eine alternative Perspektive auf die gegenwärtigen Optimierungsbegehren einzunehmen. Das überraschende Ergebnis seiner Überlegungen, die er im Rahmen seiner Re-Lektüre von Huxleys „Brave New World“ formuliert, lautet, dass vor dem Hintergrund der Entwicklungen um 1998 die ehemalige Dystopie als zeitgenössische Utopie zu bezeichnen ist: „Je sais bien, […] qu’on décrit en général l’univers d’Huxley comme un cauchemar totalitaire, qu’on essaie de faire passer ce livre pour une dénonciation virulente ; c’est une hypocrisie pure et simple. Sur tous les points – contrôle

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génétique, liberté sexuelle, lutte contre le vieillissement, civilisation des loisirs, Brave New World est pour nous un paradis, c’est en fait exactement le monde que nous essayons, jusqu’à présent sans succès, d’atteindre.“ (Houellebecq 1998: 157) „Ich weiß natürlich […], dass man Huxleys Welt im Allgemeinen als einen totalitären Albtraum beschreibt und versucht, in diesem Buch eine scharfe Anklage zu sehen; doch das ist reine Heuchelei. Brave New World ist für uns in jeder Hinsicht – sei es, was die genetische Kontrolle, die sexuelle Freiheit, den Kampf gegen das Altern oder die Freizeitkultur betrifft – ein Paradies, in Wirklichkeit ist es haargenau die Welt, die wir anstreben, wenn auch bisher noch ohne Erfolg.“ (Houellebecq 2008: 185)

Bruno führt hier ein für die eigene Gegenwart alternatives, wenn auch zunächst fiktionales Optimierungsmodell ein, das auf der eugenischen Gentechnologie basiert und zugleich ein sexuiertes Lust-Subjekt als Utopie für die eigene Gesellschaft setzt. Somit ist Bruno nicht einfach nur Repräsentant der durch die Verbindung von Ökonomie, Sexualität und individualistische Selbstverwirklichung geprägten (post-)68er Generation, wie sie die Soziologie mit dem Begriff des ‚kreativ-konsumatorischen Subjekts‘ fasst (vgl. Reckwitz 2006: 588-608), sondern reflektiert diesen Status als Beobachter zweiter Ordnung und setzt ihm mit einer auf Huxley basierenden Zukunftsvision eine Alternative entgegen. Der schöne neue Erzähler des Jahres 2079 nutzt schließlich diese Überlegungen Brunos als Beobachter dritter Ordnung, um zu begründen, warum dieses „kreativ-konsumatorische Subjekt“ als Endstufe des alten Menschen verabschiedet und durch den ‚schönen neuen Menschen‘ ersetzt werden musste. Innerhalb der Erzählung wird der von Bruno proklamierte Übergang im Verständnis von Huxleys Roman von der Dystopie zur Utopie zudem von der Erzählinstanz vorbereitet, die dadurch auch ihre Existenz als Realität gewordene Utopie zu legitimieren strebt. Bereits im ersten Teil des Romans führt die Erzählinstanz verschiedene Belege an, die für die Erfolge der nachmodernen Liberalisierungsideologie einstehen sollen: Hierzu zählen die Einführung von Gesetzen, die die Scheidung erleichtern, die Senkung der Volljährigkeit auf das 18. Lebensjahr und die Legalisierung der Abtreibung, aber auch die Eröffnung des ersten Vitatop-Fitnessclubs in Paris (Houellebecq 1998: 69; Houellebecq 2008: 81). Alle diese Transformationen, so unterschied-

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lich sie auf den ersten Blick sind, indizieren zunächst einmal die wirkmächtige Verschränkung von individualistischer Ideologie und Biologie in der Nachmoderne. Darüber hinaus verdeutlicht diese produktive Verbindung die grundlegende Wende von der „anthropologie chrétienne“ zur „anthropologie matérialiste“ (Houellebecq 1998: 69; Houellebecq 2008: 82), die zugleich die Voraussetzung bildet für die eingangs des Romans genannte „troisième mutation métaphysique“, die mit der Verschiebung der Vorherrschaft von den Humanwissenschaften zu den Naturwissenschaften einhergeht. Allerdings ist selbst diese nachmoderne materialistische Anthropologie nicht in der Lage, ihr Glücksversprechen einzulösen, so dass die schöne neue Welt einstweilen noch Utopie bleiben muss. Brunos verbitterte Abrechnung mit den 68ern wie auch sein persönlicher Parcours des Scheiterns werden dadurch indes zu Exempla einer unvollendeten Optimierung des Humanum um 2000, deren Realisierung dann in der schönen neuen Welt nach 2020 eingelöst wurde. Gleichwohl bildet die in der materialistischen Anthropologie geleistete Verschränkung von Ideologie und Biologie in der Teleologie der Erzählung die notwendige Voraussetzung für die darauf folgende dritte metaphysische Mutation. Diese Veränderung personifiziert jedoch nicht Bruno, sondern Michel, der als Naturwissenschaftler dort technologisch Lösungen erarbeiten kann, wo es der Humanwissenschaftler bei der Diagnose belassen musste. Evident wird dies besonders in den Diskussionen der Brüder über das utopische Potenzial von Huxleys Roman. Auch wenn Michel in vielen Punkten die Ansichten seines Bruders Bruno teilt, so rekurriert er doch auf gänzlich andere Erklärungs- und vor allem Lösungsmodelle. Während Bruno das Huxleysche Menschenbild als das Wunschmodell seiner Generation begreift, kritisiert Michel, dass Huxley die Wirkung eines zentralen Moments der materialistischen Anthropologie vollkommen unterschätzt habe: den Individualismus. Dies führt Michel im Weiteren zu einer Beschreibung des Menschen, die hier ausführlich zitiert werden soll, da sie die für sein Denken zentrale Verknüpfung von Philosophie und Genetik prägnant auf den Punkt bringt: „De l’individualisme naissent la liberté, la sensation du moi, le besoin de se distinguer et d’être supérieur aux autres. Dans une société rationnelle telle que celle décrite par Le Meilleur des mondes, la lutte peut être atténuée. […] La compétition sexuelle […] n’a plus de raison d’être dans une société où la dis-

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sociation sexe-procréation est parfaitement réalisée ; mais Huxley oublie de tenir compte de l’individualisme. Il n’a pas su comprendre que le sexe, une fois dissocié de la procréation, subsiste moins comme principe de plaisir que comme principe de différenciation narcissique […]. En soi le désir – contrairement au plaisir – est source de souffrance, de haine et de malheur. Cela, tous les philosophes – non seulement les bouddhistes, non seulement les chrétiens, mais tous les philosophes dignes de ce nom – l’ont su et enseigné.“ (Houellebecq 1998:160 f.) „Aus dem Individualismus erwachsen Freiheit und Selbstgefühl sowie das Bedürfnis, sich von anderen zu unterscheiden und sich ihnen überlegen zu fühlen. In einer rationalen Gesellschaft, wie sie in Schöne neue Welt beschrieben ist, kann der Kampf abgemildert werden. […] Der sexuelle Wettbewerb […] hat in einer Gesellschaft, in der die Trennung zwischen Sex und Zeugung gänzlich vollzogen ist, keine Existenzberechtigung; aber Huxley hat vergessen, den Individualismus zu berücksichtigen. Er hat nicht begriffen, dass Sex, sobald man ihn von der Zeugung loslöst, nicht so sehr als Lustprinzip, sondern vielmehr als Prinzip narzisstischer Unterscheidung weiterbesteht […]. Die sinnliche Begierde an sich – im Gegensatz zur Lust – ist eine Quelle des Leidens, des Hasses und des Unglücks. Das haben alle Philosophen – nicht nur die buddhistischen, nicht nur die christlichen, sondern alle Philosophen, die diesen Namen verdienen – gewusst und gelehrt.“ (Houellebecq 2008: 189 f.)

Indem Michel den „désir“, das Begehren, als Quelle der Entfremdung des Menschen fasst, reiht er sich in eine Anzahl unterschiedlicher anthropologischer Menschenkonzepte ein, die für ihn zeit- und kulturübergreifend auf derselben Einsicht in das Wesen des Menschen basieren. Hierbei verweist er durch die verwendeten Begriffe, was in der deutschen Übersetzung nicht mehr erkennbar ist, jedoch im französischen Original explizit markiert wird, auf eine Vielzahl von kulturell gesättigten Wissensbeständen, die seiner Argumentation eine spezifisch französische Zuspitzung gibt, die es zu beachten gilt. Durch die Betonung des „désir“ rekurriert Michel gleichermaßen auf moralistische Beschreibungen des „amour propre“ als Wurzel jeglichen Begehrens (vgl. Stierle 1985) als auch auf poststrukturalitische Beschreibungen des Menschen als „machine désirante“ (vgl. Deleuze/Guattari 1973). Das Besondere an Michels Deutung, die damit über einen reinen Synkretismus hinausgeht, besteht darin, dass er seine Diagnose mit naturwissenschaftlichen Einsichten verknüpft: Im Bestreben einer

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Optimierung des Menschen, die das ausstehende Glücksversprechen einlösen soll, orientiert er seine Forschung an den vorausliegenden eugenischen Utopie-Modellen, die er aber unter der Prämisse einer neuen, erst noch zu etablierenden Gemeinschaft überbieten will. Die Möglichkeiten zur Lösung seiner Fragen nach dem optimalen Humanum sucht Michel folglich auch nicht in der Philosophie oder Soziologie, sondern in seiner Beobachtung der Gegenwartskultur und in den Naturwissenschaften: Dabei folgt seine Methode einer experimentellen Versuchsanordnung, bei der sich sowohl neueste Forschungseinsichten in die Struktur der DNA, quantenphysikalische Theorien, aber auch Werbeslogans aus dem 3-Suisses-Katalog unter der Leitfrage nach möglichen Optimierungen des Menschen wie Teile eines Puzzles zu einem neuen Menschenbild zusammenfügen. Das Ergebnis seines Experimentalsystems ist die Überwindung des Menschen, wie wir ihn kennen, da dies paradoxerweise die einzige Aussicht auf ein glückliches Dasein als neu begründetes Humanum bildet. Genauer lautet Michels These, dass nur die Aufgabe des tradierten Individuums sowie die Aufhebung der sexuellen Reproduktion und des Todes eine wahrhaft funktionierende Gemeinschaft ermöglichen kann. Zum Wegbereiter der dritten metaphysischen Mutation wird Michel folglich dadurch, dass er experimentell eine bio-physikalische Formel der identischen Reproduktion des Menschen errechnet hat, welche nicht nur die infinitesimale Produktion eines neuen, unsterblichen Humanum als Gattung ermöglichte, sondern auch das Versprechen enthält, dass dieses schöne neue Humanum nicht mehr den Unbilden von Reproduktion, Alter und Tod ausgesetzt sein wird, und folglich auch kein Leiden mehr erfährt. Endet hiermit die Erzählung der Lebensgeschichten von Bruno und Michel, so perspektiviert die Erzählinstanz das an ihnen illustrierte Fin de Siècle um 2000 nochmals neu, indem sie im Epilog die mittlerweile vollzogene dritte Mutation als logische Konsequenz des gescheiterten flexibilisierten Subjekts präsentiert. Denn ab 2020 wurde Michels Grundlagenforschung von einer Gruppe von WissenschaftlerInnen um den ambitionierten Frédéric Hubczejak in die Praxis umgesetzt, trotz anfänglichen Widerstands von Seiten der so genannten Humanisten (Houellebecq 1998: 309; Houellebecq 2008: 371). Die Durchsetzung des Projekts gelang Hubczejak dadurch, dass er die Bedürfnisse der Menschen nach einer paradigmatischen Wende im Zeichen des wissenschaftlichen Fortschritts befriedigte, indem er in einer geschickten

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Marketingstrategie Konzepte des New Age mit dem Modell des Rationalismus verknüpfte und ein optimiertes Menschenbild kreierte: Den schönen neuen Menschen. Dieser neue Mensch, als dessen Vertreter sich auch die Erzählinstanz im Epilog zu erkennen gibt, ist ein Wesen, das keine sexuellen Differenzen, das heißt keine Geschlechter mehr kennt und keiner sexuellen Reproduktion mehr bedarf, da alle den gleichen genetischen Kode haben, dafür aber zu größerer sexueller Lust fähig ist. Mit dieser genetischen Veränderung des Menschen einher geht die Umwertung von tradierten moralischen Begriffen wie „collectivité“, „permanence“ und „sacré“ (Houellebecq 1998: 314; Houellebecq 2008: 377), die zu den Leitwerten der neuen Gemeinschaft avancieren und damit die neue Konzeption des Menschen nach außen legitimieren. Allerdings erlaubt diese auch in die Semantik der Anthropologie hineinreichende Neuordnung des Menschenbildes nicht nur eine Legitimation der präsentierten Erzählung, sondern bewirkt auch einen Distanzeffekt der heutigen LeserInnen zu diesem schönen neuen Menschenbild, der gerade durch die differente Verwendung der scheinbar identischen Begriffe verursacht wird.

D IE SPEZIFISCH LITERARISCHE F ORM DER R EFLEXION ÜBER DIE V ERBESSERUNG DES H UMANUM Literaturhistorisch gesehen stellen Michel Houellebecqs „Particules élémentaires“ möglicherweise einen sehr französischen Sonderfall dar, der indes gerade deswegen unserer Ansicht nach von besonderem Interesse für Analysen der Optimierung des Humanum ist. Diese exzentrische Position besteht zunächst darin, dass sich der Roman weder den anthropologischen Utopien beziehungsweise Dystopien zurechnen lässt, in denen im Anschluss an Huxleys „Brave New World“ ein prospektives, dystopisches Gesellschaftsmodell entworfen wird, um dessen jeweiliges Menschenbild zu problematisieren, wie dies in der zeitgenössischen Literatur etwa in George Turners „Brain Child“ (1991), Jean-Christophe Rufins „Globalia“ (2004), Kazuo Ishiguros „Never let me go“ (2005) oder Juli Zehs „Corpus Delicti“ (2009) der Fall ist. Auch wenn all diese Fiktionen die Hinwendung zur Eugenik als Stoff

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der Erzählung eint, so unterscheidet sie indes die in ihnen vorgelegte Darstellung des eugenisierten Menschen grundsätzlich.15 Es kann hier nicht der Anspruch erhoben werden, einen ausführlichen Vergleich zwischen Houellebecqs Roman und den anderen eugenischen Fiktionen vorzunehmen. Allerdings seien an dieser Stelle drei Elemente hervorgehoben, die für die Romane von Turner, Rufin, Ishiguro und Zeh von besonderer Bedeutung sind und keinerlei Funktion in den „Particules élémentaires“ haben. Erstens ereignen sich die Handlungen in diesen Romanen zu einem Zeitpunkt, nachdem die eugenische Veränderung bereits stattgefunden hat, so dass die Protagonisten in diese neuen Bedingungen eingebunden sind. Zweitens verdeutlichen die Romane – insbesondere die von Turner und Rufin – eine Orientierung am Detektivroman, insofern die Protagonisten die heimlichen oder verbotenen eugenischen Bestrebungen von Gruppen beziehungsweise Gesellschaften aufzudecken streben, um damit eine drohende Dystopie zu verhindern. Drittens inszenieren diese Romane – vor allem die von Ishiguro und Zeh – die Unterwerfung von Subjekten in einer eugenischen Gesellschaft, indem deren soziale Kontrollund Strafmechanismen anhand der Lebensläufe der Protagonisten vorgestellt werden. Die grundlegende Differenz von Houellebecqs Roman zu diesen eugenischen Fiktionen resultiert folglich zunächst einmal aus der Dominanz der Erzählung gegenüber der Handlung, die mit weiteren Folgen einhergeht, die zum einen die doppelte Erzählperspektive und zum anderen die spezifische Optik auf den Menschen betrifft. Zu beachten ist hierbei, dass die Lebensgeschichte der Protagonisten in eine Teleologie der Erzählung eingebunden ist, innerhalb derer die Kritik an unserer Gesellschaft die notwendige Voraussetzung bildet für die Legitimierung der zukünftigen Gesellschaft. Dieser Legitimationsdruck ist innerhalb der Erzählung dadurch von Bedeutung, dass die Erzählinstanz bereits ein Realität gewordenes neues Humanum ist, das sich und seine Gesellschaft rechtfertigt, indem es unsere Gegenwart beziehungsweise seine Vergangenheit als retrospektive Dystopie fasst. Diese Modellierung als retrospektive Dystopie zeigt sich insbesondere in der verwendeten Begrifflichkeit, die gerade durch die scheinba-

15 Zum wissenschaftshistorischen Kontext dieser eugenischen Fiktionen sei verwiesen auf die so genannten Cyborg-Manifeste von Harraway 1989 und 1991.

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re Identität der Begriffe die Differenz in der Verwendung hervorhebt und dadurch ein kritisches Potenzial entfaltet, das zugleich die Legitimierungsstrategie der schönen neuen Erzählinstanz decouvriert und unser gegenwärtiges Menschenbild problematisiert. Um dies am Beispiel festzumachen: Im Prolog beschreibt die Erzählinstanz die Situation unserer Gesellschaft wie folgt: „Les sentiments d’amour, de tendresse et de fraternité humaine avaient dans une large mesure disparu [...].“ (Houellebecq 1998: 7) „Gefühle wie Liebe, Zärtlichkeit und Brüderlichkeit waren weitgehend verschwunden [...].“ (Houellebecq 2008: 7)

Der Begriff der „fraternité humaine“ erscheint bei der ersten Lektüre des Romans wenig problematisch, verweist er doch zunächst auf die Ideale der französischen Revolution und somit auf eine spezifische kulturelle Kontextualisierung der Handlung. Irritieren mag allein die Adjektivierung der Brüderlichkeit durch das „humain“, das bezeichnenderweise in der deutschen Übersetzung fehlt. Diese „fraternité humaine“ wird indes im Epilog auf doppelte Weise aufgeladen und dadurch zum Probestein für unser Verständnis vom Menschen. Denn im Epilog erfahren wir, dass die ab 2020 allmählich umgesetzte Produktion des schönen neuen Menschen auf der Reproduktion von optimierten, aber identischen genetischen Codes besteht, so dass alle Menschen zu Brüdern im Gencode werden. Das geschlechtslose Humanum, das kein Leiden am Alter oder Tod mehr kennt, ist folglich das Produkt und Modell der „fraternité humaine“, aufgrund derer alle Menschen zu schönen neuen Menschen wurden: „D’autres critiques – probablement les plus profondes – se concentrèrent sur le fait qu’au sein de la nouvelle espèce créée à partir des travaux de Djerzinski, tous les individus seraient porteurs du même code génétique; un des éléments fondamentaux de la personnalité humaine allait donc disparaître. À cela Hubczejak répondait avec fougue que cette individualité génétique dont nous étions, par un retournement tragique, si ridiculement fiers, était précisément la source de la plus grande partie de nos malheurs. À l’idée que la personnalité humaine était en danger de disparaître il opposait l’exemple concret et observable des vrais jumeaux, lesquels développent en effet, par le biais de leur histoire individuelle, et malgré un patrimoine génétique rigoureusement identique,

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des personnalités propres, tout en restant reliés par une mystérieuse fraternité – fraternité qui était justement, selon Hubczejak, l’élément le plus nécessaire à la reconstruction d’une humanité réconciliée.“ (Houellebecq 1998: 312) „Andere kritische Äußerungen – vermutlich die schwerwiegendsten – konzentrierten sich darauf, dass innerhalb der neuen Spezies, die auf der Grundlage von Djerzinskis Arbeiten geschaffen würde, alle Individuen denselben genetischen Code besitzen würden; eines der grundlegenden Elemente der menschlichen Persönlichkeit würde folglich verschwinden. Dem hielt Hubczejak vehement entgegen, dass gerade diese genetische Individualität, auf die wir aufgrund eines tragischen Irrtums so lächerlich stolz waren, die Quelle fast all unserer Leiden sei. Der Befürchtung, dass die menschliche Persönlichkeit vom Verschwinden bedroht sei, hielt er das konkrete und einfach zu beobachtende Beispiel von eineiigen Zwillingen entgegen, die trotz einer in allen Einzelheiten identischen Erbmasse durch ihren individuellen Lebensweg völlig eigenständige Persönlichkeiten entwickeln, auch wenn sie durch eine rätselhafte Brüderlichkeit verbunden bleiben – eine Brüderlichkeit, die Hubczejak zufolge gerade das wichtigste Element für die Wiederherstellung einer ausgesöhnten Menschheit sei.“ (Houellebecq 2008: 375)

Dergestalt wird indes erstens die Behauptung des Prologs, dass unsere Gesellschaft der menschlichen Brüderlichkeit verlustig ging, ad absurdum geführt, da ein Konzept an die gegenwärtige Gesellschaft angelegt wird, das erst einer zukünftigen, optimierten Gemeinschaft zu Eigen sein wird. Die retrospektive Dystopie der Erzählinstanz entkleidet sich auf diese Weise und legt ihre eigenen Vorurteile gegen andere Gesellschaften bloß. Zweitens indiziert der Gebrauch des Adjektivs „humain“, der insbesondere im Epilog verstetigt wird, einen immanenten Legitimationszwang der schönen neuen Gemeinschaft, die durch die Verwendung des Adjektivs oberflächlich versucht, die substantielle Differenz zwischen dem alten Menschen und dem schönen neuen Humanum zu verdecken. Die scheinbar identische Verwendung markiert dementsprechend die grundlegende Differenz und fordert so die LeserInnen auf, das mögliche Zukünftige und das aktuell Eigene nicht nur als solche zu reflektieren, sondern auch zueinander in Bezug zu setzen, um aus der möglichen Zukunft Rückschlüsse auf die eigene Gegenwart zu ziehen. Die Spezifik dieser literarischen Arbeit am Menschenbild wird schließlich besonders augenfällig, wenn man versucht, Houellebecqs

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Roman literaturhistorisch zu verorten. Dann erkennt man, dass die vorliegende Repräsentationslogik aus dem Zusammenspiel von Beobachtung, Darstellung und Wissen vom Menschen an die Tradition der Moralistik anknüpft (vgl. van Delft 2005a und 2005b). In dieser wird, im Gegensatz zu nur mittelbar auf die Gegenwart bezogenen utopischen oder dystopischen Zukunftsmodellen, eine unmittelbare Beobachtung der sozialen Wirklichkeit in der Literatur in Szene gesetzt, die zwar den Anspruch auf Diagnostik der sozialen Zustände erhebt, ohne jedoch selbst ein Lösungsangebot zu unterbreiten. Vielmehr liegt der in der Fiktion geronnenen Repräsentation der Gesellschaft der Impetus zugrunde, die LeserInnen zur Reflexion ihrer Gegenwart anzuregen, um sich ihres Menschenbildes bewusst zu werden. Doch aktualisiert Houellebecq in den „Particules élémentaires“ nicht einfach ein tradiertes Modell der anthropologischen und ästhetischen Modellierung des Menschen, sondern reaktualisiert es grundsätzlich unter den Bedingungen unserer nachmodernen, technisierten Gesellschaft. Dementsprechend reflektiert der Roman die in den aktuellen Anthropologien geführten Debatten um die historisch erstmals vorhandene Möglichkeit des gentechnischen Eingriffs in den Menschen und seinen aktuellen Status, der ein neues Menschenbild möglich macht. Des Weiteren begründet der Roman die Moralistik neu, indem er sie an die sozialen und wissenschaftlichen Gegebenheiten der Gegenwart anbindet und diese so reflexiv in seine eigene Narration integriert (vgl. Steigerwald 2010). Die Bewertung des Verhältnisses der hellen und der dunklen Seiten der Optimierung wird dabei in ihrer Komplexität ausgefaltet: Indem der Mensch angesichts seiner Krise und ihrer neuen eugenischen Lösungsmöglichkeiten die Norm eines Lebens ohne Schwächen wie Alter, Einsamkeit und Konkurrenz umzusetzen vermag, schafft er nicht allein die Schattenseiten seiner Existenz ab, sondern den Menschen selbst, so dass die genetische Optimierung des Humanen zugleich seine Überwindung bedeutet.

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Nachwort

Optimierungstypen Ein provisorisches Nachwort zu Licht- und Schattenseiten von Menschenverbesserungsprogrammen J ÜRGEN S TRAUB

P ROJEKTE

ZWISCHEN WISSENSCHAFTLICH TECHNISCHER I NNOVATION , ALTHERGEBRACHTER A LLMACHTSPHANTASIE UND ALLZU MENSCHLICHER B EHÄBIGKEIT Es gibt allerlei Versuche der Optimierung des Menschen, die sich anhand ganz verschiedener Kriterien unterscheiden lassen (Straub/Sieben/Sabisch-Fechtelpeter, in diesem Band). Zu den besonders wichtigen Differenzierungen gehört die Abgrenzung zwischen ‚traditionellen‘ Weisen der Selbstformung (Selbstgestaltung, Selbstbildung etc.) und jenen jüngeren Modi einer wissenschafts- und technikbasierten Menschenverbesserung, welche bereits viele der bislang unüberschreitbar scheinenden Grenzen des Machbaren sukzessive verschieben, manchmal regelrecht sprengen. Es mag sein, dass diese Grenzziehung manchmal nur als akzentuierende Unterscheidung möglich ist (also Übergänge und Überlappungen zulässt, die logisch disjunkte Begriffe strikt ausschließen würden). Dennoch ist sie unerlässlich. Sie muss fortwährend gesucht, getroffen und fallspezifisch präzisiert werden. Andreas Woyke insistiert zurecht auf Besonderheiten des Human Enhancement, wenn er Trans- und Posthumanisten (wie zum

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Beispiel Nick Bostrom1) vorhält, gewichtige Differenzen zwischen diesem Typ der Optimierung und traditionellen Verbesserungen oder therapeutischen Maßnahmen im Sinne der Restitution eines ehemaligen Zustandes (bzw. der Heilung, Linderung von Leiden etc.) zu verwischen (Woyke 2010: 22 ff.).2 Er betont, dass die wissenschaftlich-technisch avancierten Methoden des (insbesondere biologisch fundierten) Human Enhancement in der Tendenz auf eine regelrechte ‚Züchtung‘ künftiger Lebewesen abzielen, die in bestimmten Hinsichten dem alten Menschen meilenweit überlegen sein werden (vgl. dazu auch Straub/Sabisch-Fechtelpeter/Sieben, in diesem Band). Bereits diese elementare Bestimmung des Begriffs lässt es geraten erscheinen, nicht jede Optimierung als Enhancement im heute geläufigen Sinn zu bezeichnen. Die gebotene Unterscheidung ist allerdings, wie gesagt, nicht immer ganz einfach. Dies zeigt an einem interessanten Beispiel Andreas Kaminski (2010). Der Autor zieht am Ende seiner vergleichenden Analyse eine ambivalente Bilanz: Die von ihm untersuchten psychologischen Theorien, empirischen Befunde und darin verwurzelte praktische Interventionen im Zeichen der Optimierung des Menschen teilen zwar einige Voraussetzungen und Ziele des (naturwissenschaftlich-technisch bewerkstelligten) Human Enhancement. Sie bescheiden sich aber letztlich mit konkreten Leistungssteigerungen und funktionalen Verbesserungen im gewohnten Rahmen etablierter menschlicher Fähigkeiten und Fertigkeiten. Sie schaffen also kaum etwas wirklich Neues, schon gar nicht einen ‚neuen Men-

1

Siehe Nick Bostrom (2007) sowie Nick Bostrom und Rebecka Roache (2007). Ähnlich klingt es bei Robert Ranisch und Julian Savulescu (2009) sowie vielen, sehr vielen anderen. Aufschlussreich sind etwa Texte von Henry Greely, Miachel Gazzaniga und Martha J. Farah oder Thorsten Galert, Bettina Schöne-Seifert, Reinhard Merkel und Davinia Talbot; vgl. dazu Müller (2010: 33 ff.), der mit deren pseudo-ethischen Apologien des Human Enhancement – einer Verteidigung z.B. so gut wie aller NeuroEnhancement-Präparate – scharf ins Gericht geht, wenn er sie als ancilla technologiae kritisiert.

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Vgl. dazu auch (knapp zusammenfassend): Roland Kipke (2009), grundlegend und ausführlich: Kipke (2011); siehe auch seinen Beitrag in diesem Band. Weitere Literaturangaben finden sich zudem im Vorwort und in der Einleitung der HerausgeberInnen, so dass ich an dieser Stelle und im Folgenden nur ganz spärlich informiere.

O PTIMIERUNGSTYPEN

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schen‘ – dem sein ehemaliger Körper, sein aus den Kindertagen der Menschheit mitgeschleppter Leib und seine ‚gute alte Seele‘ sukzessive abhandenkämen im Zuge des fortschreitenden Enhancement. Wirklich Neues machen dagegen die Lebenswissenschaften unserer Tage. Hier erscheint das Neue nicht allein in Gestalt des verbesserten Alten. Das wissen ihre avancierten VertreterInnen und prominenten RepräsentantInnen selbst am besten. Manche von ihnen machen aus ihren überschießenden Ambitionen auch gar keinen Hehl – ganz im Gegenteil, sie feiern diesen Ehrgeiz und die aufregenden Aussichten emphatisch. Dabei mag dahingestellt bleiben, ob alles vorsichtig Antizipierte oder visionär Entworfene tatsächlich realistisch ist. Neben den zurückhaltenden und bescheidenen Gemütern kennt die Öffentlichkeit längst jene Wissenschaftler (und seltener Wissenschaftlerinnen), welche auch Marktgeschrei veranstalten, um öffentliche Aufmerksamkeit und politisches Interesse zu erregen sowie in den Genuss von Fördermitteln oder sogar privatem Profit zu gelangen. Festzuhalten ist: In diesem Feld der lebenswissenschaftlichen Avantgarde zielt die Optimierung und Vervollkommnung des Humanen, wie VertreterInnen post- und transhumanistischer Weltanschauungen lautstark erklären, letztlich auf die Überwindung und Abschaffung des Menschen. Der Mensch hat sich in dieser utopischen Perspektive schlicht überlebt, jedoch dabei selbst dafür gesorgt, dass ‚sein‘ Leben in transformierter Gestalt weitergehen kann. Die strukturellen (biologischen) Voraussetzungen bescheren dem neuen Lebewesen dabei eine funktionale Vollkommenheit, die, wie es manche Visionäre verheißen, im Modus der Unsterblichkeit vielleicht sogar unendlich andauern wird. Das kaum versteckte Vorbild dieser Vision ist die perfekte Maschine.3

3

Vgl. dazu Straub/Sieben/Sabisch-Fechtelpeter, in diesem Band, wo sich weitere Literaturangaben finden. Zur historischen Herkunft der post- und transhumanistischen Idee einer wissenschaftlich-technisch bewerkstelligten Vervollkommnung und Überwindung des Menschen vgl. Oliver Krügers (2004, 2010) Ausführungen zum Vorbild des „L’homme machine“ seit dem 17. Jahrhundert. Dieses Vorbild wurde in den im 20. Jahrhundert prosperierenden „normativ posthumanistischen Utopien“ (Krüger 2010: 107) eines Hans Moravec (Robotik), Frank Tipler (Physik), Marvin Minsky (Informatik, Kybernetik), sodann eines Raymund Kurzweil (ITBranche) kraftvoll und begeistert weiterentwickelt. Die technozentrische, technikeuphorische Anrufung der Maschine, die hier als Maß des Men-

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Insofern das Human Enhancement diesem Ziel einer radikalen, optimierenden Transformation des sich selbst abschaffenden Menschen dient, erscheint es einigen als gut und schön. Zu erwartende Hürden und Schwierigkeiten sollten, so sehen es manche, das Projekt als solches nicht in Frage stellen. Die ausgetauschten Argumente brauchen hier im Einzelnen nicht wiederholt zu werden. Erinnert sei lediglich an einen Punkt, der keineswegs marginal ist. Er erscheint heutzutage vielmehr als ein besonders wichtiger Aspekt der Selbstverständigung des Menschen. Ganz unabhängig von der geläufigen Kritik an der mitunter dürftigen Argumentation in apologetischen Texten von Natur- bzw. NeurowissenschaftlerInnen (und sogar in manchen philosophischen Legitimationsbemühungen von BioethikerInnen) liegt es nahe, die im Betrieb der Lebenswissenschaften und Biotechnologien häufiger ins Spiel kommenden Fortschrittsmythen und Vollkommenheitsphantasmen – in psychologischer bzw. psychoanalytischer Perspektive – als Ausdruck narzisstischer Größen- und Allmachtsphantasien zu deuten. Die rhetorisch-suggestiven Formeln, nach denen zunehmend omnipotente Menschen den „nicht würfelnden“ Gott schon bald ablösen oder die nach Naturgesetzen verlaufende Evolution fortan selbst in die Hand nehmen werden, sind bezeichnende und selbstredende Zeugnisse. Ihre erste Auslegung im angedeuteten Sinn bedarf

schen triumphiert, beruht auf einem radikalen Materialismus und Physikalismus (in der Tradition insbesondere von Julien Offray de La Metrie, der bereits in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wegweisende Schriften publizierte). An dieser Deutung kann man auch dann festhalten, wenn man das informationstheoretisch-kybernetische Paradigma und jenen darin begründeten Computationalismus berücksichtigt, welcher informationsverarbeitende Prozesse und Rechenprogramme ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Auch als (intelligente, logische) Denkmaschinen bleiben Menschen Maschinen, wie die Pionierarbeiten z.B. von Alan Touring, John von Neumann, Claude Shannon oder Norbert Wiener nahelegten oder bereits behaupteten; vgl. hierzu Krügers (2010: 119 ff.) kurze Reminiszenz an das 1943 veröffentlichte „Cybernetik Manifesto“ von Norbert Wiener, Julian Bigelow und Arturo Rosenblueth. Wiener hatte sich später allerdings von der post- und transhumanistischen Gleichsetzung von Mensch und Maschine losgesagt und diese reduktionistische, analogisierende und nivellierende ‚Degradierung‘ des spezifisch Menschlichen sogar als faschistische Ideologie gebrandmarkt.

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keiner besonders subtilen Theorie und ausgefeilten Interpretationsmethodik. Die fast mit Händen zu greifenden Artikulationen narzisstischer Größen- und Allmachtsphantasien verdienen gleichwohl stärkere Beachtung und Beobachtung.4 Im Folgenden soll ein anderer Aspekt noch etwas genauer betrachtet werden. Er steht im Zentrum nicht zuletzt ethisch-moralischer, politischer und pädagogischer Diskurse. Die Ausgangslage ist hinreichend bekannt: Einige der lebenswissenschaftlich fundierten Maßnahmen setzen an Erbanlagen an oder manipulieren neurophysiologische Strukturen und Prozesse (insbesondere im Gehirn) mit dem übergeordneten Ziel eines radikal ansetzenden Menschen-Machens. Medikamentös induzierte Modifikationen gehören dabei noch zu den ‚harmloseren‘ Varianten. Sie eignen sich indes schon sehr gut dazu, helle und dunkle Seiten der Optimierung und Normierung des Humanen exemplarisch zu erörtern – und die im Titel dieses Beitrags bereits in Anspruch genommene Unterscheidung etwas genauer zu klären. Sie lenken unseren Blick dabei nicht zuletzt auf die keineswegs ungewöhnliche Bequemlichkeit etwas behäbiger Menschen, die sich manchmal lieber modifizieren lassen als selbst verändern. Es ist nicht verwunderlich, dass technisch bewerkstelligte Optimierungen zumindest auf den ersten Blick attraktiver erscheinen als solche, die an die Mühsal eigenen Handelns, an ausdauerndes Üben und langsames Lernen gekoppelt sind.

4

Zum Phänomen des (primären und sekundären) Narzissmus vgl. etwa Sigmund Freud (1924); außerdem etwa Kohut (1973), Kernberg (2005). Wie die am Tropfen der Macht hängende Politik im Übermaß narzisstische Persönlichkeiten anzieht und diese psychische Struktur bedient und fördert (Wirth 2002), so laden auch manche wissenschaftlichen Projekte und Praktiken zur Mobilisierung narzisstischer Energien geradezu ein. In exzessiver Weise ist das wohl gerade auch dort der Fall, wo es ums Menschen-Machen geht.

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N EURO -E NHANCEMENT UND ‚ TRADITIONELLE ‘ S ELBSTFORMUNG Nehmen wir ein konkretes Beispiel, das auf die Manipulation und Modifikation psychischer Merkmale (bis hin zu Persönlichkeitseigenschaften) durch physiologische Eingriffe bzw. eine Medikamentierung des Körpers setzt. Es gibt bekanntlich längst pharmazeutische Mittel, die auf die Veränderung von kognitiven Fähigkeiten, emotionalen Zuständen und sogar komplexen Persönlichkeitsmerkmalen abzielen. Ursprünglich zur Therapie von Beeinträchtigungen und Krankheiten entwickelt, dienen sie längst der Optimierung des Potentials von gesunden Personen und ziemlich normalen Leuten. Sie steigern z.B. deren Konzentrationsfähigkeit (Metylphenidat alias Ritalin) oder Vigilanz (Modafinil) oder hellen trübe Stimmungen auf (Fluoxetin alias Fluctin/Prozac). Insbesondere für die an Demenz oder leichteren Beeinträchtigungen leidenden Alten gibt es Mittel zur Verbesserung der Gedächtnisleistungen, damit auch diese Klientel nicht ganz zum alten Eisen zählen muss (und sogar weiterhin am lebenslangen Wettbewerb um kognitive und sonstige Kompetenzen teilnehmen kann. Dieser Wettbewerb wird übrigens auch durch psychologische Forschungsprogramme gestützt und befördert, etwa durch die keineswegs völlig neutrale und ganz harmlose „Weisheitsforschung“, die z.B. auch „erfolgreiches Altern“ vorsieht) (Vgl. z.B. Baltes 1994; Baltes/Smith/Staudinger 1992; Staudinger/Baltes 1996). Die Pharmazeutika besitzen – ihre Wirksamkeit einmal vorausgesetzt – den unter Gesichtspunkten der Zeitersparnis und Effizienz ganz offenkundigen Vorteil, dass z.B. Leistungssteigerungen nicht mehr an Lernen und Üben gekoppelt sind, an ‚lebenslanges‘ Pauken und Trainieren gar. Die Einnahme von Pillen genügt – nicht mehr nur um Schmerzen zu beseitigen oder den natürlichen Verlauf von Krankheiten zu stoppen, zumindest (symptomatisch) zu modifizieren, sondern auch, um unzulängliche Erlebnis- und Handlungspotentiale oder unzureichende Kompetenzen aufzupäppeln (vgl. zum Kompetenzdiskurs Reichenbach, in diesem Band). Die Angebotspalette und der AdressatInnenkreis sind dabei denkbar weit. Offerten zum Neuro-Enhancement richten sich an Kinder, Jugendliche, Erwachsene jeden Alters, auch Greise. Sie machen Menschen in jeweils bestimmten Hinsichten besser, nach ärztlichem Rezept – die Arzneimittel sind verschreibungspflichtig – und beinahe wie auf Knopfdruck (wenngleich mit teilweise

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beträchtlichen Nebenfolgen). Neuro-Enhancements stellen aufmerksame und konzentrierte, ruhige und ausgeglichene, bescheidene und zufriedene, motivierte und agile, kurz: funktionierende Personen in Aussicht. Sie scheinen selbst dann noch verlockend, wenn sie sich bereits häufiger als leere Versprechen entpuppten. Doping für alle, möglichst ohne rigide Kontrolle und ganz nach individuellem Bedarf, das scheint heute die Devise für eine Kultur und Gesellschaft zu sein, in welcher der alle Grenzen permanent verschiebende Leistungssport unversehens zum generalisierten Vorbild und allgemeinen Maß der Dinge geworden ist. Neuro-Enhancements erhöhen nicht nur das individuelle Erlebnisund Handlungspotential, sondern auch die soziale Verträglichkeit und Akzeptabilität oder die Konkurrenzfähigkeit von kompetenter gewordenen Personen. Was also spricht womöglich dagegen? Gibt es ethische, moralische, vielleicht politische Einwände (die z.B. soziologisches, psychologisches Wissen voraussetzen) gegen die pharmakologisch erleichterte Selbstoptimierung von Personen, die nach den verfügbaren Medikamenten für Gesunde womöglich lechzen? Kipke (2009, ausführlicher 2011) sortiert die Argumente wie folgt (ich lehne mich an seine Darstellung an, übernehme das Wichtigste und ergänze das eine oder andere): • Die bloße Artifizialität des Neuro-Enhancement ist offensichtlich

kein überzeugender Einwand, greifen Menschen doch auch sonst in die Natur und ihre Abläufe ein und gefallen sich gerade darin sehr. Häufig begrüßen sie das mit technischen Mitteln Erreichte, manchmal mit guten Gründen, als ethisch-moralischen Fortschritt (z.B. im Fall der erfolgreichen Bekämpfung von Krankheiten, Schmerzen oder Hunger). Zur Natur des Menschen gehören nun eben einmal die Werkzeuge der Kultur, die es gestatten, Natürliches zu ändern, zu zerstören oder zu erweitern, mithin Künstliches zu schaffen (auch in Gestalt des absichtlich Naturbelassenen, wozu mitunter erheblicher Aufwand nötig ist in der modernen Welt). ‚Unnatürliches‘, soweit es das gibt in der von ihm selbst mitgeschaffenen Welt des Menschen, kann bekanntlich ‚wunderbar‘ sein (schön, nützlich, hilfreich, lebensrettend usw.). Die in Aussicht stehende ‚Artifizialität‘ des (gesamten) Menschen selbst macht da keine Ausnahme. Seiner künstlichen Natur gemäß kann der Mensch sich selbst ändern, tut das unentwegt und soll das mitunter ruhig tun (Kegler/Kerner 2002). Ideo-

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logien des Natürlichen haben schon oft genug Monster geboren. Sie sind sicher kein Patentrezept gegen rezeptpflichtige Neuro-Enhancements. Sie liefern kaum überzeugende Argumente und erhellende Einsichten, die uns über mögliche Schattenseiten von Optimierungsprogrammen aufklären könnten. Auch einer (offenen oder verdeckten, nicht selten etwas suggestiven) Resakralisierung der Natur sollte man demgemäß mit Skepsis begegnen. Eine von reflektierender Urteilskraft und phronetischer Vernunft Gebrauch machende Hermeneutik des Verdachts verrichtet hier zweifellos gute Dienste. • Mögliche schädliche Folgen für die Gesellschaft kann das NeuroEnhancement gleichwohl zeitigen. Allerdings ist die Lage verzwickt, die Argumentationslage komplex. Denen, die eine weitere Stabilisierung und Steigerung sozialer Ungleichheit befürchten, ist entgegenzuhalten: diese die soziale Ader und das Gerechtigkeitsgefühl störende Entwicklung ist keineswegs unumgänglich. Selbst wenn es möglich und sogar wahrscheinlich ist, dass der Luxus des Neuro-Enhancement – jedenfalls der wirksamsten, jeweils neuesten ‚Superpillen‘ – wohlhabenderen Schichten vorbehalten bliebe, die sich so Wettbewerbsvorteile erkaufen und sich zu noch „konzentrierteren, leistungsfähigeren, ausgeglicheneren Menschen“ machen könnten (Kipke 2009: 214), lassen sich Alternativen zumindest ausmalen. So könnte eine sozialstaatliche Neuro-Enhancement-Politik bemüht sein, just die Potentiale der Schwachen und Unterprivilegierten zu fördern, ihre Ressourcen, Fähigkeiten und Fertigkeiten auf das Niveau des ‚normalisierten‘ und zum Maßstab erklärten ‚Durchschnittsmenschen‘ anzuheben. Sie könnte zumindest dafür sorgen, dass die ohnehin Benachteiligten nicht noch mehr ins Hintertreffen geraten. Dazu wäre es freilich nötig, den Zugang zum Markt zu kontrollieren – eine offenbar etwas autoritäre Idee mit dem Zeug zum Totalitarismus, obendrein kostspielig und alles in allem ziemlich unrealistisch. Realistischer ist dagegen, dass die wachsenden Möglichkeiten gezielten Neuro-Enhancements so gut wie alle Leute gewaltig unter Druck setzen werden.5 Das ist angesichts der normierenden und normalisierenden Wirkung aller öffentlich diskutierten Optimierungsprogramme ein in seiner Bedeutung kaum

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Das betonen viele AutorInnen; vgl. Schäfer/Groß 2008, die sich (wie Kipke) im Deutschen Ärzteblatt auch in allgemeinverständlicher Weise an die interessierte Öffentlichkeit wenden.

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zu überschätzender Gesichtspunkt (den entsprechend viele AutorInnen hervorheben). Die industriell erzeugten, massenmedial umworbenen und professionell vermarkteten Optimierungspotentiale lassen, das ist auch in diesem Fall zu erwarten, auf lange Sicht kaum jemanden in Ruhe, einfach ‚bei sich‘ verweilen und gelassen abwarten. Immer neue Modi und Mittel der Optimierung (von kontinuierlich erweiterten Aspekten des objektivierten Humanen) verschieben bisher verbindliche Standards, ruckartig oder eher unmerklich. Sie erzeugen immensen sozialen Druck, und zwar gerade dann, wenn die medikamentöse (oder allgemein ‚technisch‘) induzierte Optimierung leicht handhabbar und dabei effektiv erscheint. Vielleicht entfaltet sich dieser allgemeine Erwartungszwang sogar schon heute in einer vergleichsweise geschlechtsunabhängigen Form, was ein historisches Novum und eine durchaus zweifelhafte Überwindung dieser Dimension sozialer Ungleichheit darstellt. Medikamentöse Präparate der besagten Art schüren die Erwartung, der in Aussicht gestellten Vorteile wegen werden sich schon bald alle anpassen. Also müsse man – egal ob jung oder alt – wohl auch selbst mit von der Partie sein und, sich den Innovationen und neuen Moden gemäß optimierend, die sich permanent verschiebende Norm erfüllen. Das ist umso mehr der Fall, je besser das Neuro-Enhancement tatsächlich funktioniert, das Erlebnis- und Handlungspotential von Menschen also (zumindest kurzfristig) tatsächlich stärkt (wie das Doping im Hochleistungssport oder das Ritalin bei vielen Studierenden, wie Kipke anmerkt). Es liegt auf der Hand, dass ganze Gesellschaften ein normierendes Leistungs- und Konkurrenzethos etablieren und kultivieren können, das einer Art ‚kollektivem Wahn‘ bedenklich nahe kommen mag (wie der in der Alltagssprache keineswegs zufällig so genannte „Jugendlichkeitswahn“ exemplarisch zeigt). Man wird wohl zögern, derartige Entwicklungen einfach nur gutzuheißen. Dasselbe gilt für andere durchaus denkbare gesellschaftliche Effekte wie etwa die Folgen, die Militärs herbeisehnen, wenn sie sich angstfreie und nur wenig Schlaf benötigende Soldaten wünschen (oder solche Kreaturen zu machen sich anschicken). • Auch mögliche schädliche Folgen für den Einzelnen und seine persönlichen Beziehungen sind nicht von der Hand zu weisen, selbst wenn die Entscheidung zum Neuro-Enhancement mehr oder weniger selbstbestimmt gefällt wurde (zwangsweise verordnete Medikamente sind zwar nicht immer, aber in bestimmten Fällen offenkun-

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dig selbst schon Bestandteil einer gewaltförmigen Beschädigung einer Person, insofern diese dadurch in ihren Freiheits- und Autonomiepotentialen beschnitten wird). Kipke schätzt die Dinge nüchtern ein, wenn er beim gegenwärtigen Stand der Forschung und verfügbarer Pharmazeutika zwar noch keinen radikalen Umbau von Persönlichkeiten an die Wand malt, aber doch davor warnt, dass deren Selbstbestimmungspotential untergraben werden könnte. Wer einzelne Persönlichkeitsmerkmale medikamentös manipuliert (oder durch andere äußere Eingriffe verändern lässt), destabilisiert nämlich jenes eigene Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein eines Individuums, welches seine ‚Stärke‘ gemeinhin aus Erfahrungen der Selbstwirksamkeit schöpft. Sich nicht aus eigenem Willen und eigener Kraft ändern zu können (bzw. dies nicht geschafft zu haben), erschüttert bekanntlich sehr leicht den ‚Glauben an sich selbst‘. (Diese unliebsame, manchmal sehr schleichend und spät sich einstellende Folge kennen viele ja bereits von der Einnahme ‚natürlicher‘ Stimulantien, Sedativa, Stimmungsaufheller, Nutrazeutika oder Phytotherapeutika.) Wer sich trotz bestem Vorsatz nicht ‚in den Griff bekommt‘, sich weiterhin gehen und resigniert so sein lässt, wie er oder sie nun eben einmal (geworden) ist, täuscht sich entweder über seine Vorsätze, nimmt sich also nicht wirklich ernst (Frankfurt 2007), oder ist nicht in der Lage zu tun und zu lassen, was dem eigenen Wunsch und Willen eigentlich entspräche. In diesem Fall wirkt das schnelle Mittel des Neuro-Enhancement wie Gift. Das probat erscheinende Mittel zur Modifikation von Persönlichkeitsmerkmalen schürt womöglich (weitere) Selbstzweifel gegen das eigene Selbst, untergräbt das Autonomiepotential und nährt resignative Stimmungen. Dieser negative Effekt lässt sich heutzutage bereits bei Schlafmitteln beobachten, die den Betroffenen zwar kurzfristig Schlaf bescheren, langfristig jedoch ihr Vertrauen in ihre eigenen Einschlaf- und Durchschlaffähigkeiten verringern und so mitunter zu einer Verstärkung des Gesamtproblems führen. Menschen können sich auch auf diese Weise selbst verletzen. Sie können sich beschädigen, wenn sie ihren Wünschen und Volitionen auf Dauer nicht gerecht werden (Wünschen bzw. Volitionen erster und zweiter Ordnung sensu Harry Frankfurt bzw., auf dessen Arbeiten sich beziehend, Charles Taylor 1988). Das ist das Gegenstück jener das eigene Selbst gängelnden und rigide eingrenzenden Disziplin, die dem Selbst keinerlei Raum lässt, in spontaner und kreativer Weise

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eigene Grenzen zu transzendieren, auch Grenzen des Vorstellbaren, der mitgebrachten Werte und Ideale. So zerstörerisch dies sein kann, so sehr mag die medikamentöse Modifikation von Persönlichkeitsmerkmalen wichtige Eigenschaften unterminieren und sabotieren, die für unser Selbstgefühl und Selbstbewusstsein gemeinhin wichtig sind. Man denke an Eigenschaften wie Neugierde und Interesse, Anstrengungs- und Lernbereitschaft, Ausdauer und Durchhaltevermögen, Resilienz nicht zuletzt. Es ist wohl nach allgemeiner Lebenserfahrung für die Entwicklung einer ‚vitalen Persönlichkeit‘ bedeutsam, gerade dann ‚weiterzumachen‘, die eigenen Anliegen und Ziele und damit in gewisser Weise sich selbst nicht aufzugeben, wenn es ‚hart‘ wird, wenn Rückschläge drohen und Niederlagen die eigenen Bemühungen beschweren. Oder man denke an die ebenfalls nicht ganz unwichtige, bereits erwähnte Fähigkeit, sich im Denken, Fühlen und Handeln selbst ernst zu nehmen. Dass gerade solche Eigenschaften durch Neuro-Enhancement gestärkt werden könnten, ist unwahrscheinlich. Die Einnahme von Pillen müsste dann ja in paradoxer Weise auf ihre Abschaffung oder wenigstens die Marginalisierung ihrer Bedeutung für das betreffende Subjekt hinauslaufen. Just das ist eben eine bis auf weiteres ziemlich unrealistische, obendrein riskante Annahme. (Wahrscheinlicher sind psychische und physische Abhängigkeiten der altbekannten Art sowie langfristige, ‚im Moment‘ noch unbekannte Folgen und Nebenfolgen bzw. ‚Spätschäden‘). • Das ist der in diesem Zusammenhang wohl entscheidende (und noch etwas genauer zu betrachtende) Punkt, an dem das ‚gute alte Lernen‘, die durch eigene Anstrengung womöglich nur sehr allmählich erlangte Selbstbildung oder Selbstformung zumal, als nach wie vor attraktive Alternative erscheinen mögen. Dabei geht es nicht nur um Fragen einer abgehobenen Ethik und Moralphilosophie (oder einer ebenso subtilen Ästhetik der Existenz), sondern um Angelegenheiten, die so gut wie alle Menschen auf der Grundlage ihrer Lebenserfahrung sowie mit Mitteln ihrer phronetischen Vernunft und narrativen Intelligenz erwägen können (Bruner 1986; Ricœur 1985; dazu Straub 1998: 156 ff.) – und das faktisch auch immer wieder tun im Lauf ihres kontingenten, von Zufällen regelrecht ‚bevölkerten‘ Lebens. Die ‚traditionelle‘ Alternative ist zwar auf den ersten Blick weniger verlockend und verführerisch. Sie führt aber über kurz oder lang oftmals zu mehr und einem qualitativ andersartigen, mittel-

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und langfristig womöglich ‚überlegenen‘, nachhaltigeren Ergebnis als eine Pille (oder andere neurowissenschaftliche Empfehlungen und neurotechnische Eingriffe). Das hat einen einfachen Grund. Die traditionelle Selbstformung ist nämlich in der Lebensgeschichte eines Subjekts sowie seiner Selbsterfahrung verankert und bleibt in diese integriert: „Neuro-Enhancement-Eingriffe dagegen sind völlig unvermittelt möglich, aufgrund eines Angebots, einer Mode, eines unbedachten Entschlusses oder auch aufgrund von sozialem Druck“ (Kipke 2009: 215). • Daran liegt es, dass die erfolgte Modifikation und ihr Ergebnis, das veränderte Persönlichkeitsmerkmal etwa, weniger als etwas Eigenes erlebt werden können. Die als Optimierung intendierte Veränderung wird vielmehr zum Dreh- und Angelpunkt einer durch Selbsttechnisierung nolens volens ins Werk gesetzten Selbstentfremdung, die dem Gefühl und Bewusstsein, eine bestimmte Person mit bestimmten Merkmalen zu sein, sein zu wollen und sein zu können, die Erfahrungsgrundlage raubt (vgl. Straub/Sieben/Sabisch-Fechtelpeter, in diesem Band, wo auf weitere Literatur zu diesem Thema verwiesen wird). Das kann nicht nur ein irritierendes Problem im kommunikativen Selbstverhältnis einer Person erzeugen, sondern auch in deren Beziehungen zu anderen. InteraktionspartnerInnen, nahestehende Personen wie FreundInnen oder LebenspartnerInnen zumal, mögen den neuen Errungenschaften nämlich ebenfalls wie Fremdkörpern begegnen. Solche Fremdkörper sind in ihrer Genese nicht nachvollziehbar und können demzufolge dem Subjekt im Grunde genommen nicht als etwas Eigenes, als ein integraler Bestandteil des Selbst und seiner Geschichte zugeschrieben werden. Das verändert unweigerlich die Reaktionen signifikanter Anderer auf diese modifizierte, optimierte Person (wie bereits die uns allen vertrauten Reaktionen gegenüber Betrunkenen oder unter Drogen stehenden AkteurInnen zeigen, die solche Zustände bekanntlich durchaus als Gewinn werten mögen, etwa weil sie sich so von quälender Angst oder hemmender Scheu befreit fühlen. Man kann sich ausmalen, was es bedeuten mag, dass ein derartig zeitlich begrenzter, schnell vorübergehender Wechsel im Verhaltensrepertoire von Interaktionspartnern auf Dauer gestellt werden muss, weil das Gegenüber über ein kontinuierlich bzw. nachhaltig optimiertes Selbst verfügt.).

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• Die Folgen des Neuroenhancement für eine Person und ihre Be-

ziehungen sind am Ende nicht bloß Angelegenheiten, die deren Identität und Individualität untergraben können und womöglich auflösen mögen. Auf einer von den Einzelfällen losgelösten Ebene zersetzen sie nämlich auch ‚unser‘ Menschenbild, insofern dieses von der (und sei es ‚illusionären‘) Vorstellung zehrt, wir seien zur (wie auch immer limitierten) Freiheit verurteilt und deswegen für unser Handeln verantwortlich. Diese Subversion wäre weit mehr als ein Angriff auf die Naivität des alltagsweltlichen Bewusstseins von Leuten, die einen dumpfen ‚Humanismus‘ für unentbehrlich halten. Es wäre nicht zuletzt ein Affront gegenüber grundlegenden gesellschaftlichen Institutionen wie etwa einem Rechtssystem, das ohne die Idee der begrenzten Freiheit und partiellen Autonomie kaum auskäme. Gemeinsam mit dem Zerfall dieser Idee verschwänden ja zwangsläufig auch alle für ihr Tun und Lassen verantwortlichen und haftbar zu machenden Personen von der Bühne des Geschehens. Nun, diese Betrachtungen klingen natürlich ein wenig nach einem Loblied auf die autonome, aus Erfahrung und Lernen erwachsende Selbstformung oder Selbstbildung. Idyllische, vielleicht sogar ein wenig naive Töne sind da kaum zu überhören. Dennoch, so scheint es heute, wird es gegenwärtig und in Zukunft immer wieder gerade auch um solche akzentuierenden, durchaus idealtypischen Unterscheidungen gehen, wenn man helle und dunkle Seiten von Optimierungsund Normierungsvorgängen in einer sehr grundsätzlichen Perspektive analysieren und bewerten möchte. Licht und Schatten der Verbesserung des zumal gesunden Menschen haben zumindest einiges mit dieser Unterscheidung verschiedener Typen der Optimierung zu schaffen. Interessant an ihr ist im Übrigen nicht zuletzt, dass sie eher ein Kontinuum markiert als disjunkte, strikt oppositionelle Pole. Das zeigen etwa alle Unternehmungen, die bei der durch Selbstbildung und Selbstformung bewerkstelligten Optimierung und Normierung auf manchmal gar nicht so harmlosen mäeutischen Beistand abzielen. Die aus dem Bereich der (Psycho-)Therapien ausscherenden Beratungen und Behandlungen aller Art sind dafür das vielleicht prominenteste Beispiel. Es wurde am Anfang dieses Beitrags darauf hingewiesen, dass es mitunter gar nicht so einfach ist, traditionelle Formen der Selbstfor-

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mung und Selbstbildung von den jüngsten Techniken des Human Enhancement klar abzugrenzen. Auch bei der Anwendung von Psychotechniken geht es oftmals nicht nur um eine bloße Hilfe zur Selbsthilfe oder eine Art der Selbstverwirklichung, die das Autonomiepotential des Subjekts völlig unangetastet ließe (oder lediglich zu steigern vermöchte). Auch das wird man bei jedem gegen tendenziell uferlose Formen der Selbsttechnisierung vorgetragenen „Lob der Selbstformung“ zu beachten und zu bedenken haben. Jeder Imperativ nach dem Muster „Du musst Dein Leben ändern!“ hat so seine Schlag- und Schattenseiten. Es liegt jedoch nahe, gegenwärtig vor allem dort mit Skepsis aufzuwarten, wo Empfehlungen und Eingriffe darauf abzielen, die leidigen Kontingenzen im menschlichen Leben nicht bloß zu bewältigen, sondern vielmehr zu beseitigen (Gethmann 2008). Es gibt gute Gründe dafür, insbesondere der zwielichtigen, von narzisstischen Allmachtsphantasien gespeisten Sehnsucht nach einer Anästhetisierung der Endlichkeitserfahrung (Müller 2010: 116) nicht vorschnell nachzugeben. Eine derartige Nachgiebigkeit kann nämlich durchaus bedeuten, sich selbst aufzugeben. Ob und wann genau es begründeten Anlass für diese Skepsis gibt: zur Klärung dieser Frage können die empirischen Sozial- und Kulturwissenschaften, die das Erleben von Subjekten ernst nehmen und zur Sprache bringen, zweifellos noch einiges beitragen.

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Woyke, Andreas (2010): „Human Enhancement und seine Bewertung – Eine kleine Skizze“, in: Christopher Coenen/Stefan Gammel/ Reinhard Heil/Andreas Woyke (Hg.), Die Debatte über „Human Enhancement“. Historische, philosophische und ethische Aspekte der technologischen Verbesserung des Menschen, Bielefeld: transcript, S. 21-38.

Autorinnen und Autoren

Maik Arnold, Dr., ist Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie an der Ruhr-Universität Bochum sowie Senior Researcher am Centrum für Religionswissenschaftliche Studien der Ruhr-Universität Bochum (CERES). Ausgewählte Publikationen: Das religiöse Selbst in der Mission. Eine kulturpsychologische Analyse missionarischen Handelns deutscher Protestanten (Hamburg: Kovac 2010); Acting as Missionaries: The Religious Self in Intercultural Practice. Reading Autobiographical Narratives by Young Protestants through Symbolic Action Theory and Cultural Psychology (mit Jürgen Straub, in: Jacob van Belzen (Hg.), Autobiography and the Psychological Study of Religious Lives. Amsterdam: Rodopi 2009). Jens Elberfeld ist seit 2007 Doktorand an der Bielefeld International Graduate School in History and Sociology und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Historische Politikforschung von Prof. Dr. Willibald Steinmetz an der Universität Bielefeld. Ausgewählte Publikationen: Das schöne Selbst. Zur Genealogie des modernen Subjekts zwischen Ethik und Ästhetik (Hg., mit Marcus Otto, Bielefeld: transcript 2009); Das beratene Selbst. Zur Genealogie der Therapeutisierung in den „langen“ Siebzigern (Hg., mit Sabine Maasen, Pascal Eitler und Maik Tändler, Bielefeld: transcript 2011); Unterschichten, Frauen, Ausländer. Zur Normalisierung von Differenz in Familientherapie und -beratung, BRD 1960-1990 (in: Traverse. Zeitschrift für Geschichte, 3/2011). Marie Guthmüller, Dr., ist seit 2008 Postdoktorandin an der Romanistik der Ruhr-Universität Bochum. Zu ihren Publikationen zählen: Ästhetik von unten. Empirie und ästhetisches Wissen (Hg., mit Wolf-

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gang Klein, Tübingen: Francke 2006); Der Kampf um den Autor. Abgrenzungen und Interaktionen zwischen französischer Literaturkritik und Psychophysiologie 1858-1910 (Tübingen: Francke 2007); Zenos Triebökonomie. Zum Haushalt des Begehrens in Italo Svevos La coscienza di Zeno (in: Scientia Poetica. Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften 13, 2009). Roland Kipke, Dr., ist Philosoph und seit 2009 Wissenschaftlicher Koordinator des Internationalen Zentrums für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Universität Tübingen. Er forscht u.a. zu Fragen der Bioethik, der philosophischen Anthropologie, zur Theorie des guten Lebens und zu Grundfragen der angewandten und allgemeinen Ethik. Zu seinen wichtigsten Publikationen zählen: Besser werden. Eine ethische Untersuchung zu Selbstformung und Neuro-Enhancement (Paderborn: mentis 2011); Das ‚gute Leben‘ in der Bioethik (in: Ethik in der Medizin 2012, online first). Ralph Köhnen, Prof. Dr., ist seit 1999 Studienrat i.H. am Germanistischen Institut an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen wichtigen Publikationen zählen: Sehen als Textkultur. Intermediale Beziehungen zwischen Rilke und Cézanne (Bielefeld: Aisthesis 1995); Einführung in die Neuere deutsche Literaturwissenschaft (mit Benedikt Jeßing, Stuttgart/Weimar: Metzler, 3. Auflage 2012); Das optische Wissen. Mediologische Studien zu einer Geschichte des Sehens (München: Wilhelm Fink 2009). Agnieszka Komorowska ist seit 2008 Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für französische Literaturwissenschaft von Prof. Dr. Rudolf Behrens an der Ruhr-Universität Bochum, wo sie an einer Dissertation über Semantiken der Scham im zeitgenössischen französischen Roman arbeitet. Publikationen in Auswahl: Comment „restaurer les conditions de possibilité de l’amour“? La représentation des émotions dans Les particules élémentaires de Michel Houellebecq (in: Jörn Steigerwald und Agnieszka Komorowska (Hg.), Michel Houellebecq: Questions du réalisme d'aujourd'hui. Lendemains 142/43, 2011); Georges-Arthur Goldschmidts Selbstentwurf als Narcisse puni. Autobiographisches Schreiben im Spannungsfeld von Begehren und Raum (in: discussions 5, 2010).

A UTORINNEN

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Jürgen Link, em. Prof. Dr., ist Literaturwissenschaftler und war bis zu seiner Emeritierung 2005 Professor an der Technischen Universität Dortmund. Publikationen in Auswahl: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 4. Auflage 2009); Bangemachen gilt nicht. Auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee. Eine Vorerinnerung (Oberhausen: Asso Verlag 2008); Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe (Stuttgart: UTB, 6. Auflage 1997). Gala Rebane, Dr., ist seit 2009 Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie von Prof. Dr. Jürgen Straub an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen in Auswahl: Re-making the Italians. Collective Identities in the Contemporary Italian Historical Novel (Frankfurt a.M.: Peter Lang 2012); Deconstructing Deconstruction. Umberto Eco’s Baudolino as a Critique of Postmodernism (in: Gala Rebane, Katja Bendels und Nina Riedler (Hg.), Humanismus polyphon. Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung, Bielefeld: transcript 2009); The Flickering Light of Reason. Anna Maria Ortese’s Il cardillo addolorato (in: Gian Maria Annovi und Flora Ghezzo (Hg.), Celestial Geographies: A Critical Mapping of Anna Maria Ortese’s Work, Toronto: Toronto University Press 2012). Roland Reichenbach, Prof. Dr., ist seit 2008 Professor für Pädagogik an der Universität Basel und der Pädagogischen Fachhochschule für die Nordwestschweiz. Publikationen in Auswahl: Pädagogische Autorität. Macht und Vertrauen in der Erziehung (Stuttgart: Kohlhammer 2011); Die Psychologisierung der Pädagogik: Übel, Notwendigkeit oder Fehldiagnose (Hg., mit Fritz Oser, Weinheim: Juventa 2002); Demokratisches Selbst und dilettantisches Subjekt. Demokratische Bildung und Erziehung in der Spätmoderne (Münster: Waxmann 2001). Stefan Rieger, Prof. Dr., ist seit 2007 Professor für Kommunikationstheorie und Mediengeschichte im Institut für Medienwissenschaft an der Fakultät für Philologie der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen wichtigen Publikationen zählen: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001); Schall und Rauch. Eine Mediengeschichte der Kurve (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009); Richard Semon und/oder Aby War-

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burg: Mneme und/oder Mnemosyne (in: DVjs, 72. Sonderheft Medien des Gedächtnisses 1998). Nora Ruck, Dr., ist Lektorin an der Fakultät für Psychologie in Wien. Publikationen in Auswahl: Physiognomy, Reality Television and the Cosmetic Gaze (mit Bernadette Wegenstein, in: Body & Society 17/4, 2011); Gesichtete Devianzen. Normalisierung und Optimierung in evolutionspsychologischen Visualisierungsverfahren (in: kunsttexte.de – Sektion Bild Wissen Technik, 1.2011); Kritik und Psychologie. Ein verschlungenes Verhältnis (mit Thomas Slunecko und Julia Riegler, in: Unidämmerung – Sonderheft Psychologie und Gesellschaftskritik 133, 2010). Katja Sabisch-Fechtelpeter, Prof. Dr., ist seit 2008 Juniorprofessorin für Gender Studies an der Fakultät für Sozialwissenschaft der RuhrUniversität Bochum. Zu ihren wichtigsten Publikationen zählen: Menschenversuche. Eine Anthologie 1750-2000 (Hg., mit Nicolas Pethes, Marcus Krause und Birgit Griesecke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008); Das Weib als Versuchsperson. Medizinische Menschenexperimente im 19. Jahrhundert am Beispiel der Syphilisforschung (Bielefeld: transcript 2007). Anna Sieben ist seit 2008 Doktorandin und Lehrbeauftragte am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie von Prof. Dr. Jürgen Straub an der Ruhr-Universität Bochum. Publikationen in Auswahl: (Queer-)Feministische Psychologien (mit Julia Scholz, Gießen: Psychosozial-Verlag 2012); Heteronormative Pheromones? A Feminist Approach to Human Chemical Communication (in: Feminist Theory 12/3, 2011); Pheromonist_in (in: Netzwerk Körper (Hg.), What Can a Body Do? Praktiken und Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Campus 2012). Jörn Steigerwald, PD Dr., ist seit 2009 Heisenberg-Stipendiat der DFG an der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen wichtigen Publikationen zählen: Beatrices Lachen und Adams Zeichen. Dantes Begründung einer literarischen ‚anthropologia christiana‘ in der Divina Commedia (Paradiso I-XXVII) (in: Comparatio. Zeitschrift für Vergleichende Literaturwissenschaft 3/2, 2011); Michel Houellebecq: Questions du réalisme d’aujourd’hui. (Hg., mit Agnieszka Komo-

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rowska, Lendemains 142/43, 2011); Räume des Subjekts um 1800. Die Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik (Hg., mit Rudolf Behrens, Wiesbaden: Harrassowitz 2010). Jürgen Straub, Prof. Dr., ist seit 2008 Professor für Sozialtheorie und Sozialpsychologie in der Sektion Sozialpsychologie und Sozialanthropologie der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen wichtigen Publikationen zählen: Handbuch Interkulturelle Kommunikation und Kompetenz (Hg., mit Arne Weidemann und Doris Weidemann, Stuttgart: Metzler 2007); Handlung, Interpretation, Kritik. Grundzüge einer textwissenschaftlichen Handlungs- und Kulturpsychologie (Berlin, New York: de Gruyter 1999); Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte (Hg., Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998).

Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Anna Sieben, Katja Sabisch-Fechtelpeter, Jürgen Straub (Hg.) Menschen machen Die hellen und die dunklen Seiten humanwissenschaftlicher Optimierungsprogramme Juli 2012, 498 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1700-7

Jürgen Straub Der sich selbst verwirklichende Mensch Über den Humanismus der Humanistischen Psychologie Juli 2012, 266 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1699-6

Alexander C.Y. Huang Weltliteratur und Welttheater Ästhetischer Humanismus in der kulturellen Globalisierung Juli 2012, 218 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2207-6

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization André de Melo Araújo Weltgeschichte in Göttingen Eine Studie über das spätaufklärerische universalhistorische Denken, 1756-1815 Juni 2012, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2029-5

Oliver Kozlarek, Jörn Rüsen, Ernst Wolff (eds.) Shaping a Humane World Civilizations – Axial Times – Modernities – Humanisms Mai 2012, 292 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1941-6

Oliver Kozlarek Moderne als Weltbewusstsein Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne 2011, 324 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1696-5

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung/ Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization Hubert Cancik Europa – Antike – Humanismus Humanistische Versuche und Vorarbeiten 2011, 524 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-1389-0

Ernst Wolff Political Responsibility for a Globalised World After Levinas’ Humanism 2011, 286 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1694-1

Christoph Antweiler Mensch und Weltkultur Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung 2010, 326 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1634-1

Jörn Rüsen (Hg.) Perspektiven der Humanität Menschsein im Diskurs der Disziplinen 2010, 454 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1414-5

Carmen Meinert, Hans-Bernd Zöllner (eds.) Buddhist Approaches to Human Rights Dissonances and Resonances 2010, 248 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1263-9

Gala Rebane, Katja Bendels, Nina Riedler (Hg.) Humanismus polyphon Menschlichkeit im Zeitalter der Globalisierung 2009, 288 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1172-4

Jörn Rüsen, Henner Laass (eds.) Humanism in Intercultural Perspective Experiences and Expectations 2009, 280 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1344-5

Helmut Johach Von Freud zur Humanistischen Psychologie Therapeutischbiographische Profile

Chun-chieh Huang Humanism in East Asian Confucian Contexts

2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1294-3

2010, 168 Seiten, Hardcover, 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1554-8

Oliver Kozlarek (ed.) Octavio Paz Humanism and Critique

Carmen Meinert (ed.) Traces of Humanism in China Tradition and Modernity

2009, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1304-9

2010, 210 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1351-3

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