Mensch bleiben in der Politik: Zwischen Bühne und Besonnenheit 9783205204534, 9783205203049


119 32 2MB

German Pages [180] Year 2016

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Mensch bleiben in der Politik: Zwischen Bühne und Besonnenheit
 9783205204534, 9783205203049

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Clemens Sedmak

MENSCH BLEIBEN IN DER POLITIK Zwischen Bühne und Besonnenheit

Unter Mitarbeit von Elisabeth Buchner und Mario Wintersteiger

böhl au v erl ag w ien köln weimar · 2016

Herausgeber: ifz. internationales forschungszentrum für soziale und ethische fragen, Mönchsberg 2 A, 5020 Salzburg Die Manuskripterstellung erfolgte mit freundlicher Unterstützung des Fördervereins »Freunde des IFZ e.V. München« Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Umschlagabbildung  : Andrei Simonenko/Shutterstock.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Patricia Simon, Langerwehe Umschlaggestaltung: hawemannundmosch, Berlin Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-20304-9  |  eISBN 978-3-205-20453-4

Inhalt Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

»Menschen für andere«. Eine Einleitung.. . . . . . . . . . . . .

9

»Typen wie ich« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 »Gutes Leben« im Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Eignung und Neigung. Politisch-musikalische Menschen . . . . 19

Politik als Orgelspiel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Herausforderungen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Eignungsfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 »Ich bin in der Maschinerie«. Über Macht und Verantwortung .. 41

Macht und Wege zur Macht.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Versuchungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 Politische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 »Dicke Haut« und »Blase«. Schleichende Veränderungen . . . . 57

Dicke Haut. . . . . . . . . . . . . . . . . . Die »Blase der Selbsttäuschung« . . . . . . Politik und die Hölle der Selbsttäuschung . Erdung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

57 59 65 70

Klare Positionen. Über Glaubwürdigkeit.. . . . . . . . . . . . . 77

Der Begriff der Glaubwürdigkeit . . . . . . . . . . Der Erfolg von »Menschen ohne Eigenschaften« . Die heikle Frage nach der Ehrlichkeit.. . . . . . . Ein Beispiel  : Politik für Armutsbetroffene . . . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

79 83 86 89

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone. Zur Macht der Medien.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

Politik und Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 – 5 –

Inhalt

Konsequenzen des Mediendrucks. . . . . . . . . . . . . . . . .   99 Medienhygiene und »bad news is good news« . . . . . . . . . . 103 »Privat« und »öffentlich«. Politik mit Haut und Haaren . . . . . 105

In der Öffentlichkeit. . . . . . . . . . . Rückzugsorte und geschützte Zeiten . . Familie und Freundschaften. . . . . . . Informelle Kontakte und Sozialkapital .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

. . . .

106 113 115 119

Eine besondere Moral in der Politik  ? . . . . . . . . . . . . . . 125

Höhere moralische Standards  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Gewissenhafte Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Kompromisse.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit. . . . . . . . 143

Tiefe Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Urteilen und Entscheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 »Der gute Alltag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

– 6 –

Vorwort Das vorliegende Buch ist auf der Basis von 15 ausführlichen und in die Tiefe gehenden Interviews entstanden, die Elisabeth Buchner durchgeführt hat. Die Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner waren Politikerinnen und Politiker aus unterschiedlichen Ebenen und Parteien, die den politischen Alltag, teils als Spitzenpolitikerinnen und -politiker, über Jahre kennengelernt und erlebt haben. Diese Erfahrungen bilden den Kern dieses Buches. Wir bedanken uns herzlich bei den Damen und Herren für ihre Großzügigkeit, Zeit und Einsichten zu schenken. Vielen Dank – auch an Elisabeth  ! Aufgrund dieser Gespräche ist das Buch kein Rufen aus dem Elfenbeinturm, von dem aus gute Ratschläge verteilt werden  ; es will möglichst praxisnah über eine Ethik des politischen Alltags nachdenken. Dabei werden Einsichten aus den Interviews – kursiv in alternativer Schrift hervorgehoben – in den Text integriert. Es handelt sich also bei diesen Textteilen um Zitate, die freilich so gestaltet wurden, dass sie nicht zugeordnet werden können. Das haben wir unseren Gesprächspartnerinnen und -partnern versprochen. Das »Was« des Gesagten soll ja aber auch interessanter sein als das »Wer«. Neben den Interviews wurde einschlägige Literatur konsultiert  ; in diesem Zusammenhang ist Mario Wintersteiger für fundierte Recherchearbeit zu danken. Die Frage nach dem Menschsein in der Politik geht der Intuition nach, dass Menschen mit klaren Anliegen und oftmals mit Idealismus in die Politik kommen und sich der Herausforderung stellen, diese Anliegen weiterzuverfolgen und mit den Füßen am Boden zu bleiben. In einem Gespräch hieß es dazu  : Mensch sein, Mensch bleiben in der Politik. Das klingt so danach, ohne dass ich Ihnen das jetzt unterstelle, aber das klingt so danach, – 7 –

Vorwort

als ob Sie ein bestimmtes Menschenbild hätten. Aber es gibt halt Gfras­ter, innerhalb und außerhalb der Politik, es gibt Leute, denen ich aus dem Weg gehe. Natürlich gibt es die in der Politik auch.

»Gfraster«, das sind Menschen, die sich nicht so verhalten, wie moralisch erwünscht wäre  ; »Sünder« würde der fromme Mensch sagen. Tatsächlich steht hinter einer »Ethik des Menschbleibens« das Menschenbild einer Person, die sich als Mensch unter Menschen weiß und persönlichen Status nicht mit Amt und Position verwechselt. Vielleicht lohnt es sich anzufügen, dass die angesprochenen »Gfraster« kaum für Interviews für dieses Buch oder dessen Lektüre geeignet sind  ; so richten sich diese Gedanken und Einsichten in bewährter Weise an »Menschen guten Willens«. Ich möchte mich herzlich bei Magistra Elisabeth Buchner, Dr. Mario Wintersteiger und den Dialogpartnerinnen und -partnern bedanken  ; außerdem gilt mein Dank Dr. Ursula Huber und den anderen VIPs im Böhlau Verlag, die das Buchprojekt freundlich aufgenommen und begleitet haben. Salzburg, im Frühjahr 2016

– 8 –

»Menschen für andere« Eine Einleitung

Politik wird von Menschen gemacht und kann so gestaltet werden, »as if people mattered«. Auch hinter Institutionen und Systemen stehen Menschen, die in vielen Schritten und durch viele einzelne mitunter sehr kleine Entscheidungen die Struktur dieser Einrichtungen geschaffen haben. Wenn vom »Menschbleiben in der Politik« die Rede ist, so ist einmal die Erinnerung gemeint, dass es sich bei Politikgestaltenden um Menschen mit allen Facetten des Menschseins handelt  ; das ist gewissermaßen der beschreibende, deskriptive Aspekt. Es ist schlichtweg der Fall, dass Politik von Menschen gemacht wird  : Jeder Mensch hat Stärken und Schwä-

chen, das ist einfach so und wir haben nicht jeden Tag eine 100-Prozent-Leistung. Wir sind ja nicht Perfektionisten und wir sind keine Automaten, nein, Gott sei Dank nicht  ! Manchmal tun Politiker so, wie wenn sie jeden Tag super drauf wären. Alles perfekt im Griff hätten, auf alles eine Antwort haben, gar nicht mehr nachdenken müssen, sondern automatisiert alles wissen, wie es auf der Welt richtig funktionieren müsste. Ich meine, das ist ja eine völlige, völlige, völlige Überforderung. Völlig. Kann ja keiner, der noch ein kritisches Selbstbildnis hat, damit Schritt halten.

Politik wird von unvollkommenen und fehlbaren Personen gestaltet. Das macht Politik menschlich, mit allen Vorteilen und allen Nachteilen . Jeder Mensch hat irgendwann mal Fehler gemacht,

das lässt sich auch gar nicht vermeiden, wenn man Entscheidungen treffen muss … da müsste man allwissend sein, wenn man vorher schon immer weiß, wie etwas nachher ausgeht. Aber Politiker werden ja mehr oder weniger hingerichtet für so etwas. Also, wenn einer mutwillig und nicht sorgfältig gehandelt hat, dann wird er zu Recht zur – 9 –

»Menschen für andere«

Verantwortung gezogen. Aber heute leben wir in einer Zeit, wo Politiker sich kaum mehr was zu entscheiden trauen, weil sie immer damit rechnen müssen, sie werden dann durch Sonne und Mond gejagt von irgendwelchen Medien, und das ist natürlich auch kein idealer Zustand. Hier kann der Hinweis auf das Menschsein in der Poli-

tik helfen, an die Unvollkommenheit der handelnden Personen zu erinnern. Damit sind wir bei einem zweiten Aspekt des Menschseins in der Politik, einem normativen Aspekt. Menschsein in der Politik ist auch eine ethische Aufgabe, etwa im Sinne des Anliegens, darauf Rücksicht zu nehmen, dass wir es mit Menschen zu tun haben, die manchmal weniger belastbar und mitunter sehr belastet sind, die Schicksalsschläge zu bewältigen haben. Vielleicht das Thema

»Mensch« in der Politik durchaus auch öfter direkt ansprechen. Es schwingt zwar in der Arbeit mit, aber es wird nicht so oft angesprochen. Nachzufragen, »Wie geht es dir  ?«, und zu realisieren, wenn der eine vielleicht einen schlechten Tag hat oder krank ist, Rücksicht nehmen, was Termine betrifft, was Stressphasen betrifft. Mensch-

sein in der Politik kann auch der Auftrag sein, das gemeinsame und geteilte Menschsein über Parteigrenzen und andere Differenzen hinweg zu sehen und zu leben. Es geht sicher auch menschlich

zu … es gibt immer in der Politik untereinander auch quer über die Parteien Menschen, die man absolut schätzt, die auch ähnliche oder gleiche Überlegungen haben wie man selber. Es ist schön, wenn ein paar sogenannte Gleichgesinnte miteinander arbeiten können, … da kommt wirklich etwas heraus. Von normativer Bedeutung ist es auch,

sich in der Politik nicht als etwas »Besseres« und »Bedeutsameres« als andere Menschen anzusehen. Als der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy nach seiner Wahlniederlage verkündet hatte, wieder »Franzose unter den Franzosen zu werden«, hatte diese Bemerkung aus guten Gründen für Irritation gesorgt  – auch ein Staatspräsident, selbst wenn er »Präsident für das Volk« ist, bleibt – 10 –

Eine Einleitung

Mensch unter Menschen, in diesem Fall also Franzose unter Franzosen. Theologisch Interessierten mag das Augustinuswort  : »Mit euch bin ich Christ, für euch bin ich Bischof« (Predigt 17,2) in den Sinn kommen, ein Wort, dem der Satz folgt  : »Ich will nicht in den Himmel kommen ohne euch.« Man könnte das vielleicht so übersetzen  : »Mit euch bleibe ich Mensch, für euch bekleide ich ein Amt.« Mit dem Zusatz  : »Ich will das gute Leben nicht auf eure Kosten suchen.« Der langjährige Generalobere der Jesuiten, Pedro Arrupe, hatte in einem Vortrag in Valencia vor Alumni und Alumnae von Jesuitenschulen am 31.  Juli 1973 als Ziel von Bildungseinrichtungen der Jesuiten benannt, »Menschen für andere« zu formen, »men and women for others«  ; also Menschen, die für die Sorgen und Hoffnungen anderer Menschen offen sind und sich für die Anliegen anderer Menschen einsetzen. Das kann man auch so lesen, dass diese Schulen politische Menschen hervorbringen sollten. Politikerinnen und Politiker, die »Menschen unter Menschen« sind und bleiben wollen, werden diesem Gedanken etwas abgewinnen können. Diesem Anliegen – nicht als ferne und hehre Idee, sondern als alltagspraktische Orientierung – geht dieses Buch nach. »Typen wie ich«

Politik wird von Menschen gemacht, »Menschen wie du und ich«. In einem bemerkenswerten Roman mit dem ebenso bemerkenswerten Titel Eure Väter, wo sind sie  ? Und die Propheten, leben sie ewig  ? lässt Dave Eggers einen psychisch verstörten Mann, der einen ehemaligen Kongressabgeordneten entführt hat, im Gespräch mit dem Politiker sagen  : »Kein Schwein hat für irgendetwas einen Plan. Das ist wohl das Niederschmetternde, das, was uns alle verrückt macht. Jeder glaubt, da sitzen sehr schlaue Leute am Ruder, – 11 –

»Menschen für andere«

geben Geld aus, stellen Konzepte für unsere Schulen auf, unsere Parks, für alles. Aber dann sind es bloß Typen wie Sie, die einfach nur Typen wie ich sind. Keiner hat auch nur den Hauch einer Ahnung.«1 Der Satz »Aber dann sind es bloß Typen wie Sie, die einfach nur Typen wie ich sind« ist ein sprachlich vielleicht nicht poetischer, aber inhaltsreicher Satz, der viel über das Menschsein in der Politik aussagt. Es sind Menschen – »wie du und ich« –, die Politik machen und politische Macht haben.2 Das ist einerseits tröstlich, andererseits auch etwas verstörend, wenn man an Privilegien und Macht mancher Politikschaffender denkt. Einerseits ist es tröstlich  : Politikerinnen und Politiker sind Menschen  ; die Politiker sind nicht so eine spezielle Spezies. Grundsätzlich sind sie ganz normale Leute. Aus einem anderen Gespräch  : Und Politiker sind auch ganz normale Menschen, die sind übergewichtig oder die rauchen, die haben irgendwelche Schwächen, die andere auch haben. Wo soll man denn die perfekten Menschen züchten, die dann die Politik für uns machen  ? Und irgendwie sollen Politiker ja auch die Repräsentanten des Volkes sein.

Es ist nicht der Fall, dass eine elitäre Klasse von ausgewählten Übermenschen die Masse des Volkes regiert  ; das war präzise Platons Idee  : Die Kunst des Regierens ist nach Platon ein bestimmtes »Handwerk«, eine bestimmte »Kunst«, ein bestimmtes Gebiet, auf dem jemand gut sein kann3 – somit ist klar, dass die Person, die auf diesem Gebiet natürlicherweise gut ist, diese Kunst ausüben sollte  ; der ideale Herrscher ist der Philosophenkönig, der weder für Ehre noch für Geld regiert, sondern zum Wohl und Vorteil der Bürger.4 Die Idee mag aufs Erste einiges an sich haben (vor allem die Idee, dass es um das Wohl der Bürgerinnen und Bürger geht), doch bereits Plato sah zwei Probleme  : Wer solle denn den künftigen Philosophenkönig erziehen  ? Und  : Wenn der Philosophen­könig sich weit von den Alltagserfahrungen entfernt, welche Kompetenz kann er – 12 –

Eine Einleitung

dann noch haben, hat er sich doch dann von den Menschen entfernt  ? 5 Nun, in unserem Kontext ist es nicht der Fall, dass eine elitäre Klasse von ausgewählten Übermenschen die Masse des Volkes regiert  ; in unseren Breiten haben wir es mit gewählten Menschen zu tun, die – aus dem Volk kommend, im Regieren dem Volk angehörend  – ihren Dienst tun. Das ist zumindest die Idee, deren Herausforderungen wir unter den Begriffen »Blase der Selbsttäuschung«, »Bühne« und »dicker Haut« nachgehen werden. Andererseits sind das Menschliche und Allzumenschliche auch Quelle von Anstoß. Wenn es ganz gewöhnliche Menschen sind, warum haben sie dann außergewöhnliche Macht und außerordentliche Verantwortung  ? Diese Gedanken nähren eine auch in diesem Zitat ausgedrückte gefährliche und verführerische Sehnsucht nach Größerem, Übermenschlichem. Mit einer gewissen Resignation sagte eine Gesprächspartnerin  : Ja, was die Leute wollen, ist die eierlegende Wollmilchsau. Die wollen Politiker, die sich überall auskennen, die perfekt auftreten können, die nie Fehler machen, die nie Fehler gemacht haben, die in ihrem Privatleben völlig tadellos sind. … Das können die natürlich bei Weitem nicht erfüllen. Dann ist die Umkehrreaktion diese totale Enttäuschung, wo sie dann sagen  : »Sind ja alle für nichts gut.«

Das Leben im Modus der ständigen Überforderung hat seinen Preis  ; vor allem, wenn die Überforderung weniger mit der eigenen Persönlichkeit als mit den strukturellen Gegebenheiten des Aufgabengebietes zu tun hat. Hier prallen unvereinbare Erwartungen aufeinander. Politiker sollen schnell ausgewechselt werden, andere sagen, sie sollen Expertinnen oder Experten sein, die genau wissen, wovon sie reden, also alles gleichzeitig geht nicht. Wir sollen Menschen bleiben und nicht Götter werden, ja  ? Zugegebenermaßen

wird das Menschbleiben in der Politik nicht immer leicht gemacht – Politikerinnen und Politiker ab einer bestimmten Machtstufe sitzen in der ersten Reihe, werden als Erste begrüßt, können Grußworte an die Versammelten richten, sind von Medieninteresse, – 13 –

»Menschen für andere«

haben Vorzimmer, Dienstwagen und andere Privilegien. Politik ist auch inszeniert, hier wird ein soziales Feld aufgebaut, das nach einem Gedanken Pierre Bourdieus Spielregeln hat und Illusionen erzeugt  ; alle, die an diesem sozialen Feld beteiligt sind, arbeiten an der Aufrechterhaltung dieser Illusionen. Eine dieser Illusionen ist die Täuschung, dass Politikerinnen und Politiker authentische persönliche Beziehungen zu den Wählerinnen und Wählern auf bauen können. Wer erinnert sich nicht an Gordon Browns legendären Wahlauftritt im April 2010  ? Der damalige englische Premierminister befand sich mitten im Wahlkampf und hatte eine Begegnung mit Gillian Duffy, einer älteren Dame, die schon immer die Labour Party gewählt hatte. Sie hatten ein höfliches Gespräch, in dem es auch um Immigration und Ausländer ging. Danach setzte sich Gordon Brown in seinen Wagen, vergaß, dass das Mikrofon noch eingeschaltet war, und beschwerte sich über die Zumutung des Gesprächs und fand einige beleidigende Worte über seine Gesprächspartnerin. Das war am Vormittag, um die Mittagszeit wurde Brown live bei einem Besuch eines Radiosenders mit seinen Bemerkungen konfrontiert und war natürlich tief erschüttert. Er hatte innerhalb von Minuten massiv an Vertrauen verloren, das er auch nicht mehr wettmachen konnte. Diese Situation illustriert schon eine erste große Herausforderung an das Menschsein in der Politik  : auf einer Makroebene so tun zu müssen, als würden Gesetze der Mikroebene gelten. Anders gesagt  : mit vielen Menschen eine Art von Vertrautheit pflegen zu sollen, die Beziehungen zu wenigen entspricht. Eine zweite Herausforderung besteht in der Glaubwürdigkeit der Qualifikation  – gerade weil Politik von »Typen, wie ich es bin« gemacht wird, gibt es vergleichsweise wenige Zugangsbedingungen in Form von Qualifizierungsnachweisen  ; im Prinzip kann jeder Mensch in die Politik gehen. Das setzt den Berufsstand des Politikers insofern unter Druck, als für die meisten Berufe Zugangsbeschränkungen gelten  ; – 14 –

Eine Einleitung

eine Ärztin muss ein Studium abgeschlossen haben, ein Tischlermeister eine Lehre, eine Psychotherapeutin muss eine komplexe Ausbildung hinter sich bringen … Dies kann im Falle von »Politik als Beruf« nicht geltend gemacht werden. Das kann den Verdacht nähren, dass Beziehungen (und damit »soziales Kapital«) wichtiger sind als Kompetenzen (»kulturelles Kapital«). Damit entsteht Druck auf die Glaubwürdigkeit, gleichzeitig ist das aber auch eine große Chance für das Menschsein in der Politik, eben weil sie von »Typen wie mir« gemacht wird. »Gutes Leben« im Alltag

In diesem Buch geht es um die Frage nach dem Alltag von Politikerinnen und Politikern  ; diese Frage ist gar nicht so einfach  : Es ist ja Teil einer politischen Verantwortung, einerseits auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren  ; das führt dann dazu, dass jeder Tag anders ist und sich auch nicht so einfach vorhersagen lässt, was am nächsten Tag geschieht oder zu tun ist  ; andererseits haben auch Menschen in der Politik eine gewisse Tagesstruktur und gewisse wiederkehrende Grundaufgaben. Hier gilt es, den Blick auf Details und Aspekte der Persönlichkeit zu richten, will man das Menschsein nicht aus den Augen verlieren. Da zeigt sich das Menschsein wieder als Aufgabe. Es geht in diesem Zusammenhang auch um die harte Arbeit an der eigenen Weichheit, wie es eine aktive Politikerin formuliert hat  : Ich möchte weich bleiben, meinen Humor behalten, nicht zynisch werden. Diese Menschlichkeit soll auch, so das Anliegen, im fordernden politischen Alltag nicht abgeschliffen oder verhärtet werden. Eine Politikerin sagte uns in einem Gespräch  : Ich komme um Mitternacht nach Hause, ich soll um 6 Uhr wieder aufstehen, da ist es mir dann leider egal, ob die Milch im Kühlschrank sauer ist oder nicht. – 15 –

»Menschen für andere«

Mit diesem Druck kann auch der Alltag bald sauer werden  ; wie kann ein Leben in der Politik langfristig gelingen  ? Man denke an Aspekte wie Schlafdefizit, Bewegungsmangel, Erwartungsdruck und psychische Belastung, mangelnde Esskultur (zu wenig Zeit, zu viel Angebote, unregelmäßige Mahlzeiten). Kann gute Politik von Menschen mit schlechtem Alltag gemacht werden  ? Diese Frage wird uns noch weiter beschäftigen. »Menschbleiben in der Politik« kann auch bedeuten, Politik so zu betreiben, »as if people mattered«. Politik wird von Menschen gemacht und ist darauf angelegt, auf die Probleme und Nöte von Menschen und deren Lebenszusammenhängen zu antworten  ; so gesehen ist Politik »antwortend«, »responsiv« angelegt. Mit dem Aufkommen von Mobiltelefonen oder den Herausforderungen der Cyberkriminalität müssen neue Regelungen getroffen ­werden  ; Flüchtlingsströme verlangen nach politischen Reaktionen  ; die Entwicklung neuer Biotechnologien erzwingt politische Entscheidungen. Der Wunsch der Konsumentinnen und Konsumenten nach Nahrungsmitteltransparenz ruft nach politisch durchgesetzten Richtlinien usw. Gute Politik schafft Rahmenbedingungen für gutes Leben. Politik antwortet damit auf die Frage nach dem Guten. Unter Politik soll mit Blick auf dieses Buch »planvolles und machtgegründetes Handeln zur Herstellung und Sicherung von Gütern, die das Zusammenleben von Menschen ermöglichen«, verstanden werden. Politik »passiert nicht einfach«, sie wird geplant  ; sie ist eine Form von Handeln, also von absichtsvollem menschlichem Tun  ; Politik hat mit der Verteilung und Ausübung von Macht zu tun  ; Politik ist darauf ausgerichtet, das Zusammenleben von Menschen zu ermöglichen und abzusichern – dazu bedarf es bestimmter Güter wie einer Rechtsordnung, klarer Machtverhältnisse, einer bestimmten Infrastruktur. Politik ist Ordnungskunst. Sie ist der Versuch, Strukturen zu schaffen, die die akzeptablen Lebensentwürfe von Menschen ermöglichen sollen. – 16 –

Eine Einleitung

Politik, die Akzeptanz bei den Menschen findet, antwortet auf die Herausforderungen des Zusammenlebens. Sie ist damit aufgerufen, die Sorgen und Ängste, Hoffnungen und Freuden der Menschen ernst zu nehmen, also das ernst zu nehmen, was Entwürfe eines guten Lebens ausmacht. So gesehen kommt die Politik nicht darum herum, die Frage nach dem guten Leben zu stellen. Und das gute Leben wiederum hat viel mit gelingendem Alltag zu tun. Hier sind wir wieder beim »Menschsein« – gutes Leben ist für Menschen bei aller Verschiedenheit der Lebensformen ein gemeinsames Leben. Damit wird Politik zu einem Unterfangen, das Menschen gestalten, die ein gutes Leben suchen, für Menschen und mit Menschen, die auf der Suche nach dem guten Leben sind. Daraus ergeben sich Anforderungen an eine Alltagsethik  : Was heißt es, den politischen Alltag gut zu bestehen  ? Was heißt es, Politik so zu gestalten, dass sie guten Alltag ermöglicht  ? Welche politische Entscheidung besteht den »Praxistest«6  ? Kritische Stimmen warnen vor einem »überschießenden Moralismus in der Politik«7, der zu viele moralische Forderungen an die Politik heranträgt  ; gleichzeitig ist zur Kenntnis zu nehmen, dass die Ethik im Nachdenken über Politik eine gewichtige Rolle spielt.8 Es ist auch die Kritik zu lesen, dass eindimensionale, realitätsferne Ethiken entworfen werden, die auf tönernen Füßen stehen.9 Gerade aus diesem Grund sollen in diesem Buch vor allem Menschen zu Wort kommen, die einen Alltag als Politikerin oder Politiker gelebt haben oder leben. Damit ist hoffentlich auch der Kritik, dass viele auf die Politik einwirkende Moralvorstellungen fremdgesteuert und von außen herangetragen werden,10 der Wind aus den Segeln genommen. Apropos »Wind« und »Segel« – was braucht das Lebensschiff eines Menschen, um gut in den Untiefen politischer Gewässer bestehen zu können  ? Diese Herausforderung spielt sich, wie der Untertitel des Buches andeutet, zwischen »Bühne« und »Besonnenheit« – 17 –

»Menschen für andere«

ab, also zwischen dem Vermarktungsdruck und Druck des Marktes auf der einen Seite und der Idee politischer Klugheit mit ihrer langfristigen Orientierung auf der anderen Seite. Die Frage nach gutem Alltag in der Politik ist die Grundfrage dieses Buches, das folgendermaßen aufgebaut ist  : Nach einem Blick auf politisch musikalische Menschen werden Fragen von Macht und Verantwortung diskutiert  ; dann geht es um die schleichenden Veränderungen, die ein Leben in der Politik mit sich bringen können, und um die Frage nach der für das politische Leben erforderlichen »dicken Haut«. Anschließend wird der Aspekt der Glaubwürdigkeit thematisiert, gefolgt von der in diesem Zusammenhang gewichtigen Herausforderung von Kameras, Scheinwerfern und Mikrofonen (die Macht der Medien)  ; damit hängt (Kapitel »›Privat‹ und ›öffentlich‹«) die Spannung von »privat« und »öffentlich« zusammen, die »Politik mit Haut und Haar« verlangt. Das Kapitel »Eine besondere Moral in der Politik  ?« stellt die ethisch bedeutsame Frage, ob es für das politische Leben eine eigene Moral, also eine Sondermoral gebe und ob für Menschen in politischen Funktionen andere moralische Ansprüche gelten. Nach einem Exkurs zu politischer Klugheit und Menschenfreundlichkeit endet das Buch mit einigen, aus den Gesprächen gewonnenen, konkreten Empfehlungen für einen guten Alltag.

– 18 –

Eignung und Neigung Politisch-musikalische Menschen

Wenn man ein Kapitel eines Buches als unmöbliertes Zimmer betrachtet, bekommt das Zimmer dadurch Atmosphäre, dass man einen ersten Satz äußert, der wie ein erstes Möbelstück in den Raum gestellt wird. Ich möchte die provokante Frage in den Raum stellen  : Sind dumme Menschen für die Politik geeigneter  ? Die Frage ist nicht nur als Provokation gedacht. Gewisse Formen von Politik lassen sich leichter von gewissenlosen Menschen erledigen  ; bestimmte Arten des Politischen können leichter von dummen Menschen ertragen werden. Dazu zwei Gedanken  : In einem, wenn schon nicht aufbauenden, so doch aufgrund der Treffsicherheit bedenkenswerten Buch geht der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt der Frage nach, warum auf unserer Welt immer mehr »bullshit«, verstanden als leeres Geschwätz, substanzloses Gerede, inkompetentes Schwafeln, produziert werde. Seine Antwort  : weil immer mehr Menschen immer öfter gezwungen werden, über Dinge zu reden, von denen sie keine Ahnung haben, aber so tun müssen, als kennten sie sich aus.11 Das bezeichnet durchaus einen der Fallstricke des politischen Lebens. Hier muss man sich auch eine geringere Schamgrenze angewöhnen und ohne Scheu Stehsätze und mit Überzeugungskraft rhetorische Floskeln verwenden  ; es kommt nicht von ungefähr, dass das Wort »Politikergeschwafel« etabliert ist. Die Berliner Zeitung betitelte im Dezember 2014 einen Artikel über die Besuche von Bundesbürgerinnen und -bürgern im Deutschen Bundestag, um die Arbeit ihrer Abgeordneten besser kennenzulernen, mit der Frage  : »Spricht sie schon Politikergeschwafel  ?« In bestimmten Zusammenhängen schadet es wohl auch nicht, Dummheit als Tugend zu sehen – André Glucksman hat Dumm– 19 –

Eignung und Neigung

heit als die Fähigkeit beschrieben, mit großer Überzeugungskraft und ohne Hemmungen von Dingen zu sprechen, von denen man keine Ahnung hat.12 Dummheit hat den großen Vorteil, dass sie das Urteil vereinfacht und beschleunigt. Ohne Schamröte im Gesicht kann hier »Bullshit« produziert werden. Das hat Vorteile. Über diese »epistemischen Vorteile der Dummheit«, also die Erkenntnisvorteile der Dummheit, haben sich Nelson Goodman und Catherine Elgin Gedanken gemacht 13 – ein dummer Mensch sieht weniger Differenzierungen und hat damit weniger Optionen, zwischen denen er sich entscheiden muss. Wer  – wie dies nach dem 11. September 2001 durchaus geschehen ist – nur zwischen »gutem Islam« und »schlechtem Islam« unterscheidet, wird rascher zu einem (noch dazu eindeutigen) Urteil kommen als jemand, der mit feiner Klinge arbeitet und differenziert. Das ist insofern betrüblich, als es weniger differenzierten Menschen größere Überzeugungskraft ermöglichen kann. Dabei soll auch nicht ausgeschlossen sein, dass »Dummheit« strategisch eingesetzt werden kann, etwa im Sinne populistischer Politik, die wider besseres Wissen den Bürgerinnen und Bürgern krude Darstellungen und einfache Lösungen liefert. Das ist dann weniger eine Frage der Dummheit als eine Frage der Redlichkeit. Es verwundert also nicht, dass die Gelehrte als Politikerin oder der Heilige als Politiker nicht unbedingt gängige Motive sind, auch wenn es in der Geschichte durchaus vorgekommen ist, dass ein Philosoph wie Julian Nida-Rümelin in Deutschland und der Intellektuelle Vaclav Havel in der Tschechischen Republik ein politisches Amt bekleidet haben oder dass die moralischen Autoritäten Mahatma Gandhi, Desmond Tutu oder der Dalai Lama politisch gewirkt haben. Das Talent zum Politischen schließt andere Talente nicht aus, kann aber als eigene Begabung angesehen werden. Es gibt so etwas wie »politische Musikalität«. – 20 –

Politisch-musikalische Menschen

Politik als Orgelspiel

Max Weber hatte seinerzeit den Begriff vom religiös musikalischen Menschen geprägt. Bestimmte Menschen haben ein Sensorium für das Religiöse, können mit religiösen Gedanken und Begriffen etwas anfangen, sind offen für die religiöse Dimension des menschlichen Daseins. Andere sind das nicht  ; manche Menschen sind musikalisch, können der Welt der Musik viel abgewinnen, mit Klängen und Tönen umgehen, andere sind dies nicht. Dieses Verständnis des Musikalischen kann auch auf das Politische übertragen werden. Eine gute Politikerin ist »musikalisch« für die Untertöne und Zwischenklänge der Öffentlichkeit. Ein Gesprächspartner hat Politik mit einer Orgel verglichen, einer Orgel, die sehr sehr viele Register hat, und man muss alle Register bedienen können. Politik ist nach diesem Verständnis nicht etwas, »was alle können« oder auch  : etwas, bei dem es nichts zu beherrschen gäbe. Politik zeigt sich, so könnte man diesen Gedanken weiterverfolgen, in der Kunst des Gesprächs  – mit den Wählerinnen und Wählern, mit den politischen Freunden und Gegnern, mit den Medien, mit dem Verwaltungsapparat. Politik ist nicht nur eine Frage der guten Ideen, ist nicht nur eine Frage der guten Umsetzung guter Ideen, sondern auch eine Frage der guten Kommunikation guter Umsetzung von guten Ideen. Hier haben Begriffe wie »Politik als Kunst« oder auch »Politik als Handwerk« ihre Berechtigung. Aristoteles hat ein Handwerk über die Notwendigkeit von Erfah­rungswissen charakterisiert  ; um ein Handwerk erfolgreich ­auszuüben, muss man mit eigenen Händen etwas tun und immer wieder getan haben. Dazu kommt die Fähigkeit, aus der Erfahrung zu lernen. Drittens bedarf ein Handwerker des Wissens um die rechte Form, soll doch die Arbeit auf ein klares Ziel hin ausgerichtet werden. Das Handwerk der Politik ist auf Lernfähigkeit, – 21 –

Eignung und Neigung

Zielvorstellung und konkretes Tun ausgerichtet. Dabei kann man sich die Hände schmutzig machen  – interessanterweise ist dieses Motiv der »dirty hands« ein wichtiger Gedanke der politischen Philosophie, die Bereitschaft und mitunter unvermeidbare historische Notwendigkeit, sich die Hände schmutzig zu machen, etwa bei Entscheidungen, die auf ein je kleineres Übel abzielen.14 Wer Politik betreibt, so die Idee, darf nicht davor zurückscheuen, sich die Hände schmutzig zu machen. Auch das Spielen eines Musikinstruments kann Schwielen mit sich bringen. Das angesprochene Bild des Orgelspielens ist nicht das schlechteste  : Um es in der Kunst des Orgelspielens weit zu bringen, muss man vor allem  : spielen  ; allerdings unter Anleitung und auf entsprechendem Instrument. Man übt die »ars gubernandi« (die Kunst des Lenkens und Regierens) dann ein, wenn man einen eigenständigen Verantwortungsbereich hat, dazu bedarf es aber auch guter Beispiele. Politik als Kunst verlangt wie jede andere Kunst nach regelmäßigem Üben, nach Vorbildern und Rollenmodellen, nach Qualitätskriterien und dem Willen zur Exzellenz. Politik ist nicht nur das Orgelkonzert, bei dem ein beeindruckender öffentlicher Auftritt inszeniert wird  ; es gehört auch das Üben hinter verschlossenen Türen dazu, Entscheidungen über den dargebotenen Inhalt und das »Wie« der Darbietung. Natürlich muss auch ein vernünftiges Instrument zur Verfügung stehen, das hat auch mit technischen Aspekten und Fragen der Wartung zu tun. Orgelspielen ist nicht nur punktuelles Ergebnis, sondern auch ein Prozess, bei dem man dazulernt. In der Formulierung einer Gesprächspartnerin  : Nichts ist wohltuender, als wenn Menschen sagen  : »Ich habe dazugelernt.« Also, ich habe das oft gehört von anderen, es tut gut, wenn jemand sagt, entweder  : »Ich hab mich weiterentwickelt, ich hab mich geirrt«, oder  : »Bis jetzt habe ich das anders gesehen, aber jetzt bin ich weitergekommen.« Also dieses Prozesshafte wäre so wichtig. Politik

braucht Talent – das Talent, auf die Zeichen der Zeit zu reagieren, – 22 –

Politisch-musikalische Menschen

das Talent, Inhalte überzeugend vermitteln zu können. Optimismus, Zuversicht und auch einen gewissen Vertrauensvorschuss halte ich insgesamt für notwendig, auch in der politischen Zusammenarbeit. Auch mit Mitbewerbern, auch mit Andersdenkenden. Eine profes­ sionelle Aufmerksamkeit und Vorsicht ist dennoch angebracht, aber nicht ein permanentes Misstrauen. Das sind Hinweise auf politische

Musikalität, die sich auch darin zeigt, bestimmte Herausforderungen bewältigen zu können. Herausforderungen

Eine Musikerin muss liebliche Melodien ebenso bewältigen können wie kraftvolle Klangwerke, sie muss – wenn schon nicht »auf vielen Klavieren«, so doch  – »mit vielen Noten und Genres« spielen können. Politische Musikalität ist da nicht unähnlich. Politik braucht Durchsetzungskraft, aber auch Feingespür und Ausdauer. Impulsivität und Idealismus, aber auch Geduld und Besonnenheit. Dies zeigt sich etwa in der Herausforderung der»Ungleichzeitigkeit«, der Ungleichzeitigkeit zwischen persönlicher Ambition und Verwaltungsabläufen, zwischen Medientempo und Systemträgheit  : Eine

Systemträgheit, nicht abwertend gemeint, sondern es liegt einfach in der Natur der Sache, dass Verwaltungsarbeit und Regierungsarbeit für ein ganzes Bundesland doch ziemliche Vorlaufzeiten braucht. Das ist eben ein großer Tanker, den man nicht so schnell und flexibel in eine andere Richtung lenken kann. Und, so eigenartig das klingt, ich habe so das Gefühl, mir wird die Zeit zu kurz, um Dinge in Gang zu bringen und zu verbessern. Der Wunsch nach Gestalten und nach Verbesserung ist größer, als es sich dann in den Abläufen machen lässt. Diese Ungleichzeitigkeit erinnert einerseits an die Bedeutung

der Bürokratieforschung, die darauf hinweist, dass administrative Strukturen ihre Eigendynamiken und Bedeutsamkeiten entwickeln  ; – 23 –

Eignung und Neigung

andererseits an die Dosierung von Idealismus und Realismus, ein Mischungsverhältnis, das gerade auch vom Verhältnis »Person« und »Struktur« geprägt wird. Bedenkenswert mag in diesem Zusammenhang der Umstand sein, dass Politik vielfach »Charisma« verlangt, während nach Max Webers fundamentalen Einsichten in die Bürokratie moderne Verwaltung charismatische Herrschaft durch Regeln und Abläufe und geschultes Fachpersonal ablöst.15 Ähnlich wie Musik, wenn sie zum Beruf gemacht wird, ist auch Politik körperlich herausfordernd. Eine Musikerin muss ihrem Körper viel abfordern. Auch Politik ist harte Arbeit  ; täglich zwölf Arbeitsstunden, sechsmal in der Woche, sind fordernd. Da

muss man eine gute Kondition haben. Politik ist auch körperlich … herausfordernd. Das ist eine Frage von Gesundheit und Belastbar-

keit – und durchaus auch eine Frage von Lebenskultur (wie gesund kann ein Leben in der Politik langfristig sein  ?) und Exklusivität (wer wird aus allein körperlichen Gründen ausgeschlossen  ?). Gesundheit kann als Fähigkeit verstanden werden, so mit den eigenen Gaben und Grenzen umzugehen, dass wichtige Lebensziele erreicht werden können. Gute Politik ist damit auch eine Frage der Gesundheit. Gute Politik hat etwa mit guter Schlafqualität zu tun. Also, man muss sich einfach entscheiden. Und ich hab damals gesagt, entweder ich lerne, auch mit großen Problemen schlafen zu gehen und gut zu schlafen, oder ich lasse es. Und es hat ja keinen Sinn, wenn man Schlaftabletten nimmt, weil dann wacht man genauso zerschlagen, wie man ins Bett geht, wieder auf. Das hilft keine Probleme lösen. Dazu eine kurze Anmerkung aus Sicht der Armutsforschung  :

Linda Tirado hat in ihrem Buch From Hand to Mouth aus der Sicht einer Betroffenen die Erfahrung von Armut beschrieben  ; ein Aspekt dieser Erfahrung ist die chronisch schlechte Schlafqualität.16 Armut bedeutet auch  : schlechte Schlafplätze. Hier lässt sich eine überraschende Parallele zwischen Armutserfahrung und politi– 24 –

Politisch-musikalische Menschen

schem Leben herstellen  : Ständig unter Spannung stehen, inklusive Schlafstörungen mit allem was dazugehört, … ja, alles gleichzeitig machen zu müssen, also ein starker Außendruck. Der Druck kann sich als stete, nagende Belastung zeigen. Insgesamt meine ich, es ist schwierig, in der Politik gesund zu bleiben. Man muss auf sich achten, das tun viele nicht. Wenn man genauer hinschaut, merkt man das ja auch. Es ist aus meiner Sicht auch wichtig, nicht zynisch zu werden. Hier zeigt sich bereits eine weitere gesundheitliche Herausforderung für die Arbeit in der Politik, die psychische Belastung. Zynismus ist eine Abwehrhaltung, Zynismus ist unter anderem der Verlust der Fähigkeit, zu staunen, und der Fähigkeit, sich zu begeistern. Man kann sich schwer eine Musikerin vorstellen, die nicht an die Möglichkeit einer gelungenen Aufführung glaubt  ; man kann sich schwer einen Politiker vorstellen, der nicht der Überzeugung ist, einen Unterschied machen zu können. Im frühen Christentum gab es für eine »bedenkliche Einstellungsmischung«, die auch Zynismus inkludierte, den Begriff »Akedie«, eine Form der inneren Erschöpfung, die nahe am heutigen Verständnis von »Burn-out« ist  ; diese Erschöpfung wird, so die Einsicht aus dem dritten und vierten Jahrhundert, durch Überehrgeiz und Ungeduld genährt. Das kann in der Politik, die von Menschen gemacht wird, die etwas gestalten und verändern und entscheiden wollen, durchaus eintreten. Hier stoßen wir auf psychische Belastungen, die zu eigentümlichen und giftigen Mischungen führen können. Bei manchen … hast du das Gefühl gehabt, es reicht ihnen irgendwie. So eine Mischung, wenn irgendwie Zynismus, Empfindlichkeit, wenn bedenkliche Mischungen zusammenkommen.

Solche bedenklichen Mischungen schwächen und höhlen einen Menschen von innen aus. Hier sind Gleichgewicht und wohl auch innere Kraft gefragt. Hier scheinen politische Herausforderungen eine Parallele zu sportlichen Herausforderungen aufzuweisen. Es scheint so zu sein, dass Resilienz, die Fähigkeit, nach Niederlagen – 25 –

Eignung und Neigung

wieder aufstehen zu können, für die Politik ähnlich wichtig ist wie für den Sport. Hier mag es tröstlich sein, zu wissen, dass früher politischer Erfolg gefährlich sein kann  : McCann konnte belegen, dass Gouverneure in den USA, die in jungem Alter gewählt werden, häufiger vorzeitig sterben.17 Resilienz ist entscheidend. Ähnlich wie ein kurzer Auftritt bei den Olympischen Spielen oder bei Weltmeisterschaften über eine ganze Karriere entscheiden kann, kann ein Wahlabend das ganze weitere Leben bestimmen. Nach einem Wahlabend kann eine Person auf einmal ein neues Amt haben, eine andere ein altes Amt verlieren. Dies ist besonders deutlich im Vereinigten Königreich – der abgewählte Premierminister verlässt den Amtssitz in Downing Street, der neu gewählte zieht ein. Für den einen beginnt ein Leben voller Termine und Verantwortung, für den anderen endet ein Leben mit Einfluss und gewichtigen Entscheidungen. Hier stellt sich dann auch eine weitere Herausforderung ein  – wie kann man sich voll und ganz in der Politik einsetzen und gleichzeitig ein »Leben außerhalb der Politik« pflegen, auch in beruflicher Hinsicht  ? Wie steht es um materielle Absicherung und Unabhängigkeit  ? Was bedeutet es für abgewählte Langzeitbürgermeister, sich beruflich neu orientieren zu müssen  ? Wie sehr kann man sich in einer politischen Funktion engagieren und dennoch Lebensalternativen offenhalten   ? Das scheinen mächtige innere Konflikte zu sein. Eine ganz besondere Herausforderung in der Politik besteht in der schieren Überforderung. Es ist anstrengend, ständig im Modus der Überforderung zu leben – gerade, wenn diese Überforderung weniger in der Person als im Aufgabengebiet liegt. Eine solche Überforderung zeigt sich in überzogenen und unrealistischen Erwartungen. Es kommen Leute, die sagen  : »Ich hab ein Gerichtsurteil bekommen, das ist negativ, können Sie da was machen  ?« Und da brauche ich gar nicht herumzurennen, da muss ich sagen  : »Es gibt – 26 –

Politisch-musikalische Menschen

eine Gerichtsbarkeit, die entscheidet unabhängig.« Aber das verstehen viele Leute nicht. Was für den Politiker dann oft ein Ärgernis ist, dass die dann sagen  : »Ja, jetzt hab ich Sie gewählt und jetzt helfen Sie mir nicht  !« Das habe ich ganz oft gehört. Wo die Leute sagen  : »Sie müssen doch da irgendwas machen können  !« Den Leuten zu sagen, wo sind die Grenzen dessen, was man überhaupt bewirken kann. Oder  : Da wird manchmal von den Menschen zu viel erwartet an Möglichkeiten und Einfluss, den man hat. Die Erwartungshaltung ist, man kann einen Job besorgen, man kann Karten organisieren…

Politik hat mit systemischen und systematischen Überforderungen zu tun  : Einerseits sollen Sie sich so wenig wie möglich ein-

mischen, aber doch alles regeln. Wir sollen so wenig wie möglich Gesetze machen, aber doch für jede Eventualität etwas in die Hand geben. Und in diesem Spannungsfeld wird Politik gemacht. Über-

forderung entsteht aber auch durch Kompetenzenüberfrachtung  :

Du hast oft gleichzeitig ganz viele Sachen, in die du dich einarbeiten musst und wo ich mich pflichtmäßig auskennen muss. Also wenn das jetzt in den Ausschuss kommt und der Amtsbericht da ist, sollte ich das einfach rechtzeitig gelesen haben. Hier muss man Vertrauen

auf bauen, für das natürlich der Preis der Abhängigkeit zu zahlen ist  : Ich bin immer auf Experten angewiesen. Das sind etwa 1200 Sei-

ten Juristenenglisch, über die es dann abzustimmen gilt. Hier brauche ich Experten, die die Möglichkeit haben, sich ausschließlich damit für einen langen Zeitraum auseinanderzusetzen und Handlungsalternativen auszuarbeiten. Die habe ich auch und auf die muss ich mich verlassen können, in dem Fall. Das ist schon eine extreme Vertrauensbeziehung, die du da hast oder auch nicht hast. Also da, auf das bist du schon voll angewiesen. Oder wie es eine frühere Ministerin formulierte  : Also, da bin ich oft überfordert gewesen. Da muss man sich dann halt informieren und schlaumachen. Und dazu habe ich ja Beamte, die ich dann geholt und gesagt habe  : »Jetzt erklärt mir das einmal. Ich verstehe das nicht, was wir da wollen.« Dieses Motiv von – 27 –

Eignung und Neigung

Grenzerfahrungen (Erfahren der eigenen Verstehensgrenzen) hat sich durch die Gespräche, die wir geführt haben, durchgezogen.

Ich kann nicht überall kompetent sein und in die Tiefe gehen, sondern da bin ich halt dann oft auf die Informationen meiner wunderbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter angewiesen  ; an die glaube ich sehr, und die transportiere ich halt dann. Das ist halt einmal so und das geht gar nicht anders in meinem Geschäft. Als Strategie hat sich

»kompetentes, am Wesentlichen orientiertes Fragen« herauskristallisiert. Da muss ich mich bei der Formulierung des Gesetzes [auf

die Beamten] verlassen, aber ich muss das Wissen haben, weil ich muss es ja letztendlich als politisch Verantwortliche argumentieren. Warum jetzt dieser Paragraf da ist oder noch ein Anhang da ist. Also da muss ich ehrlich sagen, das war oft steil. Da musst du dich natürlich auf Fachleute verlassen können, dass die jetzt einmal etwas Gescheites vorschlagen, und dann muss man sich halt die Mühe machen und das wirklich auch durchlesen. Und wenn man sich wo nicht auskennt, keine falsche Scheu haben, sondern sagen  : »Was heißt das jetzt  ?« Das »Wissensungleichgewicht« bleibt freilich bestehen.

Eine Finanzbeamtin hat angedeutet, dass sie es von der Intelligenz und Verantwortungsfähigkeit der politisch verantwortlichen Person abhängig mache, wie viele und welche Entscheidungsvarianten sie zur politischen Entscheidung anbieten würde. Das ist ein interessanter (und ein wenig besorgniserregender) Punkt  : Schadensminimierung durch Optioneneinschränkung. Hier kann raffinierterweise Dummheit zur Vereinfachung führen. Der Preis der Überforderung ist nicht immer die Erfahrung der Überforderung. Oder mit Sokrates gesagt  : Ein Mensch, der weiß, dass er überfordert ist, weiß mehr, als ein Mensch, der dies nicht weiß. Die Frage ist jedenfalls nicht, ob Politik überfordert, sondern wie – und wie damit umzugehen ist. Fast könnte man Mitleid entwickeln. Dennoch  : Für mich ist schon wichtig, festzuhalten, dass kein Politiker arm ist, weil er Politiker – 28 –

Politisch-musikalische Menschen

ist, es ist alles selbst gewählt. Tatsächlich ist es nicht ungefährlich,

die Einstellung zu kultivieren, man habe ein schweres Leben und man müsse auf vieles verzichten und man verdiene deswegen besondere Kompensationen. Das ist ein Motiv, das mitunter bei hart arbeitenden Menschen oder auch zölibatären katholischen Priestern anzutreffen ist. Diese Einstellung ist deswegen gefährlich, weil sie viele »Ausnahmen« und Grenzüberschreitungen rechtfertigen lässt. Gleichwohl ist zuzugestehen, dass Politik als Beruf eine Reihe von Herausforderungen mit sich bringt, die Gesundheit, inneres Gleichgewicht oder auch Lebensplanung betreffen. Im Laufe des Buches wird uns noch eine Fülle weiterer Herausforderungen begegnen. Eignungsfaktoren

Die genannten Herausforderungen, selbst wenn sie nur angedeutet wurden, machen klar, dass bestimmte Voraussetzungen für erfolgreiche politische Tätigkeit gegeben sein müssen. Ich möchte auf dem Hintergrund der geführten Gespräche elf solcher Eignungsfaktoren nennen, gleichsam elf Spieler auf dem Feld der politischen Arbeit  : Ein Aspekt, der im politischen Leben fraglos einen Eignungsfaktor darstellt, ist die Fähigkeit zur raschen Umstellung. Es gibt immer wieder neue Situationen, neue Fragestellungen, andere Menschen. Das hat auch mit »Medientauglichkeit« zu tun, mit der Fähigkeit, Dinge in kurzer Zeit auf den Punkt zu bringen, schlagfertig zu sein, sich neu einstellen zu können. Terminlich nimmt dich das mit Haut und Haar in Anspruch. Wenn der Kalender voll ist, ist er voll und dann muss man abarbeiten, egal was passiert, ob man verkühlt ist oder nicht. Man muss funktionieren über weite Bereiche. Und man darf nicht abheben, sondern muss versuchen, in jeder Situation – 29 –

Eignung und Neigung

auf Menschen zuzugehen. Auch nicht immer leicht, wenn man Termin­ druck hat und gestresst ist. Und man muss sich sehr rasch umstellen können, weil man doch in verschiedenen Metiers unterwegs ist.

Nennen wir diese Herausforderung mentale »Flexicurity«  – einerseits fest in bestimmten Überzeugungen verankert zu sein, andererseits sich blitzschnell umstellen und einstellen zu können. Die Politikerin muss sich ohne Übergänge an veränderte Umstände anpassen können. Damit kann auch die schnelle Auffassungsgabe als Muss in der Politik angesehen werden  : Nirgends lernt man so rasch, sehr schnell Dinge aufzufassen, zu komprimieren, den wesentlichen Inhalt herauszufiltern, um zu reagieren. Schnelles Auffassen und

Aneignen, schnelles Lernen, schnelles Entscheiden – so stellt sich das politische Leben dar. Eine Gesprächspartnerin nannte als entscheidenden Punkt die Hauptherausforderung, wie man eine seriöse inhaltliche Befassung in der verfügbaren Zeit zustande bringt. Die Politikerin braucht, so der allgemeine Tenor, Lernfähigkeit, allerdings eine besondere Form der Lernfähigkeit, die eine besondere Sensibilität verlangt  : Da muss man vor allem eines können  : sehr schnell lernen. Nicht nur inhaltliche Dinge lernen, sondern auch herausfinden, welche Beziehungsgeflechte herrschen, wie man sich da einbringen kann, worauf man aufpassen muss und wo die Fallen sind und die Fettnäpfchen, in die man nach Möglichkeit ja nicht unbedingt mitten hineintreten sollte. Da braucht man auch ein gewisses Gespür, weil das ist nicht etwas, das man wie eine Sprache lernen kann.

Ein zweiter Aspekt, der mit der Gesprächsfähigkeit zusammen­ hängt, ist die Fähigkeit zur Mehrsprachigkeit, die Fähigkeit zur Kooperation. Friedrich Heer hat einmal die These aufgestellt, dass es

nicht nur die Mehrsprachigkeit in dem Sinne, dass man also verschiedene Sprachen beherrscht, gibt, sondern es gibt auch eine Art innere Mehrsprachigkeit. Das heißt, Sie müssen, wenn Sie mit Bauern reden, anders reden, als wenn Sie mit Universitätsleuten reden, und Sie müssen mit Kindern anders reden als mit Erwachsenen. Und da – 30 –

Politisch-musikalische Menschen

jeweils die richtige Sprache – man könnte auch sagen, den richtigen Ton  – zu finden, das ist es, was einen guten Politiker ausmacht. Je nach Situation die richtigen Sprachbilder zu benutzen, die richtigen Beispiele zu nennen und dergleichen mehr, das muss man auch lernen.

Polyglottie ist die Fähigkeit, verschiedene Sprachen zu sprechen. Sie ist für die Politikerin, die mit vielen verschiedenen Gruppen und tatsächlich mit allen, für die und mit denen Politik gemacht wird, in Kontakt ist oder kommen kann, entscheidend. Damit könnte man auch die Fähigkeit nennen, Geschichten zu erzählen. Politikerinnen und Politiker bieten Orientierung an (Politik als Ordnungsgeschehen  !), und eine besondere Quelle von Orientierungsangeboten sind Geschichten  ; sie vermitteln Orientierung, halten eine Gemeinschaft zusammen und motivieren zum Handeln. Politische Entscheidungen, etwa bei einer Volksabstimmung, müssen in Geschichten vermittelt werden. Die Kunst besteht vor allem darin, »story moments« zu identifizieren, die rechten Momente zum Erzählen einer Geschichte. Das menschliche Gedächtnis funktioniert auch so, dass wir uns Geschichten leichter merken als Theoriengehalte, dass wir uns von Geschichten tiefer berühren lassen als von satzhaften Einsichten. Geschichten sind auch ein wesentlicher Motor im Umgang mit Fragen nach Sinn und Bedeutung sowie eine Quelle von Glaubwürdigkeit. Mit der Polyglottie ist auch die Kooperationsfähigkeit verbunden  – Politik scheitert immer wieder an einem Kooperationsdefizit. Die Kooperationsfähigkeit zwischen verschiedenen Parteien war bisher die größte Hürde, um politische Arbeit besser zu machen. Aus dieser festgefahrenen Konkurrenzsituation heraus scheint es immer mit Gesichtsverlust verbunden, wenn man aufeinander zugeht. Also, dass jetzt in den Landesverwaltungen gewisse Abteilungen erstmals zusammenarbeiten dürfen, die bisher nicht zusammenarbeiten durften, verändert extrem viel. Das sind alles Dinge, die wahrscheinlich überhaupt nicht nach – 31 –

Eignung und Neigung

außen dringen. Hier kann sinnvollerweise zwischen Kooperation nach innen und Kooperation nach außen unterschieden werden, aber zwischen kompetitiver und nichtkompetitiver Kooperation. In manchen Kooperationen (etwa in einer Koalitionsregierung) ist das Moment der Konkurrenz ständig präsent, in anderen (etwa in der Kooperation zwischen Ministerin und ihrem Pressesprecher) tritt sie in den Hintergrund  : Politik ist irgendwie das ultimative Aufeinandertreffen von Koope-

ration und Konkurrenz. Im Grunde geht es ja darum, möglichst gut zu kooperieren für Ziele, die man hat, und gleichzeitig musst du dich aber klar abgrenzen, du musst klar zeigen, wofür du stehst im Unterschied zu anderen Parteien, das ist einfach systemimmanent. Und das ist eigentlich in ganz vielen Situationen die Herausforderung. Eine Per-

son eignet sich damit für die Politik, wenn sie auf diesem Klavier von Kooperation und Konkurrenz, von gemeinsamem Boden und Alleinstellungsmerkmalen, spielen kann. Ein dritter Aspekt, der über die Eignung entscheidet, durchaus mit dem Tempo verbunden, ist der Entscheidungsdruck. In, sagen wir, philosophischen Seminaren kann man stundenlang handlungsentlastet und ohne Druck über Grundsatzfragen sprechen. Man hat dem viel rezipierten Modell kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas vorgeworfen, Luxusprodukt der akademischen Welt zu sein, das nur in dieser umgesetzt werden könne  ; denn eine ideale Sprechsituation, die Zwänge und Drücke abwenden könne, werde man in der politischen Realität nicht finden. Entscheidungsdruck bedeutet  : Du musst auf einem Weg weitergehen und an einem bestimmten Punkt, den du nicht mehr aufschieben kannst und an dem sich die Entscheidung auch nicht wegschieben lässt, eine Entscheidung treffen. Dieser Druck, bei unvollkommenen Situationen, in nicht idealen Umständen mitunter konsequenzenreiche Entscheidungen treffen zu müssen, ist weder mit Perfektionismus noch mit Kompromisslosigkeit oder – 32 –

Politisch-musikalische Menschen

Skrupulosität vereinbar. Es gibt in der Politik schlaflose Nächte, wo

du grübelst, wie tue ich es  ? Wo du Angst hast, in der Situation nicht bestehen zu können. Wo du ins Bett gehst und sagst, ich habe noch keine Lösung für das, was da morgen auf mich zukommt. Dinge, die spontan sind, wo du fast überrollt wirst. Wo du aber weißt, jetzt muss ich mich hinstellen und auch einmal mit dem Risiko, dass ich etwas falsch mache, entscheiden. Ich kann nicht lang herumtun. Ja, wer das nicht will, ist eh falsch am Platz.

Unter Druck schnell und sicher entscheiden können  – das ist der Eignungstestfaktor. Hier sind wir wieder mit einem Aspekt der Eingangsfrage, nach den Vorteilen der Dummheit, konfrontiert  :

Die Sicherheit einer Meinung wird sehr oft erschüttert. Und weniger dadurch, dass man sozusagen seine Entscheidungsgrundlagen nicht vollständig beisammengehabt hätte, sondern mehr dadurch, dass man einfach lernt, ja, man kann das aus einem anderen Blickwinkel sehen und man kann andere Argumente einfach stärker ins Spiel bringen. Das hab ich oft erlebt und das hemmt natürlich dann auch ein bisschen den Elan. Weil man zum Zauderer wird und zum Skeptiker.

Auch diese Wortwahl (»Skeptiker«, »Zauderer«) hat etwas mit der Eingangsfrage zu tun  – es ist ja durchaus Zeichen von Klugheit, Dinge infrage zu stellen. Es ist nicht immer selbstverständlicher Teil der politischen Kultur, die eigene Position oder die Position der eigenen Partei infrage zu stellen. Viele Menschen haben so fest

gefügte Vorstellungen von sich und der Welt, dass sie alles, was an diesen Vorstellungen und vor allem an ihrem Selbstbild rüttelt, überhaupt nicht an sich heranlassen. Das rinnt an ihnen ab, da kann man ihnen tagelang Argumente vorlegen, die dringen gar nicht in sie hinein. … Es gibt Dogmen, die sind unerschütterlich, da geht nichts. Da sind Parteien und Formationen nicht viel anders als Individuen. Da bin ich, je älter ich werde, umso desillusionierter. Früher hätte ich stärker an die Kraft des Arguments geglaubt, ich glaube inzwischen fast nicht mehr daran. Ganz generell  : Ich weiß jetzt eigentlich nicht mehr genau, – 33 –

Eignung und Neigung

was Veränderung und Überzeugung bewirkt. Ich weiß es nicht. Also ein Argument ist es selten, das sag ich jetzt einmal. Das würden sich

Menschen, die an den zwanglosen Zwang des besseren Arguments glauben, anders vorstellen … Die angesprochene Fähigkeit, unter Druck gut entscheiden zu können, hat mit der Fähigkeit zu tun, Verantwortung zu übernehmen. Damit verlangt politische Führungsarbeit viertens nach Führungsfähigkeiten, wie sie etwa im Delegieren zum Ausdruck kommen. Aufgrund der angesprochenen Überforderung ist ein Eignungsfaktor in der Politik, die Fähigkeit, maßvoll zu vertrauen, also dort zu vertrauen, wo es angebracht und notwendig ist. Regierungsfunktion bedeutet auch, dass man Dinge abgeben und sich auf andere verlassen muss, z. B. dass die Terminsekretärin die Termine gut macht. Wenn man glaubt, da muss man jedes Mal dreinpfuschen und dreinmurxen, dann wird das nichts. Das ist natürlich

nur die Spitze des Eisbergs von Anforderungen an eine Person mit Führungsverantwortung, aber ein wichtiger Punkt. Dazu kommt sicher noch die Fähigkeit, entscheidende Unterredungen (»crucial conversations«) führen zu können, also Unterredungen, bei denen viel auf dem Spiel steht.18 Ein fünfter Eignungsaspekt, der mit dem auch in diesem Buch thematisierten Motiv der »dicken Haut« in gewisser Spannung steht, ist die Frage nach dem Gespür, die Frage nach der Feinfühlig­keit in Bezug auf Stimmungen und Emotionen. Es gibt auch in der Politik Fenster für etwas, Stimmungen. Die Kunst ist, zur richtigen Zeit zu wissen, was ist jetzt tragfähig. Kommt eine Emotion, eine Stimmung, irgendwas hoch, und das kippt. Und ein guter Politiker weiß, wann  … die richtige Zeit fürs richtige Thema ist. Marie Luise von

Franz beschreibt Politikerinnen und Politiker in ihrer Fähigkeit, Stimmungen des Publikums bei einer Rede zu spüren und auf diese Stimmungen zu reagieren.19 Hier liegt eine feine Linie zwischen »volksnah« und »populistisch«. – 34 –

Politisch-musikalische Menschen

Sechstens hat Politikeignung mit der Fähigkeit zu tun, mit Kritik umgehen zu können. Man muss gut mit Kritik umgehen können.

Weil man sehr oft mit Kritik konfrontiert ist, die nicht immer fundiert ist. Oder  : Klar, es kommt auch Kritik und es gibt auch einmal böse, anonyme Briefe usw. … Diese Dinge muss man schon auch vergessen und wegstecken können. Hier geht es auch um das Ausloten

der feinen Linie, die zwischen »Kritik hören« und »toxische Kommunikation ignorieren können« verläuft. So können wir naiv fragen  : Was bedeutet es, gut mit Kritik umgehen zu können  ? Es hat

schon den Versuch gegeben, und zwar den permanenten Versuch, uns ins negative Licht zu stellen und mich im Besonderen, um halt politisches Kleingeld zu machen. Da entwickelt man dann aber eine Haltung, dass man sagt  : »Na gut, wenn es von denen kommt, ist es mir wurscht.« … dann haue ich halt zurück. Da sucht man sich dann irgendwelche Wege, dass man das bewältigt. »Irgendwelche Wege« …

Eine Strategie, die gerne angewandt wird, aber nicht unter guten Umgang fallen kann, ist die Herabminderung des Kritikers. Nobler ist es da schon, Höflichkeit und Klarheit walten zu lassen. Jorge Bergoglio, der spätere Papst Franziskus, hat sogar – im Rückgriff auf einen Autor aus dem sechsten Jahrhundert – über die »Kunst der Selbstanklage« nachgedacht, also über die Fähigkeit, bei Kritik nicht reflexartig abzuwehren, sondern die realen Fundamente der Kritik zu suchen und anzuerkennen.20 Vermutlich würden »Spin-Doktoren« dieses Ansinnen ablehnen. Jedenfalls kann Kritikfähigkeit als die Kunst verstanden werden, so mit Kritik umzugehen, dass größtmöglicher Nutzen für das Gemeinwohl und das je höhere Gut, für das persönliche Wachstum und für die Beziehung zwischen Kritikgeber und Kritikempfänger entsteht. Verbunden mit der Kritikfähigkeit ist der siebte Eignungsfaktor die Fähigkeit, mit Niederlagen umzugehen. Der Begriff der »Resilienz« wurde bereits im Zusammenhang mit den Herausforderungen genannt. Politik braucht den fairen Verlierer. Es gibt Erfolgs– 35 –

Eignung und Neigung

erlebnisse in der Politik, es kann sich aber der Wind auch drehen  :

Wenn die Energie in die andere Richtung läuft, ist es aber umgekehrt dann auch dramatisch, wenn du eine Phase hast, wo es schlecht läuft. Man muss auch ziemlich einstecken können und schnell Niederlagen verarbeiten können. Beides gehört zusammen. Die, die nur immer Erfolg haben, sind dann bei der ersten wirklichen schwierigen Situation meistens fast drauf und dran, dass es sie aus der Kurve schmeißt. Achtens braucht Politik Geduld  : Ausdauer ist in der Politik schon auch notwendig, für zu ungeduldige Menschen ist Politik ein gutes Pflaster zum Scheitern. Oder  : Überzeugungsarbeiten zu machen, es ist halt oft mühsam, es kostet einen selbst oft ziemliche Nerven und viel Geduld, aber da muss man halt beharrlich sein. Geduld ist

Ausdauer, Wartenkönnen, Ertragenkönnen, dass die Welt nicht beliebig gestaltbar ist, die Fähigkeit, auch etwas auszuhalten um eines Zieles willen. Geduld braucht gute Lungen (und den langen Atem) und Geduld braucht starke Füße, weil man mit den Füßen am Boden stehen muss. Das nennt man mitunter »Demut« – oder auch  : Realismus, Realismus etwa in Bezug auf die angesprochene Ungleichzeitigkeit, die Geduld verlangt  : Und selbst wenn die Hin-

dernisse nicht so besonders groß sind, brauchen die Dinge doch ihre Zeit. Bestimmte Abläufe kann man nicht wirklich so leicht beschleunigen. Aber es ist auch wichtig, das zu erkennen und sich darauf einzustellen, dass manches auch vorgegeben ist. Und gerade weil der Zeitfaktor ja auch im persönlichen Anspruch eine Rolle spielt, sollte man den anderen kein schnelleres Tempo aufzwingen. Das ist auch eine Frage der Zeit. In den Worten eines anderen Gesprächspartners  : Ich glaube, die größte Herausforderung ist, das Tempo selbst zu bestimmen. … Also da bin ich ein recht Gefährdeter. Dass ich glaube, das ist notwendig und das ist notwendig. … Da haben wir wenig Zeit und so weiter und so fort, ich habe gelernt, dass dieses Sprichwort aus Sambia eines ist, das es eigentlich genau trifft, … nämlich, dass es keinen Sinn macht, am Grashalm zu ziehen, denn er wächst trotz– 36 –

Politisch-musikalische Menschen

dem nicht schneller, sondern wichtig ist, dafür zu sorgen, dass es eine Sonne gibt für das Gras und dass es von Zeit zu Zeit gegossen wird. Und den richtigen Moment auch abwarten zu können, wann ein Thema reif ist. Möge die Person noch an der Macht sein, wenn der

Moment reif ist… Mit Geduld hat auch neuntens der Aspekt der Fähigkeit zum Unvollkommenen zu tun  : Die Politik des Unvollkommenen oder des

Unvollendeten, mit der muss man leben lernen. Man darf nicht daran verzweifeln, dass das so ist. … Du wirst nie alles, was du anfängst, fertigstellen können. Aus unterschiedlichsten Gründen. Du musst nur das Gefühl haben, du hast das Richtige angefangen.

Zehntens  – und diese Fähigkeiten werden in diesem Buch, in dem es um die ethische Gestaltung des Politikalltags gehen soll, immer wieder eingefordert – sind Reflexionsfähigkeit und Distanz notwendig  : Nicht alles so furchtbar ernst nehmen, was da passiert

und wie viel auch Schauspiel dabei ist, das kann man nicht verhindern. In anderen Worten  : Man muss sich selbst schon auch immer wieder herunterholen und dessen bewusst sein  : »Was ist meine Aufgabe  ? Meine Aufgabe ist nicht zu herrschen, sondern zu dienen.« Der

Dienst an den Menschen ist, wie es Gandhi gesehen hat, in erster Linie Dienst an der Wahrheit. Freilich  : Es gibt nicht nur eine Wahrheit. So fair muss man sein, zu akzeptieren, dass es vielleicht eine zweite oder dritte Wahrheit gibt, oder sich selber zu fragen, was könnte denn die andere Wahrheit sein  ? Solang man sich das bewahrt, einer zweiten Wahrheit Raum zu geben, ist man noch relativ lebendig und tough in der Politik oder auch in der Lage, vernünftige Kompromisse zu schließen und zu sagen, der Kompromiss ist ja nichts Schlechtes, sondern ist eigentlich die Basis für eine nächste Lösung. Weil, wenn ich meine politischen Mitbewerber auch leben lasse, das ist schon schön, lustvoll, einmal Argumente auszutauschen. Aber leben lassen ist eine Grundtugend, die ich jedem nur ans Herz legen würde. Das

hat dann doch mit der Kunst der »Selbstanklage« im Sinne von – 37 –

Eignung und Neigung

»sich selbst infrage stellen« zu tun. Freilich muss hier (Stichwort »Skeptiker«, »Zauderer«) noch einmal die eingangs erwähnte Frage nach den Vorzügen der Dummheit angesprochen werden  ; sehen wir uns die folgende Aussage an  : Sobald du ein bisschen distanziert

bist zu dem, was du tust, und das hinterfragst  : »Ist das sinnvoll  ? Ist das wirklich wichtig, was du getan hast  ? Bewegst du mit dem was oder nicht  ?«, wenn du also kritisch zu dir selbst bist, schwächt das enorm. Es ist eine Stärke, aber es ist gleichzeitig auch eine Schwäche.

Ein elfter und letzter Eignungsaspekt kann in der »Liebe zu den Menschen« gefunden werden, nennen wir es einmal so. Man muss

die Menschen gern haben per se. Sonst kann man die Tätigkeit nicht gut erfüllen, wenn man mit so vielen Menschen in Kontakt tritt. Weil man gefordert ist, auf so viele Menschen zuzugehen. Es lohnt sich,

bei diesem Aspekt innezuhalten  – »Liebe« kann nach einer Einsicht des Philosophen Harry Frankfurt als starke Sorge übersetzt werden. Starke Sorge ist die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, die Ausdruck einer Entscheidung ist, durch die man sich auch darauf vorbereitet, einen Aufwand zu leisten, sich zu mühen und Opfer zu bringen.21 Ja, und wichtig ist, dass man die Leute mag.

Wer das nicht tut, der soll die Finger davon lassen. Politik gegen die Menschen zu machen, hat null Sinn. Und Menschen beherrschen zu wollen, geht auch nicht. Bestenfalls wird Politik im Modus der

»Generativität« betrieben. Generativität ist eine Eigenschaft eines reifen Menschen, der Vertrauen vermittelt und sich am Blühen anderer freut. Generative Politik zieht Kraft aus dem Blühen des Landes oder des Dorfes. Diese Liste von Faktoren kann fraglos einschüchtern. Sie erinnern sich sicherlich daran, dass politische Musikalität nicht nur eine Frage käuflicher Technik ist, sondern eine Frage der Persönlichkeit. Sie erinnern sich auch daran, dass die Arbeit in der Politik anspruchsvoll und fordernd ist. Der elfte Faktor ist sicherlich ein Schlüsselaspekt, wie es schon der erste Korintherbrief im Neuen – 38 –

Politisch-musikalische Menschen

Testament (wird gerne für Hochzeiten verwendet) andeutet  : »Wenn ich alle Geheimnisse wüsste … und Berge versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht … nützte es mir nichts.« (1 Kor 13,2) Lieblose Politik wird darauf hinauslaufen, Menschen wie Dinge zu betrachten, als Werkzeuge für eigene Interessen oder als Stolpersteine auf dem Weg zur Erreichung von eigenen Zielen, wie man das auf erschreckende Art in Biografien Mao Zedongs verfolgen kann, dem ein einzelnes Menschenleben nichts, aber wirklich nichts wert war.22 Er wurde von Stalin unterstützt, weil er der Machthungrigste war, nicht aufgrund etwaiger Führungsqualitäten  ; er kam an die Macht aufgrund von Machthunger ohne Skrupel (ja sogar gepaart mit Freude an Grausamkeit und Blutrausch) und aufgrund von drei Gaben  : der Gabe zum Delegieren, der Gabe zur Selbst­ inszenierung und der Gabe zu strategischen Beziehungen, die ihm nutzten und ihn nicht herausforderten, also systematisch in eine Blase der Selbsttäuschung trieben. Dann ist »Menschbleiben in der Politik« verspielt.

– 39 –

»Ich bin in der Maschinerie« Über Macht und Verantwortung

In dem erwähnten Roman von Dave Eggers antwortet der entführte frühere Senator auf den Vorwurf des Kidnappers, Teil der Maschinerie gewesen zu sein  : »Ich war in der Maschinerie, um die Maschine zu reparieren.«23 Der junge Mann lässt nicht locker und ruft seinem Entführungsopfer zu, dass der Staat »einen Ort für uns« schaffen sollte  : »Ihr hättet uns alle irgendwo hinschicken und uns eine Aufgabe geben müssen.«24 Dieser Satz fällt auf dem Hintergrund der These, dass »das Chaos auf der Welt zum weitaus größten Teil von einer relativ kleinen Gruppe enttäuschter Männer verursacht wird… Die Männer, die nicht die Arbeit bekommen haben, die sie sich erhofft haben. Die Männer, die nicht die Beförderung bekommen, die sie sich erhofft haben.«25 Daran mag etwas Wahres sein  – Menschen, die Lebensenttäuschungen mit sich tragen, vergiften das Klima. Der polnische Kinderarzt Janusz Korczak, der sich schon in den 1920er-Jahren für Kinderrechte ausgesprochen hat und im Warschauer Getto ein Waisenhaus leitete, hatte davor gewarnt, solche frustrierten Menschen auf Kinder loszulassen  : »Die Zukurzgekommenen, die vom Leben stiefmütterlich Behandelten  – hier rächen sie sich für widerfahrenes Unrecht. Enttäuscht in ihren ehrgeizigen Wünschen, gefallen sie sich in der Ausübung von Macht ohne Verantwortung, lassen sich ehrerbietig behandeln, erlauben gnädigst, daß man ihnen dient, und geben despotisch ihre Befehle.« 26 Politik wird einerseits (mitunter) von solchen Menschen gemacht, Politik muss andererseits mit solchen Menschen im öffentlichen Raum rechnen. Gesetze sind etwa so zu konzipieren, dass sie auch den »schlimmsten Fall« berücksichtigen. – 41 –

»Ich bin in der Maschinerie«

Politik ist ein mitunter grausames Spiel zwischen Macht und Ohnmacht  – man denke nur daran, wie der scheidende Premierminister in London noch in der Wahlnacht zu packen beginnen muss, weil ihm die Wohnung mit der Adresse Downing Street 10 nicht mehr zur Verfügung steht. Politik bezieht sich auf die Frage nach Zuteilung und Verteilung, Ausübung und Begründung von Macht. Sie hat mit Lust am Gestalten zu tun, wie es ein Gesprächspartner formulierte. Quentin Skinner hat das Politische als Frage dessen, was legitimiert werden kann, beschrieben.27 Politik und Macht können nicht getrennt werden, ebenso wenig wie in der Neuzeit Macht und Recht voneinander getrennt werden können. Und Macht kann – ähnlich wie Geld – Effekte eines Rauschmittels haben und in Abhängigkeiten führen.28 Politik, das ist das größte Schachfeld der Welt, da gibt es nicht nur 64 Felder, da hast du 1000 Felder und jeden Tag eine neue Her­ ausforderung. Und das ist schon auch ein Aspekt, dass Leute, die sehr politische Menschen sind und die einmal ein bisschen drinnen waren, diese Vielfältigkeit an Herausforderungen lieben, das ist wie eine Droge. Also die Droge hätte ich schon noch gerne, aber die Mechanismen der Politik mag ich nicht mehr. Und daher kann ich die Droge nicht haben.

Macht und Wege zur Macht Politik macht Macht  ; Politik macht mächtig. Macht ist Fähigkeit zur Veränderung. Diese Fähigkeit kann »Handlungsmacht«, aber auch »Verhandlungsmacht« sein. Robert Dahl hat Macht als die Möglichkeit von A beschrieben, B dazu zu bringen, etwas zu tun, was B sonst nicht tun würde.29 Grundsätzlich können drei Bündel von Theorien der Macht unterschieden werden  : subjektbezogene Theorien (Macht bezogen auf einen Machthaber, der sich durchsetzt), relationale The– 42 –

Über Macht und Verantwortung

orien (Macht als Beziehungsgeschehen) und strukturelle Theorien der Macht (Macht taucht in Systemen auf und ist nicht mehr eindeutig zuordenbar).30 Im politischen Alltag greifen diese Dynamiken ineinander. Der Begriff der Macht hat mit Einfluss, Autorität, Gewalt und Kontrolle zu tun. Im Lateinischen stehen dafür die Begriffe »potestas«, »auctoritas«, »potentia« und »dominium« zur Verfügung. Dabei kann »Amtsgewalt« (»potestas«) von »persönlicher Autorität« (»auctoritas«) unterschieden werden, die vor allem damit zu tun hat, Respekt zu inspirieren. Ein Modell zum Verständnis von Macht, wie es auch in der Politik verwendet wird, ist die Autorität von Eltern.31 Auf diesem Hintergrund sind Begriffe wie »Vater Staat« oder auch der Spitzname »Mutti« für die deutsche Bundeskanzlerin Merkel, wenn schon nicht tragfähig, so doch verständlich. Es spielt die Versuchung, politische Verantwortungsträger in die Rolle von Eltern zu drängen, die es zu richten haben, immer wieder in das Tagesgeschehen hinein. Macht verändert den Charakter  ; das Gefängnisexperiment von Stanford, bei dem Studierende in die Rollen von Gefängniswärtern bzw. Häftlingen schlüpften, hat dies eindrucksvoll illustriert  ; der damalige Versuchsleiter Philip Zimbardo hat glaubhaft über die Veränderung der eigenen Persönlichkeit durch das Experiment geschrieben.32 Er hatte sich nach einigen Tagen wie ein Gefängnisdirektor verhalten, ohne dies zu merken. Erst ein Kollege bei einem gemeinsamen Mittagessen machte ihn darauf aufmerksam. Nach Politiktheoretiker Ricardo Blaug besteht zwar kaum ein Zweifel daran, dass Macht korrumpiert, weitgehend unerforscht ist hingegen, wie und warum dies konkret geschieht.33 Diese Veränderung durch Macht gibt zu denken, gerade wenn es um das Thema »Menschbleiben« (»eine/r von uns bleiben«  ; »am Boden bleiben«) geht. Ich glaube, dass das Menschbleiben in der Politik dem Machtstreben in der Politik völlig widerspricht. Und dass – 43 –

»Ich bin in der Maschinerie«

das Machtstreben von vielen Spitzenfunktionären per Druck, per Zwang verhindert, dass man Mensch bleiben kann. Die Leute, die aufsteigen wollen, werden diese Werte ablegen, und die, die es nicht schaffen, die einfach sagen, okay, tut mir leid, mir ist das so viel wert, die werden dementsprechend nach einer Zeit aufhören. Oder  : Einfluss zu erreichen und dennoch Mensch bleiben zu können, sollte vereinbar sein, nur müsste die Spitze das vorleben … Solange aber »nach dem Mund reden« und »alles schlucken, was von oben kommt« als der höchste Wert empfunden wird, werden keine moralischen Werte nach oben kommen. Wünschenswert wäre es anders. Wenn jetzt ein Vorsitzender sagt, für ihn ist es wichtig, dass alle kritisch sein und die ehrliche Meinung sagen können, dann werden auch Leute nachkommen, die kritisch sind. Wenn aber jetzt einer oben sitzt, der wirklich alles niederhält, dann wird es auch schwierig sein, dass kritische Leute raufkommen, und man wird als politische Organisation blind für die Anliegen der Menschen. Macht kann insofern blind

machen, als die Empathiefähigkeit mit Macht nicht notwendigerweise steigt  ; im Gegenteil, Studien haben gezeigt, dass Geld und reduzierte Empathiefähigkeit zusammenhängen, was auch für die Frage nach Macht relevant ist.34 Macht ist in gewisser Weise auf die Zukunftsgestaltung gerichtet, hat mit der Fähigkeit zu tun, eine gewisse Zukunft herzustellen. Nach Aristoteles ist Macht das Vermögen, Mögliches wirklich zu machen  ; Macht ist Vermögen zur Veränderung, Fähigkeit zur Transformation.35 Das bringt in der Regel die Erfahrung von Widerstand mit sich  : Veränderungen einleiten, gegen viele Widerstände meistens. Veränderung ist eine schwierige Situation für viele, weil sie sich halt in der Situation gerade beheimatet fühlen oder fürchten, dass etwas schlechter wird.

Macht ist damit auch geschickter Umgang mit Ängsten  ; Macht ist freilich zunächst etwas, das aufgebaut wird. Wie wird Macht erworben  ? An Studien dazu mangelt es nicht. So hat, um nur ein – 44 –

Über Macht und Verantwortung

eindrucksvolles Beispiel zu nennen, Arnold M. Ludwig in seinem Hauptwerk King of the Mountain eine monumentale Studie über »Political Leadership« vorgelegt, für die Hunderte politische Karrieren in den Blick genommen wurden, um der Psychologie der Mächtigen auf den Grund zu gehen.36 So können wir uns fragen  : Gibt es hier bestimmte Muster  ? Und wenn ja, wie beeinflussen sie das Verhalten derjenigen, die sich für eine politische Lauf bahn entschieden haben  ? Politische Karrieren fallen nicht vom Himmel  ; J.  F. Kennedy wäre ohne den intensiven finanziellen Einsatz seines Vaters nicht in hohe politische Ämter gelangt. Macht braucht eine Basis – sowohl im Sinne von »Fundament« und »Vorbereitung« als auch im Sinne von »Rückhalt« und »Gefolgschaft.« Die einschlägige Forschung geht von einem »Phasenmodell politischer Karrieren«37 bzw. von einem erkennbaren »Rekrutierungs- und Karrieremuster«38 aus. Es scheint sich diesbezüglich so zu verhalten, dass es einen klar dominierenden Entwicklungspfad, also quasi so etwas wie eine politische »Standard-Karriere« gibt,39 während der »Quereinstieg« in die Politik eine deutlich untergeordnete Rolle spielt.40 In seinem Buch Der Weg nach ganz oben erarbeitet der Politologe Andreas K. Gruber einen kleinen Leitfaden für angehende Politikerinnen und Politiker und listet dabei auf, was in Deutschland Conditio sine qua non für den politischen Aufstieg darstellt  : Mehr oder weniger zwingend notwendig sind demnach ein gewisses Ausbildungsniveau, ein Parteibuch und das bereits früh beginnende Durchlaufen der langwierigen sogenannten »Ochsentour« innerhalb der jeweiligen Partei.41 Der »kontinuierliche innerparteiliche Aufstieg«,42 der erfahrungsgemäß oft in parteinahen Jugendorganisationen und meist im kommunalpolitischen Engagement beginnt,43 ist gewiss kein spezifisch deutsches Phänomen. In Österreich beispielsweise sind die Rekrutierungsmuster ebenfalls von stark institutionalisierten Pfaden geprägt.44 Für das Projekt »Mensch bleiben in der – 45 –

»Ich bin in der Maschinerie«

Politik« ist gewiss die Frage relevant, wie sich derart klare Wegmarken und entsprechend eng abgesteckte Wege auf die aufstrebenden Persönlichkeiten auswirken. Vermutlich gibt es einen stark homogenisierenden Effekt  : Was nämlich gerade für Österreich als charakteristisch gilt, ist die überaus auffällige Homogenität der politischen Elite, die praktisch nur aus Parteifunktionären und Vertretern der Verbände besteht.45 Vor dem Hintergrund dessen, was gemeinhin als »Freunderlwirtschaft«46 bezeichnet wird, spielen in der österreichischen Konstellation traditionell auch (mehr oder weniger) parteinahe, politische Sozialisationsinstanzen47 eine Rolle  : Als nicht unbedeutende Sprungbretter zur Macht  – so der Titel eines Buches hierzu  – gelten dabei  : (i)  für den ÖVP-nahen Bereich der Cartellverband (CV), auch wenn dessen Bedeutung inzwischen spürbar gesunken sein dürfte,48 (ii) die Burschenschaften, aus denen beträchtliche Teile der FPÖ-Führung hervorgehen,49 oder (iii)  der Verband Sozialistischer StudentInnen Österreichs (VSStÖ), dem eine etwas andere, aber doch nicht ganz unähnliche Rolle im SPÖ-nahen Bereich zukommt.50 Politik scheint hier also – so das pointierte Urteil von Thomas Seifert – konzipiert zu sein wie ein »Lehrberuf«.51 Zu den dadurch vorgegebenen Spielregeln gehört – wie etliche Beispiele lehren – auch, dass man sich politisch zu bewähren und hochzudienen hat,52 aber auch damit rechnen muss, verstoßen zu werden, sobald man von der vorgegebenen Linie abweicht.53 Die genannten institutionellen und infrastrukturellen Aufstiegsfaktoren, zu denen man – quer durch die Nationen – natürlich noch finanzielle Ressourcen und mediale Kanäle zählen muss,54 werfen die Frage auf, wie stark man sich und sein Leben verändern muss, um politisch erfolgreich zu sein. Auch hier scheint es ein typisches Muster zu geben. Mit Blick auf die von ihm studierten politischen Karrieren stellt Dietrich Herzog fest, dass politischer Aufstieg eine »schrittweise Entfremdung von den ehemaligen privaten und be– 46 –

Über Macht und Verantwortung

ruflichen Lebensverhältnissen«55 bedeutet, die umso irreversibler wird, je mächtiger man wird und je länger man politisch tätig ist.56 Das klingt zunächst wie eine plausible Erklärung für die sprichwörtliche »Loneliness at the top«.57 Vom Standpunkt der politischen Psychologie aus scheint man jedoch davon ausgehen zu müssen, dass es sich eher umgekehrt verhält  : Den politischen Aufstieg schaffen oft gerade misstrauische Individualisten, die wenig enge Bindungen eingehen wollen und daher bereits davor relativ einsam waren.58 Das ist beunruhigend. Weitaus beunruhigender jedoch ist eine andere psychologische Vermutung  : Die Spielregeln der Macht könnten so beschaffen sein, dass gerade Menschen, die zu bestimmten Psychopathologien neigen, in diesem Spiel einen gewissen Vorteil besitzen.59 Wie dem nun auch genau sei, eine psychiatrische Studie hierzu fördert jedenfalls wahrhaft beängstigende Daten zutage  : Für sein eben erwähntes Buch King of the Mountain hat Arnold Ludwig die Biografien von Spitzenpolitikern studiert und darin nach Symptomen für psychische Probleme Ausschau gehalten.60 Dabei kommt er selbst bei betont konservativer Auswertung61 zu überraschend hohen Werten  : Demnach gibt es bei 55  Prozent der Machthaber Anzeichen für irgendein Syndrom  – bei 91  Prozent der »tyrannisch« herrschenden Diktatoren, aber auch bei immerhin 49 Prozent der demokratisch gewählten Oberhäupter.62 Um dies besser einordnen zu können, sei gesagt, dass der Bevölkerungsdurchschnitt bei »nur« 32 Prozent liegen soll  ! 63 Interessant sind diesbezüglich auch die Details, nehmen wir hier nur eines zu den demokratischen Spitzenpolitikern  : Während offenbar bloß 6 Prozent der Gesamtbevölkerung stark depressiv sind, sind es in Ludwigs Politikergruppe ganze 15 Prozent.64 Am wohl aufschlussreichsten ist allerdings der Systemvergleich. Wie die obigen Zahlen schon klargemacht haben dürften, macht die Gegenüberstellung eines deutlich  : Je unumschränkter die Machtfülle ist, die – 47 –

»Ich bin in der Maschinerie«

zur Verfügung steht, desto mehr häufen sich auch die Anzeichen für diverse psychopathologische Phänomene.65 Ein beunruhigender Gedanke  : Ist die geistige Gesundheit etwa die Währung, mit der die totale Macht erkauft wird  ? All das erinnert freilich stark an den viel zitierten Satz des britischen Liberalen Lord Dalberg-Acton  : Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert auf absolute Weise (»Power tends to corrupt, and absolute power corrupts absolutely.«).66 Wie Ricardo Blaug festhält, lässt sich der Wahrheitsgehalt dieses Spruches zwar kaum anzweifeln, doch ist noch immer überraschend unklar, wie und warum genau diese korrumpierende Wirkung zustande kommt.67 Als gesichert gilt ihm allerdings, dass es sich um einen sozialpsychologisch bedingten Effekt handelt, der wohl mit der eigenen Erhöhung über die Untergebenen zusammenhängt und dessen Symptome wohlbekannt sind  : zunehmend arrogantes Auftreten, verstärkt unmenschliches Verhalten gegenüber unterstellten Personen, immer stärkere Isolation und all das, ohne sich dessen bewusst zu sein.68 Hier seien zwei Bemerkungen gestattet  ; erstens illustriert »der Ring des Gyges« die alte Angst der Menschheit, dass Macht korrumpiert   : In dieser Geschichte, nachzulesen in Platons Staat (359c–360b), wird ein Hirte beschrieben, der einen Ring findet, der den Träger unsichtbar machen kann, wenn dieser am Ring dreht. Das Resultat  : »Als sich die Hirten, wie gewöhnlich, zusammenfanden, um dem König den Monatsbericht über die Herden zu geben, kam auch er hin, mit dem Ring am Finger. Als er nun unter den anderen saß, drehte er zufällig den Stein des Ringes gegen sich ins Handinnere  ; dadurch wurde er seinen Nachbarn unsichtbar, und sie sprachen über ihn, als wäre er nicht da. Und er wunderte sich, faßte wieder den Ring und drehte den Ring nach auswärts  : und schon war er wieder sichtbar. Und da er dies gewahr wurde, erprobte er die Kraft des Ringes und so geschah es ihm  : drehte er – 48 –

Über Macht und Verantwortung

den Stein nach innen, wurde er unsichtbar, drehte er nach außen, sah man ihn. Da er dies erkannte, erreichte er sofort die Wahl unter die Königsboten. Dort angekommen, verführte er die Gattin des Königs, verschwor sich mit ihr gegen den König, tötete ihn und ergriff die Macht.« – Fazit nach Glaukon, den Platon die Geschichte erzählen lässt  : »Wenn es nun zwei solcher Ringe gäbe, und den einen sich der Gerechte, den andern der Ungerechte ansteckte, dann wäre wohl keiner aus solchem Stahl, daß er der Gerechtigkeit treu bliebe und es über sich brächte, von fremdem Gut abzustehen und es nicht zu berühren  ; wo er doch vom Markt ohne Angst und unbemerkt nach Belieben nehmen, in jedes beliebige Haus eintreten, mit jeder Frau verkehren, jedermann töten und aus dem Gefängnis befreien, kurz unter den Menschen wandeln könnte wie ein Gott.« Das ist einerseits als Hinweis auf eine eher pessimistische Sicht der menschlichen Natur in Bezug auf die Machtfrage zu werten, andererseits als Hinweis auf die Bedeutsamkeit von »Sichtbarkeit« von Macht und Machtmechanismen, also Transparenz. Zweitens mag es nicht verkehrt sein, Menschen mit Macht das Buch Assholes von Aron James zu empfehlen. Der Philosoph James hat in diesem Buch darauf reflektiert, welche Bedingungen den Gebrauch des Wortes »A« rechtfertigten, und Menschen, die dieses Etikett zu Recht erhalten, durch drei Eigenschaften charakterisiert  : Sie haben einen tief verwurzelten Sinn für exzessive Ansprüche, die sie als selbstverständlich nehmen, sie betrachten andere nicht als moralisch ebenbürtig und sie sind immun gegen Kritik. Menschen, die in einer Machtfülle leben, sind, so könnte man sagen, stärker dem Risiko ausgesetzt, diesen drei Bedingungen gerecht zu werden. Diesen Versuchungen der charakterlichen Deformation muss aktiv entgegengewirkt werden, um schleichende Veränderungen zu unterbinden.

– 49 –

»Ich bin in der Maschinerie«

Versuchungen

Macht bringt Versuchungen mit sich. Versuchungen sind jene Impulse, die Menschen von einer Ordnung (Regel) abzubringen drohen  ; Versuchungen zu widerstehen ist mit einem Kraftaufwand verbunden. Die Politik ist schon ein Feld, wo es am Tag 50 oder

100  Versuchungen geben kann. Und wenn man da jedes Mal den Weg des geringsten Widerstandes nimmt, dann geht man natürlich völlig in die Sackgasse. Es kann ein Kraftaufwand sein, Widerstand

erfordern, sich gegen Versuchungen zur Wehr zu setzen. Versuchungen kommen mit säuselnder Sanftheit  ; die Stimme der Versuchung ist süß, wie wir aus dem Schöpfungsbericht im biblischen Buch Genesis wissen  ; Eva wird von der sich sanft gebärdenden Schlange dazu gebracht, die Frucht vom verbotenen Baum zu nehmen. Die Stimme der Versuchung verharmlost einen Bruch oder eine Übertretung  – »es ist ja nur dieses eine Mal«, ist eine beliebte Strategie dieser Stimme  ; damit wird leichtfertig etwas zur Ausnahme erklärt. Die Politik kennt eine Reihe von Versuchungen – vor allem die Versuchung, das Amt und das Privatleben nicht zu trennen und die mit einem Amt verbundenen Vorteile für private Zwecke (und private Kontakte) auszunutzen. Diese Versuchungen müssen nicht konstruiert werden, sie ergeben sich aus einem Gespräch mit einem Freund, aus einer Einladung zum Essen, aus einer Stresssituation, die öffentliche Infrastruktur für private Zwecke nutzen lässt. Der Politiker ist auch größeren Versuchungen ausgesetzt, weil er eben hofiert wird und weil er – mehr scheinbare als wirkliche – Macht hat, aber doch ein bisschen Macht, und das korrumpiert natürlich oder führt in Versuchung, sagen wir es einmal biblisch. Was hier eine ganz wichtige Voraussetzung ist, und die hatte ich zum Glück in hohem Maße, das ist Unabhängigkeit. Also, Politiker sind meistens mehrfach abhängig, sie sind vor allem vom Wohlwollen ihrer Partei abhängig, in – 50 –

Über Macht und Verantwortung

der sie ja Karriere machen wollen. Die meisten müssen sich irgendwie anpassen und Kompromisse machen und opportunistisch denken, und natürlich nicht wenige hängen auch existenziell davon ab, dass sie in der Politik bleiben können, sie können nicht riskieren, aus ihr auszuscheiden.

Politikerinen und Politiker mögen das Auftreten von Situationen der Versuchung nicht steuern können, sie sind aber dennoch Versuchungen nicht hilflos ausgesetzt. Hier ist es erstens entscheidend, die betreffende Ordnung und Regel zu kennen und keine Grauzonen zu konstruieren, und zweitens, die entsprechende starke Bindung an diese Regel zu haben. Macht zu haben, kann, wie es in einem Gespräch geheißen hat, wie ein ordentliches Fieber sein, dem du erlegen bist. Das bedeutet auch unmittelbare Gratifikation,

die Möglichkeiten, zu gestalten, der tägliche Kick. Politik ist extrem schnelllebig. In kaum einem anderen Bereich musst du so schnell, so spontan reagieren, auch auf manchmal völlig neue Situationen. Du kriegst einen Anruf von einem Journalisten, hörst eine Geschichte zum ersten Mal und musst spätestens eine halbe Stunde später, wenn nicht sofort, so reagieren können, dass die Antwort und das, was die Verwaltung tut, zusammenpassen. Das ist schon auch ein Flow. Also, du hast in der Politik, wenn es gut läuft, relativ viele Flow-Erlebnisse und so einen positiven Kick.

Der Übergang zur Macht wie auch die Gewöhnung an die Macht sind ethisch neuralgische Punkte  ; der »Kipppunkt«, an dem Macht zur Gewohnheit wird, ist entscheidend. Hier können sich Wahrnehmungs-, Urteils- und Handlungsgewohnheiten einschleichen. Sie verschieben das, was jemand als »selbstverständlich« nimmt. Dies geschieht unmerklich. Womit man umgehen muss, ist, wenn du plötzlich die Macht hast, Ja oder Nein sagen zu können, beispielsweise bei Förderungen. Dass man das korrekt und auch in der Verteilung gerecht macht, ist nicht immer einfach. Aus sachlichen Überlegungen und auch, weil es eine Möglichkeit ist, zu punkten und – 51 –

»Ich bin in der Maschinerie«

sich selbst auch ein bisschen darzustellen. Wo hinzufahren und zu sagen, ihr seid klasse und deshalb kriegt ihr X schon ein Jahr früher. Da muss man schon ein bisschen aufpassen, dass man sich nicht in solchen Aktionen gefällt.

Von außen wirkt Macht – auch ein interessanter, mitunter »gewollter« und »inszenierter« Effekt  – größer. Macht wird häufig überschätzt, der Spielraum ist viel kleiner. Man muss sich überhaupt davon verabschieden, dass man die ganze Welt verändern kann. Aber man muss den Spielraum, den man hat, schon ausschöpfen. Also, wenn man nicht mal bereit ist, diese Verantwortung wahrzunehmen, in dem Bereich, in dem man tätig ist, diesen Spielraum auszuschöpfen, dann ist man irgendwie falsch. Politiker müssen etwas wollen. Politiker müssen etwas bewegen wollen. Aber meistens hat man ja heutzutage das Gefühl, dass Leute in eine Funktion gehen, weil sie gern was sein möchten, also Nationalratsabgeordneter, Minister oder sonst irgendwas und nicht, weil sie was tun wollen. Ein früherer Minister sagte  : Unerwartet war für mich die starke Einschränkung, der man auch als Minister unterliegt. Also, wenn man da meint, man hätte jetzt große Handlungsspielräume, dann täuscht man sich.

Politische Verantwortung Was ein echtes Thema ist und wo wir in Österreich noch keinen Weg gefunden haben, oder überhaupt selten in der Politik, das ist, wie man mit dem Thema politische Verantwortung umgeht. Also Politiker müssen natürlich Verantwortung tragen für Entscheidungen. Dann muss man ihnen aber auch ein entsprechendes Rüstzeug vorher mitgeben und muss ihnen auch ermöglichen, sich entsprechend in gewisse Thematiken einzuarbeiten.

Was bedeutet »Verantwortung« in der Politik  ? Es liegt auf der Hand, dass »Macht ohne Verantwortung« desaströs ist, weil die – 52 –

Über Macht und Verantwortung

Konturen der Rechenschaftspflichtigkeit fehlen. Worin aber liegt politische Verantwortung  ? Der Begriff der Verantwortung legt nahe, dass jemand (ein Verantwortungsträger) anderen gegenüber (der Verantwortungsinstanz) für etwas (den Verantwortungsbereich) Rede und Antwort stehen muss  : »Verantworten« bedeutet  : Antworten finden. Mit diesen Antworten sind Konsequenzen verbunden. So weit, so gut. Wenn man davon ausgeht, dass die Politikerin und der Politiker der wählenden (und damit beauftragenden) sowie steuerzahlenden (und damit ermöglichenden) Bevölkerung Rechenschaft schulden, bleiben Bereich und Konsequenzen unklar. In Österreich hatten wir es im Bundesland Salzburg mit einem Finanzskandal außerordentlichen Ausmaßes zu tun. Die Politiker übernahmen dadurch Verantwortung, dass sie zurücktraten, die zuständige Beamtin wurde vor Gericht gestellt. Ist das ein plausibles Modell von Verantwortung  ? Das stimmt, so scheint es, nicht ganz mit dem zusammen, was wir in Interviews gehört haben  : Also, ich glaube, meine Verant-

wortung in der Politik ist eine andere als für eine Privatperson. Als Privatperson tue ich das, was ich in dem Moment für richtig empfinde. Als Politikerin habe ich einfach andere Auswirkungen und da muss man einfach viel weiter denken und muss viel mehr darüber nachdenken. Das ist eigentlich mein Job … Man entscheidet stellvertretend für ganz viele Menschen und dadurch sind die Entscheidungen viel komplexer geworden. Oder  : Ich habe nach wie vor den Anspruch, dass wir in höheren politischen Funktionen auch die Verpflichtung haben, so weit wie möglich das zu zeigen, wofür wir ja stehen. Zum Beispiel Mobilität  : Wie schaffe ich es, Termine wahrzunehmen  ? Beuge ich mich dem von außen bestehenden Zeit- und Termindruck und lasse ich mich überall mit dem Auto hinfahren, oder arbeite ich dagegen an und sage, es ist sinnvoll und wichtig, dass ich meine Termine so legen kann, dass ich weiterhin möglichst viel mit anderer Mobilität, mit dem Fahrrad, mit öffentlichen Verkehrs– 53 –

»Ich bin in der Maschinerie«

mitteln oder auch zu Fuß erledigen kann. Das ist für mich ein ganz zentraler Punkt, ob das gelingt.

Einige Wortmeldungen haben die Realität der verantwortungsminimierenden Überforderung benannt  : Während meiner aktiven

Zeit eigentlich gar nicht so, aber im Nachhinein denke ich mir  : »War mir eigentlich bewusst, welche Verantwortung ich gehabt habe, z. B. in einem großen Ministerium mit ein paar Hundert Beamten  ?« Und es ist ja letztendlich so, wenn beim kleinsten Beamten in der Abteilung irgendetwas nicht korrekt ist, dann ist der Minister verantwortlich, auch wenn er den Beamten vielleicht bestenfalls einmal im Jahr bei der Weihnachtsfeier sieht. Mir ist das eigentlich nachher besonders bewusst geworden … Ein Minister hat das Budget nicht von Anfang bis Ende im Kopf, das kann er gar nicht haben. Da hast du eben deine Budgetbeamten. Freilich kontrolliert man, bespricht man und alles, aber du hast Verantwortung für sehr viel Geld, dass dieses Geld auch richtig eingesetzt wird. Dieser Verantwortung muss man sich einfach bewusst sein.

Was heißt es nun aber, sich »dieser Verantwortung einfach bewusst zu sein  ?« Ist das ein Appell an Besonnenheit  ? Oder gar ein Eingeständnis, dass die übernommene Verantwortung im Grunde nicht wahrgenommen werden kann  ? Wenn etwas passiert bei einer Fachabteilung, was ich nicht wusste, und was ich nie beeinflussen konnte, weil es nie über meinen Schreibtisch gegangen ist, trotzdem dann dafür verantwortlich gemacht zu werden, was bei einem bestimmten Verwaltungsverfahren vielleicht besser laufen hätte können, was ich durchaus auch unterschreibe. Das ist so eine Abwägungsgeschichte. Ist das fair, ist das korrekt  ? Natürlich muss ich mich dann drum bemühen in meinem Job, da eine möglichst gute, seriöse, bestmögliche Arbeit auch der Fachabteilungen und der Mitarbeiter und der Mitarbeiterinnen zu erreichen. Aber bei 800 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen hast du immer eine Situation, dass es Bundesgesetze gibt, die irgendwie zäh sind, die das nicht hergeben, was der Einzelne – 54 –

Über Macht und Verantwortung

dann schaffen möchte, teilweise haben wir eine Überlastung im Verwaltungsbereich.

Hier stoßen wir an Grenzen der Machbarkeit  ; diese ergeben sich auch aus zeitlichen Begrenzungen, von denen in der Politik oft die Rede ist  – »Verantwortung auf Zeit«, »Macht auf Zeit«, »geliehene Macht« –, so wird damit neben allem demokratiepolitisch Wünschenswerten auch etwas Riskantes ausgedrückt, nämlich ein reduzierter Identifikationshorizont, eine geschwächte Bindung. Einigen könnten wir uns jedenfalls darauf  : Macht und Verantwortung müssen in einem Handlungsgleichgewicht stehen, es darf keinen Überhang geben, weder als »Macht ohne Verantwortung« noch als »Verantwortung ohne Macht«.

– 55 –

»Dicke Haut« und »Blase« Schleichende Veränderungen

Wenn jemand eine dicke Haut hat, kann er nicht so leicht Blasen bekommen  ; hier ist Schutz und Belastbarkeit gegeben. Für das Politische gilt freilich, dass die dicke Haut und die Blase miteinander zusammenhängen, die Blase, in der man lebt, kann eine dicke Haut schaffen, die dicke Haut kann jedoch zur Blase führen, in der man dann abgeschottet ist. Dicke Haut

Es war in den geführten Gesprächen auffallend, wie häufig, unabhängig voneinander, der Begriff der dicken Haut ins Spiel gebracht wurde. Man muss eine absolut dicke Haut haben, man muss das abs­ trahieren können von der eigenen Person und sagen, das gilt dem Amt und der Rolle, die man da auch innehat. Aber wenn man sich das menschlich wahnsinnig zu Herzen nimmt, dann ist man arm dran in der Politik. Dann ist es kein lustiger Job. Oder  : Man muss immer wieder abwägen  : Wie weit lasse ich es an mich heran. Ist es Teil einer Strategie, um etwas zu erreichen, oder meinen sie mich persönlich  ? Da, wo ich sage  : »Okay, das war halt taktisch, die brauchen das und darum haben sie mich da jetzt einmal ausrutschen lassen.« Aber ein bisschen eine dickere Haut braucht man schon. Oder  : Du trägst zu viel mit dir herum, wenn du a)  ein bisschen dünnhäutig und b)  ein bisschen nachtragend bist. Das ist ganz schlecht.

Diese Redeweise (»dickes Fell«, »dicke Haut«) drückt den Umstand aus, dass ein Mensch unempfindlich/widerstandsfähig/belastbar ist, geworden ist oder gar sein muss. Hier ist also von einer – 57 –

»Dicke Haut« und »Blase«

gewissen »Abhärtung« und »Verhärtung« die Rede. Sie ergibt sich als Schutzmechanismus aufgrund der sozialen Anfeindungen. Die

Herausforderung war, das ist den meisten nicht bewusst, dass man mit unglaublich viel negativer Kritik rechnen muss. Also mit ganz vielen bösartigen Unterstellungen, Verdächtigungen, und dass man das irgendwie in einer Distanz zur eigenen Person betrachten muss. Weil, sonst wird man ja trübsinnig. Also, wenn man jetzt in einer sehr umkämpften politischen Position ist und jeden Tag aufsteht und in der Zeitung liest, eigentlich ist alles falsch, was man macht, dann wird man unsicher bei seinen eigenen Entscheidungen, weil man sich davon sehr beeinflussen lässt, und dann hat man eigentlich schon verloren. Es ist gewissermaßen Ausdruck von Selbstschutz, einen Wall

rund um sich zu errichten, eben nicht für alles und alle erreichbar zu sein. Dabei entsteht eine dreifache Spannung, zwischen wählerfreundlicher Erreichbarkeit und Abschottung, zwischen volksnaher Normalität und elitär-exklusivem Lebensstil und zwischen Sensibilität und notwendiger dicker Haut. Es ist alles öffentlich in

der Politik, nicht  ? Das ist der Unterschied, mit dem muss man umgehen können. Also eine gewisse dicke Haut, gleichzeitig genügend Sensibilität. Das ist die große Kunst. Und man darf sich nicht dauernd anmerken lassen, dass einen Kritik getroffen hat oder irgendeine journalistische Einordnung oder etwas, das man ausgerichtet gekriegt hat. Und wenn man selbst austeilt, muss man einstecken auch können.

Oder (aus einem anderen Gespräch mit bemerkenswerter Übereinstimmung)  : Man soll die Menschen, man soll das alles auffassen,

was läuft, das ist eine wichtige Voraussetzung, Sensibilität zu haben. Und auf der anderen Seite soll man aber alles aushalten, das heißt, eine dicke Haut haben. Und da ist man schon auch eine Kunstkonstruktion. Wer hält das schon immer aus  ? Oder (wieder aus einem anderen Gespräch)  : Ganz eine dünne Haut darfst du nicht haben in der ganzen Geschichte. Aber wer nur mehr Hornhaut hat, der hat auch – 58 –

Schleichende Veränderungen

kein Gespür für die Leute mehr. Und da das Sensorium zu bewahren, ist schon wichtig.

Die Haut ist jenes Organ, das den Kontakt zur Umwelt koordiniert  ; eine dicke Haut zu haben, bedeutet, die Berührung mit der Umwelt entsprechend zu kanalisieren. Eine dicke Haut macht zarte Berührungen und Erfahrungen, »die unter die Haut gehen«, schwierig. Hier finden sich Eintrittsstellen für Zynismus und für eine vom Boden der nichtpolitisch mächtigen Bevölkerung abgehobene Lebensform. Ein abgeschotteter Lebensstil, in dem man sich vor Telefonanrufen, E-Mails oder Besuchen schützen muss, kann dazu führen, dass man den Kontakt mit dem Boden verliert und sich in einer Binnenwelt, in einer Blase wiederfindet. Nach außen hin scheint die Welt eines Abgeordneten zum Nationalrat groß und bedeutend zu sein, nach innen handelt es sich um die Arbeit in bestimmten Ausschüssen und um einen Radius von nur einigen Dutzend Menschen, mit denen man regelmäßig und vor allem berufsprägend zu tun hat. Diese Binnenwelt kann zu einer Blase werden. Die »Blase der Selbsttäuschung«

Das Bild von der »Blase der Selbsttäuschung« ist aus der Führungs­ ethik vertraut.69 Menschen, die eine Hierarchieleiter hinaufklettern, können sich immer besser vor Kontakten schützen  – Vorzimmerpersonal, Sekretariate, die die Post erledigen, mitunter Leibwächter schirmen die Person ab. Dadurch entsteht die Gefahr, dass diese Person den Boden unter den Füßen verliert. Ja, es macht etwas mit einem Menschen, wenn er tagein, tagaus als »Herr Minister« oder »Frau Präsidentin« angesprochen wird, von einem Chauffeur im großen Dienstwagen gefahren, in die erste Reihe eingeladen wird. Unmerklich verändert sich die Persönlichkeit, verändert sich – 59 –

»Dicke Haut« und »Blase«

die Selbstwahrnehmung, verändert sich auch der Körper (etwa aufgrund Bewegungsmangels oder auch aufgrund von Essverhalten wegen des psychischen Drucks). Das politische System, die Strukturen, haben die Kraft, die darin agierenden Persönlichkeiten selbst zu formen  : »Die Verwand­ lung des Amtes durch den Menschen dauert länger als die Verwandlung des Menschen durch das Amt«,70 musste etwa der ehemalige deutsche Außenminister Joschka Fischer eingestehen. Unter bestimmten politischen Rahmenbedingungen, so eine These in der politischen Psychologie, kann etwas sichtbar werden, was bislang nur verborgen vorhanden war.71 Gerade bei mächtigen, medial gefeierten Politikern besteht nach Einschätzung des Psychiaters Arnold M. Ludwig durchaus die Gefahr, dass diese beginnen, wahnhaft an ihren eigenen, selbst gemachten Personenkult zu glauben. Die Politik verändert in einem solchen Fall also durchaus die Persönlichkeit. Aus solchen und ähnlichen Gründen dürfen die konkreten politischen Bühnen und ihre jeweiligen Spielregeln auf keinen Fall ausgeblendet werden  : Sie entscheiden immerhin auch maßgeblich darüber mit, welche Persönlichkeiten im politischen Geschäft überhaupt erfolgreich sein können.72 Das Amt prägt die Persönlichkeit, weil »Person« und »Amt« nicht klar getrennt werden können  : Ich bin mir bewusst, dass viele Sympathien, die das Amt mit sich bringt, nicht mit meiner Person zusammenhängen. Es wäre gefährlich zu glauben, dass jetzt alle diese Anlässe, wo man willkommen ist, mit mir als Mensch zu tun hätten. Darüber zu reflektieren ist wichtig, um das nicht zu verwechseln und auch die Zeit nach einem politischen Amt, diesen Wechsel, den es dann zwangsläufig gibt, nicht mit persönlicher Enttäuschung zu erleben. Die Blase kann durch die Verwechslung der amtsbezogenen

Erfahrungen mit persönlichkeitsgebundenen Erfahrungen entstehen, mit der Illusion, »um seiner selbst willen« geehrt zu werden  ; entsprechend sind Menschen im politischen Geschäft in besonde– 60 –

Schleichende Veränderungen

rer Weise dem Missbrauchsrisiko, nur als Mittel zum Zweck behandelt zu werden, ausgesetzt. Die Blase der Selbsttäuschung wird im Wesentlichen von Schonverhalten gespeist  – eine Person wird vor der Wahrheit geschützt, entweder, weil Menschen Angst vor dieser mächtigen Person haben, wie es sich etwa in Diktaturen zeigt, die dem Machthaber die Wahrheit über Wirtschaftsdaten nicht zumuten können. Oder die Person wird geschützt, weil man ihr aus Rücksicht die Wahrheit nicht zumuten will, wie dies etwa in der Kirche mitunter bei einem gütigen, älteren Bischof der Fall ist. Beide Formen von Schonverhalten führen in eine Blase der Selbsttäuschung. Gerade in der Politik ist dieses Risiko nicht von der Hand zu weisen, weil sowohl die soziale Ehre als auch der soziale Druck Schonverhalten begünstigen. Da gibt es auch so eine Diskrepanz … Dass man auf der einen Seite schrecklich beschimpft und kritisiert wird und auf der anderen Seite, dass man schrecklich hofiert wird. Und wenn man jetzt das Hofieren genießt, was auch menschlich ist, dass man es genießt, dann kompensiert das das andere ein bisschen. Und dadurch glaube ich, ist es noch auszuhalten.

Ludgera Vogt hat die Konturen sozialer Ehre deutlich herausgearbeitet. Soziale Ehre bedeutet, Kontakte mit anderen besser kontrollieren zu können und einen größeren Spielraum für Fehler zu haben.73 Das kann mit Blick auf das englische Königshaus illustriert werden. Queen Elizabeth gibt keine Interviews, sie kann es sich sozial leisten, diese Art von Gespräch nicht zu führen und damit bestimmten Sozialkontakten und sozialen Erfahrungen nicht ausgesetzt zu sein. Prinz Philip wiederum ist im Laufe seiner langen Karriere als Prinzgemahl immer wieder in Fettnäpfchen getreten, mit geschmacklosen Bemerkungen oder Witzen  – aber weil es sich um Prinz Philip handelt, konnte er damit durchkommen. Soziale Ehre schützt. Das wird etwa dann offenbar, wenn irreführende Aussagen sozial hochgestellter Persönlichkeiten von – 61 –

»Dicke Haut« und »Blase«

Pressesprechern korrigiert werden. Ich zeigte mich einmal beeindruckt von einem Bischof in den USA und ließ mich zur wenig differenzierten Bemerkung hinreißen  : »He is good  !«, worauf mir ein Priester so schön erwiderte  : »We make him look good  !« Eine Aura wird gerade dadurch geschaffen, dass ein Ring von dienstbaren Geistern sich schützend und unterstützend um die Person legt. Dadurch kann sich besagte Blase entwickeln, die wiederum Lernschwierigkeiten entstehen lässt, wie sie Chris Argyris treffend beschrieben hat.74 Wer sich in einem Raum bewegt, in dem er keine Fehler machen kann, vergibt Lernchancen. Bestimmte politische Funktionen sind so aufgebaut, dass – gerade weil »alles« als falsch angesehen werden kann, wie dies etwa die politische Opposition ausschlachtet  – »nichts« oder zumindest »wenig« als Fehler, der eindeutig zugeschrieben werden könnte, gelten kann. Soziale Ehre  – die neben »Anerkennung« auch mit »Bekanntheit« zu tun hat – verringert die Notwendigkeit, sich selbst zu erklären  ; eine bekannte Persönlichkeit muss sich nicht vorstellen, sie ist bekannt  ; das gibt bei jeder Interaktion eine Grundsicherheit. Verstärkt wird diese Dynamik noch durch ein sattsam bekanntes Phänomen, die »déformation professionelle«, die schleichende Veränderung eines Menschen durch seine Profession. Der Gedanke geht wohl auf einen Aufsatz von Daniel Warnotte aus dem Jahr 1937 zurück.75 Déformation professionelle bedeutet, dass bestimmte Gedanken und bestimmte Ausdrucksformen wie auch Handlungsweisen sich einprägen, immer tiefer und immer selbstverständlicher Teil der Persönlichkeit werden, dass dieses Denken, diese Sprache, dieses Tun nicht mehr von der Persönlichkeit getrennt werden können  – hier zeigt sich ein Übergang vom »Tun« (einen Beruf ausüben) zum »Sein« (eine vom Beruf geprägte Person sein). Eine solche déformation professionelle ist auch in der politischen Lebenserfahrung verankert. Man ist als Politiker immer in der Situation, es geht eh alles, ich brauche es nur anschaffen, alle springen. – 62 –

Schleichende Veränderungen

Wenn ich zu Hause war, hat meine Frau gesagt  : »Hey, du bist jetzt nicht im Büro  !« Und du bist einfach gewohnt, ständig Entscheidungen zu treffen  : geht – geht nicht, ja – nein. Ja – nein. Und wenn das dann plötzlich so auf dein Verhalten abfärbt, … dann wird es schwierig. In einem anderen Gespräch wurde die Formulierung gewählt  : Manchen ist ihre Funktion in den Schädel gestiegen. … Du bist nicht ein Fürst von Gottes Gnaden und bleibst immer Fürst, sondern du bist Politiker, und wenn du nicht mehr Politiker bist, bist du nicht mehr Politiker. Und dann sollst du die, denen du beim Aufstieg begegnet bist, auch im Abstieg wiedersehen. Und sie sollen, wenn du abgestiegen bist, dich genauso grüßen, wie sie dich beim Aufstieg gegrüßt haben. Wieder anders gesagt  : Unabhängig davon, welchen politischen Handlungsstil man hat, ob der sehr hierarchisch oder von der Hierarchie her sehr flach gehalten und ein partnerschaftlicher ist, trainiert man sich an, immer das letzte Wort zu haben und zu entscheiden. Und das zu trennen davon, dass man sich im gesamten Leben so verhält und glaubt, man hat immer das letzte Wort im Beziehungsleben z. B. mit Freunden und Freundinnen.

Umgebungen verändern Menschen, und zwar schleichend   ; Jacque­l ine Novogratz, die für eine Wallstreet Bank gearbeitet hatte, zeigte sich einmal von einer Dienstreise nach Brasilien erschüttert, wollte gerne etwas für die Straßenkinder, die sie dort gesehen hatte, tun – worauf ihr Chef mit Blick auf die Betriebskultur der Bank meinte  : »Wenn du dich nicht veränderst, wird dich die Kultur mit der Zeit verändern« (»If you don’t change … in time, the culture will change you anyway«).76 Ein Gesprächspartner hat das so formuliert  : Wenn man jung ist, geht man mit dem Anspruch in die Politik, die Welt zu verändern. Man ist davon überzeugt, das zu können, aber wenn man lang genug drin ist, merkt man, dass man selber verändert wird. Oder  : Die Macht, die Möglichkeiten, vielleicht auch der Druck, die Verantwortung, die man hat, steigt vielen in den Kopf. Also das hätte ich mir nicht gedacht, dass das mit Menschen – 63 –

»Dicke Haut« und »Blase«

passieren kann – das kann dann dazu führen, dass eine Person, die dementsprechend aufgestiegen ist, mehr Macht und eine höhere Position gekriegt hat, genau dieselben Sachen gemacht hat, die man vorher gemeinsam kritisiert hat.

So kann ein schleichender Prozess der Entfremdung stattfinden, ein Prozess, bei dem man sich selbst und den Menschen, mit denen man vertraut war, fremd wird. Dieser Prozess wird durch die Sozialisierung in hierarchisch strukturierten Parteien, deren Kultur man mehr und mehr übernimmt, begünstigt. Ich glaube, dass

es in vielen Fällen ein schleichender Prozess ist, der auch dadurch begünstigt wird, dass die meisten Parteien und politischen Strukturen streng hierarchisch funktionieren. Ich weiß bei manchen Kollegen nicht, ob sie sehr vielen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern trauen, und diese dadurch den Mut haben oder die Aufrichtigkeit auch im Umgang, dass sie das den Betroffenen auch ehrlich ins Gesicht sagen. Mit aller Konsequenz, wenn sie einen negativen Veränderungsprozess spüren.

Die Blase wird gerade dann gefährlich, wenn sie mit einer aus Selbstverständlichkeiten bestehenden Selbsttäuschung verbunden ist. Diese Dynamik wird dann gefährlich, wenn man sich an die

Position zu sehr gewöhnt hat, an den Einfluss, gehört zu werden, sich einbringen zu können, gefragt zu werden. Wenn das selbstverständlich wird oder wenn man davon ausgeht, ohne mich kann nichts mehr passieren. Dann ist es an der Zeit zu gehen. Was bedeutet es, sich

an eine Position zu gewöhnen  ? Wie erkennt man diese Effekte  ? Ist es nicht gerade Teil des Dramas, dass man aufgrund der Gewöhnungseffekte nicht mehr erkennen kann, dass man sich an ein Amt gewöhnt hat  ?

– 64 –

Schleichende Veränderungen

Politik und die Hölle der Selbsttäuschung

Ein englischer Theologe, Denys Turner, hat einmal in seinen F.D.-­­Maurice-Vorlesungen von 2011 die Hölle als Ort rekursiver Selbsttäuschung beschrieben. Menschen in der Hölle haben keinen Zugang zur Wahrheit  ; sie täuschen sich über sich selbst und ihre Situation und auch darüber, dass sie in der Hölle sind. Der Auf bau einer Binnenwelt  – ob dies nun ein Elfenbeinturm akademischer Forschung oder die Glitzerwelt der High Society oder die gremialgetränkte Welt politischen Ausschusslebens tangiert – bringt Dynamiken der Selbsttäuschung mit sich. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat sich an einer Stelle überlegt, dass jedes soziale Feld Illusionen erzeugt, die aufrechterhalten werden müssen, wenn das soziale Feld funktionieren soll.77 So wird sich bei einer Festveranstaltung jeder Akteur in der Regel an seine Rolle halten und die Illusion, dass die beteiligten Menschen den Status, den sie haben, verdienen und entsprechend einem hohen Status keine Fehler machen können, aufrechterhalten. Ein Mensch befindet sich im Zustand der Selbsttäuschung, wenn er relevante, aber unerwünschte Erkenntnisaspekte systematisch aus Wahrnehmung und Urteil ausschließt. Selbsttäuschung ist eine nicht der Wahrheit entsprechende Einschätzung der eigenen Position im Kosmos, die aber gleichzeitig mit starken Wünschen verbunden ist. Scott Peck beschreibt aus psychiatrischer Sicht Menschen, die sich in einer permanenten Form der Realitätsverweigerung befinden, in einer Lüge oder einem Netz von Lügen gefangen sind, einer Lebenslüge erliegen, auf Grundlage einer Form des malignen Narzissmus, der mit verhärteten Konturen eines Selbstbildes und starken Geltungs- und Kontrollwünschen verbunden ist.78 Kazuo Ishiguro beschreibt ein Szenario von Selbsttäuschung in seinem bekannten Werk The Remains of the Day, bei dem ein Butler namens Stevens am Ende seines Lebens erkennt, dass – 65 –

»Dicke Haut« und »Blase«

er zeitlebens einer Lüge gedient hat, weil er sich als loyaler Diener seines Herrn nie erlaubt hat, die Verstrickungen seiner Lordschaft in den Nationalsozialismus auch nur wahrzunehmen. Wer sich in Fäden der Selbsttäuschung verstrickt, kann auch leichter andere Menschen täuschen. Robert Trivers hat die These aufgestellt, dass Selbsttäuschungen dazu dienen, die kognitiven Kosten des Lügens zu verringern und mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln. Selbsttäuschung bildet die Grundlage für die problemlose Abwicklung von Täuschungen.79 Ein Gesprächspartner zu eben diesem Punkt  : Ich finde sogar, dass die, die besonders lügen, dieses Bewusstsein gar nicht haben. Die zimmern sich diese falsche Wahrheit zurecht und glauben sie. Agieren vollkommen brutal und werden erst weinerlich, wenn es vorbei ist.

Den Zusammenhang zwischen Täuschung von anderen und Selbsttäuschung hat auch Hannah Arendt identifiziert, indem sie den Weg vom Selbstbetrug zur Lüge aufzeigt.80 Selbsttäuschung sei gerade deswegen die gefährlichste Form des Lügens, weil sie den Anschein der Wahrhaftigkeit zu erwecken vermag.81 Die Politik ist ein anfälliger Raum für Selbsttäuschungen, weil hier eine Umgebung geschaffen wird, die auch weitgehend durch die Verwaltung von Informationsquellen und Informationsflüssen kontrolliert werden kann. Ein Präsident, eine Präsidentin erhält sorgfältig gefilterte Informationen. Dies wird durch die Schaffung einer internen Welt möglich  : »Die interne Welt der Regierung mit ihrer Bürokratie auf der einen, ihrem gesellschaftlichen Leben auf der anderen Seite, machte die Selbsttäuschung relativ einfach.«82 Hier finden wir Mechanismen am Werk, die die Offenheit einer Erkenntnisumgebung, wie sie Karl Popper in seiner Vision einer offenen Gesellschaft vor Augen hatte, tendenziell schließen. Nicht von ungefähr ist ein Effekt der Blase der Selbsttäuschung der Aufbau einer Binnenwelt. Das heilende Wort muss oftmals von außen kommen. »Das Wort, das dir hilft, kannst du dir nicht selber sagen«, lautet ein – 66 –

Schleichende Veränderungen

afrikanisches Sprichwort. Gerade deswegen ist die Gefahr, sich als Politikerin oder Politiker eine Binnenwelt aufzubauen, ernst zu nehmen. Die Politikerin bewegt sich häufig in Systemen, die sich auf sich selbst beziehen (was der deutsche Soziologe Niklas Luhmann bekanntlich die Selbstreferenzialität von Systemen genannt hat). Durch den ständigen Druck, Termindruck, Zeitdruck,

Wahldruck, der eigenen Partei Mehrheiten verschaffen zu müssen, verliert man den Fokus, das Gefühl für das ganz allgemeine Leben. Man entwickelt stattdessen den Fokus, wie man bei diesen 150 bis 250 Leuten etwas bewirken kann. Die sind zwar tatsächlich wichtig für den Ablauf, aber in Wahrheit ändern die nicht die Welt. Und weiter  : Unter diesem Druck verliert man schrittweise unmerklich, das fällt einem erst auf, wenn man nicht mehr drinnen ist, die allgemeinen Gefühle, die man gegenüber anderen Menschen hat. Dieses Abgehärtetwerden ist systemimmanent, weil sehr, sehr viel Energie auf ganz anderes verwendet wird als auf das, warum man in die Politik gegangen ist. Das sind Dynamiken, die eine Blase der Selbsttäu-

schung nähren. Diese Blase kann durch ein Jasager-Umfeld gefördert werden  :

Ich glaube, von Jasagern wird man erst dann umgeben, wenn die Leute merken, dass sie mit der Kritik nicht weiterkommen oder dass ich etwas zum Anbieten habe, vielleicht auch irgendeine Mitsprache oder Macht oder irgendwas, das sie nur kriegen, wenn sie mir zustimmen. Ein Umfeld von Jasagern macht man sich selbst. Es ist natür-

lich schmeichelhaft, mit Menschen zu interagieren, die das eigene Tun und Lassen nicht nur unterstützen, sondern auch affirmieren.

Politikerinnen oder Politiker haben sehr einsame Entscheidungen zu treffen. Rund um sie entwickeln sich viele Jasager. Bei mir war das nie die Erwartungshaltung, dass alle rund um meine Person alles abnicken, mir wären kritische Menschen lieber gewesen, aber es gibt diesen fast schon Selbstläufer der Jasager, die immer alles bewundern, solange es gut geht, und bekämpfen, wenn es schlecht geht. Da sind – 67 –

»Dicke Haut« und »Blase«

Freunde und Familie ein geeigneter Spiegel, der einem vorgehalten wird, wenn man z. B. bei Entscheidungen nicht alle Prämissen bedenkt, die Auswirkungen zu wenig beachtet oder weil man vielleicht zu wenig zugehört hat, zu wenig sensibel war.

Der Alltag in der Politik lässt eine eigene Welt auf bauen, mit eigenem Tempo, eigener Raumwahrnehmung. Da ist unglaublich

viel Brimborium damit verbunden, allein schon, dass man überall den reservierten Platz hat, dass man immer eine Sonderbehandlung hat, dass man sich bei keinem Buffet anstellen muss, sondern dass einem das Essen gebracht wird und solche Kleinigkeiten. Aus dieser Welt

kann man nach dem Verlust der geborgten Macht unsanft herausfallen. Und wenn man sich an das sehr gewöhnt hat und wenn einem

das irgendwie wichtig ist, dann ist das ganz brutal, wenn das wieder weg ist. Hier kann man auch unsanft aus der Blase fallen. Die Gefahr einer Blasenbildung, so eine frühere Ministerin, ist sicher gegeben, weil man auch nicht vergessen darf, man ist von sehr vielen Menschen umgeben, das fängt schon einmal bei den Mitarbeitern im Kabinett an, die natürlich nur ein Ziel haben, den Minister, die Ministerin gut zu verkaufen und sie gut dastehen zu lassen. Das ist ja okay, das ist ja auch richtig so. Und da ist man dann oft in einer Situation, dass man auf einmal glaubt, man ist der Über-drüber-Typ. Weil alle so begeistert sind und du bist so gut, und das hast du wieder so klasse gemacht und so weiter. Und da ist es eben wichtig, dass man nicht nur am Schreibtisch und in seinen ministeriellen Wänden ist, sondern dass man wirklich wieder vor Ort ist, hinausgeht, hört, was wollen die Leute, die sehen das, wovon ich glaube, dass es super ist, vielleicht ganz anders. Also, wenn man das kann, diese Balance ein bisschen zu halten, dann funktioniert das schon. Nur wenn man glaubt, man ist allwissend und man weiß, was für die Menschen gut ist, ja dann ist man sehr gefährdet. Diese Beobachtung knüpft an

die in der Einleitung erwähnte Last der ständigen und sozusagen inhärenten Überforderung an. – 68 –

Schleichende Veränderungen

Die Blase der Selbsttäuschung entsteht jedenfalls vielfach dadurch, dass sich eine Binnenwelt mit eigenen Gesetzen und eigenen Wahrnehmungen und Gewichtungen auf baut. In der Spitzenpolitik ist man umgeben von Menschen aus der Politik, die eine gewisse selektive Wahrnehmung haben, was im Leben wirklich wichtig ist. Das ist eine Gefahr, da heben viele ab in der Politik oder verlieren ihre Wurzeln, ihren Bezug. Hier erkennen wir das Risiko und auch

den Preis des Auf baus einer Binnenwelt, in der die Dinge, die dort vorkommen, ungeheures Gewicht bekommen. Eine Gefahr für Politiker ist  : Wenn man sich nur in seinem engsten Umfeld von Mitarbeitern und Parteifreunden oder Kollegen bewegt, kriegt man manchmal eine schräge Wahrnehmung von der Wirklichkeit. Weil, je mehr man angegriffen wird, das ist auch menschlich, das habe ich bei vielen Kollegen beobachtet, je mehr die angegriffen wurden, desto mehr haben sich die abgekapselt von der Umwelt und desto mehr haben sie Leute in ihrer unmittelbaren Umgebung, die gesagt haben  : »Es ist eh super.« Und da entsteht dann so eine Selbstrechtfertigung, wo man sagt  : »Nein, das ist gar nicht so schlimm und wir sind eh auf dem richtigen Weg.« Ganz wichtig war für mich immer so ein Spiegelbild, wenn ich irgendwo unterwegs war und Menschen getroffen hab, die sich mit Politik gar nicht besonders auseinandersetzen, und da etwas rückgespiegelt bekommen habe. Also, da ist mir z. B. aufgefallen, dass Themen, über die wir uns wochenlang unterhalten haben, dort gar nicht angekommen sind. Da haben die dann gesagt  : »Echt, das hab ich gar nicht gewusst.« Und ich denke mir, wir reden jetzt seit Wochen über das. Und da sieht man dann, dass die Kommunikation mit den Adressaten der Politik, nämlich den Menschen, die das wirklich angeht, etwas ganz Schwieriges ist.

Hier ist auch schon ein Gegenmittel gegen den Auf bau einer illusorischen (»abgehobenen«, also nicht mehr im Realen verankerten) Welt angesprochen, nämlich der Kontakt zu Nicht-Insidern. – 69 –

»Dicke Haut« und »Blase«

Erdung

Allgemeiner kann das wichtigste Heilmittel gegen die Blase der Selbsttäuschung mit dem Begriff der Erdung bezeichnet werden  – »Erdung« heißt wohl  : Die Füße auf dem Boden zu haben, mit Menschen umzugehen, die die Füße auf dem Boden haben. In einem Gespräch wurde der Begriff »Bodenhaftung« verwendet. Das ist vielsagend und nicht selbstverständlich. Das ist vielsagend, weil dieses Bild andeutet, dass man »abheben« und wie Ikarus ins Fliegen kommen kann. Eine gewisse Erdung ist wichtig, also nicht

im eigenen Saft schmoren. Für mich ist so ein Paradebeispiel  : Bei fast allen Veranstaltungen sitzen Politiker unter Politikerinnen, das Zeitausmaß, das sie miteinander verbringen, ist enorm. Es besteht daher die Gefahr, dass das Handeln etwas abgehoben ist, dass man sich was schönredet, was gar nicht in der Wirklichkeit so ankommt, dass man bei Reformen oft den Eindruck hat, ein großer Schritt ist geschafft, aber in Wirklichkeit hat sich nichts verändert für die betroffenen Menschen.

Der klassische Begriff, um eine Haltung zu benennen, die einen Menschen die Füße am Boden behalten lässt, ist die Tugend der Demut. Demut wird im Lateinischen mit »humilitas« wiedergegeben, was mit dem Wort »humus« (Erde) verwandt ist. Thomas von Aquin hat die Demut als eine Tugend verstanden, die mit der Vernunft, mit Realitätssinn und Einordnungsvermögen, verbunden ist. Ein demütiger Mensch hat einen Sinn für Proportionen, ist maßvoll, hat also einen Sinn für das rechte Maß, das Dinge ins rechte Licht rücken lässt.83 Ein demütiger Mensch ist geerdet. Der brasilianische Theologe Clodovis Boff hat diese Einstellung als grundlegend für glaubwürdige Theologie bezeichnet  – eine Theologie, die nahe bei den Menschen ist.84 Mohamad Yunus, der Gründer der Mikrokredite vergebenden Grameenbank, hat darauf bestanden, dass die Bankangestellten im Dorf leben, so wie die – 70 –

Schleichende Veränderungen

Dorf bewohnerinnen und Dorf bewohner. Das »mit den Menschen Sein« ermöglicht nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch ein tieferes Wissen um die Lebensumstände. Wer mit den Menschen lebt, kennt ihr Leben. Er kann, um einen Begriff von Clifford Geertz zu verwenden, eine »dichte Beschreibung« ihres Lebens geben. So darf ich die recht verstandene Demut als Heilmittel gegen die Blasenbildung empfehlen. Denn ein Mangel an Demut aufseiten von politisch Verantwortlichen kann tödlich sein. Wenn man etwa Wesentliches über den Wert der Demut lernen will, kann man sich Napoleons Russlandfeldzug von 1812 vor Augen führen85 – die Grundlage für diese desaströse Planung ist in Napoleons Charaktermängeln zu suchen, vor allem in dem, was man »Hybris«, eine Haltung der Selbstüberhebung, nennt. Napoleon hatte zu diesem Zeitpunkt den Boden unter den Füßen verloren, nicht, weil ihm dieser durch einen Schicksalsschlag entzogen worden wäre, sondern weil er vom »humus«, der Erde, abhob und sich gen Himmel schweben sah. Machtgier, die Überzeugung, vom Schicksal auserwählt zu sein, Realitätsverlust und utopischer Ehrgeiz haben bei der Entscheidung für den politisch wie militärisch unsinnigen Krieg ebenso mitgespielt wie das Ringen um Ruf und Reputation. Dieser Wahnsinn hat Hunderttausende Menschen das Leben gekostet. Napoleon war zum einen davon überzeugt, dass allein sein Name in seiner Abwesenheit von Paris mögliche Angreifer fernhalten würde, zum anderen war er von der Gier nach militärischen Erfolgen durchdrungen, um seine Reputation zu befestigen.86 Mangel an Demut ist nicht trivial, die Soldatenberichte sind erschütternd. »Was ich seit vierzehn Tagen für Elend gesehen, ist unbeschreiblich«, schreibt Albrecht Adam, ein Zeichner, der dem 4. Armeekorps zugeordnet war, am 11. Juli 1812 (als die großen Leiden noch bevorstanden  !) an seine Frau. »Die meisten Häuser stehen leer und sind ohne Dach. Man hat in den Gegenden, welche wir durchzogen, meistens Strohdächer, – 71 –

»Dicke Haut« und »Blase«

und dieses alte Stroh diente den Pferden zur Nahrung. Die Wohnungen sind ruiniert oder ausgeplündert, die Bewohner entflohen oder so arm, daß sie sich kaum vor dem Hungertod retten könnten  ; viel mehr lassen ihnen die Soldaten nicht. Alle Straßen liegen voll toter Pferde, welche bei der jetzt eingetretenen Hitze weithin einen fürchterlichen Geruch verbreiten. … Das ist ein abscheulicher Krieg.«87 Es ist erschreckend zu sehen, dass Napoleon auf Sankt Helena zum Schluss kam  : »Alexander und ich, wir waren beide wie zwei Maulhelden, die zwar keine Lust haben, sich zu schlagen, aber sich gegenseitig erschrecken wollten.«88 Eine Selbsteinsicht, die zu spät gekommen ist. Um es noch einmal klar zu sagen  : Mangel an Demut, Hybris und Größenwahn haben zum elenden Tod von Hunderttausenden Menschen geführt. Wenn man etwas über den Wert der Demut lernen will, kann man an die Hungerkatastrophe in China denken, die zwischen 1958 und 1962 um die 40 Millionen Menschen das Leben kostete.89 In einem Jahr »mit ganz normalen Ernteerträgen, ohne Krieg und ohne Seuchen« starben Millionen Menschen an Hunger, es kam »in großem Umfang zu Kannibalismus«. Dabei lagerte gleichzeitig in den Speichern genug Getreide  ; niemand freilich wagte es, auf die Hungersnot aufmerksam zu machen. So wurde Getreide exportiert, während gleichzeitig zahllose Menschen auf dem Land verhungerten. Wiederum ein Fall von Hybris, Größenwahn und Mangel an Demut  : Mao zwang das Land in den »großen Sprung vorwärts« weil er bei einem Staatsbesuch in Moskau vollmundig verkündet hatte, dass China Großbritannien in den nächsten 15 Jahren überholen würde  ; Mao wollte als größter Staatsmann aller Zeiten in die Geschichte eingehen und verlangte, um das eigene Ego zu befriedigen, entschiedenen Enthusiasmus und aufopferungsvolle Hingabe in der Verfolgung dieses Ziels, das seinem Prestige diente. Mao übte entsprechend Druck auf den Kader aus, der wiederum den Druck an die Provinzen weitergab. Ein Klima der Megalomanie – 72 –

Schleichende Veränderungen

machte sich breit, mit immensen Bewässerungsprojekten, die unter enormem Aufwand Flüsse umleiten sollten. Gleichzeitig waren Politiken der öffentlichen Beschämung und eine um sich greifende Kultur des Misstrauens an der Tagesordnung  – Letztere führte zu Hausdurchsuchungen, Misshandlungen und der konsequenten Zerstörung von Familiengütern und Privateigentum. Größenwahnund realitätsverlustbedingte politische Fehlentscheidungen wurden systembildend  : Ungelernte und unterernährte Bauern wurden von der Landwirtschaft abgezogen und auf den gigantomanischen Großbaustellen eingeteilt. Neben den Bauprojekten wurden die Bauern auch für die Zwecke der Schwerindustrie eingesetzt, landwirtschaftliches Gerät und andere Utensilien wurden zum Antrieb der Schwerindustrie den Schmelzöfen geopfert, sodass es in vielen Haushalten nicht einmal mehr Töpfe zum Kochen gab. Die Menschen wurden gezwungen, in zentralen Gemeinschaftskantinen zu essen, was zu einer weiteren Verschwendung von Ressourcen führte. Durch die Lebensmittelknappheit entstand ein nicht kon­ trollierbarer Schwarzmarkt, der vor allem die verwundbarsten Mitglieder der Gesellschaft wie ältere Menschen, Kranke und Kinder ausschloss. Gleichzeitig konnte in den Provinzen ein Wettkampf zur Beeindruckung von Mao beobachtet werden, die Provinzen wetteiferten miteinander, die schönsten Villen für Mao zu errichten. Mao selbst war die Wahrheit nicht mehr zumutbar, niemand wagte es, ihm die Realität vor Augen zu führen. In diesem Fall galt  : Mangel an Demut (Mangel an realistischer Selbsteinschätzung) führte zu weiterem Mangel an Demut (zu Realitätsverlust). Ein Märchen, das das Tragische wie auch das unfreiwillig Groteske eines Mangels an Demut ausdrückt, ist die Geschichte von des Kaisers neuen Kleidern. Sowohl Napoleons Feldzug 1812 als auch die Dynamik der chinesischen Hungerkatastrophe haben erschreckend viel mit diesem Märchen zu tun. Demut als Bezug zu Wirklichkeit und zum Leben wird dort erschwert, wo sich Formen – 73 –

»Dicke Haut« und »Blase«

von Täuschung und Selbsttäuschung einnisten. Kehren wir kurz zurück in die Volksrepublik China der späten 1950er-Jahre  : Nachdem sich ein Klima von Misstrauen und Angst entwickelte hatte, tat die Verwaltung auf allen Ebenen ihr Möglichstes, um Nachrichten über den Hunger nicht nach draußen dringen zu lassen. Ein System von Täuschung, Selbsttäuschung, Lüge und Vertuschung wurde etabliert. Die Kosten für Wahrheit und moralischen Widerstand waren hoch  : Wer die Wahrheit sagte, musste damit rechnen, umgebracht zu werden. Größenwahn und Wahrheit vertragen sich nicht. Mangel an Demut ist Bodenverlust, Verlust an Bodenhaftung  ; damit verliert man auch an Reibung  – der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hat an einer Stelle in seinen Philosophischen Untersuchungen notiert  : »Wir sind aufs Glatteis geraten, wo die Reibung fehlt, also die Bedingungen in gewissem Sinne ideal sind, aber wir eben deshalb auch nicht gehen können. Wir wollen gehen  ; dann brauchen wir die Reibung. Zurück auf den rauhen Boden.«90 Wittgenstein hatte natürlich über die Sprachphilosophie, die sich auf eine ideale Sprache konzentrierte, gesprochen. Wir können diesen Gedanken freilich auch auf Menschen und deren Mangel an Demut übertragen. Ein Mensch, der idealisiert wird, wird aufs Glatteis geführt, ebenso ein Mensch, der sich über die Wirklichkeit täuscht. Dieser Mensch verliert den Boden unter den Füßen. Demut ist, so könnten wir sagen, die Schwerkraft, die einen Menschen am Boden hält. Demut gibt dem Leben Schwere, Gewicht. Mangel an Demut kann deswegen auch zu Leichtsinn führen. Leichtsinn hat, um das englische Wortfeld aufzumachen, mit »thoughtl­ essness« zu tun (Leichtsinn, Rücksichts­ losigkeit, Leichtfertigkeit, Achtlosigkeit, ­Nachlässigkeit, ­Bedenkenlosigkeit), mit »foolishness« (Torheit, Dummheit, Albernheit, Leichtsinn, Unverstand, Unsinnigkeit), mit ­ »carelessness« (Nachlässigkeit, Sorg­losigkeit, Leichtsinn, Unvorsichtigkeit, Achtlosigkeit, Unbe­ küm­ mertheit), mit »improvidence« (Leichtsinn, Sorglosigkeit, – 74 –

Schleichende Veränderungen

mangelnde Vorsorge), mit »recklessness« (Leichtsinn, Gefährlich­ keit), mit »rashness« (Unbesonnenheit, Verwegenheit, L ­ eichtsinn, Unüberlegtheit, Unvorsichtigkeit). All diese Dimensionen sind  – sozusagen ex negativo – Dimensionen von Demut  : Demut hat mit Rücksichtnahme, Sorgfalt, Verstand, Vorsicht, Vorsorge, Besonnenheit zu tun. Demut ist moralische Schwerkraft, also Verbindung zu den moralisch wichtigen Proportionen und Prioritäten. Politikerinnen und Politiker brauchen Demut als Voraussetzung für Erdung. Politik braucht Erdung  ; sie ist Heilmittel gegen die Krankheit der Selbsttäuschung. Heilmittel gegen die Prägung durch Amt und Ehre und Status wurden auch unter dem Stichwort »Freiräume« in den Gesprächen benannt  : Eine gewisse Prägung erfolgt schon, das ist keine Frage. Ich glaube, die beste Medizin dagegen ist nicht unbedingt, dass man die Zeit in der Politik limitiert, sondern dass man sich diese Freiräume erhält, und sich nicht zur Gänze von der Politik vereinnahmen lässt, dass man auch während der politischen Zeit andere Interessen pflegt und entsprechende Aktivitäten setzt. Ein

weiteres Heilmittel ist die bewusste und auch mit bewusstem Aufwand verfolgte Entscheidung, nicht den Kontakt zu den Menschen zu verlieren  : Wie viele wissen, was so normale Lebenssituationen

sind oder was im Durchschnitt eine Alleinerzieherin in Österreich verdient  ? Ich glaube, die Entfernung von Politik und dem herkömmlichen Leben ist gigantisch groß und, und da muss man total an der Art und Weise, wie man versucht, den Beruf zu leben, arbeiten, damit diese Entfremdung nicht passiert oder möglichst wenig passiert.

Entfernungen werden dadurch überwunden, dass man »hinausgeht« und »Brücken baut«. Im Grunde ist Papst Franziskus’ Bestreben, die Kirche (als verbeulte Kirche  !) an den Rand zu bringen, ja, geradezu an den Abgrund, die Idee einer aufsuchenden und sich nicht in sich selbst hineinkrümmenden Kirche. Dadurch geschieht Erdung, dadurch haben wir das Phänomen der »schmutzi– 75 –

»Dicke Haut« und »Blase«

gen Hände« und der »Füße am Boden«. Politik mit den Füßen am Boden ist auch wörtlich eine Form von Politik, bei der tatsächlich gegangen wird (und nicht nur gefahren und geflogen). Oder wie es ein Gesprächspartner ausgedrückt hat  : »Dorthin gehen, wo ich die Leute stärken will.

– 76 –

Klare Positionen Über Glaubwürdigkeit

Ein Schlüsselbegriff in der gegenwärtigen Ethik ist der Begriff der Integrität. Integrität bedeutet, aufrichtig zu sein, nicht mit sich selbst im Widerspruch zu leben und das Leben mit einer Ernsthaftigkeit, die sich auch um Positionen bemüht, anzugehen. Ernsthaftigkeit scheint ein wichtiges Stichwort  : Man muss in der Politik klare Positionen beziehen, wenn man Erfolg haben will. Nur ums politische Überleben zu kämpfen, ist zu wenig. Aufrichtigkeit, Stimmigkeit und

Ernsthaftigkeit wiederum deuten auf das hin, was man »Glaubwürdigkeit« nennt. Ein glaubwürdiger Mensch bemüht sich um Wahrhaftigkeit und darum, das zu leben, was er als wertvoll und wahr erkannt hat, selbst wenn sich Widrigkeiten zeigen oder Nachteile in Kauf genommen werden müssen. Dies verlangt moralische Anstrengung. Diese moralische Anstrengung kann aber das Ansehen erhöhen.

Es gibt natürlich Situationen, wo du weißt, da sind alle gegen dich. … Ja, da kriegst du zum Schluss Respekt gezollt, wenn du nicht nach dem Mund gesprochen hast, sondern wenn du ganz klar deinen Standpunkt auch gesagt hast. Auch wenn sie zuerst einmal pfeifen. Also, das stärkt dich ja sogar. Realistisch gesehen kann es jemanden

auch die politische Karriere kosten. Ja, mit Glaubwürdigkeit sind Kosten verbunden, tatsächlich auch finanzielle Kosten, wie uns ein Gesprächspartner mit Blick auf »unpopuläre Maßnahmen« gesagt hat  : Es gibt Situationen, wo eine Wahl bevorsteht und Sie treffen eine

Entscheidung, von der Sie wissen, dass das netto Wähler kostet, weil es Ihnen wichtig ist. … Das politische Signal war eindeutig und mir und allen anderen Betroffenen war vollkommen klar, das kostet uns Stimmen. – 77 –

Klare Positionen

Politik und Glaubwürdigkeit stehen nicht immer auf vertrautem Fuß miteinander, ist doch ein Phänomen unserer Zeit das geringe Ansehen, das der Berufsstand der Politikerin in der Öffentlichkeit hat.91 Eine IMAS-Studie zur Wählerzufriedenheit von 2015 zeigt, dass rund 50 Prozent der Befragten nicht besonders oder überhaupt nicht zufrieden mit den österreichischen Politikerinnen und Politikern sind. Die wichtigsten Gründe sind  : (i) wortbrüchig  : halten Versprechen nicht ein, (ii)  keine/zu wenig Bürgernähe, (iii)  agieren nur nach eigenen Interessen und (iv)  Umsetzungsschwäche. Glaubwürdigkeit ist ein knappes Gut in der Politik. Zudem sind Begriffe wie »Glaubwürdigkeit« oder (damit semantisch verbunden) »Gewissen« keine Kernbegriffe des politischen Diskurses.92 Gleichzeitig sind zwei Entwicklungen zu beobachten  : Erstens kann Glaubwürdigkeit inszeniert werden im Sinne von »Authentizität im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit«93 (Daniela Wentz), was Glaubwürdigkeit zu einem politischen Instrument werden lässt. Zweitens zeigt sich gerade auf jener Mikroebene von Begegnungen, Erfahrungen und Beziehungen, die dieses Buch interessieren, die Bedeutung von Glaubwürdigkeit. Ich hab das Gefühl, je ehrlicher ich umgehe und je klarer auch wird, was ich für ein Mensch bin mit allen Stärken und Schwächen, desto … sorgsamer und verantwortungsvoller gehen viele mit mir um. Der Eindruck der Glaubwürdigkeit

wird als kostbares Gut erfahren, das jenes »Bleibende« schaffen kann, das die Wellen und Wogen der Politik nicht gerne gestatten. Das Schöne ist, dass schon einiges geblieben ist. Man kommt dann irgendwo hin und redet und [dann wird gesagt]  : »Ich erinnere mich noch, das haben Sie damals gemacht.« Oder  : »Wissen Sie noch, da war ich bei Ihnen und Sie haben mir geholfen.« Was ich oft überhaupt nicht mehr weiß oder gar nicht mehr wissen kann. Aber das ist bei den Menschen geblieben und da sind wir wieder bei der Glaubwürdigkeit, ja. … Wenn mich offensiv jemand anspricht und auf etwas hinweist, ist das ein kleiner Erfolg aller politischen Arbeit. – 78 –

Über Glaubwürdigkeit

Der Begriff der Glaubwürdigkeit

Ein glaubwürdiger Mensch »spielt« keine Rolle, sondern »ist« er selbst.94 Sich normal verhalten, hat das ein Gesprächspartner ausgedrückt. In einem bekannten Gedicht von Mischa Kaleko (»Der Eremit«) heißt es in einer Zeile  : »Er wollte nur sein, nicht scheinen«  ; dieser Satz drückt eine Grundidee von Glaubwürdigkeit aus. Diese ist dann unvereinbar mit der Übernahme einer Rolle, die für eine Person auch unpassend sein kann wie ein zu großer Anzug oder ein zu weites Kleid. In der jüdischen Tradition findet sich für dieses Phänomen ein schönes Bild  : Der kleine David ist bereit, gegen den großen Goliath in den Kampf zu ziehen  ; König Saul überlässt ihm die königliche Rüstung – David legt die Rüstung an, kann aber darin nicht gehen (1 Samuel 17,39). Das ist ein schönes Bild, auch für missglückte Rollenübernahmen in der Politik. Politi-

ker, die versuchen, irgendeine künstliche Rolle zu besetzen, scheitern meistens. Wenn man authentisch bleibt, wird das zwar nicht jedem gefallen, aber man hat keine Probleme. Und ich habe auch nie viel davon gehalten, dass man als Politiker alles runterschlucken und erdulden muss und dann womöglich psychische Störungen bekommt. Wenn mich etwas geärgert hat, dann habe ich das auch denen, die mich geärgert haben, sehr deutlich zu verstehen gegeben.

Glaubwürdigkeit ist also mit »Masken« und »Rollen« nicht leicht in Einklang zu bringen, was insofern eine besondere Herausforderung für den politischen Alltag darstellt, als politische Funktionen und politische Ämter mit entsprechenden Fremderwartungen (einem sozialen »Drehbuch«) einhergehen, wie sie für Rollen typisch sind. Glaubwürdigkeit steht aber auch deswegen unter Druck, weil Flexibilität in der Machterhaltungspolitik mit dem Bemühen um Glaubwürdigkeit nur schwer vereinbar ist. Manche laufen über zur

neuen Sonne. Ich nenne das immer das Sonnenblumensyndrom, Sonnenblumen gehen mit der Sonne mit. Ein bisschen so öffnen sie – 79 –

Klare Positionen

sich, verneigen sich ein bisschen und, wenn die Sonne untergeht, machen sie wieder zu und am nächsten Tag fangen sie wieder dort an, wo die Sonne ist. Politiker verhalten sich nach dem Sonnenblumensyndrom. »Sonnenblumensyndrom« (landläufig bekannt als das

Phänomen, sich nach dem Wind zu drehen) und Glaubwürdigkeit stehen in einem Konfliktverhältnis. Ich möchte den Begriff der Glaubwürdigkeit über drei Dimensionen charakterisieren  : Übereinstimmung zwischen Rede und Tun (Korrespondenz), Widerspruchsfreiheit der Lebensführung (Kohärenz) und Zuverlässigkeit im Halten von Versprechen (Konsequenz). Gerade in der Politik, in der so viele Wortmeldungen getätigt und gesammelt werden, kann das zu einer gewaltigen Herausforderung werden. Der amerikanische Philosoph Robert Brandom hat die Dynamik beschrieben, die dadurch entsteht, dass sich jemand durch eine Aussage jetzt auf die Zukunft hin festlegt. »Es wird keine Koalition zwischen X und Y geben«, ist ein Satz, der den Spielraum für künftiges Reden und Tun verkleinert.95 Es ist eine gängige Weisheit, die Rache des Journalisten ist sein Archiv. Und wenn sie jetzt eine andere Position vertreten als vor drei Jahren, gibt es garantiert einen, der sagt  : »Ja, aber damals haben Sie das so und so gesagt und jetzt sagen Sie das ganz anders«, und versucht, Ihre Glaubwürdigkeit grundsätzlich infrage zu stellen. Und die politische Konkurrenz macht es natürlich genauso. Das müssen Sie halt aushalten. Das kann ja nicht sein, dass man nie seine Meinung ändert.

Diese Dynamik macht es offensichtlich schwierig, Lernprozesse unterzubringen oder einzugestehen. Fragen der Kohärenz als Teil der Glaubwürdigkeit stellen sich in der Politik auch in Bezug auf Parteilinie  : Natürlich gibt es dann Situationen, wo man eine Meinung hat und die Mehrheit in der Partei aber eine andere. Da kann die einzelne Politikerin entweder den Erfolg besonderer Glaubwürdigkeit verbuchen oder diese teilweise einbüßen (»was macht sie noch in der Partei  ?«). – 80 –

Über Glaubwürdigkeit

Besonders heikel scheint mit Blick auf das Verhältnis von Politik und Glaubwürdigkeit die Frage von Versprechen zu sein. Politikerinnen und Politiker geben gerne Versprechen ab, gerade in Wahlkampfzeiten. Nicht von ungefähr hat sich der Begriff »Wahlversprechen« eingebürgert. Die Kunst des richtigen Versprechens (tendenziell mehr zu halten als zu versprechen und dennoch sub­ stanzielle Versprechen zu geben) will gelernt sein  ; diese Kunst hat vor allem auch mit der Fähigkeit zu tun, Grenzen des Versprechbaren zu erkennen und zu signalisieren. Mir ist sehr wichtig, dass man die Dinge offen auf den Tisch legt. Zu sagen, was geht und was geht nicht. Und bei manchen Entscheidungen, wo ich selber merke, das kann ich nicht lösen, auch das auszusprechen. Und das ist für mich ein Anspruch bei politischen Entscheidungen, mit dem Machbaren zu arbeiten und zugleich gut zu kommunizieren, was eben nicht möglich ist. Oder  : Man kann auch nicht die Klagemauer sein für alles. Man hört sich manches an … bei vielen kann man auch nicht helfen. Aber das hab ich auch immer ehrlich gesagt, wenn wer sehr komplizierte Sachverhalte, was das eigene Leben betrifft, vorgebracht hat, habe ich gesagt, es tut mir leid, aber ich glaube nicht, dass ich Ihnen helfen kann. Das ist besser, als wenn man sagt, ja, ich werde sehen, was ich tun kann, und sich dann vielleicht nie mehr meldet.

Versprechen erzeugen Vertrauen und Vertrauen gibt Versprechen Gewicht. Es gibt auch politische Versprechen, die ein Gemein­ wesen prägen oder zusammenhalten. Man könnte etwa mit guten Gründen davon sprechen, dass die wohlfahrtsstaatliche Nachkriegsordnung auf vier Versprechen aufgebaut worden war, die allesamt kohäsive Versprechen waren und deren Bindungskraft sich aus der Glaubwürdigkeit von kontraktuellen und fiduziellen Momenten ergeben hat  : (i) einem Bildungsversprechen, (ii) einem Arbeits- und Leistungsversprechen, (iii) einem Vorsorgeversprechen und (iv)  einem Sicherungsversprechen. Das Bildungsversprechen besagt  : »Eine gute Ausbildung garantiert einen guten Job.« Oder  : – 81 –

Klare Positionen

»Lernst du was, so wirst du was.« Das Arbeits- und Leistungsversprechen versichert  : »Wenn du fleißig arbeitest und etwas leistest, wirst du dir ein gutes Leben auf bauen können.« Es ist kaum zu bestreiten, dass dieses Versprechen durch hoch bezahlte Tätigkeiten ohne erkennbare Qualifikation oder Leistung (die in Österreich sprichwörtlich gewordene Frage  : »Was war meine Leistung  ?« mag hier als trauriges Beispiel dienen) untergraben worden ist. Das zunehmend brüchig werdende Vorsorgeversprechen sagt aus, dass der Staat für ein gutes Leben im Ruhestand sorgen werde und die Menschen ihr Leben auf diese Zusicherung hin planen können  ; das Sicherungsversprechen schließlich besagt, dass der Sozialstaat ein Sicherungsnetz spannen wird, das im Sinne einer Solidargemeinschaft im Bedarfsfall zur Verfügung steht. Der Abbau wohlfahrtsstaatlicher Leistungen lässt auch dieses Versprechen mehr und mehr verblassen. Das erzeugt Unsicherheit und Verdruss. Das langsame Versinken dieser Versprechen in den Fluten der wirtschaftlichen Entwicklung führt dann einerseits zu immer gewagteren Versprechen in der Politik, weil man den Menschen doch gerade das anbieten möchte, was sie am meisten begehren. Und andererseits wird die Frustration ob der deutlicher werdenden gebrochenen Versprechen größer, was wiederum zur Bereitschaft führt, gewagtere Versprechen abzugeben und so weiter. Hier wäre ein »Versprechensmoratorium« (eine Auszeit von Versprechen) vielleicht eine gute Idee. Warum sind die Menschen so frustriert  ? Weil sie sagen, man kann niemandem mehr etwas glauben. Es wird ständig vor den Wahlen etwas versprochen, aber es wird nichts eingehalten. Das ist auch ein Problem der Politik, dass die Menschen nicht mehr daran glauben, dass die Politiker wirklich etwas bewegen können.

Politische Glaubwürdigkeit berührt die Grundlagen des Zusammenlebens. In dem 1971 erschienenen Aufsatz »Lying and Politics«, in dem sie mit der Vietnampolitik der USA abrechnet, – 82 –

Über Glaubwürdigkeit

spricht Hannah Arendt von der »Glaubwürdigkeitslücke«  ;96 und tatsächlich hat der Vietnamkrieg eine Vertrauenskrise in die amerikanische Politik gebracht, die sich bis zu den Golfkriegen fortgesetzt haben dürfte.97 Vertrauensstudien zeigen, dass »Vertrauen in Menschen« (»trust in people«) und »Vertrauen in Systeme« (»trust in systems«) miteinander verbunden sind. Menschen verlieren das Vertrauen in Systeme, wenn sie kein Vertrauen in die Menschen haben, deren Gesicht »für ein System steht«. Der Erfolg von »Menschen ohne Eigenschaften«

Wenn man sich mit Politik beschäftigt, lauern bange Fragen  ; zwei solche Fragen lauten  : »Wie macht man eine politische Karriere  ?« Und  : »Wie bekommt man politische Funktionen  ?«  – Fragen, die bereits im Zusammenhang mit »Wegen zur Macht« angesprochen wurden  ; sie können uns mit Blick auf die Qualifikationsprofile mancher Politikerinnen und Politiker bange werden lassen, aber auch in Bezug auf den Eindruck des Erfolgs von »Menschen ohne Eigenschaften«. Die Mitläufer leben ja sehr lange in der Politik. Die

bleiben 20, 30 Jahre Abgeordnete, Regierungsmitglieder, alles Mögliche. Gefährlich wird es ja erst, wenn man die eine Ebene noch höher hinaufkommt. Nur die stürzen ab. Und die Mitläufer müssen sich nach der neuen Sonne orientieren, um einfach zu bleiben, denn wenn ein Parteiobmann jemanden auf der Liste nicht haben will, ist er weg. Man wird zwar berühmt, wenn man gegen den Parteiobmann auftritt, aber dann muss man sich in ein Feld hineinbegeben, wo man auch gewinnt. Also wo man eine eigene Machtbasis hat, z. B. sein Land.

Wenn jemand ein Profil mit Ecken und Kanten entwickelt, ist er nicht mehr universal einsetzbar, bietet Angriffsflächen und erhöht die eigene Verwundbarkeit. Diese Verwundbarkeit ist bei denjenigen größer, die keine Existenzbasis außerhalb der Politik haben. – 83 –

Klare Positionen

Dann hat man eine gewisse Souveränität verschenkt. Die persönliche

Souveränität hat man dann, wenn man bereit ist, das Amt aufzugeben für eine Überzeugung. Wenn man das nicht hat, dann ist man eigentlich gebunden an alles, also, wenn man jetzt sagt, ich bin finanziell oder sonst irgendwie von der Politik so abhängig, karrieremäßig, dass ich nicht mehr frei bin in meiner Entscheidung. Dann hat man ein Problem. Der Lobgesang auf Unabhängigkeit von bezahlter politischer

Tätigkeit wurde in den Gesprächen oft gesungen. Damit ist nicht ein Schritt hinter die große Errungenschaft, politische Arbeit zu entlohnen und Politik nicht nur als Privileg der finanziell Unabhängigen zu setzen, gemeint  ; sondern es ist die Rede von einem Ausbildungs- und Berufsprofil, das Existenzsicherung auch »nach« und »außerhalb« der Politik ermöglicht. Das wird nicht nur als persönlicher Vorteil, sondern auch als vorteilhaft für die Qualität der politischen Arbeit angesehen. Wenn ich aber immer weiß, ich will das mein Leben lang

machen, dann werde ich sehr viel mittragen und dann werde ich sehr viel dulden und sehr viel argumentieren und rechtfertigen. Persönliche Karrierepläne Einzelner stehen damit vielfach im Konflikt mit der Vertretung der Anliegen der Menschen. Das ist ein Systemfehler. Tat-

sächlich – vielleicht ist das ein Fehler eines Systems, das Menschen Stabilität gibt, die eher weniger als mehr Eigenschaften haben. Der österreichische Schriftsteller Robert Musil hat in seinem berühmtesten Werk Der Mann ohne Eigenschaften einen gewissen Ulrich, einen Mann ohne politischen Ehrgeiz und ohne Eigenschaften beschrieben, der sich »Urlaub vom Leben« nimmt, nachdem seine Karriere nicht vorangekommen war. Das mag nicht in allem auf den Politiker zutreffen, der eher weniger als mehr Urlaub hat und jedenfalls über politischen Ehrgeiz verfügt. Und dennoch  : Ein Mitläufer, der gerade dadurch »etwas geworden« ist, weil er nicht durch kritisches Denken aufgefallen ist, sondern als treuer Diener (auch das Wort »Parteisoldat« ist in manchen Kreisen salonfähig) seine ihm aufgetragene Arbeit verrichtet hat.98 – 84 –

Über Glaubwürdigkeit

Ein Mensch mit Eigenschaften, um das Bild noch einmal aufzugreifen, hat auch ein außerpolitisches Profil  ; er hat eine Lebensbasis unabhängig von der politischen Funktion. Es ist ja für viele

Menschen, die von der Politik leben, eine echte Katastrophe, wenn sie nicht mehr politisch tätig sind, und da reagiert man dann einfach anders, das ist ganz klar. Man trennt sich von der Partei, geht zu einer anderen, weil man glaubt, dass man dort längerfristig überleben kann. Also das sind Dinge, die für mich unvorstellbar sind. Da bin ich wieder da, jeder Politiker muss einen Beruf haben. Auch wenn er in den nicht zurückkehren kann, aber trotzdem hast du einfach noch ein anderes Umfeld. Und diese Unabhängigkeit von Politik gibt einem auch die Möglichkeit, mit Niederlagen anders umzugehen. Und

Niederlagen bleiben, wenn man kämpft und im Rampenlicht steht, nicht aus. Glaubwürdigkeit wurde mit »man selbst sein« verbunden, mit einem Leben jenseits von Rollen und Masken. Das bedeutet dann auch, dass ein glaubwürdiger Mensch sich berühren lässt. Oder wieder anders gesagt  : Ein glaubwürdiger Mensch ist schmerzfähig. Politik kann wehtun, gerade wenn sie sich der Wahrheit verpflichtet fühlt. Ich glaube, es ist unvermeidbar, wenn man sich seine Gefühle bewahrt. Wenn man nicht ganz einschert in dieses Denken der Architekten der Macht, wo man dann Freude hat, dass man das kleine Kabinett der Macht selber gestalten kann, wenn man sich also diese emotionalen und geistigen Dinge bewahrt hat, muss der Augenblick des Unglücklichseins kommen. … Alle haben diese Emotionen und ich glaube, bei 90 Prozent verkümmern sie, 95 Prozent, es gibt aber auch die, bei denen die Emotionen bleiben, bei denen, die bis zum Schluss wissen, was Wahrheit ist, aber die sind die Ausnahme.

»Mitläufer« oder »Mitgänger« sind Menschen, die sich nicht festgelegt haben. Sie sind deswegen flexibel und mobil, können mit Strömungen mitschwimmen  – ob dies allerdings langfristig der Erfolg versprechende Weg ist, wurde in einem Gespräch bezwei– 85 –

Klare Positionen

felt  : Es ist schon so, dass man mitgehen muss mit Themen und mit Leuten, wo man eigentlich anderer Meinung ist. Langfristig gesehen wird aber nur ein Politiker Erfolg haben, für den eine Wahrheit auch eine Wahrheit ist. Es wird nur jemand glaubwürdig sein, der bei ganz bestimmten Themen auch Kurs hält. Also gebe ich jedem Jungpolitiker den Rat, lieber den Absturz in der Partei zu riskieren, als in einer wesentlichen Frage sich selbst zu verleugnen und offen zu lügen. Das wird auf einen zurückfallen. Es ist offensichtlich eine Herausforderung für die politische Kultur, Dinge so einzurichten, dass Glaubwürdigkeit weder bestraft wird noch zu einer strategischen Größe verkommt. Das wiederum tangiert die heikle Frage nach den Anreizen in der Politik. Die heikle Frage nach der Ehrlichkeit

Noch eine delikate Frage  : Kann man es sich in der Politik leisten, ehrlich zu sein  ? Aufrichtig die Wahrheit zu sagen  ? Bill Clintons viel zitierter Satz »I did not have sex with that woman« kann als Illustration der Einsicht, »man kann die Unwahrheit sagen, ohne zu lügen«, gelten. Hier deuten sich »Strategien der Ehrlichkeit« an  : In der politischen Debatte werde ich meine eigenen Schwachpunkte nicht selbst thematisieren, sondern ich werde die Stärken darlegen und meine Argumente. Aber ich würde auch nicht bewusst lügen. Oder auch  : Also wenn man halbwegs intelligent ist, dann muss man nicht lügen in der Politik, man muss ja nicht immer alles sagen, was man weiß, nicht  ? Aber das ist im Privatleben auch so. Dass hier nicht

mit der feinen Klinge gearbeitet wird, wie sie vielleicht in den Beichtgesprächen vor der Kindererstkommunion zur Verwendung kommt, liegt auf der Hand. Im Unterschied zur Beichte belohnt Politik Wahrheit nicht immer. Wenn Wähler belohnen würden, wenn Politiker unangenehme – 86 –

Über Glaubwürdigkeit

Wahrheiten sagen, dann wäre es was anderes. Aber in Wahrheit werden Politiker meistens dafür belohnt, dass sie gute Nachrichten sagen. Also, wenn jemand sagt, das Pensionssystem ist sicher, hört das jemand lieber, als wenn jemand sagt, ihr müsst länger arbeiten und kriegt weniger Pension, obwohl die zweite Antwort die richtige ist, nicht  ?

Tatsächlich kann man Politik ohne Wahrheit machen. Politik beruht nach einer tiefen Einsicht Hannah Arendts auf Meinungen, auf Positionen und nicht in erster Linie auf Wahrheit. Eine politische Grundversuchung besteht nun darin, Meinungen als Wahrheit auszugeben. Dazu kommt die »Neigung, Tatsachen in Meinungen aufzulösen, bzw. den Unterschied zwischen beiden zu verwischen.«99 Politische Macht hat es nicht gern, auf eine Gegenmacht, etwa auf Wissenschaft oder Religion, zu stoßen. Manche rechtsgerichteten Politiker in den USA hören es nicht gern, wenn man den Klimawandel als wissenschaftlich unleugbar darstellt. In einer schönen Formulierung Arendts  : »Vom Standpunkt der Politik gesehen ist Wahrheit despotisch  ; und dies ist der Grund, warum Tyrannen sie hassen und sie Konkurrenz mit ihr fürchten.«100 Wahrheit mag despotisch sein, sie setzt sich deswegen aber nicht mit der Macht eines Diktators durch. Ich habe immer geglaubt, Wahrheit setzt sich durch. Aber Wahrheit setzt sich politisch nur durch, wenn man ihr zum Durchbruch verhilft. Und selbst wenn Politik an

Wahrheit interessiert ist, bleibt die Gewichtung von Tatsachen eine schwierige politische Aufgabe – etwa das Filtern von Informationen für den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.101 Wie viel »weiß« jemand, der an Schalthebeln von Macht sitzt  ? Haben nicht diejenigen die Macht, die Informationen und damit Zugang zu Wahrheit filtern  ? Politik belohnt Wahrheit nicht immer, bestraft aber die plumpe Lüge. Menschen sind empfindlich, was Verletzungen der Glaubwürdigkeit angeht  – Vertrauensstudien haben gezeigt, dass Red– 87 –

Klare Positionen

lichkeitsfehler schwerer verziehen werden als Kompetenzfehler.

Diese Ehrlichkeit der Bevölkerung gegenüber, das ist halt die Moral, die eingehalten werden muss. Und nicht, dass ich jemandem erzähle  : »Wir wollen das, weil Arbeitsplätze etc. dadurch entstehen«, und dabei steckt etwas ganz anderes dahinter. Das ist einfach so schnell durchschaut und dementsprechend wird man dann auch abgestraft werden, weil das Vertrauen einfach schwindet. Ich glaub, ehrlich sein zu den Leuten, das muss Priorität A sein.

Freilich, es geht hier um die plumpe Lüge, die unmittelbar bestraft wird. Ich will damit sagen, der Gedanke, dass Wahrheit siegt,

ist ein falscher Gedanke in der Politik. Es siegt der Anschein des Wahren und nicht die Wahrheit. Die wirklich guten Politiker sind die, die daran arbeiten, dass sie die richtigen Inserate streuen und die richtigen Aufträge vergeben, damit von dort transportiert wird, dass sie gescheit, gut, lieb, nett, sozialkompetent sind.

Dramatisch wird es, wenn sich eine Politikerin in einer Situation findet, in der sie sich moralisch verpflichtet fühlt, zu lügen. Es gibt derartige »dirty hands«-Momente in der Politik, in der sich ein Mensch mit Macht und Verantwortung die Hände nur schmutzig machen kann. Ein konkretes Beispiel  : Aber sie muss als Finanzministerin in der Öffentlichkeit jetzt sagen  : »Griechenland ist eh zahlungsfähig.« … wenn sie die Wahrheit sagt, haben wir sofort wieder ein Riesendebakel auf den Finanzmärkten. Wenn ich das sage, als Oppositionsabgeordnete, dass Griechenland zahlungsunfähig ist, dann zucken die Finanzmärkte nicht einmal mit der Schulter. Ich kann das sagen, aber nicht sie als Finanzministerin.

Hier stellen sich Fragen nach Demokratiereife und Menschenbild  – ist die Wahrheit dem Menschen zumutbar  ? Und welche Wahrheit  ? Und wie  ? Gerade von hier aus kann man den Zusammenhang zwischen Diskursniveau und politischer Reife sehen. Dazu ein Beispiel  : Man könnte angesichts der Flüchtlingskrise auf die Idee kommen, die Kostenwahrheit auf den Tisch zu le– 88 –

Über Glaubwürdigkeit

gen. Es ist kein gutes Zeichen, wenn die Wahrheit politisch unzumutbar scheint  ; und ein Aspekt von Wahrheit ist die Kostenwahrheit  ; Flüchtlingsbetreuung kostet Geld  ; wenn es ordentlich gemacht werden will, viel Geld. Ein Teil des Aufwands kann durch die nicht zu unterschätzende Bereitschaft der Zivilgesellschaft geleistet werden, wobei sich auch hier die Frage stellt, wie auf kurzfristige Transithilfe angelegte Freiwilligeneinsätze in langfristige Selbstverpflichtungen übersetzt werden können. Die wirkungsvollste Form des Teilens ist in einem funktionierenden Staat mit progressivem Steuersystem die Einführung einer Steuer. Ich plädiere für die Einführung einer Flüchtlingssteuer. Die politische Durchsetzbarkeit einer solchen Idee ist auch Gradmesser für die moralische Reife eines Landes. Ist diese Wahrheit zumutbar  ? Ein Beispiel  : Politik für Armutsbetroffene Glaubwürdigkeit ist nicht nur ein Thema der Politik, sondern auch ein Thema der Forschung  – wie glaubwürdig etwa kann Armutsforschung sein, wenn sie von denjenigen betrieben wird, die keine Erfahrung von Armut haben  ? Es ist beispielsweise plausibel, auch in Bezug auf das Wissen von Armut zwischen »knowledge by acquaintance« (»Wissen aufgrund von Bekanntschaft«) und »knowledge by description« (»Wissen aufgrund von Beschreibung«) zu unterscheiden.102 Wissen aufgrund von Bekanntschaft ist »direkt«, beruht auf »Wahrnehmung«, »Erfahrung« und »handelndem Umgang«. Wissen aufgrund von Beschreibung beruht auf Zeugnissen von anderen, die wiederum über Wissen aufgrund von Bekanntschaft verfügen. Beschreibungswissen von Armut ist in der akademischen Literatur in großer Zahl vertreten. Ist es glaubwürdig, wenn Aussagen über Armut gemacht werden  ? Welche Art von »Bekanntschaft« ist erforderlich, um »knowledge by acquaintance of poverty« zu haben  ? Hat man – 89 –

Klare Positionen

dieses Wissen bereits, wenn man, wie etwa Prinz William, zehn Wochen in Chile »in Armut« gelebt hat  ? Verfügt man über »knowledge by acquaintance of poverty«, wenn man Freundschaft mit Menschen, die sich in einer Armutssituation befinden, pflegt  ? Pedro Arrupe, der langjährige Generalobere der Jesuiten, hatte in einem Brief an Vicente D’Souza, den Provinzial der Jesuitenprovinz Goa-Poona, vom 8. Januar 1973 von den Mitgliedern seines Ordens verlangt, dass sie wenigstens eine Zeit lang in echter materieller Armut leben sollen und dass sie auch nach dieser Erfahrung in freundschaftlicher Verbundenheit mit einer armen Familie leben sollten. Welche Form von Wissen von Armut wird auf diese Weise erzeugt  ? Und wie glaubwürdig sind Aussagen über Armut auf diesem Hintergrund  ? Eliten nehmen soziale Wirklichkeiten anders war. Sie sind eher der Ansicht, dass die Welt »im Großen und Ganzen gerecht« ist. Paul Farmer hat an einer Stelle darauf hingewiesen, dass diejenigen, die sich ernsthaft für Gerechtigkeit einsetzen, einen tiefen Sinn dafür haben, dass die Welt nicht in Ordnung ist.103 Was heißt das für glaubwürdige Politik etwa in Bezug auf Schlüsselthemen wie Armut  ? Eliten nehmen anders wahr.104 »Qu’ils mangent de la ­brioche« – der viel zitierte Ausspruch aus dem sechsten Buch der »Bekenntnisse« des Jean Jacques Rousseau, der die Aussage selbst als gedankenlosen Ausspruch bezeichnet, deutet eine grundlegende politische Herausforderung in der Armutsforschung an  : Auf welcher Wissensbasis werden Aussagen über Armut gemacht  ? Oder anders gefragt  : Über welche Wissensbasis verfügen diejenigen, die Armut verwalten und den politischen Umgang mit Armut gestalten, wenn sie entsprechende sozialpolitische Aussagen und Entscheidungen treffen  ? Der Spiegel (31/1993) veröffentlichte seinerzeit einen einschlägigen Artikel mit dem Titel »Arm an Wissen über Armut«, der die Basis sozialpolitischer Entscheidungen thematisierte. Polemischer ausgedrückt  : Ist es klug, Beamte mit großer Lebenssicherheit oder Politikerinnen und Politikern mit hohem Lebens– 90 –

Über Glaubwürdigkeit

standard oder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Job Security und gesichertem Lebensstandard über den Umgang mit Armutssituationen urteilen zu lassen  ?105 Dass sich die eigene Lebenssituation auf die Art des Erwerbs von Wissen auswirkt und damit auch auf die Formen von Wissen, über die eine bestimmte Person verfügt, dürfte auf der Hand liegen. Schließlich bestimmt die Lebensform darüber, welche »dichten Beispiele« herangezogen werden können. Erst die dichte Kenntnis eines Kontexts erlaubt es, aus dem Vollen konkreter Beispiele zu schöpfen. Regenia Raw­ linson hat in einem bemerkenswerten Buch davon berichtet, wie Armutserfahrungen das Denken und die Mentalität beeinflussen. Rawlinson wuchs als siebtes von 17 Kindern in bitterer Armut auf, wurde dann Lehrerin und Schuladministratorin und schreibt aus dieser reichen Erfahrung  : Kinder, die in Armut aufwachsen, entwickeln vielfach die Einstellung, dass man für alles kämpfen muss, dass das aber gleichzeitig wenig Sinn hat, weil die Welt frustrierend ungerecht ist  ; daraus entsteht eine Haltung von Aggression und Resignation, die von Lehrerinnen und Lehrern oft als respektloses Verhalten fehlinterpretiert wird.106 Der eigene Lebenshintergrund prägt das Denken  ; das gilt auch für diejenigen, die mit sichtbaren und unsichtbaren Privilegien aufwachsen. Wie dürfen wir uns denn nun die Gesetzgebung für armutsbetroffene Menschen vorstellen, also Prozesse der Sozialgesetzgebung  ? Es ist nachweislich der Fall, dass wohlsituierte Menschen andere Präferenzen in der Armutsgesetzgebung äußern.107 Wir können davon ausgehen, dass Berufspolitikerin und -politiker nicht arm sind. Sie mögen in Armut aufgewachsen sein, aber auch das ist nachweislich selten. Denn generell sind die Oberschicht und obere Mittelschicht im Verhältnis zu ihren Bevölkerungsanteilen in europäischen Staaten überrepräsentiert, wie eine vergleichende Studie des Elitesoziologen Hartmann zeigt.108 Die soziale Herkunft von Politikerinnen und Politikern ist im europäischen Vergleich aller– 91 –

Klare Positionen

dings sehr heterogen, nationale Rekrutierungs- und Aufstiegsmuster spielen weiterhin eine wichtige Rolle  : In Frankreich und Großbritannien und in etwas geringerem Ausmaß in Spanien, Portugal und Griechenland bildet die politische Elite seit Jahrzehnten eine eigene, sehr homogene »Klasse«, die sich durch überwiegende bis fast ausschließliche Rekrutierung aus der Oberschicht und oberen Mittelschicht, teilweise über bestimmte Bildungsinstitutionen und große interne Mobilität zwischen Elitepositionen auszeichnet.109 Elitepositionen verzerren die Wahrnehmung, wie es sichtbare oder unsichtbare Privilegien an sich haben.110 Jacob Grumbach zeigt auf, dass die vorherige berufliche Position von amerikanischen Kongressabgeordneten signifikant mit deren Abstimmungsverhalten hinsichtlich der Zustimmung zu Sozialprogrammen und der Idee von Steuern für Reiche zusammenhängt.111 Nun gibt es die Versuchung, wie wir sie auch aus der Armutsforschung kennen, die kaum von Armutsbetroffenen selbst gestaltet wird, an Armut mit einer Schlüsselfrage heranzugehen, nämlich der Frage  : Was würde ich in dieser Situation tun  ? Diese Frage ist gut gemeint, aber systematisch irreführend. Und auf der Basis dieser Frage werden Armutsforschung betrieben und Sozialpolitik gemacht. Warum ist diese Frage systematisch irreführend  ? Wenn ich mir die Frage stelle »Was würde ich tun, wenn ich von Armut betroffen wäre  ?«, würde ich davon ausgehen, dass ich als Mensch mit guter Gesundheit körperlich belastbar bin, dass ich als Mensch mit sozialen Netzwerken dieses »Sozialkapital« bemühen kann, dass ich als Mensch mit gewissen geförderten und entwickelten intellektuellen Begabungen selbige einsetzen würde, dass ich als Mensch, der Menschen mit bewundernswerter Arbeitsmoral kennt, auf diese Rollenvorbilder zur Strukturierung meiner Selbstdisziplin zurückgreifen kann. Ich würde davon ausgehen, dass ich in der Nacht gut schlafe, tagsüber nicht sozial erniedrigt werde und in erfüllenden Beziehungen lebe. Nun  ? Das sind genau jene Lebens– 92 –

Über Glaubwürdigkeit

pfeiler, die armutsbetroffenen Menschen zumeist gerade nicht zur Verfügung stehen. Sie schlafen vielfach schlecht, Nacht für Nacht, in schlechten Schlafstellen, in feuchten und lauten, sommerlich heißen und winterlich kalten Wohnungen  ; die gesundheitliche Situation ist oft fragil, die Erfahrung von Erniedrigung und Zurückweisung eine tägliche, das soziale Umfeld nicht stützend. Der englische Philosoph Gerald Cohen hat an einer Stelle den »interpersonalen Test« eingeführt. Er stellte sich die Frage, ob Politik, die ohne Beisein betroffener Bevölkerungsgruppen gemacht wird, im Angesicht der Betroffenen ebenso ausfallen würde, oder anders gesagt  : Würdest du dich trauen, das, was du hinter dem Rücken von Menschen sagst, auch in deren Gesicht zu sagen  ?112 Würdest du dich trauen  ?

– 93 –

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone Zur Macht der Medien

Milan Kundera singt in seinem lang erwarteten Roman Das Fest der Bedeutungslosigkeit ein Lob auf die Bedeutungslosigkeit  ; sie wird gelebt von Menschen, die keine Bühne brauchen  ; sie ist »der Schlüssel zur Weisheit, sie ist der Schlüssel zur guten Laune«.113 Man müsse lernen, die Bedeutungslosigkeit zu lieben, die Leichtigkeit, die sich daraus ergibt, nicht dem Zwang, etwas Besonderes und Gewichtiges sein zu sollen, dienen zu müssen. Vermeintlich belanglose Gespräche lassen Menschen näher zueinander kommen, ermöglichen den Auf bau einer Vertrautheit, so wie Kundera mit kleinen Erzählungen einen Roman schafft. Humor zeigt sich hier als Gegenmittel zum gewichtigen Ernst, zu dem, was man mitunter gravitas nennt. Ein Gesprächspartner kommentierte das Thema der Bedeutsamkeit  : Es war vielleicht weniger diese Privat-öffentlich-Dichotomie, sondern mehr, dass man immer das Gefühl hatte, man ist bedeutend und muss sozusagen diese Bedeutsamkeit auch irgendwie leben.

Der gewichtige Politiker, die ernsthafte Politikerin in der Öffentlichkeit sind zumeist um Bedeutsamkeit bemüht – bedeutsame Themen sollen von bedeutsamen Menschen in bedeutsamer Weise abgehandelt werden  ; Dienstwagen und Vorzimmer, Pressesprecher und entsprechende Sprachspiele tun das Ihre, Sprachspiele mit Sätzen wie »Ich sage das mit allem Nachdruck«, »Ich bin mir der Bedeutung dieser Stunde bewusst«, »Es ist ein historischer Moment«. Mit ernstem Gesicht steht die Politikerin vor der Kamera, mit bedeutungsschwangerer Geste werden Meilensteine in historischen Boden geschlagen. Man findet sich mit einer Rolle und einem Drehbuch auf einer Bühne wieder, auf der ein Stück politischer Bedeutsamkeit zur Aufführung gebracht wird. – 95 –

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone

»Politik als öffentlicher Vorgang«, soviel gilt heute als gewiss, »ist immer inszeniert«.114 In der Politik bin ich immer gezwungen,

den persönlichen Aktienkurs hochzuhalten. Das ist ein Hamsterrad. … In der Politik ist klar, ohne den hohen Aktienkurs kann ich nicht entsprechend Politik machen, weil das öffentliche Image, das Gewicht, das Prestige eines Politikers, diese Durchsetzungskraft letztlich natürlich auch von dem bestimmt wird. Wie groß ist der Unterschied

zwischen »vor laufender Kamera« und »ohne Kamera«  ? Cicero hatte seinerzeit vorgeschlagen, als ein Kriterium für Redlichkeit das Verhalten eines Menschen, der sich unbeobachtet weiß, heranzuziehen. Die Frage lautet dann gewissermaßen  : Wie verhält sich ein Mensch, wenn er den Ring des Gyges trägt  ? Zweifelsohne kann es hier auch zu Erosionseffekten kommen, die einen Menschen dazu bringen, alles den politischen Zielen unterzuordnen  ; dies trifft auf Menschen zu, die Jürgen Leinemann in seiner Analyse als »politiksüchtig« beschrieben hat.115 Tatsächlich  : Die größte Herausforderung in der Politik und der Un-

terschied zu anderen Berufen ist, dass alles sich in der Öffentlichkeit abspielt. Dass alles, was man sagt, tut, jede spontane oder geplante Reaktion natürlich öffentlich kommentiert, interpretiert und manchmal auch missinterpretiert wird und man immer auch mitdenkt  : »Wie kommt das an in der Öffentlichkeit  ?«

Politik und Medien

Politik und Medien sind in einer Symbiose verfangen – die Medien leben von uns und wir leben von den Medien. Viele Bürgerinnen und Bürger richten den Rhythmus ihrer Abendgestaltung nach den Nachrichtensendungen aus. Auch sie leben das enge Verhältnis von Politik und Medien. Diese Symbiose ist ambivalent. Es ist bemerkenswert, dass die Mediendynamik zwei einander widersprechende – 96 –

Zur Macht der Medien

Tendenzen befördert  : Einerseits zerstört sie die »Aura« des politischen Akteurs,116 indem sie diese in mancher Hinsicht entzaubert und daher als menschlicher erscheinen lässt, andererseits schafft sie eine politische Bühne, auf der es beinahe nur mehr um werbewirksame Imagepflege geht.117 Die Lage ist paradox  : »Der Bürger«, schreibt Tobias Kahler, »verlangt nach Echtem, verlangt nach Glaubwürdigkeit, Authentizität.«118 Bekommt er dann allerdings Politiker als die »fehlbaren menschlichen Wesen«,119 die sie sind, zu Gesicht, reagiert er – wie Joshua Meyrowitz zeigt – enttäuscht.120 Die Politik bemüht sich, mit der »Inszenierung von Authentizität«121 zu reagieren. Sie bemüht sich nunmehr um eine Art von Inszenierung, der nicht mehr so leicht als Inszenierung erkennbar ist. Offenbar muss ein politischer Akteur hier auf risikoreicher See navigieren  : Authentisches Auftreten kann ihm – je nach Kontext – schaden oder nutzen, besonders, wenn es um seine »Markenidentität«122 geht. Diese wird durch die Personenfixiertheit mancher Medien unterstrichen  : Es war oft so, dass ich gesagt habe  : »Nein, ich hab keine Lust, soll der oder die hingehen, die Person, die vom Fach her viel eher geeignet ist«, aber [der Fernsehsender] … erpresst Sie … und sagt, entweder die Person oder gar niemand von [der Partei]. Dadurch wird die Konzentrierung der Aufmerksamkeit nur

verschärft, was wiederum den Eindruck von außen, wie Politik »gemacht« wird, verzerrt. Medien haben eine Doppelrolle, da sie politische Information vermitteln, aber auch selbst als politische Akteure auftreten. Politik in der »reflexiven« Moderne ist stärker auf die Akzeptanz durch ein öffentliches Publikum als Legitimationsressource angewiesen – Politiker sind also notwendigerweise umso stärker auf Massenmedien angewiesen, je weniger direkte Interaktion möglich ist (für Lokalpolitiker weniger bedeutsam als auf Landes-, Bundes-, EU-Ebene). Medien erzeugen Aufmerksamkeit auf selektive Weise. Die weithin rezipierte »Krise der Öffentlichkeit« in medienzentrier– 97 –

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone

ten Demokratien bezieht sich jedoch auch auf Veränderungen der »klassischen« Medien (Print, TV…) durch Kommerzialisierung und Vermarktlichung und umfasst eine Vielzahl an, sich teilweise widersprechenden, Thesen, über die wenig Einigkeit besteht.123 Folgende Themen werden genannt  : Infotainment und Verdummung, aber auch Elitisierung und Informations-Overload, Personalisierung und Zunahme von Politikmarketing, Entsachlichung, Zunahme des konfrontativen Negativismus (Hypergegnerschaft), exzessive Interpretation und Kommentierung, aber auch exzessive Balance und unangebrachte Unparteilichkeit. Einig ist man sich im Faktum der Wirkung, die Medien auf die Politik ausüben. Für Österreich hat sich besonders der Politikwissenschaftler Fritz Plasser in mehreren Grundlagenwerken und Studien mit dem Verhältnis zwischen Politik und Medien auseinandergesetzt und konstatiert, dass besonders der Negativity-Bias (elitenkritische Grundtonalität) und die medieninduzierte Personalisierung von Politik relevante Entwicklungen seien. Beispielsweise ergab sein inhaltsanalytischer Befund zur Nationalratswahl 2008, dass sich nur 21  Prozent der Berichte auf Sachthemen bezogen, der Rest auf Wahl- und Koalitionsspekulationen, Stimmungsberichte über Wahlkampfveranstaltungen, Prognosen und Wahltaktiken. Auch der Versuch der Einflussnahme auf die redaktionelle Berichterstattung ist in Österreich häufig anzutreffen. Das wichtigste Merkmal ist allerdings die Bedeutung des Boulevards  : In seiner Vergleichsstudie zu mehreren europäischen Ländern stellt er fest, dass in keinem anderen Land der politische Einfluss des Boulevards von Politikern und Journalisten so hoch eingeschätzt wird wie in Österreich (z. B. Kanzler, die vom Boulevard gemacht werden).124 Die politische Öffentlichkeit wird schließlich weitgehend von den Medien hergestellt, was den französischen Philosophen Jean Baudrillard zum Begriff der »Telekratie« bewogen hat.125 Diese Dynamik hat selbstredend Einfluss auf den Alltag der Politikerin– 98 –

Zur Macht der Medien

nen und Politikern, verändert aber auch die Wahrnehmung und Beurteilung von Politik. Das Abschneiden der Spitzenkandidaten und -kandidatinnen bei den Fernsehdiskussionen ist ein wahlmitentscheidender Faktor geworden. Schweißperlen während eines Interviews können über Medienstimmen entscheiden. Hier kann die Aura des unbesiegbaren Heroen kaum aufrechterhalten werden  ; das wiederum erklärt den Zusammenhang zwischen Zensur und Diktatur. Dazu kommt, dass die Medienwelt schneller und schärfer wird, jede Bewegung wird registriert, jede Schwäche bloßgelegt, sodass der politische Held unschwer vom Sockel gestoßen werden kann. Der Politiker ist gewissermaßen zum »gläsernen Menschen« geworden  : Und das ist, glaube ich, … mit etwas, was Menschen abschreckt, in die Politik zu gehen. Man muss wissen, dass alles, was man im Leben tut und jemals getan hat, Gegenstand öffentlicher Erörterungen werden wird. Das bedeutet  : Du musst mit deinen Äußerungen sicher vorsichtig sein, weil jedes Wort auf die Waage gelegt wird. Das ist aber grundsätzlich nicht so falsch, weil, ich muss ja nicht alles daherplappern, man hat ja eine verantwortungsvolle Aufgabe. Dazu ein Kommentar im Modus der Selbstkritik  : Auch Politikerinnen und Politiker mit ihren Persönlichkeiten tragen dazu bei. Wenn ich, spitz gesagt, in jedes Mikrofon reinbeißen muss und immer als Erster informieren will, damit ich vorkomme, … das ist schon ein Geben und Nehmen, glaub ich. Aber es ist sehr schwer, wieder herauszutreten und zu sagen, wir tun alle jetzt anders.

Konsequenzen des Mediendrucks

Der Druck, Politik vor Kameras und Mikrofonen machen zu müssen, hat einige Effekte und Konsequenzen. Eine Konsequenz betrifft die Auswahlmechanismen des politischen Personals, die andere dessen Ansehen. Die Medienlogik bestimmt erstens das – 99 –

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone

Anforderungsprofil für die Politik mit  : Introvertierte haben es in unserer Gesellschaft notorisch schwerer, wie Susan Cain aufgezeigt hat, da wir eine Welt der Offensichtlichkeit und Hörbarkeit gebaut haben  ;126 wem es zudem an rhetorischem Können oder an einer angemessenen Körperästhetik mangelt, wird es auf der politischen Bühne schwerer haben.127 »Schönheit« ist durchaus auch eine politische Kategorie, ästhetische Überlegungen sind durchaus strategische Überlegungen. Ein zweiter Effekt der Medienlogik ist mit einer Dynamik der Entzauberung verbunden  : Je menschlicher die Politiker erscheinen, desto weniger scheint man bereit zu sein, ihnen zu vertrauen  ! Das liegt freilich in erster Linie an der allzu großen Kluft zwischen Wunsch und Realität  : Die Menschen wünschen sich offenbar Politiker, die »wie Götter« sind, und reagieren enttäuscht, wenn doch »Beweise für ihre Sterblichkeit«128 erbracht werden. Drittens bewirkt die Medienwelt eine Beschleunigung. Das ist eine der Schattenseiten unserer jetzigen Form der Politik, die mit großem, auch medialem Druck erfolgt. Dieses immer auf alles sofort Antworten wissen müssen, immer mit Aussagen von anderen konfrontiert werden, die nicht immer interessant und spannend sind. Die jederzeitige Verfügbarkeit, medial und auch sonst. Oder auch  : Also die Erwartung an Politikerinnen und Politiker ist schon sehr oft, dass sie Wunder bewirken, dass von heute auf morgen alles geändert werden muss. Dabei gibt es Faktoren wie Mehrheitsfindung sowie auch eingeschränkte Einflussnahme auf den unterschiedlichen Ebenen der Politik. Umso wichtiger ist es, Zeit zu haben, um zu kommunizieren. Diese Zeit fehlt oft den Politikern, aber auch den Medien, die für alles eine 30-Sekunden-Antwort haben wollen. Wie viel Spielraum ist hier gegeben  ? Ich würde eigentlich gern haben, dass ein Politiker ins Fernsehen geht und zu irgendeiner Sache gefragt wird, und dann sagt der  : »Ich kann da jetzt gar nichts dazu sagen, ich muss mich da erst kundig machen, einlesen, ich hab eigentlich keine Ahnung von – 100 –

Zur Macht der Medien

diesem Thema.« Meine Vermutung ist, dass die Mehrheit der Leute sagt, jetzt zahlen wir denen eine Menge Geld und dann kennen sie sich nicht mal aus.

Viertens führt der Mediendruck im Verbund mit der eingangs geschilderten chronischen Überforderung zu der bei allen beliebten politischen Floskelrhetorik, die Stehsätze, Allgemeinplätze, Füllwörter und Maximalformulierungen kennt. Diese sprachlichen Ausweichmanöver hängen auch damit zusammen, dass Interviewsituationen verzerrt sein können. Es gibt, so schilderte uns ein Gesprächspartner seine Erfahrung, Journalisten, die von vornherein schon Suggestivfragen stellen, weil sie mit ihrer vorgefestigten Meinung, die sie schon zu irgendwas haben, ganz klar auf ein Ziel hinwollen, ja, und da muss man dann differenzieren und sagen  : »Bei diesem und jenem musst du halt gut aufpassen, weil, der dreht dir sowieso das Wort im Mund um.« Hier wird die Versuchung plau-

sibel, nichts zu riskieren und Sprachspiele mit möglichst geringer Verbindlichkeit zu spielen.

Keiner kann ein Experte in allen Bereichen sein. Und das hat meiner Meinung nach in der Entwicklung der Politik zu diesem »Politiksprech« geführt, dass Leute sich so vage äußern, dass sie nicht irgendwie festgenagelt werden können auf irgendwas. Das sind auch diese unglaublich langweiligen Politstatements, wo die Leute sagen  : »Huh, reden alle dasselbe, keiner sagt was.« Das ist der Eigenschutz, weil dann turne ich mich lieber um ein Thema ein bisschen herum, bevor ich an irgendwas festgemacht werden kann, was sich im Nachhinein vielleicht als nicht richtig herausstellt. Wäre es nicht einmal

einen politischen Selbstversuch wert, sich um einen stehsatzfreien Tag mit öffentlichen Auftritten zu bemühen  ? Im Zusammenhang mit der rhetorischen Verflachung zeigt sich medialer Druck auch in der Verhärtung der Umgangsformen und Verkantung der Ausdrucksformen   ; selbst vor Kraftausdrücken scheut der Politiker nicht immer zurück. Es wird eigentlich in der – 101 –

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone

Regel eine spannende, griffige, kantige Politik verlangt. Wenn man das nicht so hält, sondern eher verbindlich ist, wird das als fad beschrieben, wie wenn es in der Politik darauf ankäme, ob es fad ist oder nicht fad ist. Sondern es käme eigentlich auf die Ergebnisorientierung an. Aber  : Man erwartet starke Sprüche. Oder auch starke Auftritte –

ein Gesprächspartner hat die Idee eines medienbedingten Zirkus­ effekts ins Spiel gebracht  : Meine größten Medienerfolge habe ich

nicht gehabt mit der Sachpolitik, die ich abgeliefert habe, sondern wenn ich irgendeinen Zirkus gemacht habe, und dadurch ist auch die Politik so ein Zirkus. Weil, das ist interessant, das ist spannend, da hast du medial Resonanz oder auch Resonanz bei den Leuten.

Fünftens wirkt sich der mediale Druck auch in einem Rollendruck aus, der auf eine Person ausgeübt wird, die etwa ganz gegen ihr reflektiertes Naturell einfache Botschaften präsentieren muss. Dazu ein anschauliches Beispiel  : Am Anfang wurde ich auch so gedrillt. In den ersten Jahren war ich in die ZIB2 eingeladen. Und mein damaliger Pressesprecher sagt mir  : »Pass auf, folgende vier Botschaften…« Da sitzt du im Taxi, fährst auf den Küniglberg, und folgende vier Botschaften, erstens, zweitens, drittens, was zum Teufel war die vierte Botschaft  ? Und dann ist Folgendes passiert. Daran erinnere ich mich wie gestern. Einige Zeit später hatte ich einen sehr guten Coach. Wir schauen uns diese ZIB2-Sendung auf Video an und er sagt zu mir  : »Warum haben Sie eigentlich die Frage nicht beantwortet  ?« Wir schauen es noch einmal an und ich muss zugeben, ich habe die Frage des Moderators nicht beantwortet. Und dann ist mir eingefallen, wie das war. Man sitzt da und weiß, die ganze Sendung dauert sieben Minuten, zweieinhalb davon redet der Moderator, hast du also vier Minuten für vier Botschaften. Damals hatte ich eben keine Routine. Ich hab die Frage gar nicht bewusst gehört. Ich hab nur mitgekriegt, jetzt bin ich dran, vielleicht fallen mir noch drei von den vier Botschaften ein. Und so kommt das. Ich bin überzeugt, dass das heute immer noch Usus ist. So kommt es, dass die Leute, die sonst – 102 –

Zur Macht der Medien

normal begabt sind, Fragen nicht beantworten. Der Zuseher ist irritiert, auch der Moderator ist irritiert, alle sind unzufrieden, ausgenommen die eigenen Parteifreunde. Die sind zufrieden, du hast drei von den vier Botschaften rübergebracht. Aber sonst ist niemand zufrieden. Und das abzulegen, diese Erwartungshaltung, dass ich sage  : »Ok, wenn es sich ergibt, dann bring ich ein oder zwei Botschaften an, und wenn es sich nicht ergibt, dann ergibt es sich eben nicht.« Mehr an die Leute im Wohnzimmer zu denken, die da den Fernseher aufgedreht haben, aber jederzeit wegzappen können.

Medienhygiene und »bad news is good news«

Medieneinflüsse werden stark durch die Themeneigenschaften vorstrukturiert (Aufmerksamkeitswert). Was bedeutsam ist, ist umkämpft – politische Akteure versuchen, diese durch das Erzeugen und Verbreiten von Informationen zu beeinflussen (Wechselwirkung zwischen politischem Kommunikationsmanagement und Medienlogik). Das bedeutet im Umkehrschluss, dass viele Politikbereiche und auch Politik (fast) gar nicht im Licht der Öffentlichkeit stehen. Die Logik der »bad news« erzeugt hier zudem eine eigene Dynamik. Damit ist Stress verbunden. Politik in einer Medienwelt, in der das Gesetz »bad news is good news« gilt, trifft den einzelnen Menschen auf oft persönlich verletzende Weise. Karikaturen sind sehr beliebt, Meuchelfotos sind keine Seltenheit. Und

man hat mich fotografiert, wie ich ein Glas Wasser getrunken habe, so von schräg unten, dass ich ausgeschaut habe wie ein Betrunkener. Und dieses Bild war dann auf der Titelseite. Und dann ist halt irgendetwas gestanden aber die Emotion war schon transportiert.

Hier stellt sich etwa die Frage, wie man es selbst mit der Medien­ diät hält. Der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein hat einmal geschrieben, dass viele philosophische Krankheiten durch – 103 –

Kameras, Scheinwerfer und Mikrofone

eine einseitige Diät von Beispielen entstehen. Medienkonsum ist eine Form der Nahrungsaufnahme. Hier stellen sich Fragen nach den Kalorien der Kritik, die man sich zumuten kann. Und ich kann

nur sagen, eine der wichtigsten Sachen, die man als Spitzenpolitiker, aber vor allem -politikerin machen muss, ist, nicht ins Internet schauen, was es für anonyme Postings gibt. Da wirst du wahnsinnig. Das kann echt deprimieren. Das ist eine neue Dimension. Es geht schneller, es ist anonym, du musst nicht auf die Post gehen, keine Briefmarke kaufen. Ich hab in meiner Schlussphase alle sechs bis zwölf Monate einen Brief nach Hause bekommen. Und ich habe schon gewusst, das ist immer derselbe.

Die Rezeption von Darstellungen macht etwas mit Menschen, wie Gift kann Berichterstattung in die Persönlichkeit einsickern.

Ich hab dann vieles auch gar nicht mehr gelesen und das war besser. Man wird auch so beeinflusst in seinem Handeln, weil, bevor man was tut, denkt man ja dann… Der größte Fehler, den Politiker machen können, ist, dann schon vorher nachzudenken und zu sagen  : »Also, ich möchte jetzt etwas tun, was ich für richtig halte. Ich weiß aber, das kommt in der Öffentlichkeit nicht gut an.« Das ist dann die wesentliche Entscheidung. Mache ist es dann trotzdem, weil es richtig ist, oder sage ich  : »Nein, lieber nicht  !«, bevor ich dann wieder eine über die Rübe kriege, medial oder so. Und das ist, was die Politik heute sehr prägt. Dass man sehr danach geht, wie verkauft man das. Wie wird sich das auf die nächste Umfrage oder auf die nächste Wahl auswirken oder Ähnliches. Das sollte Politiker nicht leiten.

– 104 –

»Privat« und »öffentlich« Politik mit Haut und Haaren

Politik ist Schauspiel, Schauspiel auf einer Bühne. Manchmal muss

Politik ein bisschen lauter und ein bisschen marktschreierischer sein, damit sie gehört wird. Damit man nicht ganz untergeht. Das ist legitim. Manchmal ein bisschen dicker aufzutragen, wenn es der Sache dient. Das ist gute Schauspielkunst. Dazu bedarf es einer Bühne, ei-

nes Drehbuchs, eines Publikums. Und dann kann gespielt werden  ! Politik wird nicht selten mit der Schauspielkunst verglichen  : In seinem Buch The Art of Power zeigt Diego A. von Vacano auf, dass es eine machiavellistische Tradition gibt, die das politische Handwerk als die ›Kunst des Scheins‹ lehrt.129 Politik sei demnach, so liest man, keine Frage der Ethik, sondern eine der Ästhetik.130 Die Erklärung, die hierfür gegeben wird, ist einfach  : »Jeder sieht, was du scheinst, wenige fühlen, was du bist«,131 heißt es dazu schon bei Machiavelli. Der Bühneneffekt wirkt verzerrend, aber die Verzerrung kann auch eine Vergrößerung und Überstrahlung sein. Ich bin immer froh gewesen um jede Bühne, wo ich nicht drauf musste. Aber die Mehrheit meiner Kollegen, das ist fast eine Grundvoraussetzung für die Politik, lieben das. Das ist so ein Adrenalinschub, wenn man dann auf einer Bühne steht und vor Menschen reden kann. Für die meisten ist das ist ein ganz großer Kick.

Hier stellen sich Fragen nach Glaubwürdigkeit und Bühne, wenn man etwa, wie in einem Gespräch erwähnt, der Ansicht ist  : Das reale Leben ist ein anderes als das politische Leben. Oder auch im Zusammenhang mit Selbstvermarktung  : Dieses Eigenmarketing, das

ist schon wichtig, auch in Richtung meiner Kolleginnen und Kollegen, dass die sehen, was ich tue. Fraglos geht es um die Erzeugung einer Sichtbarkeit  : Am Anfang, wenn man die Dinge noch nicht so kennt, – 105 –

»Privat« und »öffentlich«

ist man oft enttäuscht. Zu Beginn meiner Politikerkarriere habe ich mir schon tageweise gedacht, das passt nicht, irgendwas rennt falsch. Weil die Leute nicht gesehen haben, dass wir eh was tun, nicht  ? Aber mir ist dann mit der Zeit klarer geworden, mit dem Eh-was-Tun alleine hängt es nicht zusammen. Erstens einmal muss man mehr, als man glaubt, darüber reden und zweitens ist es auch so, dass man sichtbare Zeichen für die Leute einfach braucht, und da braucht man Geduld. Auch das muss man ehrlicherweise vermitteln, dass man sagt  : »Leutln, das, was wir jetzt angegangen haben, dass ihr merkt, dass da was geschehen ist, das wird 3 bis 4 Jahre dauern.« Nicht alles eignet sich

für die Bühne, nicht alles eignet sich für das Bild. »Bühne« und »Spiel« sind in jedem Fall relevante Kategorien zur Vermessung des Politischen. Manches ist auch so ein bisschen

Bühne und Spiel. Die politischen Differenzen sollen ja auch sichtbar werden und das kann auf unterschiedliche Weise passieren. Hin und wieder haben wir höchst interessante und auch beinahe witzige, humorvolle Kontroversen. Eine Bühne bietet hier eigene Möglich-

keiten.

In der Öffentlichkeit

Eine Politikerin steht in der Öffentlichkeit  ; du musst immer im An-

gesicht der Öffentlichkeit, auf offener Bühne … relativ rasch gute Entscheidungen finden, die Akzeptanz haben, so hat es ein Gesprächs-

partner ausgedrückt. Der Politiker steht unter Beobachtung. Diese Beobachtung muss freilich erzeugt werden, was Woody Allens Film To Rome With Love wunderbar am Beispiel des einfachen Angestellten Leopoldo Pisanello zeigt  ; auf einmal wird alles, was er macht, interessant, plötzlich ist alles, was er sagt, von Interesse. Er wird beobachtet, Fluch und Traum zugleich. Öffentlichkeit muss geschaffen werden, sie ist nicht einfach »da«. Die »Agora« als – 106 –

Politik mit Haut und Haaren

Marktplatz der Begegnung von politischen Gestaltern war eine Erfindung, keine Entdeckung. Der Althistoriker Christian Meier hat die Schaffung dieser Form von Öffentlichkeit in der griechischen Polis als Meilenstein und Durchbruch beschrieben  – eine Form von Öffentlichkeit, in der allgemeine Angelegenheiten in einem für alle Politik Schaffenden zugänglichen Raum auf der Basis von Argumenten und Überzeugungsarbeit erörtert wurden. Diese Öffentlichkeit ist eine große Errungenschaft  ; andere können zuhören und zusehen, wenn wichtige Entscheidungen getroffen werden  ; sie können die Gesichtspunkte und Gründe nachvollziehen, wissen auch, was Sache ist, was als politische Angelegenheit betrachtet und verhandelt wird. Reflexionen zur politischen Öffentlichkeit spielten in der Politikwissenschaft lange Zeit eine marginale Rolle. Die Ausnahme war Habermas, der den Begriff der Öffentlichkeit in der Politischen Theorie der letzten Jahrzehnte stark geprägt hat.132 Öffentlichkeit kann unterschiedliche strukturelle Eigenschaften annehmen. Habermas unterscheidet die repräsentative Öffentlichkeit der Höfe von der bürgerlichen Öffentlichkeit des bürgerlichen Publikums, das der öffentlichen Gewalt des Staates eine »öffentliche Meinung« entgegensetzt. Der Öffentlichkeit kommt laut Habermas eine zentrale Funktion bei der rational-aufklärerischen Demokratisierung zu. Im öffentlichen Raum begegnen sich die freien und gleichen Bürger als politische Gemeinschaft. Der öffentliche Raum ist damit eine eigenständige Sphäre zwischen dem Staat und der Gesellschaft. Das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Raum ist fragil und immer wieder auch bedroht  ; Jürgen Habermas hat anlässlich der Verleihung des Kyoto-Preises auf die Verkehrung der Gewichtung hingewiesen133 – das, was in die Öffentlichkeit gehört, wird ins Private abgedrängt und hinter verschlossenen Türen ausgehandelt  ; das, was privat ist und bleiben soll, drängt auf die Bühne – 107 –

»Privat« und »öffentlich«

der Öffentlichkeit (wir wissen mehr über Paris Hilton und Justin Bieber, als wir jemals wissen wollten  !). In der liberalen Philosophie gilt der öffentliche Raum als neutral – deswegen auch die mitunter vehement vorgetragene Forderung, religiöse Symbole aus öffentlichen Räumen zu bannen. Freilich, das steht im Konflikt mit der kulturellen Formung des öffentlichen Raums und mit dem medial erzeugten Interesse am Privatleben von Personen, die in der Öffentlichkeit stehen. Die Masse wählt nach Emotion, so wurde es in einem Gespräch ausgedrückt. Wenn nun jemand Politik macht oder »in der Politik« tätig ist, wechselt diese Person immer wieder vom Privaten in das Öffentliche  ; dorthin nimmt sie auch jene Überzeugungen, Erinnerungen, Hoffnungen und Charakterstrukturen mit, die sie auch in ihrem nicht öffentlichen Leben prägen  ; freilich wird hier gefiltert, was ausgedrückt werden kann. Symbolhaft wie auch wörtlich geht es vielfach um Türen, durch die ein Mensch seine privaten vier Wände betritt, oder um Türen, hinter denen vertrauliche Gespräche stattfinden. Eine Journalistin hat von Margaret Thatcher erzählt, die ein Interview geführt hat und die Journalistin darum gebeten hat, noch ein wenig sitzen zu bleiben  – denn wenn sie den Raum verlassen würde, würden sich wieder alle auf sie stürzen. Gleichzeitig erzwingt die Öffentlichkeit eine bestimmte Selbstaufmerksamkeit (oder auch  : »Eitelkeit«)  : Wenn man im öffentlichen Leben ist, braucht man dazu eigentlich relativ viel Eitelkeit, wenn man nicht genug Eitelkeit hat, muss man schon allein deswegen aufgeben, weil einem das zu wenig Belohnung ist.

Politikerinnen und Politiker wechseln vom privaten in den öffentlichen Raum und umgekehrt. Dabei wird Privates in die Öffentlichkeit getragen (»diese Krawatte hat meine kleine Tochter bemalt«) oder auch Erfahrungen des Öffentlichen ins Private (beruflicher Stress oder Verhaltensveränderungen auf Kosten der Familie). Hier haben wir es mit einer (wohl wachsenden) Durchlässigkeit (»Permeabilität«) zu tun. Diese Durchlässigkeit kann so weit – 108 –

Politik mit Haut und Haaren

führen, dass ein Politiker zum gläsernen Menschen wird  : Man muss wissen, dass alles, was man im Leben tut und jemals getan hat, Gegenstand öffentlicher Erörterungen werden wird. Die Linie zwischen »Schutz des Privaten« und »Intransparenz« ist dabei mitunter eine feine  : Ich hab das immer für so eigenartig empfunden, wenn Politiker

so ihr Privatleben tagtäglich vor den Balkon hängen. Gleichzeitig habe ich mit mehreren Journalisten darüber diskutiert, ob das eigentlich legitim ist, über einen Politiker etwas Privates im Sinne von Enthüllungen, Aufdeckungen zu schreiben. Und die aus meiner Sicht berechtigte Antwort war, wenn er selbst zur Bewerbung seiner Person seine drei Kinder jede zweite Woche in der Madonna publiziert oder in der Krone Bunt, dann muss er damit rechnen, dass das kein Tabubereich ist. Ein Gesprächspartner erzählte von einem Kollegen aus der Berufspolitik  : Er hat auch nie Journalisten in seine Wohnung gelassen. Das hat aber im Umkehrschluss auch dazu geführt, dass viele Leute gesagt haben, er ist irgendwie volksfern, er ist abgehoben. Weil die Leute wollen einem ja am liebsten ins Schlafzimmer reinschauen. Die

offene Tür kann ebenso zum Problem werden wie die geschlossene. Die geschlossene Tür ist ihrerseits keine Garantie für eine klare Trennung zwischen »privat« und »beruflich.« Das ständige Verfügbarsein und das ständige Angesprochenwerden sind Teil eines Alltags eines Berufspolitikers  : Weil man ständig von irgendjemandem

angeredet wird, und der eine hätte etwas, der nächste will was, und  : »Weil ich dich gerade sehe, du, könntest du nicht« usw. und die Familie sagt  : »Du, das ist fad, Papa, mit dir da fortfahren, weil wir stehen jedes Mal blöd daneben und du redest mit irgendwelchen Leuten, die irgendwas von dir wollen.« (…) Naja, wir haben es halt dann so gestaltet, dass wir halt nicht mehr in X auf Urlaub gefahren sind. Irgendwo hingefahren, wo sie mich nicht kennen. Dann hat man eine gewisse Ruhe.

Kann man diese Ruhe aushandeln, ohne entweder die Familie oder die Wählerinnen und Wähler vor den Kopf zu stoßen  ? – 109 –

»Privat« und »öffentlich«

Man geht was essen oder am Wochenende weg, dann bin ich mir zu 100 Prozent sicher, dass mich dort Leute kennen, dass man da eben auch beobachtet wird, dass vielleicht sogar schon wer dort ist, der dann sagt  : »Ich weiß zwar, du bist privat da, aber kann ich kurz mit dir reden  ?« Und das ist halt dann unangenehm gegenüber den Leuten, die man mithat. Mir selbst macht es nichts aus. Meistens ist es dann so, dass ich einfach um Verständnis bitte bei meiner Familie und mir dann halt kurz das Problem anhöre oder mir einen Termin ausmache. Oder  : Wenn man schon den Mut zusammennimmt, den Politiker anzusprechen, wenn man sehr engagiert ist und sich vielleicht sogar um ein Problem annimmt, das gar nicht das eigene ist, sondern für jemanden anderen Fürsprache hält und dann sagt er, er hat keine Zeit für dich, also ich würde es selbst als Kränkung empfinden. Und würde vielleicht nicht mehr kommen. Darum möchte ich mich nach Möglichkeit auch immer dessen annehmen, wenn Leute zu mir kommen.

Beruf und Privatleben lassen sich für Politiker meist schwerer strikt auseinanderhalten, als es bei anderen Berufen der Fall ist, da die eigene Tätigkeit in der Regel alle Bürger und damit auch den eigenen Familien-, Freundes- und Bekanntenkreis betrifft  : Du bist

nie mehr die Privatperson, weil Politik einfach das ganze Leben ist. Es wird Themen geben, die in der Familie brisant sind, wo dann eben Leute aus der Familie auf einen zukommen und sagen  : »Hey, hast du das schon gehört  ? Und kann man da was machen  ?« Dasselbe ist im Verwandtenkreis, im Freundeskreis, es ist immer irgendwo etwas, was brennt, was wen ärgert oder was wer gut findet. Und dieses nie wirklich Abschaltenkönnen, sondern immer irgendwie auf Abruf sein, das ist anders als in den meisten anderen Berufen. Was ich aber jetzt nicht als negativ empfinde. Oder  : Weil es eigentlich kaum einen privaten Bereich gibt, egal wo man unterwegs ist, kommt die Politik in irgendeiner Form ins Spiel  – indem über etwas diskutiert wird, mir mitgegeben wird, wie es eigentlich richtig ginge, im Positiven als Rat– 110 –

Politik mit Haut und Haaren

schläge gesehen, aber auch als Kritik. Es gibt kaum Bereiche, wo das irgendwie draußen bleibt, das Politische oder die Arbeit als Politikerin kommt eigentlich überall vor. Es ist ein sehr vereinnahmender Beruf.

Max Weber schrieb einmal, dass ein Wissenschafter nicht nur Forscher, sondern auch wollender Mensch sei  ; analog gilt für den Politiker und die Politikerin  : Wir haben es nicht nur mit (mehr oder weniger) funktionierenden Amtsträgern zu tun, sondern auch mit verwundbaren Menschen . Ganz trennen kannst du es nicht. Du

musst zwar nicht, wenn du daheim bist, ständig wieder über Politik reden, aber es ergibt sich fast zwangsläufig. Du nimmst deine Lebensgeschichte immer mit. Ja, dass einen die Leute im Dorf anreden, ist völlig normal. Aber das hat mich nicht belastet. Im Gegenteil  : Beim Stammtisch habe ich nicht nur Fragen beantwortet, sondern selbst viele gestellt, weil ich wissen wollte, was zu Hause los ist. Dieser Stammtisch trifft sich heute noch. Und die Teilnehmer wissen genau  : Wenn ich zu einer Sache nichts sagen will, dann sag ich eben nichts. Das funktioniert bestens, war nie ein Problem.

Als »public figure« ist das, was ein Politiker tut oder sagt, für alle Menschen von Relevanz, für viele von Interesse. Politiker sind in öffentlichen Funktionen tätig, in Funktionen, die von allgemeinem Interesse sind und aufgrund eines allgemeinen Interesses geschaffen wurden. Aus diesem Grund finden sich insbesondere Spitzenpolitikerinnen und -politikern immer wieder unter permanenter Beobachtung, wenn sie sich im öffentlichen Raum aufhalten  : Je

weiter Sie in der Politik nach oben kommen, desto mehr verlieren Sie Anonymität. Auch wenn die Leute Sie jetzt nicht ununterbrochen grüßen, müssen Sie damit rechnen, dass Sie erkannt werden auf der Straße. Also man verliert ein großes Stück Privatsphäre. Das ist einmal gewöhnungsbedürftig. Eigentlich gewöhnt man sich nie dran, finde ich. Oder  : Das kann man nicht trennen. Wenn man unterwegs ist im eigenen Bundesland, bist du immer unter Aufsicht. Und daran müssen sich auch die Kinder gewöhnen. Gehst du in ein Wirtshaus – 111 –

»Privat« und »öffentlich«

essen, wird immer gesagt, schau, da… Gehst du auf die Alm und kaum sitzt du, kommt der Bürgermeister und will was. Mit dem lernt man leben. Die Kinder, die Familie hat das eher als nicht anständiges Eindringen in eine private Sphäre gesehen, dass da irgendwer kommt und was will von dir. Aber das ist Teil des Jobs.

Das Privatleben ist gefährdet, durch die öffentliche Rolle »kolonialisiert« zu werden. Private Aspekte werden unter die Lupe genommen, aber auch vermarktet und verkauft. Das hat bestimmte Auswirkungen, gerade was die Trennung von »öffentlich« und »privat« betrifft. Die Erwartung, dass Politik Berufung ist und nicht bloß »Job« oder »Beruf«, und der Umstand, dass Aspekte auch der privaten Integrität und Identität eine Rolle im politischen Leben spielen, lassen Politik zu einer Lebensform werden, die den Menschen »mit Haut und Haar« vereinnahmt. Die Aufgliederung in »öffentlich« und »privat« lässt sich dann nicht mehr durchführen. Es gibt auch politische Akteure, die – unter dem Motto »Das Private ist politisch werbewirksam«134 – mit ihrem Privatleben regelrecht an die Öffentlichkeit zu drängen scheinen  : Für Österreich hat das die Politikwissenschaftlerin Karin Liebhart an den Beispielen von Karl Heinz Grasser und Eva Glawischnig festgemacht, da beide auf ihre Weise Privates öffentlich inszenieren und beispielsweise ihre jeweiligen Hochzeiten wie Medienereignisse gestaltet haben.135 Man sieht an all dem gut, dass das Private in der Politik ein zweischneidiges Schwert ist. Es trägt wohl – in einem ganz bestimmten Sinn – zu einer »Vermenschlichung«136 bei, diese jedoch kann sich  – je nach Lage der Dinge  – sowohl positiv als auch nachteilig auswirken.

– 112 –

Politik mit Haut und Haaren

Rückzugsorte und geschützte Zeiten

Das Leben in der Sonne der Öffentlichkeit kann durchaus zu Verbrennungen führen, die die (oftmals auch dicke) Haut verletzen und zu Veränderungen des Erscheinungsbildes führen  ; es bedarf des Schattens von Rückzugsorten und geschützten Zeiten  : Der amerikanische Mikrosoziologe Erving Goffman hat im Rahmen seiner Studien zu Institutionen zwischen »on stage«-Verhalten (also einem Verhalten auf der Bühne) und »off stage«-Verhalten außerhalb der Bühne unterschieden  ; laufende Kameras und Sichtbarkeit durch andere erschaffen eine Bühne. Die Bühne bringt eigene Gefahren mit sich, etwa die Herausforderung, auch bei der hundertsten Aufführung noch motiviert, frisch und präsent zu sein  : Wenn ich beim hundertsten oder fünfhundertsten Feuerwehrfest bin, und darauf komme, das ist immer dieselbe Walze. Dann wird es schwierig.

Wie kann man sich von der Bühne zurückziehen und einen geschützten »off-stage«-Bereich schaffen  ? Das [der freie Sonntag]

ist für mich ein totales Elixier, diese Vererdung, wenn ich zwei Stunden … im Wald unterwegs bin, dann hab ich den Eindruck, mir gehen unglaublich viele Sachen durch den Kopf, es ist ein Reflektieren, es ist ein … In-den-Spiegel-Schauen, es ist einfach ein gewisses Hinaustreten und sich selbst Zuschauen. Ein Tag wird zu einem

Rückzugsort, wenn sich keine Termine in ihn hineingenagt haben. Früher habe ich mir keinen Wochentag freigenommen, sondern war immer aktiv. Jetzt mache ich es so, dass ich einen Tag möchte, an dem ich wirklich gar nichts eingeteilt habe, weil, wenn ich tagsüber freihabe und am Abend Termine habe, dann bin ich mit dem Kopf beim Abendtermin. Ich brauche das, dass da null ist. Darauf schaue ich jetzt schon gezielter, weil ich gemerkt habe, wie es zehrt, wie man ausgelaugter wird, und dann macht man es einfach nicht mehr mit voller Energie. – 113 –

»Privat« und »öffentlich«

An der Bedeutung von Rückzugsorten besteht kein Zweifel  :

Man muss damit leben, dass man erkannt wird, wenn man unterwegs ist, dass man angesprochen wird. Ich habe insofern kein Problem gehabt, weil ich mir gedacht habe, du hast es dir selber ausgesucht, es hat dich niemand gezwungen, du machst das gerne und da gehört halt das auch dazu. Du sollst ja ein ganz normaler Mensch sein, zum Angreifen. Aber man braucht natürlich auch sein Rückzugsgebiet, weil sonst geht es nicht. Man kann auch nicht die Klagemauer sein für alles. Wie kann dies aber im Alltag gelingen  ? Also Wochenende, Abende, das ist ja die klassische Politikerarbeit irgendwie. Und zu sagen, du kommst einmal nicht, weil du selber Zeit für dich brauchst, ist auch nicht so einfach, glaube ich. Da muss man halt dann Wege finden, wie man was begründet, weil, die Sache ist die, wenn man etwas oberflächlich schnell begründet, kann das immer in die falsche Kehle kommen. Das ist die Frage, wem gegenüber man das begründet, und es ist einfach so, dass man sehr viele unterschiedliche Leute hat, die das unterschiedlich verstehen, die unterschiedliche Vorerfahrungen haben mit Politikern. Das heißt, du brauchst sehr viel Aufmerksamkeit, um zu wissen, wie viel muss ich jetzt dazu sagen, damit die Person mich richtig versteht.

Ein Gesprächspartner erwähnte die Schwierigkeit, das politische Leben mit persönlichen Bedürfnissen wie Schlafen, Essen, Bewegung abzustimmen  : Das ist schon ein großes Jonglieren. Niemand stellte die Bedeutung von Rückzugsorten in Zweifel. Rückzugsorte sind auch Orte der geistigen Regeneration  : Was viel zu kurz kommt gerade, ist, einfach mal in die Berge zu gehen, zu schlafen, nichts zu tun. Ich merke schon, dass mir oft Namen nicht einfallen, und weiß, ich muss aufpassen, dass sich das die Waage hält, weil sonst einfach das Hirn nicht gut funktioniert. Es gibt entsprechende

Studien über Pausen, die den Pausen unterschiedliche Funktionen zuerkennen  :137 Eine Pause als eine »kreative Unterbrechung« bietet rituelle Strukturierung, Erholung, Tätigkeitsausgleich, Inter– 114 –

Politik mit Haut und Haaren

aktionsmöglichkeiten und Raum für Kreativität. Pausen schaffen Reflexionsgelegenheiten. Bestimmte Politikerinnen und Politiker praktizieren das, indem sie sich bestimmte Zeiten frei halten – ein Celloabend, ein Tarockabend, ein Fußballvormittag, ein Familienabend… Hervorgehoben wurden in den Gesprächen allerdings der zunehmende Verlust von Zeitautonomie und die damit verbundene Fremdbestimmung, je weiter man in der politischen Hierarchie aufsteigt, und der Verlust von Spontaneität im Privatleben  : Je weiter Sie oben sind, umso weniger können Sie Ihre Zeit planen. Ok, das gibt es woanders auch, ein Auftrag ist überraschend ausgefallen oder kommt herein und der ganze Zeitplan in einer Firma wird über den Haufen geworfen, aber das ist nicht so extrem, als wenn Sie jetzt Parteichef oder Klubobmann sind. Oder  : Man ist auch sehr eingeschränkt in seinem Leben. Man kriegt einen Terminkalender, der ist vorgegeben. Um zu sagen, dieses Wochenende fahre ich jetzt zum Skifahren, muss ich 15 Termine verschieben und mit 1000 Leuten reden. Oder  : Und, dass ich nicht bei uns ins Hallenbad gehe, sondern, wenn ich einmal einen Tag nur baden möchte, fahre ich weiter weg. Man plant sein Leben mehr im Vorhinein. Diese Kurzfristigkeit, das Spontane fällt ein bisschen weg.

Familie und Freundschaften

Der besondere Schutzraum und Rückzugsort sind das Familienleben und der Kontext persönlicher Freundschaften. Man braucht diese persönlichen Ressourcen Familie und Freunde auch als Spiegel, um nicht abzuheben. Ähnlich  : Davor [vor Persönlichkeitsveränderung] fürchte ich mich eigentlich auch nicht wirklich, weil ich sehr gut eingebettet bin in eine Familie, die ist ein sehr gutes Regulativ, wenn ich mich quasi zu wichtig nehmen würde. Auch Freunde, die ich habe, sind da ein gutes Regulativ. – 115 –

»Privat« und »öffentlich«

Eine Berufspolitikerin und ein Berufspolitiker gehen hier das Risiko ein, um ein Ergebnis von Bronnie Wares Erfahrungen von Dingen, die Sterbende am meisten bereuen,138 zu zitieren, am Ende ihres Lebens bedauern zu müssen, sich nicht mehr um die private Dimension des Lebens gekümmert zu haben. Es war im Gesamten

bei uns für die Familie schon eine Herausforderung. Das geht nur, wenn du auch daheim einen Partner hast, der da voll mitzieht und der dir nicht jeden Abend, wenn du heimkommst, erklärt  : »Es ist schon wieder so spät geworden und warum kommst du so spät  ?« Das ist bei dem Geschäft einfach so. Oder  : Ich war wenig zu Hause. Wenn, dann habe ich versucht, halbwegs intensiv zu Hause zu sein. Der Beruf

des Politikers ist mit einer Belastung des Privatlebens verbunden. So hat ein Politiker im Interview Politik als Ausbeutung der persönlichen und familiären Ressourcen charakterisiert  : Dass es extrem

zeitintensiv ist und ich viele Kolleginnen und Kollegen kenne, und bei mir selber auch das Risiko kenne, bei denen das Privatleben dabei kaputtgeht. Oder  : Es gibt für niemanden eine Garantie, es sind schon viele Partnerschaften und Ehen auch an der Politik zerbrochen.

Die Situation ist ja tatsächlich vertrackt  : Auf der einen Seite will man ein öffentliches Amt verantwortungsvoll ausüben und gerade nicht das Private über das Politische stellen oder gar das eigene Amt für private Vorteile nutzen, auf der anderen Seite ist aber das Privatleben besonders schützenswert und auch Quelle für die Kraft, gut in der Öffentlichkeit stehen zu können. Wichtig ist, dass man

sich feste Anker behält. Dazu hat für mich immer die Familie gehört. Wenn die Familie passt, dass man da immer ein Zuhause hat, wo man, in meinem Fall wirklich fast täglich, heimkommen hat können, und dass eine Beziehung, Ehe in keiner Form gefährdet ist. Sobald diese Sachen anfangen zu wackeln, wenn sie anfangen daheim zu zweifeln usw., dann wird das Geschäft unerträglich.

Natürlich geht es immer auch um die Frage nach der Vereinbarkeit von beruflicher Lauf bahn und Familienleben.139 Politik als – 116 –

Politik mit Haut und Haaren

Beruf ist mit moralischen Kosten verbunden, unter anderem mit den Kosten, viel Familienalltag zu versäumen. Man braucht eine

Familie, nicht so sehr, um einem den Rücken zu stärken, sondern um einem den Rücken freizuhalten. Die Familie muss also – das ist hart – im Großen und Ganzen ohne Vater und ohne das tägliche Zusammensein auskommen. Das ist nicht nur ein Phänomen der Politik.140

Von allen Interviewpartnerinnen und -partnern, außer von zwei Neueinsteigern, wird, ohne konkret danach gefragt worden zu sein, die Bedeutung eines stabilen, Kraft und Rückhalt spendenden sowie als Regulativ zur »Blase Politik« wirkenden Privatlebens für das »Menschbleiben« in der Politik hervorgehoben  : Ich glaube, dass man in seinem persönlichen Umfeld Stabilitäten braucht. Ob das jetzt die Familie ist, Kinder, der Partner, die weitere Familie, aber auch der Freundeskreis. Dass man Freundschaften wirklich zu unterscheiden weiß, weil, wenn man in einer hohen politischen Funktion ist, ist man ja von sehr vielen Schulterklopfern umgeben, die auf einmal alle sehr gut Freund sind, ohne dass man irgendetwas Besonderes dazu tut. Aber die sind dann genauso schnell wieder weg, wenn man nicht mehr diese Funktion hat. Wenn man aber seinen stabilen Freundeskreis hat, der einen begleitet, wenn man als Mensch akzeptiert wird, dann stärkt das auch und gibt viel Energie für die politische Arbeit.

Die Familie aus der Politik zu halten, ist in unterschiedlichem Ausmaß, je nach politischer Funktion und Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten (emotionale Abgrenzung) möglich bzw. erwünscht oder auch nicht  : Nein, das ist absolut nicht notwendig, und ich habe

das stets abgelehnt. Meine Frau hat ebenfalls jeweils selbst entschieden, ob sie zu einer Veranstaltung oder zu einem Treffen mitgeht oder nicht. Meine Kinder haben das gehasst, und wenn sie irgendwo gefragt worden sind, ob sie der Sohn oder die Tochter von XX sind, dann haben sie immer gesagt, wir sind entfernt verwandt. Oder  : Natürlich ist man irgendwann dann ein öffentliches Gesicht und eine öffentliche Person und hat nur noch ein reduziertes Privatleben. Also, man – 117 –

»Privat« und »öffentlich«

ist dann selten wo unerkannt. Aber das hat mich kaum gestört, also manchmal hat es mich schon ein bisschen gestört. Auch meine Familie hat es nicht sehr gestört. Die haben es auch ein wenig genossen, jetzt ein bisschen prominent zu sein. Oder  : Wenn man Familie hat, sind auch die Familienangehörigen mehr oder weniger … in der zweiten Reihe, obwohl sie ja nicht tagtäglich bei den politischen Entscheidungen oder der politischen Arbeit dabei sind, sondern sehr vieles nur aus Erzählungen oder auch natürlich auch aus den Medien erfahren. Und wenn man jetzt politisch immer im Kreuzfeuer ist, ist das natürlich für die Familie auch nicht einfach. Ich sehe das auch bei meinen Kindern, die schon relativ erleichtert waren, dass ich nicht mehr in der Bundespolitik bin.

Eine Herausforderung für sich stellt das Pflegen von Freundschaften dar  ; auch Freundschaften sind Anker  ; sie sind zugleich Quellen von gutem Leben, denn ohne Freunde kann man nach einem wirkmächtigen Gedanken von Aristoteles nicht glücklich sein.

Freunde behalten, ehrliche Wegbegleiter, du brauchst Zonen, wo dir noch die Wahrheit gesagt wird. Weil die, die dir echtes Feedback geben, werden weniger, und das ist das Allerwichtigste. Weil das ist immer ja ein Ringen, wie geht es mir  ? Wie wirke ich  ? Wie bin ich  ? Was erreiche ich  ? Wie komme ich rüber  ? Das hat auch etwas mit Unsicherheit zu tun, die Politik. Es gibt wenige Leute, die so standfest und so charismatisch sind, dass ihnen das alles nichts ausmacht. Die schauen nur so aus. Oder  : Ich glaube, dass das Wichtigste ist, dass man wenige, aber sehr gute Freundinnen und Freunde hat. Private. Manchmal sind es auch Politiker, aber an sich privat. Und dass man auch akzeptiert, was die sagen, und drüber nachdenkt, dass man eine Reflexion hat, … dass man einfach am Boden bleibt.

»Am Boden bleiben«  – der Rückzugsraum als Anker und Haftung, als Quelle von Normalität und Alltag. Das kann explizit festgehalten werden  : Menschbleiben in der Politik kann gelingen, wenn Orte des Alltäglichen, bühnenfreie Rückzugsräume gesichert – 118 –

Politik mit Haut und Haaren

sind  ; wenn das Menschliche in intimen und zerbrechlichen Beziehungen gelebt wird  ; wenn die Politikerin in Beziehungen treten kann, in denen sie nicht »als Politikerin« gefordert und gefragt ist. Informelle Kontakte und Sozialkapital

Die politische Ideengeschichte weist eine gewichtige Tradition auf, in der klar »zwischen einem Menschen und seinen Ämtern« differenziert wird.141 In seinem Buch Die zwei Körper des Königs verweist Ernst H. Kantorowicz auf ein mittelalterliches Modell, demzufolge ein König neben seinem menschlichen Körper noch einen zweiten, »politischen Körper« besitzt, wodurch es möglich wird, zwischen der »Privatperson« und ihrer Amtswürde zu unterscheiden.142 Das erzeugt den Effekt, als gespaltene Persönlichkeit leben zu müssen. Manche versuchen eine »Zwei-Welten-Theorie« zu leben und »Bürgerinnen oder Bürger zweier Welten« zu sein, einer Welt des Öffentlichen und einer Welt des Privaten  ; dies wird als Schutz und Integrität, nicht als Spaltung erlebt  : Wenn ich dann am Wochenende nach Hause gefahren bin, dann habe ich gewissermaßen das Politische hinter mir gelassen und war Privatmensch. Und das war für mich fundamental, sonst wäre ich nie so lange in der Politik geblieben. Oder  : Das waren für mich zwei getrennte Welten, die ich bewusst getrennt gehalten habe. Daher habe ich am Wochenende nur selten politische Termine akzeptiert.

In der Praxis ist diese Trennung vielfach nicht durchzuhalten, beobachten wir doch eine Tendenz, das Private als öffentliches Eigentum zu sehen. Wenn »der Mensch« in der Politik sein soll, dann sind auch die menschlichen und allzumenschlichen Aspekte von politischem Gewicht  ; Aspekte wie Aussehen, Kleidung143 und Lebensstil werden Teil des öffentlichen Diskurses  ; dies betrifft Frauen in der Regel verhältnismäßig stärker als Männer. Selbst wenn die – 119 –

»Privat« und »öffentlich«

Situation in einem Land wie Österreich etwa im Vergleich zum Vereinigten Königreich oder den USA kontrollierbarer scheint, will die Öffentlichkeit »Geschichten« und »Gesichter«  :

Journalisten haben meine Volksschullehrer angerufen, um zu fragen, ob ich schon als Kind irgendwie verhaltensauffällig war, ob man erkennen konnte, dass ich eine Sonderrolle spielen wollte, so irre Sachen. Meine Großmutter wurde angerufen, wie ich als Kind war und wie sie mich in Erinnerung hat und ob ich brav oder schlimm oder gut oder schlecht in der Schule war. Lauter solche Sachen, die Leute sind unglaublich neugierig.

Das Private kann politisch äußerst wirksam sein. Mitunter wird es von Politikern als notwendig für die politische Kommunikation in der Mediengesellschaft erachtet, sich als »Mensch« erfahrbar zu machen, um dem Wunsch der Bürger nach »menschlichen« Politikern zu entsprechen  : Am liebsten lesen die Leute Homestorys, so

Gschichtln, wie jemand privat lebt und was er macht und kocht und isst. Das wollen die Leute wissen, ist ganz eigenartig. Oder  : Also, auf der einen Seite soll man viel von sich preisgeben, als Politiker, die Leute wollen ja alles wissen von einem. Wie lebt man, mit wem lebt man, was ist man für ein Mensch  ? Die Leute interessiert ja der Politiker, die wollen ja auch immer wissen, wie ist der so privat. Wenn man aber zu viel von seinem Privatleben preisgibt, dann gibt es da keine Grenze mehr. Hier sind Dynamiken am Werk, die sich nicht kontrollieren lassen  : Das kann man dann nicht mehr steuern. Und ich kann nur jedem empfehlen, der irgendwie in der Öffentlichkeit ist, das sehr zu dosieren und, soweit das irgendwie möglich ist, draußen zu halten. Die Politiker twittern ja auch dann jeden Schmarrn, wo sie gerade sind und mit wem sie gerade gesprochen haben, und schicken diese Selfies. Ja, dann gehört der Öffentlichkeit aber auch alles von einem.

Der »menschliche Makel als Machtfaktor« wird jedoch nicht nur von Medien, sondern auch von politischen Konkurrenten – 120 –

Politik mit Haut und Haaren

manchmal genutzt, um jemandem politisch zu schaden. Ein solches Verhalten, beispielsweise, indem die Familie eines Politikers persönlich angegriffen wird oder versucht wird, jemanden unsachlich über private Themen politisch zu diskreditieren, wird von den interviewten Politikern jedoch als »rote Linie« gesehen, die nicht überschritten werden darf  : Fair ist der Umgang nicht immer, weil

schon oft sehr klar ist, dass etwas mittransportiert wird, ein bisschen negativ darf es schon sein. Da gehört manches zum Spiel dazu. Für mich ist die Grenze dort, wo es wirklich ins Persönliche geht, wo Privates thematisiert wird, um einen politischen Vorteil zu erreichen. Oder  : Aber es gibt einen Politiker, dem ich in meinem Leben die Hand nicht mehr geben würde. Nicht, weil er mich attackiert hat, sondern weil er meinen Vater attackiert hat. Und das, find ich, ist das Letzte. Hier wird das Menschliche zum Allzumenschlichen, das

Letzte zum Allerletzten, das Private und Intime zum Gegenstand politischer Konfliktbewirtschaftung. Und dennoch  : Politik, will sie »nahe bei den Menschen sein«, hat gewisse Ähnlichkeiten mit dem, was mitunter »Seelsorge« genannt wird. Die Seelsorgerin und der Seelsorger müssen sich auch um die Nähe zu den Menschen bemühen und ihre Lebenssituatio­ nen kennen. Ähnliches gilt für die Politik  – die berühmten Eingangsworte des Pastoraldokuments Gaudium et Spes des Zweiten Vatikanischen Konzils können in leicht abgewandelter Form auch für die Politik geltend gemacht werden  : »Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst« der Politikerinnen und Politiker. Wenn ich Politik machen will und auch meine Botschaften setzen will, dann muss ich schauen, dass ich zu den Menschen komme. Jeder Kommunalpolitiker ist ehrenamtlich unterwegs. Wann passiert Ehrenamtlichkeit  ? Am Wochenende und am Abend. Wann sind Veranstaltungen, auf die ich angewiesen bin, um mit den Menschen in Dialog treten zu – 121 –

»Privat« und »öffentlich«

können  ? Das ist am Wochenende und am Abend. Informelle Kontakte ermöglichen es, die Hand am Puls der Zeit zu haben  : Eine Gesprächspartnerin sagte von einer Kollegin  : Die ist zum Beispiel

eine, die am Anfang ganz oft ihre Privathandynummer hergegeben hat, dafür hat sie jetzt auch ganz viele Kontakte, wenn sie irgendwo eine Frage hat, dann hat sie ganz viele Möglichkeiten, hinter den Kulissen einfach Dinge abzutesten, und das sind Sachen, die sieht man nicht.

Die Durchlässigkeit von Privatraum und öffentlichem Raum erschließt bei allen Risiken für die Lebensqualität auch Möglichkeiten zur Verbesserung der Qualität der politischen Arbeit. Das ist

sehr flexibel, weil ich es einfach so genial finde, wenn ich in Situationen bin, wo ich eigentlich privat bin und dann kommt jemand mit einer Sache, die mich nie über das Büro erreicht hätte. Aber genau das möchte ich ja eigentlich. Oder  : Und das beflügelt meine Arbeit total, also wenn jemand nachfragt nach einem Projekt, ob sich da schon etwas getan hat, dann weiß ich, das ist nicht nur mein Steckenpferd, sondern da gibt es Leute, die warten darauf und die wollen, dass ich das tue. Aber die würden nie zu mir ins Büro kommen und mir das erzählen. Das Gleichgewicht zu halten und die Grenze zu ziehen, sind heikel  : Einerseits, das zu steuern, aber andererseits will ich erreichbar sein, denn mir ist einfach ein unkomplizierter Kontakt lieber, aber gleichzeitig muss ich auch irgendwo eine Grenze ziehen.

Die individuelle Gestaltbarkeit des Verhältnisses zwischen politischer Funktion und Privatleben wird unterschiedlich eingeschätzt, wobei die meisten Interviewpartner einen gewissen Spielraum bejahen. Der Anspruch von außen und auch von sich selbst, immer verfügbar zu sein, und der damit verbundene Rechtfertigungsdruck sind jedoch recht stark spürbar. Wichtig scheint es zu sein, explizite Prioritäten zu setzen, um sowohl seinen eigenen Bedürfnissen und dem seiner privaten Beziehungen wie auch der beruflichen Verantwortung gerecht zu werden  : Ich glaube, das ist eine persönliche Einstellung, wie intensiv man es anlegen will. Ich – 122 –

Politik mit Haut und Haaren

hab mir das so vorgenommen und fühle mich da wohl dabei und kann den Leuten in die Augen schauen und sagen  : Ich nehme es ernst, und sie können jederzeit kommen, egal was ist. Also, das möchte ich schon so weiterführen. Und ich hoffe, dass das auch langfristig von der Energie her alles möglich ist. Die Energie ist ein knappes Gut –

und als knappes Gut ist sie sorgsam einzusetzen  ; hier kann es zu schmerzhaften Opportunitätskosten kommen  ; die wichtige Zeit am Biertisch konkurriert mit der wichtigen Zeit am Schreibtisch oder am Konferenztisch. Das ist eine Sache des Abwägens, der klaren Prioritäten und der kommunizierten Begründungen. Wenn die Vertrauens- und Gesprächsbasis vorhanden ist, werden auch Begründungen, die auf den Schutz des Eigenen abzielen, verständlicher  : Natürlich ist ein Veranstalter am Beginn irgendwie sauer und sagt, schade, dass du nicht kommen kannst, ich hätte mich gefreut darüber  ! Was ja auch der persönlichen Eitelkeit gut tut, wenn man das so hört. Aber dann, wenn man das erklärt  : Ich brauche für mich einfach auch eine Phase und eine Zeit zum Durchschnaufen für mich, auch für mein Privatleben, für meine persönliche Situation, dann ist ein großes Verständnis da dafür.

Insbesondere für Politiker in hohen exekutiven Funktionen ist es sehr wichtig, sich die Fähigkeit zu bewahren, zwischen Privatperson und Amtswürde zu unterscheiden  : Da trifft man viele neue

Freunde, die eigentlich nur mit dem Amt befreundet sind, aber nicht mit der Person. Das sind Dinge, die spürt man dann, wenn man aufhört, am stärksten, weil die halt dann einfach alle weg sind. Und da ist es schon wichtig, dass man als Politiker auch immer an die Zeit danach denkt. Die Trennung von Funktion mit geborgter Macht und

der eigenen Persönlichkeit ist für alle Beteiligten, die politischen Stakeholders wie die privat Betroffenen und die Person des Politikers selbst, entscheidend. Hier gilt das von Michael Roberto formulierte Prinzip, dass man in bestimmten Positionen das »Ja« nicht als Antwort akzeptieren solle  :144 Die sogenannten Schulterklopfer, – 123 –

»Privat« und »öffentlich«

die auf einmal da sind. Ich erinnere mich, da waren auf einmal Leute um mich, bei Veranstaltungen, die habe ich überhaupt noch nie gesehen vorher. Aber das sind eben diese Leute, die dann mitschwimmen mit jemand. Ich bin bekannt mit dem Minister oder der Ministerin und so weiter. Da muss man auch aufpassen, weil, das sind ja keine Freunde. Und Freundschaften, echte Freundschaften, sind, wie wir

gesehen haben, notwendig für das Menschbleiben in der Politik.

– 124 –

Eine besondere Moral in der Politik  ? Der römische Philosoph und Politiker Cicero hatte »decorum«, Anstand und Anständigkeit, als Schlüsselkategorie einer politischen Ethik gesetzt  ; 2000  Jahre später spricht der israelische Philosoph Avishai Margalit von »decency« (»Anständigkeit«, »Integrität«) als dem ethischen Minimum in einer Gesellschaft.145 Beiden Zugängen ist die Idee gemeinsam, dass man bestimmte Dinge nicht tut – »das gehört sich nicht«. Auf Basis einer solchen Idee müssen bestimmte Entscheidungen nicht weiter gerechtfertigt werden. Es ist selbstverständlich, dass man bestimmte Handlungen setzt und andere Handlungen unterlässt.

Es muss klar sein, dass man gewisse Dinge nicht macht. Wer diesen Grundanstand nicht hat, der sollte eigentlich nicht in die Politik gehen, weil, das geht schief. Das beginnt damit, dass man in der Politik Ehrgeiz braucht, der aber nicht zu Eitelkeit werden darf. Man muss, obwohl man immer selbst im Mittelpunkt steht, wissen, dass man das nicht selbst ist, sondern dass es eine geliehene Macht ist, die sehr schnell weg ist, wenn man dann nicht mehr in der Politik ist. Also immer daran denken, das bin ich nicht selber, sondern die Funktion, die halt zur Aufgabe bekommen hat, Geld oder was auch immer zu verteilen. Das nicht zu verwechseln mit Interesse an der Person selbst. Deswegen ist es auch wichtig, dass man sich Freunde behält, die abseits des politischen Alltags an der Person das Interesse haben. Ja, und Grundanstand heißt auch, dass man sich nicht korrumpieren lässt, nicht dass es dort ums große Geld geht, aber es gibt die kleine alltägliche Korruption, wo man sich dann in Situationen gefällt, wo man eigentlich nicht hingehört.

Anstand, um dieses Wort weiter zu verwenden, senkt auch die moralische Verwundbarkeit. Journalisten … respektieren in der Regel

die Privatsphäre. Meistens fängt es an, anders zu werden, wenn der – 125 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

Verdacht aufkommt, dass einer ein Doppelspiel spielt. Wenn jemand lügt. Da werden die Journalisten natürlich aufmerksam. Und wenn sie das Gefühl haben, dass sie angelogen werden, dann fangen sie an, nachzurecherchieren. Das ist normal. Wenn Sie ein halbwegs anständiges Leben führen, um es banal zu sagen, dann haben Sie keine Schwierigkeiten. Anstand verstanden als Redlichkeit ist auch ein

Gefühl, verlangt auch einen Gerechtigkeitssinn. Dieser Sinn kann nur wirksam werden, wenn die Wertebasis entsprechend verinnerlicht wurde. Das dramatische Massaker in My Lai vom 16. März 1968, bei dem 120 amerikanische Infanteriesoldaten alle 500  Bewohnerinnen und Bewohner eines vietnamesischen Dorfes in einem Blutrausch niedermetzelten, hatte wesentlich damit zu tun, dass ein innerer moralischer Kompass ausgefallen war.146 In moralisch anspruchsvollen Situationen – und das trifft auf Situationen des Politischen zu, da wir es hier mit delikaten Fragen von Machtausübung und Machtverteilung zu tun haben – muss der innere Kompass klar sein, will man Kurs kennen und halten können. Der innere Kompass hilft im moralischen Widerstand gegen Versuchungen, gegen die kleinen Anfänge unrechtmäßiger Amtsführung  : Und es gibt natürlich Verführungen, das sind diese ganzen Verfehlungen, die man dann ja auch sieht von Politikern, die natürlich über solche Funktionen in die Möglichkeit kommen, sich selber irgendwelche Vorteile zu verschaffen, entweder während oder nach ihrer politischen Zeit. Das erfordert ein natürliches Gefühl von Anstand. Das kann man auch nicht lernen, da kann man noch so viel Korruptionsstaatsanwaltschaften einrichten. Das ist wie im normalen Leben auch, wenn jemand das natürliche Gefühl nicht dafür hat, was sich gehört und was sich nicht gehört, wird er das auch in der Politik nicht lernen.

Moral ist also, um es so zu sagen, nicht in der Politik zu finden, sondern muss in die Politik gebracht werden. Einmal hat mich ein Unternehmer gefragt  : »Wie kann ich Werte in meinen Betrieb bringen  ?« Er hatte wohl einen Ort im Kopf, an dem man Werte – 126 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

bestellen und bezahlen und ins Haus liefern lassen kann. So geht es wahrscheinlich nicht. Entweder ein Betrieb hat Menschen, die selbstverständlich im Alltag Werte leben, oder ein Betrieb hat keine Werte. Hausordnungen und Deklarationen werden keine Werte hervorbringen. Ähnliches gilt in der Politik  : Entweder wir haben Politikerinnen und Politiker, die selbstverständlich und alltäglich Werte leben, oder wir haben keine Werte in der Politik. Dazu bedarf es innerer Festigkeit. Diese innere Festigkeit verleihen Werte. Es handelt sich dabei nicht um spezifische Werte einer politischen Sondermoral, sondern um jene Werte, die ein moralisch anspruchsvolles Leben, in welchen Bereichen auch immer, anleiten  : Es gibt keine eigene politische Moral aus meiner Sicht. Wenn du ein anständiger Mensch bist, bist du auch ein anständiger Politiker. Die Verführung ist in der Politik größer und man muss in manchen Dingen halt besonders aufpassen. Das hängt für mich eher mit dieser geliehenen Macht zusammen, mit dem Sichgefallen, mit dem Verlust, der kritischen Selbstdistanz.

Aufgrund strategischer Überlegungen und auch aufgrund der Parteienstruktur von politischer Arbeit stellt sich das Ansinnen, eigene Werte in die politische Arbeit einbringen und umsetzen zu können bzw. die eigene politische Arbeit nach diesen Werten zu gestalten, als herausfordernd dar  : Diese moralischen Grundsätze,

die man im privaten Bereich hat, sollte man eigentlich auch leben können und dürfen in der Politik, ohne dass einem ein Strick daraus gedreht wird, weil man etwas ehrlich anspricht, ob jetzt in der eigenen Partei oder beim politischen Gegenüber. Weil, das wird auch oft von den Eigenen verlangt, das noch nicht zu sagen oder nicht deutlich zu sagen, sondern irgendwie zu umschreiben. Das sehe ich oft als großes Problem, weil ich mir denke, wie soll ich das dann argumentieren, ich weiß genau, was der Hintergrund ist, und ich soll mir jetzt ein anderes Argument überlegen, nein, weil, ich möchte das ehrlich sagen. Ich habe auch schon Reden abgelehnt, weil ich – 127 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

gesagt habe, ich kann das nicht argumentieren, ich werde es nicht argumentieren.

Hier sind wir wieder bei den Begriffen von Glaubwürdigkeit und Integrität angelangt. Welche Werte können nicht verraten werden, ohne Selbstrespekt zu unterminieren  ? Werte stiften Orientierung und sie geben Kraft für den Weg  – sie sind Quelle von Orientierung wie auch Quelle für moralische Kraft zur Überwindung der Willensschwäche  ; anders gesagt, wir brauchen Bindungen an Werte, um unsere Gleichgültigkeit zu überwinden. Wir brauchen Werte, um die Kraft für moralische Anstrengungen zu gewinnen. Werte geben das an, was anstrebenswert ist, sie helfen uns, im Konfliktfall Prioritäten zu setzen. Glaubwürdig sind Werte dann, wenn sie selbstverständlich gelebt werden  : Ich glaube, dass die Bevölkerung nur dann eine gute politische Vertretung hat, wenn es Leute sind, die diese moralischen Werte für sich selbst haben, einfach mitgekriegt haben, aus dem Aufwachsen, aus der Erziehung heraus mitkriegen.

Die Grundidee des Politischen ist die Orientierung am Gemeinwohl. Es geht um die Herstellung von Gütern für alle und durch alle.147 Politik soll mit diesem Ziel vor Augen Ordnung schaffen, um die Gesellschaft als Ordnungseinheit vieler auf ein Ziel hin zu koordinieren. Hieraus ergeben sich eine Gemeinwohlorientierung politischer Arbeit und eine Zusammenfassung von Anstand in einem Wort  : Das Entscheidende ist, man darf selber sich nie einen Vorteil davon erwarten oder erhoffen. Das kann jeder für sich genau entscheiden.

Höhere moralische Standards  ?

Gelten für Politikerinnen und Politiker eigene moralische Standards  ? Machiavellis Principe artikuliert eine politische Sondermoral, aber keineswegs in dem Sinne, dass höhere moralische – 128 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

Standards für den Machthaber gelten, sondern nur  : besondere Standards, die sich nicht diesseits des Gesetzes abspielen. Politik muss Ordnung herstellen und dieser Zweck rechtfertigt die Mittel  ; der Fürst muss die Kraft des Löwen und die Listigkeit des Fuchses miteinander verbinden. Nach Machiavelli gilt ein doppelter Moralstandard, die Moral des Principe und die Moral des Volkes. Dabei ist Machiavelli moralisch pessimistisch  : Die menschliche Natur ist niedrig und undankbar, der Fürst muss die Natur des Menschen in seinem Walten berücksichtigen. Das hat mehr mit strategischer Klugheit als mit Wertebindungen zu tun. Noch einmal die Frage  : Gelten für politisch Gestaltende und Mächtige andere moralische Standards  ? Liegt die Latte sozusagen höher  ? Wolfgang Fach macht darauf aufmerksam, dass diese Denkfigur auch heute noch in Fragen der politischen Ethik nachwirkt, und nennt als Beispiel Bill Clintons Lewinsky-Affäre  : In den Auseinandersetzungen über diese ging es auch um die Frage, nach welchen moralischen Standards das Privatleben von politischen Amtsträgern beurteilt werden soll.148 Während die liberale Tradition sich nicht um Privatangelegenheiten kümmert, gibt es auch eine puritanische Strömung, der es um eine bruchlose Moralisierung der persönlichen wie politischen Lebensführung geht.149 Das hat freilich schwerwiegende Konsequenzen für das Privatleben der Politiker, da ihnen ein solches vielfach nicht zugebilligt wird.150 Wie der Journalist Sascha Adamek in seinem (reißerischen) Buch Die Machtmaschine schreibt, fungiert heute wohl der »menschliche Makel als Machtfaktor«.151 Gemeint ist damit unter anderem, dass die Politik heute medial höchst verwundbar ist, dass offensichtlich immer mehr Akteure politisch über ihr Privatleben stolpern,152 dass die unangenehme Enthüllung von Privatem also verstärkt zum Mittel der Politik geworden ist.153 Gelten für Politikerinnen und Politiker andere moralische Standards  ? Ist etwa Steuerhinterziehung bei einem Finanzminister mit – 129 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

demselben Maß zu messen wie bei einem gewöhnlichen Bürger  ? Müssen Politikerinnen und Politiker moralisch höhere Standards erfüllen  ? Liegt die ethische Latte für Machthabende höher  ? Auf die Frage, ob es so etwas wie eine politische Sondermoral gibt, haben wir in den Gesprächen affirmative und verneinende Antworten bekommen. Die Antwort »Ja  !«  : Aufgrund des Öffentlichkeitscharakters der politischen Arbeit gelten besondere moralische Aufmerksamkeit und Sensibilität . Natürlich muss man in der Politik manche Dinge tun,

die man vielleicht dann als Privater nicht mehr tut, bestimmte Termine wahrnehmen und Ähnliches, und man muss in der Politik doppelt aufpassen bei allem, was man tut. Öffentliche Äußerungen liegen auf einer anderen Waage als private  ; dann gab es die [damalige Gesundheitsministerin] Kdolsky, die irgendwann mal gesagt hat, sie isst gern Schweinsbraten, das war ja gleich ein Riesentheater, weil, die ist Gesundheitsministerin und die darf nicht sagen, dass sie gerne einen Schweinsbraten isst. Also, wir sind schon in einer Gesellschaft, die total überkandidelt ist. Daraus ergibt sich, dass zumindest fak-

tisch andere Standards angelegt werden. Dazu kommt, dass durch rechtliche Rahmenbedingungen, öffentliches Verständnis und die mediale Beobachtung Spielräume enger geworden sind  : Früher hat

man nicht viel nachgedacht, ohne zu unterstellen, dass da irgendwas passiert ist, sondern Einladungen etc. waren normal. Jetzt geht das Pendel gerade in die ganz andere Richtung, wo ein Politiker null Toleranz erfährt. Wenn mich ein Freund zu irgendetwas einlädt, muss ich mir das wirklich ganz gut überlegen, obwohl mich der auch einladen würde, wenn ich nicht Politikerin wäre. Politische Arbeit bedeute auch, dass man mehr aushalten können muss  : Die öffentliche Auseinandersetzung ist sicherlich in der Politik zwischen den Parteien oft eine harte. … Und das darf man auch nicht immer auf die Gold­waage legen. Also wenn jemand wen in der Öffentlichkeit zum Rücktritt aufgefordert hat, das hab ich auch gehabt, deswegen kann ich auch nicht – 130 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

sagen, mit dem Menschen rede ich nie mehr. Sondern es muss ja weiter eine gewisse Gesprächsbasis geben, dafür sind wir gewählt worden, dafür sind wir in der Politik auch da, dass man schon auch Lösungen sucht und dass man auch in vielen Bereichen auch einen gewissen Konsens oder zumindest einen Kompromiss findet.

Die Antwort »Nein  !«  : In den Gesprächen, die wir geführt haben, herrschte eindeutig die dominante Ansicht  : Es kann nicht sein,

dass für Politiker höhere moralische Standards gelten als für die Bevölkerung. Die normalen Gesetze, wie man sich verhält. Diese Überhöhung der Politiker halte ich für nicht in Ordnung. Dieser Einwand

hängt mit der bereits artikulierten permanenten Überforderung zusammen, in der sich Politikerinnen und Politiker befinden  – noch einmal die deutliche Aussagen  : Was die Leute wollen, ist die

eierlegende Wollmilchsau. Die wollen Politiker, die sich überall auskennen, die perfekt auftreten können, die nie Fehler machen, die nie Fehler gemacht haben, die in ihrem Privatleben völlig tadellos sind. Das können die natürlich bei Weitem nicht erfüllen. Dann ist die Umkehrreaktion diese totale Enttäuschung, wo sie dann sagen  : »Die sind ja alle für nichts gut.« Denn schließlich sind es »Typen wie ich«, die Politik gestalten – wie bereits eingangs zitiert  : Politiker sind auch ganz normale Menschen, die sind übergewichtig oder die rauchen, die haben irgendwelche Schwächen, die andere auch haben. Wo soll man denn die perfekten Menschen züchten, die dann die Politik für uns machen  ? Und irgendwie sollen Politiker ja auch die Repräsentanten des Volkes sein. Die Leute sind ja auch keine Heiligen. Also moralische Ansprüche ja, in dem Umfang, wie man sie von jedem Menschen erwarten kann, der Verantwortung trägt für andere Menschen. Das hat für Politiker auch zu gelten, aber nicht mehr und nicht weniger.

Natürlich kann man sich fragen  : Wenn Politikerinnen und Politiker normale Menschen sind, warum haben sie dann Positionen, die mit massiven Privilegien und einer Breitenwirkung verbunden sind  ? Deswegen sind manche Ansichten auch nuancierter  : Sie wer– 131 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

den anders gewichtet, aber ich finde es nicht richtig. Ich meine, ein Politiker sollte dieselben Anforderungen erfüllen müssen, wie jeder Mensch, der in einer Führungsfunktion tätig ist. Das erfordert immer auch einen gewissen höheren Anspruch an Vorbildwirkung, auch von sorgfältiger Wahrnehmung von Verantwortung. Aber Politiker können keine Heiligen sein. Dieses Motiv der Überhöhung (»Politiker sind keine Heiligen«) ist nicht ungewöhnlich  : Also, ich glaube, Politiker entsprechen in puncto Moral ziemlich dem Durchschnitt der Bevölkerung… Ich sehe da nirgends besondere moralische Herausforderungen, die jene eines Durchschnittsbürgers übersteigen… Ich sehe da keine höheren Weihen, die man braucht, um auf quasi hohem moralischem Niveau Politik zu betreiben. Ich halte das auch für falsch, weil es tatsächlich dazu führt, dass die Politiker für etwas »Besseres« gehalten werden. Die Politiker sind in Wahrheit genauso Menschen wie jeder andere auch. Natürlich hatte man in meinem Fall ein größeres Maß an Verantwortung, aber ein Chef von einem internationalen Konzern hat das genauso.

Mit der verneinenden Antwort ist mitunter auch die Position verbunden, dass die Standards sogar tendenziell niedriger liegen, weil bestimmte Tricks erlaubt sein müssen  : Was im privaten Le-

ben unmoralisch ist, kann in der Politik nicht umgedeutet werden. Dass man nicht zimperlich sein darf, dass manches auch an kleinen Tricks in der Politik erlaubt ist, was bei deiner eigenen Ehefrau z. B. nicht so gut ankommen würde, ja, das ist so. Die Idee einer purita-

nischen Politik, die sich nicht umsetzen lässt, wird dezidiert zurückgewiesen. Es gelten eher gröbere als feinere Standards  : Fair

ist der Umgang nicht immer, weil schon oft sehr klar ist, dass etwas mittransportiert wird, ein bisschen negativ darf es schon sein. Da gehört manches zum Spiel dazu. Für mich ist die Grenze dort, wo es wirklich ins Persönliche geht, wo Privates thematisiert wird, um einen politischen Vorteil zu erreichen. Grenzen werden anerkannt, aber

teilweise großzügiger angesetzt als in anderen Bereichen. Mehr als – 132 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

einmal wurde uns vermittelt, dass in der Politik moralisch niedrigere Standards gelten  : Ich würde einmal sagen, in der Politik sind die

moralischen Anforderungen deutlich niedriger als im individuellen Lebensbereich. … Was ist der Seinsgrund einer Partei  ? Mächtig zu sein. Und dem ordnet sich vieles unter, wenn es diesem Seinsgrund nützt, dass man ethisch agiert, dass man sich gewisse ethische Prinzipien zu eigen macht, weil man dadurch viele Wähler kriegt oder wenige verliert, dann tut man das. Das ist beim Individuum nicht viel anders. Nützlichkeit ist immer ein zentrales Kriterium. Also Opportunismus. Und man kann das langfristig oder kurzfristig anlegen, das tun ja Parteien auch. Und nur im Rahmen dieser Nützlichkeit sind sie moralisch.

Meine eigene Antwort auf die Frage nach einer politischen Sondermoral lautet  : Ja, es gelten für Menschen mit Macht höhere moralische Standards  ; dennoch gibt es keine Sondermoral mit spezifischen Werten in der Politik. Ich will diese Ansicht begründen  : Politische Ethik mag zwar bestimmten Werten wie »Besonnenheit« und »Glaubwürdigkeit« ein besonderes Gewicht beimessen, unterscheidet sich aber nicht in den verfolgten Werten von allgemeiner Ethik  : Will man den Bereich des Politischen als allgemein menschliche Angelegenheit ansehen und nicht in ein moralisches Getto bringen, kann es keine politische Sondermoral geben. Im Rahmen der allgemein menschlichen Moral gelten in der Politik höhere Standards. Erstens  : Politische Arbeit weist größere Sichtbarkeit auf, die wiederum größere »ripple effects« im Tun Einzelner mit sich bringt  ; daher sind aufgrund des größeren Folgenbündels höhere ethische Sensibilität und tiefere moralische Aufmerksamkeit gefordert. Ein Finanzminister, der seiner Steuerpflicht nicht nachkommt, ist schlicht untragbar. Zweitens  : Politische Ämter sind mit Privilegien verbunden, etwa Aufmerksamkeitsprivilegien, Gestaltungsprivilegien, Infrastrukturprivilegien, (gewissen) Remunerationsprivilegien. Unter einem Privileg kann eine zuerkannte Sonderstellung verstanden werden, die einen Vorteil gegen– 133 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

über anderen mit sich bringt. Durch ein Privileg wird eine Person oder eine Personengruppe herausgehoben aus der Gemeinschaft der ansonsten Gleichgestellten. Ein Privileg ist eine für alle anderen in ihren Konsequenzen gültige Regelung, die aber nur eine kleine Gruppe oder eine einzelne Person betrifft. Privilegien hebeln bestimmte Formen von Gleichheit aus und sind deswegen, wenn sie in einer demokratisch verfassten und damit dem Gleichheitsgedanken verpflichteten Gesellschaft im Bereich des Politischen vergeben werden, zu begründen und zu begrenzen. Wenn man  – was ich vehement vorschlage  – Politik als gemeinwohlorientierte Arbeit versteht, ist die plausibelste Begründung für diese Privilegien die ausgeprägte Gemeinwohlorientierung der handelnden Person. Das ist eine Frage höherer moralischer Standards. Drittens  : In der Moralphilosophie wird der Begriff »moralisches Glück« diskutiert  ; das kann unter anderem so verstanden werden, dass ein Mensch mit »moral luck« das Glück hat, sich nicht in einer Situation zu befinden, die ihm moralischen Heroismus abverlangt. Das bedeutet aber auch, dass Menschen, die moralisches Glück haben, dem Gemeinwesen mehr schulden als andere, weil – nach dem Prinzip der moralischen Leistungsfähigkeit – mehr von ihnen verlangt werden kann. Das setzt voraus, dass man akzeptiert, dass jeder Mensch nach je eigenen Möglichkeiten zum Gemeinwohl beiträgt. Eben dies scheint mir der Grundgedanke von Politik in reifer Demokratie zu sein. Hochbegabte Menschen haben »epistemic luck« (»Talenteglück«) und man kann von daher erwarten, dass sie mehr zum Gemeinwohl beitragen als andere. Politikerinnen und Politiker, denen Macht geborgt wurde, auf die sie keinen Anspruch haben (»freie und damit auch kontingente Wahl, die anders hätte ausfallen können«), haben so etwas wie »political luck« (»politisches Glück«) – und nach der angedeuteten Argumentationslogik kann ihnen auch moralisch mehr abverlangt werden. Viertens  : Das Argument, dass Politikerinnen und Politiker durchschnittliche Menschen sind und – 134 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

deswegen nur durchschnittliche moralische Standards gelten, hat wenig Überzeugendes an sich, sollten doch Führungspositionen in einem politischen System (wie auch in einer Organisation) nur mit denen besetzt werden, die in hervorragender Weise dafür geeignet sind – und diese Eignungsaspekte haben, wie wir im Kapitel »Eignung und Neigung« gesehen haben, unabweisbar ethische Aspekte. Der innere moralische Kompass muss fest sein, wie dies eindrucksvoll der UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld, der sein Leben als Dienst verstanden hat, gezeigt hat. Er notierte an einer Stelle in sein Tagebuch  : »Ein Märchen berichtet  : von einer Krone, so schwer, dass nur der sie zu tragen vermochte, der in völliger Vergessenheit ihres Glanzes lebte.«154 Selbstvergessenheit zeugt von hohem Internalisierungsgrad von Werten. Kurz  : Ja, wer sich in die Öffentlichkeit stellt, der »repräsentiert« und hat deswegen höheren moralischen Standards zu genügen  ; mehr noch  : Er oder sie sollte diese Standards internalisiert haben, auch als Grund für die Entscheidung, in die Politik zu gehen. Übrigens, das macht Politikerinnen und Politiker noch lange nicht zu Heiligen. Gewissenhafte Politik Politik mit moralischer Sensibilität ist gewissenhaft. Nach traditionellem Verständnis ist das Gewissen das »Werteorgan«, das im Menschen angelegt ist, sich aber im Rahmen einer Lebensform und Gemeinschaft herausbildet und so eingeübt wird.155 Joseph Butler hat in viel zitierten Formulierungen das Gewissen als »sentiment of the understanding« (Verstehensgefühl) bzw. als »perception of the heart« (Herzenswahrnehmung) bestimmt.156 Das Gewissen wird damit zu einem verstehenden Fühlen oder auch einem Gespür für das Richtige zu einem moralischen Sinn. Das Gewissen gibt Hand– 135 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

lungssicherheit und lässt also die Schwelle zwischen dem Denken, Empfinden und dem Tun überschreiten. Das »Wissen« des Gewissens ist denn auch kein kühles, beschreibendes Wissen, sondern hat die Qualität von »Empfindungswissen«, das persönliches Gefühl und überpersönliche Moralansprüche miteinander zusammenbringt. Gewissen ist eng verbunden mit Klugheit. Man kann das Gewissen denn auch als »Herzensklugheit« ansehen. Diese Herzensklugheit macht menschliche Politik möglich. In der politischen Arbeit stellen sich immer wieder auch Gewissensfragen  : Eine Gewissensentscheidung war z. B. der Umgang mit

Homosexualität und Lebenspartnerschaften, da habe ich eine andere Meinung gehabt als die Partei. Das war aber für mich eine dieser Gewissensfragen … Und das muss halt jeder für sich selber dann entscheiden. Oder  : Es gibt Situationen, wo ich mich frage, ob ich genug Zeit habe, mich vorzubereiten auf eine Entscheidung. Dann habe ich für mich Mindeststandards. Also, ich muss einen Amtsbericht, über den ich abstimme, so durchgelesen haben, dass ich ihn verstanden habe. Ich muss jetzt nicht über alles, was dahintersteckt, Bescheid wissen. Oder ich muss wissen, dass es da auch noch jemanden gibt, der sich das angeschaut hat. In einem Gespräch war die Rede von Demarkationslinien. Wenn bestimmte politische Inhalte die Oberhand gewinnen würden, dann würde ich sagen  : »Nicht mit mir  !«

Gewissensentscheidungen sind nicht solche, bei denen Menschen aus einer Vielzahl von Optionen auswählen können. Es sind Entscheidungen, bei denen ein Mensch an jenem nicht verhandelbaren Punkt berührt wird, der seine moralische Identität ausmacht. Es gibt Situationen, in denen nur ein »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« geäußert werden kann. Ja, gibt es zweifellos. Also ich hab mich schon manchmal dabei ertappt, wenn ich eine Idee gehört und für mich innerlich gesagt habe  : »Also nur über meine Leiche, das geht sicher nicht.« Gibt es immer wieder. Oder  : Und dann bist du in einer sehr verzweifelten Situation. Weil es schwarz und weiß so – 136 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

nicht gibt in der Frage. Und trotzdem musst du schwarz oder weiß sagen am Ende des Tages. Das ist eine unglaubliche Gewissensfrage … [Aber] wir arbeiten da auf regionaler Ebene in einem Bereich, der überschaubar ist, was diese grundsätzlichen Wertfragen betrifft. … Also mir sind in der Landespolitik diese Grundsatzgewissensfragen nicht [untergekommen], also da bin ich noch nie unter Druck gekommen in dem Sinn.

Hier ist es hilfreich, sich über den eigenen inneren Kompass, die eigene Position im Klaren zu sein. Hier ist es auch hilfreich, das zu machen, was man traditionell »Gewissenserforschung« genannt hat, also der systematische und ehrliche Blick auf eigene moralische Identität und eigenes Handeln. Gewissenserforschung ist

auch als Politiker manchmal gut, sich hinzusetzen und zu sagen  : »Ist das okay, so wie ich es tue  ?« Immer mit der Gefahr, dass ich draufkomme, eigentlich bin ich unterwegs auf dem Weg zum Arschloch. Es gibt genug, die sind als große Talente gestartet und sind innerhalb von ein paar Jahren Arschlöcher geworden als Politiker. Das gibt es, die Gefahr ist da.

Und eben, weil die Gefahr vorhanden ist, müssen höhere moralische Standards aufrechterhalten werden. Denn politisches Leben ist moralisch riskant  ; riskant für die eigene Charakterbildung und riskant mit Blick auf die Entscheidungen. In der Politik treten auch moralische Kosten auf  ; unter »moralischen Kosten« kann dabei der Aufwand verstanden werden, der betrieben werden muss, um in einer bestimmten Situation nach wohlbegründeten ethischen Standards moralisch korrekt handeln zu können  ; und dieser Aufwand kann so hoch werden, dass Kompromisse nicht mehr bezahlt werden können. Es gibt manchmal Situationen, wo man etwas mittragen muss, von dem man selbst nicht überzeugt ist, aus welchen Gründen immer. Das muss nicht nur Parteipolitik sein. Dass man Meinungen quasi mittragen muss, wo man selber anderer Meinung ist. Es kann sachliche Entscheidungen geben, wo man sich bewusst in den Wind – 137 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

stellt, das ist auch hart. Man sagt, ich weiß zwar, dass das nicht gut ankommen wird, aber ich bin überzeugt davon und ziehe das durch. Und natürlich gibt es, wie immer im Leben, auch Entscheidungen, wo man sich unsicher ist. Mir war immer wichtig, dass du ein Umfeld hast, von Leuten, die dann auch sagen  : »Bitte lass uns noch mal nachdenken darüber.« Also nicht Mitarbeiter, die wie Lemminge hinterherrennen. Ich habe immer gesagt  : »Ihr werdet auch dafür bezahlt, mich vor Fehlern zu bewahren«, weil es sehr oft so ist, dass niemand mehr etwas sagt, obwohl alle ein ungutes Gefühl haben. Dann wird es gefährlich. Hier gilt es, die Bildung einer Blase der Selbsttäuschung zu verhindern. Oder  : Wenn man an einem Rad dreht, muss man immer schauen, was dreht sich noch mit und was beeinflusst das. Alle reden von Einsparungen, jeder. Und wenn ich dann sage  : »Okay, in dem Bereich spare ich ein«, heißt es  : »Überall gehört gespart, nur da nicht.« Spare ich dort ein, heißt es  : »Wahnsinn, da gehen Arbeitsplätze verloren.« Und trotzdem weiß ich, ich muss da drehen und muss dann schauen, dass die Auswirkungen rundum verträglich sind. Weil, sonst kriege ich ja weder die Mehrheit zusammen, noch ist man gewillt, dem zu folgen.

Kompromisse

Ein immer wieder genannter Begriff im Diskurs über Menschbleiben in der Politik war der Begriff des Kompromisses  : Es gibt Bereiche, vor allem dort, wo keine klaren Mehrheitsverhältnisse herrschen, in denen immer Kompromisse notwendig sind oder ein Abtausch wie am Basar. Das wird dann schon sehr mühsam und da ist auch Ehrlichkeit manchmal sehr schwierig, nämlich zu zeigen, wie dieses politische Geschäft läuft, also Bargaining und Basar, Feilschen und Ähnliches. Es ist ja oft peinlich, wogegen ausgetauscht wird. Also da wird es mit der Kommunikation schon sehr schwierig. Dieses Ein– 138 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

geständnis, man erreicht nur etwas, wenn man etwas anderes aufgibt.

Oder  : Man muss Kompromisse schließen. Und die Frage, wie weit

man das moralisch vor sich selber rechtfertigen kann, ist eine individuelle Frage, die kann nur jeder für sich beantworten.

Wo liegt die Grenze  ? Kein Zweifel, es gibt einen »Kipppunkt«, an dem ein Kompromiss nicht mehr mitgetragen werden kann.

Also Tragbarkeit von Kompromissen, wie weit kann man gehen, natürlich gibt es das. … Das muss aus meiner Sicht auch in jedem Verhandlungsprozess am Beginn klar sein  : Wo ist die Grenze  ? … Oder  : Solange ich das Gefühl gehabt habe, wir gehen in kleinen Schritten in die Richtung, die ich für richtig halte. Das war aber meine persönliche Entscheidung, da kann ich keine allgemeine Regel daraus ableiten, sondern für mich war es einfach so, dass ich gesagt habe, das ist eigentlich nicht mehr das, was ich vertreten möchte. Das waren einfach zu viele Kompromisse. Ich hab vorher auch viele Dinge runtergeschluckt, aber dann kam ein Punkt für mich, wo ich gesagt habe, da finde ich mich nicht wieder.

Wo liegt aber die Grenze  ? Der erwähnte Dag Hammarskjöld hatte in seiner politischen Arbeit eine Form der Reinheit angestrebt, die an das Ideal der Vollkommenheit rührt  : »Reinheit ist auch, frei von allen … Halbheiten zu sein.«157 Sie ist damit Verwirklichung eines konsequenten Weges, der frei von unlauteren Kompromissen ist. Mit dieser Frage nach der Unterscheidung zwischen vernünftigen und faulen Kompromissen hat sich Avishai Margalit beschäftigt  ; er hat die Grenzlinie zwischen akzeptablem und inakzeptablem Kompromiss im Kriterium der Erniedrigung gefunden  : Ein Kompromiss ist inakzeptabel, wenn dadurch Menschen erniedrigt werden, also in ihrer Selbstachtung verletzt.158 Die Frage nach der Grenze dessen, was noch akzeptiert werden kann, ist entscheidend  : Das eine ist gegen eine innere Überzeugung zu handeln, da, glaube ich, muss jeder für sich sehr sorgfältig abwägen, wie viel vertretbar ist für einen selbst und wie viel nicht. Da würde ich meine Grenze zum – 139 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

eigenen Schutz einmal niedrig ansiedeln. Ich glaube, dass ich sehr früh sage  : »Das ist meine Grenze, bis hier und nicht weiter.« Faule Kompromisse sind schädlich für alles, für ein gutes Arbeitsklima und auch für eine Klarheit, wofür man als Partei oder als Repräsentant einer bestimmten Richtung steht. Das ist der eine Aspekt. Auf der anderen Seite sollte man notwendige Kompromisse transparent aushandeln können. Nicht alles, was zu Beginn der eigenen Überzeugung widerspricht, lässt sich nicht doch in einem gemeinsamen Prozess zu einem, wie ich sage, sauberen Kompromiss weiterentwickeln. Aber von Grundsätzen abzuweichen, braucht dann auch entsprechende Transparenz und gute Argumente.

Kompromisse und deren Grenzen sind immer wieder neu auszuhandeln  ; wenn Menschen nicht über die Pluralismusfähigkeit verfügen, die davon ausgeht, dass es berechtigterweise unterschiedliche, je legitime Positionen gibt, wird sich der Aushandlungsprozess nicht gestalten lassen. In einer pluralistischen Gesellschaft ist die Anerkennung von dem, was Joseph Raz »kompetitiven moralischen Pluralismus« genannt hat, notwendig – darunter ist eine Form der moralischen Vielfalt zu verstehen, die nicht auf eine geteilte Auffassung vom Guten zurückgreifen lässt. In der Politik kann man mit dieser Herausforderung nur dadurch umgehen, dass man sich auch über Werte- und Zielfragen (warum und wohin  ?) unterhält. Politik ist ein ständiges Verhandeln von Positionen, um etwas zu erreichen. Es ist aber auch ein ständiges Abtesten von meinen eigenen Positionen. Man hat eine Meinung mit einem gewissen Kenntnisstand, durch die Arbeit erweitert sich aber der Horizont. Da muss man selbst wieder schauen, passt das jetzt eigentlich für mich noch, bin ich derselben Meinung, obwohl ich jetzt mehr weiß von Zusammenhängen, von Sachinformationen, von Fakten. Ich kenne dann auch viele Positionen anderer, die fließen alle mit ein, das bleibt ja alles nicht abgegrenzt. Und daher ist es ein ständiges auch Nachadjustieren. – 140 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

Hier wird die Idee eines Überlegungsgleichgewichts vermittelt, also die Idee, dass ein stetes Aushandeln des Verhältnisses von allgemeinen Prinzipien und besonderen Sachverhalten geboten ist. Das verlangt nicht nur nach Reflexions- und Urteilsfähigkeit, sondern auch nach der Fähigkeit, zu verlieren. Und dann gewinnt man

nicht immer, sondern man verliert auch diese Auseinandersetzungen. Und für mich war es bis jetzt Gott sei Dank immer so, dass ich das akzeptieren hab können. Weil … meine Position nicht 100  Prozent durchgedrungen ist, ich aber die Möglichkeit hatte, meine Position darzulegen. Und dafür zu kämpfen. Kämpfen jetzt unter Gänsefüßchen zu sehen. Aber bis jetzt war es noch immer so, dass ich es sagen konnte, es ist demokratisch zugegangen. Ich wurde gehört. Gute Kompromisse sind Ergebnis guter Streitkultur  : Das Wesen von Politik ist nun einfach einmal Konflikt und Kompromiss, und beides mag man nicht. Man mag nicht streiten, man mag auch nicht dem Streit zusehen, außer zum Amüsement, aber nicht auf Dauer  : »Die Politiker streiten nur«, das ist ein Tadel und kein Lob. Eigentlich müsste es ein Lob sein. Und den Kompromiss mag man noch weniger. Man will klare, richtige Entscheidungen für irgendetwas. Das dem ein bisschen Recht Geben und dem auch, und dass man den ein bisschen leben lässt und den auch, das will man nicht. Und genau das muss man aber, genau das muss jede pluralistische Verfassung. Und diese simplen Sachverhalte sind eigentlich so banal, dass ich mich manchmal frage, warum ich sie überhaupt formulieren muss. Streitkultur ist Ausdruck von Pluralismusfähigkeit. Ich kann mit Widerständen und auch mit Konflikten im Grundsatz gut umgehen, weil ich es als normalen Bestandteil von Zusammenleben und Problemen sehe, dass die Dinge immer in Reibung und in Bewegung sind.

Es darf an dieser Stelle der Hinweis auf Harald Weinrich nicht fehlen  – Weinrich hat als Linguist mit großem Gespür für Sprache auf den Zusammenhang von Höflichkeit und Demokratie aufmerksam gemacht  – Demokratie ist Vielfalt, und guter Umgang – 141 –

Eine besondere Moral in der Politik  ?

mit Vielfalt verlangt die Fähigkeit zur Höflichkeit.159 Das ist auch eine Sache der Bildung. Hier kann man sich, wenn man »Prinzipien wohlwollender Interpretation« walten lässt, die von der Grundannahme ausgehen, dass ein Gesprächspartner wohlwollend, wohlinformiert und vernünftig ist, einander annähern. Was für mich eines der schönsten Lernfelder war, … am Beginn eines Arbeitsprozesses dazusitzen und zwei völlig konträre Positionen zu haben. Und zu lernen auch am anderen, was seine Motivation ist und was vielleicht das Positive auch in seinem Denken ist. Also ein Verständnis für das Denken des anderen zu entwickeln. Und was aus meiner Sicht in der Politik eine Grundproblematik ist, dass das nicht stattfindet.

Das müsste aber nicht so sein  ; Dialog ist möglich  ; Höflichkeit auch – und Klugheit ist, wie das nächste Kapitel zeigen soll, nicht verboten.

– 142 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

Am Comer See findet sich malerisch jene Villa, die Konrad Adenauer regelmäßig nutzte, um sich Gedanken über den politischen Alltag hinaus zu machen. Er beschäftigte sich sozusagen mit klugen Fragen. Ich möchte in diesem Kapitel in befreiender Naivität einige Wünsche formulieren  – politische Klugheit baut an tiefer Politik. Tiefe Politik bemüht sich um eine Kultur von Reflexion und Reflexivität  ; sie weicht den heiklen Fragen nach Sinn, Ziel und Wahrheit nicht aus. Tiefe Politik stellt die Fragen  : »Woraufhin« und »warum« soll Zusammenleben politisch gestaltet werden  ? Ich glaube, dass es der politischen Kommunikation gut täte und viel entlasten würde, wenn wir auch Nachdenkphasen, Nachdenklichkeit oder manchmal auch eine gewisse Ratlosigkeit zulassen könnten. Zu sagen  : »Wir sind auf einem guten Weg, aber da haben wir noch keine Lösung.« Also etwas offener zu sein, was die eigenen Unzulänglichkeiten betrifft. Und eine überzogene Erwartungshaltung zu dämpfen und nicht für alles und jedes sofort einen schnellen, super Satz fürs Mikrofon haben zu müssen.

Die Fragen nach dem Woraufhin und dem Warum sind spätestens dort unübersehbar, wo sich Krisen einstellen, Konflikte auf brechen und Entscheidungen anstehen. Es handelt sich um Fragen der Art  : »Wo sollen budgetäre Einschnitte vorgenommen werden  ?«, »Wie sollen pflegebedürftige Menschen behandelt werden  ?«, »Warum soll Versöhnung Teil des politischen Vokabulars sein  ?«, »Warum sollen künftige Generationen berücksichtigt werden  ?«. Solche Fragen, die auf die Grundlagen des Zusammenlebens Bezug nehmen, stellen sich » am Ende des Geldes«. Wir haben dieses Ende in einigen Punkten erreicht. New Moore Island, – 143 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

die aufgrund des Klimawandels untergegangene kleine Felseninsel in der Bucht von Bengalen, kann nicht durch Geld zurückgekauft werden  ; wir erreichen Grenzen dessen, was mit Geld saniert werden kann. Grenzen stellen sich angesichts von knappen Ressourcen ein. Hier stellen sich tiefe Fragen. Und hier zeigt sich die Notwendigkeit von tiefer Politik  ; dabei reicht der öffentliche Vernunftgebrauch als Mittel zur Aushandlung der Interessen nicht aus – weil es nicht nur um Entscheidungen geht, die mit entsprechender argumentativer Kraft durchzufechten sind, sondern auch um »Vorstellungen«, Vorstellungskraft und eine Vorstellung alternativer Szenarien (In welche Richtung soll es gehen  ? Wie könnte eine anstrebenswerte Vision aussehen  ?). Hier ist Klugheit gefragt. Aber welche Klugheit  ? Interessante Einsichten in die politische Klugheit finden wir, um ein berühmtes Beispiel zu nennen, in Baltasar Graciáns Handorakel und Kunst der Weltklugheit aus dem 17. Jahrhundert. Der Jesuit Gracián (1601–1658) hatte viel Erfahrung am spanischen Hof gesammelt und sich in Form von 300 Aphorismen überlegt, wie man sich klug in diesem politisch heiklen Terrain verhalten könne.160 Er wollte kluge Menschen in Verantwortungspositionen sehen, Menschen, die selbstreflexiv sind und sich selbst gut kennen, in ihren Schwächen und Stärken.161 Politisch Verantwortliche sollten langfristige Perspektiven haben, also weitsichtig sein, um in ruhigen Zeiten für Widriges vorzusorgen. Kluge Menschen handeln so, dass sie stets gesehen werden könnten. Das ist ebenso Zeichen von Klugheit wie von Anstand. In einer Führungsposition ist es beispielsweise klug, verschiedene Interaktionsstile zu haben und über ein breites Verhaltensrepertoire zu verfügen und immer etwas in Reserve zu haben, um die Erwartungen lebendig zu halten.162 Es ist klug, eine Vertrauensbasis aufzubauen und den Ruf zu haben, großzügig zu sein. Es ist Zeichen von Klugheit, sich kurz und klar ausdrücken zu können, die Fähigkeiten zu haben, Forderungen zu– 144 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

rückzuweisen und ein Gefühl der Abhängigkeit bei den Untergebenen zu erzeugen.163 Es ist ein Zeichen von politischer Klugheit, Menschen, die in bestimmten Bereichen überlegen sind, für die eigenen Zwecke einzusetzen.164 Kluge Menschen wissen, wann sie sich zurückziehen sollen.165 Es ist zudem wünschenswert, wenn die persönlichen Qualitäten eines Amtsträgers das Amt übertreffen.166 Hier zeigen sich Konturen politischer Klugheit, die zwischen einer rein strategischen und einer rein moralischen Tradition des Klugheitsbegriffs angesiedelt ist. Der Begriff der Klugheit ist ansonsten im politischen Diskurs eigentümlich eingefärbt  : In der Politischen Theorie wurde der Begriff der Politischen Klugheitslehre bzw. Staatsräson ausgehend von Machiavelli entwickelt und auf die Eigengesetzlichkeit von Politik bzw. die Verselbstständigung politischer Rationalität bezogen. Politische Klugheit ist die Fähigkeit, einen Vorteil zu erkennen und effektiv zu nutzen, um Macht zu gewinnen bzw. zu erhalten  – politische Rationalität als individuelle Fähigkeit ermöglicht die Ausübung einer situationsadäquaten Technik der Politik. Die interne Logik von praktischer Politik lässt sich nicht unbedingt mit Moral oder Religion in Übereinstimmung bringen. Verschlagenheit und Schläue können Teil politischer Klugheit sein. David Runciman etwa sieht Scheinheiligkeit als unvermeidlichen Bestandteil von Politik an und unterscheidet deshalb lediglich zwischen harmloser und schädlicher Scheinheiligkeit, Unauthentizität, Unaufrichtigkeit und Lüge167  ; dabei knüpft er an Judith Shklar an, die die Hypokrisie als »gewöhnliches Laster« dargestellt hat, das für liberale Gesellschaften nicht besonders bedrohlich ist.168 Klugheit wird dann, gerade in jener Tradition, die Machiavelli begründet hat, zu einer strategischen Größe. Machiavelli (1469–1527) hatte Politik als eigene Sphäre und Zweck in sich selbst etabliert und war damit nach einem Gedanken Hannah Arendts einer der Ersten, der einen rein weltlichen Bereich konzipierte, einen eigenen Bereich, der seine eigenen mora– 145 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

lischen Standards verfolgt. Für Machiavelli hat politische Klugheit mit Realismus zu tun, mit der realistischen Kunst des Regierens, vor allem mit der Kunst der Machtaneignung und des Machterhalts. In seinen »Discorsi« hält Machiavelli fest, dass alle Menschen schlecht sind und ihren bösen Neigungen folgen, sobald sie Gelegenheit dazu haben.169 Die Machtausübung müsse deswegen hart sein und klugerweise mit einer gewissen Grausamkeit vorgehen, denn die Not bringt edle Frucht hervor. Unrecht ist stets zu bestrafen. Es ist politisch klug, alles umzugestalten, wenn man an die Macht kommt, sodass das Volk alles dem neuen Machthaber verdankt.170 Es ist klug, wenn sich ein Herrscher den Anschein gibt, etwas aus Großmut zu tun, was de facto der Not geschuldet ist, denn kluge Männer machten immer ein Verdienst aus ihren Handlungen.171 Es ist unklug, bescheiden zu sein, deswegen darf der Herrscher nie freiwillig auf etwas verzichten.172 Es ist klug, gezielt zu betrügen, um dadurch an die Macht zu gelangen.173 Das ist fraglos ein Verständnis politischer Klugheit, das ich nicht unterstützen möchte, wenn es um »Menschbleiben in der Politik« gehen soll  ; denn Machiavellis Herrschende verstehen sich nicht mehr als Menschen unter ihresgleichen. Zudem ist das Festhalten an einem Ideal »absolutischer« Führungsfiguren im Sinne Machiavellis nach dem Urteil des Politikwissenschafters Emmanuel Richter ein Grund für Politikvedrossenheit, zumal sich Kompetenzen der Politikerinnen und Politiker auf diesem Hintergrund schwer einschätzen lassen.174 Ich möchte daher eine andere Tradition zur Erkundung des Klugheitsbegriffes bemühen  : Nach Thomas von Aquin ist Klugheit durch Wachsamkeit, Umsicht und Voraussicht gekennzeichnet und auf diese angewiesen.175 »Wachsamkeit« hat mit Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu tun, mit dem wachen Blick für das, was ist  ; aber auch mit dem Blick für Details. »Umsicht« bedeutet die Fähigkeit, Dinge nicht isoliert zu sehen, sondern in einen Zusammenhang zu stellen  ; ein kluger Mensch löst – 146 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

ein Problem nicht losgelöst von allen anderen Fragen. »Voraussicht« schließlich bedeutet, dass der kluge Mensch auch in die Zukunft blickt, vorausblickt, Kontingenz und kontingente Entwicklungen mitberücksichtigt. Ein kluger Mensch ist nach Thomas weitsichtig und umsichtig. Dies wird auch deutlich, wenn man drei Grundpfeiler beachtet, die Thomas für die Klugheit annimmt  – »memoria«, »docilitas« und »sollertia«. Klugheit ist gedächtnisvoll  ; sie erinnert sich, sie lernt aus der Vergangenheit und sie ist auch verbunden mit der Fähigkeit, sich belehren zu lassen, mit der Bereitschaft zu lernen. Klugheit ist die Bereitschaft, sich zu verändern, zu wachsen und zu lernen. Dummheit wird demgegenüber bei Thomas als »Gefühllosigkeit des Herzens« und »Stumpfheit der Sinne« verstanden, also als Form des Sensibilitätsverlusts, als Einbuße an innerer Wachheit. Klugheit ist bei Thomas interessanterweise mit der Großzügigkeit verwandt und damit einer Geisteshaltung der Offenheit und der Weite, die sich von Starrsinn und geistiger Starre absetzt. Scheint diese Form von Klugheit nicht wünschenswert in der Politik  ? Langfristiges und umsichtiges Urteilen eingedenk der Geschichte und der Vergangenheit  ? Klugheit ist jedenfalls auch die Fähigkeit, über das Gewohnte und Gewöhnliche hinaus zu denken  ; das wird nicht mit Dienstantritt ausgehändigt wie eine Schlüsselkarte. Dieses Gespür dafür, wo die wirklichen Probleme sind, und nicht nur, was steht in der Zeitung und was kommt heute in der »Zeit im Bild« und diese Geschichten. Es gibt ja diese klassischen politischen Themen, wo dann alle aufspringen und wo dann jeder irgendwas sagt dazu, aber dann gibt es ja dazwischen auch noch ganz viele Facetten von Dingen, die man nicht aus den Augen verlieren darf. Die wirkliche moralische Herausforderung in einer politischen Funktion ist es, dass man diesen Bezug zum ganz normalen Leben nicht verliert. Dass man nicht plötzlich glaubt, man ist jetzt irgendwie gescheiter, besser, klüger und anders, weil man jetzt irgend so eine Funktion hat. – 147 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

Tiefe Politik

Ich will an einem Beispiel verdeutlichen, was ich unter tiefer Politik, die sich an der Sinnfrage orientiert, verstehe. Ich möchte mich auf den 2011 verstorbenen Vaclav Havel, das letzte Staatsoberhaupt der Tschechoslowakei und den ersten Präsidenten der Tschechischen Republik, beziehen. Vaclav Havels Denken und Tun ist Ausdruck des Bemühens um tiefe Politik – um Politik auf der Basis des Versuchs, in der Wahrheit zu leben. In der Wahrheit zu leben bedeutet, einer authentischen menschlichen Existenz gerecht zu werden. Nach seinem Verständnis von Politik geht es darum, dem Leben in seiner Ordnung politisch gerecht zu werden  : »Das Leben tendiert in seinem Wesen zur Vielfarbigkeit, zur unabhängigen Selbstkonstitution und Selbstorganisation, einfach zur Erfüllung seiner Freiheit.«176 Systeme, die diese Freiheit einschränken oder aushebeln, sind bestrebt, Uniformität und Konformität zu schaffen. Damit wird das vergewaltigt, was Havel als »authentische Existenz« des Menschen bezeichnet, als jene Daseinsform, die »in der Wahrheit« leben lässt.177 Totalitäre Regime leben in der Lüge und aus der Lüge  : »Da das ›Leben in Lüge‹ die Grundstütze des Systems ist, ist es kein Wunder, daß das ›Leben in Wahrheit‹ eine Grundbedrohung für das System bedeutet.«178 Aus diesem Grund werden Regimekritiker und -gegner auch entsprechend bekämpft – weil sie die Wahrheits- und Sinndimension, eine moralische Dimension im Politischen einmahnen. Sie kämpfen gegen das Absurde an, gegen die Vernichtung der Sinndimension des Menschen, gegen ein kafkaeskes System.179 Systeme der Unterdrückung demoralisieren den Menschen, »Leben in Wahrheit« ist Rebellion gegen diese Demoralisierung.180 Und dazu bedarf es eines moralischen Standpunktes, der fundamentale Fragen mit dem Anspruch einer Verallgemeinerbarkeit stellt  : »Die historische Erfahrung lehrt uns, daß in der Regel nur jener Ausweg für den Menschen wirklich sinnvoll ist, der – 148 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

ein Element einer gewissen Universalität enthält, der also nicht nur einen partiellen, nur einer bestimmten Gruppe zugänglichen und auf andere nicht übertragbaren Ausweg bildet.«181 Die Suche nach dieser Universalität ist die Auseinandersetzung mit fundamentalen Fragen. Diese Auseinandersetzung bleibt notwendig, auch in posttotalitären Regimen, die sich die Frage nach der rechten Gestaltung der Zivilisation und dem rechten Umgang mit Technik stellen müssen.182 Es geht auch hier um die rechte Ordnung der »Lebenswelt«, für deren Gestaltung der Mensch verantwortlich ist. »Verantwortung« bleibt eine Schlüsselkategorie tiefer Politik. »Gewissen« ist eine reale politische Kraft.183 »In der Wahrheit« zu leben bedeutet, sich stets der ständigen Verantwortung bewusst zu sein, die ein Mensch trägt.184 Diese Verantwortung bildet die Grundlage und den Kern unserer sozialen Existenz, unserer Existenz als soziale Lebewesen, die auf Gemeinwesen und damit auf die Gestaltung dieses Gemeinwesens durch die Politik angewiesen ist. Verantwortung ist Grundlage für Identität, ist Schwerpunkt, Bauprinzip, Achse, Kitt.185 Oder noch deutlicher – in einem Brief aus dem Gefängnis an Ehefrau Olga  – gesagt  : »Verantwortung ist das Messer, mit dem wir unseren uneinholbaren Umriß in das Panorama des Seins einschneiden.«186 Es ist eine moralische Angelegenheit, sich für ein der Würde und Verantwortung des Menschen entsprechendes Leben einzusetzen. Es ist Teil tiefer Politik, sich auch die Frage nach dem zu stellen, was über den Horizont der Tagespolitik hinausgeht, etwa die Fragen nach dem Lernen aus der Vergangenheit (etwa  : Lernen aus Lidice), die Fragen nach Hoffnung oder nach einer Vision von Zukunft.187 Explizit spricht Havel die Frage nach dem Sinn an  ; explizit macht er sich Gedanken über das »Wohin« des Gemeinwesens – in seinen »Sommermeditationen« entwirft Havel eine solche Vision für die Zukunft der Tschechischen Republik,188 in einer Rede in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats vom 10. Mai 1990 in Straßburg arti– 149 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

kuliert Havel die Notwendigkeit, »das Unmögliche zu träumen«.189 Auch das ist Politik, tiefe Politik. Tiefe Politik stellt die Frage nach Bedingungen der Möglichkeit gelingenden Zusammenlebens. Dazu bedarf es einer Richtung dieses Zusammenlebens und eines Fundaments. In seiner Rede vor den Mitgliedern des Deutschen Bundestages und des Bundesrates im Plenarsaal des Bundestages am 24. April 1997 in Bonn konnte der tschechische Präsident ausführen  : »Freiheit im tiefsten Sinne des Wortes bedeutet, … daß ich den anderen sehe, mich in seine Lage hineinzuversetzen, in seine Erfahrungen hineinzufühlen und in seine Seele hineinzuschauen vermag und imstande bin, durch einfühlsames Begreifen von alledem meine Freiheit auszuweiten. Denn was ist das gegenseitige Verständnis anderes als die Ausweitung der Freiheit und die Vertiefung der Wahrheit  ?«190 Die Bedingungen menschengemäßen Lebens werden damit dort bedroht, wo Wahrheit und Empathiefähigkeit bedroht werden. Wahrheit und Sinn als die zwei Dimensionen tiefer Politik sind miteinander verbunden. Die Sinndimension wird im Politischen dort virulent, wo Menschen nicht beurteilen können, was das menschenwürdige, d.  h. das dem Menschen gemäße und der Würde des Menschen entsprechende Leben ist, oder wenn sie die Last eines solchen Lebens fürchten. Die Überwindung der Furcht vor dem Äußeren muss von innen her kommen. Vaclav Havel spricht die Idee an, dass die Gestaltung des Politischen »von innen her« erfolgen müsse  : »Der beste Widerstand gegen die Totalität ist es einfach, sie aus der eigenen Seele zu vertreiben.«191 Das hat auch viel mit Bildung zu tun, die ein Bewusstsein für Kontingenz und damit ein Verständnis für die uns zur Verfügung stehenden Freiräume entwickeln lässt. Grundlage der Souveränität von Gemeinschaftsgebilden ist die Selbstbestimmung des Einzelnen, von innen wie von außen her  : »Die Souveränität der Gemeinde, der Region, des Volkes, des Staates, jegliche höhere Souveränität hat nur dann Sinn, wenn sie – 150 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

von der in der Tat einzigen originalen Souveränität abgeleitet ist, nämlich von der Souveränität des Menschen, die ihren politischen Ausdruck in der Souveränität des Bürgers findet.«192 Havel steht für den Versuch, die Sinndimension als Teil der politischen Reflexion aufzufassen. Wohin und worum soll es eigentlich gehen  ? Immer wieder drückt Havel etwa seine Sorge darüber aus, dass sich die Europäische Union zu einer technokratischen und materialistischen Entität entwickle, die im Zuge der Schaffung von Einheit die Freiheit einschränken würde.193 Europa leide an einem Mangel an Ethos, wir bräuchten ein neues Verständnis unserer Werte.194 Eine Reduktion des europäischen Zusammenlebens auf technische und wirtschaftliche Belange kann nur dann verhindert werden, wenn sich die Europäische Union mit der Frage ihrer Rechtfertigung und ihres Telos beschäftigt. Tiefe Politik stellt die Frage nach dem Woher, Wohin und Warum eines politischen Ganzen. Das vermisse ich heute manchmal, dass ich irgendwie das Gefühl habe, ich weiß gar nicht, ob die Leute sich Gedanken darüber machen, was für Auswirkungen das dann auf die Leute, die das wirklich betrifft hat, weil, ein Gesetz ist ja schnell mal geschrieben. Das heißt ja noch nicht, dass das auch etwas ist, das wirklich lebbar ist für eine breite Öffentlichkeit.

Erst auf der Grundlage solcher tiefer Fragen nach Warum und Wohin kann politische Urteilskraft tätig werden. Erst auf der Grundlage eines Begriffs von Allgemeinem kann der Zusammenhang von Besonderem und Allgemeinem, wie er von der Urteilskraft herzustellen ist, geleistet werden. Erst hier zeigt sich politische Klugheit. Die Sinnfrage im Politischen, die sich auf Richtung und Gewicht politischer Entscheidungen und politischen Tuns bezieht, zieht Politik aus der Beschränkung auf einen nur von Reaktionen bestimmten Spielraum und aus der Beschränkung auf eine kurzfristige Perspektive des »Jetzt« und auf das »Heute« heraus und erweitert den Horizont der politischen Entscheidungsfindung. – 151 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

Urteilen und Entscheiden

Politik ist Arbeit an und Ringen um Entscheidungen  : In der Spitzenpolitik müssen Sie jeden Tag jede Menge weitreichende Entscheidungen fällen. Und trotzdem können Sie sich keinen Fehler leisten.

Hier ist Klugheit gefragt, hier bedarf es entsprechender Maßstäbe. Da war mein Zugang eher der, dass man für Entscheidungen ordentliche Entscheidungsgrundlagen hat. Wenn es die nicht gibt, muss man sie einfordern. Geht nicht immer. Weil, manchmal fehlt einem die Zeit. Man muss einfach dann Entscheidungen auch aus dem Bauch heraus, aus einem Gefühl heraus treffen. Gute Entscheidungen – man denke

an Adenauers Villa und die Ruhe, die der idyllische Garten mit Blick über den See vermittelt – brauchen Zeit  : Es gibt in der Politik ein Zeitproblem  : dass Sie sehr oft Entscheidungen treffen müssen unter extremem Zeitdruck, mit unvollständiger Information, also dass man sich dann nicht wundert, dass hinterher was herauskommt, das niemand gewollt hat. Das mit dem Zeitdruck ist natürlich so eine Sache, weil, oft kann man sich schon fragen  : »Wieso ist jetzt dieser Zeitdruck entstanden  ?« Ja, weil es nicht rechtzeitig vorbereitet wurde. Das kommt oft vor, dieser selbst verschuldete Zeitdruck. Das mit der Unvollständigkeit der Information ist auch regelmäßig so. Dass Sie nicht genau wissen, ob das dann so sein wird, wie Sie sich das vorstellen. Manchmal können Sie es gar nicht wissen. Oder  : Was schwieriger wird und mehr wird, ist der Zeitdruck. Zum Beispiel bei den Dingen, wo die Finanzmärkte eine Rolle spielen, da diktiert immer öfter der Markt die Geschwindigkeit der Entscheidungen. Und das führt zunehmend zu politischen Problemen. Teilweise stößt man hier an die Grenze der Möglichkeiten der Demokratie.

Adenauer hat, so scheint es, gezielt Orte aufgesucht und Situationen geschaffen, die sich dem Zeitdruck entgegenstemmen. Das war, so mag man einwenden, eine andere Zeit. Und dennoch  : Der Schaden und Sanierungsaufwand hastiger und sorgloser Entschei– 152 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

dungen ist nach dem Motto »Der arme Mann lebt teuer« (ähnlich  : »Der dumme Mann lebt teuer«) größer als eine solide Entscheidung, die entsprechend vorbereitet wird. Denn Entscheidungen sind riskant, da sie mit Konsequenzen behaftet sind, die in der Politik durchaus gravierend sein können  : Das ist das, was man politisches Risiko nennt. Sie müssen manchmal in Situationen entscheiden, wo Sie kein vollständiges Bild des Problems haben und nicht alle Elemente kennen, die Sie brauchen würden, um guten Gewissens sagen zu können, was die richtige Entscheidung ist. Das ist wie Fahren im Nebel, ohne stehen bleiben zu können. Hier kommt die

Klugheit ins Spiel, die zwischen gewichtigen und weniger gewichtigen Entscheidungen abwägen lässt und für Erstere angemessene Räume schafft. Gute Entscheidungen sind auf gute Rahmen angewiesen, die die Spielräume der Entscheidung vorgeben. Das ist im Idealfall die vernünftige gesetzliche Regelung  : Für mich sind

Entscheidungen fast immer gut zuordenbar. Sehr oft sind es ja Interessensabwägungen von unterschiedlichen öffentlichen Interessen. Im ganzen Verwaltungsverfahrensrecht stößt man immer wieder auf solche Interessensabwägungen. Und wenn beispielsweise in einem Projekt Wirtschaft gegen Naturraum oder Nationalpark gegen Tourismus stehen und es unterschiedliche Ansprüche gibt, dann gibt es in der Regel auch ein rechtliches Prozedere, wie es zu einer korrekten Abwägung kommt. Oder  : Entscheidungen, die ich im Grunde anders treffen möchte … Wo ich aufgrund gewisser äußerer Zwänge etwas gegen meine innere Haltung entscheiden muss. Das habe ich bisher mit den rechtlichen Rahmenbedingungen in Deckung bringen können. Es hat einen Fall gegeben, da habe ich gespürt, mit der Entscheidung, so wie sie vorliegt, tue ich mich schwer und habe das deshalb noch mal absichern und klären lassen. Damit konnte ich die Entscheidung so treffen, wie ich sie für mich fachlich und rechtlich in Übereinstimmung gebracht habe. Die rechtliche Korrektheit ist für mich auf einem extrem hohen Level. – 153 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

Hier sind Rechtskompetenz wie auch das Vertrauen in Expertinnen und Experten notwendig. Ein letzter Gedanke  : Im Kapitel »Eignung und Neigung« habe ich im Zusammenhang mit den Eignungsfaktoren für Politik »Polyglottie« als die Fähigkeit, mühelos mit verschiedenen Menschen ins Gespräch kommen zu können, erwähnt. Ein Aspekt von Klugheit, der damit in Zusammenhang steht, und damit auch eine Voraussetzung für gutes Urteilen in der Politik ist das, was ich »innere Mehrsprachigkeit« nennen möchte, die Fähigkeit, Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu sehen. Ein Gesprächspartner hat das treffend auf den Punkt gebracht  : Es ist wichtig, dass man als Politiker einen Beruf hat. Ja, ganz gleich, ob man jetzt einen handwerklichen Beruf hat, einen akademischen Beruf hat. Ich halte nichts von Politikern, die von Jugend auf nur in Parteiorganisationen groß werden und dann auch noch in Regierungsverantwortung kommen, weil, da ist die Gefahr schon sehr groß, dass man alles nur parteipolitisch sieht.

Der kluge Mensch ist umsichtig, hat die Fähigkeit, auch andere Standpunkte konzipieren und einnehmen oder auch verschiedene Lösungen vorstellen zu können. So gesehen steigt die Qualität des Urteils entscheidend an, wenn keine parteipolitisch gebundene Interessenspolitik gemacht werden muss. »Der gute Alltag« Es soll in erster Linie Sinn machen. Daraus kommt auch besonders viel Motivation und Antrieb, die tägliche Freude und Neugier. Die Chance zu bekommen, an einem Platz zu sein, der einen ausfüllt und fordert. Sich für sinnvolle Themen einzusetzen, das ist grenzenlos motivierend.

Das klingt nach »der Freude an der Gestaltungsmacht«  ; wie kann diese Freude lebendig gehalten werden  ? Papst Franziskus hat – 154 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

sich für den kirchlichen Bereich ganz ähnliche Gedanken gemacht, wenn er an die »Freude des Evangeliums« (»Evangelii Gaudium«) erinnert hat und eingemahnt hat, die ursprüngliche Freude im Alltag nicht zu verlieren. Wie kann dieser gute Alltag in der politischen Arbeit gelingen  ? Eine erste Bemerkung  : Ein guter Alltag braucht  : Alltag  ; das ist in der politischen Arbeit, in der jeder Tag anders aussieht, bereits eine Herausforderung. Alltag ist grundsätzlich das, was dem Leben Halt und Struktur gibt  ; guter Alltag gibt Lebenssicherheit. Alltag ist das Gesamte der sich täglich wiederholenden Abläufe und der Inbegriff dessen, was wir als »gewöhnlich« ansehen. Gute Politik braucht guten Alltag. Die ungarische Soziologin Agnes Heller hat den Zusammenhang zwischen Alltag und Kreativität bzw. Fortschritt betont.195 Heller war in ihrem Denken von der Überzeugung geleitet, dass die großen Leistungen einer Kultur aus Herausforderungen, Problemen, Konflikten und Bedürfnissen des täglichen Lebens herrühren. Die Politikerin darf, so gesehen, den Bezug zum Alltag nicht verlieren, will sie auf jene Probleme antworten, die Menschen beschäftigen. Menschbleiben in der Politik heißt, sich dem »Alltagsschwund« entgegenzustellen. Eine zweite Bemerkung  : Guter Alltag braucht gute Gewohnheiten. Es ist wichtig, auch auf meine persönlichen Bedürfnisse [zu schauen]. Also Schlafen, Essen und, so weit wie möglich, ausreichend Bewegung sind für mich Grundbedürfnisse. Und wenn die zu kurz kommen, wirkt das auch sofort. Wenn der äußere Alltag durch

Unregelmäßigkeit bedroht ist, bedarf es der guten Gewohnheiten. Die Gewohnheiten des bedachtsamen Tagesbeginns und des bedachtsamen Tagesendes  ; die Gewohnheiten des Essens und der Bewegung. Das Gewicht halten und vor Mitternacht ins Bett gehen, hat ein langjähriger Spitzenpolitiker als gute Eckpfeiler benannt. Das ist eine Frage der Gewohnheiten  ; Gewohnheiten vermitteln aufgrund ihrer Gleichförmigkeit Stabilität und damit Sicherheit – 155 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

im Auf bau eines Alltags. »Alltagsfähigkeit« ist also Teil eines Lebens, das wir als »gelingend« und »gut« empfinden. Eine dritte Bemerkung  : Guter Alltag wie auch gute Gewohnheiten verlangen gute Organisation  ; hier kann der gute Alltag auch klug unterstützt werden. Eine beispielhafte Bemerkung  : Wenn

man in der Politik ist mit kleineren Kindern, muss man sich gut organisieren. Nur kann man sich umso leichter organisieren, je besser man verdient, weil man sich auch leichter jemanden bezahlen kann als eine Frau, die 30 Stunden an der Kasse sitzt und angewiesen ist auf die öffentlichen Betreuungseinrichtungen und vielleicht auf einen Partner, der da ist oder nicht da ist.

Diese Bemerkung macht viertens darauf aufmerksam, dass guter Alltag gerade von Frauen in der Politik besonders mühsam erkämpft werden muss  : Es ist auch auffällig, dass unter den Politike-

rinnen viele sind, die keine Familie haben. Das alles ist vielleicht in Mitteleuropa immer noch ein bisschen anders. Da ist immer noch ein bisschen eine Schieflage, aber in Skandinavien ist das die Normalität. Aber, wie gesagt, wenn Frauen in der Politik Kinder, vor allem kleine Kinder, die noch schulpflichtig sind, haben, dann ist es sehr, sehr schwierig. Da muss dann eben innerhalb der Familie eine andere Arbeitsteilung gefunden werden. In diesem Fall muss dann der Mann sich um die familiären Dinge kümmern. Auch hier ist die Entwicklung in Zentraleuropa weniger weit gediehen als in Skandinavien. Oder  : Als Frau ist es, glaube ich, noch einmal eine Spur schwieriger, weil in der Intensivität, in der ich das mache, könnte ich mir nicht vorstellen, dass ich nebenbei eine Familie habe. Für Frauen gestaltet sich

die Vereinbarkeit von politischem Beruf und Familienleben laut der Einschätzung von weiblichen wie auch männlichen Interviewpartnern tendenziell schwieriger, gerade dann, wenn minderjährige Kinder vorhanden sind. Ganz selten wird ein Mann gefragt  : »Was sagt denn deine Frau dazu  ? Siehst du deine Kinder noch  ?« Als Frau, obwohl ich jetzt in einer anderen Lebensphase in die Politik eingestie– 156 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

gen bin, wo meine Kinder mehr oder weniger erwachsen waren, aber diese Fragen werden auch mir noch immer gestellt. Man wird in eine Position gestellt, wo man sich rechtfertigen muss. Denn  : Man wird als Frau auch anders beobachtet als ein Mann. Das beginnt bei Banalitäten, wie man aussieht, was man anhat bis hin eben zu der Frage  : »Geht es in der Ehe schon noch gut  ?« Ich zumindest wurde das sehr oft schon gefragt. Guter Alltag hat dann auch mit gesellschaftlicher

Akzeptanz zu tun. Eine fünfte Bemerkung  : Viele politische Funktionen sind mit einem enorm hohen Zeit- und Energieaufwand sowie mit körperlichen und psychischen Belastungen verbunden  : Wenn man in der

Spitzenpolitik arbeitet, muss man eine gute Kondition haben. Politik ist auch körperlich – wenn Sie so wollen – herausfordernd. Schließlich ist es nicht jedermanns Sache, mindestens zwölf Stunden am Tag zu arbeiten. Deike Böning hat in ihrer Dissertation Gesund-

heitsvorstellungen, -risiken und -verhalten von Berufspolitiker/inne/n unter deutschen Bundestagsabgeordneten untersucht  ;196 dabei hat sich herausgestellt, dass Alltag in der Politik zwar sehr unterschiedlich ist, aber doch ein verbindendes Element aufweist  : Die politische Arbeit beansprucht den »ganzen« Menschen  ; daher sind selbstbestimmte Zeit und Regenerationsphasen für viele knappe Ressourcen. Je nach Position kann zudem eine starke Belastungssituation dadurch gegeben sein, dass hohe Anforderungen verbunden mit geringen Kontrollmöglichkeiten und fehlender sozialer Unterstützung auftreten, denn  : viele Politikerinnen und Politikern müssen erfahren, wie eng ihr Handlungsspielraum und ihre politische Souveränität tatsächlich sind und dass sie primär eine »Moderatorenrolle« innehaben, gleichzeitig aber vorgeben müssen, politische »Gladiatoren« zu sein. Das führt dazu, dass gesundheitliche Probleme verharmlost und verdrängt werden. Gesundheit ist Macht, Krankheit ist Schwäche, die kaschiert wird, da sie von Medien oder politischen Feinden gegen einen verwendet werden – 157 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

könnten. Hier helfen realistische Selbsteinschätzung, die Schaffung selbstbestimmter Zeiten und Räume und »Robustheit« als die Überzeugung, die Umwelt kontrollieren zu können und Veränderungen als Chance sehen.197 Sechstens  : Weniger ist mehr  : Wenn man Politik machen und ge-

stalten will, dann muss man schauen, dass man bei den wesentlichen Dingen mit dem Kopf dabei ist und nicht überall auf jedem Kirchtag mittanzt. Das ist eine Gefahr, die schon besteht. Also, da kommt einmal das quantitative zeitliche Auffressen. Und dann gibt es intern auch große Zeit- und Energieräuber. Das sind einfach Themenbereiche, die scheinen niemals zu enden und verbrauchen trotzdem jedes Mal viel Zeit, Kraft und viel Freiraum im Hirn. Diese Einsicht in das »Weni-

ger ist mehr« ist mit der Fähigkeit zu verbinden, »Nein« zu sagen.

Man hat auch viele Samstage und Sonntage, nicht nur Abende, wo man gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen muss. Selbst wenn Leute sagen  : »Muss der überall hingehen oder muss der überall sein  ?«, sind das oft genug Leute, die dann sagen  : »Aber zu mir muss er schon kommen.« Schutzräume halten  : Wenig Zeit für die Familie, noch weniger Zeit für die Pflege der Freundschaften  – das ist ein Thema, das eigentlich in meiner Kollegenschaft auch immer wieder thematisiert wurde, aber wo kaum jemand bereit ist, Veränderungen durchzuführen.

Siebtens  : Prioritäten setzen  : In Bezug auf den gelingenden Alltag von Politikerinnen und Politikern kann man sich auch fragen, ob es so glücklich für die Qualität der politischen Arbeit wie auch für die Lebensqualität von Politikerinnen und Politikern ist, dass sie sehr viel Zeit in das Repräsentieren stecken müssen. Jede Einladung,

gleichgültig, was es ist, anzunehmen. Und wenn dadurch auch für das, was ja eigentlich Politik ausmachen sollte, nämlich Gestaltung durchzuführen, keine Kraft und keine Zeit mehr da ist, weil es ein laufendes Repräsentieren, Repräsentieren, Repräsentieren, Repräsentieren ist  –

dann stellt sich politische Arbeit vor allem als Spiel von Sehen und – 158 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

Gesehenwerden dar. Wie wertvoll ist es, so könnte man sich fragen, den Justizminister bei der Eröffnung eines neu renovierten Justizgebäudes dabei zu haben oder die Unterrichtsministerin mit Grußworten bei einem pädagogischen Kongress  ? Tatsächlich, wie wertvoll ist das  ? Wie wertvoll ist es, eine Politikerin bei einer Konferenz für den Grußwortteil zu haben, um sie dann, wenn es ans Inhaltliche geht, das auch mit ihrer Arbeit zu tun haben könnte, verschwinden zu sehen  ? Hier scheint sehr viel Wert im »Gesehenwerden« zu liegen. Ein Vertrauter von Papst Benedikt hat mir einmal den Audienzalltag eines Papstes geschildert, der Gruppen von 20 oder 40 Leuten empfängt, jeder/m Einzelnen die Hand schüttelt und ein paar Worte wechselt  ; er nannte dies »eine Serie von Nichtbegegnungen«. Analog zu einer Ministerin, die sich in einer Provinzstadt blicken lässt – wie viele »Nichtbegegnungen« sind hier (man denke an die Opportunitätskosten  !) sinnvoll  ? Wieder mag eine Analogie aus der Kirche hilfreich sein, in der man sich ernsthafte Gedanken über ein vernünftiges Format für Pfarrvisitationen macht. Wie kann ein Besuch des Bischofs in einer Pfarrei fruchtbar sein  ? Wie können ernsthafte Gespräche über ernsthafte Themen ermöglicht werden  ? Eine hohe Landespolitikerin hat mir einmal gestanden, dass es tatsächlich eine ernsthafte Frage sei, ob das Repräsentieren so viel Raum einnehmen solle, es sei aber eine der wichtigsten Quellen für die Freude am politischen Beruf. Und Freude ist ein wichtiges Moment des Menschbleibens. Eingeladen zu werden ist schließlich auch ein Privileg, das ist dann auch eine Frage der Grundeinstellung  : Man macht das eben eine bestimmte Zeit, so ist es eigentlich in der Jobbeschreibung drinnen, dass man viele Termine hat und viel unterwegs ist. Das ist ja auch unser Privileg, dass wir zu so vielen Dingen eingeladen werden. Da muss jeder für sich auch sehen, wie viel Freiraum er für sich noch braucht. Das ist schon … gestaltbar.

Wir sind wohl wieder bei der Herausforderung des Maßhaltens und Abwägens angelangt. Sicherlich gilt der Grundsatz  : Weniger – 159 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

ist mehr  ; es ist wohl besser, bei wenigen Ereignissen »tiefer« präsent zu sein  : Ich hab das schon auch sehr professionalisiert, dass

ich gesagt habe, mir selber auch gesagt habe, wenn ich schon einen Termin mache, dann gehe ich gern hin. Weil die Leute sollen nicht das Gefühl haben, so wie ich dort bin, dass es mir ein Problem ist. Ich habe das eigentlich immer gern gemacht. Ich habe mir dann bewusst auch freie Tage eingetragen.

Achtens  : »Inseln der Integrität« schaffen und schützen, Inseln, in denen die Politikerin – etwa durch die ernsthafte Teilnahme an einer Tagung – nicht »geben« muss, sondern empfangen kann. Neuntens  : Einen Rhythmus finden  : Ich habe in der Regel ge-

schaut, dass ich Samstag oder Sonntag freihabe, und wenn das halt einmal nicht gegangen ist, und da hat es schon Phasen gegeben, da ziehst du einmal 3 oder 4 Wochen durch, dann hab ich halt geschaut, dass ich nachher einmal 2 oder 3 Tage freihabe. Weil, wie gesagt, du hast halt sonst keine Erholung. Zu mir hat einmal ein Chauffeur, der dann vor mir in Pension gegangen ist, gesagt  : »Chef, meinst du nicht, dass du ein bisschen kürzer treten solltest  ?« Da hab ich gesagt  : »Warum  ?« Hat er gesagt  : »Du wirkst auf mich schon recht müde.«

Zehntens  : Im Sinne der »Kunst des Krieges« keine aussichtslosen Schlachten kämpfen, sondern die Kooperation suchen  : In den Interviews wurden von mehreren Interviewpartnern Vorschläge eingebracht, wie durch eine Veränderung der »Spielregeln« bzw. der politischen Kultur in Österreich das Privatleben besser mit der Politik vereinbart werden könnte  : Eine gewisse Partnerschaft auch unter den Parteien, dass nicht jede Partei jemanden zu einer Veranstaltung entsendet, sondern einer für alle dort ist und im Namen aller spricht und nicht nur im Namen der eigenen Partei. Das wäre eine Entlastung. Das Einhalten von bestimmten Vereinbarungen, wie ein politikfreies Wochenende einmal im Monat, das wirklich der Familie gehört, oder auch das Entwickeln einer neuen politischen Kultur, wie es in den skandinavischen Ländern erfolgt ist, wo ja mittlerweile – 160 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

der Frauenanteil ein sehr großer ist, wo es normal ist, in der Politik Kinder zu haben, Kinder zu betreuen, wie jeder und jede andere Berufstätige auch, wo üblicherweise, wenn nicht gerade ein Termin in Brüssel stattfindet, man/frau um 17 Uhr oder um 18 Uhr nach Hause geht und gemeinsam mit der Familie zu Abend isst, den Abend verbringt usw. Also, das ist schon eine große Herausforderung in der Zukunft. Ein erfülltes Privatleben ist wichtig für die Stabilisierung der Persönlichkeiten in der Politik. Oder  : Ein wichtiges Thema ist die Vernetzung. Menschen, die wirkliche Freunde gewinnen, auch bei anderen Parteien, sind insgesamt etwas glücklicher in der Politik. Die eben nicht dieses stark Trennende spüren, da ist die Partei X und da ist die Partei Y, sondern die Grenzen überschreiten und nicht nur gute Beziehungen, sondern sogar Freundschaften zu anderen Parteienvertretern aufbauen. Die spüren nämlich auch, dass nicht immer alle Antworten, die althergebracht sind, die richtigen sind. Also die Entwicklungschancen, die Menschen haben, werden vergrößert durch parteiübergreifende Freundschaften in der Politik. (Allerdings

gehen die Einschätzungen darüber, inwieweit solche Änderungen machbar bzw. wünschenswert sind, auseinander. Nicht machbar erscheint es manchen, da es sich um ein typisches Gefangenendilemma handelt  : In Zeiten der Unverzichtbarkeit permanenten Eigenmarketings müssten alle mitmachen, damit die gewünschten Effekte eintreten und niemand dadurch einen Nachteil erleidet. Dies betrifft sowohl die Politikerkollegen/-konkurrenten wie auch die Bürger, die ihre Erwartungen an die Verfügbarkeit von Politikern verringern müssten. Nicht wünschenswert erscheint es manchen deshalb, weil sie diese Intensität als typisch und notwendig für eine gute Ausübung ihrer Funktion erachten oder weil prinzipielle Verfügbarkeit bei Volksvertretern als moralisch geboten zu sein scheint.) Elftens  : Einige Vorschläge (»tricks of the trade«) von Politik­ erfah­renen  : Was Sie brauchen, wenn Sie an der Spitze sind, eine – 161 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

Gruppe von, sagen wir, drei bis fünf Personen, die sich untereinander mögen und sich 100-prozentig darauf verlassen können, dass keiner dem anderen etwas Böses will, das Hackl reinhaut, geschweige denn mit Informationen an die Öffentlichkeit geht, ohne dass das ausgemacht ist. Oder  : Wann immer ich merke, dass sich starker Druck aufbaut, versuche ich, das Tempo zu reduzieren. Es klingt jetzt wie ein Widerspruch, aber es funktioniert. Auszeiten gestalten  : Was ich im Nachhinein für vollkommen falsch halte, ist, dass Politiker kaum delegieren und sieben Tage in der Woche erreichbar sind. Ich finde, man könnte ohne Weiteres sagen, ich habe eine Fünftagewoche. Es muss ja nicht Samstag oder Sonntag frei sein, wo man besonders leicht in den Medien durchkommt. Ich mache zwei Tage pro Woche frei. Das Zweite  : Es muss möglich sein, Dinge total zu delegieren. Als ich jung war, hat der frühere Parteiobmann zu mir gesagt  : »Du kennst schon Paragraf 1 der ungeschriebenen Geschäftsordnung  ? Abwesende haben unrecht.« Das führt dazu, dass Politiker glauben, sie müssen auch bei unwichtigen Entscheidungen immer dabei sein. Sie verbringen Stunden um Stunden in unwichtigen Sitzungen, bis halt dann jemand wie Gusenbauer sagt  : »Jetzt fahren wir nach Leoben, in eine Leitungssitzung, gibt es dort wieder das übliche Gesudere  ?« Weil er natürlich schon ganz genau weiß, dass ihn persönlich das gar nicht weiterbringt. Zwölftens  : Aufhören, rechtzeitig aufhören. Ich glaub nicht, dass man das ein Leben lang machen kann. Man verliert irgendwie die Energie und hat nicht mehr denselben Ansporn. Man probiert nicht etwas zum hundertsten Mal, weil man weiß, man ist schon so oft damit gescheitert. Ich glaube, da braucht es einfach neue Leute, die sich reinwerfen und wo es keine Verflechtungen gibt. Oder  : Ich halte nichts davon, dass man ein Leben lang in der Politik ist. Ich halte es für besser, einen Lebensabschnitt in der Politik zu verbringen. Und das andere ist, wenn man in der Politik ist, sollte man möglichst viel Kontakt zu Nichtpolitikern haben. Oder  : Ich finde, man sollte überhaupt – 162 –

Politische Klugheit und Menschenfreundlichkeit

nie eine rein politische Karriere machen. Ich bin ein großer Anhänger davon, dass es eine zeitliche Begrenzung gibt, weil dann zumindest die Hoffnung da ist, dass in der zweiten Periode, wo man nicht nur auf die Wiederwahl schielen muss, irgendwas Vernünftiges passiert oder Dinge passieren, die sonst nicht passieren. Ich bin dafür, dass es einen Wechsel zwischen der Politik und dem richtigen Leben gibt. Damit die Leute auch eine Wahrnehmung haben, was wirklich passiert, in einem Unternehmen oder in irgendeiner anderen Funktion. Also, Berufspolitiker, die ein Leben lang Politiker sind, finde ich eigentlich total entsetzlich und für das System äußerst schädlich. Dahin gehen wir aber jetzt, das ist genau die Entwicklung, die wir haben. Entschei-

dend ist neben der Fähigkeit, aufhören zu können und Abschied zu nehmen, auch die Idee eines Lebens außerhalb der Politik  : Was

für mich immer wichtig war in der Politik, ist, dass man sich ein paar besondere Werte erhält. Einer davon ist, von der Politik nie abhängig zu werden. Das ist eine Geschichte, da kommt man recht schnell in Abhängigkeiten. Auch wirtschaftlich, weil viele ihre Existenzen in einer gewissen Form aufgeben. Der Weg zurück ist oft verbaut. Abhängigkeiten anderer Art auch, es gibt natürlich viele schöne Dinge, von denen man sich nicht so gern trennt. Machteinfluss gehört dazu, aber man darf diesem Rausch nicht verfallen. Ein resilienter Mensch ver-

fügt über mehrere Standbeine, hat sein Leben mehrfach verankert. Und schließlich  : nicht vergessen, was die Freude an der Arbeit ausmacht  : Das finde ich, darf man bei all den großen Dingen, wenn

man so eine Funktion hat, eben nicht vergessen  : dass die Position eben einem auch die Möglichkeit gibt, Menschen ganz individuell da und dort zu helfen. … Das sind die wirklich bewegenden Sachen, dass man nicht nur darauf schaut, dass man was gemacht hat, was jetzt in der Zeitung gut rüberkommt, sondern dass man einen Menschen findet, der sagt  : »Sie haben mir da wirklich geholfen  !«

– 163 –

Anmerkungen   1 Dave Eggers, Eure Väter, wo sind sie  ? Und die Propheten, leben sie ewig  ? Köln 2015, 38.   2 Dennoch die Frage  : Sind diejenigen, die Politik als Beruf wählen »Typen wie ich«  ? Der Soziologe Heinrich Best (Does Personality Matter  ? Personality factors as determinants of legislative recruitment and legislators’ policy preferences, Comparative Sociology 10,6 [2011] 928–948) hat untersucht, wie Persönlichkeitseigenschaften (Ausprägungen der Big-five-Dimensionen der Persönlichkeit aus der Persönlichkeitspsychologie) den Eintritt in die Politik beeinflussen  : Mitglieder des deutschen Bundestages unterscheiden sich in den Persönlichkeitseigenschaften wesentlich von der Durchschnittsbevölkerung  : weniger Neurotizismus (=  mehr emotionale Stabilität), mehr Extraversion und Offenheit, weniger Verträglichkeit, weniger Gewissenhaftigkeit. Es besteht allerdings ein signifikanter Unterschied zwischen den Geschlechtern  : Weibliche Abgeordnete zeigen deutlich mehr Extraversion und Gewissenhaftigkeit sowie etwas mehr Verträglichkeit als männliche Abgeordnete.   3 Politikos 292e, 308e, 311c.   4 Politeia 347c, 347d, 412d–e.   5 Theaitetus 173c–d, Phaedrus 249b–c.   6 Mathias Thaler, Moralische Politik oder politische Moral  ? Eine Analyse aktueller Debatten zur internationalen Gerechtigkeit (Campus Forschung 933), Frankfurt/Main-New York 2008, 327.   7 Otfried Höffe, Hat die Moral einen legitimen Platz in der Politik  ? In  : Politik und Moral. Entmoralisierung des Politischen  ? Hrsg. v. Werner Becker/Willi Oelmüller (Ethik der Wissenschaften 6), München-Wien 1987, 82–86, hier 83.   8 Normative politische Philosophien können als die wichtigsten Einflussgrößen in der Politischen Theorie der letzten Jahrzehnte gelten – vgl. dazu die Ergebnisse einer unter US-amerikanischen politischen Theoretikern durchgeführten Umfrage zu den innerhalb ihrer Teildisziplin einflussreichsten Gelehrten  : Matthew J. Moore, Political Theory Today  : Results of a National Survey. PS  : Political Science and Politics, 43,2 (2010) 265–272, hier 267.   9 Vgl. hierzu die Kritik an den von John Rawls ausgehenden Ansätzen in Frank R. Ankersmit, Aesthetic Politics. Political Philosophy Beyond Fact and Value. Stanford, CA 1996, bes. 3 ff. 10 Die politische Ethik ist ein Bereich von Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten, die eigenständig politisch begründet werden müssen. Ein Grundfehler vieler auf die Politik einwirkender Moralvorstellungen ist ihre Fremdsteuerung, sei

– 165 –

Anmerkungen es durch Religion, Theologie, Metaphysik oder interessierte Professionsethiken (Walter Reese-Schäfer/Christian Mönter, Politische Ethik  : Philosophie, Theorie, Regeln, Wiesbaden 2013, 7). 11 Harry Frankfurt, Bullshit. Frankfurt/Main 2006. 12 André Glucksman, Die Macht der Dummheit. Frankfurt/Main 1990. 13 Catherine Elgin/Nelson Goodman, Revisionen. Frankfurt/Main 1993, Kap. 9. 14 Vgl. Michael Walzer, Political Action  : The Problem of Dirty Hands. Philosophy and Public Affairs 2,2 (1973), 160–180. 15 Max Weber hat mit seinem Hauptwerk Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie die Grundlagen für die moderne Bürokratieforschung gelegt. Gesetzte Regeln, auf Dauer eingerichtete Verwaltungen, hauptamtliches und entsprechend ausgebildetes Personal, arbeitsteilige Organisation und Amtshierarchien sowie eine Archiv- und Aktenkultur führen zu neuen Verwaltungsformen, die sich von charismatischer Herrschaft unterscheiden. Diese Gedanken legten den Grundstein für die modern Verwaltungsforschung – siehe David Jaffee, Organizational Theory  : Tensions and Change. New York 2001, Kap. 5. 16 Linda Tirado, Hand to Mouth. New York 2014. 17 S.  J.  H. McCann, Younger achievement age predicts shorter life for governors  : Testing the precocity-longevity hypothesis with artifact controls. Personality and Social Psychology Bulletin 29,2 (2003), 164–169. 18 »Crucial conversations« (»wichtige Gespräche«) sind selten. Sie haben mit Entscheidungssituationen zu tun oder sollen dazu dienen, eine Entscheidung herbeizuführen. Sie sind stets besondere und bestimmte Gespräche, die die besonderen Umstände in den Blick nehmen. Sie verlangen nach den Schlüsselfähigkeiten des Zuhörens und des (Mit-)Teilens und nach ehrlichem Respekt und einer wachen Vorstellungskraft. Sie verlangen ein tiefes Engagement des Intellekts, eine Form der Verstandesbetätigung, die die ganze Person einschließt. Politikerinnen und Politiker kommen in bestimmten Verhandlungssituationen nicht umhin, »crucial conversations« zu führen. 19 Marie Luise von Franz, Jung’s Typology. Irving, TX 41979, 68. 20 Papst Franziskus, Über die Selbstanklage. Eine Meditation über das Gewissen. Freiburg/Br. 2013  – Jorge Bergoglio greift dabei auf einen Text des Dorotheus von Gaza zurück. 21 Harry Frankfurt, The Reasons of Love. Princeton 2004. 22 Jung Chang/John Halliday, Mao. London 2007. 23 Dave Eggers, Eure Väter, wo sind sie  ? Und die Propheten, leben sie ewig  ? Köln 2015, 38. 24 Ebd., 53. 25 Ebd., 49.

– 166 –

Anmerkungen 26 Janusz Korczak, Wie man ein Kind lieben soll. Hg. v. E. Heimpel u. H. Roos. Eingel. v. I. Newerly. Göttingen 51974, 251. 27 »…what is possible to do in politics is generally limited by what is possible to legitimise” (Quentin Skinner, Liberty Before Liberalism. Cambridge 1998, 105). 28 Zum Beispiel  : St. E. G. Lea/P. Webley, Money as tool, money as drug  : The biological psychology of a strong incentive. Behavioral and Brain Sciences 29 (2006), 161–209. 29 Robert Dahl, The concept of power. Behavioral Science 2,3 (1957), 201–215. 30 Wolfgang Kersting, Drei Theorien der Macht. Analyse & Kritik 13 (1991), 134– 154. 31 »The one relationship of authority that appears to have existed in ›all historically known societies‹ which is that of parents over children, has frequently served as a model in political thought« (Frank Furedi, Authority. A Sociological History. Cambridge 2013, 7). 32 Philip Zimbardo, The Lucifer Effect. New York 2007. 33 Vgl. Ricardo Blaug, How Power Corrupts. Cognition and Democracy in Organisations. Basingstoke 2010, 11. 34 Lisa Miller, The Money-Empathy Gap. New York Magazine July 1, 2012. 35 Aristoteles, Metaphysik V 12  ; Hannah Fenichel (Pitkin) fand die folgende Formulierung  : »Power is related etymologically to the French word pouvoir and the Latin potere, both of which mean to be able. That suggests that power is a something — anything — which makes or renders somebody able to do, capable of doing something. Power is capacity, potential, ability, or wherewithal« (H. Fenichel, Wittgenstein and Justice  : On the Significance of Ludwig Wittgenstein for Social and Political Thought. Berkeley, CA 1972, 276). 36 Vgl. Arnold M. Ludwig, King of the Mountain. The Nature of Political Leader­ ship. Lexington 2002 – siehe zu den Ergebnissen Fußnote 97. 37 Dazu vgl. Andreas K. Gruber, Der Weg nach ganz oben. Karriereverläufe deutscher Spitzenpolitiker. Wiesbaden 2009, 97 ff. 38 Dietrich Herzog, Der moderne Berufspolitiker. Karrierebedingungen und Funktion in westlichen Demokratien, in  : Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. v. d. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg (Kohlhammer Taschenbücher 1091). Stuttgart-Berlin-Köln 1990, 28–51, hier 35. 39 Vgl. ebd., 40 f. 40 Vgl. Gruber, Der Weg nach ganz oben, 255. 41 Vgl. ebd., 244–248. 42 Herzog, Der moderne Berufspolitiker, 36. 43 Vgl. Gruber, Der Weg nach ganz oben, 248 ff. 44 Vgl. dazu Seifert, Sprungbretter zur Macht, 205 ff.

– 167 –

Anmerkungen 45 Vgl. dazu ebd., 204 ff. 46 Ebd., 11. 47 Vgl. dazu ebd., 205 und passim. 48 Vgl. dazu ebd., bes. 13–19. 49 Vgl. darüber ebd., bes. 32 f. 50 Vgl. ebd., bes. 50 f. u. 87–91. 51 Ebd., 87. 52 Für einige österreichische Politkarrieren vgl. ebd., 87 ff. 53 Exemplarisch zu diesem politischen Schicksal vgl. ebd., 56. 54 Vgl. dazu Jürgen Hartmann, Persönlichkeit und Politik, Wiesbaden 2007, 298 f. 55 Herzog, Der moderne Berufspolitiker, 38. 56 Vgl. ebd., 38 ff. 57 Ludwig, King of the Mountain, 335. 58 Vgl. ebd., 335 f. 59 Vgl. ebd., 266. 60 Vgl. ebd., 221–271 u. 453. 61 Zur entsprechenden Methodik vgl. ebd., 222–226. 62 Vgl. ebd., 453. 63 Vgl. ebd., 226. 64 Vgl. ebd., 234 f. 65 Vgl. ebd., 257 u. 265 f. 66 John Emerich Edward Dalberg-Acton, Historical Essays & Studies, hrsg. v. John Neville Figgis/Reginald Vere Laurence. London 1907, 504. 67 Vgl. Blaug, How Power Corrupts, 11. 68 Vgl. ebd., 12 f. 69 Vgl. Arbinger Institute, Leadership and Selfdeception. San Francisco 2000. 70 Joschka Fischer, zit. n. Rudolf Augstein, Unmündige Grüne, in  : Der Spiegel 54 (2000), H. 7, 24. 71 Vgl. Arnold M. Ludwig, King of the Mountain. The Nature of Political Leadership. Lexington 2002, 268. 72 Für psychologische Beispiele zu diesen Zusammenhängen vgl. ebd., bes. 266. 73 Ludgera Vogt, Zur Logik der Ehre in der Gegenwartsgesellschaft. Frankfurt/ Main 1997  ; dies., Die Modernität der Ehre. Ethik und Sozialwissenschaften 3 (1999), 335–345. 74 Chris Argyris, Teaching Smart People How to Learn. Harvard Business Review Classics. Cambridge, Mass. 2008. Argyris analysiert ein »learning dilemma«  : Menschen in Führungspositionen sollten am meisten lernen, haben aber kaum die Chance, aus Fehlern zu lernen, weil sie nicht in Umgebungen operieren, in denen eine Fehlerkultur entsprechend etabliert ist. Strategien zur Lernvermeidung inkludieren die Maximen »to maximize ›winning‹ and to minimize ›losing‹«  ; da-

– 168 –

Anmerkungen durch soll ein Sinn für Verwundbarkeit reduziert und die Kontrolle über Situationen, in die man sich begibt, gesteigert werden. Dies führt zu einer Kultur der Selbsttäuschung, in der bestimmte Schwächen gezüchtet werden  : »As a result, many professionals have extremely ›brittle‹ personalities. When suddenly faced with a situation they cannot immediately handle, they tend to fall apart.« 75 Daniel Warnotte, Bureaucratie et fonctionnarisme. Revue de l’Institut de Sociologie 17 (1937), 245–260. 76 Jacqueline Novogratz, The Blue Sweater. Bridging the Gap between Rich and Poor in an interconnected world. New York 2009, 8. 77 Paul Costey, L’illusion chez Pierre Bourdieu. Traces 8 (2005), 13–27. 78 Scott Peck, People of the Lie. New York 1983. 79 W. v. Hippel/R. Trivers, The evolution and psychology of self-deception. Behavioral and Brain Sciences 34 (2011), 1–56  ; R. Trivers, Deceit and Self-Deception. New York 2011. 80 H. Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München 21987, 13. 81 Ebd., 78 f. 82 Ebd., 34. 83 Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, q. 161. 84 Clodovis Boff, Feet-on-the-Ground Theology  : A Brazilian Journey. Maryknoll, NY 2008. 85 A. Zamoyski, 1812. Napoleons Feldzug in Russland. München 8 2012  ; E. Kleßmann, Die Verlorenen. Die Soldaten in Napoleons Rußlandfeldzug. Berlin 2012. 86 A. Muhlstein, Der Brand von Moskau. Frankfurt/Main 2009, 86. 87 E. Kleßmann, Die Verlorenen. Die Soldaten in Napoleons Rußlandfeldzug. Berlin 2012, 60. 88 Muhlstein, Der Brand von Moskau, 36 f. 89 Yang Yisheng, Grabstein. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1959–1962  ; Frank Dikötter, Mao’s Great Famine. London 2010. 90 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen. Oxford 1967, 107. 91 Siehe z. B. Institut für Demoskopie, Allensbacher Berufsprestige-Skala 2013 (Allensbacher Kurzbericht (20. August 2013). Der Beruf des Politikers (geschätzt von 6 % der Bevölkerung) gehört zu den Schlusslichtern der Skala (hinter dem Politiker finden sich noch der Fernsehmoderator und der Banker). Dabei ist zu bemerken, dass das Berufsansehen des Politikers 1991 noch bei 14 % lag, dann abgesunken ist und sich seit 2005 konstant niedrig bei 6 % hält. Eine internationale Studie der Gesellschaft für Konsumforschung, GfK (Trust in Professions Studie 2013), die nach dem Vertrauen in bestimmte Berufsgruppen in 25 Ländern fragt, kommt auch im internationalen Vergleich zu ähnlichen Ergebnissen  : in fast allen untersuchten Ländern (22 von 25) ist das Vertrauen in Politiker Schlusslicht in der Rangliste, allerdings mit deutlicher Varianz, z. B.: 5 % in Spanien, 21 % in der

– 169 –

Anmerkungen Schweiz, 43 % in Indien (Item  : Vertraue ich voll und ganz/überwiegend). Es bestehen Unterschiede je nach politischer Funktion – so vertrauen in Deutschland die Bürgerinnen und Bürger den Kommunalpolitikern (Bürgemeisterinnen und Bürgermeister) deutlich mehr als anderen politischen Funktionsträgern. 92 So findet beispielsweise nur relativ wenig politikwissenschaftliche Forschung an den Begriffen »Authentizität« und »Gewissen« statt  – vgl. Thomas Noetzel, Authentizität als politisches Problem. Ein Beitrag zur Theoriegeschichte der Legitimation politischer Ordnung (Politische Ideen 9). Berlin 1999, 39  ; Christian Mönter, Das Gewissen in politischen Kontexten. Politik des Gewissens als politische Ethik (Beiträge zur Politikwissenschaft 13). München 2013, bes. 33 u. 265. In der politischen Ideengeschichte begegnet der Begriff der Glaubwürdigkeit eher als ein kulturkritisch gefärbtes Motiv, prononciert vorgetragen etwa in der durch Jean-Jacques Rousseau inspirierten Gedankenwelt (Noetzel, a. a. O., 65–76). Diese Nichtexistenz einer »Gewissenspolitologie« (Christian Mönter) ist wohl auch Ausdruck einer gewissen Skepsis in Bezug auf jene Fragen des ethisch gestalteten politischen Alltags, die dieses Buch interessieren. 93 Daniela Wentz, Authentizität als Darstellungsproblem in der Politik. Eine Untersuchung der Legitimation politischer Inszenierung. Stuttgart 2005, 62. 94 Charles Taylor hat in seinem Werk Ethics of Authenticity Glaubwürdigkeit als Signatur unserer Zeit charakterisiert und dabei Authentizität definiert als »be true to yourself«, sich selbst gegenüber wahrhaftig und aufrichtig sein, also »du selbst sein«. »Being true to oneself means being true to my own originality, and that is something only I can articulate and discover. In articulating it, I am also defining myself. I am realizing a potentiality that is properly my own. This is the background understanding to the modern ideal of authenticity, and to the goals of self-fulfilment or self-realization in which it is usually coached« (Ch. Taylor, The Ethics of Authenticity. Cambridge, Mass. 1991, 29). 95 Brandom hat diese Dynamik der nachwirkenden Selbstverpflichtung mit dem Begriff der »discursive commitments« ausgedrückt – die derart strukturiert sind, dass mich jede Aussage, die ich treffe, auf weitere sprachliche Handlungen festlegt – Vgl. R. Brandom, Making It Explicit. Cambridge, Mass. 1994. 96 H. Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik. Zwei Essays. München 21987, 7. 97 Die Krise betraf das Vertrauen der US-Bürgerinnen und Bürger in die Politik ebenso wie das Vertrauen der Armee in die politische Führung  ; verloren ging vor allem der Konsens über die Grundlage der Zuerkennung von Ehre  – vgl. L. Berman, No Honor  : Nixon, Kissinger, and Betrayal in Vietnam. New York 2001  ; M. Ryan, The Other Side of Grief  : The Home Front and the Aftermath in American Narratives of the Vietnam. The University of Massachusetts Press, 2008.

– 170 –

Anmerkungen   98 Diese Überlegungen sind freilich cum grano salis zu nehmen  : Wir finden auch Studien über den Zusammenhang von Persönlichkeitsprofil und politischer Leistungsfähigkeit – siehe Jo Silvester et al., Politican Personality, Machiavellianism, and political skill as predictors of performance ratings in political roles. Journal of Occupational and Organizational Psychology 87 (2014) 258–279. Inter­ essant mag in diesem Zusammenhang auch Ludwigs bereits erwähnte Studie King of the Mountain sein – benannt nach dem verbreiteten Kinderspiel, bei dem es darum geht, eine erhöht liegende Position gegenüber seinen Spielkameraden zu behaupten –, in der Ludwig versucht, auf Basis dieser Einsichten eine »Political Greatness Scale (PGS)« zu erstellen, die es erlauben soll, erfolgreiche politische Führung empirisch greif bar zu machen (274–315). Schon ein flüchtiger Blick genügt, um uns zu verdeutlichen, was es mit dieser ominösen Liste auf sich hat  : Sie enthält nur Gründer, Eroberer oder sprichwörtliche Macher, kurz gesagt Siegertypen. Sein methodisches Vorgehen sei hier nur in aller Kürze skizziert  : Ausgehend von einer Profilsammlung legendär gewordener Politiker der Vergangenheit wird eine Reihe von Indikatoren gewonnen, die politischen Erfolg bzw. staatsmännische Statur zuverlässig messbar machen sollen. Die entsprechenden Werte werden dann jeweils durch mehrere voneinander unabhängig arbeitende Messer für 377 ausgewählte Staatsoberhäupter des 20. Jahrhunderts erhoben, wodurch ein politisches Führungsranking entsteht. Ein näheres Studium dieser Rangliste (die übrigens von Atatürk, Mao Zedong und Franklin D. Roosevelt angeführt wird), verrät schließlich in Zusammenschau mit den Informationen über die so in eine Rangliste gebrachten Personen, welche Charaktereigenschaften es statistisch gesehen sind, die quasi zur Führungspersönlichkeit prädestinieren. Ludwig behandelt sie unter dem Titel »The Seven Pillars of Political Greatness«  : Diese wären demnach (i) ein dominantes Auftreten in Verbindung mit organisatorischem Talent, (ii) eine gewisse Widerborstigkeit bzw. Neigung zum Auf begehren, (iii)  eine charismatische Erscheinung bzw. geheimnisvolle Ausstrahlung, (iv)  die Fähigkeit und auch Bereitschaft, große Veränderungen herbeizuführen, (v)  ein beträchtliches Ausmaß an Eitelkeit und Sendungsbewusstsein, (vi)  ausreichend Mut bzw. Risikobereitschaft und schließlich (vii) eine gewissermaßen ruhelose Psyche.   99 Arendt, Wahrheit und Lüge in der Politik, 56. 100 Ebd., 61. 101 Ebd., 12. 102 B. Russell, Knowledge by Acquaintance and Knowledge by Description. In  : R. Egner/L. Denonn, eds., The Basic Writings of Bertrand Russell. London 1992, 217–224. 103 »In my experience, people who work for social justice, regardless of their own station in life, tend to see the world as deeply flawed« (Paul Farmer, Health,

– 171 –

Anmerkungen Healing and Social Justice. In  : D. Groody/G. Gutierrez, eds., The Preferential Option for the Poor Beyond Theology. Notre Dame, IN 2013, 199–228, hier 219). 104 Abram de Swaan kommt nach einem komparativen Forschungsprojekt über Elitewahrnehmungen von Armut zum Schluss  : »The elites experience the presence of the poor as mostly irrelevant, neither much of a threat nor much of an opportunity, they will tend to be indifferent toward the fate of these masses« (A. de Swaan, Elite perceptions of the poor  : In  : E. P. Reis/M. Moore, eds., Elite Perceptions of Poverty and Inequality. London 2005, 182–194, hier 184). Durch diese Wahrnehmung kann sich der Status quo verfestigen  ; die Gefahr, dass hier »Gleichgültigkeit« und ein Fehlen inneren Engagements am Werk sind, ist nicht von der Hand zu weisen. 105 Vgl. zu solchen Fragen als anschauliches Beispiel eine Studie aus der Schweiz  : C. Maeder/E. Nadai, Zwischen Armutsverwaltung und Sozialarbeit. Formen der Organisation von Sozialhilfe in der Schweiz. In  : Schweizerische Zeitschrift für Soziologie 30,1 (2004), 59–76. 106 Regenia Rawlson, A Mind Shaped By Poverty. Bloomigton, IN 2011. 107 Vgl. Benjamin I. Page et al., Democracy and the Policy Preferences of Wealthy Americans. Perspectives on Politics 11,1 (2013), 51–73  ; Martin Gilens/Benjamin Page, Testing Theories of American Politics  : Elites, Interest Groups, and Average Citizens. Perspectives on Politics 12,3 (2014), 564–581. Beide Publikationen zeigen, dass die ökonomischen Eliten einen massiven Einfluss haben und wirtschaftlich klar konservativ positioniert sind. 108 Michael Hartmann, Macht und Eliten in Europa. Frankfurt/Main 2007. 109 Die soziale Herkunft hat starke Auswirkungen auf politische Positionen  : je exklusiver und homogener eine politische Elite, desto größer die Schere zwischen Arm und Reich. Eine weitere Studie von Hartmann für Deutschland von 2012 zeigt auf, dass die Einstellungen der deutschen (politischen, wirtschaftlichen  …) Eliten sich stark vom »Median Voter« unterscheiden  : Sie empfinden die Verhältnisse als gerechter, sind stärker gegen Steuererhöhungen und für weitere Deregulierungen und Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt als der Durchschnittswähler. (Michael Hartmann, Soziale Ungleichheit  : Kein Thema für die Eliten  ? Frankfurt/Main 2012). 110 Vgl. Paula Rothenberg, Invisible Privilege. A memoir about race, class and gender. Kansas City 2000. 111 Jacob M. Grumbach, Does the American Dream Matter for Members of Congress  ? Political Research Quarterly 68,2 (2015), 306–323. 112 Genauer  : Der »interpersonal test« bezieht Sprecher- und Hörerrollen in eine Argumentation ein und stellt die Frage, »whether the argument could serve as a justification of a mooted policy when uttered by any member of society to any

– 172 –

Anmerkungen other member« (G. Cohen, Rescuing Justice and Equality. Cambridge, Mass. 2008, 42). 113 Milan Kundera, Das Fest der Bedeutungslosigkeit. Regensburg 2015, 137. 114 Tobias Kahler, Der echte Schein. Vom identitätsorientierten Marketingansatz zur Inszenierung von Authentizität, in  : Politisches Marketing. Eine Einführung in das Politische Marketing mit aktuellen Bezügen aus Wissenschaft und Praxis, hrsg. v. Markus Karp/Udo Zolleis (Politik  – Kommunikation  – Management 1/Public Affairs und Politikmanagement 5). Münster 2004, 184–200, hier 186. 115 Vgl. Jürgen Leinemann, Höhenrausch – Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker. München 2005. 116 Vgl. Joshua Meyrowitz, Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim-Basel 1987, 182  f.; siehe auch Daniela Wentz, Authentizität als Darstellungsproblem in der Politik. Eine Untersuchung der Legitimation politischer Inszenierung. Stuttgart 2005, 64 f. 117 Vgl. Karin Liebhart, Das Private ist politisch werbewirksam. Zur Imagekon­ s­truktion österreichischer und deutscher Spitzenpolitikerinnen und -politiker, in  : Politik und Persönlichkeit, hrsg. v. Johannes Pollak/Fritz Sager/Ulrich Sarcinelli/Annette Zimmer. Wien 2008, 101–120, hier 101 ff. 118 Tobias Kahler, Vom identitätsorientierten Marketingansatz zur Inszenierung von Authentizität, in  : Politisches Marketing. Eine Einführung in das Politische Marketing mit aktuellen Bezügen aus Wissenschaft und Praxis, hrsg. v. Markus Karp/Udo Zolleis (Politik – Kommunikation – Management 1/Public Affairs und Politikmanagement 5). Münster 2004, 184–200, hier 193. 119 Meyrowitz, Die Fernseh-Gesellschaft, 191. 120 Vgl. ebd., bes. 181 f. 121 Kahler, Der echte Schein, 192. 122 Ebd., 194. 123 Vgl. F. Marcinkowski/B. Pfetsch, Politik in der Mediendemokratie. Wiesbaden 2009. 124 Fritz Plasser (Hg.), Erfolgreich wahlkämpfen. Massenmedien und Wahlkämpfe in Österreich. Wien 2012. 125 Jean Baudrillard, Die Telekratie, in  : Kultur und Technik im 21.  Jahrhundert, hrsg. v. Gert Kaiser/Dirk Matejovski/Jutta Fedrowitz (Schriftenreihe des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen 1). Frankfurt/Main-New York 1993, 255–265. 126 Susan Cain, Still. Die Bedeutung von Introvertierten in einer lauten Welt. München 2011. 127 Vgl. Meyerowitz, Die Fernseh-Gesellschaft, 189. 128 Ebd.

– 173 –

Anmerkungen 129 Vgl. Diego A. von Vacano, The Art of Power. Machiavelli, Nietzsche, and the Making of Aesthetic Political Theory. Lanham u. a. 2007, 61–64. 130 Vgl. ebd., 1 f. 131 Niccolò Machiavelli, Der Fürst (insel taschenbuch 4011). Berlin 2011, Kap. XVIII, 88. 132 Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 1962. 133 Jürgen Habermas, Public Space and Political Public Sphere – The Biographical Roots of Two Motifs in My Thought. Commemorative Lecture. Kyoto 2004. 134 Liebhart, Das Private ist politisch werbewirksam (siehe Endnote 117). 135 Vgl. ebd., 113–116. 136 Tina Rohowski, Das Private in der Politik. Politiker-Homestories in der deutschen Unterhaltungspresse. Wiesbaden 2009, 29. 137 Vgl. Charlotte Fritz, Embracing Work Breaks  : Recovering from Work Stress. Organizational Dynamics 42 (2013), 274–280  ; Quintus R. Jett/Jennifer M. George, Work Interrupted  : A Closer Look at the Role of Interruptions in Organizational Life. Academy of Management Review 28,3 (2003), 494–507. 138 Bronnie Ware, Fünf Dinge, die Sterbende am meisten bereuen. München 2013. 139 Vgl. darüber Judith Ziegler, Zwischen Karriere und Familie. Eine Untersuchung über österreichische Führungskräfte (Dissertationen der Universität Wien 90), Wien 2002. 140 Auch in der wissenschaftlichen Arbeit findet man Motiv und Realität von »Familienverzicht« – in einem viel gelesenen »Ratgeber« für junge Wissenschaftler sprach sich Santiago Ramón y Cajal, Medizinnobelpreisträger von 1906, für ein Familienleben aus, das dem Forschenden den Rücken freihalten und die Alltagskümmereien abnehmen würde – Santiago Ramón y Cajal, Advice for a Young Investigator. Cambridge, Mass. 1999. 141 Vgl. Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. München 1990, 487–496. 142 Vgl. ebd., bes. 28 u. 488. 143 Vgl. Anne Feldkamp, Welche Politiker und Politikerinnen sich gut anziehen, Der Standard, Onlineausgabe, 30.1.2015. 144 Michael Roberto, Why Great Leaders Do not Take Yes for an Answer. Prentice Hall, NY 2005. 145 Cicero, De officiis  ; Avishai Margalit, Politik und Würde. Frankfurt/Main 1998. 146 Vgl. Jonathan Glover, Humanity. A Moral History of the Twentieth Century. London 1999. 147 Das Fundament der politische Ordnung ist nach dem klassischen Verständnis von Thomas von Aquin der Blick auf das Bonum commune  : »Socialis vita multorum esse non posset nisi aliquis praesideret qui ad bonum commune in-

– 174 –

Anmerkungen tenderet« (STh I 96, 4). So gesehen können Ethik und Politik nicht voneinander getrennt werden. Ethik und Politik sind zwei Aspekte des Menschen  ; Leben im gesellschaftlichen Verband als Grundvoraussetzung dafür, dass Mensch sich entfalten kann. Die Grundaufgabe des Politischen ist nicht die Sicherung der materiellen Lebensbedingungen (auch wenn dies Teil des Aufgabenportfolios ist), sondern eine eminent ethische Aufgabe  : »Das eigentliche Ziel des politischen Lebens in der Sicht Thomas von Aquins wie bei den Griechen, ist die geistige und sittliche Vervollkommnung des Menschen« (F. M. Schmölz, Zerstörung und Rekonstruktion der politischen Ethik. München 1963, 89). 148 Vgl. Wolfgang Fach, Politische Ethik. Wiesbaden 2003, 58–62. 149 Vgl. ebd., 61 f. 150 Vgl. darüber ebd., 60. 151 Sascha Adamek, Die Machtmaschine. Sex, Lügen und Politik. München 2013, 24. 152 Vgl. ebd., 17 f. 153 Vgl. ebd., 20. 154 Dag Hammarskjöld, Zeichen am Weg. Das spirituelle Tagebuch des UN-Generalsekretärs. Überarbeitete Neuausgabe mit einem Vorwort von Manuel Fröhlich. München 2005, 86. 155 Vgl. C. Sedmak, Gewissen als Herzensklugheit. In  : V. Prüller-Jagenteufel/G. Nuhsbaumer (Hg.), Gewissen. Freiheit und Verantwortung in Zeiten von Krise und Beliebigkeit. Wien 2009, 12–25. 156 J. Butler, Five Sermons. New York 1950, 82. 157 Hammarskjöld, Zeichen am Weg, 120. 158 A. Margalit, Kompromisse und faule Kompromisse. Berlin 2011. 159 Harald Weinrich, Ehrensache Höflichkeit. Augsburger Universitätsreden 29. Augsburg 1995. 160 Baltasar Gracian, Handorakel und Kunst der Weltklugheit. Stuttgart 2013. 161 Ebd., 34, 89, 161. 162 Ebd, 17, 270. 163 Ebd., 5, 70, 105, 216. 164 Ebd., 15. 165 Ebd., 33, 110. Man solle nicht warten, bis man zur untergehenden Sonne wird. 166 Ebd., 292. 167 David Runciman, Political Hypocrisy. The Mask of Power, from Hobbes to Orwell and Beyond. Princeton 2009. 168 Judith Shklar, Ordinary vices, Cambridge, MA 1984. 169 N. Machiavelli, Discorsi. Gedanken über Politik und Staatsführung. Stuttgart 1977, Abschnitt 1,3. 170 Ebd., 1,26.

– 175 –

Anmerkungen 171 Ebd., 1,51. 172 Ebd., 2,14. 173 Ebd., 2,13. 174 Emmanuel Richter, Was ist politische Kompetenz  ? Hamburg 2011. 175 Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II, q. 47–55. 176 V. Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben. Reinbek bei Hamburg 1990, 16. 177 Ebd., 29. 178 Ebd., 28. 179 In seiner Dankrede zur Verleihung der Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität in Jerusalem am 26.  April 1990 hat sich Havel mit Franz Kaf ka beschäftigt, dessen grundlegende Intuitionen er gut nachvollziehen könne – V. Havel, Angst vor der Freiheit. Reinbek 1991, 52 ff. Hier werden die Themen der Absurdität und Nichtzugehörigkeit und Sinnleere thematisiert. 180 Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, 34. 181 Ebd., 72. 182 Ebd., 83  ; vgl. V. Havel, Am Anfang war das Wort. Reinbek 1990, 84 ff. 183 Havel, Am Anfang war das Wort, 113. 184 Havel, Versuch, in der Wahrheit zu leben, 73  ; vgl. V. Havel, Briefe an Olga. Reinbek 1990, 205. 185 Havel, Briefe an Olga, 92. 186 Ebd., 94. 187 Ebd., 225  ff.; V. Havel. Moral in Zeiten der Globalisierung. Reinbek 1998, 172 ff. bzw. 222 ff. (Lernen aus Lidice). 188 V. Havel, Sommermeditationen. Reinbek 1992, 102 ff. Dieses Kapitel (»Wovon ich träume«) ist ein bemerkenswertes Zeugnis eines Politikers, der sich Gedanken über die Richtung macht, in die die Entwicklung des Gemeinwesens mittel- und langfristig gehen sollte. 189 V. Havel. Angst vor der Freiheit, 58 ff. Hier bricht eine Erweiterung des Horizonts in das tagespolitische Geschehen ein  : Havel erwähnt das Buch »Träumen von Europa«, das Dienstbier als Heizer geschrieben hatte  : »Das Träumen des Heizers wandelte sich zur alltäglichen Arbeit des Außenministers« (60). 190 Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, 211 f. 191 Havel, Am Anfang war das Wort, 109. 192 Havel, Sommermeditationen, 27. 193 V. Havel, Fassen Sie sich bitte kurz. Reinbek 2007, 359. 194 Havel, Moral in Zeiten der Globalisierung, 51 ff. bzw. 89 ff. 195 Agnes Heller, Das Alltagsleben. Frankfurt/Main 1978. 196 Deike Böning, Gesundheitsvorstellungen, -risiken und -verhalten von Berufspolitikern – Eine empirische Analyse, Dissertation, Georg-August-Universität Göttingen 2014.

– 176 –

Anmerkungen 197 Interessanterweise kann auch politischer Erfolg ein Risikofaktor sein, so scheint es jedenfalls  : McCann konnte belegen, dass Gouverneure in den USA, die in jungem Alter gewählt werden, häufiger vorzeitig sterben (S.  J.  H. McCann, Younger achievement age predicts shorter life for governors  : Testing the precocity-longevity hypothesis with artifact controls. Personality and Social Psychology Bulletin 29,2 [2003], 164–169). Früher politischer Erfolg kann also gefährlich sein.

– 177 –

CLEMENS SEDMAK

ARMUTSBEKÄMPFUNG EINE GRUNDLEGUNG

Armut verhindert gutes Leben und gutes Zusammenleben. Armut rührt an tiefste Schichten menschlicher Identität. Wie kann Armutsbekämpfung gelingen? Um diese Frage zu beantworten, ist es erforderlich, einen Begriff von Armut, eine Gerechtigkeitstheorie (warum ist Armut ein Übel, das bekämpft werden muss?) und Umsetzungsstrategien zu entwickeln. Eben dies möchte das vorliegende Buch leisten. Anhand von guten Beispielen und best practices wird der Horizont der Armutsbekämpfung erschlossen. Dabei wird die These vertreten, dass Armutsbekämpfung nicht ohne die Bereitschaft zum Privilegienabbau erfolgen kann. Es ist nicht nur die Frage „Warum bist du arm?“ zu stellen, sondern auch die Frage „Warum lebst du im Wohlstand?“. Armutsforschung und Wohlstandsforschung sind miteinander zu verbinden. 2013. 370 S. GB. 155 X 235 MM | ISBN 978-3-205-79468-4

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ANGELA KALLHOFF

POLITISCHE PHILOSOPHIE DES BÜRGERS

Der Bürger wird in der politischen Philosophie als Träger von Rechten und Pflichten diskutiert. Angela Kallhoff führt in diesem Buch klassische Positionen zum Bürgerstatus und aktuelle Debatten zusammen. Ziel ist eine Deutung all jener Elemente des Bürgers, die ihm ein einzigartiges Profi l verleihen. Neben Freiheitsrechten und Gleichheitsansprüchen stehen auch zur Diskussion die Teilhabechancen an der Wirtschaft (Wirtschaftsbürger), die Befähigung zur aktiven Bürgerrolle dank Bildung, Zugehörigkeitskulturen wie zivilgesellschaftliches Engagement und alte und neue Formen des Patriotismus. Schließlich werden Forderungen des Feminismus nach einer expliziten Berücksichtigung der Frau als Bürgerin erörtert und der „Umweltbürger“ diskutiert. Insgesamt ergibt sich ein differenziertes Bild von Teilhabeforderungen und Pflichten sowohl des Bürgers als auch des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. 2013. 230 S. GB. 135 X 210 MM. | ISBN 978-3-205-78916-1

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar