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German Pages 200 [209] Year 2016
SKUL
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Severin J. Lederhilger (Hg.)
»Es muss sich etwas ändern« Zeit der Reformen – Anstöße der Reformation
SCHRIFTEN DER KATHOLISCHEN PRIVATUNIVERSITÄT LINZ VERLAG FRIEDRICH PUSTET
SKUL Schriften der Katholischen Privat‐Universität Linz Herausgegeben von Stephan Grotz, Franz Gruber und Severin Lederhilger Band 3
Severin J. Lederhilger (Hg.)
„Es muss sich etwas ändern“ Zeit der Reformen – Anstöße der Reformation
18. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2016
Verlag Friedrich Pustet Regensburg
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bischöflichen Fonds zur Förderung der Katholischen Privat‐Universität Linz und des Prämonstratenser‐Chorherrenstiftes Schlägl Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. eISBN 978‐3‐7917‐7144‐1 (pdf) © 2017 Verlag Friedrich Pustet, Regensburg Umschlag: Martin Veicht, Regensburg eBook‐Produktion: Friedrich Pustet, Regensburg Diese Publikation ist auch als Printprodukt erhältlich: ISBN 978‐3‐7917‐2880‐3 Weitere Titel aus unserem Verlagsprogramm finden Sie unter www.verlag‐pustet.de.
Inhaltsverzeichnis
Severin J. Lederhilger Vorwort ........................................................................................................... 7 Manfred Scheuer Es muss sich etwas ändern?! Ein paränetisches Grußwort ........................................................................... 17 Kurt Kardinal Koch Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche ................................................................................ 25 Michael Bünker Die Reformation und die Einheit der Kirche ................................................ 53 Athina Lexutt Die Reformation – Segen oder Fluch? Eine protestantische Perspektive ................................................................... 65 Klaus Unterburger „Wunder von Trient“ oder päpstlich-kurialer Betrug? Katholische Reformationen im 16. Jahrhundert ............................................ 83 Ulrich H. J. Körtner Das Evangelium der Freiheit Reformatorische Theologie für das 21. Jahrhundert ................................... 107 Gerold Lehner Reformation: Erneuerung aus dem Ursprung Wahrnehmungen bezüglich eines kirchlichen Zentralbegriffes .................. 127 Manfred Prisching Theorie der Reform Vierzehn Thesen über die Veränderbarkeit der Welt .................................. 149
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Inhaltsverzeichnis
Franz Gruber „Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung“ Papst Franziskusʼ Reform der Kirche aus Freude am Evangelium ............. 181 Dokumentation: Gemeinsame Erklärung zum gemeinsamen katholisch-lutherischen Reformationsgedenken (Lund, 31. Oktober 2016) ....................................... 201 Biographische Hinweise zu den Autorinnen und Autoren .................................................................. 205
Severin J. Lederhilger
Vorwort
„Reform um der Reform willen?“ fragt Konrad Paul Liessmann im Rahmen der „Aufbruch“-Initiative einiger österreichischer Zeitungen, die 2016 „ein – zuversichtliches – Zeichen für eine Aufbruchsstimmung“ im Land setzen wollten,1 indem sie 66 Personen des öffentlichen Lebens eingeladen haben, wider ein „müde“ gewordenes Österreich einen Appell zur Veränderung an Politik und Entscheidungsträger zu richten. „In seiner ursprünglichen Bedeutung hieß Reform einmal, etwas in seine ursprüngliche Funktion zu bringen, sich auf das Wesentliche zu besinnen, ein nicht mehr funktionierendes System zu verbessern. Was wir heute unter Reform kennen, ist meist weder Wiederherstellung noch Verbesserung. Sondern die Veränderung um der Veränderung willen“ – diagnostiziert der Essayist, Kulturpublizist und Professor für Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik.2 „Es muss sich etwas ändern“ als thematische Vorgabe für die 18. Ökumenische Sommerakademie im Kontext von Reform – Reformation – Revolution trifft offenbar einen wunden Punkt des aktuellen gesellschaftspolitischen Diskurses. Doch der Ruf nach Veränderung steht zugleich einem Gefühl lähmenden Stillstands gegenüber. Der Salzburger Theologe und Sozialphilosoph Clemens Sedmak, der auch am Londoner Kings College lehrt, verweist in seinen Überlegungen zunächst auf John Locke, wonach die Freiheit des Menschen gerade darin besteht, stehen zu bleiben und über den nächsten Schritt nachzudenken. „Freilich, nicht gemeint ist Stillstand aus Angst, Verwirrung oder Trägheit. Dies hat weniger mit Freiheit als mit selbst auferlegter Einschränkung zu tun. Oder auch mit selbst verschuldeter Unmündigkeit“, erläutert er, um dann zu fragen: „Stillstand in Österreich? Ich sehe die Angst vor Veränderung […] Vor allem aber gibt es eine Bequemlichkeit – ein Leugnen des Handlungsdrucks wie die Illusion, in 1 2
Vgl. die Beilage Aufbruch, in: Die Presse vom 13.2.2016, hier: Intern (redaktionelles Vorwort), S. II. KONRAD PAUL LIESSMANN, #49: Reformen?, in: Beilage Aufbruch (Anm. 1), S. IX.
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den Komfortzonen bleiben zu können. […] Papst Franziskus spricht [etwa] von einer oberflächlichen Umweltpolitik, die von ‚Schläfrigkeit und leichtfertiger Verantwortungslosigkeit‘ geprägt sei. Kann man es anders nennen, wenn längst fällige Reformen nicht durchgeführt und Wahrheiten […] nicht zur Kenntnis genommen werden? Selbstgefälligkeit und fröhlicher Leichtsinn. Was tun? Wie aus dem Stillstand herauskommen? Wenn nicht durch böses Erwachen – durch Ernüchterung, Zielsicherheit und Anstoß“.3 Selbst wenn sich nicht immer sagen lässt, dass man aus der Geschichte lernen kann, weil sie sich nicht so einfach wiederholt,4 ergeben sich doch wichtige Impulse für die Reflexion derzeitiger Herausforderungen. Dies gilt nicht zuletzt für das Gedenk- und Jubiläumsjahr 500 Jahre Reformation 2017. Dabei wird die Veröffentlichung der 95 Ablass-Thesen von Martin Luther im Jahre 1517 zwar als historischer Ausgangspunkt genommen, doch die Reformation keineswegs bloß als punktuelles Ereignis verstanden, sondern als differenziert zu beurteilender Entwicklungsprozess mit Licht- und Schattenseiten für Kirche/n und Staat. Der unvoreingenommene Blick zurück zeigt, dass es damals schon verschiedentlich den Ruf nach sozialen, kirchlichen und religiösen Reformen gab, der institutionell leider viel zu wenig wahrgenommen oder aber bewusst ignoriert wurde. „Die Reformation war […] der Gipfelpunkt einer ‚Epoche der Reformen‘ (Jean Delumeau), die vom späten Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert hinein Religion und Kirche und mit ihnen Staat und Gesellschaft umpflügte“, wie Heinz Schilling treffend feststellt.5 Deshalb sind die unterschiedlichen kirchlichen Reform- und Reformations-Bewegungen sowie deren theologische Grundlagen und Entfaltungen näher zu beleuchten, um sie auf ihre mögliche Relevanz für die Gegenwart zu prüfen.
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CLEMENS SEDMAK, #61: Wie wäre es mit einer Zukunftskonferenz?, in: Beilage Aufbruch (Anm. 1), S. XI. – Er zitiert: FRANZISKUS, Enzyklika Laudato si über die Sorge für das gemeinsame Haus, vom 25.5.2015, Nr. 59 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 202, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2015, S. 45). Vgl. KONRAD PAUL LIESSMANN (am 15.6.2016 im Gespräch mit Muamer Becirovic) in: https://kopfumkrone.at/kultur/liessmann-ich-glaube-nicht-dass-man-aus-der -geschichte-lernen-kann. HEINZ SCHILLING, Umwälzungen aus dem Geist des Evangeliums. Die Ursprünge und Weltwirkungen der Reformation, in: Rotary Magazin 6/2014, S. 33–37, hier: S. 35 (https://rotary.de/gesellschaft/umwaelzung-aus-dem-geist-des-evangeliums-a5379.html); vgl. DERS., Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München 2012.
Vorwort
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Konkretisieren konnte die Ambivalenz der Ereignisse Abt Ambros Ebhart vom gastgebenden Stift Kremsmünster in seinem Grußwort mit einem kurzen Einblick in die Situation des Klosters und seiner Pfarren zur Zeit der Reformation und Gegenreformation. Bereits 1526 war in der Nähe ein lutherischer Prediger aufgetreten, vor allem aber fand von den Herrschaftssitzen der Adeligen aus die protestantische Bewegung rasch Zulauf. Sie machte selbst vor dem Kloster nicht Halt, sodass die Zahl der Mönche auf ein Minimum herabsank bis Ende des 16. / Anfang des 17. Jahrhunderts die Rekatholisierung erfolgte. Manches Anliegen der Reformation blieb jedoch nicht nur für die Stiftsgemeinschaft aktuell, sondern wurde zum Impuls für Kirche und Gesellschaft insgesamt. Rektor Franz Gruber von der Katholischen Privat-Universität Linz wies in seinem einleitenden Statement darauf hin, dass es – nach einem Zitat Lenins – Jahrzehnte gebe, in denen nichts geschieht, und Wochen, in denen Jahrzehnte geschehen. Die Dramatik und Bedeutung von Revolutionen wird damit auf den Punkt gebracht und lässt sich auch auf die Ereignisse der Reformation anwenden: In kurzer Zeit wurde eine gesellschaftliche Dynamik freigesetzt, die im Nachhinein nur mehr als außergewöhnliche historische Zäsur wahrgenommen werden kann. Luthers Thesen haben eine solche Entwicklung in Europa ausgelöst, die bis heute als wichtige Grundlage die Gesellschaft, das Selbstverständnis von Menschen und ihre Religiosität prägt: „Selbst nach 500 Jahren sind die Anliegen und Impulse der Reformation im Grunde so aktuell wie damals. Was ist für den Menschen das Heil und wo sucht er es zu finden? Welche Rolle spielen Glaube und Handeln, Gnade und Schuld? Worin besteht die Freiheit des Menschen? Wie verhalten sich Staat und Kirche zueinander, Individuum und Gemeinschaft? Wie viel Einheit und Verschiedenheit ist notwendig und möglich? Was heißt es heute, vom Gott der Gnade und Barmherzigkeit zu sprechen?“ Diese und andere Fragen sind zutiefst mit der Reformation verbunden, die Martin Luther ausgelöst hat. Diese kann dank der ökumenischen Entwicklungen des vergangenen Jahrhunderts jetzt auch in der katholischen Kirche als wichtiger Impulsgeber einer erneuerten Theologie verstanden und anerkannt werden, ist doch das II. Vatikanische Konzil – wie Gruber meint – „ein spätes, im Grunde viel zu spätes Echo auf Einsichten, die auf die Reformationszeit und den Reformator zurückgehen“. Dabei wurde in den letzten Jahrzehnten aber keine Formel so oft in den Mund genommen wie jene von der „Ecclesia semper reformanda“, von der ständig zu reformierenden Kirche, betonte Superintendent Gerold Lehner (Linz) in seinen Gedanken zur Eröffnung, die er in einem eigens für
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diesen Tagungsband erstellten Beitrag über die „Erneuerung aus dem Ursprung“ vertiefte. Der fordernde Ruf nach Veränderung sei in der zweitausendjährigen Geschichte der Kirche von unzähligen Menschen erhoben worden. Erneuerung entstehe aber nur dort, „wo Menschen diesen Ruf nicht primär als Forderung anderen gegenüber erhoben haben, sondern sich selbst einem Veränderungsprozess aussetzten“. Kirchliche Veränderung sind dabei stets ausgespannt in den größeren Zusammenhang des Woher und Wohin der Gemeinschaft. „Innovation in Gesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft hat in unserer Zeit oft den Beigeschmack des radikal Neuen. Des Neuen, das mit dem Vorhergehenden nicht mehr verbunden ist, sich von ihm absetzt, es überholt und außer Kraft setzt und sich allein schon damit legitimiert, dass es neu ist“. Ein derartiger Innovationsprozess enthält aber die Gefahr, sich revolutionär zu entwurzeln, Brücken abzubrechen und das Heil allein im Blick nach vorne zu sehen, ohne dass das Woher und Wohin des Ganzen erkennbar bleibt, was Verunsicherung hervorruft. Reformation fragt demgegenüber, „nach dem letzten Grund, nach der Gestalt und dem Wesen, das wir sind und an dem wir uns stets neu orientieren müssen, wenn wir in unserer Gegenwart so leben wollen, dass unser Leben für uns und andere ein Segen ist und kein Fluch.“ Daher hält Lehner schon im Grußwort fest: „Reformation ist Veränderung aus dem Bedenken des Ursprungs. Denn der Ursprung ist der Horizont der Zukunft.“ Während der Präsident des Päpstlichen Rates für die Förderung der Einheit der Christen, Kardinal Kurt Koch (Rom), die Reformation differenziert und zukunftsweisend in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche darlegt, zeichnet der Generalsekretär der Evangelischen Kirchen Europas, Bischof Michael Bünker (Wien), die zentralen Anliegen der Reformation für einen heutigen, couragierten Blick auf die Einheit der Kirche aus seiner Perspektive nach. Dazu überlegt Athina Lexutt (Gießen) mit ihren theologiegeschichtlichen Ausführungen, ob die Reformation als „Segen oder Fluch“ zu bewerten sei. Die meisten Wirkungen, welche die reformatorischen Bewegungen hervorbrachten, müssen allerdings als beides angesehen werden, je nach Standpunkt verschieden. Die Unterscheidung zwischen „den Reformationen“ (d. h. den unterschiedlichen reformatorischen Bewegungen) und „dem Reformatorischen“ (dem, was diese bei aller Verschiedenheit im Kern eint) kann aber eine Hilfe sein, die unmittelbaren und mittelbaren historischen Folgen sowie die theologischen Implikate zu differenzieren, um sich einer Antwort auf die Frage zu nähern, was denn derzeit – im Blick auf die Vergangenheit – von diesen Reformen er-
Vorwort
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neut angestoßen werden sollte und von diesem inhaltlichen Kern aus zu entfalten wäre. Der katholische Kirchenhistoriker Klaus Unterburger (Regensburg) widmet sich den pluriformen katholischen Reformansätzen des 16. Jahrhunderts, die das Trienter Konzil (1545–1563) aufgegriffen hat und die als „Wunder von Trient“ firmierten, dann aber von Papst und Kurie oft blockiert und verhindert wurden. Erst damit besitzt man den Schlüssel zur Deutung von Katholischer Reform und Gegenreformation, um das Weiterwirken von diesen Weichenstellungen bis ins 20. Jahrhundert hinein überhaupt begreifen zu können. Der Systematische Theologe Ulrich H. J. Körtner (Wien) wählte eine inhaltliche Annäherung, um unter dem Stichwort vom „Evangelium der Freiheit“ die reformatorische Theologie für das 21. Jahrhundert zu erschließen. Aus Sicht der katholischen Theologie werden große Erwartung an das derzeitige Pontifikat von Papst Franziskus herangetragen, der ja von einer „unaufschiebbaren“ Kirchenreform spricht. Dass dies in seinem Sinne gerade aus „Freude am Evangelium“ geschehen soll, zeigt Franz Gruber (Linz) in seinem Referat. Die wissenschaftliche Darstellung einer „Theorie der Reform“ durch den Soziologen Manfred Prisching (Graz) wurde bei der Tagung – ohne dass dies hier im Wortlaut festgehalten werden kann – sinnvoller Weise ergänzt durch eine engagierte Diskussionsrunde kritischer BeobachterInnen von Reformprozessen der Gegenwart, wie diese sich erfolgreich entwickeln oder aber auch scheitern können: Die Journalistin Anneliese Rohrer fragte dabei nach dem selbst zu verantwortenden Anteil jedes Einzelnen am Scheitern von gesellschaftlichen Reformen und dem gern angeprangerten politischen Stillstand. Schnell merkt man jedoch, dass der Ruf nach Veränderung sich hier in der Regel an andere richtet, während man bei eigenen Reformen mehr als zurückhaltend ist und zahlreiche Gründe für ein entsprechendes Nicht-Wollen findet. Wenn aber der politische und der persönliche Wille zur Veränderung fehlen, wird jede Reform scheitern! Die ORF-Korrespondentin in Rom Mathilde Schwabeneder bezog sich vor allem auf den Kampf gegen die Mafia. Bis in die 1970/80er Jahre wurde dieses Phänomen kaum benannt und allenfalls aus gesellschaftspolitischen Gründen von der Kirche in Sizilien sogar verteidigt. Erst als nach einer tödlichen Autobombe 1963 der Pastor der Waldenserkirche Pietro Valdo Panascia gegen das Morden auftrat und dabei auch den Einsatz der katholischen Kirche forderte, beorderte Papst Paul VI. einen Kommissar nach Palermo. Trotz der klaren Worte von Papst Johannes Paul II. brauchte es noch Jahre bis auch die sizilianischen Bischöfe einen Gesinnungswandel vollzogen. Es war der mutige Einsatz von Einzelpersonen, der zu staatli-
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chen Reformen führte, wie es schließlich auch Don Luigi Giotti gelang, ein Gesetz durchzusetzen, wodurch das beschlagnahmte Mafia-Vermögen nun sozialen Zwecken zugeführt werden kann. Johannes Jetschgo, Chefredakteur des ORF-Landesstudios Oberösterreich, widmete sich schließlich der bewegten und bewegenden Geschichte von der kommunistischen ČSSR zur Tschechischen Republik. Dabei skizzierte er die wichtigsten Reform-Faktoren des „Prager Frühlings“ 1968 und des Versuchs eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ unter Generalsekretär Alexander Dubček, benannte die Umstände von dessen gewaltsamer Niederschlagung durch die Intervention des Warschauer Paktes im August 1968, und erläuterte dann das Entstehen der subversiven Tätigkeit der Bürgerrechtsbewegung „Charta 77“ (1977–1992) gegen die staatliche Willkür, bis zur erfolgreichen „samtenen Revolution“ im Jahre 1989. Wie sind vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Reformprozesse oder politischer Revolutionen das kirchliche Ereignis und die historische Sozialform der Reformation als bleibender Anstoß für Theologie und Kirche mit Bezug auf die Herausforderungen der Gegenwart zu sehen? Martin Luther löste einen der wirkmächtigsten Reformprozesse der Geschichte aus, dessen „volle Wucht“ in drei großen Sonderausstellungen in Berlin, Wittenberg und Eisenach dokumentiert wird.6 „Dabei hatte die Reformation
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Vgl. Die volle Wucht der Reformation. Drei nationale Sonderausstellungen … von April bis November 2017: https://www.3xhammer.de. – Die Werbekampagne mit dem Symbol eines ‚Hammers‘ löste eine Kontroverse aus, in der sich die enge Verzahnung von Geschichtsforschung und Geschichtsgedächtnis mit dem gesellschaftlichen und kirchlichen Selbstverständnis zeigt. Aleida Assmann vermutet bei dieser Debatte, „dass es hier längst nicht mehr um den Thesenanschlag und auch nicht mehr um Luther, sondern um unser Selbstbild geht. Wir wollen uns als Deutsche nicht mehr in einem Luther spiegeln, der den Typus des heroischen, hammerschwingenden Tatmenschen verkörpert. Wir leben inzwischen in einem post-nationalen und post-heroischen Zeitalter, weshalb uns Luther als nationaler Heros im Kostüm des 19. Jahrhunderts nicht nur fremd, sondern auch unerträglich geworden ist. Wir haben das berechtigte Bedürfnis, diese Geschichte heute anders, moderater zu erzählen. Das ist die durchaus verständliche Haltung einer deutschen Nachkriegsgeneration. – Müssen wir also ganz auf den Hammer verzichten? Ich meine: nicht unbedingt, wenn wir ihn einmal anders und weniger männlich lesen. Dann steht er für die Gewalt der Erneuerung, die ausnahmsweise einmal nicht mit der Waffe, sondern mit einem einfachen Haushaltsgegenstand errungen wurde. Eines steht jedenfalls fest: Die Zensur der Bilder, das Verbot des Hammers ist kein gangbarer Weg. Ganz im Gegenteil können wir diesen Bildern nur dann einiges von ihrer Suggestivität nehmen, wenn wir uns nicht nur mit der Geschichte, sondern auch mit der Gedächtnisgeschichte der Reformation beschäftigen. Denn nicht, indem wir
Vorwort
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nicht in revolutionärer Geste, sondern in bedächtiger Sorge um das Wohl der Menschen eingesetzt. […] Als die kirchliche Hierarchie auf sein [= Luthers, S.L.] Anliegen nicht einging und weitere Reformatoren auftraten – vor allem Huldrych Zwingli in Zürich und eine knappe Generation später Johannes Calvin in Genf –, brachen die Dämme, die Rom gegen das weit verbreitete Verlangen nach religiöser Erneuerung und Kirchenreform errichtet hatte, und die Reformbewegung wurde zum Aufstand gegen die Papstkirche. Der Buchdruck machte die Diskussion für oder gegen Luther zum ersten großen Medienereignis der Weltgeschichte. Erstmals wurde der Kreis intellektueller Kirchenkritik durchbrochen und ‚Herr omnes‘, also jedermann, wurde in den Disput einbezogen. Wer nicht lesen konnte, dem wurden auf Marktplätzen, in Wirtshäusern oder Herbergen die reformatorischen Flugschriften vorgelesen. Dem Medienereignis ‚Reformation‘ folgte die Reformation als Volksbewegung auf dem Fuß.“7 Das Erinnern, Gedenken und Feiern im Jubiläumsjahr der Reformation 2017 soll – nach offiziellen Absichtserklärungen – vor allem einen essentiellen Anstoß zur Weiterentwicklung der Ökumene enthalten. In den letzten Jahrzehnten ist es zu einem konstruktiven wechselseitigen Lernvorgang gekommen, der die zerbrochene Einheit nicht schlicht als permanentes Faktum zur Kenntnis nimmt, sondern vielmehr als Ansporn für ein echtes Bemühen um die Einheit der Kirche/n, um dem evangeliumsgemäßen Ruf „ut unum sint“ (Joh 17,11) gerecht zu werden. Im kenntnisreichen Wissen um das Auf und Ab vielfältiger ökumenischer Bemühungen stellte jedoch schon Kardinal Walter Kasper sehr nüchtern (und ernüchternd) fest, dass die bisherigen Dialoge gezeigt haben, „dass manche Gegensätze zwischen den Kirchen auf Missverständnissen beruhen, andere den heutigen Partner nicht mehr treffen, in wieder anderen trotz bleibend bestehender Unterschiede sich aber Konvergenzen aufzeigen lassen. [Doch …] das Grundproblem ist, dass das evangelische Modell der Kirchengemeinschaft und das katholische Modell der Kircheneinheit in Wort, Sakrament und dem Wort und Sakrament zugeordneten Bischofsamt (und Petrusamt) nicht kompatibel sind. Wir sind uns einig, dass wir die Einheit wollen,
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diese Bilder perhorreszieren und eliminieren, sondern erst wenn wir diese Bilder ausstellen, kommentieren und diskutieren, können wir sie einordnen, uns von ihnen distanzieren und sie als gelebte und abgelebte Formen eines historisch gewordenen Bildes von Luther und der Reformation verstehen“. ALEIDA ASSMANN, Was ist so schlimm an einem Hammer?, in: Rotary Magazin 1/2017, S. 51–54, S. 54 (https:// rotary.de/gesellschaft/was-ist-so-schlimm-an-einem-hammer-a-10106.html). H. SCHILLING, Umwälzung (Anm. 5), S. 37.
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aber nicht einig, worin die Einheit besteht, und sind uns darum nicht einig, wohin die ökumenische Reise führen soll. Es fehlt an einer gemeinsamen ökumenischen Vision, manchmal auch am gemeinsamen Willen. Zu oft fühlt man sich noch zu sicher in der eigenen konfessionellen Kirchenburg.“8 Den in letzter Zeit vermissten „Schwung der Ökumene des 20. Jahrhunderts“ gilt es angesichts einer zunehmend säkularen Gleichgültigkeit und religiös instrumentalisierten Gewaltpolitik in der Welt wiederzugewinnen, denn „die Kirchen können es sich gar nicht mehr leisten, gegenoder auch selbstgenügsam nebeneinander zu stehen, sie müssen miteinander leben und aufeinander zugehen“9. Ganz in diesem Sinne – und unter Verweis auf bemerkenswerte Erklärungen und Dokumente im Vorfeld des Reformationsgedenkens10 – hat in Oberösterreich eine eigens dafür gebildete Evangelisch-Katholische Theologische Kommission11 ein „Gemeinsames Wort“ zum Reformationsgedenken 2017 verfasst und einleitend festgehalten: „Wir danken Gott für einander, für die Verbundenheit als Geschwister, für den Ruf in die gemeinsame Nachfolge und den Dienst an der Welt. Diese Dankbarkeit für einander ist die Frucht eines langen Weges, auf dem die einzelnen Christenmenschen und die Kirchen sich aufeinander zu bewegt haben. Darum sind wir heute nicht nur in der Lage, sondern haben den festen Willen, das Gedenkjahr der Reformation im Geist der Ökumene und in der Verantwortung vor dem einen Herrn der Kirche zu begehen. Diese Perspektive befreit uns dazu, den Blick nicht mehr besorgt auf uns selbst zu richten, son-
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WALTER KARDINAL KASPER, Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, Ostfildern 22016, S. 54 f.; vgl. DERS., Die Früchte ernten. Grundlagen christlichen Glaubens im ökumenischen Dialog, Paderborn / Leipzig 2011. Ebd., S. 56. – Vgl. BERTRAM MEIER, Ökumene ist Rückkehr zum Auftrag. Eine Zeitansage zur Einheit der Christen 2017, in: Praedica Verbum 122 (2017), S. 11– 24, hier: S. 21 f.: Unsere Zeit braucht das gemeinsame Zeugnis. Vgl. VOLKER LEPPIN / DOROTHEA SATTLER (Hrsg.), Reformation 1517–2017. Ökumenische Perspektiven (Dialog der Kirchen, Bd. 16), Freiburg i.B. / Göttingen 2014; THEO DIETER / WOLFGANG THÖNISSEN (Hrsg.), Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames Lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der Lutherisch/Römisch-Katholischen Kommission für die Einheit, Leipzig / Paderborn 2013; EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND / SEKRETARIAT DER DEUTSCHEN BISCHOFSKONFERENZ (Hrsg.), Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017 (Gemeinsame Texte, 24), Hannover 2016. Dieser gehörten u. a. einige Referenten und Proponenten der Ökumenischen Sommerakademie an, wie Gerold Lehner, Franz Gruber, Severin Lederhilger.
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dern auf ihn, der uns und die Welt ruft, seine Wege zu gehen. […] Damit machen wir deutlich, dass wir nicht mehr das Trennende betonen, indem wir uns nicht auf unsere konfessionelle Identität zurückziehen, sondern dass wir sowohl die Reformation als auch die von ihr ausgelöste katholische Reform als für beide Kirchen wichtige, schmerzvolle und doch fruchtbare Abschnitte auf dem Weg durch die Geschichte ansehen.“ 12 Diese letztlich bereichernde Lerngeschichte ist aus evangelischer und römisch-katholischer Sicht als einer der wirkmächtigsten gesellschaftlichen Reformprozesse intensiv zu beleuchten. Gerade weil das Reformationsjahr 2017 ein „ökumenisches Ereignis“ werden soll, gilt es trotz des Umstandes, dass „die Gemeinsamkeiten der Kirchen im Vergleich zu den verbleibenden Differenzen bei weitem überwiegen“, nicht zu übersehen, dass man sich „im reformatorischen Geist“ auch den anstehenden Aufgaben zu stellen hat: „das Evangelium zu verkünden; den Menschen die Heilige Schrift als Buch des Lebens deutlich zu erschließen; an die Verantwortung aller Christinnen und Christen für den nahen und fernen Nächsten zu erinnern, das gemeinsame Zeugnis der Kirchen im politischen Gemeinwesen zu stärken und in allem den dreieinigen Gott als Quelle und Ziel allen Lebens zu loben“13. Die 18. Ökumenische Sommerakademie in Kremsmünster, die vom 13. bis 15. Juli 2016 stattfand, versuchte mit ihrer Konzeption die Thematik von unterschiedlichen Zugängen her durch Referentinnen und Referenten mit verschiedenem konfessionellem, weltanschaulichem und akademischem Hintergrund aufzugreifen. Dieser Tagungsband dokumentiert die wissenschaftlichen, kirchenamtlichen und praxisbezogenen Vorträge, wobei die Manuskripte zwar bearbeitet wurden, mitunter aber bewusst noch 12
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EVANGELISCH-KATHOLISCHE THEOLOGISCHE KOMMISSION 2017, 500 Jahre Reformation 2017. Gemeinsames Wort für die Evangelische und Katholische Kirche Oberösterreich zum Reformationsgedenken 2017, Linz 2017, S. 6–7. V. LEPPIN / D. SATTLER (Hrsg.), Reformation (Anm. 10), S. 74. Vgl. KURT KARDINAL KOCH, Aktuelle Fragen des ökumenischen Dialogs aus der Sicht des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, in: Wilhelm Rees (Hrsg.), Ökumene. Kirchenrechtliche Aspekte (Kirchenrechtliche Bibliothek, 13), Münster 2014, S. 47–65; MANFRED SCHEUER, Christus-Gedächtnis im Geist, in: ebd., S. 21– 31. Dabei ist neben der spirituellen und theologischen Dimension auch der kirchenrechtliche Aspekt der Umsetzung zu beachten: HERIBERT HALLERMANN, Rechtliche Grundlagen des ökumenischen Miteinanders. Ein Blick auf offizielle Texte und Verlautbarungen, in: ebd., S. 67–103; WOLFGANG THÖNISSEN, Ein Konzil für ein ökumenisches Zeitalter. Schlüsselthemen des Zweiten Vaticanums, Leipzig / Paderborn 2013.
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ihre Dialogform beibehalten haben. Die durchaus kontroversen Beiträge, die sich dem Thema aus der Perspektive der Kirchengeschichte, der Systematischen Theologie, der Soziologie und der institutionellen Ökumene sowie der journalistischen Praxis widmen, wollen einer weiteren sachkundigen Diskussion speziell im laufenden Jahr dienen. Ein herzlicher Dank sei daher an dieser Stelle allen Referentinnen und Referenten für ihre Mitarbeit bei dieser Publikation gesagt. Bedanken möchte ich mich erneut beim Österreichischen Rundfunk (ORF) für die hervorragende technische und mediale Unterstützung der Veranstaltung, sowie bei den MitarbeiterInnen der Katholischen Privat-Universität Linz (KU), welche unter der bewährten organisatorischen Umsicht von Mag.a Hermine Eder und der administrativen Betreuung von Verwaltungsdirektorin Mag.a Monika Höller (beide KU Linz) die Gesamtverantwortung für die Durchführung dieser Tagung übernommen haben. Großer Dank gebührt den Kolleginnen und Kollegen im Redaktionskomitee der Ökumenischen Sommerakademie: ORF-Landesdirektor i.R. Ehrensenator Dr. Helmut Obermayr, den ORF-Redakteuren Mag.a Brigitte Krautgartner, Dr. Bernhard Hain und Mag. Helmut Tatzreiter, Bischof Dr. Michael Bünker vom Ökumenischen Rat der Kirchen Österreichs, Univ.Prof. Dr. Ansgar Kreutzer M.A. von der KU Linz, Prof.in Mag.a Renate Bauinger von der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz für das Evangelische Bildungswerk Oberösterreich, Superintendent Dr. Gerold Lehner, Chefredakteur Mag. Matthäus Fellinger von der Linzer Kirchenzeitung sowie Dr. P. Bernhard Eckerstorfer OSB von der Benediktinerabtei Kremsmünster. Die Organisationsverantwortlichen bedanken sich sehr herzlich bei der Landeskulturdirektion Oberösterreich sowie bei allen Sponsoren dieses bedeutsamen Dialogforums. Für das Korrekturlesen des Manuskriptes bin ich meinem Mitbruder und Mitarbeiter am Institut für Kirchenrecht der KU Linz Fr. Vitus Stefan Glira O.Praem. zu besonderem Dank verpflichtet. Eigens bedanken möchte ich mich auch bei Dr. Rudolf Zwank für die umsichtige Betreuung seitens des Theologischen Lektorats im Verlag Friedrich Pustet. Severin J. Lederhilger O.Praem. Linz, im Jänner 2017
Manfred Scheuer
Es muss sich etwas ändern?! Ein paränetisches Grußwort
Empört Euch! „Empört Euch!“ lautet ein Buchtitel des Franzosen Stéphane Hessel1, von dem in wenigen Monaten nach dessen Erscheinen eine Million Exemplare verkauft wurden. Stéphane Hessel empört sich 2010 über die weit geöffnete und sich noch immer weiter öffnende Schere zwischen ganz arm und ganz reich, aber auch über den Umgang mit den Menschenrechten und den Zustand unseres Planeten. Als Beispiele nennt er: Die Diskriminierung von Ausländern, den Sozialabbau, insbesondere bei der Alterssicherung, den Konzentrationsprozess bei der Presse und ihre gefährdete Unabhängigkeit, den Zugang zur Bildung sowie die Entwicklungspolitik im Nachgang zur Wirtschaftskrise und die Umweltpolitik zum Erdklima. Er ruft zur Empörung und zum Widerstand gegen die Massenkommunikationsmittel auf, die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum, die Verachtung der Schwächsten und der Kultur, den allgemeinen Gedächtnisschwund und die maßlose Konkurrenz aller gegen alle. Die Gleichgültigkeit wäre dabei das Schlimmste, was man sich und der Welt antun könne. Mit Nachdruck ruft Hessel dann 2011 – im Nachfolgewerk „Engagiert Euch“2 – zum friedlichen Widerstand gegen Ungerechtigkeiten in unserer Welt auf, beklagt die Macht des Finanzkapitalismus, prangert die Lage der Menschenrechte an und warnt vor der ökologischen Zerstörung unseres Planeten. Gleichzeitig appelliert er an die Leser: Habt keine Angst, euch
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STÉPHANE HESSEL, Indignez-vous! Indigene Editions 2010 (deutsch: Empört Euch! Ullstein, Berlin 2010). STÉPHANE HESSEL, Engagez-vous! Entretiens avec Gilles Vanderpooten, Aube, La Tour d’Aigue 2011 (deutsch: Engagiert Euch! Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten. Übersetzt von Michael Kogon, Ullstein, Berlin 2011).
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für ein hoch gestecktes Ziel einzusetzen! Kommt heraus aus eurer Gleichgültigkeit, mischt euch ein! Inwieweit dürfen wir mit einem wirksamen Engagement der Bürger rechnen? „Ohne mich“ fällt natürlich leichter – also, sich zu sagen: „Ich mag diese politischen Taktierer und Wendehälse nicht“, um sich ins Private zurückzuziehen.
Welche Reform? Reform, so der scheidende österreichische Bundespräsident Heinz Fischer bei der Eröffnung der Schlaininger Sommerakademie am 3. Juli 2016, hat vor 40 bis 50 Jahren geheißen: Du kannst etwas Neues in die Welt setzen, ein Projekt initiieren und bekommst dafür viel Geld und Personal. Reform heißt heute: Wie kann durch eine Strukturreform möglichst viel Geld und Personal eingespart werden bei möglichst steigender Produktion und höherem Output? Strukturreform in der Wirtschaft oder in der Verwaltung zielt auf mehr Effizienz, auch auf Einsparung. Welche Reaktion löst eine Reformankündigung aus: Funkelnde Augen wie in den goldenen 1970er Jahren oder Skepsis bis Ablehnung angesichts der Unübersichtlichkeit und Unsicherheit gegenwärtig? „Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders wird. Aber es muss anders werden, wenn es besser werden soll“ (Georg Christoph Lichtenberg). – Es muss sich etwas ändern in der österreichischen und in der europäischen Politik! So ist es fast täglich medial und politisch zu hören. Die in Österreich fehlende Weiterentwicklung in der Bildungspolitik, in der Ökologisierung der Wirtschaft und des Verkehrswesens, der Wechsel von chaotischer zu restriktiver Asylpolitik, das ständige national-egoistische Hickhack der europäischen Regierungsvertreter in den EU-Gremien, und die mangelnde Einigkeit bzw. das Nichtvorhandensein einer gemeinsamen gesellschaftspolitischen Vision: All das lähmt das Land und erzeugt Angst anstatt Zuversicht. – Es muss sich etwas ändern in Europa! Das haben sich die Briten auch gedacht oder einreden lassen und für den „Brexit“ votiert. Der Ruf nach Veränderung ist fatal, wenn er mit Realitätsverweigerung oder Wirklichkeitsflucht verbunden ist. Dann wäre die Forderung nach Reformen von Strukturen und Systemen nur ein Ablenkungsmanöver. Unsere Zeit ist damit beschäftigt, Ablenkungen zu gestalten, sie weiß aber nicht mehr, wovon sie ablenkt (Blaise Pascal). Nun wollen wir es doch nicht so
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machen wie in dem unvergesslichen Lied des Wiener Kabarettisten Helmut Qualtinger aus den 1950er Jahren, wo ein jugendlicher Motorradfahrer sagt: „Wir wissen nicht, wo wir hinfahren, aber dafür sind wir gʼschwinder dort.“ Die Forderung nach Veränderung kann auch die Innenseite von Verzweiflung, Sinnlosigkeit und Orientierungslosigkeit sein.
Was kommt nach der Revolution? Am 25. Januar 2011 sahen sich Ägyptens Polizisten hunderttausenden Demonstranten gegenüber. Über Facebook, Twitter und andere soziale Medien hatten zumeist jugendliche Oppositionelle zu Kundgebungen im ganzen Land aufgerufen. Ihr Slogan: „Das Volk will den Sturz des Regimes“. Der Tag gilt als Ausgangspunkt der Revolution in Ägypten. Der Machtwechsel ging als „Revolution des 25. Januar“ in die Geschichte ein. Für einen Moment sah es aus, als stünde die Demokratisierung des Nahen Ostens bevor. Die Rede war von einem „Arabischen Frühling“. Von Tunesien bis Bahrain, von Syrien bis zum Jemen schien das Ende der Alleinherrscher gekommen. Sechs Jahre später herrscht überall vor allem Ernüchterung. Von „Frühling“ spricht heute aber niemand mehr angesichts des Bürgerkriegs in Syrien, des Durchmarsches des politischen Islams bei freien Wahlen, der sich immer weiter verschärfenden Demokratie- und Wirtschaftskrisen in Ägypten und Tunesien, der zunehmenden Instabilität im Irak, der Ungewissheit über die Zukunft Jordaniens und des Libanons, und eines nach wie vor drohenden Krieges um das iranische Nuklearprogramm am Persischen Golf. Es ist ein immer wiederkehrender Irrtum: Revolutionen werden zu ihrem Beginn als ein Sieg von Freiheit und Gerechtigkeit missverstanden, da sie die als ungerecht empfundene Herrschaft, ja Diktatur des alten Regimes umstürzen. Nur was kommt dann? Eine Revolution bedeutet nicht nur den Umsturz unterdrückerischer Herrschaft, sondern sie zerschlägt zugleich die alte Ordnung und eröffnet so einen meist brutalen, ja blutigen Machtkampf um die neue Herrschaft und die neue Ordnung. Und dieses Faktum gilt nicht nur für die Innenpolitik eines Landes, sondern auch für die außenpolitische Ordnung. Damit brechen in der Regel gefährliche Zeiten an. Ausnahmen: Südafrika, aber auch der Fall des Eisernen Vorhangs 1989 mit den politischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa.
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Anstöße der Reformation Nach Jahrhunderten der Zerstrittenheit über seine Person können wir Luther heute, 500 Jahre nach dem Thesenanschlag, „gemeinsam als Zeugen des Evangeliums, Lehrer im Glauben und Rufer zur geistlichen Erneuerung“ würdigen.3 Katholische und evangelische Kirche sehen es als gemeinsame Aufgabe, Jesus Christus zu glauben, lieben, predigen, bekennen und zu loben. Ich möchte im Folgenden reformatorische Grundanliegen als Orientierung für die Beurteilung von Veränderung – von Reform, Reformation und Revolution – aufgreifen. Die „sola“ verstehe ich dabei nicht exklusiv.
Rose und Kreuz Die Rose ist „ein Merkzeichen, damit ich mir selbst Erinnerung gäbe, dass der Glaube an den Gekreuzigten uns selig machet“4 (Martin Luther). Georg W. F. Hegel bezeichnete sich selbst als „Lutheraner“. In deutlicher Erinnerung an Luthers Wappen (Rose und Kreuz) schrieb er: Die Rosen stehen auch für die Vernunft. „Die Vernunft als die Rose im Kreuz der Gegenwart zu erkennen und damit dieser sich zu erfreuen, diese vernünftige Einsicht ist die Versöhnung mit der Wirklichkeit.“5 „Um die Rose im Kreuz der Gegenwart zu pflücken, dazu muss man das Kreuz selbst auf sich nehmen.“6 Der Vergleich zwischen der „Theologie des Kreuzes“ (Luther) und dem „Tod Gottes“ (Hegel): Für Hegel ist der Tod Gottes nicht der Tod Gottes des Vaters (Nietzsche), sondern der Tod Christi und der „Tod des
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Martin Luther – Zeuge Jesu Christi. Wort der gemeinsamen RÖMISCH-KATHOLI/ EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KOMMISSION anlässlich des 500. Geburtstages Martin Luthers (1983), Nr. 4, in: Dokumente wachsender Übereinstimmung, hrsg. von Harding Meyer, Bd. II, Paderborn / Frankfurt a.M. 1992, S. 444–451, hier S. 445. Luthers Briefwechsel, in: WA, Bd. 5, 444f. (Nr. 1628). GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts (Werke, Bd. 7), Frankfurt 1979, S. 26. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 1 (Sämtliche Werke, hrsg. v. Hermann Glockner, Bd. 15), Stuttgart 1965, S. 293. SCHEN
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Todes“ sowie die „Negation der Negation“. Für Luther ist das Kreuz Christi der „Tod der Sünde“ sowie der „Tod des Todes“. Hegel (die Versöhnung durch den Schmerz) verstand Luther (die Rechtfertigung durch den Glauben) richtig. Luther ist ein Theologe des Kreuzes und Hegel ist ein Philosoph des Kreuzes. Der Mangel und das Negative sind bei Hegel also nicht rein abstrakt negativ, sondern Triebstätte der Bewegung der Substanz zum Subjekt, das sich in den Gegensatz entäußert, aber auch Geburtsstätte für den Trieb des absoluten Geistes nach absoluter Versöhnung. Man kann mit Hegel von einer Macht des Negativen und dann auch des Todes, den er den absoluten Herrn nennt, sprechen. Die Negation und der Tod sind bei Hegel von entscheidender Bedeutung für das Leben des Geistes, im Grunde genauso wie die Einheit stiftende Kraft der Substanz. Ohne Tod gäbe es kein Leben, ohne Negation und Gegensatz käme der Geist nicht zum Bewusstsein seiner selbst. Die Bedeutung des Gegensatzes drückt folgender Satz aus: „Das Leben des Geistes ist umso größer, aus je größerem Gegensatz er zu sich selbst zurückkehrt.“7 Im Unterschied zu Hegel geschieht für Luther die radikale Veränderung, die Verwandlung, Rechtfertigung und Erlösung durch die durch das Kreuz hindurchgegangene Liebe Jesu Christi: Sein von Tod und Auferstehung geprägtes Du schafft Heil. Jesu Pro-Existenz, sein Leib „für euch“ hingegeben, sein Blut „für euch“ vergossen, stiftet eine Neuschöpfung, nimmt mit auf dem Weg zum Vater und verbindet mit den anderen Menschen.
Allein Christus „Religion und Spiritualität, ja – Gott, (eher) nein“, so bilanziert Johann Baptist Metz für die gegenwärtige Gesellschaft. Das zeitgenössische kulturelle Klima huldige einer religionsfreundlichen Gottlosigkeit bzw. Mythenfreudigkeit. Religion ist höchst willkommen als dionysische Glücksgewinnung durch Leid- und Trauervermeidung und als Beruhigung vagabundierender Ängste, als psychologisch-ästhetische Unschuldsvermutung. Religion ja! „Aber Gott? Aber der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der 7
Vgl. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Phänomenologie des Geistes (Werke, Bd. 3), Frankfurt 1979, S. 256.
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auch der Gott Jesu ist? Wir leben in einem Zeitalter der Religion ohne Gott.“8 In der gegenwärtigen Gesellschaft und Kirche gibt es seit einigen Jahren so etwas wie eine schleichende „Entchristologisierung“ des allgemeinen Glaubensbewusstseins. Gott gilt vielleicht noch als universal bergende, schützende und segnende Macht, als die Natur, die den Kosmos beseelt. Manche sehen im Göttlichen eine heilende Kraft- und Energiequelle. Oder Religion wird auf Ethik, Glaube auf einen moralischen Imperativ reduziert. „Solus Christus“ ist für die Reformation zentral. Diese Christozentrik ist ein heilsamer Kontrapunkt gegenüber der Jesusvergessenheit in vielen Varianten.
Allein die Schrift „Wer die Schrift nicht kennt, kennt Christus nicht“ (Hieronymus). „Wer die Schrift kennt, kennt Gottes Herz“ (Gregor der Große). Durch das Hören und Tun des Wortes Gottes wird auch ein neues menschliches Miteinander gebildet (vgl. Lk 8,19–21). Die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden ist ein Geschöpf des Wortes. „Der Glaube kommt vom Hören“ (Röm 10,17). Das Wort, aus dessen Vollmacht die Kirche in ihrem Zeugnis zu sprechen hat, ist unüberholbar das Du-Wort Gottes: „Wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens“ (Joh 6,68). Das Wort Gottes ist „kraftvoll und schärfer als jedes zweischneidige Schwert“ (Hebr 3,12). Die Heilige Schrift ist gemeinsamer Bezugspunkt, sie ist Norm und Kriterium aller Spiritualität und allen kirchlichen Lebens, sie schenkt einen gemeinsamen Sprachraum mit gemeinsamen Bildern, Vorstellungen, Anliegen und Gewohnheiten. Sola scriptura: Die Kirche soll ein Ort sein, an dem das Evangelium verkündet wird, an dem das Evangelium aber auch ein Gesicht erhält. Der Bezug zum Evangelium stand an der Wurzel jeder echten Reform der Kirche.
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JOHANN BAPTIST METZ / TIEMO RAINER PETERS, Gottespassion. Zur Ordensexistenz heute, Freiburg i. B. 1991, S. 22 ff.
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Allein die Gnade Gnade gehört nicht unbedingt zu den Stichworten der Gegenwartskultur. In vielen Bereichen ist vielmehr das Gegenteil hoch in Kurs: Politik, Wirtschaft, Sport oder auch die Unterhaltungsindustrie sind die Foren, auf denen die Bedeutung des Wortes „gnadenlos“ vor Augen geführt wird. Immer mehr wird der Wert eines Menschen von seinen Funktionsstellen, die er in unterschiedlichen gesellschaftlichen Systemen einnimmt, definiert. Viele Wirklichkeitsbereiche bezeichnen „Ungnade“: da sind die Beispiele der Gewalt und des Krieges, der Zerstörung und Unterdrückung, von Krankheit und Tod, dazu die üblen Launen der Natur. Es ist dem christlichen Glauben eigen, dass der Mensch sich von Gott unbedingt erwünscht weiß (1 Joh 4,1; 2 Kor 1,20). Sich selbst von Gott lieben zu lassen, befreit aus dem Teufelskreis der Selbstüberhebung und der Selbstverachtung, befreit vom Gotteskomplex und vom Mittelpunktwahn. Der Mensch wird zur Annahme seiner Endlichkeit und Sterblichkeit befreit. Er braucht den Grund für die Rechtfertigung seines Daseins nicht in sich selbst zu suchen: Sola gratia. Die Gnade Jesu Christi ist nach einem Wort des großen evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer nicht „billig“. Die Nachfolge Christi ist kritisches Kriterium gegenüber einem bloß angepassten bürgerlichen Christentum: „Billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selber haben. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, Mensch gewordenen Jesus Christus. […] Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muss. Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben erst schenkt.“9
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DIETRICH BONHOEFFER, Nachfolge (Werke, hrsg. von Eberhard Bethge, Bd. 4, hrsg. von Martin Kuske / Ilse Tödt), Gütersloh 21994, S. 29–31.
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Manfred Scheuer
Allein der Glaube Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der vergangenen Monate und Jahre zum Beispiel im Zusammenhang mit Flucht, Asyl und Migration sind eine Herausforderung für Christen, den eigenen Glauben zu leben und zu bezeugen. „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittenheit etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist“ (Gal 5,6). Sola fide: Es ist eine Herausforderung, uns als Christen auf unsere Identität und Mitte zu besinnen. Diese Mitte ist Jesus Christus, in dem sich Gott unwiderruflich und unüberbietbar zusagt. Zudem sollten wir Christen fähig sein, Auskunft zu geben über unsere Wurzeln: „Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt; aber antwortet bescheiden, denn ihr habt ein reines Gewissen“ (1 Petr 3,15–16). Die Achtung der Religionsfreiheit, Toleranz und Dialog bedeuten ja gerade nicht, sich des eigenen Glaubens zu schämen und diesen in der Öffentlichkeit zu verschweigen.
Kurt Kardinal Koch
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
Im Jahr 2017 begeht die Christenheit das Gedenken der Reformation vor fünfhundert Jahren. Dieses Gedenkjahr bezieht sich auf das Jahr 1517 zurück, das als Beginn der Reformation in Deutschland betrachtet wird und darauf hinweist, dass unter den vielen Reformationsvorgängen die Reformation Martin Luthers im Vordergrund steht. Demgegenüber wird der Beginn der Reformation in der Schweiz, dem zweiten Land der Reformation, zu einem späteren Zeitpunkt angesetzt. Auch die lutherische Reformation ist in verschiedenen Ländern an einem recht unterschiedlichen Datum eingeführt worden, vor allem in den nordischen Ländern, in denen die Reformation keine Volksbewegung wie in Deutschland gewesen, sondern durch herrschaftliche Hoheitsakte von oben angeordnet und eingeführt worden ist. Nicht zu vergessen sind schließlich die Reformationen in den täuferischen und anderen freikirchlichen Traditionen, die sich selbst freilich nicht als Subjekte, sondern als Objekte und Opfer der lutherischen und protestantischen Reformationen verstehen.1
1. Konfessionalistisches oder ökumenisches Gedenkjahr 2017? In diesem größeren geschichtlichen Kontext muss in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche auch das Gedenkjahr 2017 gesehen werden, mit dem auf das Jahr 1517 zurückverwiesen wird, genauer auf den 31. Oktober, der traditionellerweise als Beginn der Reformation in Deutschland gesehen wird, und zwar in Erinnerung an den so genannten Anschlag der
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Vgl. VOLKER SPANGENBERG (Hrsg.), Luther und die Reformation aus freikirchlicher Sicht, Göttingen 2013.
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Kurt Koch
Thesen über den Ablass an die Türe der Schlosskirche in Wittenberg durch den Augustinermönch und theologischen Lehrer Martin Luther. Ob und in welcher Weise in diesem Jahr das Gedenken an die Reformation in ökumenischer Gemeinschaft begangen wird und dies deshalb ein wichtiges ökumenisches Ereignis sein wird, hängt zunächst davon ab, wie man das Jahr 1517 versteht, auf das sich das Fünfhundertjahrgedenken der Reformation bezieht. Diesbezüglich kann man an zwei recht verschiedene Referenzmöglichkeiten denken: Interpretiert man es von der ersten Jahrhundertfeier im Jahre 1617 her, in deren Vorbereitung entschieden worden ist, den 31. Oktober als Beginn der Reformation zu feiern, dann würde das Reformationsgedenken unter dem konfessionalistischen Vorzeichen von Konflikt und Streit stehen. Denn im Jahre 1617 ist es offensichtlich gewesen, dass sich Europa auf einen schwerwiegenden Konflikt und sogar auf einen blutigen Glaubenskrieg hinbewegt hat. Da die protestantischen Gemeinschaften in Deutschland und im ganzen kontinentalen Europa einen gemeinsamen Bezugspunkt brauchten, um eine klare Identität zu entwickeln, stand die erste Centenarfeier der Reformation, die zugleich die Geburtsstunde des Reformationstages gewesen ist, unter dem Vorzeichen einer antikatholischen Polemik und einer kämpferischen Rhetorik2, wie der lutherische Pastor und Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Olav Fykse Tveit, mit freimütigen Worten urteilt: „Die erste Feier zum Gedächtnis von 1517 war Auftakt zu einer Serie zerstörerischer Glaubenskriege, dem Dreißigjährigen Krieg, der die Erinnerung an Luthers mutige Tat im Jahre 1517 zu einer Waffe werden ließ.“3 Nicht viel anders verhält es sich, wenn man das Gedenkjahr 1517 von den späteren Jahrhundertfeiern der Reformation her interpretiert, in denen Martin Luther als Protagonist und Wegbereiter der jeweiligen Zeit in Anspruch genommen worden ist. Während bei der ersten Centenarfeier im Jahre 1617 Luthers Kampf gegen Rom und besonders gegen das Papsttum,
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Vgl. THOMAS KAUFMANN, Reformationsgedenken in der frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 107 (2010), S. 285–324. OLAV FYKSE TVEIT, Das Erbe der Reformation und seine Bedeutung für die ökumenische Bewegung heute, in: Petra Bosse-Huber / Serge Fornerod / Thies Gundlach / Gottfried W. Locher (Hrsg.), 500 Jahre Reformation. Bedeutung und Herausforderungen. Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich, Zürich / Leipzig 2014, S. 109–124, zit. S. 110.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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von dem er die Christenheit befreit habe, im Vordergrund stand, wurde Luther im Zeitalter der Aufklärung als Befreier vom finsteren Mittelalter und als Begründer der Neuzeit verherrlicht und im Pietismus als das große religiöse Genie verehrt. Während der Reformationsfeier im Jahre 1917 wurde Luther nicht nur als Schöpfer der deutschen Sprache, sondern überhaupt als Personifikation des wahren Deutschen, und zwar wiederum mit kriegerischen Konnotationen, gefeiert. Selbst unmittelbar nach der europäischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges wurde das Pathos in der Charakterisierung Luthers als deutscher Heroengestalt ungebrochen weitergeführt, wenn beispielsweise Adolf von Harnack rundweg behaupten konnte, die Moderne habe in Deutschland begonnen und von hier aus in die Welt ausgestrahlt: „Die Neuzeit hat mit der Reformation Luthers ihren Anfang genommen, und zwar am 31. Oktober 1517; die Hammerschläge an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg haben sie eingeleitet.“4 Betrachten wir demgegenüber das Jahr 1517 nicht im Schatten späterer Reformationsjubiläen, sondern in sich selbst, dann erscheint es in einem anderen Licht. An erster Stelle gilt es dabei zu bedenken, dass seit dem vom katholischen Kirchenhistoriker Erwin Iserloh im Jahre 1962 veröffentlichten Forschungsergebnis, der Anschlag der Thesen über den Ablass am 31. Oktober 1517 durch Martin Luther sei eine Legende5, gehen heute die meisten Historiker davon aus, dass der so genannte Thesenanschlag in der bisher überlieferten Weise gar nicht stattgefunden hat, dass Martin Luther seine Thesen vielmehr an den zuständigen Ortsbischof versandt hat und die Veröffentlichung seiner Thesen zum Ablass als Einladung zu einer gelehrten Disputation konzipiert gewesen ist, mit der er vor allem das Ziel verfolgen wollte, „dem Glaubwürdigkeitsverlust der von ihm geliebten Kirche zu begegnen“ und die katholische Kirche, in der er beheimatet gewesen ist, zu retten.6 In dieser Sinnrichtung seines Handelns sind die Ablassthesen von Martin Luther keineswegs ein revolutionäres Dokument, sondern vertreten durchaus ein katholisches Anliegen und bewegen sich
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ADOLF VON HARNACK, Die Reformation und ihre Vorstellung, in: Ders., Erforschtes und Erlebtes, Giessen 1923, S. 71–140, zit. S. 110. ERWIN ISERLOH, Luthers Thesenanschlag – Tatsache oder Legende?, Wiesbaden 1962. Vgl. THOMAS KAUFMANN, Reformation und Reform – Luthers 95 Thesen in ihrem historischen Zusammenhang, in: Peter Klasvogt / Burkhard Neumann (Hrsg.), Reform oder Reformation? Kirchen in der Pflicht, Leipzig / Paderborn 2014, S. 23– 41, hier: S. 26; THOMAS KAUFMANN, Der Anfang der Reformation, Tübingen 2012.
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im Rahmen des auch in der damaligen katholischen Theologie Vertretbaren. Der evangelische Erlanger Kirchenhistoriker Berndt Hamm stellt sogar erstaunliche Kohärenzen zwischen der Ablassverkündigung in der spätmittelalterlichen Kirche und der von der Reformation favorisierten Gnadenbotschaft fest, so dass er nicht nur vom „Evangelium der Reformation“, sondern auch vom „Evangelium des Ablasses“ spricht.7 Mit seinen Thesen wollte Luther die katholische Kirche erneuern und keineswegs eine eigene Kirche gründen. In diesem Sinn hebt auch der Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zum Reformationsgedenken im Jahre 2017 hervor, „dass Luther sich mit diesen Thesen als Reformkatholik darstellte und lediglich eine Praxis seiner Kirche anprangerte“8. Führt man sich diese historischen Zusammenhänge vor Augen, erinnert das Reformationsgedenkjahr 2017 an jene Zeit, in der es noch gar nicht zum Bruch zwischen dem Reformator Martin Luther und der katholischen Kirche gekommen und die Einheit der Kirche noch nicht zerbrochen gewesen ist, Martin Luther vielmehr noch in der Gemeinschaft der katholischen Kirche gelebt und gewirkt hat. In diesem Zusammenhang ist auch daran zu erinnern, dass es Luther um eine durchgreifende Reform der Kirche und nicht um eine Reformation im Sinne der schließlich zerbrochenen Einheit mit dieser Kirche gegangen ist. Luther hat keineswegs den Bruch mit der katholischen Kirche und die Gründung einer neuen Kirche gewollt, sondern die Erneuerung der ganzen Christenheit im Geist des Evangeliums intendiert, wie der evangelische Ökumeniker Wolfhart Pannenberg immer wieder hervorgehoben hat: „Luther wollte eine Reformation der Gesamtchristenheit; sein Ziel war alles andere als eine lutherische Sonderkirche.“9 Solche geschichtlichen Erinnerungen bedeuten und implizieren, dass das Reformationsgedenken im Jahre 2017 gar nicht anders als in ökumenischer Gemeinschaft begangen werden kann. Nach der Reformation ist es freilich zum Bruch gekommen, den es in Treue zu den Anliegen Luthers ökumenisch zu überwinden gilt. Von daher würde es sich in ökumenischer Sicht nahelegen, in erster Linie nicht des
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BERNDT HAMM, Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016, S. 5. Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des RATES DER EVANGELISCHEN KIRCHE IN DEUTSCHLAND, Gütersloh 2014, S. 16. WOLFHART PANNENBERG, Problemgeschichte der neueren evangelischen Theologie in Deutschland, Göttingen 1997, S. 25.
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Jahres 1517, sondern des Jahres 1530 zu gedenken, insofern der Reichstag zu Augsburg und die damals verkündete Confessio Augustana das entschiedene Bemühen repräsentieren, die gefährdete Einheit der Kirche zu retten, und deshalb in seiner ökumenischen Bedeutsamkeit nicht unterschätzt werden kann, wie der Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen mit Recht urteilt: „Möglicherweise waren die Kirchen der abendländischen Christenheit in der Tat beim Reichstag zu Augsburg 1530 einander so nahe wie später nie wieder.“10 Doch kehren wir von daher zu dem im Jahre 2017 bevorstehenden Reformationsgedenken zurück. Dann muss es sich nicht nur im historischen Rückblick auf die fünfhundert Jahre seit der Reformation, sondern auch im Rückblick auf die vergangenen fünfzig Jahre des ökumenischen Dialogs zwischen Katholiken und Lutheranern von selbst verstehen, dass ein Reformationsgedenken heute nicht mehr in derselben Weise begangen werden kann, wie dies bei früheren Jahrhundertfeiern geschehen ist, sondern in ökumenischer Gemeinschaft zu vollziehen ist. So verhält es sich zum ersten Mal in der Geschichte, und diese Chance sollte auf jeden Fall genutzt werden für eine weitere Vertiefung der gegenseitigen Annäherung zwischen Lutheranern und Katholiken im Glauben und im Leben des Glaubens. Für diese ökumenische Sensibilität ist die katholische Kirche dankbar, und sie nimmt die Einladung zu einem gemeinsamen Reformationsgedenken gerne an, wie dies bereits Papst Benedikt XVI. ausgesprochen hat. In seiner Ansprache bei der Sonderaudienz für die Delegation der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands im Januar 2011 hat Papst Benedikt XVI. betont, dass zu diesem Anlass Lutheraner und Katholiken die Möglichkeit haben werden, „weltweit ein gemeinsames ökumenisches Gedenken zu begehen, weltweit um die Grundfragen zu ringen“, dies freilich nicht in „Form einer triumphalistischen Feier, sondern in gemeinsamem Bekenntnis zum dreifaltigen Gott, in gemeinsamem Gehorsam gegen unseren Herrn und sein Wort“11. In ähnlicher Weise hat Papst Franziskus in seiner Audienz für die Delegation derselben Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands im Dezember 2014 hervorgehoben, Lutheraner und Katholiken hätten zum ersten Mal die Mög-
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VOLKER LEPPIN / DOROTHEA SATTLER (Hrsg.), Reformation 1517 – 2017. Ökumenische Perspektiven (= Dialog der Kirchen, Bd. 16), Freiburg i. Br. / Göttingen 2014, S. 67. BENEDIKT XVI., Ansprache bei der Sonderaudienz für die Delegation der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD) am 24. Januar 2011.
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lichkeit, „weltweit ein und dasselbe ökumenische Gedenken zu halten“, in dessen Mittelpunkt „neben der Freude, miteinander einen ökumenischen Weg zu gehen, das gemeinsame Gebet und die innige Bitte an den Herrn Jesus Christus um Vergebung für die wechselseitige Schuld stehen“ soll.12 Ein solches zwischen dem Lutherischen Weltbund und der katholischen Kirche gemeinsames Reformationsgedenken wurde am 31. Oktober 2016 im schwedischen Lund mit einem Gottesdienst begangen, dem der Präsident und der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes sowie Papst Franziskus gemeinsam vorstanden.
2. Ökumenische Anfragen an das Reformationsgedenken Zu einem Reformationsgedenken in ökumenischer Gemeinschaft, bei der der Dialog par cum pari konstitutiv ist, gehört auch das sensible und aufmerksame Aufeinanderhören, wie die Einladenden und die Eingeladenen das gemeinsame Gedenken verstehen und in welcher Weise sie sich einbringen können. In dieser Sinnrichtung soll in einem weiteren Gedankengang versucht werden, im Geist der ökumenischen Freundschaft jene Anfragen zu formulieren, die sich in katholischer Sicht und damit in einer ökumenischen Perspektive an ein gemeinsames Reformationsgedenken stellen. In der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche stehen dabei die folgenden drei Rückfragen an die Reformation im Vordergrund.
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Reformation und Reform
„Die Reformation erstrebte eine Reform an Haupt und Gliedern der einen, allen Christen gemeinsamen Kirche. Das wurde nicht erreicht; es kam der Riss, der die Kirche und die Christenheit aufspaltete. Der sicher zentrale
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FRANZISKUS, Ansprache an die Delegation der Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands am 18. Dezember 2014 (http://w2.vatican.va/content/francesco/de/ speeches/2014/december/documents/papa-francesco_20141218_chiesa-evangelicaluterana.html).
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Auftrag der Kirche wurde nicht eingelöst.“13 Dieses Urteil hat der katholische Kirchenhistoriker und Ökumeniker Joseph Lortz, der sich um die geschichtliche Aufarbeitung der Reformation vor allem in Deutschland sehr verdient gemacht hat,14 bereits im Jahre 1950 gefällt. Er ist sich dabei völlig im Klaren gewesen, dass die Reformation „nicht nur Spaltung“, sondern „viel mehr“ gewesen ist, dass sie aber „wesentlich auch Spaltung“ gewesen ist.15 Lortz ist sich deshalb auch dessen bewusst gewesen, dass die eingetretene Spaltung der Christenheit das Gegenteil dessen darstellt, was die Reformation ursprünglich beabsichtigt hat. Denn ihr ist es ursprünglich um eine umfassende Erneuerung der ganzen Christenheit aus dem Geist der Wahrheit Gottes und nicht um die Gründung von neuen Kirchen gegangen: „Die Reformation wollte eine Reform der Gesamtkirche, aber sie löste den Zerfall der kirchlichen Einheit des westlichen Christentums aus.“16 Von daher legt es sich an erster Stelle nahe, genauer zu bedenken, dass im Wort „Reformation“ das viel grundlegendere Wort „Reform“ steckt, zwischen Reformation und Reform zu unterscheiden und danach zu fragen, wie sich beide Wirklichkeiten zueinander verhalten. Wenn man sich dieser Fragerichtung aussetzt, dann lässt sich auf der einen Seite die Reformation im 16. Jahrhundert verstehen als Vorgang der Reform der Kirche durch die Wiederentdeckung des Evangeliums als ihrem Fundament und durch die Konzentration der christlichen Existenz und des kirchlichen Lebens auf die Person Jesus Christus als das lebendige Wort Gottes. Das ursprüngliche Anliegen der Reformation hat zweifellos darin bestanden, dass der Lehre von der Rechtfertigung des Menschen nicht durch seine Werke, sondern durch den Glauben an Jesus Christus wieder jene Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, die sie verdient. Demgemäß bedeutet und impliziert „Gerechtigkeit“ nicht mehr – wie in der aristotelischen Tradition, in der ein Mensch dadurch gerecht wird, dass er gerecht handelt – ein Tun, sondern ein „Sein durch Gott: Geschenk Gottes im Glauben an Jesus Christus“17. Die Reformation ist insofern ein kla-
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JOSEPH LORTZ, Wie kam es zur Reformation?, Einsiedeln 1950, S. 8. JOSEPH LORTZ, Die Reformation in Deutschland. Zwei Bände, Freiburg i. Br. 1962. J. LORTZ, Wie kam es zur Reformation? (Anm. 13), S. 8. WOLFHART PANNENBERG, Reformation zwischen gestern und morgen, Gütersloh 1969, S. 13. CHRISTIAN SCHAD, Rechtfertigung: Gottes Ja zu uns!, in: Helmut Schwier / HansGeorg Ulrichs (Hrsg.), Nötig zu wissen. Heidelberger Beiträge zum Heidelberger Katechismus, Heidelberg 2012, S. 103–107, hier: S. 105.
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rer Beleg dafür, dass eine wahre Reform der Kirche nur aus einer tiefen Begegnung mit dem Wort Gottes kommen kann, in dem die Kirche ihre wahre Identität findet.18 Trotz dieser grundlegenden Bedeutung der Reformation im 16. Jahrhundert für die ganze Christenheit kann sie aber auf der anderen Seite keinen Exklusivanspruch auf die Reform der Kirche überhaupt erheben. Denn ein auch nur kurzer Blick in die Geschichte der Christenheit zeigt, dass die Reformation keineswegs isoliert in der damaligen Landschaft steht, dass es vielmehr in der katholischen Kirche vielfältige und weitreichende Reformen vor der Reformation Martin Luthers gegeben hat. Als anschauliches Beispiel sei vor allem die kirchliche Situation in Spanien am Beginn des 16. Jahrhunderts erwähnt, wo die eigentlichen Impulse der religiösen Reformen von der katholischen Kirche ausgegangen sind, vor allem von verschiedenen Reformorden, die stark von der Spiritualität der niederländischen devotio moderna beeinflusst gewesen sind. Diese Reformbestrebungen wurden maßgeblich durch die Förderung des Buchdrucks durch den damaligen Erzbischof von Toledo, Francisco Jiménez de Cisneros, vorangebracht, der im Jahre 1517 die Veröffentlichung der ersten polyglotten Gesamtausgabe der Heiligen Schrift ermöglicht hat. Im Blick auf dieses religiöse und kirchliche Reformpotential in Spanien urteilt der Berliner Historiker Heinz Schilling mit Recht, dass zur Zeit Luthers auf der Iberischen Halbinsel „bereits vorreformatorisch geleistet“ worden ist, „was andernorts erst der reformatorische Aufstand und die tridentinische Reform darauf erzwangen“, und zieht daraus den Schluss: „Das hatte wie nichts anderes Spanien gegen die lutherische ‚Häresie‘ imprägniert.“19 An diesem Urteil kann man einen doppelten Sachverhalt ablesen. Hätte auf der einen Seite Martin Luthers Ruf nach Buße und Reform bei den damaligen Bischöfen und beim Papst in Rom offene Ohren gefunden, wäre die von ihm gewollte und initiierte Reform nicht zur Reformation geworden. Dass aus der ursprünglichen Reform der Kirche eine die Kirche spaltende Reformation geworden ist, dafür trägt die damalige katholische Kir-
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Vgl. KURT KARDINAL KOCH, Die identitätsstiftende Kraft des Wortes Gottes im Licht des Zweiten Vatikanischen Konzils, in: P. Klasvogt / B. Neumann (Hrsg.), Reform oder Reformation? (Anm. 6), S. 71–100. HEINZ SCHILLING, Luther und die Reformation 1517–2017, in: Uwe Swarat / Thomas Söding (Hrsg.), Heillos gespalten? Segensreich erneuert? 500 Jahre Reformation in der Vielfalt ökumenischer Perspektiven, Freiburg i. Br. 2016, S. 17–28, hier: S. 22.
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che deshalb eine große Mitschuld; und es verdient daran erinnert zu werden, dass bereits Papst Hadrian VI. auf dem Reichstag zu Nürnberg im Jahre 1523 durch seinen Legaten diese Mitschuld öffentlich eingestanden hat. Auf der anderen Seite impliziert das genannte Urteil auch den Schluss, dass Martin Luther mit seinen ursprünglichen Reformanliegen durchaus in der großen und langen Tradition der katholischen Erneuerer vor ihm stand, die sich in krisenhaften Situationen der Kirche stets darauf zurückbesonnen haben, dass im Leben und in der Sendung der Kirche dem Wort Gottes der Primat zukommen muss. Denken wir nur an die beiden Gründer der Bettelorden, den heiligen Franziskus und den heiligen Dominikus, die in erster Linie nicht neue Orden gründen, sondern die Kirche von innen her erneuern wollten, und zwar vor allem dadurch, dass sie in der evangelischen Lebensform das Evangelium sine glossa und damit in seiner wörtlichen Ganzheit zu leben wagten. Oder denken wir an den heiligen Karl Borromäus, der, als er seinen Bischofssitz in der lombardischen Metropole in Besitz genommen hat, eines der am weitesten verbreiteten Versäumnisse des Klerus in der fehlenden Predigt diagnostiziert und seine primäre Sendung als Bischof darin gesehen hat, „Zeuge zu sein, die Mysterien Christi zu verkünden, das Evangelium jedem Geschöpf zu predigen“20. In dieser Grundhaltung hat er sich in seinem Bistum und weit darüber hinaus um die Verwirklichung des Konzils von Trient sehr verdient gemacht, zu dessen großen Verdiensten es seinerseits gehört, dass die katholische Kirche in der Zeit zwischen dem Abschluss des Konzils und der Mitte des 17. Jahrhunderts hinsichtlich des religiösen Lebens und vor allem auch des missionarischen Aufbruchs eine weitreichende Erneuerung erleben konnte. Das Konzil von Trient ist zwar auch als Antwort auf die protestantische Reformation zu verstehen, man darf in ihm aber nicht einfach ein gegenreformatorisches Konzil und eine antiprotestantische Offensive sehen. Man muss es vielmehr als Ereignis der katholischen Reform würdigen,21
20 21
Zitiert nach: GIUSEPPE ALBERIGO, Karl Borromäus, Geschichtliche Sensibilität und pastorales Engagement, Münster 1995, S. 39–40. Vgl. KURT KOCH, Wahrnehmung und Bedeutung des Tridentinums in Theologie und ökumenischem Dialog in der Gegenwart, in: Peter Walter / Günter Wassilowsky (Hrsg.), Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563– 2013). Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 450. Jahrestages des Abschlusses des Konzils von Trient, Freiburg i. Br. 18.–21. September 2013 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte, Bd. 163), Münster 2016, S. 37–49. Vgl.
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weshalb der katholische Kirchenhistoriker Hubert Jedin den zumindest einseitig verstandenen Begriff der ‚Gegenreformation‘ durch denjenigen der ‚katholischen Reform‘ ersetzt hat.22 In derselben Sinnrichtung hat in der jüngeren Vergangenheit auch das Zweite Vatikanische Konzil eine ähnliche Reform der Kirche dadurch initiiert23, dass es dem Wort Gottes wieder jene Zentralität zugewiesen hat, die es im Leben und in der Sendung der Kirche haben muss. Indem gerade das Zweite Vatikanische Konzil wichtige Forderungen Martin Luthers – wie die Wiederentdeckung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften, die Feier des Gottesdienstes in der Volkssprache und die Ermöglichung des Laienkelches – eingelöst hat, hat man sogar urteilen können, der Reformator habe mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil eigentlich auch „sein Konzil gefunden“24, an das er zu seinen Lebzeiten appelliert hatte. Ruft man sich diese und viele andere Reformvorgänge in Geschichte und Gegenwart in Erinnerung, verbietet es sich, Reformation und Reform miteinander zu identifizieren; sie müssen vielmehr voneinander unterschieden und doch aufeinander bezogen werden. Denn die Geschichte zeigt, dass die Reformation nicht die einzige Antwort auf die Reformbedürftigkeit der Kirche damals gewesen ist. Und die Geschichte zeigt ebenso, dass auf der einen Seite Begriff und Realität der Reform auch in der katholischen Kirche eine Heimat haben und auch sie sich als Ecclesia semper reformanda versteht und dass auf der anderen Seite auch die Kirchen der Reformation immer wieder der Reform bedürftig sind. Da somit Reform den größeren Radius als Reformation aufweist, stellt sich erst recht die Frage, wie sich die stets notwendige Reform der Kirche und der geschichtliche Vorgang der Reformation genauer zueinander verhalten.
22 23
24
ferner: GÜNTER FRANK / ALBERT KÄUFLEIN / TOBIAS LICHT (Hrsg.), Von der Reformation zur Reform. Neue Zugänge zum Konzil von Trient, Freiburg i. Br. 2015. Vgl. HUBERT JEDIN, Geschichte des Konzils von Trient. Bände I–IV, Freiburg i. Br. 1949–1975. Vgl. KURT KOCH, Was bedeutet heute „Reform“ der katholischen Kirche in der Schweiz? Zur Lage der Konzilsrezeption, in: Mariano Delgado / Markus Ries (Hrsg.), Karl Borromäus und die katholische Reform. Akten des Freiburger Symposiums zur 400. Wiederkehr der Heiligsprechung des Schutzpatrons der katholischen Schweiz, Freiburg i. d. Schweiz / Stuttgart 2010, S. 365–394. ALBERT BRANDENBURG, Martin Luther gegenwärtig. Katholische Lutherstudien, Paderborn 1969, S. 146.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
b.
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Reformation und Kirchenspaltung
Um diese Frage beantworten zu können, führen wir uns nochmals kurz den in meinen Augen zweifellos radikalsten Reformer in der Geschichte der Kirche vor Augen, nämlich den heiligen Franziskus von Assisi. Martin Luther hat zwar in den mittelalterlichen Reformorden und im Ordensleben auch und gerade im Geist des heiligen Franziskus von Assisi keine wahre Reform der Kirche gesehen, sondern deren Anspruch auf eine besondere Vollkommenheit als reine „Menschenerfindung“ verurteilt.25 Die geschichtliche Erinnerung an den heiligen Franziskus bringt es aber an den Tag, dass es nicht der mächtige Papst Innozenz III. gewesen ist, der die Kirche in der damals bedrängenden Zeit vor dem Einsturz bewahrt und erneuert hat, sondern der kleine und unbedeutende Ordensmann, dass aber Franziskus von Assisi die Kirche keineswegs ohne oder gegen den Papst reformiert hat, sondern nur in Gemeinschaft mit ihm. Der heilige Franz von Assisi darf deshalb als gelungenes Beispiel einer radikalen Kirchenreform in Einheit mit der kirchlichen Hierarchie gelten, und er zeigt, dass Reform auch in der katholischen Kirche ein positives Wort ist, dass aber der katholische Grundsatz der permanenten Reformbedürftigkeit der Kirche jeden Bruch mit der Tradition und dem Papst als dem Hüter der Tradition und dem Garanten der Tradition zu vermeiden versucht. Demgegenüber haben die Kirchenreformen der Reformatoren allesamt zur Kirchenspaltung geführt, die sich zudem im Protestantismus in weiteren Spaltungen und Fragmentierungen, und zwar bereits zu Luthers Lebzeiten, fortgesetzt hat. Hier liegt der tiefste Grund, dass die Mitfreude über die notwendige Kirchenreform im 16. Jahrhundert auf katholischer Seite auch mit Schmerz verbunden ist, weil sie schließlich zur Spaltung der Kirche und vielen anderen negativen Auswirkungen geführt hat, und dass in der Folge das Reformationsgedenken für Katholiken keine Jubelfeier sein kann, sondern auch ein Anlass zu Besinnung, Schuldbekenntnis und Umkehr sein muss. Diese Einstellung entspricht dabei durchaus dem eigentlichen Anliegen der Reformation vor allem von Martin Luther. Ihm ist es, wie gesagt, um
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Vgl. JOHANNES SCHLAGETER, Die Reformation im Rahmen der Reformbewegungen des Mittelalters aus katholischer Sicht. Franziskanische Reform vs. Luthers Reformation, in: P. Klasvogt / B. Neumann (Hrsg.), Reform oder Reformation? (Anm. 6), S. 42–67.
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eine umfassende und tief greifende Reform der ganzen Kirche im Geist des Evangeliums und nicht um eine Reformation im Sinne der mit ihr schließlich zerbrochenen Einheit der Kirche und des Entstehens von neuen reformatorischen Kirchen gegangen. Nimmt man diese Intention Luthers ernst, muss man in der historischen Tatsache, dass seine Kirchenreform in der damaligen Zeit nicht zur Erfüllung gelangen konnte, nicht nur das Versagen der damaligen römischen Kirche erblicken; das Entstehen eines besonderen evangelischen Kirchentums und die Abtrennung evangelischer Sonderkirchen von der einen katholischen Kirche müssen vielmehr als Notlösung und können nicht als Gelingen der Reformation, sondern müssen als ihr „Scheitern“ betrachtet werden.26 Das wirkliche Gelingen der Reformation wird man demgegenüber erst in der Überwindung der ererbten Spaltungen der Christen und in der Wiederherstellung der im Geist des Evangeliums erneuerten einen Kirche wahrnehmen können, weshalb man von einem ökumenisch gemeinsamen Reformationsgedenken auch neue und mutige Impulse für den Prozess der ökumenischen Annäherung zwischen Katholiken und Protestanten erwarten darf. Die historische Tatsache, dass die Reformation im 16. Jahrhundert zur Kirchenspaltung und zum Entstehen von neuen kirchlichen Gemeinschaften geführt hat, veranlasst dazu, den grundlegenden Unterschied zwischen Reform und Reformation zu benennen. Diesen Unterschied kann man mit dem Kirchenhistoriker und Kardinal Walter Brandmüller darin festmachen, dass Reform „nie zum Ergebnis haben kann, dass das Reformierte nicht mehr mit dem vorherigen zu Reformierenden identisch ist“27. Denn eine Reform betrifft die konkrete Erscheinungsform und Verwirklichung, nicht hingegen das Wesen des zu Reformierenden. Ansonsten würde es sich nicht um eine Reform, sondern um eine Wesensveränderung handeln, die das zu Reformierende zu etwas Anderem machen würde, als es vorher gewesen ist. Das Wort Reform weist aber darauf hin, dass die Kirche im ursprünglichen Sinn aus der Form geraten ist, sich in einer Deformation zeigt und ihre ursprüngliche und authentische Form wieder finden muss und dass folglich wahre Erneuerung in einer Rückbesinnung auf das Ursprüngliche, das zugleich als normativ betrachtet wird, erfolgen muss.
26 27
WOLFHART PANNENBERG, Reformation und Einheit der Kirche, in: Ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 254–267, hier: S. 255. WALTER BRANDMÜLLER, Die Reformation Martin Luthers in katholischer Sicht, in: Ders., Licht und Schatten. Kirchengeschichte zwischen Glaube, Fakten und Legenden, Augsburg 2007, S. 102–120, hier: S. 108.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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Reform der Kirche ist in ihrer ursprünglichen Bedeutung Re-Form, nämlich Wiederherstellen und Wiedergewinnen der wahren Form der einen Kirche oder, mit der treffenden Formulierung des katholischen Bibeltheologen Thomas Söding, „Wiedergewinnung des Ursprünglichen, des Wesentlichen und Authentischen – oder doch jedenfalls das ehrliche Bemühen darum“28. Im Licht dieser Definition stellt sich in ökumenischer Sicht die grundlegende Frage, ob sich die Reformation im 16. Jahrhundert in diesem Sinn als Reform der Kirche verstanden hat oder ob sie nicht doch in einem viel radikaleren Sinn zu einer Wesensveränderung geführt hat. Damit stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Reformation und Tradition.
c.
Reformation und Tradition
Dieser Frage muss deshalb nachgegangen werden, weil es auf der einen Seite durchaus verständlich ist, dass die Reformatoren große Probleme mit dem mittelalterlichen Paradigma der Papstkirche gehabt haben, dass sie aber auf der anderen Seite, was man von einer kirchlichen Reformbewegung hätte erwarten können und sollen, keineswegs in konsequenter Weise zum frühkirchlichen Paradigma zurückgekehrt sind. Dies gilt im Blick auf Martin Luther freilich nicht in seiner frühen Zeit, in der ihm weitgehend das katholische Verständnis von Kirche vor Augen gestanden hat,29 sondern erst in einer späteren Phase seines Lebens und Wirkens, als er in seiner reformatorischen Programmschrift „An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung“ 30 aus dem Jahre 1520 ein Verständnis des allgemeinen Priestertums aller Glaubenden vertreten hat, mit dem er das katholische Kirchen- und Amtsverständnis grundsätzlich in Frage gestellt hat, und als er in seiner zweiten Programmschrift „De captivitate Babylonica ecclesiae“31 ebenfalls aus dem Jahre
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30 31
THOMAS SÖDING, Umkehr der Kirche. Wegweiser im Neuen Testament, Freiburg i. Br. 2014, S. 111. Vgl. THEODOR DIETER, Die Eucharistische Ekklesiologie Joseph Ratzingers – eine lutherische Perspektive, in: Christian Schaller (Hrsg.), Kirche – Sakrament und Gemeinschaft. Zu Ekklesiologie und Ökumene bei Joseph Ratzinger (RatzingerStudien, Bd. 4), Regensburg 2011, S. 276–316, bes. S. 288–299: Kirche als Gemeinde bei Luther. MARTIN LUTHER, WA 6, S. 381–469. MARTIN LUTHER, WA 6, S. 497–573.
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1520 auch die sakramentale Ordnung der katholischen Kirche, jedenfalls in der Weise, in der sie ihm damals begegnet ist, verworfen hat. Damit hat Luther, wie Kardinal Walter Kasper mit Recht urteilt, in Wirklichkeit „einen Bruch mit dem katholischen Kirchenverständnis“ 32 eingeleitet. In dieser Richtung haben sich im Laufe der Geschichte die Reformationsbewegungen immer mehr von jenem ekklesiologischen Grundgefüge verabschiedet, das sich seit dem zweiten Jahrhundert herausgebildet hat und das die katholische Kirche mit allen orthodoxen und orientalischorthodoxen Kirchen teilt, nämlich die sakramental-eucharistische und episkopale Grundstruktur der Kirche, der gemäß Kirche dort ist, wo das Bischofsamt in der sakramentalen Nachfolge der Apostel und damit auch die Eucharistie als Sakrament, dem der Bischof und der Priester vorstehen, gegeben sind.33 Demgegenüber sind mit der Reformation im 16. Jahrhundert ein anderer Typus von Kirche und, da sich diese kirchlichen Gemeinschaften selbst bald weiter auseinanderdividiert haben, andere Typen von Kirche entstanden, denen, wie Papst Benedikt XVI. sie charakterisiert hat, gemeinsam ist, dass sie „auf andere Weise“ Kirche sind: „Eben nicht, wie sie das ja selbst erklären, auf die gleiche Art, wie es die Kirchen der großen Tradition des Altertums sind.“34 Bei diesem Urteil handelt es sich freilich nicht einfach um eine katholische Außensicht, sondern um das Selbstverständnis der evangelischen Kirche selbst, wenn beispielsweise der Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland für das Reformationsgedenken im Jahre 2017 „Rechtfertigung und Freiheit“ emphatisch betont, die reformatorischen Einsichten hätten zu einer „völligen Neuordnung des kirchlichen Wesens“ geführt, wobei diese Neuordnung noch dahingehend zugespitzt wird, dass es Pfarrerinnen und Pfarrer „nur um der Ordnung willen“ gibt, im Prinzip aber jeder Christ „die Sakramente verwalten, d. h. die Taufe spenden und das Abendmahl austeilen“ kann.35 Angesichts dieses Bruchs mit dem altkirchlichen Kirchenverständnis stellt sich die noch grundlegendere ökumenische Frage nach dem Verhält32 33
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WALTER KARDINAL KASPER, Martin Luther. Eine ökumenische Perspektive, Ostfildern 2016, S. 31. Vgl. KURT KOCH, Die apostolische Dimension der Kirche im ökumenischen Gespräch, in: Communio. Internationale katholische Zeitschrift 40 (2011), S. 234– 252. BENEDIKT XVI., Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg i. Br. 2010, S. 120. Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 2014, S. 90–91.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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nis zwischen Reformation und Tradition, genauer die Frage, wie sich die Reformation zur gesamten Tradition der Kirche verhält, von der Katholiken und Lutheranern immerhin 1500 Jahre und damit drei Viertel der Kirchengeschichte gemeinsam sind. In diesem weiteren Kontext wäre die Frage zu besprechen, wie wir heute, und zwar die ökumenischen Partner für sich und gemeinsam, die Reformation im 16. Jahrhundert betrachten: nach wie vor, wie in der Vergangenheit üblich, als Bruch mit der bisherigen Tradition der Christenheit, mit der etwas Neues begonnen hat, oder in einer bleibenden Kontinuität mit der gesamten Tradition der universalen Kirche. Es handelt sich dabei um jene Frage, die bereits vor Jahren Walter Kardinal Kasper, mein Vorgänger als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, im Blick auf das bevorstehende Reformationsgedenken an die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften gestellt hat, ob sie die Reformation in einem konfessionellen Sinn als „ein neues Paradigma“ wahrnehmen, „das sich durch eine bleibende Grunddifferenz ‚protestantisch‘ vom Katholischen abgrenzt“, oder ob sie diese im ökumenischen Sinn als „Reform und Erneuerung der einen universalen Kirche“ verstehen.36 Von der Beantwortung dieser zentralen Frage hängt nicht nur die Art und Weise ab, in der wir Katholiken uns am Reformationsgedenken beteiligen können, sondern auch und vor allem wie der ökumenische Dialog der katholischen Kirche mit den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften weitergehen soll.
3. Vom historischen Konflikt zur ökumenischen Gemeinschaft Damit sind die drei entscheidenden Fragen benannt, die sich in ökumenischer Sicht bei einem gemeinsamen Reformationsgedenken stellen und die ich in der Überzeugung bewusst pointiert formuliert habe, dass wir das Reformationsgedenken als willkommene Gelegenheit verstehen sollten, unse-
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WALTER KARDINAL KASPER, Ökumenisch von Gott sprechen? in: Ingolf U. Dalferth / Johannes Fischer / Hans-Peter Grosshans (Hrsg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre (FS für Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag), Tübingen 2004, S. 291–302, hier: S. 302.
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re heutige ökumenische Situation zu überdenken und neue Schritte in die Zukunft zu wagen. Das Reformationsgedenken wird vor allem dann eine ökumenische Chance sein, wenn jene drei Schwerpunkte realisiert werden, die im Mittelpunkt des ökumenischen Dokumentes stehen, das von der Lutherisch / Römisch-katholischen Kommission für die Einheit im Blick auf das Reformationsgedenken erarbeitet worden ist und den signifikanten Titel trägt: „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“37. Dieses Dokument ruht seinerseits auf wesentlichen Erkenntnissen auf, die vom ökumenischen Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen im Projekt „Lehrverurteilungen – kirchentrennend?“ 38 erarbeitet worden sind, das zum Ziel gehabt hat, die in den reformatorischen Bekenntnisschriften und in den Dekreten des Konzils von Trient enthaltenen Lehrverurteilungen vor allem im Blick auf die Lehre von der Rechtfertigung, den Sakramenten und dem kirchlichen Amt dahingehend zu überprüfen, ob sie den heutigen ökumenischen Partner noch treffen.
a.
Aushalten der historischen Konflikte und Schuldbekenntnis
Der Weg, der „vom Konflikt zur Gemeinschaft“ führt, heißt im Licht des christlichen Glaubens Versöhnung. Versöhnung aber setzt Umkehr voraus, und Umkehr ist die Conditio sine qua non aller ökumenischen Bemühungen, wie das Ökumenismus-Dekret des Zweiten Vatikanischen Konzils „Unitatis redintegratio“ entschieden betont: „Es gibt keinen echten Ökumenismus ohne innere Bekehrung. Denn aus dem Neuwerden des Geistes, aus der Selbstverleugnung und aus dem freien Strömen der Liebe erwächst und reift das Verlangen nach der Einheit.“39
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Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames Lutherisch-Katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017. Bericht der LUTHERISCH / RÖMISCH-KATHOLISCHEN KOMMISSION FÜR DIE EINHEIT, Leipzig / Paderborn 2013. KARL LEHMANN / WOLFHART PANNENBERG (Hrsg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg i. Br. / Göttingen 1986. Vgl. auch WOLF-DIETER HAUSCHILD u. a., Ein Schritt zur Einheit der Kirchen. Können die gegenseitigen Lehrverurteilungen aufgehoben werden?, Regensburg 1986. Unitatis redintegratio, Nr. 7. Vgl. dazu: KURT KOCH, Innere Reform und Umkehr als Voraussetzung von Ökumene, in: Elisabeth Dieckmann / Karl Kardinal Leh-
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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Das erste Stichwort heißt deshalb Schuldbekenntnis und Buße; und der Titel des Dokumentes „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ verpflichtet dazu, nicht zu schnell zur „Gemeinschaft“ kommen zu wollen, sondern auch den „Konflikt“ auszuhalten. Dazu haben wir allen Grund, wenn wir bedenken, dass die Reformation nicht nur die Wiederentdeckung der biblischen Botschaft von der Rechtfertigung durch Glauben bedeutet, sondern auch zur Kirchenspaltung und im 16. / 17. Jahrhundert zu blutigen Konfessionskriegen geführt hat. Zu erinnern ist dabei vor allem an den Dreißigjährigen Krieg, der das damalige Europa in ein rotes Meer verwandelt hat, und in der damaligen Eidgenossenschaft an die zwei Kappeler und die zwei Villmerger Kriege und den Sonderbundkrieg. Der Augsburger Religionsfriede im Jahre 1555 konnte zwar zu einer gewissen Befriedung beitragen. Doch der damals zum Reichsgesetz erhobene Grundsatz „Cuius regio, eius religio“ hat nicht dem einzelnen Christen, sondern nur dem Landesherrn die Freiheit gegeben, der katholischen oder lutherischen Glaubensgemeinschaft zuzugehören, und hat zu einem Kirchenwesen geführt, in dem die Glaubensfreiheit des einzelnen Christen keineswegs garantiert gewesen, sondern über sie landesherrlich verfügt worden ist. Als Fernwirkung dieser schwerwiegenden Konflikte und Entwicklungen muss die Ausbildung von säkularen Nationalstaaten mit starken konfessionellen Abgrenzungen als eine große Bürde beurteilt werden, die aus der Reformationszeit geblieben ist und für die beide Seiten im Konflikt Verantwortung tragen. Wir Christen dürfen aus unserem historischen Bewusstsein die Tatsache nicht verdrängen, dass die neuzeitliche Säkularisierung, genauer der Prozess der Entkleidung des christlichen Glaubens von seiner Sendung für den gesellschaftlichen Frieden, und in der Folge seine Privatisierung als zwar ungewollte und unbeabsichtigte, aber tragische und weitreichende Folgewirkung der abendländischen Kirchenspaltung im 16. Jahrhundert zu verstehen und deshalb vom Christentum weithin selbst verschuldet ist, dass es sich also um eine „sozusagen ‚hausgemachte‘ Privatisierung des Christentums“40 handelt. Die Emanzipation der neuzeitlichen Kulturwelt zunächst von den Gegensätzen der unter sich zerstrittenen Konfessionskirchen und letztlich vom Christentum überhaupt muss als Ergebnis und Erschöpfungsende der Kirchenspaltung und der anschließenden blutigen
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mann (Hrsg.), Blick zurück nach vorn. Das Zweite Vatikanum aus der Perspektive der multilateralen Ökumene, Würzburg 2016, S. 161–186. JOHANN BABTIST METZ, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 1977, S. 31.
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Konfessionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts beurteilt werden. Weil in deren tragischen Folge das Christentum historisch nur noch greifbar gewesen ist in der Gestalt der verschiedenen Konfessionen, die einander bis aufs Blut bekämpft haben, musste diese historische Konstellation zur unvermeidlichen Konsequenz haben, dass der konfessionelle Friede um den teuren Preis erkauft wurde, dass von den konfessionellen Differenzen und, in Fernwirkung, vom Christentum überhaupt abgesehen wurde, um dem gesellschaftlichen Frieden eine neue Basis geben zu können, wie Wolfhart Pannenberg mit Recht diagnostiziert hat: „Wo die Säkularisierung der Neuzeit die Form einer Entfremdung vom Christentum angenommen hat, da ist das nicht als ein äußerliches Schicksal über die Kirchen gekommen, sondern als die Folgen ihrer eigenen Sünden gegen die Einheit, als Folge der Kirchenspaltung des 16. Jahrhunderts und der unentschiedenen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts, die den Menschen in konfessionell gemischten Territorien keine andere Wahl ließen, als ihr Zusammenleben auf einer von den konfessionellen Gegensätzen unberührten gemeinsamen Grundlage neu aufzubauen.“41 Im Bewusstsein dieser weitreichenden Folgelasten der Reformation und der anschließenden Kirchenspaltung dürfte die – heute wieder neue Urstände feiernde – Behauptung nicht mehr so leicht auf die Lippen kommen, mit der Reformation sei die Morgenröte der Neuzeit angebrochen und es sei die „Kirche der Freiheit“ geboren worden. Abgesehen davon, dass die Neuzeit viele Wurzeln aufweist und nicht aus einem einzigen Ursprung abgeleitet werden kann,42 muss es zu denken geben, dass Wolfhart Pannenberg in seiner geschichtstheologischen Sicht auf der einen Seite die Spaltungen der Kirche, die aus der Reformation des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, als „Gottes Gericht“ über die „Deformation seiner Kirche“ im mittelalterlichen Klerikalismus beurteilt43 und auf der anderen Seite die Neuzeit gerade nicht als Ergebnis der Reformation, sondern als Folge der Zerstörung der kirchlichen Einheit und insofern als unbeabsichtigte Folge der Reformation gedeutet und deshalb in zugespitzter Weise
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WOLFHART PANNENBERG, Einheit der Kirche als Glaubenswirklichkeit und als ökumenisches Ziel, in: Ders., Ethik und Ekklesiologie. Gesammelte Aufsätze, Göttingen 1977, S. 200–210, hier: S. 201. Zum Ganzen vgl. DERS., Christentum in einer säkularisierten Welt, Freiburg i. Br. 1988. Vgl. dazu HARM KLUETING, Luther und die Neuzeit, Darmstadt 2011. WOLFHART PANNENBERG. Die Bestimmung des Menschen. Menschsein, Erwählung und Geschichte, Göttingen 1978, S. 110.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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geurteilt hat: „Ohne Reformation keine Kirchenspaltung, keine konfessionellen Religionskriege, kein säkularer Staat, kein religiöser Pluralismus, keine Beschränkung der Religion auf die Privatsphäre und kein religiöser Individualismus, zumindest nicht als beherrschende Erscheinung eines Zeitalters.“44 Wenn wir uns diese geschichtlichen Entwicklungen vor Augen führen, haben Katholiken und Lutheraner gemeinsam allen Grund, Klage zu erheben und Buße zu tun für die Kirchenspaltung und ihre Folgen und auch für die Missverständnisse, Böswilligkeiten und Verletzungen, die sie einander in den vergangenen fünfhundert Jahren angetan haben. Ein solcher öffentlicher Bußakt muss jedenfalls der erste Schritt bei einem gemeinsamen Reformationsgedenken sein.
b.
Wiederentdeckung der Gemeinschaft im Glauben
Wenn im Blick auf das bevorstehende Reformationsgedenken Lutheraner und Katholiken den Mut und die Demut aufbringen, sich den historischen Konflikten und ihren Folgelasten ehrlich zu stellen, werden sie auch den geschichtlichen Weg zu mehr Gemeinschaft untereinander nachvollziehen können. Das zweite Stichwort heißt deshalb Dankbarkeit. Denn im Jahre 2017 erinnern wir nicht nur fünfhundert Jahre Reformation, sondern auch fünfzig Jahre intensiven Dialog zwischen Katholiken und Lutheranern, in dem wir entdecken durften, wie viel uns gemeinsam ist. Der Weg zu mehr Gemeinschaft hat mit einer kritischen Überprüfung und Überwindung des traditionellen polemischen Bildes von Martin Luther in der katholischen Kirche begonnen.45 Dieses traditionelle Bild ist bereits zu seinen Lebzeiten von Johannes Cochläus vertreten worden, der in seinen „Commentaria de actis et scriptis Martini Lutheri“ im Jahre 1549, also drei Jahre nach Luthers Tod, ihn als Zerstörer der Kircheneinheit, als Verderber der Moral und als frechen Revolutionär inkriminiert hat, „der durch seine Häresien unzählige Seelen ins Verderben gestürzt, unendliches Leid über Deutschland und die ganze Christenheit gebracht
44 45
WOLFHART PANNENBERG, Reformation zwischen gestern und morgen, Gütersloh 1969, S. 14. Vgl. WERNER BEYNA, Das moderne katholische Lutherbild, Essen 1969.
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hat“46. Wie sehr diese negative Sicht über Jahrhunderte hin eine der wichtigsten Referenzen des katholischen Lutherbildes gewesen ist, wird bei Heinrich Suso Denifle sichtbar, der noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts die alte Polemik aufgegriffen und behauptet hat, Luther habe die Lehre der Rechtfertigung allein durch Glauben und nicht durch Werke, die gewiss in die Mitte seines theologischen Denkens gehört, allein zu dem Zweck erfunden, „um desto sorgloser und sicherer sein ausschweifendes Leben führen zu können“47. Dieses äußerst negative und polemische Lutherbild ist gewiss auch als Reaktion auf das spiegelverkehrte heroische Lutherbild in der protestantischen Tradition zu verstehen. An dessen Stelle ist in der Zwischenzeit in der protestantischen Geschichtsschreibung aber das Bemühen um ein adäquateres Bild sowohl der damaligen Situation der katholischen Kirche als auch von Martin Luther getreten. Auf der einen Seite ist deutlich geworden, dass das Mittelalter keineswegs so finster gewesen ist, wie es zu gerne und zu lange gezeichnet worden ist, dass vielmehr auch im Mittelalter zahlreiche Reformen stattgefunden haben. Und auf der anderen Seite ist ebenso bewusst geworden, dass Martin Luther viel mehr im mittelalterlichen Denken verwurzelt gewesen ist, als man zugestanden hat. Diese Verortung zeigt sich nicht nur in seiner weitgehenden apokalyptischen Gestimmtheit, in der er sich in den eschatologischen Endkampf zwischen Christus und dem Antichristen gestellt gesehen und deshalb im Papst den Antichristen ausfindig gemacht und auch in den meisten seiner Gegner den Teufel am Werk gesehen hat.48 Luthers Beheimatung im mittelalterlichen Denken zeigt sich auch in der Tatsache, dass sich seine Reformation zwar von der in die politischen Wirren der damaligen Zeit verwickelten Herrschaft des Papsttums befreit hat, aber alsbald in eine ähnliche Abhängigkeit von den Fürsten geraten ist, sodass unter diesem Gesichtspunkt seine Reformation eher ins Mittelalter zurück als in die Neuzeit voraus geführt hat. Auf diesem geschichtlichen Hintergrund ist es in der protestantischen
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47 48
So in der Darstellung von Cochläus durch HUBERT JEDIN, Wandlungen des Lutherbildes in der katholischen Kirchengeschichtsschreibung, in: Karl Forster (Hrsg.), Wandlungen des Lutherbildes, Würzburg 1966, S. 77–101, hier: S. 80. HEINRICH DENIFLE, Luther und Luthertum in ihrer ersten Entwicklung. Zwei Bände, Mainz 1904 / 1909. Vgl. HEIKO A. OBERMANN, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1981, und: HEINZ SCHILLING, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs. Eine Biographie, München 2012.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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Geschichtsschreibung schließlich möglich geworden, unbefangen auch die Schattenseiten im Leben und Wirken von Martin Luther beim Namen zu nennen wie seine stets deftiger werdenden Attacken gegen die katholische Kirche und vor allem gegen das Papsttum, seine gehässigen Äußerungen über die Juden49, seine heftigen Angriffe gegen die Bauern während des Bauernkrieges und seine Befürwortung und theologische Rechtfertigung der Verfolgung der Täufer durch die lutherischen Obrigkeiten. Die differenzierte Wahrnehmung Martin Luthers und seiner Wittenberger Reformation bei lutherischen Theologen hat die Entwicklung eines im Ganzen positiven katholischen Lutherbildes nicht behindert, sondern im Gegenteil gefördert. Sein Durchbruch in der katholischen Lutherforschung ist dabei vom katholischen Kirchenhistoriker Joseph Lortz vollzogen worden, der Martin Luther als Mönch, der sein Christsein und sein Ordensleben sehr ernst genommen hat, charakterisiert und von daher die berühmt gewordene These vertreten hat, Luther habe in sich selbst einen Katholizismus niedergerungen, „der nicht katholisch war“50. Mit dieser entscheidenden Wende im Ringen um ein historisch und theologisch adäquateres Lutherbild verbunden ist auch die Wahrnehmung der Verwurzelung Luthers im katholischen Denken und damit die Wiederentdeckung des gleichsam „katholischen Luther“51 und die Erschließung seiner ökumenischen Bedeutung.52 Diese positive Sicht hat die Römisch-katholische / Evangelisch-lutherische Kommission besonders anlässlich der 500. Wiederkehr des Geburtstags von Martin Luther im Jahre 1983 zum Ausdruck gebracht, indem sie wesentliche Anliegen des Reformators in ökumenischer Gemeinschaft in der Überzeugung gewürdigt hat: „Weder die evan-
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Vgl. HEINZ KREMERS, Die Juden und Martin Luther – Martin Luther und die Juden. Geschichte – Wirkungsgeschichte – Herausforderung, Neukirchen 1985. JOSEPH LORTZ, Die Reformation in Deutschland, Freiburg i. Br. 1949, S. 176. Vgl. JOHANNES BROSSEDER, Der katholische Luther, in: G. Frank / A. Käuflein / T. Licht (Hrsg.), Von der Reformation zur Reform (Anm. 21), S. 65–96; PETER NEUNER, Luther – katholisch gesehen, in: U. Swarat / Th. Söding (Hrsg.), Heillos gespalten? (Anm. 19), S. 119–135. Vgl. HANS FRIEDRICH GEISSER u. a., Weder Ketzer noch Heiliger. Luthers Bedeutung für den ökumenischen Dialog, Regensburg 1982; UDO HAHN / MARLIES MÜGGE (Hrsg.), Martin Luther – Vorbild im Glauben. Die Bedeutung des Reformators im ökumenischen Gespräch, Neukirchen 1996; KARL LEHMANN (Hrsg.), Luthers Sendung für Katholiken und Protestanten, München / Zürich 1982; PETER MANNS / HARDING MEYER (Hrsg.), Ökumenische Erschliessung Martin Luthers, Paderborn / Frankfurt a. M. 1983; OTTO HERMANN PESCH (Hrsg.), Lehren aus dem Luther-Jahr. Sein Ertrag für die Ökumene, München / Zürich 1984.
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gelische noch die katholische Christenheit kann an der Gestalt und an der Botschaft dieses Menschen vorbeigehen.“ Die besondere ökumenische Bedeutung Luthers ist dabei mit der Ehrenbezeichnung „Zeuge des Evangeliums“53 gewürdigt worden. Die neue Sicht Martin Luthers hat auch eine kirchenoffizielle Bestätigung gefunden, als sich der zweite Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Johannes Kardinal Willebrands, in seinem Grundsatzreferat bei der fünften Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds in Evian-les-Bains im Jahre 1970 in einer sehr positiven Weise über Martin Luther geäußert hat, und zwar in der Überzeugung, dass eine „gerechtere Beurteilung der Person und des Werkes Martin Luthers“ von katholischer Seite einen notwendigen Weg darstellt, „um die verlorengegangene Einheit wiederherzustellen“. In dieser Grundhaltung hat Kardinal Willebrands den Reformator sogar als „Lehrer des Glaubens“ gewürdigt: „Er mag uns darin gemeinsamer Lehrer sein, dass Gott stets Herr bleiben muss und dass unsere wichtigste menschliche Antwort absolutes Vertrauen und die Anbetung Gottes zu bleiben hat.“54 Da der besondere Beitrag der Reformation Martin Luthers für die gesamte Christenheit in der für die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben grundlegenden Wiedergewinnung der vollen Tiefe des biblischen Begriffs „Glaube“ liegt, darf man in der Tat in der Würdigung Martin Luthers als „Vater im Glauben“ seine ökumenische Aktualität am adäquatesten ausgedrückt finden.55 Die positive Würdigung Martin Luthers als „gemeinsamer Lehrer“ und als „Zeuge des Evangeliums“ haben auch verschiedene Päpste aufgegriffen, vor allem der heilige Papst Johannes Paul II. während seiner Apostolischen Reise in Deutschland im Jahre 1996 und Papst Benedikt XVI. im Jahre 2011 bei seinem Besuch im Augustinerkloster Erfurt, wo Luther Theologie studiert hat und zum Priester geweiht worden ist.
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Martin Luther – Zeuge Jesu Christi. Wort der GEMEINSAMEN RÖMISCH-KATHOLISCHEN / EVANGELISCH-LUTHERISCHEN KOMMISSION anlässlich des 500. Geburtstages Martin Luthers 1983, in: Harding Meyer, Damaskinos Papandreou, Hans Jörg Urban, Lukas Vischer (Hrsg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 2: 1982–1990, Paderborn / Frankfurt a. M. 1992, S. 444–451, hier: S. 444. JOHANNES KARDINAL WILLEBRANDS, Gesandt in die Welt, in: Ders., Mandatum Unitatis. Beiträge zur Ökumene, Paderborn 1989, S. 112–125, hier: S. 124. WOLFHART PANNENBERG, Der „Vater im Glauben“ – Luthers ökumenische Aktualität, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 3: Kirche und Ökumene, Göttingen 2000, S. 260–267.
Die Reformation in der ökumenischen Sicht der katholischen Kirche
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Die positive Sicht Martin Luthers und seines Werkes in der evangelisch-katholischen Ökumene verdankt sich weitgehend der Tatsache, dass die schmerzliche Geschichte der Spaltung gemeinsam zu schreiben versucht worden ist, was auch im Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ geschehen ist. Diese erfreuliche Entwicklung darf man ihrerseits als reife Frucht des ökumenischen Gesprächs in den vergangenen Jahrzehnten würdigen. Zu einem gemeinsamen Reformationsgedenken gehören deshalb auch Dankbarkeit und Freude über die gegenseitige Annäherung im Glauben und im Leben, die in den vergangenen fünfzig Jahren auch im Rückblick auf die lange und gemeinsame Geschichte vor Reformation und Kirchenspaltung möglich geworden ist.
c.
Hoffnungsvolle Wege in die Zukunft
Aus Buße angesichts des geschichtlichen Versagens und Leidens und aus Freude über die bisher erreichte ökumenische Gemeinschaft zwischen Lutheranern und Katholiken folgt drittens die Hoffnung, dass ein gemeinsames Reformationsgedenken uns die Möglichkeit schenken wird, weitere Schritte auf die erhoffte und ersehnte Einheit hin zu tun und nicht beim Erreichten stehen zu bleiben. Dafür erbringt das ökumenische Dokument „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ einen wichtigen Beitrag, weil es sich in ökumenischer Gemeinschaft zu zentralen Aspekten der Theologie Martin Luthers äußert, und zwar vor allem zu den kontroverstheologisch strittigen Fragen der Rechtfertigungslehre, des Verhältnisses von Schrift und Tradition, der Eucharistie und des kirchlichen Amtes. Das besondere Verdienst dieses Dokumentes besteht deshalb darin, dass in ihm gesammelt und eingebracht ist, was sich in den vergangenen ökumenischen Dialogen als Gemeinsamkeit im Glaubensverständnis herausgestellt hat. Auf diesem Hintergrund sind wir im Sinne des ökumenischen Dialogprinzips des Austausches der Gaben eingeladen, einander zu sagen, was wir vom ökumenischen Partner in der Zwischenzeit gelernt haben, was sich Katholiken von Luther und seiner Reformation angeeignet haben und was Lutheraner in der katholischen Kirche als Bereicherung erfahren. Das genannte ökumenische Dokument enthält bei seinem großen Verdienst aber auch eine zweifache Grenze, mit deren Benennung wichtige Aufgaben für die Zukunft angezeigt werden sollen.
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Die erste Grenze des Dokumentes besteht darin, dass bei der Darstellung der katholischen Sicht nicht nur das Konzil von Trient, sondern auch die weitere Lehrentwicklung bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil berücksichtigt wird, während die analoge Lehrentwicklung in den evangelischen Kirchen eher vernachlässigt wird, insofern für die Feststellung von gemeinsamen Aussagen über grundlegende Glaubensfragen als Referenzpunkt vor allem die Theologie Martin Luthers dient. Für das ökumenische Gespräch, das kirchliche Entscheidungen vorbereiten will, kann es aber letztlich nicht genügen, die Position eines einzelnen Theologen, und sei es selbst diejenige des Reformators Martin Luther, als Grundlage zu haben; diese müsste vielmehr in den evangelisch-lutherischen Bekenntnisschriften wahrgenommen werden. Dazu braucht es aber eine Verständigung darüber, welchen Stellenwert die kirchlichen Bekenntnisse in der betreffenden Kirche innehaben. Für das zukünftige ökumenische Gespräch muss folglich jene Voraussetzung moniert werden, die im Zusammenhang mit der in den siebziger und achtziger Jahren geführten Diskussion um eine mögliche Anerkennung der „Confessio Augustana“, der grundlegenden Bekenntnisschrift des Luthertums, durch die katholische Kirche56 vom damaligen Kardinal Joseph Ratzinger namhaft gemacht worden ist, dass nämlich eine katholische Anerkennung des Augsburgischen Bekenntnisses ihre evangelische Anerkennung voraussetzt, genauer die Anerkennung dessen, dass hier Kirche als Kirche lehren kann und lehrt: „Die evangelische ‚Anerkennung‘ wäre in jedem Fall die erste innere Voraussetzung einer katholischen Anerkennung und zugleich ein geistlicher Vorgang, der ökumenische Realität schaffen würde.“57 In demselben Sinn ist zu wünschen, dass den zukünfti56
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Vgl. Confessio Augustana. Bekenntnis des einen Glaubens. Gemeinsame Untersuchung lutherischer und katholischer Theologen, Paderborn / Frankfurt a. M. 1980; HEINRICH FRIES u. a., Confessio Augustana. Hindernis oder Hilfe?, Regensburg 1979; BERNHARD LOHSE / OTTO HERMANN PESCH (Hrsg.), Das Augsburger Bekenntnis von 1530 damals und heute, München / Mainz 1980; HARDING MEYER / HEINZ SCHÜTTE / HANS- JOACHIM MUND (Hrsg.), Katholische Anerkennung des Augsburgischen Bekenntnisses. Ein Vorstoß zur Einheit zwischen katholischer und lutherischer Kirche, Frankfurt a. M. 1977. Vgl. auch KURT KOCH, Die Confessio Augustana – Ein katholisches Bekenntnis? in: Ders., Gelähmte Ökumene. Was jetzt noch zu tun ist, Freiburg i. Br. 1991, S. 65–106. JOSEPH KARDINAL RATZINGER, Klarstellungen zur Frage einer „Anerkennung“ der Confessio Augustana durch die katholische Kirche, in: Ders., Theologische Prinzipienlehre. Bausteine zur Fundamentaltheologie, München 1982, S. 230–240, hier: S. 235.
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gen ökumenischen Dialogen vermehrt die kirchlichen Bekenntnisschriften aus der Reformationszeit zugrunde gelegt werden und über die weitere Bekenntnisentwicklung in der Geschichte und den heutigen Bekenntnisstand Auskunft gegeben wird, zumal auch die lutherischen Kirchen seit der Reformation grundlegende Wandlungen durchgemacht haben und in ihnen heute auch Distanzierungen von der Theologie Luthers in nicht unwesentlichen Punkten festzustellen sind. Damit wird auch die zweite Grenze des ökumenischen Dokuments „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ sichtbar. Sie besteht darin, dass für verbindliche Feststellungen von ökumenischen Konsensen Dokumente von ökumenischen Kommissionen noch nicht genügen können, wie verdienstvoll sie auch sind, sondern dass nur jene Texte in die Zukunft führen, die in den jeweiligen Kirchen wirklich rezipiert und von ihren Leitungen autoritativ angenommen worden sind. Darin darf und muss man die besondere Bedeutung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre wahrnehmen, die zwischen dem Lutherischen Weltbund und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen am 31. Oktober 1999 in Augsburg vereinbart worden ist58 und über die der heilige Papst Johannes Paul II. geurteilt hat, sie stelle einen Meilenstein in der ökumenischen Begegnung zwischen Luthertum und katholischer Kirche dar. Mit ihr konnte ein weitgehender ökumenischer Konsens in der wohl zentralsten Frage erreicht werden, die im 16. Jahrhundert zur Reformation geführt hat. Dennoch konnte mit ihr die Einheit noch nicht verwirklicht werden.59 Die in der Gemeinsamen Erklärung verwendete Formel „Konsens in grundlegenden Wahrheiten der Rechtfertigungslehre“ bringt in ehrlicher Weise zum Ausdruck, dass mit ihr noch kein voller Konsens über die Rechtfertigungslehre selbst und erst recht über die Konsequenzen dieser Lehre vor allem für das Kirchenverständnis und die Amtsfrage erzielt worden ist. Dies be-
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Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Frankfurt a.M. / Paderborn 1999. Vgl. auch LUTHERISCHER WELTBUND / PÄPSTLICHER RAT ZUR FÖRDERUNG DER EINHEIT DER CHRISTEN (Hrsg.), 10 Jahre Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Frankfurt / Paderborn 2011; WALTER KLAIBER (Hrsg.), Biblische Grundlagen der Rechtfertigungslehre. Eine ökumenische Studie zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre, Leipzig / Paderborn 2012. Vgl. BERND JOCHEN HILBERATH / WOLFHART PANNENBERG (Hrsg.), Zur Zukunft der Ökumene. Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, Regensburg 1999; ERNST PULSFORT / ROLF HANUSCH (Hrsg.), Von der „Gemeinsamen Erklärung“ zum „Gemeinsamen Herrenmahl“? Perspektiven der Ökumene im 21. Jahrhundert, Regensburg 2002.
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deutet, dass sich die weiterhin verbleibenden Fragen im genaueren Verständnis dessen, was die Kirche ist, bündeln und folglich die theologische Klärung des Kirchenverständnisses zu den Haupttraktanden des ökumenischen Dialogs zwischen Katholiken und Lutheranern gehören muss. Von daher wird der entscheidende Ausgangspunkt sichtbar, von dem aus der ökumenische Dialog weitergeführt werden kann und muss. Nach der zwischen Lutheranern und Katholiken möglich gewordenen Einigung über Grundfragen der Rechtfertigungslehre müssen nun die ekklesiologischen Implikationen auf der Tagesordnung des ökumenischen Gesprächs stehen. Deren Bearbeitung bildet einen weiteren wichtigen Schritt auf dem Weg der ökumenischen Verständigung zwischen Lutheranern und Katholiken, der schließlich einmünden könnte in die Erarbeitung einer künftigen, zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre analogen, gemeinsamen Erklärung über Kirche, Eucharistie und Amt.60 Mit einer solchen Erklärung – für die im Blick darauf im lutherisch-katholischen Dialog in den USA bereits eine „Declaration on the Way“ vorliegt61 – wäre ohne jeden Zweifel ein entscheidender Schritt auf dem Weg auf die sichtbare Kirchengemeinschaft vollzogen, die das Ziel allen ökumenischen Bemühens ist; und dies neu bewusst zu machen, muss ein wesentlicher Auftrag des bevorstehenden Reformationsgedenkens sein. Dass unsere Überlegungen in die ökumenisch vordringliche Frage nach dem Wesen der Kirche münden, ist gewiss kein Zufall. Denn diese Frage stand auch im Mittelpunkt der Reformation im 16. Jahrhundert. Schon in Luthers Thesen über den Ablass im Jahre 1517 ist es letztlich um die Frage nach der Kirche und die Frage nach dem kirchlichen Amt, das im Namen der Kirche reden und handeln kann, gegangen. Auch in der Augsburger Disputation Luthers mit Cajetan im Jahre 1518 und in der Leipziger Disputation mit Eck im Jahre 1519 sind das Kirchenverständnis und genauer die Autorität der Konzilien und des Papstes im Mittelpunkt der Dispute gestanden.62 Dies liegt auch darin begründet, dass das Glaubensverständnis 60
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Vgl. KURT KOCH, Auf dem Weg zur Kirchengemeinschaft. Welche Chance hat eine gemeinsame Erklärung zu Kirche, Eucharistie und Amt? in: Catholica 69 (2015), S. 77–94. Bishop’s Committee for Ecumenical and Interreligious Affairs – United States Conference of Catholic Bishops and Evangelical Lutheran Church in America, Declaration on the Way: Church, Ministry and Eucharist (2015). Vgl. ERWIN ISERLOH, Die protestantische Reformation, in: Ders. / Josef Glazik / Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Bd. IV: Reformation, Katholische Reform und Gegenreformation, Freiburg i. Br. 1979, S. 56 ff., 64 ff.
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Luthers keineswegs individualistisch gewesen ist; in seiner Überzeugung impliziert die Teilhabe der Glaubenden an Christus vielmehr auch die Einheit des Leibes Christi. Die Einheit der Kirche Jesu Christi ist deshalb für Luther eine Sache des Glaubens und folglich der „Gedanke der Begründung einer neuen Kirche, einer Sonderkirche“ für ihn „von vorneherein ein unmöglicher Gedanke“63 gewesen. Diese schwerwiegende Frage nach dem Wesen der Kirche konnte damals in den Disputen zwischen Luther und seinen katholischen Kontrahenten aber zu keinem befriedigenden Ergebnis führen. Es bleibt deshalb zu hoffen, dass fünfhundert Jahre später das Reformationsgedenken weitere Klärung über die ekklesiologische Frage bringen und damit dem weiteren Wachsen verbindlicher Kirchengemeinschaft zwischen Lutheranern und Katholiken dienen wird.
4. Gedenken an die christozentrische Herzmitte der Reformation Ein gemeinsames Reformationsgedenken 2017 wird dann ein gute Chance sein, wenn dieses Jahr nicht der Abschluss, sondern der Neubeginn des ökumenischen Ringens um die volle Gemeinschaft zwischen den aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften und der katholischen Kirche sein wird, und zwar mit dem Dreiklang von Buße, Dankbarkeit und Hoffnung, von dem keiner ausfallen darf, wenn er als symphonischer Dreiklang vernehmbar sein soll. Dabei ist zu bedenken, dass die Buße am Anfang steht. Sie entspricht nicht nur der Kernbotschaft der Thesen Luthers über den Ablass, sondern Buße und Umkehr sind auch gleichsam die Innenseite jener Reform, der die Kirche stets bedarf, wenn sie sich auf die Mitte des Glaubens an Jesus Christus zurück besinnt. Das Reformationsgedenken ist eine Einladung und Herausforderung, uns gemeinsam auf jene Herzmitte der Reformation zu beziehen, die Papst Benedikt XVI. bei seinem Besuch im Augustinerkloster Erfurt im Jahre 2011 in Erinnerung gerufen und zum Tragen gebracht hat. An erster Stelle hat er im Leben und Wirken von Martin Luther seine leidenschaftliche
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WOLFHART PANNENBERG, Reformation und Kirchenspaltung, in: Ders., Beiträge zur Systematischen Theologie, Bd. 3: Kirche und Ökumene, Göttingen 2000, S. 160–172, hier: S. 162.
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Gottsuche gewürdigt: „Was ihn umtrieb, war die Frage nach Gott, die die tiefe Leidenschaft seines Lebens und seines ganzen Weges gewesen ist.“64 Daraus hat Benedikt XVI. den Schluss gezogen, dass in der Nachfolge Luthers der ökumenische Dienst in der heutigen Zeit darin bestehen muss, in den weithin säkularisierten Gesellschaften die Gegenwart des lebendigen Gottes zu bezeugen. Benedikt XVI. hat zudem hervorgehoben, dass Luther nicht an irgendeinen Gott geglaubt hat, sondern an jenen Gott, der uns sein konkretes Gesicht im Menschen Jesus von Nazareth gezeigt hat, und dass Luther deshalb seine leidenschaftliche Gottsuche in der Christozentrik seiner Spiritualität und Theologie konkretisiert und vertieft hat. Zentralität der Gottesfrage und Christozentrik sind die Herzensanliegen des Christen, Theologen und Reformators Martin Luther gewesen. Wenn sich Lutheraner und Katholiken heute gemeinsam darauf konzentrieren, wird ein Reformationsgedenken in wahrhaft ökumenischer Gemeinschaft möglich, und zwar nicht einfach in einem pragmatischen, sondern im tiefen Sinn des Glaubens an den gekreuzigten und auferstandenen Christus, den Luther in frischer Weise zum Leuchten gebracht hat und den wir heute gemeinsam bezeugen können. Darin nehme ich die grundlegende ökumenische Verpflichtung wahr, die das Reformationsgedenken im Jahre 2017 uns gemeinsam vor Augen führt.
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BENEDIKT XVI., Begegnung mit Vertretern des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Kapitelsaal des Augustinerklosters Erfurt am 23. September 2011, in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.), Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 189: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22.–25. September 2011 – Predigten, Ansprachen und Grußworte, Bonn 2011, S. 70–74, hier: S. 71.
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Die Reformation und die Einheit der Kirche
I. Am 31. Oktober 2016 – dem Reformationstag – wird es in Lund in Schweden zu einer Begegnung kommen, die weltweit in der Ökumene aufmerksame Wahrnehmung finden wird: Papst Franziskus und der römisch-katholische Bischof von Schweden, Andreas Arborelius, werden gemeinsam mit dem Präsidenten des Lutherischen Weltbundes, Bischof Munib Younan, und der Erzbischöfin der lutherischen Kirche von Schweden, Antje Jackelen, einen ökumenischen Gottesdienst, ein common prayer, feiern. Dieses Ereignis stellt einen historischen Schritt von großer Bedeutung dar. Es ist das Ergebnis von jahre-, ja jahrzehntelangem intensivem Dialog zwischen den Kirchen, der nicht nur zu wichtigen theologischen Ergebnissen geführt hat, sondern vor allem eine Basis des gegenseitigen Vertrauens und der Kooperation legen konnte. Herausragend sind dabei die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ aus dem Jahr 19991 und der Bericht „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“ von 20132 zu nennen. In Deutschland haben die Evangelische Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz mehrere gemeinsame Veranstaltungen geplant, unter anderem ein von allen Kirchen der Ökumene getragenes Christusfest am 14. September 2017 in Trier. Eröffnet wird das Ganze bereits im Oktober 2016 mit einer gemeinsamen Pilgerreise ins Heilige Land, um so die gemeinsamen Wurzeln sichtbar zu machen, die die heute gewonnene Gemeinschaft der Kirchen trägt.
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HARDING MEYER u.a (Hrsg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 3, Paderborn / Frankfurt am Main 2003, S. 419–443. THEO DIETER / WOLFGANG THÖNISSEN (Hrsg.), Vom Konflikt zur Gemeinschaft: Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017, Leipzig / Paderborn 2014.
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Auch in Österreich wird es im Vorfeld des Jahres 2017 zu einer Begegnungstagung der Österreichischen Bischofskonferenz mit den drei evangelischen Kirchen des Landes – der lutherischen, der reformierten und der methodistischen Kirche – im November 2016 in Eisenstadt kommen. Das Kirchenjahr, das uns ins Jubiläums- und Gedenkjahr 2017 hineinführt, wird am ersten Adventssonntag mit einem ökumenischen Gottesdienst in Linz begonnen, der auch im Fernsehen für Österreich und Deutschland übertragen wird. Diese Ereignisse sind überzeugende Zeichen dafür, dass das 500. Reformationsjubiläum sichtbar machen wird, dass es das erste seiner Art ist, das im Zeitalter der Ökumene stattfindet. In einer Grundsatzerklärung der drei österreichischen Evangelischen Kirchen wird dazu festgehalten: „Zum Reformationsjubiläum 2017 gehört die ökumenische Perspektive. Das Ziel der Reformation war die Erneuerung der einen Kirche Jesu Christi. […] Die Reformatoren wollten die eine Kirche auf der Grundlage des wiederentdeckten Evangeliums erneuern. Es ging ihnen um die Rückbesinnung der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche auf ihre biblischen Grundlagen. Entgegen dieser Absicht führte die historische Entwicklung zum Entstehen verschiedener Konfessionen und zu schmerzhaften Spaltungen. Die Erinnerung an diese Entwicklung schließt für Evangelische Kirchen die Selbstkritik ein. Das Streben nach Einheit und nach der Überwindung der Trennungen gehört für sie zum bleibenden Auftrag. […] Die ökumenische Ausrichtung des Reformationsjubiläums betrifft insbesondere das Verhältnis zur Römisch‐ Katholischen Kirche. Ihre Entwicklung wurde durch die Reformation mitbestimmt. […] Die Fragen nach der Verkündigung des Evangeliums heute und der notwendigen Erneuerung der Kirche (ecclesia semper reformanda) sind ein gemeinsames Anliegen der Ökumene. Die Evangelischen Kirchen laden ein, anlässlich des Reformationsjubiläums diesen Fragen gemeinsam nachzugehen.“3 In diesen Worten werden jene drei Elemente angesprochen, die auch die liturgische Feier in Lund bestimmen werden. Zuerst geht es um den Dank, der unsere gemeinsame Freude über die Gaben ausdrückt, die die Kirchen auf verschiedene Weise durch die Er-
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„Evangelisch Kirche sein. 500 Jahre Reformation“, in: https://evang-43ea.kxcdn. com/wp-content/uploads/2015/07/130615_Generalsynode_500JahreReformation. pdf (vgl. evang.at/themen/a-bis-z unter: Reformationsjubiläum 2017).
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neuerung und die Impulse der Reformation erhalten oder wiederentdeckt haben. Zweitens geht es um die Buße und die Bitte um Vergebung. Auch gute Reformen haben oft negative Wirkungen. Allzu selbstgenügsam haben wir die trennenden Mauern der Vergangenheit aufrechterhalten. Ein „Healing of Memories“ ist notwendig.4 Dank und Buße führen zum gemeinsamen Zeugnis, zur gemeinsamen Verpflichtung und zum gemeinsamen Dienst. Auf den eingangs erwähnten ökumenischen Gottesdienst am Reformationstag 2016 in Lund wird eine öffentliche Veranstaltung in Malmö folgen, bei der beide Kirchen ihre gemeinsame Verpflichtung zum diakonischen Zeugnis und Dienst bekräftigen werden – als ein Zeichen der Liebe Gottes, die uns in Jesus Christus zur Wirklichkeit geworden ist. Dieses Zeugnis sind wir der Welt schuldig. In diesem Zusammenhang gehören auch die Märtyrer und Märtyrerinnen, die uns gerade heute weltweit verbinden.
II. Aus dieser Perspektive blicken wir zurück auf das 16. Jahrhundert. Dabei soll die Frage leitend sein, ob wir aus Luthers Wirken etwas erkennen können, was uns beim heutigen Streben nach Einheit hilfreich sein kann.5 Es ist mittlerweile unbestritten, dass Martin Luther mit seiner Kritik an der Ablasspraxis, mit der die Reformation und Deutschland ja eingesetzt hatte, keineswegs die Absicht hatte, eine Spaltung der Kirche herbeizuführen oder gar eine neue Kirche zu gründen. Selbst die Verbrennung der Bannandrohungsbulle und des Kirchenrechts im Dezember 1520 kann dafür nicht als Beweis dienen. Im Gegenteil: Luther erwartete die von ihm und vielen anderen verlangten Reformen und Verbesserungen von einem freien, allgemeinen Konzil, wie es auch vom Kaiser und den Ständen des Deutschen Reiches immer wieder gefordert wurde. Als Papst Paul III. nach langem Zögern ein Konzil nach Mantua einberief, verfasste Luther
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Vgl. DEUTSCHE BISCHOFSKONFERENZ / EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (EKD), Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Ein gemeinsames Wort zum Jahr 2017 (Gemeinsame Texte 24), Hannover / Bonn 2016. Vgl. NOTGER SLENCZKA, Die Einheit der Kirche und die Wahrheit der Reformation, in: Kerygma und Dogma 48 (2002), S. 172–198.
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seine „Schmalkaldischen Artikel“ (1537) als Verhandlungsgrundlage. „Es weiß gottlob ein Kind von 7 Jahren, was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und ‚die Schäflin, die ihres Hirten Stimme hören‘“, schreibt Martin Luther in den Schmalkaldischen Artikeln von 1537. Dies ist eine bündige Auskunft, die sich in den Bekenntnisschriften6, also in den verbindlichen Lehrgrundlagen der lutherischen Kirche findet. Scharfsinnig hat Kurt Koch die Formulierung Luthers aufgegriffen und weitergeführt: „Dabei ist nicht nur die Frage zu behandeln, was die Kirche ist, sondern vor allem auch die Frage, wo die Kirche ist und wo sie konkret subsistiert.“7 Darauf werde ich noch eingehen. Doch das Konzil wurde immer wieder verschoben, was Luther dazu veranlasste, 1539 in seiner Schrift „Von den Konziliis und Kirchen“8 eine grundsätzliche Kritik an der römischen Kirche zu veröffentlichen. Selbstbewusst wird behauptet, die Reformation stelle die durch das wiederentdeckte Evangelium erneuerte, rechte, alte Kirche dar, während Rom für die neue, von den Ursprüngen abgewichene Kirche stehe. Dabei macht Luther seine Skepsis gegenüber einer vor allem über institutionelle Aspekte zu definierende Kirche deutlich. Ja, das Wort „Kirche“ selbst wird ihm „blind und undeutlich“. Statt seiner bevorzugt er die „Gemeinde“, die Congregatio, die heilige Christenheit auf Erden. Während Luther bis dahin wohl immer wieder Kritik – zum Teil in heftiger Polemik – an einzelnen Päpsten geübt hatte, wurde daraus nun eine grundsätzliche Infragestellung des Papsttums insgesamt. Schon der Titel einer seiner letzten Schriften verrät die Hauptaussage: „Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet“9. Die lieblose Polemik, die unflätige Sprache und die extra angefertigten Spottbilder lassen einen erschrecken, selbst wenn man den allgemeinen „Grobianismus“ der Zeit in Rechnung stellt. Nach weiterem Hin und Her und heftigen Auseinandersetzungen, nicht zuletzt auch zwischen Kaiser
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Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSKL), Göttingen 1998, S. 459/20–22. KURT KOCH, Innere Reform und Umkehr als Voraussetzung von Ökumene, in: Elisabeth Dieckmann / Karl Kardinal Lehmann (Hrsg.), Blick zurück nach vorn. Das Zweite Vatikanum aus der Perspektive der multilateralen Ökumene, Würzburg 2016, S. 161–186, hier: S. 178. MARTIN LUTHER, Von den Konziliis und Kirchen, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 50, Weimar 1914 (Nachdruck: Graz 1967), S. 509–653. MARTIN LUTHER, Wider das Bapstum zu Rom vom Teuffel gestifft, in: WA 54, Weimar 1928 (Nachdruck: Graz 1968), S. 206–299. 12
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und Papst, wurde das seit vielen Jahren verlangte Konzil am 13. Dezember 1545 eröffnet. Luther hatte mittlerweile, wenige Wochen vor seinem Tod im Februar 1546, jede Hoffnung auf ein Konzil verloren. Anfang Juni 1545 schreibt er an Nikolaus von Amstorff: „Hinsichtlich des Reichstags und des Konzils sorge ich nichts, glaube ich nichts, hoffe ich nichts, denke ich nichts. Es ist alles ganz eitel.“10 Trotz dieser heftigen Polemik finden sich aber immer auch Äußerungen aus dem reformatorischen Lager, nicht nur von Philipp Melanchthon, sondern auch von Martin Luther, die die Möglichkeit eines erneuerten Papsttums nicht ganz ausschlossen. „Wir haben bis jetzt und besonders auf dem Reichstag zu Augsburg sehr demütig dem Papst und den Bischöfen angeboten, dass wir ihre Kirchenrechte und -gewalten nicht zerstören wollen, sondern wo sie uns nicht unchristliche Artikel aufzwingen, gern von ihnen regiert und geweiht sein wollen.“11 Im Kommentar zum Galaterbrief von 1531/1535 heißt es: „Wenn wir das erlangen, dass anerkannt wird, Gott allein aus lauter Gnade rechtfertigt durch Christus, dann wollen wir den Papst nicht nur auf Händen tragen, sondern ihm auch die Füße küssen.“12 Entscheidend ist letztlich nicht, ob der Papst über dem Konzil oder das Konzil über dem Papst steht, sondern ob alle und alles in der Kirche unter Jesus Christus, unter dem Evangelium stehen. Denn die Kirche ist creatura evangelii, sie ist wohl die Mutter der Glaubenden, aber selbst immer die Tochter des Evangeliums. So hat sich Luthers Lehre von der Kirche in mehreren Phasen entwickelt, ohne zu einem Abschluss gekommen zu sein.13 Alle Bemühungen um eine Einigung waren vergeblich, letztlich bildeten sich die beiden Konfessionskirchen heraus, die bis ins 20. Jahrhundert und bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil warten mussten, ehe eine neue Seite im Buch ihres gemeinsamen Weges aufgeschlagen werden konnte.
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MARTIN LUTHER, WA BR 11, Weimar 1948, S. 115/11 f.: „De Comitijs & Conciliis nihil curo, nihil credo, nihil spero, Nihil cogito. Vanitas vanitatum“. MARTIN LUTHER, Von der Winckelmesse und der Pfaffen Weyhe, in: WA 38, Weimar 1912 (Nachdruck: Graz 1964), S. 195 (aktualisierte Fassung). Vgl. MARTIN LUTHER, In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, in: WA 40/I, Weimar 1911 (Nachdruck: Graz 1970), S. 181: „Hoc impetrato, scilicet quod solus Deus ex mera gratia per Christum iustificet, non solum volumus Papam in manibus portare, imo etiam ei osculari pedes.“ Vgl. HANS-MARTIN BARTH, Die Theologie Martin Luthers. Eine kritische Würdigung, Gütersloh 2009, S. 382–421; MICHAEL BEYER, Luthers Ekklesiologie, in: Helmar Junghans (Hrsg.), Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Bd. 1, Berlin 1983, S. 93–117.
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III. Die evangelischen Kirchen haben erst im 20. Jahrhundert zu gemeinsamen verbindlichen Lehraussagen über die Kirche gefunden. Dies geschah in erster Linie durch die „Leuenberger Konkordie“ von 197314, mit der die innerprotestantische Kirchenspaltung überwunden wurde und die Kirchengemeinschaft von lutherischen, reformierten, unierten, methodistischen und weiteren aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen begründet wurde. In der Leuenberger Konkordie heißt es: „Die Kirche ist allein auf Jesus Christus gegründet, der sie durch die Zuwendung seines Heils in der Verkündigung und in den Sakramenten sammelt und sendet. Nach reformatorischer Einsicht ist darum zur wahren Einheit der Kirche die Übereinstimmung in der rechten Lehre des Evangeliums und in der rechten Verwaltung der Sakramente notwendig und ausreichend.“15 Diese Formulierung greift zurück auf den Artikel VII der „Confessio Augustana“ von 153016. Dort wird die Kirche definiert als congregatio sanctorum, in qua evangelium pure docetur et recte administrantur sacramenta. Dann setzt die Confessio fort: Et ad veram unitatem ecclesiae satis est consentire de doctrina evangelii et de administratione sacramentorum. Auf Deutsch: Die Kirche „ist die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einmütig im rechten Verständnis verkündigt und die Sakramente dem Wort Gottes gemäß gefeiert werden.“17 Dieses Verständnis von Kirche und Einheit der Kirche war schon durch die Leuenberger Konkordie selbst in einen weiteren ökumenischen Kontext gestellt worden. Die an der Konkordie beteiligten Kirchen hoffen – so der letzte Artikel der Konkordie –, „dass die Kirchengemein-
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Konkordie reformatorischer Kirchen in Europa (Leuenberger Konkordie) / Agreement between Reformation Churches in Europe (Leuenberg Agreement), im Auftrag des Rates der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa hrsg. von Michael Bünker / Martin Friedrich, Leipzig 2013 (zitiert: LK). LK (Anm. 14), Rn. 2. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (BSKL), Göttingen 12 1998, S. 61/2–12. Das Augsburger Bekenntnis Deutsch. 1530–1980, revidierter Text, hrsg. von GÜNTHER GASSMANN, Göttingen 1978.
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schaft der Begegnung und Zusammenarbeit mit Kirchen anderer Konfessionen einen neuen Anstoß geben wird“18. In diese Zeit fiel auch die Arbeit der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK), die letztlich zur Konvergenzerklärung zu Taufe, Eucharistie und Amt („Lima-Dokument“)19 von 1982 führte. Die evangelischen Kirchen standen vor der Herausforderung, ihr Verständnis von Kirchengemeinschaft mit diesen ökumenischen Aufbrüchen in ein rechtes Verhältnis zu setzen. Allgemein gewannen die Fragen der Ekklesiologie im ökumenischen Gespräch an Bedeutung. Es erwies sich als notwendig, dass die reformatorischen Kirchen gemeinsame Aussagen über die Bedeutung der Kirche für die Vermittlung des Heils, über die Gestalt der Kirche und die Bedingungen ihrer Verfassung sowie über ihre Ämter machen. Dazu bedurfte es einer Weiterentwicklung der theologischen Lehre, denn es genügte nicht mehr, auf diese Fragen nur durch Wiederholung traditioneller Aussagen antworten zu wollen.20 Frucht dieser evangelischen Lehrentwicklung war schließlich die Studie „Die Kirche Jesu Christi“, die 1994 von der Vollversammlung der „Leuenberger Kirchengemeinschaft“, die seit 2003 „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ (GEKE) heißt, in Wien angenommen worden war21. „Die Kirche Jesu Christi“ versteht sich gemäß ihrem Untertitel als „reformatorischer Beitrag zum ökumenischen Dialog über die Einheit der Kirche“. Die Kirchenstudie beruht durchgängig auf der Unterscheidung von Grund, Gestalt und Bestimmung der Kirche.22 Schon in der Einleitung wird grundlegend formuliert:
18 19 20
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LK (Anm. 14), Rn. 49. HARDING MEYER u.a (Hrsg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 1, Paderborn / Frankfurt am Main 1983 (21991), S. 54–85. Vgl. ANDRE BIRMELE (Hrsg.), Konkordie und Ökumene. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft in der gegenwärtigen ökumenischen Situation. Texte der Konferenz von Straßburg, Frankfurt am Main 1988, S. 38 f. WILHELM HÜFFMEIER (Hrsg.), Die Kirche Jesu Christi. Der reformatorische Beitrag zum ökumenischen Dialog über die kirchliche Einheit (Leuenberger Texte 1), Frankfurt am Main 1995; 4. rev. Auflage hrsg. von MICHAEL BÜNKER / MARTIN FRIEDRICH, Leipzig 42012 (zitiert: KJC). Im Folgenden halte ich mich an: MICHAEL BEINTKER, Die Studie „Die Kirche Jesu Christi“ aus evangelischer Sicht, in: Wilhelm Hüffmeier / Viorel Ionita (Hrsg.), Konsultation zwischen der Konferenz Europäischer Kirchen und der Leuenberger Kirchengemeinschaft zur Frage der Ekklesiologie (Leuenberger Texte 8), Frankfurt am Main 2004, S. 69–72.
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„Der Grund der Kirche ist das Handeln Gottes zur Erlösung der Menschen in Jesus Christus. Subjekt dieses Grundgeschehens ist Gott selbst, und folglich ist die Kirche Gegenstand des Glaubens. Weil Kirche Gemeinschaft der Glaubenden ist, gewinnt ihre Gestalt geschichtlich vielfältige Formen. Die eine geglaubte Kirche (Singular) ist in unterschiedlich geprägten Kirchen (Plural) verborgen gegenwärtig. Die Bestimmung der Kirche ist ihr Auftrag, der ganzen Menschheit das Evangelium vom Anbruch des Reiches Gottes in Wort und Tat zu bezeugen.“23 In Folge dieser Grundunterscheidungen baut sich die Kirchenstudie in drei Abschnitten auf: Woraus die Kirche lebt24 – Wie die Kirche lebt25 – Wofür die Kirche lebt26. Mit dieser Grundunterscheidung kann der für die reformatorische Theologie entscheidende Unterschied zwischen dem Handeln Gottes und dem Handeln der Menschen auch für den Bereich der Ekklesiologie durchgehalten werden. So gilt die erste Frage dem Grund der Kirche: Woraus die Kirche lebt. „Die Kirche gründet in dem Wort des dreieinigen Gottes. Sie ist Geschöpf des zum Glauben rufenden Wortes, durch das Gott den von ihm entfremdeten und ihm widersprechenden Menschen mit sich versöhnt und verbindet, indem er ihn in Christus rechtfertigt und heiligt, ihn im Heiligen Geist erneuert und zu seinem Volk beruft.“27 Dieses Handeln Gottes in Schöpfung, Versöhnung und Vollendung kann „nicht vom Handeln der Kirche stellvertretend wahrgenommen oder weitergeführt werden“28. Folgerichtig muss das Handeln der Kirche „von sich wegweisen. Es ist Zeugnis vom rechtfertigenden Handeln des dreieinigen Gottes. Kirchliches Handeln steht in der Verantwortung, glaubwürdig, sachgerecht und einladend die Gnade Gottes als Heil der Welt zu bezeugen. Die Praxis der Kirche wird glaubwürdig, wenn das Leben der Kirche in all seinen Vollzügen Hinweis auf Gott ist.“29 Auf diesem Grund und in steter Beachtung der Unterscheidung vom Handeln Gottes und dem Handeln des Menschen wird die Frage nach der Gestalt der Kirche virulent: Wie die Kirche lebt. In ihren geschichtlichen
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KJC (Anm. 21), S. 19. KJC (Anm. 21), S. 31–34. KJC (Anm. 21), S. 35–47. KJC (Anm. 21), S. 48–56. KJC (Anm. 21), S. 32. KJC (Anm. 21), S. 36. KJC (Anm. 21), S. 36.
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Lebensvollzügen stellt sich die Kirche als Leib Christi dar. Weil Christus – und zwar Christus allein – das Haupt des Leibes ist (Kol 1,18; Eph 4,15), hat die Kirche den Grund ihrer Einheit nicht in sich selbst, sondern in Christus als ihrem im Geist gegenwärtigen und wirkenden Herrn. Im Leib sind alle Gaben und Aufgaben in der Einheit der Kirche enthalten, weshalb diese „Einheit der Verschiedenen“ zum Maßstab aller Fragen des kirchlichen Lebens wird.30 Hier wird der Unterschied zwischen der Kirche des Glaubens (credo ecclesiam) und der Kirche als sichtbarer Gemeinschaft der Glaubenden bedeutsam: „Die Kirche ist einerseits Gegenstand des Glaubens und andererseits – zugleich – eine sichtbare Gemeinschaft, eine soziale Wirklichkeit, die in der Vielzahl der geschichtlichen Gestalten erfahrbar ist.“31 Die geglaubte Kirche ist durch Wesenseigenschaften gekennzeichnet, die in den Bekenntnissen der alten Kirche festgehalten sind. Sie ist die eine, heilige, katholische (allumfassende) und apostolische Kirche. Im Blick auf die Auslegung dieser Wesenseigenschaften der Kirche und der daraus folgenden Konsequenzen für das Verständnis von Einheit der Kirchen bestehen zwischen den Kirchen zum Teil erhebliche Unterschiede.32 Die sichtbare Kirche hat den Auftrag, in ihrer Gestalt ihr ursprüngliches Wesen, das Wesen der geglaubten Kirche (immer im Singular) zu bezeugen. Die Kirche als Geschöpf des göttlichen Wortes, als creatura verbi oder creatura evangelii, lässt sich nicht einfach mit einer der geschichtlichen Kirchen in eins setzen. Die Erfahrung lehrt sogar, dass die Selbstentfaltung der mit den vier Wesensattributen beschriebenen Wirklichkeit der Kirche in den geschichtlichen Gestalten von Kirche ihren Ursprung verdunkeln und entstellen kann. Weil die konkrete, erfahrbare Kirche selbst Gegenstand des rechtfertigenden Handelns Gottes ist und der Vergebung bedarf, deshalb hat sie selbst immer wieder Anlass, ihre Schuld zu bekennen. Nach Martin Luther ist die Kirche selbst sündig, ja, sie kann die „größte Sünderin“ werden. Gerade weil sie heilig ist, vermag sie aber um Vergebung zu bitten.33 „Es ist Aufgabe der kirchlichen Gemeinschaft, ihre Gestalt stets zu überprüfen und sie so zu reformieren (ecclesia semper
30 31 32 33
KJC (Anm. 21), S. 35. KJC (Anm. 21), S. 35. Vgl. FRIEDERIKE NÜSSEL / DOROTHEA SATTLER, Einführung in die ökumenische Theologie, Darmstadt 2008, S. 109 f. MARTIN LUTHER, Predigt am Ostersonntag (9.4.1531), in: WA 34/I, Weimar 1908 (Nachdruck: Graz 1964), hier: S. 276/8–13.
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reformanda), dass sie ihren in ihrem Ursprung gegebenen Wesenseigenschaften entspricht.“34 Die geglaubte Kirche ist aber keine platonische Gemeinschaft, die nirgends erfahrbare Wirklichkeit würde. Woran ist nun zu erkennen, ob in einer geschichtlich und sozial Gestalt gewordenen Kirche die Kirche des Glaubens erfahrbare Wirklichkeit geworden ist? Dazu haben die Reformatoren Erkennungsmerkmale (notae ecclesiae) oder, wie Luther sagt, „Wahrzeichen“ formuliert. Dies sind die reine Predigt des Evangeliums und die einsetzungsgemäße Feier der Sakramente, also „diejenigen elementaren Züge des sichtbaren Lebens der Kirche, […] durch die sich der Ursprung der Kirche vergegenwärtigt und durch die eine Kirche sich an ihren Ursprung hält.“35 So ermöglicht das evangelische Verständnis der Kirche ein hohes Maß an Freiheit im Miteinander der Kirchen. Es gibt eine legitime geschichts-und ortsbedingte Vielfalt in der konkreten Gestaltwerdung der Kirche. Wo es zur Übereinstimmung im Verständnis des Evangeliums (consentire de doctrina evangelii) kommt, ist Kirchengemeinschaft möglich. Kirchengemeinschaft heißt Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft, die gegenseitige Anerkennung der Ämter und gemeinsames Zeugnis und Dienst.36 Insofern kann die Kirchengemeinschaft zutreffend als eine „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ beschrieben werden.37 Die Unterschiede verlieren ihre trennende Bedeutung und werden als das erfahrbar, was sie in und durch Jesus Christus immer schon sind: „inspirierender Reichtum und charismatische Vielfalt zum Nutzen der ganzen Christenheit“38. Es steht also die Aufgabe im ökumenischen Dialog, die bestehenden Differenzen daraufhin zu prüfen, ob sie bleibend sind und welchen der bleibenden Unterschiede kirchentrennende Wirkung zukommt. Mit der Kirchenstudie sind die evangelischen Kirchen in die verschiedenen ökumenischen Dialoge gegangen. Denn die Kirchengemeinschaft auf dieser Grundlage versteht sich selbst expressis verbis als „ökumenisches Einheitsmodell“39. Dabei sind eine Reihe von kritischen Rückfragen gestellt worden. Etwa was die Sichtbarkeit der Einheit (full visible unity) angeht: Ist dieses Modell der Kirchengemeinschaft nicht bloß eine Status-
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KJC (Anm. 21), S. 39. KJC (Anm. 21), S. 39. LK (Anm. 14), Rn. 29; 33. KJC (Anm. 21), S. 71. M. BEINTKER, Die Studie (Anm. 22), S. 72. KJC (Anm. 21), S. 76.
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quo-Ökumene, ein Legitimieren der bestehenden Unterschiede, eine „unversöhnte“ Verschiedenheit? Auf der Grundlage der Kirchenstudie von 1994 „Die Kirche Jesu Christi“ gehen die evangelischen Kirchen in diese Gespräche. Ihr reformatorisch geprägtes Modell der Kirchengemeinschaft hat sich als „umsetzungsfähig und zukunftsträchtig“40 erwiesen. Zwei Missverständnisse sind auszuräumen: Zuerst: Die Vielfalt darf nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden, sie unterliegt den aus dem gemeinsamen Verständnis des Evangeliums erwachsenden „limits of diversity“41. Und zweitens: Die Erklärung von Kirchengemeinschaft stellt keinen Schlusspunkt dar. Kirchengemeinschaft ist ständig weiter zu vertiefen.
IV. Wir brauchen heute eine Verständigung über das Ziel der Ökumene. Was verstehen wir unter Einheit? „Es gibt im Grunde so viele ökumenische Zielvorstellungen wie es konfessionelle Ekklesiologien gibt.“42 Also braucht es einen vertieften Dialog zu den Ekklesiologien. Auf römischkatholischer Seite ist mit dem Zweiten Vatikanum und da vor allem mit der Kirchenkonstitution „Lumen gentium“ (LG) und seiner Erläuterung und Vervollständigung durch das Ökumenismusdekret „Unitatis redintegratio“ die Grundlage gegeben.43 In den Gesprächen, die die GEKE und der Päpstliche Einheitsrat über diese Grundfragen derzeit führen, geht es um die Konvergenzen, Unterschiede und Differenzen. Da geht es um die Amtsfrage und die Apostolizität, wobei sich herausstellt, dass für beide Kirchen das Amt als Dienst der Verkündigung zum Sein der Kirche dazugehört und von Gott selbst eingesetzt wurde; dass die Apostolizität als Wesensmerkmal anerkannt ist, wenn
40 41 42
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F. NÜSSEL / D. SATTLER, Einführung (Anm. 32), S. 129. MICHAEL BÜNKER / MARTIN FRIEDRICH (Hrsg.), Amt, Ordination, Episkope und theologische Ausbildung (Leuenberger Texte 13), Leipzig 2013, S. 109 f. KURT KOCH, Wohin geht die weltweite Ökumene? Entwicklungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, in: Theologische Zeitschrift 71 (2015), S. 274–291, hier: S. 285. Vgl. WOLFGANG THÖNISSEN (Hrsg.), „Unitatis redintegratio“. 40 Jahre Ökumenismusdekret – Erbe und Auftrag, Paderborn / Frankfurt am Main 2005; JAN-HEINER TÜCK (Hrsg.), Erinnerung an die Zukunft. Das Zweite Vatikanische Konzil, Freiburg / Basel / Wien 2012.
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auch die Frage nach ihrem Wie unterschiedlich beantwortet wird. Es geht um das Modell der Kirchengemeinschaft im Vergleich mit den Aussagen des Ökumenismusdekretes über die Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften außerhalb der römisch-katholischen Kirche. Es geht um das Verhältnis von Rechtfertigung und Kirche, um die Frage der Heilsvermittlung in oder durch die Kirche. Es geht nicht zuletzt um die evangelische Unterscheidung von erfahrbarer Kirche und Kirche des Glaubens sowie der katholischen Rede vom „subsistit“ (LG 8).44 Gerade weil die Gesprächsteilnehmenden die jeweiligen Stärken in den theologischen Argumenten der Partner ernst nehmen, eröffnen sich Konvergenzen. Das ist gewiss hoffnungsvoll, aber es ist nicht genug. Wenn wir uns weder mit der Erwartung der „Rückkehr“ noch der eines „Übertritts“ begegnen, braucht es die eigene Bekehrung (nicht die der anderen!). Die Reformation hat als Bußbewegung eingesetzt. Die Hinwendung zu Christus, die Rückwendung zum Evangelium öffnet Wege in die Zukunft. Es ist Zeit für die versöhnte Verschiedenheit, sagte Papst Franziskus in seiner Predigt in der Lutherischen Kirche in Rom am 15. November 2015: „Bitten wir heute um diese Gnade, die Gnade dieser versöhnten Verschiedenheit.“45 Schließen möchte ich – wenig überraschend – mit einem Zitat Martin Luthers, das uns noch einmal einen unverstellten Blick auf den Reformator erlaubt und zugleich anregen wird, auf dem Weg der Einheit miteinander voran zu kommen: „Erstens bitte ich, man wolle von meinem Namen schweigen und sich nicht lutherisch, sondern einen Christen nennen. Was ist Luther? Ist doch die Lehre nicht mein! Ebenso bin ich für niemanden gekreuzigt. St. Paulus wollte nicht leiden, dass die Christen sich paulinisch oder petrisch hießen, sondern Christen. Wie käme denn ich armer stinkender Madensack dazu, dass man die Kinder Christi dürfte nach meinem nichtswürdigen Namen nennen? Nicht so, liebe Freunde! Lasst uns tilgen die parteiischen Namen und uns Christen heißen, nach Christus, dessen Lehre wir haben.“46
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Vgl. KURT KOCH, Dass alle eins seien. Ökumenische Perspektiven, Augsburg 2006, S. 44 f. Zitiert nach: JENS-MARTIN KRUSE, „Lasst uns tilgen die parteiischen Namen und uns Christen heißen“. Martin Luther heute begegnen in ökumenischer Perspektive, in: Stimmen der Zeit 234 (2016), S. 302. Martin Luther, Eine treue Vermahnung zu allen Christen sich zu hüten vor Aufruhr und Empörung (1522), in: WA 8, Weimar 1889 (Nachdruck: Graz 1966), S. 685/4– 11 (aktualisierte Fassung).
Athina Lexutt
Die Reformation – Segen oder Fluch? Eine protestantische Perspektive
1. Eine Frage Die Reformation – Segen oder Fluch? Als ob das eine Frage wäre! Sieht man sich den Hype an, den das Reformationsjubiläum 2017 zum Teil auslöst, und beobachtet man das bisweilen hektische Flügelschlagen, das veranstaltet wird, um diese offenbar einmalige Gelegenheit nicht ungenutzt vorüberstreichen zu lassen, dann ist es klar: Die Reformation ist ein Segen. Und noch eindeutiger ist dieses Jubiläum ein Segen, um frischen Wind durch leerer werdende Kirchenbänke und unter manchen Talar wehen zu lassen und Ideen zu sammeln, wie man aus einem inzwischen auch schon 500 Jahre alten Hutzelweib mit Runzeln und abgestandenem Atem eine attraktiv lächelnde und winkende junge Dame machen kann, der die Herzen nur so zufliegen. Eine Dekade lang wurde der Versuch unternommen, diese Attraktivität unter den Runzeln wieder zu entdecken und kenntlich zu machen. Die Themenjahre veranschaulichen, worin man sie sehen will: Bildung, Freiheit, Musik, das Schriftprinzip, das neue Verhältnis zwischen Kirche und Staat, Toleranz. In der EKD-Publikation „Rechtfertigung und Freiheit“1 wird – wie erwartbar und seit Generationen üblich – das Spezifische und bis heute ungebrochen Anziehende der Reformation mit den sogenannten Exklusivpartikeln begründet: allein Christus, allein die Schrift, allein aus Gnade, allein aus Glaube. Auf der anderen Seite jedoch ist auch ein gewisses Stöhnen hörbar. Da gibt es manche, die in diesem Jubeljahr eben ein solches nicht entdecken können und mögen. Die im Gegenteil in der Reformation vielleicht nicht gerade einen Fluch, aber doch ein Geschehen mit unübersehbar kritisch zu 1
Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hrsg. vom KIRCHENAMT 4 DER EKD, Gütersloh 2015.
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beurteilenden Folgen entdecken. Dass eine Reform der Kirche im 16. Jahrhundert nötig war, steht auch für sie außer Frage – aber musste es denn gleich eine Reformation sein? Die Spaltung der abendländischen Christenheit ist auch 500 Jahre später nicht überwunden und zeitigt nach wie vor schmerzliche Momente. Das schmerzlichste davon, jedenfalls nach meinem Dafürhalten: die seitens der römisch-katholischen Kirche offiziell geltende Unmöglichkeit einer gemeinsamen Abendmahlsfeier. Nun geht es hier durchaus um eine Art Gewissensentscheidung. Die evangelische Theologin steht hier als bekennende Christin und als solche Christin, die von der lutherischen Lesart des Evangeliums Jesu Christi ganz und gar überzeugt ist, die sich intensiv mit der lutherischen Theologie in vergegenwärtigender und ökumenischer Absicht beschäftigt und also summa summarum in der Tat klar und eindeutig von einem „Segen“ sprechen kann und will. Sie steht hier zugleich aber auch als Historikerin, die ebenso die Augen nicht verschließen kann und will vor all dem, was unter der Rubrik „Fluch“ einzuordnen ist. Historische Redlichkeit und theologische Leidenschaft – sie beide gehören zu einer verantworteten kirchengeschichtlichen Forschung und Lehre dazu und beides wird im folgenden Vortrag zu spüren sein. Daher gibt es aus diesem evangelischen Gewissen heraus kein Heldenepos über Luther und auch keine Glorifizierung der Reformation, andererseits aber auch keine diplomatisch weichgespülte Relativierung, die davon ausginge, dass man nur dann, wenn man konfessionellen Streit vermeidet, kirchlichen Frieden haben kann.
2. Wege zu einer Antwort: Historische und theologische Perspektiven 2.1 Eine notwendige Unterscheidung Will man sich der Frage, ob die Reformation ein Segen oder ein Fluch gewesen und noch ist, angemessen nähern, so ist vorab eine Unterscheidung zu treffen, die leider in den vielen Publikationen und Äußerungen zum Thema nicht immer getroffen wird: die zwischen „Reformation“ und „Reformatorischem“.2 In zum Teil bewusst verengender Sicht wurde in den 2
Vgl. zu dieser Frage und der anschließenden, ob die Reformation eine Epoche ist,
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vergangenen Jahrhunderten die Reformation meistens über Luther, Wittenberg und den Thesenanschlag definiert. Das Logo des Reformationsjubiläums, das mit dem Lutherkopf aufwartet, und die Feier am 31. Oktober, dem Datum des vermeintlichen Thesenanschlags, dazu natürlich in Wittenberg, zeigen, dass man darüber auch immer noch nicht wirklich hinaus ist. Historisch redlich hingegen wäre es, nicht im Singular von „der Reformation“ zu sprechen, sondern im Plural von „den reformatorischen Bewegungen“, zu denen dann die Ereignisse und Entwicklungen in Zürich, Genf, England, Frankreich und an anderen europäischen Stätten ebenso dazugehörten wie die „Seitenarme“ der täuferischen Gemeinden usw. Wie vielfältig und inhaltlich unterschiedlich akzentuiert diese reformatorischen Bewegungen waren, wird daran erkennbar, wie viele kirchliche und freikirchliche Gemeinschaften aus ihnen erwachsen sind. Ebenso redlich allerdings ist dann auch, in dieser Vielfalt und dem Plural nicht eine konfessionelle Konfusion zu sehen und aus dem Phänomen der Vielfalt eine unübersichtliche und unüberlegte, inhaltlich krause Beliebigkeit zu machen; vielmehr drängt das Phänomen dazu, nach dem gemeinsamen inhaltlichen Kern zu fragen: dem Reformatorischen. Was für eine Gestalt, was für ein Wesen eignet den Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, die eine solche Vielfalt an Gestaltungen zulässt? Diese Unterscheidung zwischen den reformatorischen Bewegungen und dem Reformatorischen korrigiert unsere Versuche, „die Reformation“ als Anregung von kirchlichen Reformen heute in Anspruch zu nehmen. Vielmehr haben die reformatorischen Bewegungen ihren Ort im 16. Jahrhundert (und zum Teil noch in den darauffolgenden Jahrhunderten) und können schlechterdings nicht ungebrochen für heutige Herausforderungen geltend gemacht werden. Das wäre anachronistisch und würde zu merkwürdigen, die Entwicklung der Jahrhunderte überspringenden Ergebnissen führen. Sehr wohl aber kann das Reformatorische seine Kraft losgelöst von den jeweiligen historischen Kontexten entwickeln, wenn man dessen Kern in der je eigenen Gegenwart und unter ihren Fragen, Bedingungen und Möglichkeiten zur Sprache bringt. unter anderem: BERNDT HAMM / BERND MOELLER / DOROTHEA WENDEBOURG, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen 1995; VOLKER LEPPIN, Wie reformatorisch ist die Reformation?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 99 (2002), S. 162–176; GOTTFRIED SEEBAß, Die Reformation als Epoche, in: Stefan Ehrenpreis / Ute Lotz-Heumann u. a. (Hrsg.), Wege der Neuzeit. FS für Heinz Schilling (Historische Forschungen 85), Berlin 2007, S. 21–32.
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Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn nun historisch und theologisch nach Segen oder Fluch gefragt wird.
2.2 Historische und theologische Spurensuche Würde man auf der Straße eine Umfrage machen, was den Leuten zum Stichwort „Reformation“ einfällt, kann man sich natürlich freuen, wenn ihnen überhaupt etwas einfällt. Und dann kommen mit ziemlicher Sicherheit folgende Schlagworte: Luther, Papstkritik, Bibelübersetzung – und Kirchenspaltung. Das ist irgendwie alles richtig. Aber irgendwie auch wieder nicht. Daher gilt es, an dieser Stelle mit einigen Verzerrungen aufzuräumen. In der Tat ist es nicht von der Hand zu weisen: Was alle reformatorischen Bewegungen eint, ist die Trennung von altgläubigen Traditionen und Lehrinhalten. Allerdings betont die kirchengeschichtliche Forschung in den letzten Jahren ganz zu Recht, dass keine der reformatorischen Bewegungen gewissermaßen vom Himmel gefallen ist; sie alle stehen an vielen Punkten auf den Schultern von Vorgängern.3 Zu denken ist da insbesondere an die spätmittelalterlichen Reformer wie Jan Hus und John Wyclif, an die Devotio moderna, an mystische Denker wie vor allem Johannes Tauler, dazu an zeitgenössische, kirchenkritische Bewegungen wie den Humanismus. Nicht zu vergessen ist auch eine breite Kirchenväter-Rezeption, die überdies verdeutlicht, dass keiner der Reformatoren das theologische Rad gänzlich neu erfinden musste. Ebenso ist es schon lange kein Geheimnis mehr, dass jedenfalls die frühen Reformatoren eine Reform innerhalb der bestehenden Kirche beabsichtigten. Es wurden also nicht alle Traditionen und alle Lehrinhalte einfach über Bord geworfen. Nun kommt es aber zu einer Reihe von weiteren Missverständnissen und vielleicht sogar bewussten Missinterpretationen mit größeren Folgen für das allgemeine Bewusstsein. Dass sich diese Reformen nicht innerhalb der bestehenden Kirche realisieren ließen, lag ja weniger an der Dickköpfigkeit der Reformatoren als an der Uneinsichtigkeit der Papstkirche, dass diese Reformen tiefer würden greifen müssen als es die Reformmaßnahmen, die auch die Kurie be-
3
Vgl. dazu jüngst ATHINA LEXUTT, Die Genese der Theologie Martin Luthers, in: Geist und Leben 30 (2015), S. 43–57.
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absichtigte, vorsahen. Zum zweiten hat die Spaltung der Kirche nicht Luther herbeigeführt, sondern die Bannbulle Leos X., der Luther, seine Schriften und seine Anhänger aus dem kirchlichen Verbund ausschloss und der Ketzerei anklagte. Wäre Luther wie ein Ketzer nach der kaiserlichen Acht hingerichtet worden, würde die Reformation heute zu den vielen Glaubensrichtungen gehören, die im Laufe der Kirchengeschichte als häretisch aus der orthodoxen, der rechtgläubigen Kirche ausgeschlossen worden und einigermaßen in Vergessenheit geraten sind. Das Überleben der reformatorischen Kirchen ist nicht zuletzt bestimmten politischen Konstellationen zu verdanken, so dass die meisten durch Schutz und Förderung der weltlichen Obrigkeit bestehen bleiben oder gegründet werden konnten. Das Überleben jedenfalls und die regelrechte Erstarkung namentlich in den 1530er Jahren machte einen kurzen Prozess unmöglich und provozierte im Gegenteil eine politische Lösung, die im Augsburger Religionsfrieden (1555), später im Westfälischen Frieden (1648) gefunden wurde. Wenn man so will, hat die Papstkirche die Spaltung initiiert, und die weltlichen Obrigkeiten haben sie später manifestiert. Mit einem dritten Missverständnis ist in diesem Kontext aufzuräumen: Vor allem Luthers reformatorische Anstrengungen gründeten nicht primär in einer Kritik an seiner zeitgenössischen, auf vielen Ebenen reformbedürftigen Papstkirche, sondern in einer existenziellen Frage, die er über die Schrift mit seinem Gott klären wollte. Die Antwort, die er auf diese Frage in der Schrift fand, war dann allerdings so tiefgründig, dass sie ihn zwangsläufig in ein Gegenüber zu dieser Kirche brachte. Ähnlich muss für Zwingli festgehalten werden, dass der fundamentale Schriftbezug und die Definition der Schrift als einziger Autorität in Kirche und Theologie die in Zürich obrigkeitlich gewollte und geförderte Lösung vom Konstanzer Bischof auf eine radikalere Ebene hob. Für unsere Frage nach Segen oder Fluch kann man nach diesen historischen Zurechtrückungen schon Folgendes festhalten: a) Betrachtet man die Kirchenspaltung als Fluch, so muss man bedenken, dass die Spaltung als kirchenrechtlicher und juristischer Akt nicht von den Reformatoren initiiert wurde. Freilich trug das hartnäckige Ringen um die Wahrheit des Evangeliums dazu bei, dass weder Rom etwas anderes übrig blieb, als sich von dieser Bewegung zu trennen, noch diese Bewegung guten Gewissens von ihren Überzeugungen ablassen konnte. Daher kann man durchaus die Spaltung selbst als Segen bezeichnen, denn sie zeigt, dass Menschen damals wie heute an ihr Gewissen gebunden sind und es um etwas so Wichtiges und Großes geht, dass man darum kämpfen muss und Frieden nicht um jeden Preis zu haben ist.
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b) Der Schutz und die Förderung, den die reformatorischen Bewegungen zum großen Teil von den weltlichen Obrigkeiten genossen haben, gewährte ihnen eine relativ freie Hand und die Möglichkeit, diesen so wichtigen theologischen Kampf mit der angesprochenen Hartnäckigkeit führen zu können. Allerdings bedeutete dies auf der anderen Seite eine gewisse Abhängigkeit und den Verzicht auf Widerstand sowie auf das energische Eintreten für bestimmte Sozialreformen. Bei aller Diskussion, ob etwa Luthers Zwei-Regimente-Lehre und das rein passive Widerstandsrecht sowie daraus resultierend etwa seine Haltung im Bauernkrieg nicht auch notwendige Konsequenzen aus seinen theologischen Überzeugungen darstellen, muss doch auch gesagt werden, dass spätestens mit dem aus der Not geborenen landesherrlichen Kirchenregiment eine Verbindung mit der politischen Obrigkeit eingegangen wurde, die in dem Schlagwort von „Thron und Altar“ ihren Ausdruck bis in die NS-Zeit hinein gefunden hat. Galt es zunächst, mangels geeigneter Personen eine lenkende Kraft zu installieren, welche Macht und Befugnisse hatte, Kirchenordnungen zu erlassen, Ausbildungsstätten zu gründen und für kirchenrechtliche Belange einzustehen, so wurde im Laufe der Jahrhunderte und insbesondere durch die Entwicklungen im 19. Jahrhundert daraus eine mitunter unglückselige Verquickung staatlicher, nationaler und kirchlicher Interessen. Das konnte segensreiche Momente bedeuten wie zum Beispiel die Aufnahme sozialer Ideen in politische Konzepte (zu denken ist da unter vielem anderem an das Wirken Friedrich von Bodelschwinghs d. Ä., der durch seine guten Kontakte zum Berliner Hof für eine bessere Situation der Arbeiter sorgte). Das konnte aber natürlich ebenso – denken wir an die nationalsozialistische Zeit – zu einer Unterstützung auch offensichtlichen politischen Unrechts führen. Ist diese Verbindung, die in der Reformation dafür sorgte, dass diese Bewegung nicht unterging, also Segen oder Fluch? Zweifellos beides. c) Die Korrektur und, als man sich nicht darauf einlassen wollte, schließlich die Lösung von verschiedenen Inhalten der traditionellen Theologie war für alle Reformatoren eine inhaltliche Notwendigkeit, die weder aus Starrsinn noch aus einem unüberwindlichen Hass auf die Traditionen der Papstkirche oder die Kirche selbst resultierte. Vielmehr ergab sich durch die Konzentration auf die Schrift als alleinige Autorität eine andere Lesart der Inhalte des Evangeliums, eine fundamental andere Sicht auf Schöpfer und Geschöpf und ihr Verhältnis zueinander, die weitreichende inhaltliche Konsequenzen haben sollte, von denen noch zu sprechen sein wird. Den Reformatoren selbst wird man also nicht unterstellen dürfen, sie
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hätten etwas anderes im Sinn gehabt, als einen Kampf um die Wahrheit zu führen. Ob man dies als Segen oder Fluch interpretiert, hängt wohl davon ab, auf welcher „Seite“ man steht. Grundsätzlich scheint es aber doch ein Segen zu sein, wenn um die Wahrheit mit allem Ernst gestritten wird. Und dann ist es besser, er endet mit einer Lösung voneinander als mit einem Krieg gegeneinander oder der Diskreditierung einer Seite als häretisch, ketzerisch, irrgläubig. Ein solcher Streit sollte, wenn möglich, ohne böse Polemik der sachlichen Klärung dienen. Dass dies in der Reformationszeit keiner Seite wirklich gelungen ist, sie im Gegenteil allerorten tief in die Polemik-Kiste gegriffen haben, wissen wir. Denken wir aber an die Gegenwart, so ist mir ein interkonfessioneller Disput, welcher der Sache dient, lieber als ein Kuschelkurs, der die Inhalte verwässert. Mit dieser Aussage ist dann in der Tat nicht nur der interkonfessionelle, sondern auch der interreligiöse Dialog im Blick. d) Insbesondere im Blick auf Luther muss man Acht geben, dass man seine existenzielle Frage nicht mit einem psychologischen Problem verwechselt. Gewiss war es seine Frage, und er hat seine Antwort darauf gefunden. Diese seine Frage verdeutlichte aber die individuelle Verantwortung des Einzelnen vor Gott und in der Welt, die wiederum jeden angeht und die jeder auf seine Weise gestalten muss, was, wenn es denn ernst genommen ist, einen Segen darstellt. e) Diese Individualität religiöser Erfahrung wiederum darf nicht verwechselt werden mit einer religiösen Beliebigkeit, wie sie insbesondere in jüngerer Zeit von protestantischen Theologinnen und Theologen propagiert wird, die sich auf den Schultern eines auf das Prokrustesbett individualistischer Verbiegungen geschnallten Schleiermachers wähnen. Das ist in meinen Augen ein wahrer Fluch. Personale Freiheit ist keine Beliebigkeit, und diese Beliebigkeit wird reformatorischerseits durch die Unbedingtheit des von außen zugesagten Wortes Gottes verhindert. Die zentralen Begriffe, die das verdeutlichen und die nicht zufällig von den genannten Theologinnen und Theologen gemieden werden, sind Offenbarung und Wahrheit. Ohne diese wird die Theologie blutleer und austauschbar. Dieser letzte Punkt weist bereits auf die angesprochene Vielfalt hin. Denn von den verschiedenen reformatorischen Bewegungen in der besagten Weise ernst genommene persönliche Verantwortung hat unter anderem dazu geführt, dass die Reformation eben nicht als geschlossenes Phänomen begegnet, sondern sich wiederum in verschiedene Zweige mit unterschiedlichen Schwerpunkten aufgespalten hat. Diese Vielfalt an aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen kann als unübersichtliches Ge-
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wimmel missinterpretiert oder aber als in bunter und facettenreicher Vielstimmigkeit aufgefächerte Gestaltung einer Grundidee verstanden werden. In der Reformationszeit selbst und auch darüber hinaus erwies sich diese Vielfalt eher als ungünstig und nachteilig, insbesondere die weltlichen Unterstützer sahen darin eine Gefahr, der man durch Religionsgespräche begegnen wollte. Und es liegt auf der Hand: Uneinigkeit im eigenen religiösen Lager bedeutete ein Einfallstor für altgläubige Kritik und konnte sich etwa im Kriegsfall tödlich auswirken. In späteren Jahrhunderten sah man in den intrakonfessionellen Auseinandersetzungen vor allem eine Lähmung der Staatskraft auf wirtschaftlicher und militärischer Ebene. Heute, wo die Deutungskraft der Religion insgesamt auf dem Spiel steht, fragt man sich, ob man sich konfessionelle Gegensätze überhaupt noch leisten kann und will angesichts all der Herausforderungen, vor denen die Gesellschaften weltweit stehen. Der in vielen Zweigen auftretende Protestantismus scheint dem religiösen Zerfall Vorschub zu leisten, müsste also als Fluch betrachtet werden. Dass man das anders sehen kann, hat weder mit der eigenen konfessionellen Verortung zu tun noch mit einer Resignation angesichts der religiösen Wirklichkeit der Gegenwart. Diese Vielfalt kann vielmehr deshalb vielleicht nicht gerade als Segen, aber eben auch nicht als Fluch gesehen werden, weil sich darin etwas spiegelt, was unter dem Stichwort der „Einheit der Kirche“ so gerne beiseitegeschoben wird. Nämlich erstens, dass „Einheit“ oftmals mit „Einheitlichkeit“ verwechselt wird, die meistens nur durch eine straffe Ordnung und Hierarchie erreicht werden kann. Und zweitens und vor allem, dass diese Sehnsucht nach „Einheit“ an der – zugegebenermaßen reformatorischen – Einsicht vorbeigeht, dass der Mensch selbst ein zutiefst in der Spannung existierendes Wesen ist, „Sünder und gerecht zugleich“, wie es Luther formulierte4, so dass jede „Einheit“ im Sinne einer „Einheitlichkeit“ schon von dort aus keine Chance hat. Insofern ist die irdische Existenz vieler Kirchen nichts anderes als das institutionelle Abbild dieses menschlichen Ist. Jede dieser Kirchen kann – wie jedes ihrer Glieder – in die von Gott in seinem Sohn Jesus Christus geschenkte Einheit nur hineinzuwachsen suchen, um wahre Kirche Jesu Christi zu werden – dies aber mit aller Entschlossenheit und vor allem in aller Eindeutigkeit. Daher – und das starke konfessionelle Moment in dieser Aussage sei verziehen – ist es schöner, Glied einer Kirche zu sein, die sich in dieser Vorläufigkeit versteht und unter diesem Auf-
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Vgl. etwa WA 56, S. 268/27–269/4.
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trag sieht, als in einer, die doch in ganz anderer Weise den Anspruch erhebt, bereits hier und jetzt wahre Kirche Christi zu sein. Im unmittelbaren Anschluss daran muss an eine bedeutende Folge der Reformation gedacht werden, die merkwürdigerweise und vielleicht mit ökumenischer Rücksicht (die an dieser Stelle völlig verfehlt ist) keines der Themenjahre bestimmt hat: der weite Bereich von Kirche, Amt und Gemeinde. Die theologischen Grundlagen einer Unterscheidung von sichtbarer und verborgener Kirche, vom Priestertum aller Getauften, von einem neuen Berufs- und Dienstverständnis sowie von einer zu kritischem Hören befähigten Gemeinde provozierten eine neue Gestaltung von Gemeinde und sichtbarer Kirche, die sich bereits in den frühen Kirchenordnungen widerspiegelte. Um ein paar Beispiele zu nennen: Die Aufhebung der Unterscheidung von Klerus und Laien ermöglichte die institutionell gesicherte Beteiligung Nichtgeistlicher an kirchlichen Entscheidungen; die Liturgie des Gottesdienstes wurde um das Wort herum auf dem Wort dienende Elemente konzentriert; das Abendmahl wurde als Gemeinschaftsmahl mit beiden Elementen gefeiert; Presbyterien und Konsistorien leiteten mit den Pfarrherren die Gemeinde; Liturgie und Predigt in deutscher Sprache ermöglichten ein aktives Hören; schließlich bedeutete die Übersetzung der Bibel ins Deutsche die Möglichkeit einer breiten Auseinandersetzung mit ihren Inhalten. Natürlich gab es auch schon Übersetzungen in die Volkssprachen vor Luther, aber es ist a) bedeutsam, dass Luthers Übersetzung die erste aus dem griechischen Urtext war, und b) ist nicht von der Hand zu weisen, dass Luther – natürlich auch durch die Hilfe seiner sprachkundigen Berater – sehr nah an diese heranzukommen versuchte und dabei zu bis heute gebräuchlichen Sprachschöpfungen fand. Dazu hat die Ablehnung der allegorischen zugunsten einer literalen und christozentrischen Schriftauslegung dazu beigetragen, dass auf lange Sicht dem historischkritischen Weg der Exegese der Weg bereitet wurde. Alle Elemente wären als segensreich zu bezeichnen. Als weniger segensreich gestaltete sich, dass die notwendige Konzentration auf das Wort die Lust an liturgischer Inszenierung und anderen Formen als den Gottesdienst, der die Predigt zum Mittelpunkt hat, nahezu verdrängt hat; im reformierten Raum sicher noch klarer als im lutherischen. Überhaupt scheint es, als sei die Spiritualität ins Hintertreffen geraten und die evangelische Kirche gestaltungsärmer, humorloser, wortreicher, verbissener. Das ist sicherlich eine Folge der bewussten Abgrenzung gegen traditionelle Formen – bis heute traut man sich nicht, etwa den schwarzen Talar gegen eine weiße Albe mit bunter Stola einzutauschen, und Elemente wie Kniefall
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oder Kreuzschlagen oder auch so etwas wie das Stundengebet werden nur von ganz Mutigen praktiziert. Und versucht man sich an neuen Formen, wird nicht selten das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, so jedenfalls ein häufiger Eindruck. Nicht gerade ein Fluch vielleicht, aber eine bedauerliche und aus falschen Gründen gewählte Einschränkung. Da täte ein Blick in die reformatorische Praxis selbst gut, die eine bestimmte Vielfalt durchaus zugelassen hat. Und es täte ein Blick gut in bestimmte Praktiken freikirchlicher und protestantisch-monastischer Versuche, die durchaus kritisch zu beäugen sind, weil bei beiden manche Grundlagen sehr fragwürdig sind. Indes wäre eine verantwortete Wiederentdeckung und Wiederbelebung einer wortgebundenen Spiritualität sicher segensreich.5 Weiterhin ist – gerade im Anschluss an das Stichwort der Beteiligung Nichtgeistlicher an kirchlichen Leitungsaufgaben – als Folge der reformatorischen Bewegung der Einsatz für eine breite Bildung zu nennen. Nicht zu bestreiten ist, dass a) hierfür der Humanismus bereits den Weg geebnet hat und b) durch die reformatorischen Wirren der Universitätsbetrieb eine Zeit lang lahm gelegt und in bestimmter Hinsicht auch eine Wissenschaftsfeindlichkeit der Reformatoren zu spüren war. Im Blick auf Letzteres ist allerdings zu sagen, dass diese Wissenschaftsfeindlichkeit, die ich lieber Wissenschaftsskepsis nennen möchte, vor allem jedes scholastische Spekulieren in der Theologie traf und sich an der Lust des Disputierens um des Disputierens willen entzündete: Die Theologie verträgt kein l’art pour l’art, sondern soll helfen, die Fragen der Schrift so zu klären, dass sie dem Menschen helfen, sein Leben zu bestehen. Im Übrigen wurde in der Mitte der 1530er Jahre das Disputationswesen in Wittenberg wieder aufgenommen, die Lähmung des Wissenschaftsbetriebs war also nicht mehr als eine Episode. Vor allem aber ist daran zu erinnern, dass mit dem Aufkommen aufklärerischer Ideen der Protestantismus in zweierlei Hinsicht wegweisend gewesen ist. Zum einen hat er sehr früh die Auseinandersetzung mit den rational begründeten Einwürfen der Aufklärung gesucht und dabei ein Profil herausgebildet, das den neuzeitlichen Entwicklungen Stand halten konnte; dies gilt insbesondere dann für die Anfragen, welche die neuen Wissen-
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Eine kurze Überlegung dazu findet sich bei ATHINA LEXUTT, Allein aus dem Glauben. Einige Gedanken zur reformatorischen Spiritualität und Mystik. in: Spiritualität (auch unter dem Titel: Beten & Co. Lebendige Spiritualität in Alltag und Gemeinde). Handbuch Gemeinde & Presbyterium, Düsseldorf 2010, S. 56–59.
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schaften stellten (Herausbildung der historisch-kritischen Exegese; Vermittlung zwischen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und biblischem Zeugnis; Leben-Jesu-Forschung; historische Wissenschaften; religionsgeschichtliche Schule – um nur ein paar Beispiele zu nennen). Zum anderen verstand er es, die Theologie selbst als Wissenschaft zu etablieren und an den staatlichen Universitäten gegen andersartige Bemühungen zu behaupten. Daneben ist an die vielen Protestanten zu denken, die in pädagogischer Hinsicht Grundlegendes zum Bildungsbegriff und Bildungswesen beigetragen haben, angefangen bei Melanchthon über Johann Amos Comenius und August Hermann Francke bis hin zu Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und viele andere, die in jüngerer Zeit gewirkt haben. Worauf die Reformatoren durchweg großen Wert gelegt und wofür sie sich unermüdlich eingesetzt haben: dass Bildung ein hohes Gut ist, dass „man die Kinder zur Schule halten soll“ und dass es die Pflicht der Obrigkeit ist, für Bildung zu sorgen – das kann angesichts unserer heutigen Bildungslandschaft (man scheut sich fast, sie so zu nennen) nicht deutlich genug ins Bewusstsein gerufen werden.6 Gibt es jemanden, der diese Folge der Reformation nicht als Segen bezeichnen und sich so manchen Reformanstoß für heute daraus wünschen würde? Ein letztes Moment sei an dieser Stelle genannt: die Diakonie. Aus verschiedenen Gründen haben sich die Reformatoren darum bemüht, insbesondere den Bettel aus der Stadt zu vertreiben, und es sei gar nicht verschwiegen, dass ein Motiv war, sich auf diese Weise auch der Bettelmönche zu entledigen. Auf der anderen Seite aber wurde mit der Einrichtung eines ‚Gemeinen Kastens‘ der Grundstein dafür gelegt, dass die Armenfürsorge und die Fürsorge für diejenigen, die unverschuldet ins Abseits gerutscht sind, wieder fest in die Amtskirche zurückgeholt und nicht allein den Klöstern überlassen wurden. Etwas anderes ist allerdings noch viel entscheidender: Da das gute Werk als Mittel, die ewige Seligkeit zu erlangen, durch die Rechtfertigungserkenntnis ausgeschlossen war, konnte es nun tatsächlich im Blick auf den Nächsten allein eingesetzt werden. Nicht mehr Gott gefallen und nicht mehr für die eigene Seligkeit sorgen zu müssen, macht frei für die Bedürfnisse des Nächsten. Von dort gerieten Für-
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Vgl. dazu unter vielen Beiträgen ATHINA LEXUTT, Einbildung. Luthers Bildungsverständnis, in: Das Ja zum Kind. Mandat und Verantwortung für die christliche Erziehung (Veröffentlichungen der Lutherakademie Sondershausen-Ratzeburg 3), Erlangen 2006, S. 95–113.
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sorge und Diakonie auch in den folgenden Jahrhunderten verstärkt in den Fokus protestantischen Handelns und wurden vor allem im 19. Jahrhundert und angesichts seiner besonderen Herausforderungen fest institutionalisiert. Namen wie Amalie Sieveking, Theodor Fliedner, Johann Hinrich Wichern oder Friedrich von Bodelschwingh erzählen auf je eigene Weise von dieser diakonischen Grundlagenarbeit, die als theologische Grundlagenarbeit neu wahrgenommen wurde.7 Eine segensreiche Arbeit, wie wohl niemand abstreiten wird. Nachdem wir bisher vor allem historisch nach Spuren der reformatorischen Bewegungen gesucht haben, gilt es nun, nach dem theologischen Kern derselben zu fragen.8 Immer mal wieder ist es bisher am Rande mit angesprochen worden und angeklungen, dass für all diese Beobachtungen zuerst und zuletzt theologische Fundamentalüberzeugungen ausschlaggebend gewesen sind, die nicht in einer allgemein spürbaren kirchenkritischen Haltung der Zeit ihren Grund und ihre Ursache haben, diese aber sehr wohl sachnotwendig zur Folge hatten. Es sind diese Fundamentalüberzeugungen und -entscheidungen, die zu den inhaltlichen Scheidungen geführt haben und „das Reformatorische“ ausmachen. Man muss an dieser Stelle aus seinem Herzen keine Mördergrube machen und kann frei heraus bekennen, dass diese Überzeugungen und Entscheidungen jederzeit kritischen Anfragen auszusetzen sind, sie aber zunächst geteilt werden. In dieser Hinsicht – und in dieser Hinsicht in jeder Hinsicht – wird das Reformatorische als Segen betrachtet. Das sei mit wenigen, aber entscheidenden Punkten begründet.
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Einen kurzen Überblick bietet ATHINA LEXUTT, Theologie zum Heil des Menschen. Protestantische Einsichten zum heilenden Raum der Theologie von der Reformation bis zur Entstehung der Diakonie im 19. Jahrhundert, in: Reformation und Architektur. Eine Dokumentation, hrsg. von der Architektenkammer Rheinland-Pfalz, Mainz 2016, S. 36–43 und S. 125 f. Zu dem meisten Folgenden ist viel Literatur erschienen. Es seien hier nur wenige Überblickstitel genannt, die sich gleichsam über ihre Bibliografien als Multiplikatoren von Literatur verstehen: OSWALD BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 32007; ALBRECHT BEUTEL, Luther Handbuch, Tübingen 2005; GERHARD EBELING, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 4 1981; ATHINA LEXUTT, Luther (UTB Profile 3021), Köln / Weimar u. a. 2008; BERNHARD LOHSE, Luthers Theologie in ihrer historischen Entwicklung und in ihrem systematischen Zusammenhang, Göttingen 1995; PETER OPITZ, Leben und Werk Johannes Calvins. Göttingen 2009; PETER OPITZ, Ulrich Zwingli. Prophet, Ketzer, Pionier des Protestantismus, Zürich 2015; HERMAN J. SELDERHUIS (Hrsg.), Calvin-Handbuch, Tübingen 2008.
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a) Die bereits genannte tiefe Einsicht in die spannungsreiche Existenz des Menschen gehört zu dem Segensreichsten, was die reformatorischen Bewegungen hervorgebracht haben und das Reformatorische ausmacht. Dass der Mensch nicht „aus einem Guss“ ist, dass er ständig in der Spannung von eigener Verfehlung einerseits und Gottes gnädigem Zuspruch andererseits existiert, zwischen Leben und Tod, zwischen Hoffnung und Furcht, zwischen Lust und Leid, zwischen Freude und Trauer – das lädt ihn ein, dieses Leben zu gestalten und am Scheitern nicht zugrunde zu gehen. In einer Welt, in der alles aufs Gelingen, Gesunden, Erreichen abzielt, nicht bloß funktionieren zu müssen, nicht über seinen Erfolg definiert zu werden, scheitern zu dürfen, krank sein und leiden zu dürfen und nicht zuletzt sterben zu dürfen – was für ein Segen! Dass die Anfechtung, die es nicht sofort zu überwinden, sondern die es auszuhalten und zu gestalten gilt, einen solchen Ort innerhalb der Beschreibung menschlicher Existenz erhalten hat, haben wir dem Reformatorischen zu verdanken. b) Daran sowie an die ebenfalls schon angesprochene Ablehnung des guten Werks im Blick auf das ewige Heil ist eine Neubestimmung der Ethik geknüpft, die als wahrer Segen eingestuft werden muss. In Analogie zu dem eben Gesagten nämlich geht – soweit man das überblicken kann – jedes ethische Konzept davon aus, das Ziel ethischer Überlegung und moralischer Sätze sei es, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Eine gute Gesinnung zu haben und möglichst gut zu handeln macht ein gutes Gewissen und glücklich. Nach protestantischer Einsicht in die Sündhaftigkeit der Welt und des Einzelnen trifft dies nicht zu. Der Mensch kann nicht eindeutig unterscheiden zwischen Gut und Böse, und es gibt kaum Situationen, in denen eine vermeintlich gute Handlung nicht auch eine andere Seite hätte. Das aber soll den Menschen gerade nicht hindern zu handeln. Im Gegenteil wird er erst dann frei zum Handeln, wenn er (a) weiß, dass dieses sein Werk ihn dem Heil weder näher bringt noch weiter davon entfernt, und er (b) dieses Werk immer nur situativ als richtig oder falsch wird beurteilen können. Diese Einsicht lässt Handeln gelingen in dem so wichtigen und protestantischerseits unaufgebbaren Dreischritt: Bereitschaft zur Schuldübernahme – Bekenntnis von Schuld – Hoffnung auf Vergebung. Dies gilt für den Einzelnen wie für Kirche insgesamt, weshalb es etwa nach dem Zweiten Weltkrieg so ungeheuer wichtig, aber auch möglich für einen Neuanfang der evangelischen Kirche in Deutschland war, Texte wie das Stuttgarter Schuldbekenntnis und das Darmstädter Wort zu verfassen. Daraus resultiert c) eine selbstverständliche Wahrnehmung eines politischen Auftrags. Die Frage „Wie politisch darf Kirche sein?“ ist eigentlich verfehlt, denn ab
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dem Moment, in dem Gott Fleisch annahm, Mensch wurde und in dieser Welt bis jetzt in Brot und Wein gegenwärtig bleibt, kann es keine Gemeinschaft in seinem Namen geben, die sich nicht zu dieser Welt verhielte. Und das heißt in einem ganz basalen Sinn: politisch sein. Nach protestantischer Auffassung kann dieses Verhältnis nur ein grundsätzlich die Welt in ihrem Dasein bejahendes sein, denn Gott selbst hat diese Welt geschaffen, ihr ihre Erhaltung zugesagt und darin den Menschen mit Fleisch und Geist dazu geschaffen, dass er dieser Erhaltung und allem Lebensdienlichen zuwirkt. Dieses Verhältnis muss aber zugleich ein zu dieser Welt in ihrem Sosein kritisches und distanziertes sein, weil diese Welt unter der Sünde des Menschen auf vielfältige Weise leidet und im Gegensatz zur Schöpfung nicht mehr gut ist. Diese Spannung – hier haben wir sie wieder – provoziert aber weder einen ablehnenden noch einen gleichgültigen, sondern einen kreativen und das Leben erhaltenden und fördernden Umgang mit der fehlerhaften Welt und den fehlerhaften Menschen in ihr. Der Christenmensch weiß um die dauernde Reformbedürftigkeit der Welt und selbstverständlich auch der Kirche. Hier wie dort ist er als Wächter gefragt und seine Einmischung gefordert. Geschieht dies in der Kirche etwa durch Wahrnehmung von Leitungsaufgaben in der Gemeinde, aber auch schon durch ein kritisches Hören der Predigt, so in der Welt durch Wahrnehmung eines politischen Mandats, aber auch schon durch einen Gang zur Wahlurne. Die Evangelische Kirche in Deutschland hat seit der Nachkriegszeit dieses politische Mandat, das in seiner Tiefe ein theologisches ist, unter anderem durch Denkschriften und Orientierungshilfen wahrgenommen, die je zu ihrer Zeit Wichtiges und darüber hinaus Nachhaltiges bewirkt haben, selbst dort, wo sie Widerspruch provoziert haben; zu denken ist vor allem an die Ostdenkschrift aus den 1960er Jahren, die Friedensdenkschriften der 1980er Jahre sowie Texte zum Themenkomplex Ehe, Familie und Sexualität. Wer sich genauer mit diesen Schriften beschäftigt, wird darin viele reformatorische Einsichten entdecken, zum Nachdenken angeregt und auf die Herausforderungen aufmerksam gemacht, denen ein Christenmensch jederzeit ausgesetzt ist. Es wird ihm dabei niemals vorgeschrieben, was er zu denken hat, sondern Ziel ist es, ihm Perspektiven aufzuzeigen, die sein theologisches Urteilsvermögen fördern und fordern, und Handlungsoptionen zu nennen. d) Alles bisher Genannte konzentriert sich selbstverständlich in der reformatorischen Erkenntnis der Rechtfertigungserfahrung. Die Rechtfertigung des Gottlosen – in dieser Zuspitzung neu und originär reformatorisch – macht mit der Gnade Gottes ebenso ernst wie mit der Sünde des Men-
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schen. Das ist das, was man kennt und weiß. Was aber nicht jeder kennt und weiß und/oder was nicht überall in der gebotenen Ausdrücklichkeit gesagt wird, ist, dass dieses „Ernstmachen“ schöpfungstheologisch verankert, christologisch ausgedeutet und pneumatologisch verlebendigt wird. Es gibt gewissermaßen kein „solo Christo“ (allein durch Christus) ohne ein „solo creatore“ (allein durch den Schöpfer) und ein „solo paracleto“ (ohne den Tröster). Dass der Mensch ohne jedes Zutun seinerseits (und „ohne jedes“ meint wirklich „ohne jedes“) gerechtfertigt wird, ist darin begründet, dass der Schöpfer des Himmels und der Erde einen solchen Lebenswillen für seine gesamte Kreatur hat, dass er den Menschen bejaht, und zwar mitten in seiner Sünde, mitten darin, dass er selbst diesen Gott nicht will. Dass Gottes Zuwendung zum Menschen eine unbedingte und totale ist, wird erkennbar im gekreuzigten Christus, der in diesem Moment des Kreuzes die Sünden des Menschen auf sich nimmt und ihm seine eigene Gerechtigkeit zurechnet; dieser „fröhliche Wechsel und Tausch“ (communicatio idiomatum) ist etwas, dem der Mensch ganz und gar vertrauen darf, in aller Anfechtung, in aller gegenläufigen Erfahrung seiner selbst und der Welt als nicht-erlöst, als ungerecht, als sündig, als fehlerhaft und schwach. Für die Zeit aber, in der sich die Wahrheit der Rechtfertigungszusage und die Wirklichkeit der Welt- und Selbstwahrnehmung noch nicht decken, ist der Tröster, der Heilige Geist an die Seite gegeben, der nicht nonchalant Sorgen, Nöte und Differenzerfahrungen aller Art weglächelt, sondern durch sie hindurchträgt, sie aushalten lässt und Gestaltungsfreiräume schafft. So, trinitarisch durchdekliniert, ist getroffen, was vor allem Luther selbst gemeint hat. Schon Luthers Zeitgenossen, mehr noch dann die lutherische Orthodoxie, auch andere Zweige der Reformation taten sich schwer mit dieser Rechtfertigungserfahrung, vor allem in dem Augenblick, als sie aus dieser spannungsreich erfahrbaren Bewegung eine Lehre machten und mit klaren Begriffen in den Boden zu rammen suchten. Es kam zu Verschiebungen und Erstarrungen, Fragen mussten notwendig offenbleiben. In der Moderne gesellten sich heftige Anfragen von den Positionen dazu, die dem Menschen Souveränität und Autonomie zubilligen wollten und diese durch eine solche, ausschließlich auf das Handeln Gottes gegründete Rechtfertigungslehre gefährdet sahen. Insbesondere zugehörige Lehrstücke wie das vom geknechteten Willensvermögen passten nicht zum Ideal eines Menschen, der in Freiheit den Autoritäten begegnen kann und letztlich seines eigenen Glückes Schmied sein soll. Bei aller Betonung der Rechtfertigung gibt es in der gegenwärtigen protestantischen Theologie zu wenig Mut, diese von
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A bis Z durchzudeklinieren: eine Aufweichung des Sündenbegriffs, die Konzentration auf ethische Fragen und damit verbunden der Wunsch, den Menschen zum guten Werk anzuhalten, und der Appell an seinen guten Willen, die Diskussion um das Kreuz, eine neue Paulusinterpretation – diese und andere Elemente tragen dazu bei, die Entdeckung Luthers und seine Lesart des Evangeliums nicht mehr in der gebotenen Schärfe zur Sprache zu bringen. Zwar mag dadurch dem aufgeklärten Menschen gedient sein, zwar mag dadurch manche ökumenische Annäherung leichter fallen, zwar mag so die theologische Botschaft gegenwärtigen Ohren zugänglicher sein – aber ist die Sache damit noch getroffen? An dieser Stelle wäre eine Rückbesinnung auf diesen Artikel, mit dem die Kirche steht und fällt, wünschenswert, damit das Segensreiche an ihm zu seiner Wirkung kommen kann. e) Schließlich haben die reformatorischen Bewegungen zu einer neuen Konzentration auf die Schrift geführt. Das intensive Ringen mit der Schrift gehört an den Anfang jeder dieser Bewegungen. Auf nähere Sicht hat die Anerkennung der Schrift allein als Autorität in Fragen der Lehre und des Lebens, ihre Anerkennung als norma normans der Theologie einmal einer fundamental neuen Kirchenstruktur den Weg geebnet, auf lange Sicht zudem dem kritischen Umgang auch mit der Schrift selbst in Wahrnehmung ihres historischen Entstehens, Werdens und Interpretiert-Werdens. Die historisch-kritische Exegese, neuere hermeneutische Ansätze wie die Genderperspektive, Aufnahme semiotischer Grundeinsichten, jüngst auch interreligiöser Aspekte – sie alle verdanken sich der reformatorischen Definition einer Theologie aus der Schrift allein. Wie schwierig es ist, den schmalen Grat zu gehen zwischen fundamentalistischer Schrifthörigkeit, das heißt wörtlicher Verwendung steinbruchartig herausgebrochener, einzelner Verse einerseits und rein literaturtheoretischen und historischen Zugängen ohne theologischen Anspruch andererseits, zeigen Exegese, Theologie und Kirche über die Jahrhunderte hinweg. Darin besteht eine bleibende Aufgabe, die aber wiederum nur als segensreich gelten kann, will Kirche nicht in leeren Floskeln und starren Formen verharren, sondern lebendiger Raum theologischen Erinnerns und Ereignens sein. Dem korrespondiert ein letzter Punkt, der an dieser Stelle genannt werden will: f) das assertorische Reden. Luther verwendet den Begriff der assertio in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus über das menschliche Willensvermögen. Dieser Begriff ist einer der stärksten, nicht nur in dieser Debatte, sondern für die Theologie insgesamt. Will der Theologe angemessen reden, so kann er dies nur assertorisch tun. Das heißt, er wird aus ganzer
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Überzeugung, selbst durch das zusagende Wort Gottes getröstet, befreit und gewiss gemacht, eben in diesem Trost, in dieser Freiheit und mit dieser Gewissheit reden. Jede seiner Aussagen sollte – wie Luthers Katechismusaussagen – mit einem „Das ist gewisslich wahr“ enden können. Damit aus dieser gewissesten Gewissheit, es mit der Wahrheit zu tun zu haben, damit also aus diesem Wahrheitsanspruch kein Machtanspruch wird, der anderen Wahrheit abspricht und/oder ihnen die eigene Wahrheit gewaltsam überstülpen will, wird der Theologe zugleich in Demut und kritisch sich durch die Schrift selbst überwachend reden. Mit gewissester Gewissheit und Demut zugleich zu reden – das ist assertorisch reden. Das biblische „Ich glaube; hilf meinem Unglauben!“ (Mk 9,23) ist dafür ein erstes, sehr sprechendes Beispiel. Luther selbst und auch andere Reformatoren haben sich selbst leider an diesen Grundsatz assertorischen Redens nicht immer gehalten. Ihre bereits erwähnte Polemik wurde gerade dort bisweilen unerträglich, wo es um die Verteidigung der von ihnen behaupteten Wahrheit ging. Luthers mehr als unrühmliche Haltung gegenüber den Juden am Ende seines Lebens ist dafür vielleicht das eindrücklichste Beispiel, und es gehört auf die Seites des Fluches, wenn wir daran denken, wie seine Aussagen zunächst im 19. Jahrhundert dazu dienten, einen „salonfähigen“ Antijudaismus zu pflegen und den Reformator für das neue nationale Bewusstsein in Anspruch zu nehmen, und wie in nationalsozialistischer Zeit seine antijüdische Hetze propagandistisch von der Kirche selbst ausgeschlachtet und die nationalsozialistische Ideologie als Vollenderin der Reformation gefeiert wurde. Gerade aber dieser Missbrauch sollte uns sensibel machen für die Notwendigkeit eines assertorischen Bewusstseins in Wahrheitsüberzeugung und Demut zugleich, das unerlässliche Voraussetzung für jeden echten und guten Dialog ist, der um der Sache willen geführt wird. Die assertio ist die Basis für eine in diesem Sinne gute Streitkultur. Und die brauchen wir dringender denn je!
3. Die Antwort Wie weit sind wir nun gekommen in der Beantwortung der Frage, ob die Reformation Segen oder Fluch war? Nicht immer lässt sich, gerade bei Betrachtung verschiedener historischer Folgen, eine Antwort eindeutig formulieren. Sie würde auch nicht eindeutiger, wenn man eine vollständigere
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Darstellung hätte, als sie jetzt in der Kürze geboten werden konnte. Dass aber gegenüber diesem Uneindeutigen und dem, was die reformatorischen Bewegungen an Schattenseiten hervorbrachten, das Segensreiche überwiegt, konnte und sollte aus evangelischer Perspektive nicht verhehlt werden. Mindestens muss natürlich klar sein, dass es eben auch nur eine evangelische Perspektive ist. Aus eben dieser Perspektive aber soll zum Schluss der Hoffnung Ausdruck gegeben werden, das Reformationsjubiläum möge in der Tat dazu verhelfen, aus dem Reformatorischen Anregungen zu gewinnen für ein verantwortetes Christentum in den Herausforderungen der Gegenwart. So anstößig die Reformation in mancherlei Hinsicht war, so sehr hat das Reformatorische Anstöße gegeben zum Nach- und Weiterdenken und zum Gestalten einer lebendigen Kirche, eines lebendigen Christentums. Also: Segen oder Fluch? Im Sinne des Zusammengetragenen sei behauptet – und das Wortspiel sei gestattet: Das Reformatorische – ein verfluchter Segen!
Klaus Unterburger
„Wunder von Trient“ oder päpstlich‐kurialer Betrug?
Katholische Reformationen im 16. Jahrhundert
Der Begriff „Reformation“ hat eine Wanderung hinter sich. Seitdem Leopold von Ranke (1795–1886) im 19. Jahrhundert seine „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation“1 schrieb, ist er in konfessioneller Hinsicht ins protestantische Lager übergetreten. Zeitgenössisch und noch lange danach meinte der Begriff der reformatio hingegen nichts speziell Konfessionelles, sondern Verbesserung durch den Rückgriff auf eine als normativ angesehene Vergangenheit. Ihren Ursprung hat diese Forderung im klösterlichen und universitären Milieu; seine große Konjunktur setzte dann aber seit dem 14. Jahrhundert ein, wo überall Reformen in Kirche und weltlichen Institutionen gefordert wurden. „Reformation“ war also eine Forderung vor, während und nach den Ereignissen, die zur Ausbildung der Konfessionen im 16. Jahrhundert geführt haben.2 Hinzu kommt, dass gerade Luther ein Selbstverständnis, Reformator der Kirche zu sein, fern lag. Er verstand sich als Doktor der Theologie, somit als Universitätsprofessor, der die Aufgaben, Pflichten und Rechte seines Amtes ausüben
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LEOPOLD VON RANKE, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bde. I– VI, Berlin u. a. 1839–1847. KLAUS UNTERBURGER, „Reform der ganzen Kirche“. Konturen, Ursachen und Wirkungen einer Leitidee und Zwangsvorstellung im Spätmittelalter, in: Andreas Merkt / Günther Wassilowsky / Gregor Wurst (Hrsg.), Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven (Quaestiones Disputatae 260), Freiburg 2014, S. 109– 137; FRANZ MACHILEK, Einführung. Beweggründe, Inhalte und Probleme kirchlicher Reformen des 14./15. Jahrhunderts (mit besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse im östlichen Mitteleuropa), in: Winfried Eberhard / Franz Machilek (Hrsg.), Kirchliche Reformimpulse des 14./15. Jahrhunderts in Ostmitteleuropa (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 36), Köln / Weimar / Wien 2006, S. 1–121.
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wollte.3 Hinzu trat sein prophetisch-endzeitliches Selbstbewusstsein, das besonders Heiko A. Oberman (1930–2001) betont hat.4 Natürlich wollte er die Verkündigung des reinen Evangeliums und damit den schriftgemäßen Gottesdienst wieder aufrichten; eine langfristige Verbesserung des Kirchenwesens, die Reform der Kirche, war aber nicht sein originäres Ziel. Seit dem Spätmittelalter erhoffte man sich die Reform der Kirche von den Konzilien; sie repräsentierten ja die gesamte Kirche; was alle betraf, sollte auf ihnen von allen entschieden werden.5 Sie boten am ehesten die Gewähr, dass nicht Partikularinteressen eine effektive Reform verhinderten, da alle Interessen in der Kirche dort eine Stimme finden sollten. In Auseinandersetzung mit Luther, Zwingli, Calvin und anderen Theologen sollte im 16. Jahrhundert das Konzil von Trient die Reformansätze bündeln und zu einem Abschluss bringen. Es sollte die Einheit der Kirche wahren, die Irrtümer der Protestanten aber zurückweisen. Die Forderungen nach einer Reform der Kirche, die seit dem Spätmittelalter überaus virulent waren, mündeten in das Trienter Konzil ein. Es wurde so selbst bald Gegenstand einer historiographischen Kontroverse. Während die einen im Gefolge des venezianischen Servitenpaters Paolo Sarpi (1552–1623) die 3
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KLAUS UNTERBURGER, Unter dem Gegensatz verborgen. Tradition und Innovation in der Auseinandersetzung des jungen Martin Luther mit seinen theologischen Gegnern (KLK 74), Münster 2015, S. 83–93; BERNHARD LOHSE, Luthers Selbsteinschätzung, in: Ders., Evangelium in der Geschichte. Studien zu Luther und der Reformation, Göttingen 1988, S. 158–175; GERHARD EBELING, Lehre und Leben in Luthers Theologie, in: Ders., Lutherstudien III. Begriffsuntersuchungen – Textinterpretationen – Wirkungsgeschichtliches, Tübingen 1985, S. 3–43. HEIKO A. OBERMAN, Martin Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982, S. 84: „Luther hat sich nie als ‚Reformator’ bezeichnet. Prophet scheute er sich nicht zu sein: als ‚Evangelist’ wollte er die frohe Botschaft verbreiten; Prediger, Doktor oder Professor nannte er sich und war es auch. Doch nie hat er den Anspruch erhoben, Reformator zu sein, genausowenig wie er sein Werk als ‚Reformation’ ausgegeben hat.“; vgl. auch DERS., Martin Luther: Vorläufer der Reformation, in: Ders., Die Reformation. Von Wittenberg nach Genf, Göttingen 1986, S. 162– 188. YVES CONGAR, Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet, in: Heinz Rausch (Hrsg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten, Darmstadt 1980, S. 115–182; JOHANNES HELMRATH, Reform als Thema der Konzilien des Spätmittelalters, in: Giuseppe Alberigo (Hrsg.), Christian Unity. The Council of Ferrara-Florence (BEThL 97), Löwen 1991, S. 75–152; JÜRGEN MIETHKE, Kirchenreform auf den Konzilien des 15. Jahrhunderts. Motive – Methoden – Wirkungen, in: Johannes Helmrath / Heribert Müller (Hrsg.), Studien zum 15. Jahrhundert (FS Erich Meuthen) I–II, München 1994, hier: Bd. I, S. 14–42.
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Reform der Kirche durch das Tridentinum als gescheitert ansahen, da das Papsttum eine echte Reformation blockiert habe, glorifizierten andere im Gefolge des Jesuiten Pietro Sforza Pallavicino (1607–1667) das Tridentinum und die tridentinische Reform.6 Noch im 20. Jahrhundert hat Hubert Jedin (1900–1980), der als erster Geschichtsschreiber die vatikanischen Akten zu einer Gesamtdarstellung nutzen konnte, in dieser Linie vom „Wunder von Trient“ gesprochen7, durch das die altersschwache Kirche zu neuer Kraft und Heiligkeit reformiert worden sei. Wie soll man also entscheiden, ob die katholische Reform auf dem Trienter Konzil geglückt ist? Woher soll man wissen, was die rechte Reformation der Kirche gewesen wäre? Kriterien wären notwendig, die aber doch selbst umstritten waren. Im Folgenden soll davon ausgegangen werden, dass hinter den Reformforderungen religiöse Bedürfnisse und Erwartungen standen. Es handelte sich um die Heilssehnsucht der Zeit, das Streben nach Heilsgewissheit, den Wunsch nach einer schriftgemäßen, ihrem Auftrag folgenden Kirche. Diese kommt in der Kleruskritik und in den Reformforderungen seit dem Spätmittelalter zum Ausdruck; Stärken und Schwächen der Reform durch das Trienter Konzil sollen also vor deren Hintergrund skizziert werden.
1. Kleruskritik und Reformation: Warum fand Luther so viele Anhänger? Nach dem Wormser Reichstag war die Sache Luthers in aller Munde. Die Fürsten und Landesherren verhielten sich unterschiedlich: abwartend und Luther indirekt begünstigend; neutral oder aber auch streng abweisend. Überall wurde aber diskutiert, weshalb seine Schriften so begierig gelesen wurden und warum er im ganzen Reich so viele überzeugte Anhänger
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[PAOLO SARPI], Historia del concilio tridentino. Nella quale si scoprono tutti gl’artificii della Corte di Roma, per impedire che né la verità di dogmi si palesasse, né la riforma del Papato, & della Chiesa si trattasse, London 1619; PIETRO SFORZA PALLAVICINO, Istoria del Concilio di Trento, Rom 1666 (erstmals erschienen 1656– 1657); HUBERT JEDIN, Das Konzil von Trient. Ein Überblick über die Erforschung seiner Geschichte, Rom 1948, S. 61–145. HUBERT JEDIN, Vaticanum II und Tridentinum. Tradition und Fortschritt in der Kirchengeschichte, Köln u. a. 1968, S. 23.
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fand. Gerade auch die strikt antilutherischen, altgläubigen Herzöge und Bischöfe fragten sich dies. So unterschiedlich und divergierend deren Analysen waren, im entscheidenden Punkt herrschte Einigkeit: Es war die Unzufriedenheit mit dem Klerus, die den Nährboden bildete, aus dem die Anhänger Martin Luthers erwuchsen. So sehr Fürsten und Bischöfe sich gegenseitig die Schuld gaben und so unterschiedlich ihre Antwortstrategien gewesen sind, in diesem Punkt, der Unzufriedenheit der Laien mit dem Klerus, stimmten sie überein. In der Forschung ist dieses Phänomen als 8 frühneuzeitlicher „Antiklerikalismus“ diskutiert worden ; antiklerikal nicht in einem modernen laizistischen, klerusfeindlichen Sinn, sondern in der Bedeutung einer Kritik an den Klerikern, die der klerikalen Norm nur unzureichend zu entsprechen schienen. Natürlich kann man fragen, ob die Kleruskritik nicht mit tiefergehenden theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Motiven verbunden war. Dennoch bleibt zu konstatieren: Man wusste auch im altgläubigen Lager: In Bezug auf den Klerus, auf dessen Heilsvermittlung und Seelsorge, herrschte eine weit verbreitete Unzufriedenheit und Verunsicherung. Die Kritikpunkte lassen sich den zahlreichen Gravamina (Beschwerde-) Schriften gegen den Klerus entnehmen, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder verfasst wurden.9 Sie lassen sich relativ erschöpfend in drei Kategorien einteilen: (a) Immer wieder finden sich Vorwürfe, die Kleriker würden sich nicht an jene Normen halten, die das kanonische Recht ihnen auferlege und durch die sie sich von Laien distinguieren sollten.10 Hier war zum einen der Zölibat zu nennen. Der Konkubinat mit der „Pfarrerköchin“ war verbreitet, die daraus hervorgehenden Kinder hatten bei der Bewirtschaftung
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KLAUS UNTERBURGER, Das bayerische Konkordat von 1583. Die Neuordnung der päpstlichen Deutschlandpolitik nach dem Konzil von Trient und deren Bedeutung für das Verhältnis von weltlicher und geistlicher Gewalt (Münchener Kirchenhistorische Studien 11), Stuttgart 2006, S. 110–132; HANS-JÜRGEN GOERTZ, Pfaffenhaß und groß Geschrei. Die reformatorischen Bewegungen in Deutschland 1517–1529, München 1987; DERS., Antiklerikalismus und Reformation. Ein sozialgeschichtliches Erklärungsmodell, in: Ders., Antiklerikalismus und Reformation. Sozialgeschichtliche Untersuchungen, Göttingen 1995, S. 7–20. Vgl. die Edition mit zahlreichen Beispielen: Acta reformationis catholicae ecclesiam germaniae concernentia saeculi XVI. Die Reformverhandlungen des deutschen Episkopats von 1520 bis 1570, hrsg. von GEORG PFEILSCHIFTER, Bde. I–VI, Regensburg 1959–1974. K. UNTERBURGER, Konkordat (Anm. 8), S. 111 f.
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der Pfarrpfründe mitzuarbeiten. Dann kam der Wirtshausbesuch, das Karten- und Würfelspiel dazu; um das Einkommen aufzubessern, wurde in manchen Pfarrhöfen selbst Bier ausgeschenkt, was wiederum Konkurrenz zu von Laien betriebenen Gasthäusern bedeutete. Ein immer wieder auftretendes Ärgernis war die Beteiligung des Klerus an Schlägereien oder verbalen Auseinandersetzungen und Beleidigungen. Eine außerliturgische klerikale Kleidung war dem traditionellen katholischen Priestertum fremd; es wurde aber eine dezente, würdige Kleidung erwartet und etwa kritisiert, wenn die Priester nur ein „kurzes Gewand“, schmutzige Kleidung oder gar Waffen trugen. – All diese Vorwürfe wurden vorwiegend moralisch verstanden; es ist aber ohne weiteres klar, dass sich dahinter sozialgeschichtliche, strukturelle und finanzielle Gründe verbargen. Wo Ausbildung und Einkünfte mangelten, brauchte man die eigene Familie zur Sicherung des Lebensunterhalts, musste man das Gehalt aufbessern, hatte kein von der sozialen Schicht, der man entstammte, distinktes Bewusstsein. (b) Ein weiterer Schwerpunkt der Kleruskritik waren die finanziellen Leistungen selbst, die die Laien zu leisten hatten.11 Hier waren sowohl Zehntstreitigkeiten wie auch angeblich ungewöhnliche oder überhöhte Stolgebühren ein immer wiederkehrender Beschwerdepunkt. Einen fiskalischen Aspekt hatte auch die Kritik, dass der Klerus die geistlichen Leistungen, die er gemäß den Stiftungen und Messstipendien zu erfüllen hatte, nicht oder nur unvollkommen erbrachte. Während die weltlichen Landesherren nach Möglichkeit jede Abgabe unterbinden wollten, die der Klerus an die Diözesanleitung entrichten sollte, beklagte man von geistlicher Seite einen zunehmenden Steuerdruck durch die weltlichen Landesherren auch auf geistliche Personen und kirchlichen Besitz. Besonders schlechter dotierte Benefizien warfen zu wenig ab, als dass ein Geistlicher allein davon leben konnte. Die Folge war, dass solche Pfründen etwa nicht mehr versehen wurden oder aber, dass es zu einer Kumulation von mehreren Benefizien kommen musste, deren Pflichten sich aber mitunter ausschlossen. Man wird zudem generell von einer langsamen, allmählichen Inflation seit dem Spätmittelalter ausgehen müssen, die den Benefizienertrag auch für Geistliche in eine ungünstige Relation zu den Lebenshaltungskosten setzte. (c) Neben ungeistlicher Lebensweise und Fiskalismus zählten schließlich ungenügende Bildung und mangelhafte Kenntnisse zu den Hauptvor-
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würfen gegen die Geistlichkeit. Vielfach galt der Klerus einfach als dumm und tölpelhaft; in Visitationen wurden oft die einfachsten rituellen Sachverhalte nicht gewusst. Es fehlte an Unterscheidungswissen gegenüber der lutherischen Bewegung. Besonders die Predigt aber war immer wieder Gegenstand einer beißenden Kritik; oft war der Vorwurf zu hören, dass nur erbauliche Märlein oder reißerische Effekthascherei geboten wurden und keine tiefere Erkenntnis der Heiligen Schrift. Auch hier warfen sich weltliche Landesherren und geistliche Diözesanleitungen gegenseitig Versagen vor. Der zu wenig gebildete Klerus sei überdies nicht in der Lage, die Schulmeister zu kontrollieren, die vielfach als Einfallstore für Heterodoxie galten. Eine Klerusreform musste eine Bildungsreform sein.12 Ungeistlicher Lebenswandel, Fiskalismus, mangelnde Bildung – dies waren in den Augen des frühen 16. Jahrhunderts Symptome einer Krise. Bald ging zudem die Zahl des Priesternachwuchses erheblich zurück. Dahinter stand jedenfalls eine klare Erwartungshaltung: Aufgabe der kirchlichen Amtsträger war es, das Wort Gottes korrekt zu verkündigen, das Messopfer würdig zu feiern und die Sakramente fruchtbringend zu spenden. Hierfür, und nur hierfür, sollte der Klerus bezahlt werden. Darin waren sich auch die Territorialfürsten und der Episkopat einig. Während aber die einen meinten, die Bischöfe versagten, deshalb müsse ihnen als den weltlichen Landesherren Rom die Kontroll- und Reformationsrechte über den Klerus legitimieren, beschwerte man sich auf Seiten des Episkopates, dass die Fürsten eine Kontrolle und Korrektion der Kleriker durch die Bischöfe behinderten. Dahinter steckten also konkurrierende Machtstrategien; hinzu kam, dass die weltliche Gewalt auf Kontrolle und Zwang setzte, während die Bischöfe erklärten, erst müsse die finanzielle Lebenssituation des Klerus verändert werden, die der eigentliche Grund für angebliche Pflichtvergessenheit sei. Repression alleine würde den Priestermangel hingegen nur noch verschärfen.13 Im Kern waren es jedenfalls zwei schwerwiegende Probleme, die es zu beheben galt: Die Divergenz oder Trennung
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HERIBERT SMOLINSKY, Kirchenreform als Bildungsreform im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Ders., Im Zeichen von Kirchenreform und Reformation. Gesammelte Studien zur Kirchengeschichte in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, hrsg. von Karl-Heinz Braun / Barbara Henze / Bernhard Schneider (RST. Suppl. 5), Münster 2005, S. 44–61; DERS., „Docendus est populus“. Der Zusammenhang zwischen Bildung und Kirchenreform in Reformordnungen des 16. Jahrhunderts, in: ebd., S. 25–43. K. UNTERBURGER, Konkordat (Anm. 8), S. 119–132.
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von beneficium und officium war das eine; also dass man Abgaben oder Pfründen besaß, ohne dass die seelsorglichen Pflichten korrekt und würdig vollzogen würden. Zudem die Kritik an den Kenntnissen der Seelsorgspriester, die deren Funktion als Deuter und Vermittler des Heils in Frage stellten.
2.
Die Reformdebatte des 15. Jahrhunderts: die Suche nach strukturellen Gründen
Zwei Sachverhalte sind vor diesem Hintergrund ohne weiteres klar: Erstens war eine tiefergehende Reform der Seelsorgs-, Pfründen- und Ausbildungsstruktur ein jurisdiktionell weitgehender, anspruchsvoller Akt, dessen Durchsetzung auf die Widerstände bisheriger Profiteure stoßen musste. Zweitens ist deutlich, dass beide Zentralperspektiven der Kritik sich aus einer langfristigen Entwicklung seit dem Hochmittelalter ergeben, dass beide so bereits im Zentrum von Reformdiskursen und -versuchen seit dieser Zeit standen. Die Fragen, wer für das faktisch als Ungleichgewicht empfundene Verhältnis von Seelsorge und Finanzen, officium und beneficium, verantwortlich sei und wie eine verbesserte Klerusbildung erfolgen könne, standen seit langem im Raum. Die strukturellen Weichenstellungen, an denen man ansetzen musste, suchten die Reformdenkschriften seit dem späten 14. Jahrhundert aufzudecken. Bevor diese analysiert werden, muss kurz die Frage aufgeworfen werden, inwieweit der Eindruck des Spätmittelalters, Seelsorge und Heilsvermittlung würden immer unzulänglicher, tatsächlich der Realität entsprach. Lange Zeit hat man relativ kritiklos den Schluss gezogen von zunehmenden Beschwerden und Klagen auf einen tatsächlich wachsenden Missstand und Verfall. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat aber das Bild vom Spätmittelalter deutlich differenziert und korrigiert; in der Regel haben nicht die Missstände zugenommen, sondern die Ansprüche.14 Die Maßstä-
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WILHELM DAMBERG, Das Spätmittelalter. Wandel eines Epochenbildes und Konsequenzen für die Reformationsdeutung von Joseph Lortz, in: Historisches Jahrbuch 117 (1997), S. 168–180; BERNDT HAMM / THOMAS LENTES (Hrsg.), Spätmittelalterliche Frömmigkeit zwischen Ideal und Praxis (Spätmittelalter und Reformation, N.R. 15), Tübingen 2001. Vgl. auch zusammenfassend: ARNOLD ANGENENDT, Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter (EDG 68), München 2003, S. 17:
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be und Sensibilitäten sind also gewachsen, während die Zustände eigentlich gleich geblieben sind. Hinzu kommt, dass die schriftliche Überlieferung seit dem Spätmittelalter dichter ist und so vieles aus dieser Epoche zu uns gelangt ist, was vorher verloren gehen musste. Dass diese Sicht richtig ist, wird ohne weiteres deutlich an der Ausbildung des Klerus. Dessen basaler Kenntnisstand musste das gesamte Mittelalter hindurch sein, den Ritus korrekt zu vollziehen, also letztlich Messbuch und Rituale bei der richtigen Gelegenheit an der richtigen Stelle aufzuschlagen und die lateinischen Gebete korrekt zu verrichten. Vor allem in den Städten und in den Ordensgemeinschaften wuchsen freilich die Ansprüche. Die neu entstehenden Universitäten reagierten; in Paris wurden neben der hochentwickelten wissenschaftlichen Theologie einfachere Formen für die Seelsorger entwickelt.15 Kirchliche Synodalbestimmungen seit dem 12. Jahrhundert schärften immer wieder ein, dass Dom- und Kollegiatkirchen Lehrer für die Ausbildung in der Heiligen Schrift, also der schriftgemäßen Predigt, anstellen sollten. An diesen Kirchen sollte überhaupt regelmäßig gepredigt werden.16 In den Städten kamen dann vor allem die Franziskaner und Dominikaner und die anderen Bettelorden dem nach; bald stifteten die Bürger aber zusätzliche Predigerstellen. Bei der Ausbildung der Seelsorger ist es also so: Eine immer breitere Schicht wollte neben dem basalen korrekten Vollzug des Ritus auch eine schriftgemäße Predigt hören und suchte Vergewisserung im Glauben. Dass zudem auch die Seelsorgepflichten im Spätmittelalter nicht einfach im Verfall waren, ist schon daran zu erkennen, dass die Zahl der Stiftungen und des gottesdienstlichen Angebotes noch zunahm. Es gab ein immer dichteres Netz von Möglichkeiten, Buße zu tun und an den Heilsangeboten der Kirche zu partizipieren. Dennoch gab es nun massive Reformforderungen. Diese schilderten Missstände und machten strukturelle Gründe für diese aus. Man blieb nicht
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„Das Spätmittelalter gab der Christianisierung in Deutschland einen geradezu einzigartigen Schub.“ JÖRG OBERSTE, Zwischen Heiligkeit und Häresie. Religiosität und sozialer Aufstieg in der Stadt des hohen Mittelalters, Bd. I: Städtische Eliten in der Kirche des hohen Mittelalters (Norm und Struktur 17,1), Köln / Weimar / Wien 2003, S. 103–206. ODETTE PONTAL, Le role du synode diocésain et des statuts synodaux dans la formation du clergé, in: Les évêques, les clercs et le roi (1250–1300) (Cahiers de Fanjeux 7), Toulouse 1972, S. 337–359; MICHELE MACCARONE, „Cura animarum“ e „parochialis sacerdos“ nelle costituzioni del IV. concilio lateranense (1215). Applicazioni in Italia nel sec. XIII, in: Pievi e parrocchie in Italia nel basso medioevo (sec. XIII–XV). Atti del VI convegno di storia della chiesa in Italia, Firenze 21.– 25. sett. 1981, Rom 1984, S. 81–195.
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auf einer moralischen Ebene stehen, auf der jeder stets sich bessern müsse und Gott noch mehr lieben könne. Es ging auch um Strukturen und Geld; dies garantierte Realitätsbezug und Realisierbarkeit von Reformpostulaten. Walter Brandmüller, der dies als oberflächliche Verteilungskämpfe zwischen Klerikern glaubt verspotten zu müssen17, offenbart sich hier selbst als oberflächlich: Eine Reform der Seelsorge dadurch zu erwarten, dass jeder mehr bete und frömmer werde, schien schon den spätmittelalterlichen Theologen und Kanonisten naiv, obwohl sie die Frömmigkeit des Einzelnen fördern wollten. Ämter und Finanzen waren durch kirchliche Strukturen geprägt und bedingten die Lebensform der Kleriker, die sie ausüben sollten. Wer eine Reform wirklich zustande bringen wollte, musste hier ansetzen. Die Klagen über den Zustand der Kirche waren besonders seit 1400 allgemein verbreitet. Sie betrafen alle Glieder der Kirche, ja die gesamte Christenheit. Das große Papstschisma seit 1378 befeuerte noch die Reformforderungen; im Allgemeinen galt es als Folge und Konsequenz des kirchlichen Reformstaus, als dessen sinnenfälliger Ausdruck, nicht als dessen kausale Ursache. Natürlich gab es verschiedene Schattierungen der Kritik; auch unterschieden sich mitunter die vorgeschlagenen Mittel der Abhilfe und die dahinter stehende Ekklesiologie. Die Beschreibung der Übel aber blieb auf auffallende Weise im Wesentlichen konstant. Die Klagen und Beschwerden wiederholten sich, wurden beinahe Gemeinplätze. Es greift zu kurz, wenn konstatiert wird, alle möglichen Leute hätten im Spätmittelalter alle möglichen Reformforderungen aufgestellt.18 Vielmehr entwickelte sich so etwas wie ein konkreter Reformdiskurs, der seine suggestive Kraft in sich selbst besaß, ein Diskurs über die Übel, die in die Kirche eingedrungen seien und wie diese strukturell behoben werden könnten. Die wichtigsten Elemente dieses Diskurses kehrten immer wieder; sie tauchten in den meisten Predigten, Denk- und Beschwerdeschriften auf, die v. a. aus dem universitären Milieu stammten. Einflussreich wa17
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WALTER BRANDMÜLLER, Causa reformationis. Ergebnisse und Probleme der Reformen des Konstanzer Konzils, in: Ders., Papst und Konzil im Großen Schisma (1378–1431). Studien und Quellen, Paderborn u. a. 1990, S. 264–281, hier: S. 279. Dies ist, verbunden mit der Fragmentierungsthese, die doch in das Früh- und Hochmittelalter notgedrungen als Gegenpol einen romantischen Universalismus anachronistisch projiziert, letztlich die These von HERIBERT MÜLLER, Ein Weg aus der Krise der spätmittelalterlichen Kirche: Reform und Erneuerung durch die Konzilien von Konstanz (1414–1418) und Basel (1431–1449), in: Zeitschrift für Kirchengeschichte (ZKG) 126 (2015), S. 197–223.
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ren etwa Matthäus von Krakau (ca. 1335/40–1415), Jean Gerson (1363– 1429), Pierre d’Ailly (1350/51–1420), Dietrich von Nieheim (ca. 1345– 1418) und Nikolaus von Clémanges (ca. 1360–ca. 1434/1440).19 Folgende Topoi waren für sie zentral: a) Der Zustand der gesamten Kirche, aller Stände, wird negativ beurteilt. Besonders kritisch wird aber der Klerus gesehen und insbesondere die römische Kurie. Aus dem monastischen Bereich und aus dem Kontext lokaler Visitationen wird die Formel von einer „Reform an Haupt und Gliedern“ rezipiert und auf die Gesamtkirche angewendet.20 Papst und Kurie als Haupt tragen die Hauptverantwortung für den desolaten Zustand der Glieder.21
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MATTHÄUS VON KRAKAU, De Squaloribus Curie Romane, in: Jürgen Miethke / Lorenz Weinrich (Bearb.), Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der Großen Konzilien des 15. Jahrhunderts, Bd. I: Die Konzilien von Pisa (1409) und Konstanz (1414–1418), Darmstadt 1995, S. 60–165; PIERRE D’AILLY, De reformacione ecclesiae, in: ebd., S. 338–377; DIETRICH VON NIEHEIM, Avisamente pulcherrima de unione et reformacione membrorum et capitis fienda, in: ebd., S. 246–293; DERS., Super reformacione ecclesie, in: ebd. S. 296–305; NIKOLAUS VON CLÉMANGES, De ruina ecclesiae, Preßburg 1785; LOUIS B. PASCOE, Jean Gerson: Principles of Church Reform (Studies in Medieaval and Reformation Thought 7), Leiden 1973; DERS., Church and reform. Bishops, Theologians, and Canon Law in the Thought of Pierre d’Ailly (1351–1420), Leiden-Boston 2005; PAUL TSCHACKERT, Peter von Ailil: Zur Geschichte des grossen abendländischen Schisma und der Reformconcilien von Pisa und Constanz, Gotha 1877; ACHIM FUNDER, Reichsidee und Kirchenrecht. Dietrich von Nieheim als Beispiel spätmittelalterlicher Rechtsauffassung (RQ. Suppl. 48), Rom 1993; GEORG ERLER, Dietrich von Nieheim (Theodoricus de Nyem). Sein Leben und seine Schriften, Leipzig 1887; CHRISTOPHER M. BELLITTO, Nicolas de Clamanges. Spirituality, Personal Reform, and Pastoral Renewal on the Eve of the Reformation, Washington D.C. 2001. KARL AUGUSTIN FRECH, Reform an Haupt und Gliedern. Untersuchung zur Entwicklung und Verwendung der Formulierung im Hoch- und Spätmittelalter (Europäische Hochschulschriften III/510), Frankfurt am Main u. a. 1992. Die Schrift P. D’AILLYS, De reformacione (Anm. 19) kämpft deshalb für eine Reform aller Stände der Kirche von oben nach unten und will die Synoden wiederbeleben, deren Wegfall Schuld trage an der Misere; nach Gerson sollen alle Stände der Kirche durch purgatio, illuminatio und perfectio reformiert werden. L. PASCOE, Gerson (Anm. 19), S. 22–34; vgl. auch: NIKOLAUS VON CLÉMANGES, De ruina (Anm. 16), v.a. S. 16–46. – In dieser Schrift werden alle Stände der Kirche von oben bis unten als verderbt charakterisiert, so sei eine Reform von Haupt bis Fuß von Nöten; vgl. ebd., S. 99–105, 108–110. Nach Matthäus von Krakau interessiere man sich an der Kurie nur für materiellen Gewinn, freiwerdende Stellen in der Kirche, die man verleihen könne. MATTHÄUS VON KRAKAU, Squalores (Anm. 19) v.a. S. 65–95. – Die Geldgier der Päpste sei ein schwerer Amtsmissbrauch; sie sollten
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b) Immer wieder klagte man, dass Ungeeignete auf kirchliche Pfründen, also in verantwortliche Stellungen, befördert wurden. Da theologische Bildung und Würdigkeit nicht berücksichtigt würden, säßen die Falschen auf ihren Pfründen. Anstatt des Leistungsprinzips herrsche Schmeichelei und Patronage; nicht der Gebildete, sondern der Schlaue erhalte kirchliche Ämter. Folge sei eine unzureichende Seelsorge; wirksame Kontrolle von oben fehle.22 c) Die kirchliche Pastoral sei durch das Streben nach Geld verdorben worden. Anstatt Selbstlosigkeit und Einsatz für das Heil anderer diene alles dem Gelderwerb, was zu Pfründenkumulation, Pfründenhandel und Simonie und zur Vernachlässigung der Seelsorge führe.23 d) Mit der Entartung des kirchlichen Lebens sei eine Entartung des Rechts einhergegangen; ab dem 13. Jahrhundert sei das alte, auf die Seelsorge konzentrierte Recht durch ein neues Dekretalenrecht der Päpste überformt worden, das durch Exemtionen, Reservationen, Zentralismus und Abgabenforderungen den alten Zusammenhang von beneficium und officium zerschneiden half.24 e) Symptom für den unguten Zentralismus sei, dass das alte Wahlrecht von Gemeinschaften für ihre Vorsteher immer mehr ausgehebelt werde; Mönche und Kanoniker dürften nicht mehr ihre Vorsteher, Ortskirchen nicht mehr ihre Bischöfe wählen. Folge sei, dass die Amtsträger gemäß externen – meist finanziellen – Interessen externer Instanzen, vor allem der päpstlichen Kurie, eingesetzt würden und nicht aus dem Interesse, dort einen guten Seelsorger zu erhalten.25
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deshalb abgesetzt werden, so etwa Dietrich von Nieheim in Konstanz in Bezug auf Johannes XXIII.; vgl. DIETRICH VON NIEHEIM, Super reformacione (Anm. 19), S. 302–305. DIETRICH VON NIEHEIM, Avisamenta (Anm. 19), S. 282–287; NIKOLAUS VON CLÉMANGES, De ruina (Anm. 19), S. 22–27; MATTHÄUS VON KRAKAU, Squalores (Anm. 19), S. 110 f. So besonders NIKOLAUS VON CLÉMANGES, De ruina (Anm. 19), v.a. S. 1–12. – Die gesamte Schrift des Matthäus von Krakau erhebt den Simonie-Vorwurf vor allem gegen die römische Kurie. Matthäus von Krakau will deshalb explizit zur Praxis der vorigen Jahrhunderte, vor allem zu den Konzilien, zurück. Kritisch setzt er sich mit dem Einwand, der Papst sei der Herr aller Pfründen, der also die Jurisdiktions- von der Sakramentenordnung trennt, auseinander. MATTHÄUS VON KRAKAU, Squalores (Anm. 19), v.a. S. 124–131, 142 f. Zentral ist diese Sichtweise vor allem für DIETRICH VON NIEHEIM, Avisamenta (Anm. 19), der die Fehlentwicklungen vor allem ab 1300 konziliar korrigieren wollte; vgl. auch: NIKOLAUS VON CLÉMANGES, De ruina (Anm. 16), S. 19 f.
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f) Allen Reformdenkschriften war ein Geschichtsbild zu eigen, nach dem die erste Liebe der frühen Kirche erkaltet sei, da das Streben nach Geld mehr und mehr das Herz ergriffen habe. Die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität sei immer größer geworden; die Forderung nach Reform konnte deshalb vom Gefühl gespeist werden, in den letzten Zeiten zu leben.26 Der Befund ist also klar: Predigt und Sakramentenspendung leiden, da die Pfründenvergabe nach den Gesetzen der Patronage und des Klientelismus erfolge; dies deshalb, da diejenigen, für welche die Seelsorge ausgeübt wird, zunehmend keinen Einfluss mehr auf die Stellenbesetzung haben. Vielmehr dienen zahlreiche Ämter der Versorgung; sie werden nach den Gesetzen der Patronage und des Klientelismus vergeben; Hauptproblem sei hier das Zerschneiden des Bandes zwischen officium und beneficium, ermöglicht durch die Ausübung des päpstlichen Jurisdiktionsprimats seit dem Hochmittelalter.
3. Das neukatholische papale Kirchenrecht als die strukturelle Quelle des Übels Sosehr das Gefühl, alles sei immer schlechter geworden, ein Indiz für gesteigerte Frömmigkeit und Sensibilität sein mag und sosehr die Ansprüche an die Bildung der Seelsorger im Spätmittelalter zunahmen – im Kern der Reformpostulate steht ein Umbruchsprozess in der Kirchenverfassung. Der Leipziger protestantische Rechtshistoriker Rudolph Sohm (1841–1917) hat diesen als Umbruch von einem alt- zu einem neukatholischen Kirchenrecht gedeutet27:
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NIKOLAUS VON CLÉMANGES, De ruina (Anm. 19), v.a. S. 1–5. – Am Ende bekommt die Schrift dann einen endzeitlichen Akzent. Auch ein so konservativer Reformer wie Gerson, der sich vor allem eine Wiederherstellung der authentischen Hierarchie und des Rechts in der Kirche erhofft, erklärt, dass die Verwirrung der Gesetze mit dem Zeitalter Konstantins begonnen habe; vgl. PASCOE, Gerson (Anm. 19), S. 50–58. RUDOLPH SOHM, Das altkatholische Kirchenrecht und das Dekret Gratians, München-Leipzig 1918. – Zusammenfassend zur Kritik Sohms und der dennoch weiterbestehenden Berechtigung der These Sohms: YVES CONGAR, Rudolph Sohm nous interroge encore, in: Revue des Sciences Philosophiques et Théologiques 57 (1973), S. 263–294.
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Das Kirchenrecht der Alten Kirche, wie es aus der Antike dem Mittelalter überkommen war und dann angereichert und systematisiert wurde, war ein primär an den Sakramenten orientiertes Recht. Zum einen war die Spendung der Sakramente der wichtigste zu regelnde Vollzug, zum anderen bestimmten die Sakramente auch den Stand und die Stellung in der Kirche mit den damit verbundenen Rechten; zentral war das Weihesakrament, das zur Sakramentenspendung und Predigt bevollmächtigte. Darin spiegelt sich noch die Theologie des Bischofsamts der Alten Kirche, wie sie besonders wirkmächtig in Nordafrika im dritten Jahrhundert Cyprian von Karthago († 258) entfaltet hat: Die wahre Kirche, der Heilige Geist, das Heil sind dort, wo der rechtmäßige Bischof ist. Damit der Bischof ordnungsgemäß in sein Amt kommt und dieses kirchlich korrekt ausübt, formte sich ein synodal geprägtes Kirchenrecht. Der Bischof vertritt die Autorität der Gesamtkirche in der Gemeinde und seine Gemeinde innerhalb der Gesamtkirche: „Der Bischof ist in der Kirche und die Kirche ist im Bischof.“28 So war das altkatholische Kirchenrecht ein an den Sakramenten, besonders am Weihesakrament, und an der Seelsorge orientiertes Recht. Klerus und Volk wählten die Amtsträger. Im Hochmittelalter wurde die Kirchenverfassung gemäß der papalen Idee der plenitudo potestatis tiefgehend umgestaltet. Man unterschied die Jurisdiktion von der Weihegewalt über die Sakramente. Die Jurisdiktion werde nicht schon mit der Sakramentengnade automatisch ausgeteilt, sondern leite sich monarchisch vom Papst ab. Zur polyzentrisch-episkopalen Gnaden- und Sakramentenstruktur trat eine zusätzliche, monarchische Rechtsstruktur.29 Mt 16,18, die Verleihung der Schlüssel an Petrus, wurde seit dem 13. Jahrhundert nicht mehr auf die sakramentale Sündenvergebung, sondern auf die Jurisdiktion bezogen.30 Das Institut des Weihbischofs entstand, der zwar sakramental Bischof ist, aber keine Jurisdiktion besitzt; umgekehrt bildete sich das Generalvikariat aus, das für den Bischof die Jurisdiktion ausübt, ohne zum Bischof geweiht zu sein; immer mehr Bischöfe regierten ohne höhere Weihen ihre Diözesen. Die Jurisdik-
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CYPRIAN VON KARTHAGO, ep. 66,8,3. YVES CONGAR, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma (Handbuch der Dogmengeschichte, Bd. III/3c), Freiburg / Basel / Wien 1971, S. 91–95. ALFONS KNOLL, „Derselbe Geist“. Eine Untersuchung zum Kirchenverständnis in der Theologie der ersten Jesuiten (Konfessionskundliche und kontroverstheologische Studien 74), Paderborn 2007, S. 410–413.
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tion leitete sich nur vom Papst ab, der sie in der ganzen Fülle besitze. Die Alte Kirche dachte die Sakramentenspendung so, dass Christus selber tauft, die Sünden vergibt etc., die Haupt-Glieder-Beziehung also so, dass vom Haupt die Gnade in die Glieder des Leibes einströme. Das neue Denken legte darüber die sichtbare Rechtsgemeinschaft; in rechtlicher Hinsicht brauche die Kirche auch ein sichtbares Haupt, das in dieser Rechtsordnung Christus vertrete, der Papst ist nach der neuen Theologie sichtbares Haupt der Kirche.31 Die Besetzung der kirchlichen Ämter und damit der Zugriff auf das kirchliche Vermögen wurden in Anwendung des neukatholischen Kirchenrechts immer mehr an den päpstlichen Hof verlagert. Erste Ansätze gab es bereits im 13. Jahrhundert. Dank ihres Jurisdiktionsprimats, der plenitudo potestatis, begannen die Päpste, bestimmte Benefizien für sich zur Besetzung zu reservieren. Für andere wurden Expektanzen, also verbindliche Anwartschaften ausgesprochen. Diese zaghaften Ansätze wurden während der Zeit in Avignon massiv ausgebaut; von nicht von den Päpsten zu besetzenden Ämtern wurden bei Neubesetzung nun Abgaben wie Annaten und Servitien erhoben. Als Kompensation für schwindende Einkünfte aus dem Kirchenstaat und zur Finanzierung der päpstlichen Verwaltung wurde auf der Grundlage des neukatholischen Dekretalenrechts die Gesamtkirche mit einem Stellenbesetzungs- und Finanzsystem überzogen. Damit wurden für die Besetzung vieler Ämter die mikropolitischen Beziehungen zum päpstlichen Hof wichtiger, als diejenigen zu den Mächtigen vor Ort.32 Führte dieser zunehmende Ausgriff auf Vermögen und Stellenbesetzung zu Unzufriedenheit und Romkritik, so musste sich dadurch die Praxis der päpstlichen Verwaltung selbst verändern. Hier muss man sich zwei Struk-
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Vgl. Y. CONGAR, Lehre (Anm. 29), S. 106–127, 164–172, 175–182. THOMAS FRENZ, Das Papsttum im Mittelalter, Köln / Weimar / Wien 2010, S. 176– 185; THOMAS WETZSTEIN, Noverca omnium ecclesiarum. Der römische Universalepiskopat des Hochmittelalters im Spiegel der päpstlichen Finanzgeschichte, in: Jochen Johrendt / Harald Müller (Hrsg.), Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. N.F. 19), Berlin 2012, S. 13–62; JEAN FAVIER, Les finances pontificales à lʼépoque du Grand Schisme dʼOccident 1378– 1409 (Bibliothèque des Écoles Françaises dʼAthènes et de Rome 211), Paris 1966; STEFAN WEISS, Die Versorgung des päpstlichen Hofes in Avignon mit Lebensmitteln. Studien zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eines mittelalterlichen Hofes, Berlin 2002; CLEMENS BAUER, Die Epochen der Papstfinanz. Ein Versuch, in: Historische Zeitschrift 138 (1928), S. 457–503.
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turmerkmale vormoderner Herrschaftsstrukturen vor Augen führen: (a) Herrschaft beruhte auf einem Geflecht mikropolitischer Beziehungen und Strukturen; Klientelismus und Patronage waren die wichtigsten Faktoren, sozial aufzusteigen und den Aufstieg selbst wieder abzusichern; (b) die wichtigste soziale Einheit, der man den sozialen Aufstieg verdankte und der man die Wohltaten später dankbar zurückzugeben hatte (pietas), war die Familie. Mit der Verlagerung des Stellenbesetzungssystems an den päpstlichen Hof wurde es somit wichtig, dort zu investieren und nützliche Beziehungen aufzubauen. Zeitgenossen erschien die Kurie in Avignon (und später in Rom) wie ein riesiger Pfründenmarkt. Besonders für die führenden Familien Ober- und Mittelitaliens spielte eine kuriale Karriere eine immer wichtigere Funktion für Karriereplanungen. Man erwartete, dass im Erfolgsfall die Familie hierfür begünstigt und Patronage über weitere Familienmitglieder ausgeübt würde. Das galt natürlich gerade für die Päpste selbst. Nepotismus war deshalb ein Strukturmerkmal des vormodernen Papsttums, der im Spätmittelalter enorm ausgebaut wurde. Päpste mussten ihre eigene Familie mit Pfründen und Ämtern versorgen, Verwandte wurden an die Kurie gezogen und stiegen oft bis zum Kardinalat auf.33 Entscheidend ist der Zirkel: Der Jurisdiktionsprimat konnte nicht ausgeübt werden ohne eine Vielzahl von kurialen Mitarbeitern, die aus kirchlicher Vermögensmasse versorgt werden mussten; die Verwendung der kirchlichen Pfründen für die Kurie war nur möglich, wenn der Jurisdiktionsprimat diese Umverteilung, die Trennung des beneficium vom officium, legitimierte. Immer wieder setzten die Päpste seit dem Ende des Baseler Konzils selbst Reformkommissionen ein; eine wirkliche Umsetzung erfolgte nie, hätte sie doch das papale System – Jurisdiktionsprimat und Kurie – gefährdet.
4. Das Consilium de emendanda ecclesia: Summe und Programm Bereits angesichts der protestantischen Reformation setzte der FarnesePapst Paul III. (1534–1549) erneut eine Reformkommission ein; er beauf-
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WOLFGANG REINHARD, Nepotismus. Der Funktionswandel einer papstgeschichtlichen Konstanten, in: ZKG 86 (1975), S. 145–185.
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tragte jene strenge Reformgruppe unter den Kardinälen, die dem Patronage- und Klientelsystem der Mehrheit des Kollegiums fremd gegenüberstand. Deren Reformdenkschrift des Jahres 153734 ließ nichts an Deutlichkeit übrig; sie ist eine Art Zusammenfassung des Reformdiskurses des Spätmittelalters und steht als Programm vor der Einberufung des Trienter Konzils. Dieses Consilium de emendanda ecclesia fasst tatsächlich die wesentlichen Kritikpunkte der vorherigen Reformdebatte zusammen und kommt auch zu einer ähnlichen Analyse. Es beschränkt sich weitgehend auf die Verantwortung des Papstes für die Gesamtkirche und lässt sich so in vier Punkten zusammenfassen: (a) Die Krise ist eine Krise der Seelsorge. Ungeeignete würden Seelsorger oder gar Bischöfe; Amtsinhaber residierten oft nicht vor Ort; päpstliche Dispensen und Exemtionen verhinderten die Aufsicht durch die zuständigen ortskirchlichen Instanzen.35 (b) Dahinter steht das Problem, dass das Benefizium vom Seelsorgsofficium getrennt worden sei. Benefizien würden an Verwandte oder die Klientel verliehen, mit Pensionen belastet, zur Finanzierung der päpstlichen Kurie herangezogen, usf. Das Amt, für das sie eingerichtet waren, verrichtet derweil ein schlecht ausgebildeter Vikar.36 (c) Anstatt Ämter aus finanziellen Gründen zu verleihen, sollte der Würdigste und Gebildetste diese erhalten.37 Wie ein roter Faden zog sich die Kritik durch, dass der Klerus besser ausgebildet sein müsse, theologisch und aszetisch-praktisch.38 (d) Schließlich wurde hinter den Fehlentwicklungen in der Praxis ein theoretisch-theologischer oder kanonistischer Grundirrtum ausgemacht, nämlich die neukatholische Konzeption vom Papsttum, nach der der Papst über dem Kirchenrecht stehe, in jede Ortskirche hineinregieren und dabei keine Simonie begehen könne.39
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Consilium delectorum cardinalium de emendanda ecclesia, 9. März 1537, in: Concilium Tridentinum XII, S. 131–145. Ebd., S. 139. Ebd., v. a. S. 135–138, 141–143. Ebd., S. 136. Ebd., S. 136: „… presbyteri praesertim et maxime curati, et prae omnibus episcopi: idcirco si gubernatio haec sit recte processura, primo danda est opera, ut hi ministri idonei sint muneri, quo fungi debent.“ Ebd., S. 134 f.: „Inde effectum est, praeterquam quod principatum omnem sequitur adulatio, ut umbra corpus, difficillimusque semper fuit aditus veritatis ad aures
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Für das von Papst Paul III. schließlich tatsächlich nach Trient einberufene Konzil ergab sich also bei allen divergierenden Interessen doch ein recht deutliches Reformprogramm, das der Diskussion harrte: Verbesserung von Predigt und Sakramentenspendung, also der Seelsorge; dies, indem die Seelsorger besser ausgebildet würden und die Benefizial-, also Finanzstruktur wieder ganz der Seelsorge dienen sollte. Schließlich Rückbindung und Rückführung des neukatholischen Jurisdiktionsprimats des Papstes in eine altkirchlich-kollegiale, korporative Kirchenstruktur, die um die Sakramente herum konzentriert war.
5.
Das Reformprogramm des Trienter Konzils
In Trient drängte vor allem die kaiserliche Partei (besonders die vielen unter spanischer Herrschaft stehenden Bischöfe) auf eine umfassende Kirchenreform, durch die man auch einen wichtigen Schritt zur Wiedervereinigung mit den Protestanten glaubte tun zu können. Die italienisch-kurialen Bischöfe wollten hingegen dogmatische Abgrenzung und scharfe Repression gegen alle protestantischen Ansätze und forderten, dass die Rechte des Papsttums von einer Reform nicht berührt werden dürften.40 Man einigte sich schließlich, Glaube und Reform parallel und gleichberechtigt zu verhandeln. Sakramente, Predigt und Seelsorge galten auch in Trient als die Pfeiler des kirchlichen Lebens, die es zu reinigen und zu stärken gelte. Dabei wollte man alles auf den Bischof zentrieren.41 Er soll-
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principum, quod confestim prodirent doctores, qui docerent; pontificem esse dominum beneficiorum omnium, ac ideo, cum dominus iure vendat id quod suum est, necessario sequi, in pontificem non potest cadere simoniam, ita quod voluntas pontifices, qualiscumque ea fuerit, sit regula, qua eius operationes ac actiones dirigantur: ex quo procul dubio effici, ut, quicquid libeat, id etiam liceat. Ex quo fonte tanquam ex equo Troianao irrupere in ecclesiam Dei tot abusus et tam gravissimi morbi, quibus nunc conspicimus eam ad desperationem fere salutis laborasse …“. HUBERT JEDIN, Geschichte des Konzils von Trient, Bde. I–IV/2, Freiburg 1949– 1975, hier: Bd. II, S. 23–28. HUBERT JEDIN, Das Bischofsideal der Katholischen Reformation. Eine Studie über die Bischofsspiegel vornehmlich des 16. Jahrhunderts, in: Ders., Kirche des Glaubens – Kirche der Geschichte, Bd. 2: Konzil und Kirchenreform, Freiburg u. a. 1996, S. 75–117; KLAUS UNTERBURGER, Bischofsamt und weltliche Obrigkeit auf dem Konzil von Trient und in der nachtridentinischen Reform, in: Johannes Wischmeyer (Hrsg.), Zwischen Ekklesiologie und Administration. Modelle territorialer Kirchenleitung und Religionsverwaltung im Jahrhundert der europäischen
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te selbst predigen und die Sakramente spenden, Hirte aller Priester und Gläubigen sein und damit Legislative und Exekutive kontrollieren. Die kleinen italienischen Stadtbistümer waren der Erfahrungshintergrund der meisten Konzilsväter. Jährlich sollte der Bischof eine Diözesansynode abhalten, alle drei Jahre habe eine Provinzialsynode stattzufinden; die Umsetzung alles Beschlossenen kontrolliere der Bischof durch jährliche Visitationen. Ein Benefizieninhaber habe künftig zu residieren, dies gelte auch für den Bischof in seiner Diözese; Kumulationen sollte es künftig nicht mehr geben. Einschränkungen der bischöflichen Jurisdiktion durch Domkapitel, Archidiakone, exemte Ordensgemeinschaften und weltliche Fürsten suchte man zu begrenzen. Besonderes Gewicht wollte man auch auf die Ausbildung des Seelsorgeklerus legen. Anfangs wiederholte man die spätmittelalterliche Norm: Die Bischöfe sollten dafür sorgen, dass an jeder Domkirche ein Lehrer für die Priesterausbildung und Predigt angestellt würde. Schließlich griff man aber ein Modell auf, das in England während der kurzen Phase der Restauration unter Maria der Katholischen (1553–1558) entwickelt wurde.42 Da die Klöster als Schulträger ausgeschaltet waren, sollten die Bischöfe an den Kathedralkirchen seminaria gründen, in denen der Priesternachwuchs nicht nur Unterricht, sondern auch Kost und Logis, also ein Stipendium, erhalten sollte. Diese Idee der seminaria kam über Kardinal Reginald Pole (1500–1558) nach Trient und steht hinter dem berühmten Seminardekret: Neben Unterricht in einer praktischen, auf die Seelsorge konzentrierten Theologie war also eine Art bischöfliches Bursen- und Stipendiensystem das Entscheidende. In Konkurrenz zu einer ganz andere Ziele verfolgenden universitären Theologie sollte diese Seminarausbildung für den einfachen Seelsorgeklerus natürlich nicht treten.43 Die große Streitfrage in Trient war die strukturelle Ursache jener Trennung von beneficium und officium, die schon die Reformtraktate des 15. Jahrhunderts ausgemacht hatte und die auch die Denkschrift der Kardinäle von 1537 in den Mittelpunkt stellte: die päpstliche Praxis der Dispens,
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Reformation (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Beiheft 100), Göttingen 2013, S. 67–82. JAMES A. O’DONOHOE, Tridentine Seminary Legislation. Its Sources and Its Formation (Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium 9), Löwen 1957. SEBASTIAN MERKLE, Das Konzil von Trient und die Universitäten, in: Theobald Freudenberger (Hrsg.), Sebastian Merkle. Ausgewählte Reden und Aufsätze (Quellen und Forschungen zur Geschichte des Bistums und Hochstifts Würzburg, 17), Würzburg 1965, S. 244–270.
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Exemtion und monarchischen Jurisdiktionsausübung. An dieser Frage wäre das Konzil beinahe zerbrochen: Die spanische, die kaiserliche und die französische Partei beharrten auf einer Reform, da sonst alle Beschlüsse letztlich eine Farce blieben; die päpstliche Seite wollte hingegen am Primat nicht rütteln lassen und nahm lieber die Suspension bzw. ein Scheitern des Konzils in Kauf. Im Mittelpunkt stand die Frage, ob die Residenzpflicht der Bischöfe „göttliches Recht“ sei, von dem dann auch die Päpste nicht dispensieren konnten.44 Damit wären die Finanzierung der Kardinäle und der päpstlichen Kurie und auch die bisherige rechtliche Praxis Roms zusammengebrochen. Konnte der Papst aber weiter dispensieren, die Finanzen, das Benefizium weiterhin von der seelsorglichen Pflicht trennen, so drohte die Reform zu scheitern. Es war der Kardinal und Diplomat Giovanni Morone, dem es gelang, doch noch einen Kompromiss auszuhandeln.45 Schließlich hieß es im Dekret, die Residenz im eigenen Bistum verpflichte „unter schwerer Sünde“; die Hintertür der Dispens durch den Papst blieb.46 Andere Fragen in diesem Zusammenhang wurden umschifft. Die Frage des Verhältnisses von Papst- und Bischofsamt bzw. von Papst und Konzil wurde ausgeklammert, da eine Einigung in dieser Frage unmöglich schien. Ebenso gab es keine Festlegung, ob die Jurisdiktion zur sakramentalen Weihegewalt noch hinzukommen müsse und sich vom Papst ableite. In ekklesiologischen Fragen versuchte sich das Trienter Konzil also in einem Kompromiss und klammerte das Papsttum weitgehend aus, ebenso wie die weltlichen Fürsten, auch wenn es mit deren Bereitschaft zu einer Reform rechnete.47
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H. JEDIN, Geschichte (Anm. 40), Bd. II, S. 269–315; Bd. IV/1, S. 116–137, 210– 263; DERS., Der Kampf um die bischöfliche Residenzpflicht 1562/63, in: Ders., Kirche des Glaubens. Kirche der Geschichte, Bd. II, Freiburg 1966, S. 398–413. H. JEDIN, Geschichte (Anm. 40), Bd. IV/2, S. 3–78. Konzil von Trient, sessio XXIII, can. 1, de reformatione. KLAUS GANZER, Die Ekklesiologie des Konzils von Trient, in: Ders., Kirche auf dem Weg durch die Zeit. Institutionelles Werden und Theologisches Ringen. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge (RST. Suppl. 4), Münster 1997, S. 266–281; GIUSEPPE ALBERIGO, Die Ekklesiologie des Konzils von Trient, in: Remigius Bäumer (Hrsg.), Concilium Tridentinum (Wege der Forschung 313), Darmstadt 1979, S. 278–300; JOSEF FREITAG, Sacramentum ordinis auf dem Konzil von Trient. Ausgeblendeter Dissens und erreichter Konsens (Innsbrucker Theologische Studien 32), Innsbruck u. a. 1991.
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6. Die nachtridentinische Reform und die Aneignung des Konzils durch die Päpste Hat das Trienter Konzil eine Reform, eine tridentinische Erneuerung der Kirche, bewirkt? Will man darauf antworten, muss man differenzieren: Es gab unmittelbar oder mittelbar durch das Konzil ausgelöste Reformprozesse, oft selektiv und verspätet, dazu vielfach in einem von den Konzilsdekreten abweichenden Sinn: Zentrale Trienter Reformdekrete wurden nur sporadisch oder gar nicht rezipiert.48 Die vorgesehenen regelmäßigen Diözesan- und Provinzialsynoden fanden kurzzeitig vereinzelt statt, um dann wieder der Vergessenheit anheimzufallen. Bischöfliche Visitationen gab es selten. Der predigende Bischof blieb zumindest nördlich der Alpen die Ausnahme. Bald kam es in der Reichskirche auch wieder zu Bistumskumulationen. Der Nepotismus an der römischen Kurie blieb noch lange bestehen. Anderes wurde modifiziert umgesetzt: Bischöfliche Kontroll- und Weihefunktionen wurden von anderen ausgeführt, von Weihbischöfen, Generalvikaren, Offizialen und Landdekanen. Bischöfliche Seminare wurden zwar vereinzelt für wenige Studenten gegründet, sie hatten aber stets mit Finanzierungsschwierigkeiten zu kämpfen. Ihre Stelle nahmen weitgehend die Jesuitenkollegien ein, die meistens von den weltlichen Landesherren finanziert wurden und jedenfalls keine tridentinischen Seminare waren. Die Trienter Reformen wurden also selektiv und in gewisser Weise untridentinisch durchgeführt. Hauptgrund dafür war, dass die Dekrete an den Normen des kanonischen Rechts und damit den kleinen mediterranen Stadtbistümern der Spätantike orientiert waren. Sie wurden deshalb in den großen Flächenbistümern nördlich der Alpen, wo die Bischöfe meist in einem Hochstift selbst weltliche Landesfürsten waren, nur selektiv und den dortigen sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Strukturen entsprechend umgesetzt.
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KLAUS UNTERBURGER, Der Apostolische Nuntius Feliciano Ninguarda und das Bistum Freising. Ein Beitrag zu den Mechanismen der tridentinischen Reform im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs, in: Beiträge zur altbayerischen Kirchengeschichte 49 (2006), S. 117–155; KONSTANTIN MAIER, Nachtridentinische Diözesansynoden. Höhepunkte der Kirchenreform? Eine kritische Anfrage, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 5 (1986), S. 85–89; PETER HERSCHE, Italien im Barockzeitalter (1600–1750). Eine Sozial- und Kulturgeschichte, Wien u. a. 1999.
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Hinzu kam ein weiterer Umstand: War auf dem Konzil die Diskussion zwischen Papalismus und Episkopalismus noch unentschieden geblieben, so gelang es nach dem Konzil Papst und Kurie, das Deutungsmonopol für sich durchzusetzen49: Eine Konzilskongregation wurde eingerichtet, die die authentische Erklärerin und Deuterin der Trienter Beschlüsse sein sollte. Die Päpste setzten sich an die Spitze einer selektiven Trienter Reform. Wichtige Elemente waren die Kurienreform von 1588 und das zunehmende Gewicht der Nuntiaturen, die zum einen die Trienter Reform in den Ortskirchen urgierten, auf der anderen Seite aber die Jurisdiktion der Ortsbischöfe aushöhlten. Dies hatte zur Konsequenz, dass die Verflechtungsund Finanzstrukturen der päpstlichen Kurie, der Nepotismus in Rom und die Praxis der Dispense vom Kirchenrecht, lange weiterwirkten, wie die Forschungen von Wolfgang Reinhard und seiner Schülerinnen und Schüler und von Christoph Weber gezeigt haben.50 Das Papsttum inszenierte sich aber nicht nur als Besieger der protestantischen Häresie, sondern auch als sittenstrenger Erneuerer und Reformer der Kirche, das Trienter Konzil wurde zum Konzil einer päpstlichen Erneuerung. Von hier fällt noch einmal Licht auf die eingangs erwähnte Kontroverse um die Deutung des Trienter Konzils zwischen dem Venezianer Paolo Sarpi und dem römischen Jesuiten und späteren Kardinal Pallavicino. Während Letzterer von einer päpstlichen Reform ausging und diese in der römischen Exekution des Tridentinums verwirklicht sah, stand Sarpi fassungslos vor der Frage, wie ein Konzil, das die Wiedervereinigung mit den Protestanten und die Stärkung der Bischöfe wollte und das von der römi-
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CHRISTIAN WIESNER, „Weide seine Lämmer“ – Zu Umsetzung und Verortung der Residenzpflicht zwischen Mikropolitik und Seelenheil an der posttridentinischen Kurie, in: Das Konzil von Trient und die katholische Konfessionskultur (1563– 2013). Wissenschaftliches Symposium aus Anlass des 450. Jahrestages des Abschlusses des Konzils von Trient, Freiburg i. Br. 18.–21. September 2013, hrsg. von Peter Walter / Günther Wassilowsky (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 163), Münster 2016, S. 221–254. WOLFGANG REINHARD, Paul V. Borghese (1605–1621). Mikropolitische Papstgeschichte (Päpste und Papsttum 37), Stuttgart 2009; DERS. (Hrsg.), Römische Mikropolitik unter Papst Paul V. Borghese (1605–1621) zwischen Spanien, Neapel, Mailand und Genua (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 107), Tübingen 2004; BIRGIT EMICH, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1606– 1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom (Päpste und Papsttum 30), Stuttgart 2001, v.a. S. 13–43; CHRISTOPH WEBER, Senatus divinus. Verborgene Strukturen im Kardinalskollegium der Frühen Neuzeit (1500–1800) (Beiträge zur Kirchen- und Kulturgeschichte 2), Frankfurt 1996.
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schen Kurie gefürchtet war, in sein Gegenteil umschlagen konnte. Der Grund für die Transformationsprozesse lag darin, dass das labile Gleichgewicht zwischen Bischöfen und Papst in Trient ekklesiologische Debatten auszuklammern suchte; die Kontrolle der Exekution des Konzils lag dann aber beim Papsttum.
7.
Fazit
Am Ende soll noch die Frage aufgeworfen werden, was man aus den katholischen Reformdiskursen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit für heute lernen kann: (a) Das Reformideal war einfach, klar und konstant. Es entsprach dem eigentlichen Ziel der Kirche: Seelsorge zu verbessern. Diese meinte vor allem Predigt und Auslegung des Wortes Gottes und sakramentliche Feiern desselben. Dies entspricht dem Artikel 5 der Confessio Augustana51 und der berühmten Definition von Kirche in Artikel 7 CA52. Reformen in der Kirche haben also darin ihren Maßstab, inwieweit sie der authentischen Glaubensverkündigung und der Feier der Sakramente dienen, damals und heute. (b) Eine Reform der Kirche ist immer auch eine Strukturreform, die die finanziellen und politischen Gegebenheiten realistisch in Rechnung stellen muss. Trient konnte faktisch nur untridentinisch, d. h. den damaligen Macht- und Finanzstrukturen gemäß, umgesetzt werden. Hätte man dies ändern wollen, hätte man ehrgeizig das kirchliche Benefizial-, also Wirtschaftssystem, ebenfalls reformieren müssen.
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Confessio Augustana, Artikel 5: „Um diesen Glauben zu erlangen, hat Gott das Predigtamt eingesetzt, das Evangelium und die Sakramente gegeben, durch die er als durch Mittel den Heiligen Geist gibt, der den Glauben, wo und wann er will, in denen, die das Evangelium hören, wirkt, das da lehrt, daß wir durch Christi Verdienst, nicht durch unser Verdienst, einen gnädigen Gott haben, wenn wir das glauben.“ Confessio Augustana, Artikel 7: „Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, daß das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden.“
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(c) In Rom rangen damals unter den Kardinälen, ja selbst zwischen den dann aufeinander folgenden einzelnen Päpsten, unterschiedliche Reformströmungen. Während Paul IV. (1555–1559) und dann Pius V. (1566– 1572) den zelanti um die Inquisition zuzuordnen sind, die repressiv gegen jede humanistische und protestantische Strömung vorgehen wollten, waren jene Kardinäle und Päpste, die aus dem evangelismo hervorgingen oder von diesem beeinflusst waren – man denke an die für das Konzil wichtigen Kardinäle Reginald Pole und Giovanni Morone (1509–1580) und an Papst Pius IV. (1559–1565) –, offener für den Humanismus und den Augustinismus. Umstrittenes Symbol zwischen beiden Parteien war die Gewährung des Laienkelchs, den Pius IV. zugestand, weswegen in ihm Kardinal Ghislieri, sein späterer Nachfolger als Papst, einen Häretiker sah.53 Hier ging es um mehr als um ein gottesdienstliches Detail; es ging um die ökumenische Frage schlechthin, die uns noch heute beschäftigt: Nach den zelanti verfolgten die Protestanten ein anderes Glaubenssystem: Reformen in der katholischen Kirche seien notwendig, doch der dogmatische Glaube zwischen den Konfessionen könne durch diese niemals überbrückt werden. Dagegen die am evangelismo orientierte Reformgruppe: Im Tiefsten wollten Protestanten und Katholiken dasselbe: Seelsorge als Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier der Sakramente; durch Reformen, wie die Gewährung des Laienkelchs, könne den Fanatikern auf beiden Seiten das Wasser abgegraben werden. – Die Wiedervereinigung der Konfessionen mittels kirchlicher Reformen ist bekanntlich Utopie geblieben. Dennoch war es eine Konzeption, die vom Papsttum des 16. Jahrhunderts zumindest zeitweise schon vertreten wurde.54
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ELENA BONORA, Morone e Pio IV, in: Massimo Firpo / Ottavia Niccoli (Hrsg.), Il cardinale Giovanni Morone e l’ultima fase del concilio di Trento (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni 80), Bologna 2010, S. 30–42; zum Ganzen: MASSIMO FIRPO, Inquisizione romana e Controriforma. Studi sul cardinal Giovanni Morone (1509–1580) e il suo processo dʼeresia, Brescia 22005; ELENA BONORA, Giudicare i vescovi. La definizione dei poteri nella Chiesa posttridentina (Quadrante Laterza 137), Rom-Bari 2007; DIES., La controriforma (Biblioteca essenziale Laterza 35), Rom-Bari 42008; CLAUS ARNOLD, Die römische Zensur der Werke Cajetans und Contarinis (1558–1601). Grenzen der theologischen Konfessionalisierung (Römische Inquisition und Indexkongregation 10), Paderborn 2008. Vgl. E. BONORA, Pius IV. (Anm. 53), v.a. die Zusammenfassung S. 52.
Ulrich H. J. Körtner
Das Evangelium der Freiheit
Reformatorische Theologie für das 21. Jahrhundert
1.
Was ist reformatorisch?
Johann Gottlieb Fichte hat das Christentum als „Evangelium der Freiheit und Gleichheit“ charakterisiert.1 Ersteres sei nicht nur im metaphysischen, sondern auch im bürgerlichen Sinne zu verstehen. Auf die Formel „Evangelium der Freiheit und der Gleichheit“ lässt sich auch der Ertrag der Reformation bringen. Ihre bleibende Bedeutung besteht darin, die Freiheit als Inbegriff des Evangeliums von Jesus Christus neu entdeckt und zur Geltung gebracht zu haben, zugleich aber auch die Gleichheit im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Und tatsächlich hat die Reformation nicht nur religiöse, sondern auch politische und gesellschaftliche Umbrüche hervorgerufen, die bis heute nachwirken. Vom Evangelium der Freiheit hat auch – wenngleich ohne Bezugnahme auf Fichte – der evangelische Neutestamentler Ernst Käsemann in seinem Buch „Der Ruf der Freiheit“ gesprochen und das Neue Testament „gleichsam als Dokument des ersten Aufbruchs in die evangelische Freiheit“ gelesen.2 Er hat freilich auch die in der Kirchengeschichte ständig präsente Versuchung kritisiert, die durch Christus geschenkte Freiheit auf das Gebiet der religiösen Innerlichkeit zu beschränken. Man fällt auf dem Weg der christlichen Freiheit immer wieder zurück, so dass alte Wahrheit nicht nur in der Reformationszeit neu
1
2
JOHANN GOTTLIEB FICHTE, Zur Rechts- und Sittenlehre II (Fichtes Werke IV, hrsg. von Immanuel Hermann Fichte), Nachdruck: Berlin 1971, S. 532. Es handelt sich um ein Zitat aus Fichtes Vorlesungen über „Die Staatsrechtslehre, oder über das Verhältniss des Urstaates zum Vernunftreiche“ (1813). ERNST KÄSEMANN, Der Ruf der Freiheit, Tübingen 51972, S. 11; siehe darin Kapitel 2: „Das Evangelium der Freiheit“ (S. 55–78).
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Ulrich H. J. Körtner
entdeckt werden musste, sondern „stets neu zu entdecken ist“3, wie Käsemann schreibt. „Die Geschichte der christlichen Freiheit ist in diesem Sinne ein Leidensweg, auf den die Kirchen weniger mit Stolz als in Scham zurückzublicken haben.“4 Das gilt zweifellos auch für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen. Beispielhaft ist hierfür der Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus. Teile der evangelischen Kirche übten Verrat am Evangelium der Freiheit. Denen, die bereit waren, sich mit dem NS-Staat zu arrangieren oder mit ihm zu paktieren, hielt die Bekennende Kirche in der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 entgegen: Durch Christus „widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften“5. Diese Sätze gelten auch heute und sind der Kirche zur beständigen Selbstprüfung gesagt, bejahen doch die lutherische und die reformierte Kirche in Österreich ausdrücklich die Barmer Theologische Erklärung als verbindliches Zeugnis für ihren Dienst in der Welt. In diesem Sinne ist das Evangelium der Freiheit nicht nur kirchengründend, sondern auch Grund und Maßstab von Kirchenkritik. Wenn im Folgenden von reformatorischer Theologie gesprochen und gefragt wird, welche Potentiale ihr Erbe für uns heute bereithält, geschieht dies nicht so sehr in historischer als in systematischer Absicht.6 So notwendig es zunächst ist, sich historisch über das Grundanliegen der Reformation, ihrer inneren Einheit und Vielfalt zu verständigen, soll es hier doch nicht in erster Linie um eine kirchengeschichtliche Bestandsaufnahme gehen, welche die Sache fachlich Berufenerer ist, sondern um systematisch-theologische Zugänge zu der Gedankenwelt der Reformatoren des 16. Jahrhunderts. So sehr die Reformation auch die Moderne vorbereitet hat und bis heute prägt, so sehr ist das reformatorische Erbe gravierenden Transformationsprozessen ausgesetzt, in denen Versuche einer Neuaneig-
3 4 5 6
Ebd., S. 55. Ebd., S. 55. Barmer Theologische Erklärung, These 2, zitiert nach Evangelischem Gesangbuch (EG), Ausgabe der Evangelischen Kirche in Österreich, Wien 1994, Nr. 810. Vgl. dazu ausführlich ULRICH H. J. KÖRTNER, Reformatorische Theologie im 21. Jahrhundert (ThSt NF 1), Zürich 2010.
Das Evangelium der Freiheit
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nung reformatorischen Denkens Erscheinungsformen der Distanzierung und Fremdheitserfahrungen gegenüberstehen. Ist für die einen das theologische Erbe der Reformation die Norm ihres eigenen Denkens, so für andere Gegenstand der Kritik, wobei die Theologie der Reformatoren nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch innerhalb des Protestantismus dem Konflikt der Interpretationen ausgesetzt ist. Reformatorische Theologie, wie ich den Begriff gebrauche, ist nicht mit der historischen Rekonstruktion der Theologie der Reformatoren oder einer Quersumme ihres Denkens zu verwechseln, auch nicht mit einer ungeschichtlichen Wiederholung theologischer Lehraussagen des 16. Jahrhunderts. Gemeint ist vielmehr eine gegenwartstaugliche Theologie, die sich an den grundlegenden Einsichten der Reformation orientiert. Ob es die Reformation überhaupt gegeben hat, oder ob es sich bei ihr lediglich um ein historiographisches Konstrukt späterer Generationen handelt, ist in den beiden letzten Jahrzehnten Gegenstand von kirchenhistorischen und theologischen Debatten geworden. Der Begriff des Reformatorischen bezeichnet eben nicht nur eine historische Epoche, sondern zugleich die aus ihr abgeleiteten theologischen Normen und identitätsstiftenden Grundüberzeugungen evangelischen Glaubens und evangelischer Kirchen. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird „Reformation“ als Epochenbegriff verwendet, als Bezeichnung für die durch Martin Luther, Ulrich Zwingli und andere ihnen Gleichgesinnte ausgelösten Vorgänge, die im Verlauf des 16. Jahrhunderts zu einer dauerhaften Aufspaltung des abendländischen Christentums führten. Im Ergebnis entstanden voneinander getrennte Konfessionskirchen. Während die Trennung zwischen den evangelischen Kirchen und der römisch-katholischen Kirche bis heute fortbesteht, haben etliche der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen mit der Leuenberger Konkordie von 1973 die Basis für eine Kirchengemeinschaft gefunden, in der die innerevangelischen Trennungen der zurückliegenden Jahrhunderte überwunden worden sind. Paradoxerweise ist der Begriff der Reformation kein genuin reformatorischer. Das will sagen: Er ist bereits im mittelalterlichen Sprachgebrauch beheimatet, während er von den Reformatoren des 16. Jahrhunderts selbst auffällig zurückhaltend und sparsam verwendet worden ist.7 Die historio-
7
Zum Folgenden vgl. WILHELM MAURER, Art. Reformation, in: RGG3 V, Tübingen 1961, Sp. 858–873; ULRICH KÖPF, Art. Reformation, in: RGG4 VII, Tübingen
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graphische Sicht der von Wittenberg und Zürich ausgehenden Umwälzungen als Reformation ist vor allem durch die reformierte Entwicklungslinie des evangelischen Glaubens vertreten worden, die hierbei ihrerseits unter humanistischem Einfluss steht. Zwingli hatte seine Wirksamkeit mit der von ihm gehegten Hoffnung auf eine Wiederherstellung des Christentums (spes renascenti Christi et evangelii) in Verbindung gebracht und auch Calvins Nachfolger Theodor Beza sprach im humanistischen Sinne von der Renaissance und dem Wachstum der reformierten Kirchen. Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts setzt sich auch in der allgemeinen Geschichtsschreibung der Reformationsbegriff für die in Rede stehende Epoche durch, wobei die Datierung ihres Anfangs und die innere Einheit der ihr zuzurechnenden Bewegungen bis heute strittig geblieben ist. Es führt jedenfalls zu einer unzulässigen theologischen Verengung, wenn die Übereinstimmung mit Luther oder die Abweichung von ihm zum alleinigen Maßstab des Reformatorischen erklärt wird. Zwingli oder auch Calvin – um nur diese Reformatoren zu nennen – agierten nicht nur in einem anderen politischen Kontext als Luther und Melanchthon, sondern ihre Theologie folgte durchaus anderen Organisationsprinzipien als diejenige Luthers. Davon abgesehen steht Luthers umfangreiches Werk, das praktisch ganz aus Gelegenheitsschriften besteht, die in ihrem jeweiligen historischen Kontext interpretiert werden müssen, auch systematisch-theologisch im Konflikt der Interpretationen und Auslegungsschulen. Der evangelische Kirchenhistoriker Volker Leppin spricht gar vom „Vexierbild“8 Luther. Die Einheit der Reformation besteht in der inneren Kohärenz der unterschiedlichen reformatorischen Bewegungen, nicht jedoch im Sinne von Einheitlichkeit und Gleichförmigkeit. Im Blick auf die Vielfalt der Reformation sind wir durchaus berechtigt, von Reformationen im Plural zu sprechen. So ist neben der lutherischen Reformation die reformierte Reformation in ihrer Eigenständigkeit zu würdigen. Wie aber steht der Begriff des Reformatorischen zu demjenigen des Evangelischen? Häufig werden die Begriffe „evangelisch“ und „protestantisch“ synonym verwendet. Dagegen hat Karl Barth in seiner Auseinandersetzung mit dem Neuprotestantismus für eine theologische Unterscheidung plädiert: „Nicht alle ‚protestantische‘ ist evangelische Theologie. Und es
8
2004, Sp. 145–159; GOTTFRIED SEEBASS, Art. Reformation, in: TRE 28, Berlin / New York 1997, Sp. 386–404. VOLKER LEPPIN, Wie reformatorisch war die Reformation?, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche (ZThK) 99 (2002), S. 162–176, hier: S. 170 ff.
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gibt evangelische Theologie auch im römischen, auch im östlich-orthodoxen Raum, auch in den Bereichen der vielen späteren Variationen und auch wohl Entartungen des reformatorischen Neuansatzes.“9 „Evangelisch“ ist für Barth die inhaltliche Näherbestimmung dessen, was ökumenisch bzw. katholisch heißt. Ökumenisch bzw. katholisch ist eine evangeliumsgemäße Theologie, wobei Barth zugleich auf den Unterschied zwischen der einen Theologie und den vielen Theologien, d. h. auf das Problem der Einheit und Pluralität christlicher Theologie aufmerksam macht. Als evangelisch bezeichnet Barth sachlich „die ‚katholische‘, die ökumenische (um nicht zu sagen: die ‚konziliare‘) Kontinuität und Einheit all der Theologie […], in der es inmitten des Vielerlei aller sonstigen Theologien und (ohne Werturteil festgestellt) verschieden von ihnen darum geht, den Gott des Evangeliums, d. h. den im Evangelium sich kundgebenden, für sich selbst zu den Menschen redenden, unter und an ihnen handelnden Gott auf dem durch ihn selbst gewiesenen Weg wahrzunehmen, zu verstehen, zur Sprache zu bringen“10. In diesem Sinne lässt sich auch der Begriff des Reformatorischen inhaltlich weiter präzisieren. Reformatorische Theologie ist gleichbedeutend mit evangelischer Theologie, soweit und sofern mit evangelisch das Evangeliumsgemäße im Sinne der reformatorischen Rechtfertigungslehre gemeint ist. Evangeliumsgemäße Theologie ist recht verstanden ökumenische Theologie, welche nach der Identität christlichen Glaubens in der Pluralität und den Gegensätzen der Kirchen und Konfessionen fragt. Wenn Evangeliumsgemäßheit als Sachkriterium reformatorischer Theologie bestimmt wird, bedeutet dies, dass alle sich reformatorisch, protestantisch oder evangelisch nennende Theologie stets darauf hin zu prüfen ist, ob und inwieweit sie diesem Kriterium entspricht. Reformatorische Theologie kann demnach nur als selbstkritische Theologie betrieben werden, die nicht schon durch den Ausweis historischer Kontinuitäten legitimiert ist, sondern sich durch alle neuzeitlichen Transformationsprozesse hindurch befragen lassen muss, inwieweit sie ihren Grund und Gegenstand trifft oder verfehlt. Ich gehe von der These aus, dass die Lehre von der bedingungslosen Annahme und Rechtfertigung des Gottlosen und die aus ihr abgeleitete Kirchenkritik nicht der alleinige Inhalt, wohl aber das theologische Zentrum der Reformation ist. Die Rechtfertigungslehre aber ist als Freiheits-
9 10
KARL BARTH, Einführung in die evangelische Theologie, Gütersloh 31980, S. 10. Ebd.
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lehre zu verstehen, deren Impulse und Implikationen für das Freiheitsproblem in der Moderne besonders zu bedenken sind. Maßstab und Quelle christlichen Glaubens und Lebens aber ist nach reformatorischem Verständnis die Bibel, verstanden und gelesen als Heilige Schrift, weil in ihr das gewissmachende Evangelium von der bedingungslosen Rechtfertigung des Gottlosen ursprünglich und maßgeblich bezeugt wird.
2. Religion der Freiheit Nach reformatorischem Verständnis sind Heilsgeschehen und Heilsgeschichte eine Geschichte der Freiheit, genauer gesagt eine Geschichte der Befreiung. Im christlichen Heilsverständnis nimmt der Begriff der Freiheit eine Schlüsselstellung ein. „Im Begriff der Freiheit ist beides aufs engste miteinander verschlungen: die Sache der Reformation und das Problem, wie sie zum Gegenstand des Vermächtnisses werden kann.“11 Tatsächlich war die Reformation in vielfältiger Hinsicht eine Befreiungsbewegung, in der es um die Freiheit von klerikaler Bevormundung ebenso ging wie um politische und soziale Freiheiten. Die Aufklärung wertete die Reformation trotz aller Kritik als eine Entwicklungsstufe auf dem Weg zur Freiheit des Geistes und aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen. In ihr sah Hegel den Vorschein der „absoluten Religion“, welche zugleich eine Religion der Wahrheit und der Freiheit sei.12 Allerdings deutete Hegel die Reformation lediglich als Etappe eines geistesgeschichtlichen Prozesses, an dessen Ende die Aufhebung der Religion in die Philosophie stehen würde, so dass die Reformation nach seinem Verständnis über sich hinaus wies. Der linke Flügel der Hegelschule deutete die Reformation als Vorstufe der bürgerlichen und dann der kommunistischen Revolution, deren Ziel ein utopisches Reich der Freiheit war. Auch die Befreiungstheologie des 20. und 21. Jahrhunderts begreift die Reformation und ihre Theologie als eine Form der politischen Theologie. Leonardo Boff würdigt den historischen Protestantismus als Förderer der bürgerlichen Freiheit, Luther als Befreier in der Kirche und Reformator in der Gesellschaft und sieht im Erbe der Reformation einen Faktor zur Befreiung der
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GERHARD EBELING, Frei aus Glauben (SGV 250), Tübingen 1968, S. 9. GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hrsg. von Philipp Marheineke (Werke XII), Berlin 1832, S. 167.
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Unterdrückten in der Gegenwart.13 Frei nach Luther kann man auch die Theologie als Wissenschaft von der christlichen Freiheit bezeichnen.14 Ihr Zentrum hat das reformatorische Freiheitsverständnis nicht in kirchlichen oder politischen Freiheitsforderungen, sondern in der Rechtfertigungstheologie, wie wir uns exemplarisch an Luthers Freiheitslehre verdeutlichen wollen. Im Vergleich mit heutigen Freiheitsdiskursen fällt auf, dass für Luther die Frage, ob der Mensch frei oder unfrei ist, zu kurz greift, sofern sie Freiheit einfach mit Willensfreiheit gleichsetzt. Im Gegenteil hat die Freiheitserfahrung eines Christenmenschen die Unfreiheit des menschlichen Willens zur Voraussetzung. Diese aber ist nicht im Sinne eines ontologischen oder metaphysischen Determinismus zu verstehen, sondern als Resultat eines Freiheitsverlustes, der als Folge der Sünde gedeutet wird. Es sind konkrete Erfahrungen des Verlustes und der Gefährdung menschlicher Freiheit, die das theologisch-soteriologische Nachdenken über das Wesen menschlicher Freiheit motivieren. Freiheit kann nicht nur missbraucht, sie kann auch verspielt werden. Sie wird nicht aus neutraler Beobachterperspektive behauptet oder bestritten, sondern aus der Sicht des Glaubens bezeugt und zugesprochen. Es geht Luther nicht um eine formale Freiheitsbehauptung, sondern um existentiellen Freiheitsgewinn. Unter Berufung auf Paulus vertritt Luther die These, dass der Mensch nur frei ist, sofern er zur Freiheit befreit wird (Gal 5,1). Wird das Heilsgeschehen als Befreiungsgeschehen gedeutet, setzt dies voraus, dass der Mensch von Hause aus unfrei ist. Im christlichen Kontext wird die menschliche Freiheit zunächst unter den Bedingungen ihres faktischen Verlustes thematisch, für den der Begriff der Sünde steht. Selbst dort, wo sich der Mensch frei in seinen Entscheidungen und seiner Lebensführung wähnt, ist er nach reformatorischer Auffassung unfrei, weil – bewusst oder unbewusst – in der Negation Gottes gefangen. Die reformatorische Rechtfertigungsund Freiheitslehre hat als Kehrseite eine radikale Lehre von der Unfreiheit des Menschen, wie auch eine radikale Lehre von der Prädestination, d.h. der freien Gnadenwahl Gottes, die für Luther und Calvin, aber auch noch für den frühen Melanchthon das Fundament der Rechtfertigungslehre bildet.15
13 14 15
LEONARDO BOFF, Und die Kirche ist Volk geworden. Ekklesiogenesis, Düsseldorf 1987, S. 201 ff. Luther spricht vom Wissen um die christliche Freiheit (scientia libertatis christianae): WA 6, S. 538/30 (De captivitate Babylonica ecclesiae praeludium, 1520). Vgl. BERNDT HAMM, Was ist reformatorische Rechtfertigungslehre?, in: ZThK 83 (1986), S. 1–38, hier: S. 24.
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Wahre Freiheit besteht in der Befreiung des Menschen von seiner Sünde durch Gott – und das heißt im Sinne Luthers und der übrigen Reformatoren – in der Befreiung vom Unglauben. Dieser Befreiungsvorgang wird im Anschluss an Paulus als Rechtfertigungsgeschehen gedeutet. Der Mensch kann sich aus der selbstverschuldeten Unfreiheit der Sünde nicht selbst befreien, sondern einzig durch Gott befreit werden. Die solchermaßen wiedergewonnene Freiheit bleibt unverfügbare Gnade. Weder ist sie noch wird sie ein natürliches Vermögen. Sie ist zugesprochene Freiheit, die einerseits extern bleibt und andererseits im Glauben, das heißt im Hören der befreienden Botschaft des Evangeliums, anzueignen ist. Dauerhaft wird diese Freiheit erst im Reich Gottes. Fragmentarische Freiheitserfahrungen sind der Grund für die eschatologische Hoffnung auf vollendete Freiheit.
3. Von der Freiheit eines Christenmenschen Reformatorische Theologie versteht unter Freiheit im gehaltvollen Sinne des Wortes nicht eine natürliche Anlage des Menschen zur Entscheidungsfähigkeit bzw. die abstrakte Möglichkeit, zwischen Handlungsalternativen zu wählen, sondern die Freiheit des Glaubens. Die Alternative zwischen Freiheit und Unfreiheit ist identisch mit der Unterscheidung zwischen Glaube und Unglaube, wahre Freiheit daher die Freiheit eines Christenmenschen, die Luther ausführlich in seiner gleichnamigen Schrift von 1520 beschrieben hat. Luthers Lehre vom unfreien Willen muss in ihrem Zusammenhang mit der Lehre von der Freiheit eines Christenmenschen gesehen werden, die Luther in einer Doppelthese zusammenfasst: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“16 Der Widerspruch zwischen Freiheit und Dienstbarkeit des Glaubens lässt sich nach Luther nur verstehen, wenn man beachtet, dass jeder Christenmensch „zweierlei Natur“, nämlich „geistlicher und leiblicher“ ist.17 Die anthropologische Unterscheidung zwischen geistlicher und leiblicher Natur ist bei Luther allerdings nicht ontologisch allgemein – etwa im Sin-
16 17
WA 7, S. 21 (modernisierte Fassung). Luther beruft sich für diese zweifache These auf 1 Kor 9,19; Röm 13,8 und Gal 4,4. WA 7, S. 21.
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ne eines platonischen Leib-Seele-Dualismus – gemeint, sondern streng soteriologisch. Sie entspricht der eschatologischen Unterscheidung zwischen altem und neuem Menschen. Ganz so ist bei Luther auch die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen zu verstehen. Der Begriff „Seele“ steht für den geistlichen, neuen, innerlichen Menschen, der Begriff „Leib“ für den alten und äußerlichen Menschen aus Fleisch und Blut.18 Die Unterscheidung zwischen geistlichem und äußerlichem Menschen entspricht in Luthers Freiheitsschrift von 1520 wiederum derjenigen zwischen Glaube und Werken. Die Doppelthese Luthers und die mit ihr verbundenen begrifflichen Unterscheidungen setzen voraus, dass der Mensch sowohl leiblich als auch seelisch bzw. geistlich existiert. Den Leib bezeichnet Luther ausdrücklich als den Leib der Seele. Er ist „ihr eigen Leib“.19 Leib und Seele sind nach Luther zwar nicht zu trennen, wohl aber unbedingt zu unterscheiden. Dementsprechend muss auch die Freiheit oder Unfreiheit des inwendigen Menschen bzw. der Seele von der Freiheit oder Unfreiheit des äußeren Menschen unterschieden werden. Nach Luther bedeutet dies aber, dass der äußere Mensch bzw. die Sphäre des Leiblichen den seelischen oder geistlichen Zustand des inneren Menschen weder positiv noch negativ beeinflussen kann. In soteriologischer Hinsicht kann dies allein der von Gott geschenkte Glaube, zu dem der sündige Mensch von sich aus nicht fähig ist. Die Werke dagegen sind raumzeitliche Ereignisse, die sich auf den äußeren Menschen beziehen. Im Medium seines Leibes existiert der Mensch nicht nur für sich allein, sondern unter seinen Mitmenschen. Die Werke des äußeren Menschen in Raum und Zeit sollen einerseits der Unterwerfung des Leibes unter den Geist dienen und andererseits auf das Wohl des Nächsten gerichtet sein. Dies wird wiederum christologisch begründet. Wie Gott durch Christus umsonst geholfen hat, soll der Christenmensch mit seinem Leib und seinen Werken dem Nächsten dienen. Einzig in dieser Hinsicht – hier aber sehr wohl – gilt nach Luther, dass der Christenmensch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan sein soll. „Aus dem allen folgt der Satz, daß ein Christenmensch nicht sich selbst lebt, sondern in Christus und seinem Nächsten – in Christus durch den Glauben, im Nächsten durch die Liebe.“20
18 19 20
WA 7, S. 21. WA 7, S. 31. WA 7, S. 38 (modernisierte Fassung).
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Luther diskutiert das Freiheitsthema unter soteriologischer Perspektive. „Leib“ und „Seele“ beziehungsweise „innerer und äußerer Mensch“ sind in diesem Zusammenhang keine Begriffe einer anthropologischen Dichooder Trichotomie. Weil die Gnade nach Luther stets externe Gabe bleibt und niemals ein interner Habitus wird, hält er die zum Beispiel bei Thomas von Aquin intensiv diskutierte Frage nach dem Ort eines solchen Gnadenhabitus in der menschlichen Psyche für verfehlt. Es ist der Mensch als ganzer, der durch das Gnadengeschehen umgewandelt wird, weshalb Luther den Personbegriff anstelle des Seelenbegriffs bevorzugt, wobei zwischen Person und Werk streng unterschieden wird.21 Als lebendige, „beseelte“ Person wird ein und derselbe Mensch als ganzer einer doppelten Betrachtung unterzogen. Das Menschsein des einen Menschen lässt sich theologisch nur betrachten, indem zwei nicht aufeinander abbildbare Perspektiven komplementär aufeinander bezogen werden. Es ist die Komplementarität der gegensätzlichen Perspektiven, in denen jeweils der Mensch als ganzer betrachtet wird, die in der Paradoxie jener Doppelthese von der Freiheit und Unfreiheit des Christenmenschen ihren sprachlich adäquaten Ausdruck findet.
4. Bedingte Freiheit Der evangelische Theologe Christian Walther schlägt vor, die christliche Freiheit im Sinne Kants als eine transzendentale Freiheit zu verstehen, „die dem der glaubt, gleichsam im Rücken steht. Kausal wird sie nicht verrechnet werden können. Aber als Bestandteil einer Rückbindung, die der Glaube ja ist […], wird die Freiheit des Glaubens zum Grund, sich nicht einfach deterministischen Zwängen unterwerfen zu müssen. Vielmehr wird sie zum Impuls, das Handwerk der Freiheit im Sinne Bieris zu entwickeln und zu fördern, um so Alternativen zum Besseren entdecken und nutzen zu können.“22
21
Siehe dazu GERHARD EBELING, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1981, S. 175 f. CHRISTIAN WALTHER, Strukturwandel der Freiheit. Gedanken zu einer aktuellen Kontroverse, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 48 (2004), S. 267–277, hier S. 275. Vgl. PETER BIERI, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a. M. 22004.
4 22
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Die Phänomenologie der Freiheit des Philosophen Peter Bieri ist auch für das theologische Nachdenken erhellend.23 Das gilt nicht nur für seine Analyse von Erfahrungen der Unfreiheit.24 Auch sonst bestehen zwischen seinem und Luthers Freiheitsverständnis gewisse Parallelen. Denn wie für Bieris Verständnis von Willensfreiheit gilt auch für die Freiheit des Glaubens bei Luther, dass sie keine unbedingte, sondern eine bedingte Freiheit ist.25 Insofern ist allerdings Walthers Rede von deterministischen Zwängen, denen der Glaube sich nicht unterwerfen müsse, missverständlich oder zumindest erklärungsbedürftig. Freiheit von subjektiv erfahrbaren Zwängen bedeutet weder bei Bieri noch bei Luther, dass eine indeterministische Freiheitstheorie vertreten wird. Beide Autoren stimmen nämlich darin überein, dass die Idee einer unbedingten Freiheit nicht nur illusorisch, sondern widersprüchlich und logisch inkonsistent ist.26 Systematisch-theologisch hat das auch Friedrich Schleiermacher überzeugend nachgewiesen. Wer behauptet, ein schlechthinniges Freiheitsgefühl zu haben, „der täuscht entweder sich selbst, oder er trennt, was notwendig zusammengehört. Denn sagt das Freiheitsgefühl eine aus uns herausgehende Selbsttätigkeit aus: so muss diese einen Gegenstand haben, der uns irgendwie geworden ist, welches aber nicht hat geschehen können ohne eine Einwirkung desselben auf unsere Empfänglichkeit, in jedem solchen Fall ist daher ein zu dem Freiheitsgefühl gehöriges Abhängigkeitsgefühl mitgesetzt, und also jenes durch dieses begrenzt.“27 Unbedingte oder schlechthinnige Freiheit lässt sich nicht vernünftig denken. Soll Freiheit wirklich meine Freiheit, soll der Wille tatsächlich mein eigener Wille sein, gibt es Freiheit immer nur als bestimmte, d.h. aber als bedingte Freiheit. Menschliche Freiheit, d.h. die von einem Menschen behauptete, von ihm beanspruchte oder ihm zugeschriebene Freiheit ist verwoben mit seiner konkreten Lebensgeschichte und seinen Lebensumständen. Nach Luthers Auffassung ist menschliche Freiheit nicht nur bedingt, sondern stets angeeignete Freiheit. Darin stimmt Bieris philosophische 23
24 25 26 27
Bieri bezieht sich stark auf die Arbeiten Harry G. Frankfurts, dessen Ideen er aber erheblich modifiziert; vgl. HARRY G. FRANKFURT, Freiheit und Selbstbestimmung, hrsg. von Monika Betzler / Barbara Guckes (Polis, Bd. 1), Berlin 2001. Vgl. P. BIERI, Das Handwerk der Freiheit (Anm. 22), S. 84 ff. Vgl. ebd., S. 29 ff. Vgl. ebd., S. 165 ff. FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830), hrsg. von Martin Redeker, 2 Bde., Berlin 1960, Bd. I, S. 27 f. (§ 4).
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Freiheitstheorie mit ihm überein. Angeeignete Freiheit aber ist verstandene und willentlich gebilligte Freiheit. Wie die Freiheit, so ist Bieri zufolge auch das Selbst, von dem diese Freiheit ausgesagt wird, „ein vorübergehendes Gebilde auf schwankendem Grund, und es gehört zu den Voraussetzungen für Willensfreiheit, diese einfache und eigentlich offensichtliche Tatsache anzuerkennen, genauso wie die Tatsache, dass es Zeiten gibt, in denen wir weder autonom sind noch das Gegenteil“28. Christlich gesprochen gründet das Selbst nicht in sich selbst, sondern extern in Christus und der durch ihn vermittelten Beziehung Gottes zum Menschen. Als extern zugespielte kann auch die Freiheit des Christenmenschen nur angeeignet werden, ohne je zu einem festen Besitz zu werden. Solchermaßen lässt sich der Glaube, der aus dem Hören des Evangeliums kommt29, als Aneignung der Freiheit interpretieren. Als göttliche Gabe ist der Glaube unverfügbar, das heißt kontingent. Mit Bieris Idee der bedingten und angeeigneten Freiheit berührt sich der Gedanke insofern, als Bieri mit einer gewissen Überspitzung sagt: „Willensfreiheit ist ein Stück weit Glückssache.“30 Worin sich Bieris Phänomenologie der Freiheit und Luthers Freiheitsverständnis jedoch gravierend unterscheiden, ist die Behauptung Bieris, „dass die Freiheit des Willens etwas ist, das man sich erarbeiten muss“31. So verstanden wäre der Glaube als Aneignung der Freiheit ein Werk und nach Luthers Auffassung kein wahrer Glaube mehr. Die Aneignung des Glaubens ist nach christlicher Auffassung kein Tun, sondern ein Empfangen. Was der Glaube als „Handwerk der Freiheit“ (Bieri) zu leisten vermag, betrifft – mit Luther gesprochen – den äußerlichen, nicht aber den inneren Menschen, d.h. sein Weltverhältnis, nicht sein Gottesverhältnis. Die christliche Freiheit geht für Luther auf paradoxe Weise nicht nur mit der Dienstbarkeit und Knechtschaft des Menschen, sondern auch mit der Unfreiheit seines Willens zusammen. Die Lehre vom unfreien Willen geht folgerichtig aus Luthers radikalem Verständnis der Rechtfertigung des Sünders durch den Glauben allein hervor. Er hat sie mit Vehemenz gegen Erasmus von Rotterdam und dessen Diatribe über den freien Willen verteidigt.
28 29 30 31
P. BIERI, Das Handwerk der Freiheit (Anm. 22), S. 423. Vgl. Röm 10,17. P. BIERI, Das Handwerk der Freiheit (Anm. 22), S. 415. Ebd., S. 383.
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Dass die Bezeichnung „freier Wille“ ein Titel ohne echten Wert sei, ist bis zu einem gewissen Grade auch philosophisch plausibel. Allerdings darf der Zusammenhang von Luthers These mit seinem Sündenverständnis nicht außer Acht gelassen werden. Sie trifft eine Aussage über den sündigen Menschen. In seiner Schrift „Vom unfreien Willen“ (De servo arbitrio, 1525) radikalisiert Luther seine These allerdings zu einer schöpfungstheologischen Aussage. Demnach gilt grundsätzlich, dass der Mensch keinen freien Willen hat. Luther vergleicht ihn mit einem Lasttier, das entweder von Gott oder vom Teufel geritten wird, und gelangt zu dem Schluss, dass Freiheit des Willens ein exklusives Gottesprädikat ist. „Wenn dieses dem Menschen beigelegt wird, wird es in nichts rechtmäßiger beigelegt, als würde man ihnen auch die Gottheit selbst beilegen, eine Gotteslästerung, wie sie größer nicht sein kann.“32 Wenn aber die Theologen dem Menschen überhaupt irgendeine Kraft der eigenen Spontaneität beilegen wollen, sollten sie dafür nach Luthers Meinung einen anderen Ausdruck als „freier Wille“ wählen. Vom freien Willen lasse sich theologisch allenfalls in einem uneigentlichen Sinne sprechen, sofern dem Menschen ein solcher nur im Hinblick auf das, was ‚niedriger‘ ist als er selbst, zugestanden wird, d.h. für den Bereich seiner alltäglichen Lebensführung, nicht aber im Hinblick auf Heil oder Verdammnis.33 Dass auch der Wille des Glaubenden unfrei ist, wie Luther in „De servo arbitrio“ behauptet, bedeutet keineswegs, der Glaube sei ein äußerlich auferlegter oder ein innerer Zwang. Ganz im Gegenteil ist der Glaube die Erfahrung von Freiheit schlechthin, nämlich die Erfahrung einer Gewissheit, die die gesamte Existenz trägt. Die Bedingtheit dieser Freiheit gründet in der Unbedingtheit der göttlichen Liebe. Der Begriff der göttlichen Notwendigkeit steht bei Luther nicht für einen inneren Zwang auf Seiten des Glaubenden, sondern im Gegenteil für die Gewissheit der Freiheit. Gemeint ist aber nicht eine im Möglichen schwebende formale Wahlfreiheit, sondern die Befreiung und Freiheit von Sünde, Tod und Teufel. Der Glaube ist nicht in dem Sinne frei, dass er willentlich zustande gebracht worden ist, sondern er stiftet Freiheit, indem er fortan das innere Gravitationszentrum des Menschen und all seiner Wünsche bildet.
32
33
WA 18, S. 636 (Übersetzung nach B. JORDAHN, M. Luther, Daß der freie Wille nichts sei. Antwort D. Martin Luthers an Erasmus von Rotterdam, München 3 1983). WA 18, S. 638.
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Gerade so sind auch Luthers Berufung auf die Freiheit des Gewissens auf dem Reichstag zu Worms 1521 und der ihm zugeschriebene Ausspruch: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, zu verstehen. Aus diesen Worten spricht nicht der innere Zwang eines unfreien Willens, sondern die Notwendigkeit eines freien Willens, dem alles daran liegt, ein Mensch zu sein, der zu seinem bestehenden Willen keine Alternative sieht, weil mit ihm seine gesamte Existenz und das Grundverständnis seiner selbst auf dem Spiel steht. Es wäre in den Augen Luthers gerade ein Zeichen von Unfreiheit gewesen, hätte er eingelenkt und ausweichend geantwortet: „Hier stehe ich, ich kann auch anders.“ Dass er eben nicht anders konnte, rührt daher, dass der ihn leitende Wille im Sinne der Theorie Harry G. Frankfurts eine Volition zweiter Ordnung ist, d.h. ein handlungsleitender Wunsch, mit der sich Luther reflektiert und entschlossen identifiziert.34 Nicht von ungefähr nimmt meine Beschreibung des Glaubens Anleihen bei Peter Bieris Beschreibung der leidenschaftlichen Freiheit.35 Als Leidenschaft definiert Bieri einen lebensbestimmenden Willen, „der nicht versklavende Starrheit, sondern befreiende, identitätsbildende Kontinuität besitzt“36. Theologisch ist die identitätsstiftende Kontinuität aber christologisch und eschatologisch zu bestimmen. Identitätsstiftend ist die extern vermittelte Christusbeziehung. Und die Kontinuität ist diejenige eines neuen Seins, das vom alten Sein qualitativ geschieden ist. Der Vollzug der Aneignung, die Glauben genannt wird, hat eine passive Grundstruktur. Wiewohl sie aus der Beobachterperspektive als Aktivität bestimmt werden kann, wird sie doch subjektiv von demjenigen, der diese Aneignung vollzieht, als ein Bestimmtwerden erfahren. Die angeeignete Freiheit des Glaubens wird als zugeeignete Freiheit erlebt. Paradoxerweise weiß sich der Glaubende nach Luther in seiner Freiheit determiniert, jedoch nicht durch die Natur und ihre Gesetze, sondern durch Gott.
34 35 36
Vgl. HARRY G. FRANKFURT, Willensfreiheit und der Begriff der Person, in: Ders., Freiheit und Selbstbestimmung (Anm. 23), S. 65–83. Vgl. P. BIERI, Das Handwerk der Freiheit (Anm. 22), S. 424 f. P. BIERI, Das Handwerk der Freiheit (Anm. 22), S. 424.
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5. Ethik der Freiheit Die Rede vom sich selbst und den Menschen rechtfertigenden Gott ist Rede vom Handeln Gottes am Menschen und der Welt. Sie eröffnet ein spezifisch theologisches Verständnis von Freiheit, welche die Grundbedingung allen Handelns ist. Als Handlungstheorie kann eine in der Rechtfertigungslehre begründete theologische Ethik nur insofern gelten, als mit dem Handlungsbegriff auch das vorgängige Verständnis von Ethik der Kritik unterzogen wird. Es zeigt sich dann, dass die Ethik der Rechtfertigungslehre nicht so sehr eine solche des Tuns als vielmehr des Lassens ist.37 Plakativ lautet das Motto einer an der Rechtfertigungslehre gewonnenen Ethik des Sein-Lassens in Umkehrung des Satzes aus Jak 1,22: „Seid aber Hörer des Wortes und nicht Täter allein, wodurch ihr euch selbst betrügt!“ Das Evangelium als Rede vom Handeln des rechtfertigenden Gottes beschreibt den Menschen, und zwar gerade den zum Handeln aufgerufenen, als rezeptives Geschöpf Gottes, das sein Leben wie Gottes Gnade nur von Gott allein empfangen kann. Die Lebensform aber, in der die Rezeptivität des Menschen ausdrücklich wird, ist das Hören.38 Der gläubige Mensch ist ganz Ohr. Das Hören des Wortes Gottes ist allerdings ebenso wenig gegen das menschliche Tun auszuspielen wie umgekehrt, doch liegt nach biblischer Auffassung ein eindeutiges Gefälle vom Hören zum Tun vor, so dass dem Hören theologisch der Primat zukommt.39 Das Hören des Wortes Gottes weist ein in eine Ethik des Lassens, die Gott Gott und den Mitmenschen ihn selbst sein lässt, statt über ihn und die Welt eigenmächtig verfügen zu wollen. Das ethische Grundproblem ist, wie Walter Mostert zutreffend schreibt, „weniger im Engagement als in der Distanznahme zum andern zu sehen, der aus dem Zugriff des Subjekts
37
38
39
Vgl. auch ULRICH H. J. KÖRTNER, Liebe, Freiheit und Verantwortung. Grundzüge evangelischer Ethik, in: Richard Amesbury / Christoph Ammann (Hrsg.), Was ist theologische Ethik? Beiträge zu ihrem Selbstverständnis und Profil, Zürich 2015, S. 29–47. HANS WEDER, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürich 1986, S. 150: „Hören […] stellt die Lebensform der Rezeptivität überhaupt dar“; vgl. dort auch S. 145 ff. Siehe ferner WALTER MOSTERT, Ist die Frage nach der Existenz Gottes wirklich radikaler als die Frage nach dem gnädigen Gott?, in: ZThK 74 (1977), S. 86–122, hier: S. 120 f.; ALBRECHT PETERS, Rechtfertigung (HST 12), Gütersloh 1984, S. 205. Siehe Röm 10,17.
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befreit werden muss“40. Die Anerkennung des Anderen, die ihm das Seine zukommen lassen will und auf sein Wohlergehen bedacht ist, drückt sich in einer theologisch reflektierten Zurückhaltung aus. Es kommt eben keineswegs darauf an, mit Marx gesprochen, die Welt oder unsere Mitmenschen nach unseren Vorstellungen zu verändern oder zu verbessern, sondern darauf, sie zu verschonen. Auch für unseren Umgang mit der Natur hat das Freiheitsverständnis der Rechtfertigungslehre praktische Konsequenzen. Freiheit im Umgang mit der Natur besteht gerade nicht in einem willkürlichen Umgang mit ihr, sondern darin, Dinge zu lassen, die wir tun könnten, um durch solchen Verzicht und solche Selbstbeschränkung der Natur das ihre zuzugestehen. Den Anderen und die Schöpfung sein zu lassen, schließt freilich das tätige Wohlwollen ein, das jedoch immer wieder in die Gefahr geraten kann, den Mitmenschen paternalistisch zu bevormunden. Eine aus der Rechtfertigung begründete Ethik ist daher immer auch eine Ethik der Selbstbegrenzung des handelnden Subjekts. Christliche Ethik nach evangelischem Verständnis ist grundsätzlich als eine vom Geist der Liebe bestimmte Form der Verantwortungsethik zu verstehen, welche die Ansätze einer pflichtenethischen und einer strebensethischen Moraltheorie bzw. die Aspekte einer Pflichtenethik, einer Güterlehre und einer Tugendethik spannungsvoll verbindet.41 Die evangelische Sicht von Verantwortung hängt unmittelbar mit dem Glauben an die Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben zusammen. Auf ihr beruht die Unterscheidung von Person und Werk, welche vom Zwang der Selbstrechtfertigung befreit – und gerade so zur Übernahme von Verantwortung befähigt. Die Wahrnehmung und Übernahme von Verantwortung geschieht nicht nur im Wissen darum, dass Menschen scheitern können, sondern auch im Vertrauen darauf, dass uns vergeben wird. Verantwortung ist nicht nur aus dem Geist der Liebe und der Freiheit zu übernehmen. Sie ist auch im Geist der Freiheit auszuüben, um gerade so dem Spannungsfeld von Autonomie und Abhängigkeit, von Spontaneität und menschlicher Grundpassivität gerecht zu werden, die im Evangelium von der zuvorkommenden und den Menschen ohne Werke rechtfertigenden Gnade Gottes zum Thema wird.
40 41
W. MOSTERT, Frage nach der Existenz Gottes (Anm. 38), S. 119. Vgl. ULRICH H. J. KÖRTNER, Evangelische Sozialethik. Grundlagen und Themenfelder (UTB 2107), Göttingen 32012, S. 21.
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Im verantwortungsethischen Sinn lassen sich auch die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen und die Dialektik von Freiheit und Knechtschaft in Luthers Freiheitsschrift von 1520 verstehen. Über lange Zeit ist diese Dialektik so interpretiert worden, als unterscheide der Reformator zwischen äußerer Heteronomie und innerer Autonomie. Die christliche Freiheit bliebe demnach auf die Innerlichkeit des Menschen beschränkt und würde sich durchaus mit einer ständischen Gesellschaftsordnung, einem Obrigkeitsstaat und autoritären Strukturen im Alltagsleben vertragen. Doch handelt es sich hierbei um ein Missverständnis, kann doch Luthers Freiheitsverständnis als kommunikative Freiheit interpretiert werden. Wolfgang Huber hat den Begriff der kommunikativen Freiheit, der im Zentrum seiner Konzeption von Verantwortungsethik steht, von dem Philosophen Michael Theunissen übernommen und theologisch gewendet.42 Als kommunikative Freiheit interpretiert Huber die Freiheit eines Christenmenschen im Sinne Luthers, die ihrerseits in der Kommunikationsgemeinschaft des dreieinigen und in Christus menschgewordenen Gottes mit dem Menschen gründet. Weil der Mensch nur durch die Liebe im anderen zu sich selbst kommen kann, gehören nach Huber nicht nur Freiheit und Liebe sowie Freiheit und Verantwortung, sondern auch Freiheit und Gerechtigkeit unlöslich zusammen. Da kommunikative Freiheit nicht auf Konkurrenz, sondern auf Teilhabe und Anerkennung aller zielt, legt Huber den Begriff der Gerechtigkeit als Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit aus,43 die mit einer vorrangigen Option für die Armen verbunden ist. Formen des vergesellschafteten Handelns sind Gegenstand der Sozialethik. Es geht um alles Handeln, das nicht etwa spontan von einer Gruppe von Menschen durchgeführt wird, sondern in einer verstetigten und organisierten Weise stattfindet und überhaupt nur in solcher Form stattfinden kann. Kurz: Gegenstand der Sozialethik sind Institutionen und Organisationen vergesellschafteten Handelns und menschlicher Lebensführung. Wenn wir in reformatorischer Tradition den Zusammenhang von Rechtfertigung und Freiheit bedenken, lautet eine Kernfrage evangelischer Sozialethik, welche Institutionen kommunikative Freiheit ermöglichen und fördern oder aber verhindern und zugleich – im Sinne im Sinne ihrer Selbst42 43
Vgl. WOLFGANG HUBER, Folgen christlicher Freiheit. Ethik und Theorie der Kirche im Horizont der Barmer Theologischen Erklärung, Neukirchen-Vluyn 21985. Vgl. WOLFGANG HUBER, Von der Freiheit. Perspektiven für eine solidarische Welt, hrsg. von Helga Kuhlmann / Tobias Reitmeier, München 2012, S. 115 ff.
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begrenzung – die Unverfügbarkeit des Menschen und seiner Würde achten, für die der biblische Begriff der Gottebenbildlichkeit steht. Institutionen kommunikativer Freiheit sind zugleich daran zu messen, inwieweit sie Gerechtigkeit – Teilhabegerechtigkeit ebenso wie Verteilungsgerechtigkeit – verwirklichen, ohne welche die kommunikative Freiheit nicht denkbar und realisierbar ist. Hier besteht wiederum ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Rechtfertigungslehre und Sozialethik, ist doch auch die Gerechtigkeit Gottes bei Paulus als Gemeinschaftstreue verstanden.44 Schon im Alten Testament erscheint Gottes Gerechtigkeit als Gemeinschaftstreue, zu der auch der Mensch aufgefordert wird im Sinn eines Rechtes der Barmherzigkeit. Die Frage, inwieweit sie Institutionen der Freiheit und der Gerechtigkeit sind, richtet sich auch an Kirche und Diakonie. Während Trutz Rendtorff von der Kirche als Institution der Freiheit spricht, bevorzugt Huber die Formel von der Kirche als Raum und Anwalt der Freiheit45, weil die vorgegebene Ordnung der Kirche als solche noch nicht die tatsächliche Erfahrung der Freiheit verbürgen kann.46 Institutionen sind nicht einfach vorgegebene Gestalten und Verwirklichungen menschlicher Freiheit, wie es bei Arnold Gehlen oder auch bei dem evangelischen Sozialethiker Ernst Wolf den Anschein hat. Darum gilt für die Kirche als Institution der Freiheit, dass die nach Gottes Wort reformierte Kirche beständig neu zu reformieren ist, wenn sie ihre Aufgabe als Anwältin der von Gott geschenkten Freiheit nicht erfüllt. Gewiss wird die theologische Begründung einer Ethik strittig bleiben. Doch ist zu fragen, ob nicht jede Ethik bewusst oder unbewusst von transmoralischen Voraussetzungen lebt. Christliches Ethos besteht im Kern darin, aus Liebe zu handeln, welche das Phänomen des Ethischen und seine Konflikte transzendiert. Der Begriff des Transmoralischen ist von Paul Tillich verwendet worden, um ein Gewissen zu bezeichnen, „das nicht aus Gehorsam gegenüber einem moralischen Gesetz urteilt, sondern auf Grund der Partizipation an einer Wirklichkeit, die den Bereich moralischer Gebote transzendiert. Ein transmoralisches Gewissen verleugnet nicht den moralischen Bereich, aber es wird durch die unerträglichen Spannungen in der Sphäre des Gesetzes 44 45 46
Vgl. PETER STUHLMACHER, Gerechtigkeit Gottes bei Paulus (FRLANT 87), Göttingen 21966, S. 46 ff., 113–141. Vgl. W. HUBER, Von der Freiheit (Anm. 43), S. 143–157. Vgl. ebd., S. 226, Anm. 18.
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darüber hinausgetrieben.“47 Was aber das Gewissen über das Gesetz hinaustreibt, ist nach biblischem Zeugnis die Liebe, die das Gesetz als Struktur verantwortlichen Lebens zwar nicht verachtet, jedoch über dem Gesetz steht und sich zu ihm in Freiheit verhält.48 Wir können hinzufügen, dass das Selbst- und Weltverständnis des Menschen, seine Weise, sein In-derWelt-Sein zu verstehen, sein Handeln in hohem Maße bestimmt, ohne doch selbst das Resultat moralischer Reflexion zu sein. Transmoralisch sind die letzten Gewissheiten, ohne welche Leben und Handeln nicht möglich sind, die aber unserem Tun und Lassen immer schon vorausliegen.49 Nach reformatorischem Verständnis ist der Glaube an Gott und seine bedingungslose Liebe, die in der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden erfahren wird, die letzte Gewissheit, in der die menschliche Freiheit gründet.
47 48 49
PAUL TILLICH, Das religiöse Fundament moralischen Handelns, in: Ders., Gesammelte Werke III, Stuttgart 1965, S. 13–83, hier: S. 66. Vgl. ebd., S. 75. Vgl. auch JOHANNES FISCHER, Über moralische und andere Gründe. Protestantische Einwürfe zu einer philosophischen Debatte, in: ZThK 95 (1998), S. 118–157.
Gerold Lehner
Reformation: Erneuerung aus dem Ursprung Wahrnehmungen bezüglich eines kirchlichen Zentralbegriffes
Mit diesem Beitrag möchte ich versuchen, die Rede von der Reformation und den Reformen in den größeren Zusammenhang zu stellen und damit vermeiden, die Reformation des 16. Jahrhunderts als isoliertes und einzigartiges Phänomen zu verstehen. Tatsächlich sind die Begriffe „Reform“ und „Reformation“ theologische Grundbegriffe kirchlicher und christlicher Existenz. Erst davon abgeleitet werden sie in der Folge zu Begriffen, die auf (einzelne) zu verändernde Sachverhalte und Strukturen im Raum von Institutionen und Organisationen Bezug nehmen. Die Ablösung von ihrer theologischen Herkunft und Wesensbestimmung führte dazu, dass die Begriffe universal anwendbar wurden, damit aber auch ihres spezifischen Inhalts verlustig gingen. Ich möchte daher zuerst versuchen aufzuzeigen, welche Bedeutung der Sachthematik Reform/Reformation in der Kirche zukommt, dann auf Unterschiede des modernen Verständnisses von Reform im gesellschaftlichen und kirchlichen Bereich aufmerksam machen, um von daher genauer zu fragen, wie denn nun in diesem Kontext Reformation bleibend zu verstehen sei. In einem Epilog versuche ich einige Anmerkungen dazu, was dieses Verständnis von Reform und Reformation für die (strukturellen) Reformbestrebungen der Kirchen heute und für das Reformationsjubiläum 2017 bedeuten könnte.
1. Ecclesia semper reformanda? Es gibt wenige sprachliche Formeln, die in den letzten Jahrzehnten so viel in den Mund genommen worden sind wie jene von der „ecclesia semper
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Gerold Lehner
reformanda“, der immer aufs Neue zu reformierenden Kirche1. Sie passte einfach zu gut, um in Zeiten einer generellen Veränderungskultur einen Slogan abzugeben, mit dem sich in der Kirche beinahe alles begründen ließ. Der 2011 verstorbene Marburger Systematiker Theodor Mahlmann hat ihren (gegenwärtigen) Gebrauch denn auch als uferlos, unklar, anachronistisch und pseudo-historisch bezeichnet. Aber auch wenn ihr Gebrauch so charakterisiert werden kann, ist damit die Formel als solche nicht obsolet. Ihre Signifikanz gewinnt sie dann, wenn man sie wieder in jenen Kontext zurückführt, aus dem sie ursprünglich entstammt. Dieser Kontext ist mit der ersten der 95 Thesen prägnant benannt: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: tut Buße etc. will er, dass das ganze Leben seiner Gläubigen auf Erden, eine stete oder unaufhörliche Buße sein soll.“2 Mit der „permanenten Buße“ ist hier nicht das Leben in einem Zustand moralischer Zerknirschung gemeint, sondern die ständige, immer neu erfolgende Hinwendung zu und Ausrichtung an dem Herrn der Kirche.3 Damit ist jene Bewegung bezeichnet, welche die vielfältigen Reformanliegen eint und dazu berechtigt, von der einen Reformation zu sprechen. Gerade diese Bewegung ist aber keinesfalls neu. Sondern Luther verbindet sie sachlich richtig mit dem Ruf Jesu: „Kehrt um, denn das Reich der Himmel ist nahe herbeigekommen!“ (Mt 4,17). Und auch Jesus von Nazareth ist mit dieser Botschaft keineswegs als singulär anzusehen: Er steht in der Tradition des Täufers Johannes (Mt 3,2) und damit in der großen Bewegung der Propheten Israels.
1
2 3
Für die Begriffsgeschichte: vgl. THEODOR MAHLMANN, Ecclesia semper reformanda. Eine historische Aufklärung. Neue Bearbeitung, in: Torbjörn Johannsson / Robert Kolb / Johann Anselm Steiger (Hrsg.), Hermeneutica Sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin / New York: de Gruyter 2010, S. 381–441. „Dominus et Magister noster Jesus Christus dicendo, penitentiam agite etc., omnem vitam fidelium penitentiam esse voluit.“ Dass Luther die Buße im neutestamentlichen Sinne von Umkehr und Nachfolge versteht, zeigt der Schluss der Thesenreihe (wobei die deutsche Übersetzung diesen Aspekt noch verstärkt): „94. Man sol die Christen vermanen / Das sie jrem Heupt Christo / durch Creutz / Tod und Helle nachzufolgen sich befleissigen. 95. Und also mehr durch viel Trübsal ins Himelreich zugehen / denn das sie durch vertröstung des Friedens sicher werden“: Der erste Teil aller Bücher und Schrifften … Doct. Mart. Lutheri, Jena 1615, fol. 11v. Zum Ganzen der Thesen: vgl. MARTIN BRECHT, Martin Luther, Bd. 1, Stuttgart: Calwer 31990, S. 187 ff.
Reformation: Erneuerung aus dem Ursprung
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Das Alte Testament stellt in den Büchern der Thora Mose als den ersten und zugleich größten Propheten dar.4 Er ist nicht nur derjenige, durch den Gott sein Volk aus der Unterdrückung herausführt und mit ihm einen Bund schließt. Er ist auch derjenige, durch den Gott sein Volk immer wieder daran erinnert, wer es damit geworden ist. Die Rückbesinnung auf Gottes Heilshandeln steht deshalb am Beginn des Dekalogs ebenso wie am Übergang in das Gelobte Land. Erinnerung und Ausrichtung am Willen Gottes fallen so in eins. Die Identität des auserwählten Volkes besteht in beidem. Es ist von daher keineswegs sachfremd, eine wesentliche Intention der Propheten als „reformatorisch“ zu verstehen: nicht im Sinne einer Restauration, sehr wohl aber als Rückbesinnung, welche in der Gegenwart (heilsame) Zukunft eröffnet.5 Das Neue Testament steht in Bezug auf dieses zentrale Strukturelement des Glaubens in Kontinuität mit dem Alten Testament. Denn, wenn Gott in diesen letzten Tagen durch den Sohn geredet hat (Hebr 1,2), dann gilt es, sich immer neu auf ihn auszurichten, von ihm zu lernen. Und wenn Paulus von der Erneuerung im Geiste spricht, dann geht seine Intention ja ebenfalls auf jene Gestaltwerdung, die durch die Taufe Grund gelegt ist.6 Wenn Paulus (in Röm 12,2) davon spricht, dass sich die Christen nicht dieser Welt gleichstellen, sondern sich durch die Erneuerung ihres Sinnes ändern sollen, so verwendet die Vulgata an dieser Stelle die Begriffe von „conformare“ und „reformare“: „Et nolite conformari huic saeculo sed reformamini in novitate sensus vestri ut probetis quae sit voluntas Dei bona et
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Vgl. ECKART OTTO, Deuteronomium 1–11, Erster Teilband: 1,1–4,43 (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg: Herder 2012, S. 274–280. Einer der zentralen hebräischen Begriffe in diesem Zusammenhang ist jener der „Rückkehr“, „Umkehr“ („schub“). – Vgl. dazu: JAN ALBERTO SOGGIN, Art. „šub“, in: Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. II, hrsg. von Ernst Jenni / Claus Westermann, München / Zürich 1984, S. 884–891. Zum Prophetenverständnis: BREVARD S. CHILDS, Die Theologie der einen Bibel, Bd. 1, Freiburg: Herder 1994, S. 201–216. „Für die Bibel ist der Gedanke der Erneuerung, wie wir wissen, ein Zentralbegriff. Reue und Bekehrung führen zur Wiedergeburt in der Taufe, die aber nur einen Anfang bedeutet; nach Paulus hat auch der getaufte Mensch sich Tag für Tag zu erneuern nach dem Ebenbild Gottes. Dadurch wird die Wiedergeburt der Taufe fortgesetzt, und zugleich wird darin die erste Erschaffung des Menschen wiederholt. Taufe, Heiligung und Buße sind die Kernstücke des Christenlebens“; so charakterisiert KURT REPGEN, „Reform“ als Leitgedanke kirchlicher Vergangenheit und Gegenwart, in: Römische Quartalschrift 84 (1989), S. 5–30, hier: S. 7, diesen Sachverhalt.
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placens et perfecta.“ Deutlich ist an dieser Verwendung, dass beide Begriffe „Referenzbegriffe“ sind, d.h. sie bestimmen sich von der „forma“ her, auf die hin sie sich orientieren. Grundsätzlich ist Gerhart Ladner daher zuzustimmen, wenn er in Bezug auf Bekehrung, Taufe und Buße davon spricht, dass sie das Fundament des Reform-Begriffes bilden, dieser sich aber gleichwohl von ihnen unterscheidet.7
2. Reformbegriff und Reformbewegungen in der alten und mittelalterlichen Kirche Das Streben nach Reform setzt eine Differenzerfahrung voraus. Was ist, ist nicht so, wie es sein sollte. Der Zustand muss deshalb verändert werden, in Einklang und Übereinstimmung gebracht, wieder hergestellt werden. In Bezug auf die paulinische Theologie könnte man von der Grundspannung zwischen Indikativ und Imperativ sprechen. Also jener Grundspannung christlicher Existenz, der durch die Taufe alles geschenkt ist, die aber zugleich das neue Leben nur höchst unvollkommen realisiert. Dabei ist die Unterscheidung zwischen individueller und gemeinschaftlicher Erneuerung, also des einzelnen Christenmenschen und der Kirche als Ganzer (oder Teilen von ihr) durchaus sekundär. Denn beide sind ineinander verwoben. In der spätmittelalterlichen Kirche und Gesellschaft war diese Differenzerfahrung immer stärker geworden und hat damit das Konzept von Reform und Erneuerung immer stärker an Bedeutung gewonnen. „Through-
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GERHART B. LADNER, The Idea of Reform. Its Impact on Christian Thought and Action in the Age oft he Fathers, Cambridge: Harvard University Press 1959, S. 32: „The ideas of religious conversion and of individual spiritual regeneration through baptism are closely connected, but not identical, with the Christian idea of reform. They may within Christianity be considered the all-important foundations oft he reform idea and yet they are distinct from it, though the terminologies can at times be the same. Baptismal regeneration is instantaneous and nonrepeatable since in it the Christian shares in the one death and Resurrection of Christ, which are the fundamental facts of all Christian belief in the renewal of man. The idea of reform on the contrary contains as an essential element multiplicity involving prolongation and repetition, […].“
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out the Middle Ages the call for reform and renewal was near-universal in Europe […]. No other words carried the conceptual richness and emotive power of the pair reformatio-renovatio, which – as organizing image, object and expression of hope, and rallying slogan resonated in nearly every segment of society.“8 Aber weder die Differenzerfahrung noch die damit verbundene Begrifflichkeit9 ist eine Erfindung des späten Mittelalters. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die Sache tiefe Wurzeln in der biblischen Tradition aufweist. Auch die alte und die mittelalterliche Kirche leben aus dieser Tradition und immer wieder gewinnt dieses Anliegen von Reform, Erneuerung, Wiederherstellung im Laufe der Geschichte eine besondere Ausprägung. Ich möchte im Folgenden auf einige dieser Ausprägungen eingehen.
a.
Cyprian und die „Lapsi“
Greifbar wird dieses Anliegen im dritten Jahrhundert auf individueller Ebene in der Frage nach dem Umgang mit jenen, die in den Zeiten der Verfolgung nicht standhaft geblieben waren, sondern ihren Glauben verleugnet hatten. Interessant ist dabei, dass Cyprian von Karthago, wenn er über die „Lapsi“, die Gefallenen, redet, so weit geht, dass er die über die Kirche hereinbrechende Verfolgung als Prüfung durch Gott deutet. Eine
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9
GERALD STRAUSS, Ideas of Reformatio and Renovatio from the Middle Ages to the Reformation, in: Thomas A. Brady / Heiko A. Oberman / James D. Tracy (Hrsg.), Handbook of European History 1400–1600, Bd. II: Visions, Program and Outcomes, Leiden: Brill 1995, S. 1–30, hier: S. 1. Ich verweise hier auf einige grundlegende Arbeiten zur Sach- und Begriffsgeschichte: G. B. LADNER, The Idea of Reform (Anm. 7); GERHART B. LADNER, Die mittelalterliche Reform-Idee und ihr Verhältnis zur Idee der Renaissance, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 60 (1952), S. 31– 59; DERS., Art. Erneuerung, in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 6, Stuttgart: Hiersemann 1966, S. 240–275; EIKE WOLGAST, Art. Reform, Reformation, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart: Klett-Cotta 1984, S. 313–360; THEODOR MAHLMANN, Art. Reformation, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel: Schwabe 1992, S. 416–427; JÜRGEN MIETHKE, Art. Reform, Reformation, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 7, München: Lexma 1995, Sp. 543–550; KONRAD REPGEN, Art. Reform, in: The Oxford Encyclopedia of Reformation, Bd. 3, Oxford University Press 1996, S. 392–395.
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Prüfung, die ihre Ursache in dem problematischen Zustand der Kirche selbst hatte: „Der Herr wollte seine Familie prüfen, und weil die uns von Gott überlieferte Lehre durch den langen Frieden gelitten hatte, so hat das himmlische Strafgericht den gesunkenen und fast hätte ich gesagt, schlafenden Glauben wieder aufgerichtet […].“10 Das Bild, das Cyprian vom Zustand der „schlafenden“ Kirche zeichnet, ist ein durchaus düsteres: „Da war jeder nur auf die Vergrößerung seines Vermögens bedacht, und ohne daran zu denken, was die Gläubigen früher zur Zeit des Apostels getan hatten und immer tun sollten, verlegte man sich, von unersättlicher Habgier entflammt, nur auf die Mehrung seines Besitzes. Vergebens suchte man die ergebene Gottesfurcht bei den Priestern, die unbefleckte Treue bei den Dienern; da kannte man keine Barmherzigkeit in den Werken, keine Zucht in den Sitten. […] die Vorgesetzten verachtete man in übermütigem Dünkel, mit vergiftetem Munde verleumdete man einander, mit unerbittlichem Hass lebte man in gegenseitiger Feindschaft. Gar viele Bischöfe, die doch den übrigen eine Mahnung und ein Vorbild sein sollten, vernachlässigten ihr göttliches Amt und wurden die Verwalter weltlicher Geschäfte.“11 Die Verfolgung stellt einen göttlichen Weckruf dar; durch sie soll der Glaube gestärkt werden, und es sind die Märtyrer und Confessores, die als leuchtende Beispiele des Glaubens aus ihr hervorgehen. Ein Problem aber stellen jene dar, die in der Verfolgung abgefallen sind. Für sie, die nun in die Kirche zurückkehren wollen, obwohl sie geopfert hatten, geht es nun darum, den Weg der Buße zu beschreiten.12 Buße ist Bekehrung zum Herrn, Rückkehr zu ihm13 und auch zum Weg der Apostel.14 Wer sich auf diesen Weg der Buße begibt, der wird erfahren, dass Gott ihm auch wieder die Waffen des Glaubens darreicht, seine Kräf-
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CYPRIAN, De lapsis 5 = Des Heiligen Kirchenvaters Caecilius Cyprianus sämtliche Schriften, Traktate / Des Diakons Pontius Leben des Hl. Cyprianus (Bibliothek der Kirchenväter – BKV, Reihe I, Bd. 34), aus dem Lateinischen übers. von Julius Baer, Kempten / München: Kösel 1918, S. 95 f. CYPRIAN, De lapsis 6 (BKV I/34: S. 96). Ich folge an dieser Stelle der Lesart „rerum“ statt „regum“, also: Verwalter weltlicher Geschäfte, und nicht: Verwalter weltlicher Herrscher. CYPRIAN, De lapsis 23 (BKV I/34, S. 112). CYPRIAN, De lapsis 29 (BKV I/34, S. 118). CYPRIAN, De lapsis 35 (BKV I/34, S. 123).
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te stärkt um den erneuerten Glauben zu beleben.15 Auch wenn Cyprian in diesem Zusammenhang den Begriff der reformatio nicht benutzt, ist doch deutlich, dass es eine starke inhaltliche Verbindung in der Sache gibt. Denn die Buße ist Reue, Bekenntnis der Verfehlung und Rückkehr zu der einmal geschenkten Gnade. Sie ist kein punktuelles Ereignis, sondern ein Weg, der gegangen werden muss. Aber dieser Weg der Umkehr und Buße eröffnet zugleich Zukunft.
b.
Das Mönchtum
Immer wieder, wenn es um Reformen in der alten Kirche und im Mittelalter geht, rückt das Mönchtum in den Fokus der Aufmerksamkeit. „Die sich stets wiederholenden mönchischen Reformen sind deshalb von besonderem Interesse, weil man an ihnen am deutlichsten verfolgen kann, wie Reformen aus dem Enthusiasmus von Individuen und Gruppen geboren werden, wie sie wachsen, sich ausbreiten und sich erschöpfen, und wie eine neue Reform aus einer früheren entsteht oder aus anderen Quellen gespeist wird.“16 Dieser Sachverhalt liegt darin begründet, dass die Mönchsorden meist auf Gründerpersönlichkeiten und Gründungskonstellationen zurückgehen, an denen man sich immer wieder orientieren kann und an denen sich immer aufs Neue Reformimpulse zu entzünden vermögen. Die Reformbewegung von Cluny, die Richtung der Franziskaner-Spiritualen und die Spannungen im Augustinerorden zwischen den Observanten und den Konventualen zur Zeit Luthers sind nur drei beliebige Beispiele für dieses Phänomen. Aber auch das Mönchtum als solches lässt sich durchaus vom Gedanken der Reform und der Erneuerung her verstehen. Denn in jedem Fall ist es der ureigenste Impuls des Mönchtums, in die Nachfolge Jesu zu treten.17 Hieronymus benennt in seinem Brief an Rusticus das Motiv der
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16 17
CYPRIAN, De lapsis 36 (BKV I/34, S. 124): „Von neuem wird der Krieger seinen Kampf aufnehmen, er wird die Schlacht wieder beginnen und den Feind herausfordern, und zwar tüchtiger geworden für den Kampf durch den Schmerz. […] Wer aus Reue über seine Tat, wer aus Scham über sein Vergehen gerade aus dem Schmerze über seinen Fall mehr Kraft und größere Glaubenstreue gewonnen hat […]“. G. LADNER, Die mittelalterliche Reform-Idee (Anm. 9), S. 53. Für das Selbstverständnis des Mönchtums vgl. FAIRY VON LILIENFELD, Art. Mönchtum II., in: TRE 23 (1994), S. 150–193, und vor allem UTA RANKE-HEINEMANN,
134
Gerold Lehner
Vollkommenheit in der Nachfolge Jesu, welches der mönchischen Existenz eignet: „Wünschest Du aber vollkommen zu sein, so ziehe mit Abraham fort aus Deiner Heimat und Deiner Verwandtschaft in ein unbekanntes Land! Hast Du Besitz, so verkaufe ihn und schenke den Erlös den Armen! Hast Du keinen, dann bist Du einer großen Sorge enthoben. Folge, selbst entblößt, dem entblößten Heiland nach (nudum Christum nudus sequere)! Die Aufgabe ist hart, sie ist erhaben und schwierig, aber groß ist auch der Lohn.“18 Und Bernhard von Clairvaux gibt einen interessanten Hinweis, wenn er auf die Frage, warum die klösterliche Zucht (monasterialis disciplinas) als zweite Taufe (dicatur secundum baptisma) bezeichnet wird, antwortet: „Ferner wollt ihr von mir hören, warum unter den übrigen Einrichtungen der Buße und Bekehrung (inter cetera paenitentiae instituta) das Leben im Kloster den Vorzug verdient, eine „zweite Taufe“ genannt zu werden. Ich meine, wegen der vollkommenen Weltentsagung und wegen der einzigartigen Vortrefflichkeit des geistlichen Lebens. Dadurch überragt dieser Wandel alle anderen Arten der menschlichen Lebensführung, er macht seine Bekenner und Liebhaber den Engeln ähnlich, den Menschen unähnlich, er stellt Gottes Bild im Menschen wieder her (immo divinam in homine reformat imaginem), er gestaltet uns Christus gleich, genau wie die Taufe (configurans nos Christo instar baptismi).“19 Das mönchische Leben ist also nur im Rahmen von Umkehr und Buße zu verstehen. Es ist die permanente Umkehr als Lebensform, um die es hier geht. Diese Lebensform stellt die Gottebenbildlichkeit des Menschen wieder her. Hier ist nun ausdrücklich von der reformatio die Rede. Wiederherstellung und Christus gleichförmig werden gehen hier Hand in Hand.
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Das frühe Mönchtum. Seine Motive nach den Selbstzeugnissen, Essen: Hans Driewer 1964. Sie macht sechs Motivbündel für die mönchische Lebensform aus: das Motiv der Gottesliebe, Todessehnsucht und Parusieerwartung, das Streben nach Vollkommenheit, der Kampf gegen Dämonen und Sünde, das Ideal des engelgleichen Lebens und schließlich jenes der Nachfolge. HIERONYMUS, Brief an den Mönch Rusticus, Brief Nr. 125, 20 (Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften, Bde. 2–3, Bibliothek der Kirchenväter, II. Reihe, Band 16 und 18, Kempten / München: Kösel, Pustet 1936– 1937, hier: BKV II/16, S. 238). BERNHARD VON CLAIRVAUX, De praecepto et dispensatione, 54 (Bernhard von Clairvaux, Sämtliche Werke lateinisch/deutsch, Bd. 1, hrsg. von Gerhard B. Winkler et al., Innsbruck: Tyrolia 1990, S. 417–419).
Reformation: Erneuerung aus dem Ursprung
135
In der Folge ist das Mönchtum selbst das beste Beispiel dafür, dass dieser Prozess der Erneuerung stets aufs Neue erfolgt und erfolgen muss: Der einzelne Mönch und die Gemeinschaft sind in ihrem Tagesablauf durch das Stundengebet auf den Ursprung hin orientiert. Das ist der tägliche Prozess der Erneuerung. Dann aber ist auch wahrnehmbar die „Entfaltung dieser Lebensformen vor Ort in ein bis drei Generationen und Auftauchen von Reformbedürftigkeit“20. Das heißt, die Lebensform selbst bedarf in ihrer strukturierten und institutionalisierten Gestalt einer immer neuen Regeneration, die schließlich nicht nur einzelne Klöster, sondern den jeweiligen Orden als Ganzes betrifft. Damit wende ich mich nun zwei Personen des Spätmittelalters zu.
c.
Nikolaus von Kues
Ein profilierter Reformer im Bereich der spätmittelalterlichen Kirche war der heute vorwiegend als Philosoph und Theologe bekannte deutsche Kardinal Nikolaus von Kues. Er ist zwar als Reformator in seiner eigenen Diözese Brixen dramatisch gescheitert, hat aber zwei wichtige Reformschriften verfasst: einmal die drei Bücher „De concordantia catholica“ und zum anderen die Schrift „Reformatio generalis“.21 Diese letztere ist Pius II. (Enea Silvio Piccolomini) gewidmet, der 1458 zum Papst gewählt worden war und sich im Gefolge des Basler Konzils der Reform verpflichtet wusste. Für die Konkretion und Durchführung dieser Reformbemühungen verfasste Nikolaus von Kues seine Schrift. Ausgangslage ist hier die Reform der Kirche, genauerhin eine solche nicht nur an Haupt und Gliedern (wie die Forderung seit langem lautete), sondern eine solche „in capite et curia Romana“22. An die Führungsebene sind denn auch die folgenden Er-
20 21
22
F. VON LILIENFELD, Art. Mönchtum II. (Anm. 17), S. 151. Hier zitiert nach der zweisprachigen Ausgabe in: Quellen zur Kirchenreform im Zeitalter der großen Konzilien des 15. Jahrhunderts. Zweiter Teil: Die Konzilien von Pavia/Siena (1423/24), Basel (1431–1449) und Ferrara/Florenz (1438–1445), ausgew. und übers. von JÜRGEN MIETHKE / LORENZ WEINRICH, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2002, S. 468–499. JÜRGEN DENDORFER, Die Reformatio generalis des Nikolaus von Kues zwischen den konziliaren Traditionen zur Reform in capite und den Neuansätzen unter Papst Pius II. (1458–1464), in: Thomas Frank / Norbert Winkler (Hrsg.), Renovatio et
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mahnungen gerichtet, in denen er den Papst und die Kardinäle an die grundsätzliche Intention aller Reformbemühung erinnert. Diese besteht in der Nachfolge Christi, die dazu führt, dass die Christen christusförmig werden. Jede Reformbemühung, die diesen Ausgangspunkt übersieht oder vernachlässigt, verliert ihre Legitimation. Denn zu reformieren vermag nur derjenige, der sich seiner eigenen Reformbedürftigkeit bewusst ist: „Wir haben die Kirche Gottes, die auf festem Felsen bestens gegründet ist, zur Leitung empfangen – so sind wir nicht genötigt, nach einem anderen Glauben und anderen Formen zu suchen, als wir von Christus, dem Haupt, und den heiligen Aposteln und deren Nachfolgern, den Lenkern der Kirche, empfangen haben. Wir müssen uns nur Mühe geben […] alle Christus gleichförmig zu werden (omnes Christiformes efficiamur), jeder in seinem Stand […].“23 „Weil es nun lediglich eine einzige Natur der Menschheit gibt – nämlich die Christi, unseres Hauptes, und unsere, die in Ihm allein die Gestalt Gottes angezogen hat –, ist es unmöglich, dass der Mensch zum Reich der Unsterblichkeit anders gelangen kann, als dass er zuvor die Gestalt des Herrn Christus annimmt. Diese Gestalt wird durch die Nachfolge erworben (Hec forma imitacione acquiritur). […] Wir, die wir nun an die Stelle der Apostel getreten sind, müssen, um die anderen nach unserem Vorbild mit der Gestalt Christi zu bekleiden, in besonderer Weise vor allen übrigen christusförmig sein. Die menschliche Natur besitzt aber von Gott vor allen anderen Geschöpfen dieser Welt die Gabe des Lernens, die er dem Menschen mit der Schöpfung eingeschaffen hat, damit er glücklich werden kann. Deshalb werden alle von Gott belehret sein.“24 „Wir nun, die wir alle Christen reformieren wollen (nos igitur, qui cunctos Christianos reformare cupimus), können ihnen keine andere Form geben (utique aliam nullam possumus eis formam), als daß wir ihnen vorschlagen, Christus nachzuahmen, von dem sie den Namen empfangen haben. […] Daher muss es unser ganzer Eifer sein, uns durch Buße zu waschen und wieder die reine Form der Unschuld anzuziehen (ut abluamur penitencia et reinduamus formam innocencie), die wir im Taufbad Christi empfangen haben; dann nämlich, wenn Christus in der Herrlichkeit Gottes
23 24
unitas – Nikolaus von Kues als Reformer. Theorie und Praxis der reformatio im 15. Jahrhundert, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, S. 137–155. Quellen zur Kirchenreform (Anm. 21), S. 471. Ebd., S. 473.
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des Vaters erscheint, werden wir ihm ähnlich sein, nämlich in seiner Form, die sich nur im Reiche Gottes findet, zu dem wir streben.“25 Nicht zu Unrecht resümieren Miethke und Weinrich, dass es bei diesem Reformansatz weitgehend um individuelle und moralische Anstrengung geht: „Der eiserne Besen, mit dem hier alle Verfehlungen aus Kirche und Welt heraus gekehrt werden sollen, zielt vor allem auf die Durchsetzung moralischer Korrektheit im allgemeinsten Sinn. Eine sittliche Anstrengung in volkspädagogischer Absicht ist unverkennbar, ebenso aber auch, dass Strukturveränderungen in der kirchlichen Verfassung, die nicht ‚Auswüchse‘ zurückschneiden wollen, gar nicht ins Auge gefasst werden.“26 Tatsächlich ist Nikolaus von Kues in all seinen Reformen gescheitert. Aber dieses Schicksal teilt er mit allen Reformern des 15. Jahrhunderts.27 Die grundlegende Distanz des Reformansatzes des Cusaners von jenem der Reformation wird gerade dort am sichtbarsten, wo er sich der Bewegung der Hussiten und der Frage des Laienkelches zuwendet.28 Im Jahre 1433 wird er beauftragt, mit den Hussiten zu verhandeln und verfasst dazu den Traktat „De usu communionis“. Hier zeigt sich meines Erachtens eine Schwäche seines Ansatzes, nämlich dass die Heilige Schrift der Kirche auf erstaunliche Art und Weise untergeordnet wird. Wenn aber die Kirche sol-
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27
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Ebd., S. 475. Ebd., S. 77. Deutlich auch noch einmal an anderer Stelle: „Das ‚Programm‘, das der Cusaner hier weit ausholend entwickelt, ist in der Tat das Vorhaben einer eingehenden Visitation von Haupt und Gliedern. Nicht mehr Um- und Ausbau der Kirche, nicht Mitverantwortung und Mitgestaltung sind hier in den Blick genommen […]. Von all den konziliaren Debatten ist nur noch der sittliche Ernst übriggeblieben, den gewiss auch die Konstanzer und Basler Väter zeigten. Alle konstitutionelle Phantasie jedoch hat den Reformer verlassen […]“ (ebd., S. 80). „Reform wird hier in erster Linie als die Zurückführung zu älteren guten Zuständen begriffen, hat ihren Änderungsimpuls verloren, den der Begriff im Spätmittelalter durchaus haben konnte […]“ (ebd., S. 81). – Vgl. auch J. DENDORFER, Die Reformatio generalis (Anm. 22), S. 155: „Ziel des Cusanus ist somit nicht primär die Wiederherstellung eines maßvoll neujustierten, in Reformdekreten vorgeprägten institutionellen Aufbaus der Kirche, sondern die Erinnerung Einzelner an die Verpflichtung, die sie einst mit ihrem Gelübde übernommen hatten. Diesem Vertrauen in die Einsicht der Betroffenen in ihre Verantwortung, […] entspricht ein offenkundiges Desinteresse an institutionellen Reformen.“ So auch das Resümee von BRIAN A. PAVLAC, Reform, in: Christopher M. Belitto / Thomas M. Izbicki / Gerald Christianson (Hrsg.), Introducing Nicholas of Cusa. A Guide to a Renaissance Man, New York: Paulist Press 2004, S. 59–112. Zum Folgenden: KURT FLASCH, Nikolaus von Kues. Geschichte einer Entwicklung, Frankfurt: Vittorio Klostermann 32008, S. 72–76.
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cherart gleichsam über die einzige Instanz gestellt wird, von der her sie kritisch zu befragen wäre, ist es einsichtig, dass damit auch eine der markantesten Quellen jeder Reform, die noch dazu eine gemeinsame Grundlage darstellte, ihrer Wirksamkeit beraubt wurde. Um das zu verdeutlichen zitiere ich einige der Paraphrasen, mit denen Kurt Flasch diesen Traktat beschreibt: „Er [Cusanus, G.L.] spricht von der Kelchfrage, die den Hussiten so wichtig war, weil sie die Laien wie den Priester gehandelt sehen wollten, nicht als sei sie gleichgültig, wohl aber, als stehe sie zur Disposition kirchlicher Regelung, wenn nur die Einheit gewahrt werde. Eine Korrektur der als sekundär erkannten Tradition im Namen der Bibel habe keinen Sinn; eine Revision des mittelalterlich-kirchlichen Christentums im Namen des neu gelesenen Neuen Testaments verwirft Cusanus. Es sei Anmaßung zu glauben, die eigene Auslegung der göttlichen Gebote sei wahrer als die Lehre der Kirche.“29 „Die Bibel kann nicht die Glaubensgrundlage sein; die Kirche legt die evangelischen Gebote nach Zeiten verschieden aus. Dies sollen wir hinnehmen, denn die Auslegung sei von demselben Geist inspiriert, der die Texte inspiriert habe. Widersprechen die Originaltexte der kirchlichen Auslegung, dann gilt die Kirchenlehre, nicht das biblische Original. […] Die Kirche ist der feste Fels; durch sie kommen wir zur Schrift, nicht durch die Schrift zur Kirche.“30
d.
Reformer aus dem Orden Luthers: Aegidius von Viterbo
Ebenfalls von Reformgedanken bewegt ist Aegidius von Viterbo (1469– 1532), der dem Augustinerorden angehört und von 1506 bis 1518 als dessen Ordensgeneral wirkt.31 Ihn hat Luther mit hoher Wahrscheinlichkeit bei seiner Romreise im Auftrag des Ordens (als es um Anliegen der Ordensreform ging) getroffen. Sein Verständnis von Reform gipfelt in Sätzen
29 30 31
Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Zu seinem Leben und Wirken siehe: FRANCIS X. MARTIN, Friar, Reformer and Renaissance Scholar. Life and Works of Giles of Viterbo 1469–1532, Villanova: Augustinian Press 1992.
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wie diesen: „homines per sacra immutari fas est, non sacra per homines“32 („Es ist angemessen, dass die Menschen durch die Religion verändert werden, nicht die Religion durch die Menschen“). Und: „Imitemur enim divina nos oportet, non a divinis imitandi nos sumus“33 („Wir sollen das Göttliche nachahmen, nicht wir sind diejenigen die vom Göttlichen nachgeahmt werden“). Der göttliche Bereich ist unwandelbar und benötigt daher keine Reformation. Sehr wohl aber der menschliche Bereich, weil er einer stetigen Veränderung unterliegt, die durch Reformation ausgeglichen werden muss. In dieser Reform der Kirche (die durch Veränderungen, die nach der Regierung Konstantins stattfanden, geschwächt wurde) spielen die Konzilien eine herausragende Rolle, wie Aegidius nicht müde wird herauszustreichen. Seine Reformvorstellungen, die er besonders in Bezug auf die Erneuerung seines Ordens massiv vorantreibt, und die auch seine Einstellung in Bezug auf die allgemeine kirchliche Reform prägen, sind durch eine normative Betonung der Tradition und des Ursprungs charakterisiert. Einerseits wird so die Rückkehr zu einer Tradition gefordert, die ihre Dignität gleichsam durch ihr Alter und ihre Nähe zum Ursprung besitzt. Andererseits aber ermöglicht ebendieser Rückgriff auf die Tradition als Ganzes, gleichsam als eine innovative und legitime Weiterentwicklung der Kirche und ihrer Lehre, es nur schwer, einen kritischen Maßstab gegenüber jener Tradition zu gewinnen. Denn Kirche und Papsttum sind zugleich unhinterfragbare Autorität. Obschon er das intensive Studium der heiligen Schriften fordert, sind diese doch so stark mit der kirchlichen Auslegung verbunden, dass ihr kritisches Potential nicht zum Tragen kommt.34 32
33 34
So in seiner Eröffnungspredigt des fünften Laterankonzils (zitiert nach: JOHN W. OʼMALLEY, Giles of Viterbo on Church and Reform. A Study in Renaissance Thought, Studies in Medieval and Reformation Thought, Bd. 5, Leiden: Brill 1968, S. 139). Für verfehlt halte ich allerdings die Aussage, dass dieses Ideal des Aegidius von Viterbo der Reformation Luthers widerspreche; so F. X. MARTIN, Friar (Anm. 31), S. 117. J. W. OʼMALLEY, Giles of Viterbo (Anm. 32), S. 140. Vgl. ebd., S. 141: „This set of values and assumptions rests upon the fundamental belief that the divine causality imposed a sacred and inviolable order upon the world. This order, though not altogether lacking dynamism, is established from all eternity, and it neither can nor should in any way be adjusted to what might be thought of as creature exigencies. Included in this stable order of the universe are the institutional structures and doctrinal formulations of the Church, and any questioning of these realities which might suggest change, modification or reinterpreta-
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Die Nähe zur Reformation besteht. Sie besteht in der Analyse der Situation, die schonungslos ausfällt. In seiner Eröffnungspredigt für das V. Laterankonzil am 3. Mai 1512 führt er aus: „[…] Ich sehe, ja ich sehe: Wenn wir nicht durch dieses Konzil oder auf irgendeine andere Weise unserer Art des Handelns ein Maß setzen, wenn wir nicht wider unser Begehren nach irdischen Gütern, aus dem so viele Übel entspringen, der Liebe zu Gott und seiner Sache einen Raum erzwingen, dann ist es um die Christenheit geschehen, dann ist es um die Religion geschehen […].“35 Er kann (wenn auch wohl stark rhetorisch gefärbt) von der beinahe toten Kirche sprechen. Und er kann selbstkritisch anmerken, dass eine Kirche, die auf äußere Gewalt vertraut, ihrer Sache einen schlechten Dienst erweist und gerade nicht siegreich agiert, sondern ihren Einfluss verliert. Religiöser Eifer und moralische Exzellenz sind es, welche die Kirche groß machen und dazu geführt haben, dass sie sich weithin ausgebreitet hat. Aber die Differenz zur Reformation besteht wesentlich darin, dass die moralische Dimension überwiegt und das kritische Potential einer am Neuen Testament orientierten Theologie wegfällt.
3. Reform als Innovation? Wie das Spätmittelalter, so sind auch die letzten Jahrzehnte unserer Zeit von vielfältigen Forderungen nach Reform geprägt. Was unterscheidet den Ruf nach Veränderung, nach Innovation im Raum der Kirche von dem allgegenwärtigen Ruf nach Innovation und Veränderung in der modernen Gesellschaft? Denn ich bin der Meinung, dass es einen solchen Unterschied (zumindest grundsätzlich) gibt, und dass er bedeutsam ist. Zugleich
35
tion of them is particularly impious. In this sense Gileʼs norm for reform can be considered conservative, it wants to conserve and to preserve intact forms and truths delivered to man from on high at a happier period of his history, and it provides very few criteria for a critical review of these forms and these truths. Like his contemporaries, Giles thought that the authentic traditions of the past were easily recognized and that their authenticity was easily discerned from the corruptions resulting from historyʼs inevitable decline. With sincere good faith Giles introduced all his reforms in the name of the authentic past.“ Einen Auszug aus dieser Predigt in Übersetzung bieten: OLIVIER DE LA BROSSE / JOSEPH LECLER / HENRI HOLSTEIN / CHARLES LEFEBVRE, Lateran V. und Trient. 1. Teil (Geschichte der ökumenischen Konzilien, Bd. 10), Mainz: Grünewald 1978, S. 457–459, hier: S. 458. Die englische Übersetzung der vollständigen Predigt in: F. X. MARTIN, Friar (Anm. 31), S. 285–296.
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muss ich freilich hinzufügen, dass auch die Kirchen Teil der gesellschaftlichen Entwicklungen sind, und von diesen beeinflusst werden. Gerade im folgenden Abschnitt wird das sichtbar. Was ich kritisch anmerken möchte in Bezug auf gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen, hat als oft unhinterfragter Hintergrund auf weite Strecken auch Eingang in die Kirchen gefunden. Von daher ist die folgende Unterscheidung immer wieder zu differenzieren und zu relativieren. Aber es lässt sich grundsätzlich sagen: Erneuerung und Veränderung im Raum der Kirche sind immer ausgespannt in den großen Zusammenhang des Woher und Wohin. Innovation36 im Raum von Gesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft hat in unserer Zeit oft den Beigeschmack des radikal Neuen, dessen, was mit dem Vorhergehenden nicht verbunden ist, sich von ihm absetzt, das Vorhergehende überholt und außer Kraft setzt – und sich allein damit schon legitimiert. Dieser Begriff der Innovation, der Veränderung, trägt in sich die Gefährdung, sich selbst zu entwurzeln, die Brücken abzubrechen und das Heil nur im Blick nach vorne zu sehen. Er hat kein Woher mehr und oft auch kein erkennbares Wohin. Der Ruf nach Reform37 und Veränderung wird zum Ruf nach einem Aktionismus, dessen oberstes Ziel die Bewegung selbst zu sein scheint. Der Philosoph Ralf Konersmann hat diese Unruhe so beschrieben, dass in ihr nicht mehr das hier und jetzt zähle, sondern immer nur der nächste Augenblick. „In Summe verleihen diese kleinen und kleinsten Signale der stillschweigenden Überzeugung Ausdruck, dass nicht dieser Augenblick zählt, das Hier und Jetzt, sondern immer nur der nächste. Die Unruhe kennt keine Resultate, sondern nur lose Enden, die neue Anfänge, Übergänge und Anschlüsse sind. Sie ist der Aufbruch in Permanenz, die syste-
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37
Es ist sprachlich durchaus interessant zu beobachten, dass „Innovation“ zu einem neuen Leitbegriff geworden ist. Die innovatio hat die renovatio abgelöst. Gefallen ist die rückbezügliche Dimension des Begriffes. Die Innovation ist frei von den „Fesseln“ einer Tradition, frei von Vorgegebenem. Das „Novum“ selbst ist zum Ziel geworden, – um freilich innerhalb kurzer Zeit von der nächsten Innovation zum Überholten und Zurückgelassenen zu werden. Kritisch merkt auch KONRAD REPGEN, „Reform“ (Anm. 6), S. 6, an, dass die Rede von der Reform zu einem Schlagwort mutiert sei, das allein schon durch die Begrifflichkeit die Legitimität des Angestrebten ausweist: „Ein Schlagwort ist bekanntlich eine Vokabel, in welcher die affektive Bedeutung die kognitive überlagert. Eine solche Vokabel ist daher nicht allein als Mittel der Verständigung benutzbar, sondern auch – und noch mehr – als Mittel der Beeinflussung.“
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mische Ziellosigkeit. Natürlich will auch sie etwas bewirken, auch sie lockt mit der Aussicht auf Erfüllung. Viel näher aber liegt der Unruhe die Sorge, die Bewegung könnte stocken und überhaupt zum Stillstand kommen. Daher die gereizte Reaktion auf alles, was nach einer klaren Entscheidung, nach Festlegung und Endgültigkeit aussieht.“38 Die Unruhe der Welt ist mit der Tendenz zur Beschleunigung aller Lebensbereiche verbunden. Diese wird zwar häufig als Beschleunigung aufgrund technologischer Möglichkeiten empfunden, aber der tieferliegende Motor ist auf der gesellschaftlichen, auf der sozialen Ebene zu suchen. Der Aussage Hartmut Rosas ist m. E. zuzustimmen: „Meine These ist daher, dass die Wettbewerbslogik zwar nicht der einzige, aber doch der wesentliche Motor der sozialen Beschleunigung ist.“39 Für ihn ergeben die techno-
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RALF KONERSMANN, Die Unruhe der Welt, Frankfurt: Fischer 2015, S. 9. Für ihn bildet die Unruhe den gleichsam negativen Konsens in der modernen westlichen Gesellschaft, die ohne die Basis eines erkennbaren positiven Konsenses existiert: „[…] und nirgends ist ein Projekt erkennbar, das gehaltvoll genug wäre, um Gegenwarten und Generationen über die geschichtlichen Zeiten hinweg zu verpflichten“ (ebd., S. 311). Dabei spielt für ihn die Paradieserzählung der Genesis eine wesentliche Rolle, wie sie den Menschen (so seine Interpretation) als in die Unruhe verstoßen beschreibe. Diese Ausgangslage wird für ihn zum Signum europäischer Zivilisation: „Die frühneuzeitlichen Philosophen haben den Mythos, der vom Verstoßensein in die Unruhe gesprochen hatte, als die bereits in grauester Vorzeit ausgegebene Lizenz verstanden, die doch offenbar gottgewollte Situation der Unruhe als offenen Raum ungeahnter Möglichkeiten zu erkennen und bereitwillig anzunehmen.“ Deshalb ist die Unruhe „weder ein ruckartiger, von anonymen Mächten erzwungener Tempowechsel noch das Zeichen der Entfremdung. Sie ist, im Gegenteil, genau das, was die europäische Zivilisationsgeschichte ausmacht und worauf diese Kultur, nachdem der vermeintliche Verlust erst einmal als Grundlage ungeahnter Möglichkeiten verstanden war, von Anfang an gesetzt hat“ (ebd., S. 317). Erst indem unsere Kultur diese Zusammenhänge erkennt, ist sie fähig die Unruhe als das ihr Eigene anzuerkennen und klug zu begrenzen (vgl. ebd., S. 330). HARTMUT ROSA, Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer Kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit, Frankfurt: Suhrkamp 42014, S. 39. Um diese These etwas zu verdeutlichen, seien zwei Zitate aus diesem Zusammenhang angeführt: „Wenn wir nach den Mechanismen suchen, die in der modernen Gesellschaft die Prozesse der Beschleunigung und des Wachstums antreiben und miteinander verbinden, kann wenig Zweifel daran bestehen, dass dabei die grundlegenden Prinzipien und Profitgesetze der kapitalistischen Ökonomie eine wesentliche Rolle spielen. […] Da Arbeitszeit ein wesentlicher Produktionsfaktor ist, ist Zeitersparnis erstens ein einfaches und direktes Mittel, um Kosten zu sparen und einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Zweitens zwingen die Prinzipien von Kredit und Zins die Investoren dazu, nach immer schnelleren Gewinnen und Kapitalzirkulationen zu
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logische, die soziale und die Beschleunigung des Lebenstempos zusammen einen „Beschleunigungszirkel“, „ein sich selbst verstärkendes ‚Feedback-System‘ […], das sich ohne Unterlass selbst vorantreibt“40. Hermann Lübbe hat in diesem Zusammenhang zwei komplementäre Begriffe ins Spiel gebracht, jenen der „Gegenwartsschrumpfung“ und jenen der „Zukunftsexpansion“.41 Einerseits wird der Zeitraum für den wir mit „einigermaßen konstanten Lebensbedingungen rechnen können“ immer kürzer, und andererseits gewinnt die Zukunft für die Gegenwart immer größere Bedeutung, weil sich alles auf sie hin ausrichtet; doch gleichzeitig ist sie durch den rasanten Wandel immer weniger prognostizierbar. Diese Konstellationen und Dynamiken werfen allerdings gerade für unser Thema fundamentale Fragen auf: Die Vergangenheit und mit ihr die Tradition als orientierende Größen fallen zunehmend aus, weil ja die Zukunft auf jeden Fall eine grundlegend andere sein wird, und sich somit für sie aus der Vergangenheit keine Hilfestellungen erwarten lassen. Aber auch die Zukunft ist kein wirklicher Orientierungspunkt. Denn sie mag zwar die dominierende Herausforderung darstellen, aber sie ist nicht erkennbar und es existieren auch keine umfassenden Zukunftsentwürfe, auf die man sich beziehen könnte. Die mit einer solchen Situation einhergehende Verunsicherung hat ihren Grund eben auch darin, dass in diesem, ständige Anpassung erfordernden Prozess, kein Bild mehr erkennbar ist, kein großes Ganzes, auf das hin Veränderung erfolgt. Eine Veränderungsmaschinerie, deren Motor alleine von der Sicherung unseres Wohlstandes angetrieben wird und deren Begleiterscheinung eine allgegenwärtige Angst um den Ausbau der Wettbewerbsfähigkeit ist, er-
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streben, die wiederum nicht nur die Produktion selbst, sondern auch Zirkulation und Konsum beschleunigen. Schließlich stellt es ein notwendiges Mittel zur Erzielung jener zusätzlichen Gewinne dar, die für die Aufrechterhaltung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens unverzichtbar sind, gegenüber den Konkurrenten mit Bezug auf sowohl verfahrens- als auch produktbezogene Innovationen einen zeitlichen Vorsprung zu haben“ (ebd., S. 35). „Der sozialen Wettbewerbslogik gemäß müssen die Konkurrenten eher und mehr Energie in die Erhaltung ihrer Wettbewerbsfähigkeit investieren, bis zu dem Punkt, an dem diese Erhaltung nicht länger ein Mittel zu einem autonomen Leben gemäß selbstbestimmter Ziele ist, sondern zum einzig übergreifenden Ziel sowohl des gesellschaftlichen als auch des individuellen Lebens wird“ (ebd., S. 38). Ebd., S. 42. HERMANN LÜBBE, Zeit-Erfahrungen. Sieben Begriffe zur Beschreibung moderner Zivilisationsdynamik, in: Ders., Modernisierung und Folgelasten. Trends kultureller und politischer Evolution, Berlin / Heidelberg: Springer 1997, S. 23–50.
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schließt kein großes Ganzes, sondern ist dominiert von der Durchsetzung partikularer Interessen. Dem gegenüber steht die schlichte Überlegung, dass, wer etwas ver-bessern (und nicht nur ver-ändern) will, auch um das zugrunde liegende Gute wissen muss, von dem her und auf das hin verbessert werden soll. Inmitten der permanenten „Unruhe der Welt“ wird es dringlicher, uns gemeinsam grundlegenden Fragen zu stellen und ihnen nicht auszuweichen; Fragen nach dem, wer wir sind und wer wir sein wollen, in dieser Welt.
4. Reformation als Erneuerung aus dem Ursprung Je unübersichtlicher die Zeiten werden, je dichter die Frequenz der an uns gestellten Herausforderungen, je stärker der Konkurrenzdruck, der uns die Rute des ökonomischen Abstiegs und der institutionellen Marginalisierung (der Kirchen) ins Fenster stellt, desto größer ist die Versuchung, einem puren Aktionismus zu erliegen. Desto wichtiger aber wird jener Schritt, der Abstand schafft vom hektischen Getriebe und uns den Freiraum verschafft, die großen Fragen zu stellen. Und damit sind wir bei dem, was wir Reformation nennen. Denn die Reformation fixiert unseren Blick nicht einfach auf das vor uns liegende komplexe und vordergründige Problembündel, sondern sie fragt nach dem letzten Grund. Sie fragt nach der Form, der Gestalt, dem Bild, dem Wesen, das wir sind und an dem wir uns immer neu orientieren müssen, wenn wir in der Gegenwart so leben wollen, dass dieses unser Leben ein Segen ist und kein Fluch.42 42
Es sei an dieser Stelle noch ein Hinweis eingefügt auf das Buch von PETER SLO„Du mußt dein Leben ändern“, Frankfurt: Suhrkamp 2009. Ich möchte dabei seinen nicht bloß religionskritischen, sondern die Religionen auflösenden (und in „spirituelle Übungssysteme“ überführenden) Ansatz beiseite lassen und darauf hinweisen, wie massiv er den Menschen in eine „Vertikalspannung“ hineingestellt wissen will: „Der Mensch kommt nur voran, solange er sich am Unmöglichen orientiert“ (ebd., S. 700). Die Vertikalspannung ist dabei nicht ausbalanciert, es gibt keine Garantie für die Entsprechung von „challenge“ und „response“. Vielmehr verlangt sie vom Menschen (angesichts der globalen Krise) „den Daueraufenthalt im Überforderungsfeld enormer Unwahrscheinlichkeiten“ (ebd., S. 708). So ergeben sich manche interessante Strukturanalogien für unsere Thematik, aber die Charakteristika, welche die christliche Rede von der Erneuerung prägen, näm-
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Die Reformation Martin Luthers war nicht einfach eine Reaktion auf offensichtliche Missstände, sie ist, worauf Gerhard Ebeling zu Recht hingewiesen hat, aus dem Hören entstanden,43 aus der dauernden und sorgsamen Lektüre der Hheiligen Schrift. Die Reformation stellt also die Frage nach Veränderung, Verbesserung und Zukunft entschlossen hinein in den Horizont Gottes. Sie fragt nach dem eigenen Sein des Menschen und der Kirche von Gott her und auf Gott hin. Und sie tut das, indem sie zurückgeht zum Ursprung, zum Neuen Testament und von dort aus einen Dialog beginnt zwischen Ursprung und Gegenwart. Ja mehr noch: Sie anerkennt das Neue Testament als jene Urkunde des Ursprungs, von der her sich christliches und kirchliches Tun und Sein zu verantworten und zu prüfen haben. Darin liegt, bei aller Differenz und Vielfalt der reformatorischen Bewegung jene Einheit, die es rechtfertigt, von der Reformation im Singular zu sprechen. „Die Reformation hat bei aller Vielfalt ihrer Strömungen und bei aller Kontinuität zu den Reformbewegungen des Spätmittelalters darin ihre Eigenart und ihren verbindenden Zusammenhang, dass sie eine Umbruchsbewegung gegenüber dem Gesamtsystem von Religion, Kirche und religiös bestimmter Gesellschaft des Mittelalters in der Rückbesinnung auf die Norm und das Legitimationsprinzip der Hl. Schrift ist.“44
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lich das Ausgespannt-Sein des Menschen zwischen Herkunft und Zukunft, Schöpfung und Vollendung, fallen aus. GERHARD EBELING, Luther und die Bibel, in: Ders., Lutherstudien, Bd. 1, Tübingen: Mohr-Siebeck 1971, S. 286–301. „Jedoch, gerade weil so laut und spektakulär, führen uns diese Ereignisse nicht in das Herz der Reformation, in die Tiefe und Größe ihres Geschehens“ (ebd., S. 286). „Luther und die Bibel – das deutet gewissermaßen auf den roten Faden jener ungemein komplexen geschichtlichen Erscheinung, auf einen unscheinbaren, beschwerlichen und unablässigen Vorgang in Gesammeltheit und Stille als das eigentliche Bewegende hinter der Turbulenz und dem Lärm der Ereignisse, die sich im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit vollziehen“ (ebd., S. 288). BERNDT HAMM, Einheit und Vielfalt der Reformation – oder: was die Reformation zur Reformation machte, in: ders. / Bernd Moeller / Dorothea Wendenbourg, Reformationstheorien. Ein kirchenhistorischer Disput über Einheit und Vielfalt der Reformation, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995, S. 57–127, hier: S. 66. Damit grenzt er sich ebenso gegenüber einem Reformationsverständnis ab, das die innere Einheit der Reformation auflöst, wie auch gegenüber jenem Verständnis, das die Einheit der Reformation erst in der Zuschreibung der Gegenreformation erkennen will.
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5. Epilog: Die Krise der Kirche, Reformen und das Reformationsjubiläum Seit Jahrzehnten wird in Bezug auf die Kirche Alarm ausgerufen: Die Kirche befinde sich in der tiefsten Krise, einer Krise, die ihren Bestand zu gefährden drohe. Denn seit den 1960er Jahren geht es mit der Kirche bergab. Die Zahl der Mitglieder geht drastisch zurück, die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen nimmt in einer pluralistischen Gesellschaft deutlich ab. Damit verbunden sind der Rückgang der finanziellen Mittel und das sich abzeichnende Ende einer flächendeckenden Versorgung der Pfarrgemeinden mit Pfarrerinnen und Pfarrern. Seit Jahrzehnten wird ein enormer Aufwand getrieben, um analytisch die Stimmung des Kirchenvolkes zu erheben, um soziologisch die Problemzonen zu bestimmen. Ebenfalls seit Jahrzehnten werden endlose Strukturdebatten geführt und wird generell nach Ansätzen gesucht, wie man diesem großen Trend der Zeit begegnen könnte. Manchmal spricht man sich selbst Mut zu und beschwört die Kirche, die gegen den Trend wächst – nur um aufs Ganze gesehen nach einigen Jahren zu erkennen, dass auch das nicht funktioniert hat. Unaufhaltsam und ohne sichtbar gebremsten Effekt durch allfällige Aktionen scheint sich demgegenüber die „Erosion der Gnadenanstalt“ zu vollziehen, wie das der katholische Soziologe Michael Ebertz genannt hat. Von der Krise der Kirche zu sprechen, ist (abgesehen von der Begrifflichkeit) kein spezifisch modernes Phänomen. Das gesamte Spätmittelalter ist durchzogen von dem Bewusstsein, dass sich die Kirche in einer tiefen Krise befinde. Allerdings gibt es zwischen der gegenwärtigen Rede von der Krise der Kirche und dem Krisenbewusstsein der Reformation doch einen deutlichen Unterschied. Denn das Krisenbewusstsein des 16. Jahrhunderts war weitgehend inhaltlich bestimmt: Es bezog sich auf kirchliche Missstände, darauf, dass die Kirche von dem, was sie sein sollte, abgewichen war. Der Krisenbegriff aber, der sich in den 1960er Jahren herausbildete, hat eine andere Blickrichtung. Jetzt geht es um die Kirche als Institution und Organisation. Es ist deshalb kein Zufall, dass die erste Mitgliedschaftsbefragung der EKD von 1972 den Titel trägt: „Wie stabil ist die Kirche?“ Es sind die Sorgenfalten angesichts des Rückgangs der Mitgliederzahlen, welche von nun an die Selbstreflexion der Institution Kirche bestimmen und begleiten. Deutlich ist damit aber auch, dass es zu einer Verschiebung der Problem-
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identifizierung gekommen ist. Es ist weniger die Kirche in ihrem Handeln und Tun, die Kirche in ihrem Auftrag und der Nachfolge, der nun die reflexive Aufmerksamkeit gilt, sondern es ist die Kirche in ihrem Bestand, die Kirche in ihrer institutionellen Gestalt, die in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt und die von nun an sehr viel an Energie, Zeit und Finanzen bindet. Von nun an wird dieser Problemhorizont in seinem Mix von sinkenden Mitgliederzahlen, dem Rückgang an gesellschaftlicher Bedeutung, der Verminderung der finanziellen Mittel und den daraus resultierenden Strukturproblemen zum dominanten Orientierungshorizont, auf den hin kirchliches Planen, Handeln und Reformieren erfolgen. In diesem Tun fällt der theologische Bezugsrahmen entweder ganz aus oder er tritt nur mehr marginal in Erscheinung. Isolde Karle merkt deshalb kritisch an: „Die Kirche kann sich deshalb im Hinblick auf die Inhalte, die sie vertreten will, nicht einfach vom Mitgliedschaftsverhalten abhängig machen. Das aber müsste sie, würde sie konsequent als moderne Organisation zu Ende gedacht. […] Durch ihren Entscheidungscharakter sind moderne Organisationen nicht an ihre Geschichte gebunden, sondern können prinzipiell alles zur Disposition stellen. Die Kirche ist hingegen alt, sie ist an eine Geschichte gebunden und erinnert und verlebendigt diese Geschichte Sonntag für Sonntag in differenzierter Weise in ihren Gottesdiensten. Diese Geschichte, die sich insbesondere mit der Person Jesu verbindet, ist für die Kirche essentiell und unaufgebbar. Deshalb muss sich in der evangelischen Kirche auch jede Reform im Rekurs auf die biblisch-reformatorischen Ursprünge legitimieren.“45 Von diesen Überlegungen her sei am Ende der Blick auf das Jahr 2017 gerichtet. Die Reformation ist eine Erneuerung aus dem Ursprung. Damit ist sie so etwas wie eine Reformation erster Ordnung: Christenmenschen besinnen sich als Glieder der Kirche Jesu Christi auf ihre Herkunft und richten ihr gegenwärtiges Leben, diesem Anspruch folgend, neu aus. Wie wollen wir unter diesem Gesichtspunkt das anstehende Gedenken an 500 Jahre Reformation, das Reformationsjubiläum verstehen? Was tun wir als evangelische Kirchen, wenn wir die Reformation des 16. Jahrhunderts feiern? Welches reformatorische Potential hat ein Reformationsjubiläum? Spielt in unseren Aktivitäten die Frage nach der gegenwärtigen Er-
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ISOLDE KARLE, Kirche im Reformstress, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2010, S. 97.
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neuerung von Christenmenschen und Kirche eine Rolle? Entzündet sich am Reformationsgedenken ein reformatorischer Impuls? Wenn ich die (mir bekannte) erschienene und erscheinende Literatur überblicke, dann kann ich folgende große Themenkomplexe erkennen, die Interesse finden: Da ist zum Ersten, wenig überraschend, die Person Martin Luthers und es sind einzelne Aspekte seines Lebens. Da ist zum Zweiten die Reformation als Bewegung mit ihren Wirkungen. Da ist zum Dritten die Frage der Ökumene mit Zuspitzung auf die Frage, wie die Reformation aus beiden konfessionellen Perspektiven heute bewertet wird – und welche Konsequenzen sich daraus für das Miteinander in Gegenwart und Zukunft ergeben. Weniger ausgeprägt hingegen erscheint jene Bewegung, mit der die Kirche sich selbst prüft und befragt, welche Rolle denn (etwa) die vier „Konzentrationsaussagen“ (solus Christus, sola gratia, sola scriptura und sola fide) für ihre eigene Existenz spielen. Ist in ihnen noch die Erfahrung von Befreiung und Erlösung codiert? Führen sie noch hin zum Grund der Freude? In jedem Fall gilt es, den Ruf des Paulus (Röm 12,2) zu beherzigen (den man nahe an den Worten auch so wiedergeben kann): „Geht nicht konform mit dieser Welt, sondern seid bereit zur Transformation in Erneuerung des Denkens, dass ihr erkennen könnt, was der Wille Gottes ist, das Gute und (ihm) Wohlgefällige und Vollkommene.“
Manfred Prisching
Theorie der Reform
Vierzehn Thesen über die Veränderbarkeit der Welt
Über ein geschichtliches Ereignis wie die Reformation wird man erstens historisch reden: Was ist geschehen? Wie war das damals? Wie hängen die Dinge zusammen? Das klingt sehr einfach, ist sehr schwierig. Zweitens sind die Theologen und Religionswissenschaftler1 gefragt: Was waren Motive, Unterschiede und Folgen für die religiösen Systeme und Institutionen? Wie bewertet man das Ereignis im Rückblick – oder vielmehr: in einer Serie von Rückblicken zu unterschiedlichen Zeiten, weil das jeweilige kollektive Gedächtnis seine gesellschaftlichen Bedingtheiten aufweist?2 Drittens kann man einen säkular-sozialwissenschaftlichen Blickwinkel einnehmen, wie dies in der Folge geschieht: Wie kommt der Gedanke der Reform in die Welt, welche Rolle hat die Reformation gespielt, und was könnte ‚Reform‘ überhaupt heißen? Wie ist die Welt beschaffen, in der (kleinere oder größere) Reformen – von der Reformation bis zu heutigen politischen Reformprojekten – stattfinden? Was sind (positive und negati-
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Vereinzelt berücksichtige ich im folgenden Text die beiden Geschlechter, zuweilen allerdings beschränke ich mich aus sprachästhetischen Gründen auf die konventionelle Schreibweise des generischen Maskulinums. Im obigen Fall sind natürlich die Theologinnen und Theologen sowie Religionswissenschaftlerinnen und Religionswissenschaftler gemeint, und Entsprechendes gilt für andere Fälle. Von einer ‚Serie von Rückblicken‘ ist hier deshalb die Rede, weil die Deutungen eines solchen Ereignisses wie der Reformation sich über die nachfolgenden Jahrhunderte natürlich wesentlich geändert haben. Das gilt für alle historischen Ereignisse, aber gerade die Kirchen (und die religiösen Dimensionen) haben im Laufe der letzten Jahrhunderte einen so grundlegenden Wandel erfahren, dass auch die Interpretation gravierender Ereignisse, wie dies eine Spaltung darstellt, über diesen Zeitverlauf sehr unterschiedlich erfolgt ist. Schließlich folgte im Jahrhundert nach diesem Ereignis der Dreißigjährige Krieg mit seinen Gräueltaten, während die ökumenische Dimension der Gegenwart mit jener Gefühlswelt, die im 17. Jahrhundert herrschte, so gut wie nichts zu tun hat.
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ve) Muster reformerischen Handelns, Bedingungen und Logiken, Deutungen, Handlungsabläufe und gesellschaftliche Folgen? Ich werde dieses Thema in vierzehn Thesen behandeln: (1–3) Das erste Thesenpaket befasst sich mit den Voraussetzungen einer Reform: mit den Interpretationen der Welt, die sich von deren ‚Gegebenheit‘ zur ‚Gestaltbarkeit‘ verschoben haben. Zugleich ist dies eine Anknüpfung an die historischen und theologischen Reflexionen zum Reformationsgedenken. (4–6) Dann wenden wir den Blick zur Beschaffenheit dieser Welt: Reformen finden statt in einer Welt, die irritierend, riskant und kontingent ist (und es eigentlich immer gewesen ist). (7–8) Die seit der Reformationszeit entfaltete Machbarkeitseinschätzung lässt sich auf zwei Pole abbilden: Auf der einen Seite steht die Hybris einer naiven Aufklärung: Der Mensch kann fast alles, und er schaut mit Optimismus in seine Zukunft. Auf der anderen Seite steht die Bescheidenheit einer konservativ-liberalen Perspektive: Das Gestaltungswissen des Menschen ist ziemlich beschränkt – man müsse Vorsicht walten lassen. (9–11) Krise, Revolution und Zerfall: Reformen folgen üblicherweise auf die Wahrnehmung einer Krise, die allerdings in eine Revolution oder gar in den Zerfall einer Gesellschaftsordnung münden kann. (12–14) Die Spezifika und Rahmenbedingungen von Reformen in der Spätmoderne (in der gegenwärtigen westlichen Welt) fassen wir anschließend ins Auge: Liquidität, Pluralität und Liberalität. – Die abschließende Bemerkung verweist auf den Normalitätsbedarf einer Gesellschaft.
1.
Die Welt ist uns gegeben: über Gott und Schicksal
Am Anfang, im Garten Eden, als Gott jene Geschöpfe schuf, die er sich selbst gleich machen wollte, war die Sache noch einfach; auch als er ihnen die Aufgabe gab, fruchtbar zu sein und sich die Erde untertan zu machen. In der Apfelplantage gab es nicht viel zu tun, abgesehen vom Umstand, dass sie offenbar schlangenverseucht war. Diesen Ursprungsmythos kennen wir. Erst nach dem Sündenfall sollte der Mensch seine Herrschaft über die Welt und die Gestaltung des Zusammenlebens lebenspraktisch antreten, mit durchaus ambivalenten Folgen. Auf der historischen Zeitachse betrachtet, war der zur Arbeit berufene und verpflichtete Mensch allerdings wenig reformfreudig, solange er das Wirken der Götter im alltäglichen Leben unterstellte. Die Welt und das Leben, das Überleben und das Leiden – das alles war eben ‚der Wille der
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Götter‘ oder ‚Schicksal‘. Es ist sinnlos, gegen Gott oder Schicksal anzukämpfen. Man war in diese Welt gebannt, und die Welt war so beschaffen, wie sie nun einmal war. Reform war kein Thema, auch wenn sich alltagspraktisch durch den einen oder anderen Einfall das Leben etwas verbessern ließ. Wenn die Leute um sich blickten, in der grausigen Menschheitsgeschichte, vermuteten sie eher einen unbeeinflussbaren Niedergangsprozess – seit dem ‚goldenen Zeitalter‘ oder der Zeit des ‚Paradieses‘ konnte es nur schlechter geworden sein. Gott selbst war der erste Reformer. Er machte einige drastische Versuche, die von ihm als unvollkommen, ja gewissermaßen misslungen angesehene Welt zu verbessern, etwa durch die Sintflut. Ob diese Versuche zum Neubeginn von Erfolg gekrönt waren, kann man bezweifeln. Das Ganze dauerte jedenfalls ein paar hunderttausend Jahre, und dann begann die Neuzeit. Erst jetzt, etwa ab dem 16. Jahrhundert, wurde die Welt auch für die Menschen wirklich ‚machbar‘, reformierbar, gestaltbar – und Gott zog sich ein wenig aus dem menschlichen Getriebe zurück.
2. Die Welt ist gestaltbar: das Modell des Fortschritts Rund um die Zeit von Renaissance und Reformation wandelte sich das statische Weltbild zu einem dynamischen. Man begann, die Gottebenbildlichkeit des Menschen so zu verstehen, dass diesem auch ein stärkerer Anteil an Gottes Schöpfungswerk zukomme: homo faber. Die Aufklärungsdenker in ihrem Überschwang forderten dazu auf, die Welt vollkommen zu machen. Man begann, Experimente vorzunehmen, Utopien zu formulieren, Zukünfte zu projektieren – zunehmend mehr diesseitige als jenseitige. Dem Verstand der Menschen, der auch jenem des göttlichen ‚Uhrmachers‘ nachgebildet sein sollte, attestierte man die Fähigkeit, die Welt zu erkennen und entscheidend zu verbessern. Die Geschichte wurde nun als Fortschrittsgeschichte, als Aufwärtsbewegung gesehen, und viele einzelne Fortschritte wurden gebündelt im Kollektivsingular – nunmehr gibt es ‚den‘ Fortschritt, und in ihm konzentriert sich die Modernitätsgewissheit.3
3
Dazu musste man sich von alten Metaphern entfernen, etwa von der Gleichsetzung des geschichtlichen Zeitverlaufs mit dem Schicksal des menschlichen Körpers: Das voranschreitende Alter einer Zivilisation bedeutet nicht automatisch ihren Verfall, wie dies im Lebenslauf unausweichlich ist, sondern ganz im Gegenteil: fortschrei-
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Das goldene Zeitalter liegt nicht mehr in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. Die Geschichte wird zu einem großen Reformprojekt des Menschen. Man erfindet das Reformieren, und dabei ist es eigentlich bis heute geblieben. Kein Politiker und kein Manager kann bei seinem Amtsantritt verkünden, er wolle eigentlich ‚nichts‘ ändern. Reform setzt Machbarkeit voraus: anpacken und gestalten. Das aufklärerische Selbstbewusstsein moderner Weltbewältigung heißt: Fortschritt als Geschichtsgesetzlichkeit, als Notwendigkeit, als Selbstverständlichkeit. Die erlebbaren Fortschritte von Wissen und Technik waren Anstöße, dieses Modell auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse zu übertragen. Wenn schon Werkzeuge und Maschinen so gut funktionierten, dann sollte man entsprechende Gesetzlichkeiten auch in sozialen Getriebe aufdecken und nutzen können. Dabei wird der alte Gedanke der Erlösung zunächst aufrechterhalten, es wird ein eschatologisches Bild der Geschichte entworfen; aber es handelt sich um eine zunächst noch in religiöses Hintergrundwissen eingebettete, dann aber zunehmend säkularisierte Erlösung in der diesseitigen Welt. Im 16. Jahrhundert werden die großartigen Utopien eines perfekten Lebens auf dieser Welt entworfen, die Utopia des Thomas Morus, Campanellas Sonnenstaat, Bacons neues Atlantis. Diese Bilder einer optimierten diesseitigen Welt sind üblicherweise auf entfernten, vergessenen Inseln angesiedelt; immerhin gerade in einer Epoche, in der sich Europa anschickt, die ganze Welt zu besiedeln. Die ‚Macht des Machens‘ hat sich mit geschickten ökonomischen Rahmenbedingungen verbunden, sie hat sich beinahe in eine säkulare Omnipotenz transformiert. Omnipotenz soll in diesem Fall Stärke bedeuten, nicht unbedingt Steuerbarkeit; denn diese dynamische Kraft (die Technik, das Unternehmerische, Kreativität und Innovation als Prozess) wird zunehmend als außerhalb des Menschen befindlich erlebt, als eine eigenlogische Potenz, in ihren guten und schlechten Wirkungen. Der ‚Fortschritt‘ schreitet voran, fast ohne Akteure. Mittlerweile hat die Gestaltbarkeit neue Dimensionen erreicht, so dass vorgeschlagen wird, eine neue weltgeschichtliche Epoche auszurufen, nämlich das Anthropozän. Der Begriff soll zum Ausdruck bringen, dass der Mensch das Angesicht der Erde verändert hat, und er arbeitet daran, den menschlichen Körper in den Griff zu bekommen. Mehr an Reform kann es nicht geben. tende Stärkung und Verbesserung. Ebenso sind zyklische Modelle ausgeschlossen, die im Laufe der Zeit ebenfalls Anklang gefunden haben; sie haben häufig die Metaphorik des menschlichen Lebens (Jugend, Reife, Alter) oder die Metaphorik des Jahresverlaufes (vom Frühling bis zum Winter) benutzt.
Theorie der Reform
3.
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Die Welt und das Vorbild der Reformation: Reformimpulse
Rund um Reformation und Renaissance beginnt also die europäische Neuzeit mit ihrer im Vergleich zu anderen Hochkulturen rätselhaften Dynamik.4 Der Aufstand gegen die katholische Kirche ist nicht nur eine Reaktion auf kritikwürdige Praktiken in der Institution und nicht nur eine Sache theologischer Finessen, dieser Aufstand war sowohl Symptom des geistigen Wandels auch als ein starker Impuls für die Veränderung eines Weltbildes: Der moderne Individualismus und Subjektivismus tritt seinen Siegeszug an, in einer allgemeinen Umbruchssituation des 15. und 16. Jahrhunderts.5 Der katholische und der protestantische Mensch werden reinterpretiert und reakzentuiert. Während der katholische Mensch aufgrund seiner Erbsündenbelastung die gottgewollte Ordnung der Welt nur mit Einschränkungen erkennt und der wegweisenden Kraft der Kirche bedarf, die als exklusive ‚Heilsanstalt‘ operiert und weiß, was die Menschen zu tun haben, ist dem Protestantismus von Beginn an die Tendenz zur Aufwertung der Welt und zur Betonung der individuellen Verantwortung inhärent.6 Jeder Mensch steht an seinem Ort in der Welt, dort hat er sich zu bewähren, in einem ‚Gottesdienst‘, der mit der Alltäglichkeit verknüpft ist. Um den Gegensatz zu übertreiben: Katholisch sind Wallfahrt, Gedächtnismesse, Kerzen, Ablass, heilige Handlungen als Investitionen in das jenseitige Schick-
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Vgl. ERIC L. JONES, Das Wunder Europa: Umwelt, Wirtschaft und Geopolitik in der Geschichte Europas und Asiens, Tübingen: Mohr 1991; JARED DIAMOND, Guns, Germs and Steel. The Fates of Human Societies, London: Cape 1997. Vgl. BERNHARD JUSSEN / CRAIG KOSLOFSKY (Hrsg.), Kulturelle Reformation: Sinnformationen im Umbruch 1400 – 1600, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. Damit werden nicht die theologischen Elemente, die den Unterschied zum Katholizismus ausmachen, geleugnet oder abgewertet, etwa die Rechtfertigungslehre, die von manchen als der harte Kern aller Protestantismen betrachtet wird. In unserem Zusammenhang geht es allerdings um die Bedeutung der Reformation als eines generellen Reformanstoßes, als eines Elements eines Zeitgeistes, der die Welt als eine dynamische gesehen hat; und deshalb stehen die Lebenspraktiken im Vordergrund (auch wenn natürlich klar ist, dass sie mit den theologischen Neuerungen in engem Zusammenhang stehen). – Die neue theologische Orientierung war natürlich auch mit dem Humanismus verbunden, der sich um eine Wiederbelebung der Kultur der klassischen Antike bemühte, zugleich aber Elemente einer nationalen Identität formulierte.
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sal. Protestantisch ist die sorgfältige, gottgefällige Erfüllung der beruflichen und privaten Pflichten: die Heiligkeit des profanen Lebens. Das aber bedeutet nicht nur, im Sinne Max Webers7, eine ‚Weltbemächtigung‘, die auf das unablässige Arbeiten, Denken, Machen, Werken zielt, rastlos und entsagungsfreudig, ordnungswillig und rational diszipliniert; es findet sich auch eine modernisierungsfreundliche Weltauffassung, die Reformprogramme deshalb begrüßt, weil sie als Fortsetzung und Vollendung der großen Reformation betrachtet werden. Die katholische Kirche wird in dieser Sicht (der natürlich eine etwas kompliziertere historische Wirklichkeit gegenübersteht) mit Tradition, Statik, Rückwendung, Rückständigkeit und Hierarchie verbunden, der Protestantismus mit Neuerung, Dynamik, Offenheit, Zukunftszugewandtheit und Anpassungsfähigkeit.8 Es ist kaum übertrieben, zu sagen, dass für ihn Reform eine gleichsam heilige Handlung darstellt. Damit geht man ‚reformfreudig‘ in die Welt hinein. Das bedeutet nicht automatisch Befreiung von allem: Wenn man im Protestantismus die starke Institution der Kirche beseitigt hatte, so hatte man doch für die starke Institution des Staates etwas übrig. Zum einen betrachtete man den Staat (in Gestalt des jeweiligen Landesfürsten) als machtpolitisches Gegengewicht gegen Rom, zum anderen aber entwickelte man später ein positives Verhältnis zu jenen staatlichen Reformen, die von einem kapitalismuskritischen Sozialprotestantismus gefordert wurden, der sich gleichzeitig mit der Erweckung gestalterischer (unternehmerischer) Tatkraft gebildet hatte. Friedrich Wilhelm Graf bringt diesen ambivalenten Reformwillen auf den Punkt, wenn er sagt: „Protestanten waren emphatische Modernisierer und hilflose Modernitätsverstörte zugleich.“9 Irgendwie stehen die ‚Spätmo7 8
9
MAX WEBER, Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus (erstmals 1905), Düsseldorf: Verlag Wirtschaft und Finanzen 1992. Vgl. FRIEDRICH WILHELM GRAF, Der Protestantismus, in: Säkularisierung und die Weltreligionen, hrsg. von Hans Joas / Klaus Wiegandt, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S. 78–124, hier: S. 112. Ebd., S. 111. – Charles Taylor bringt in seinem großen Werk „Ein säkulares Zeitalter“ die Ideen von Reform und Reformation zusammen. Er beschreibt die REFORM-Großerzählung (RGE) folgendermaßen: „Die REFORM verlangt, jeder müsse ein echter, hundertprozentiger Christ sein. Die REFORM begnügt sich nicht mit der Entzauberung, sondern sie diszipliniert das Leben wie die Gesellschaft und strukturiert sie neu. Das begünstigt, zusammen mit der Zivilität, eine Vorstellung von der moralischen Ordnung, die dem Christentum und den Forderungen des Glaubens einen neuen Sinn verleiht. Dadurch wird der Abstand zwischen Glauben und Christenheit verkürzt. Das wiederum ist der Anstoß zu einer anthropozentri-
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dernen‘, also wir alle, in dieser Ambivalenz; doch die spätmoderne Weltbemächtigung hat mittlerweile ihre religiösen Appräsentationen weitgehend abgestreift, sie hat sich auf die diesseitigen ‚Halbgötter‘ Technik, Wohlstand und Konsum reduziert.10 Deshalb wenden wir unseren Blick nunmehr der ‚Welt‘ zu, in der die Reformen stattfinden sollen.
4.
Die Welt ist irritierend: Reformbedarf durch Nichtselbstverständlichkeit
Reformen hat man in einer Welt durchzuführen, die im Laufe der Modernisierung irritierender, riskanter und kontingenter geworden ist – oder in dieser Weise erfahren wird. Jede Reform beginnt mit der Irritation, dem Selbstverständlichkeitsverlust. Reformbedarf tritt auf, wenn sich irgendetwas nicht mehr von selbst versteht. Denn normalerweise leben wir in der Normalität, in einer alltäglichen Lebenswelt, die uns fraglos gegeben ist. Wenn sie fragwürdig wird, verliert sie ihre gewohnte Strukturierung, sie verliert ihre Fähigkeit, einen selbstverständlichen Rahmen und eine Sinnstruktur für Handlungen zu bieten. Die Selbstverständlichkeit des ‚Und-soweiter‘, ‚Weiter-so‘, ‚Immer-das-Gleiche‘ geht verloren, die Sicherheit der Kontinuität oder Wiederholung.11 Das gilt auf individueller und kollektiver Ebene.12 Das besagt aber auch, dass am Beginn jeder Reform die Wahrnehmung von Ungewöhnlichkeit oder Außeralltäglichkeit steht, und es stellt ein eigenes Problem dar, unter welchen Verhältnissen solche Wahrnehmungen zustande kommen oder wovon sie geprägt werden. Denn es handelt sich um eine interpretierte, symbolisierte Welt, die mit Sinnstruk-
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schen Wende und folglich zu einem Ausbruch aus der Monopolstellung des christlichen Glaubens“ (CHARLES TAYLOR, Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009, S. 1282). Vgl. DIRK BAECKER, Kapitalismus als Religion, Berlin: Kadmos 2009. Vgl. ALFRED SCHÜTZ, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt: Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1981; ALFRED SCHÜTZ / THOMAS LUCKMANN, Strukturen der Lebenswelt, Stuttgart: UVK 2003. Die Gegenwartsirritation kann nicht nur darauf beruhen, dass gewohnte bzw. stabile Verhältnisse verändert oder aufgelöst werden (also auf der Veränderung), sie kann auch auf überhöhten Erwartungen beruhen, dann nämlich, wenn eine Wachstumsdynamik, auf die man sich verlassen oder an die man sich gewöhnt hat, verloren geht (auf einer irritierenden Nicht-Veränderung, wo man doch an die Veränderung, d.h. das Wachstum, gewöhnt war).
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turen durchwirkt und mit Konstellationen von Relevanz oder Kulturbedeutsamkeit beladen ist. Es ist also nicht selbstverständlich, welche Situationen als irritierend wahrgenommen werden, worin jeweils diese Irritation besteht und wie man ihr Abhilfe leisten kann. Wenn durch Irritation Reflexions- und Handlungsbedarf entsteht, muss man jedenfalls etwas ‚tun‘: aktiv, gestalterisch, reformistisch. Das löst noch nicht das Problem, was getan werden soll, denn auch wenn alle den Veränderungsdruck akzeptieren, kann jeder eine unterschiedliche Vorstellung von den zu setzenden Maßnahmen haben: Reform versteht sich nicht von selbst. Jedenfalls geht es um die Beseitigung von Irritationen und Ängsten, Krisen und Apokalypsen, die in der modernen Welt nicht als unausweichliche Endzeitprophetien wahrgenommen werden, schon gar nicht als freudige Ankündigung eines nahenden Jüngsten Gerichts. Sie werden vielmehr als Reformanstöße verstanden: Reformen sind notwendig, damit Zusammenbruch oder Verschlechterung verhindert werden. Denn im Verständnis spätmoderner Menschen kann der Jüngste Tag warten: ‚Dein Reich komme‘, aber nicht so bald.13
5.
Die Welt ist riskant: Utopien und Dystopien
Die Aufklärung, so würden wir heute sagen, war naiv. Nichts ist uns garantiert, auch nicht der Fortschritt, und die Idee der Geschichtsgesetzlichkeit haben wir jenseits von Karl Marx abgestreift. Die Konzeptionen von Reform und Fortschritt werden ein wenig tiefer gestapelt. Erstens ist reformerische Politik an Wissen gebunden, und den Wissensoptimismus der Aufklärung halten wir für übertrieben. Zweitens hat sich die gesteigerte Machbarkeit der Welt nicht immer nur günstig ausgewirkt, Reformen können auch negative Folgen haben – die Idee wurde durch Ambivalenz angereichert. Auch totalitäre Systeme haben ‚Reformen‘ durchgeführt: ‚große Sprünge‘, Kulturrevolutionen, neue Pläne, die allesamt im Desaster ge13
Damit wird auf die Tatsache angespielt, dass in dem im Mittelalter herrschenden Verständnis des Neuen Testaments das Jüngste Gericht unmittelbar in historischer Zeit vor der Tür gestanden ist, und es wurde im Wissen, dass damit die endgültige Erlösung aus dem Jammertal des irdischen Lebens naht, als freudiges Ereignis begrüßt. Beide Komponenten, die Wiederkehr Christi und die damit verbundene Erlösung, sind in der Spätmoderne zu höchst abstrakten Kategorien geworden, und der nahende Weltuntergang wird von niemandem mehr freudig begrüßt.
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endet haben. Drittens waren manche Fortschritte wohl insofern auch nur ‚vermeintliche‘, als die unproblematische Gleichsetzung von Fortschritt (in Form technischer Neuerungen und wirtschaftlichen Wachstums) und ‚besserem Leben‘ nicht mehr plausibel zu sein scheint. Die optimistischen Utopien der Aufklärung haben längst ihre Gegenutopien gefunden, ihre Dystopien – von der Zeitmaschine von H. G. Wells und der Schönen neuen Welt des Aldous Huxley bis zu George Orwells 1984. Viele Werke ließen sich anfügen: Fahrenheit 451 oder der Krieg mit den Molchen, Uhrwerk Orange oder (neuerdings) die Unterwerfung von Michel Houellebecq. Weltuntergangsfilme haben Hochkonjunktur: Der Komet kommt, die Eiszeit kommt, der (globale) Vulkanausbruch kommt, die (ökologisch bedingte) Sintflut kommt, die Aliens kommen … Das Repertoire der Gegenwartskritik ist reichlich bestückt: Werteverfall, Kinderarmut, Unbildung, Unzucht, Religionslosigkeit, Hedonismus, Verwahrlosung, Haltlosigkeit, Entertainment-Gesellschaft, blinder Konsumismus, ökologische Katastrophe, fossile Selbstvergiftung, das Ende der Weltmeere, das Ende der Familie, das Ende der Arbeit, das Ende von allem. „Viele weltliche Institutionen und soziale Bewegungen vermarkten mit größtem Erfolg alle Arten der ursprünglich religiösen Apokalypsen als ihre Existenzgrundlage“, vermerkt Ansgar Weymann für die Gegenwart. „In unserer schnelllebigen, konsumorientierten Zeit, wie man so sagt, ist neben anderen Waren auch das Angebot an Apokalypsen weit besser als früher, vielfältiger, frischer, preiswerter, in immer neuen Verpackungen auf den Markt gebracht. Eine Neuheit jagt die nächste. Mit dem heutigen Markt an apokalyptischen und den auf diesem Marktsektor tätigen Unternehmern können die tradierten religiösen Apokalypsen in Quantität und Qualität nicht mithalten.“14 Gleichwohl besteht der blühende Apokalypsenmarkt gleichzeitig mit einem Hochglanzbroschüren- und Euphoriebotschaftenmarkt, in dem Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie immer noch als glänzende Fassade der Spätmoderne figurieren, mit vergleichsweise ritualisierten Beschwörungen von globalem Wettbewerb und Standortattraktivität oder von Forschungskompetenz und Exzellenz, je nach Themenbereich. In der westlichen Welt kann man eine sonderbare Gemengelage von Niedergangs-
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ALEXANDER K. NAGEL / BERND U. SCHIPPER / ANSGAR WEYMANN (Hrsg.), Apokalypse. Zur Soziologie und Geschichte religiöser Krisenrhetorik, Frankfurt a. M.: Campus 2008, S. 25.
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erwartungen und Fortschrittsvertrauen beobachten, und manchmal sind weder die einen noch die anderen gut begründet. Auch die Marketingmaschinerie, die für die Zukunftseuphorie eingesetzt wird, hat, so wie seinerzeit die Reformation, allerdings Konsequenzen für die Selektion von Menschentypen und für Lebensführungsideale15, so etwa durch die tendenzielle Ersetzung des gebildeten Wissenschaftlers durch einen energischen Drittmittelmanager. Doch nicht nur in speziellen Subsystembereichen, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit wabert hinter den Optimismusbotschaften das Unbehagen.16 Die vordergründige Technikeuphorie ist mit hintergründiger ‚schlechter Stimmung‘ vereinbar. Dirk Baecker stellt jedenfalls lapidar fest: „Die Moderne endet in dem Moment, in dem Technik und Vernunft, Kausalität und Kontrolle nicht mehr gleichgesetzt werden können.“17 Dass wir diese einfachen Gleichsetzungen nicht mehr vornehmen, spricht dafür, dass wir einige wesentliche Tendenzen der Wirklichkeit mitbekommen haben: Auf Vernunft und Kontrollfähigkeit ist kein Verlass, und das schmälert die Glaubwürdigkeit jedes Reformvorhabens.
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Hans-Peter Müller führt als Beispiel die sich herausbildende Zwei-Klassen-Gesellschaft der Universität an: auf der einen Seite die Natur- und Ingenieurwissenschaften einschließlich der Medizin und der Lebenswissenschaften, auf der anderen Seite die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften. „Vorherrschend werden in erster Linie materialistische und utilitaristische Werte und Ziele, die Prämien auf methodisch-rationale und hedonistische Lebensführungsmuster setzen. Diese ‚Umwertung der Werte‘ spiegelt sich beispielhaft im Schicksal der Religion, die als Institution wie als Lebensführungsmacht an Einfluss verloren hat“; HANS-PETER MÜLLER, Über das Verhältnis von Tradition und Modernität, in: Neugier: Vom europäischen Denken, hrsg. von Karl H. Bohrer / Kurt Scheel (Merkur Sonderheft), Stuttgart: Klett-Cotta 2008, S. 903–910, hier: S. 907. Auch auf der Universität ist es nicht nur die übliche Konfrontation der beiden genannten Wissenschaftsfelder, die durch moderne Logiken von Rankings, Evaluierungen und Drittmittel-Wettbewerben angeheizt wird, sondern auch die Selektion von ‚Forschertypen‘ und ‚Forschungsidealen‘ – aber das wäre ein anderes Thema. Vgl. PETER L. BERGER / BRIGITTE BERGER / HANSFRIED KELLNER, Das Unbehagen in der Modernität, Frankfurt u. a.: Campus 1975. DIRK BAECKER, Designvertrauen. Ungewissheitsabsorption in der nächsten Gesellschaft, in: Merkur 69, Nr. 799 (2015), S. 89–97, hier S. 92.
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6.
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Die Welt ist kontingent: das Unberechenbare und die Grenzen der Reform
Manchmal ist die Kritik ungerecht gegenüber den Reformern. Angesichts der Widerständigkeit einer in Komplexitäten zerfaserten Welt ist Reform nicht einfach. Auf der einen Seite bedeuten Enttraditionalisierung und Ausdifferenzierung einen Zuwachs an Kontingenzen und Kontingenzerfahrungen: wegen Vernetzung, wegen Komplexität, wegen vielerlei Dingen.18 Das steigende Wissen gebiert noch rascher steigendes Nichtwissen; denn da und dort erkennen wir erst durch neue Erkenntnis, was es zu wissen gäbe, und vermuten, dass wir gar nicht wissen, was wir alles nicht wissen. Immer wieder wird man mit der Nase auf bislang Unbedachtes gestoßen. Auf der anderen Seite wertet der moderne Reformbegriff den Menschen weiter auf – er wird nicht mehr von einer Geschichtslogik getragen, die Reform ist ganz in seine Verantwortung gestellt, man kann nichts mehr mächtigen Überirdischen in die Schuhe schieben. Man muss – paradoxerweise – mit dem Unberechenbaren rechnen. Wenn Maßnahmen nicht funktionieren, ist man jedenfalls selbst schuld. Es ist ein neues Zurechnungsverfahren, eine Beweislastumkehr. Der eingriffsfreudige Mensch ist der ‚Verursacher‘, auch wenn die Sache schiefgeht; und dennoch wird der erwünschte Eingriff von ihm erwartet, auch wenn er anstelle von Kompetenzen nur diffuse Vorstellungen besitzt. Das Reformverlangen übertrifft die Reformkapazität, insbesondere wenn es sich auf politische Programme richtet. Das Gefühl, dass diese sich selbst lobende ‚Wissensgesellschaft‘ in beträchtlichem Ausmaß auch eine ‚Unwissensgesellschaft‘ darstellt, lässt sich kaum abweisen. Die Vermutung, dass man mit der jeweils eigenen Ignoranz zu kämpfen hat, ohne die Grenzen dieser Ignoranz ganz genau feststellen zu können, kollidiert mit jenem Reformvertrauen, welches am Beginn entsprechender Maßnahmen stehen muss. Mit jedem Reformschritt begibt man sich auf dünnes Eis, man weiß es, darf es aber nicht erkennen lassen. So sieht sich die Politik genötigt, Reformen zu simulieren, aber die
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Vgl. WOLFGANG KNÖBL, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt a. M. u. a.: Campus 2007; MICHAEL MAKROPOULOS, Modernität und Kontingenz, München: Fink 1997; RICHARD RORTY, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989.
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Maßnahmen zu großen Taten aufzublasen. So sieht sich die katholische Kirche genötigt, einige Reformen anzugehen, mit großer Vorsicht, um sich einerseits wieder der Wirklichkeit (und den Vorstellungen des größeren Teils des Fußvolks) ein wenig anzunähern, andererseits eine neuerliche Kirchenspaltung oder Sezessionen zu vermeiden.
7.
Die Welt ist eine planbare Maschinerie: das Modell des Selbstbewusstseins
Reform braucht Selbstbewusstsein und tanzt, wie soeben festgestellt, doch immer öfter auf ‚dünnem Eis‘. Deshalb ist es angebracht, einen kurzen Blick auf zwei gegensätzliche Vorstellungen von Reformpolitik zu werfen: Die erste Variante orientiert sich am Optimismus einer Wissens- und Wissenschaftsgesellschaft, an Steuerungskompetenz und Zukunftsplanung. Die zweite Variante hält ehrgeizige Vorhaben dieser Art zum Großteil für eine Hybris, die an ihren Versprechungen scheitern muss. Das Areal der wirklichen Reformen liegt irgendwo dazwischen – oder (je nach Sachgebiet) stärker auf der einen oder auf der anderen Seite. Im neuzeitlichen Europa haben sich patrimoniale Verwaltungsstäbe in rationale Bürokratien verwandelt, und die ‚rationale Staatsbürokratie‘ erweckte den Anschein einer großen Maschinerie, die den laufenden Betrieb verwalten und Reformen sowohl initiieren als auch durchführen konnte.19 Dort war (und ist bis heute) der (praktische, legistische, organisatorische) Sachverstand beheimatet. Die Sachkompetenz, die man seinerzeit in Kameralistik und Polizeywissenschaft verortete, wird in der Moderne unter den Titeln Technokratie und Politikberatung rubriziert. Das Technokratiemodell hat in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit eine Regierung oder Verwaltung ins Auge gefasst, in der politischadministrative Reformmaßnahmen auf der Grundlage fachlicher Analysen oder Vorschläge durchgeführt werden. Politik, sogar Demokratie, werde dieser Vorstellung nach überflüssig, denn die effektiven und zielführenden Maßnahmen seien von den Experten zu entwickeln. Demokratische Abstimmung wäre sinnlos, wenn man die besten Ergebnisse gewissermaßen
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Vgl. MAX WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen: Mohr 1976.
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‚ausrechnen‘ kann: Sachverstand und Information statt Politik und Ideologie.20 Die damit ausgerufene Expertengesellschaft braucht, je nach Variante, Philosophen, Soziologen, Techniker, Raumplaner oder Administratoren. Mittlerweile ist jedoch die westliche technokratische Variante nicht nur zum gängigeren (und bescheideneren) Etikett der Governance modifiziert worden, zugleich sind die Erwartungen an technokratische Leistungsfähigkeit gesunken: „Die reformpolitische Emphase, die in den frühen 70er Jahren politisch-administrative Akteure und Sozialwissenschaftler geradezu in Reformkoalitionen vereinte, ist verflogen.“21 Die beste Zeit der Reform scheint vorüber – oder zumindest die Reformbegeisterung; was bleibt, ist eher lustlose Reform. Die westliche Variante mag im Abstieg sein, die östliche Variante, die sozialistische Planwirtschaft, ist überhaupt zusammengebrochen. Diese Phase der Geschichte, der Versuch, das Projekt der Moderne mit den Mitteln einer naiven Aufklärungs- und Planungsvernunft zu bewältigen, ist so gut wie vorüber, das letzte ausgeprägte Exemplar finden wir in Nord-
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Planung im Sinne rationaler Reform beruht auf der Vorstellung, dass es klare und eindeutig geordnete Ziele, Mittel und Kausalitäten gibt, dass es valide und reliable Indikatoren für die Effizienz und die Zielerreichung gibt und dass sich die einzelnen Projekte in einer konsistenten Weise zu einer Gesamtverbesserung zusammenfügen lassen. Aber alle diese Voraussetzungen sind in Wahrheit in einer spätmodernen Gesellschaft nicht gegeben. Ziele lassen sich nur unvollkommen formulieren und sie erweisen sich als ziemlich veränderlich. Das Verhältnis von Zielen und Mitteln ist oft unklar, Mittel sind selbst widersprüchlich, sie weisen nicht beabsichtigte und nicht wahrgenommene Nebenfolgen auf; Kausalitäten sind keineswegs offenkundig, sie sind nicht linear, es gibt Sprungstellen. Oft lassen sich die Zieldimensionen selbst gar nicht recht formulieren, die Prioritäten und Reihenfolgen sind verwickelt und gegenläufig. Alle Indikatoren messen nur unvollkommen, was man anstrebt, und alle Akteure bemühen sich um ihre Manipulation. Maßnahmen, die gesetzt werden, werden in den verschiedenen Ebenen der Administration oder Institution missverstanden, umgestaltet, reinterpretiert, umgangen. Wenn man oben einen bestimmten Impuls setzt, weiß man selten, wie dieser ganz unten (beim ‚Fußvolk‘) ankommt und was er schließlich bewirkt. Reaktionen von Implementatoren und Betroffenen sind wechselseitig zu antizipieren, und das gelingt nur ansatzweise … Helmut Willke kommt deshalb zu dem lapidaren Schluss: „Planung ist eine viel zu anspruchs- und voraussetzungsvolle Veränderungsstrategie, sobald sie auf nicht-triviale Systeme angewendet werden soll“; HELMUT WILLKE, Ironie des Staates. Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 117. HELLMUT WOLLMANN, Politikberatung, in: Wörterbuch Staat und Politik, hrsg. von Dieter Nohlen, München: Piper 1993, S. 493–498, hier S. 497.
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korea.22 Planwirtschaften haben (auch mit den moralischen Varianten von ‚autonomer Entwicklung‘ und ‚Befreiungstheologie‘) überall versagt – nicht weil sich die Freiheitsbestrebungen des Volkes durchgesetzt haben, welches man mit einer durchschlagskräftigen Diktatur ziemlich lange unterdrücken kann, sondern weil eine geplante Wirtschaft mit der Komplexität moderner Verhältnisse nicht zu Rande kommt. Sie mag ein mögliches Modell für einfaches Wirtschaften sein: Man kann damit die Stahlproduktion steigern. Man kann damit aber kein modernes Auto oder Smartphone bauen. Mit der selbstüberschätzenden ‚Planungshybris‘ sind sowohl im westlichen als auch im östlichen Modell die ‚Heilserwartungen‘ geschwunden, die mit diesem jeweils verbunden waren: Die innerweltliche Erlösung durch Reform ist im Scheitern.
8.
Die Welt ist unsteuerbar komplex: das Modell der Bescheidenheit
Übertriebene Planungsvorstellungen, so melden Kritiker, beruhen auf Uneinsichtigkeit und Größenwahn. Edmund Burke, der scharfe Beobachter und Kritiker der Französischen Revolution, die ja alsbald in die Terrorherrschaft der Jakobiner 1793/94 mündete, war ein Konservativer, der für Reformen eintrat, aber zugleich vor einem übertriebenen Rationalismus in der Politik warnte, einem Vernunftglauben, der seines Erachtens zwangsläufig in den Despotismus führen müsse.23 Der Versuch, ein umfassendes Gesellschaftsmodell zu entwickeln und durchzusetzen, scheitere an der Realität und an der menschlichen Natur. Gesellschaftliche Institutionen
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Vittorio Hösle bewertet das sowjetische Modell nicht nur als Rückfall in die Despotie, sondern hält es für viel schrecklicher als den Zarismus. Es war ein durchaus modernes Produkt, „gleichsam der Jakobinismus einer relativ primitiven Gesellschaft, die mit aller Gewalt industrialisiert wurde. In ihm drückt sich eine Form von Machtbesessenheit aus, die jeden Gedanken an eine objektive moralische Ordnung und an ein individuelles Gewissen verwirft und die historisch die Krise der monotheistischen Religionen voraussetzt: ihr Ausschließlichkeitsanspruch wird übernommen, ihr Transzendenzbezug aufgegeben“; VITTORIO HÖSLE, Moral und Politik. Grundlagen einer politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München: Beck 1997, S. 735. Vgl. EDMUND BURKE, Betrachtungen über die Französische Revolution, Zürich: Manesse 1987.
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seien historisch gewachsen und angepasst worden, sie verkörperten also Erfahrungen; und man solle sie nur dann durch etwas anderes ersetzen, wenn man ganz sicher sei, dass die neue Lösung die bessere sei. In ähnlicher Weise, nur in liberaler statt in konservativer Akzentuierung, hat Friedrich von Hayek auf die begrenzten Reformkompetenzen der Menschen hingewiesen. In seiner Theorie der komplexen Phänomene sagt er, ganz im Sinne der Adam-Smith- und Carl-Menger-Tradition, dass hinsichtlich der theoretischen Erklärung geistiger und gesellschaftlicher Phänomene das Eingeständnis unausweichlich sei, „dass hier die konkreten Umstände, von denen die individuellen Ereignisse abhängen, in der Regel so zahlreich sind, dass wir sie praktisch nie alle ermitteln können und dass folglich nicht nur das Ideal ‚Voraussage und Kontrolle‘ weitgehend unerreichbar ist, sondern auch die Hoffnung, wir könnten durch Beobachtung regelmäßige Beziehungen zwischen den individuellen Ereignissen entdecken, illusorisch bleibt“24. Hayek ist deshalb skeptisch hinsichtlich umfassender Reformen.25 Es sei ein grundlegender intellektueller Irrtum, anzunehmen, dass die Menschen genug Einsicht in die komplexen Verhältnisse oder genug Voraussicht hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen besäßen, um Institutionen ex nihilo schaffen oder umfassend verändern zu können. Konstruktivistische Illusionen über Machbarkeit und Gestaltbarkeit scheiterten an der Komplexität der Welt und an den Grenzen der Verarbeitungsfähigkeit von Information durch die Menschen. Wir hätten nur die Chance, uns auf das akkumulierte Wissen und die Erfahrungen der Generationen vor uns zu stützen, deshalb seien gewachsene oder spontane Ordnungen am effizientesten. Für Hayek ist diese evolutionäre Perspektive der entscheidende Grund, größtmögliche gesellschaftliche Freiheit zu for-
24 25
FRIEDRICH A. VON HAYEK, Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen: Mohr 1972, S. 25. Das kulturelle Erbe, in das die Menschen hineingeboren werden, besteht nach Hayeks Meinung aus einem Komplex von Praktiken oder Verhaltensregeln, die sich durchgesetzt haben, weil sie sich als erfolgreich erwiesen haben, nicht aber deshalb, weil bereits vorher bekannt war, dass sie bestimmte erwünschte Effekte zeitigen würden. Das ist der Unterschied zwischen Planung/Konstruktion auf der einen und Evolution/Selektion/Praktik auf der anderen Seite. Man kann das von Hayek angesprochene Problem auch als Beweislastregel formulieren: Die bestehenden Institutionen haben das gute Argument für sich, dass sie akkumulierte Erfahrung in sich bergen. Um sich über dieses Potential hinwegzusetzen, muss der planende Neuerer sehr gute Gründe vorbringen können, um die Wahrscheinlichkeit einer Verbesserung plausibel zu machen.
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dern: Es müssen möglichst viele Gelegenheiten für den Eintritt von Zufälligkeiten geschaffen werden; die meisten Neuerungen gehen schief, aber einige sind essenziell für die Erhaltung der Zivilisation.26 Beide Autoren, Burke und Hayek, sind sich in der Botschaft einig: Keine Selbstüberschätzung. „Kleine Reformen“ bevorzugen. Versuch und Irrtum. Schritt für Schritt.27 Das sei der einzig erfolgversprechende Reform-Modus.
9.
Die Welt ist krisenhaft: Reform als Krisenbewältigung
Eine Reform ist eine von den Machtträgern ausgehende Veränderung der Verhältnisse,28 und der Normalfall einer Reform liegt vor, wenn eine Krise
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FRIEDRICH A. VON HAYEK, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen: Mohr 1983, S. 38 f. – Norbert Elias äußert sich in seinen beiden Bänden über die Zivilisationstheorie ähnlich: Die „fundamentale Verpflichtung der einzelnen, menschlichen Pläne und Handlungen kann Wandlungen und Gestaltungen herbeiführen, die kein einzelner Mensch geplant oder geschaffen hat. Aus ihr, aus der Interdependenz der Menschen, ergibt sich eine Ordnung von ganz spezifischer Art, die zwingender und stärker ist als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden“; NORBERT ELIAS, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978/79, Bd. 2, S. 314. Ganz ähnlich hat Friedrich Tenbruck Aufstieg und Niedergang der (Sozial-)Wissenschaften beschrieben. Ende des 19. Jahrhunderts, so meint er, begann sich die Wissenschaft darüber klar zu werden, dass sie keine große Ordnung in ihren Wahrheiten erkennen würde, und selbst die Wahrheiten seien der Vorläufigkeit und Perspektivierung unterlegen. „Damit kommt die Konstellation an ihr Ende, aus der die Neuzeit hervorgegangen ist. Aus dem Zerfall des Mittelalters, aus Renaissance, Humanismus und Reformation gingen ganz unterschiedliche Kräfte hervor, die erst gemeinsam in die Richtung einer beharrlichen Modernisierung einmünden, als die Neuzeit Wissenschaft, Gesellschaft und Legitimität in einer eigentümlichen Konstellation zur Deckung brachte und damit einen neuen Glauben erzeugte. Es entstand jener Pakt, in dem die Wissenschaft den Menschen versprach, die Rätsel der Welt zu lösen, wofür die Menschen ihr absolute Geltung zusicherten“; FRIEDRICH H. TENBRUCK, Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz / Wien u. a.: Styria 1984, S. 138. Reformen modifizieren die Verhältnisse, sie führen allerdings zu keiner grundlegenden Veränderung der Machtverhältnisse. Sie können allerdings dennoch im Laufe der Zeit, auch wenn sie nur Schritt für Schritt getätigt werden, zu tiefgreifenden Struktur- und Mentalitätsveränderungen führen; deshalb sind künstliche Unter-
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eintritt – die Krise erzwingt eine Reform. Es entsteht eine Situation, die sich nicht in der gewohnten Weise bewältigen lässt, die Aufmerksamkeit erfordert, in der die Routine nicht mehr funktioniert und Neues vonnöten ist.29 Damit kommen wir zu einem Komplex von Sachverhalten, die sich in ihrer Dramatik steigern können: von der Krise über die Revolution bis zum Kollaps. An Krisenbefunden besteht kein Mangel: die neue Weltwirtschaftskrise, die Krise des ökologischen Systems, die Krise der Demokratie, der Pension oder der Weltmeere, die Flüchtlingskrise und jene der Geschlechter, die Bankenkrise, die Terrorkrise, die Europakrise und viele andere. Das mag auf die Grundstimmung einer Epoche hindeuten, die auf den erwähnten Fortschritt nicht mehr bauen kann. Zwei Unterscheidungen sind jedoch aufschlussreich.30 Erstens: Krisenwahrnehmung und Krisenwirklichkeit, also subjektive und objektive Ebene, kommen nicht immer zur Deckung.31 Die Menschen
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scheidungen zwischen Reform und Revolution, zwischen Systemmodifikation oder Systemveränderung, wie sie so häufig die Diskussion beherrscht haben, nicht sonderlich erhellend. Die erfolgreiche Reform soll ein neues Regelsystem in Kraft setzen, das freilich, gerade wenn die Reform gelingen soll, wieder zu einer neuen Routine, zu einer neuen Selbstverständlichkeit, werden kann. Wenn die Reform nicht ‚veralltäglicht‘, ist sie nicht gelungen. Die neuen Verhältnisse sind unter Umständen gerade dann wieder gefährdet, wenn die Erinnerung daran, dass sie nicht selbstverständlich sind, im Schwinden begriffen ist. Vgl. MANFRED PRISCHING, Krisen. Eine soziologische Untersuchung, Wien / Graz u. a.: Böhlau 1986; REINHART KOSELLECK, Art. Krise, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck / Rudolf Walther, Stuttgart: Klett-Cotta 2004, Bd. 3, S. 617–650. Eine erfolgreiche Reform lässt sich dann durchführen, wenn sich eine objektiv vorhandene Krise auch im Bewusstsein der Menschen niederschlägt, wenn sie adäquat wahrgenommen wird, wenn also die subjektive und die objektive Dimension zur Deckung kommen. Aber diese Selbstverständlichkeit ist eigentlich schon wieder zu rationalistisch gedacht. Man könnte auch über politische Unanständigkeiten meditieren: (a) Subjektive Krisenwahrnehmung, objektiv keine Krise: Es wäre für das politische System eine gute Gelegenheit, Kompetenz für die Krisenbewältigung zu beweisen, denn man braucht eine Reform nur zu inszenieren, die gar nichts Wesentliches verändert – und man könnte damit die gar nicht vorhandene Krise bewältigen. (b) Objektive Krise, keine subjektive Wahrnehmung: Der politische Apparat könnte die tatsächlich vorhandene Krisensituation, die zu Turbulenzen führen könnte, auf der ‚Hinterbühne‘ bereinigen, ohne die eigene Legitimität zu beeinträchtigen. ‚Glücklicherweise‘ bekommt die Wählerschaft gar nicht mit, was wirklich passiert.
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können Krisenängste haben, wo es in Wahrheit gar keine Krise gibt. Wenn subjektiv, in der Stimmungslage der Menschen, eine der Realität gar nicht entsprechende Krisensituation wahrgenommen wird, handelt es sich oft um die Erzeugung von Krisenstimmungen durch Medien und durch Politiker, zum Zwecke der Erreichung politischer Ziele. Ängste vor einem aktuellen Flüchtlings-Tsunami32 gehören teilweise in diese Kategorie.33 Der umgekehrte Fall befasst sich mit dem Bestehen einer objektiven Krise, die von den Zeitgenossen subjektiv nicht (oder jedenfalls nur in unzureichender oder verzerrter Weise) wahrgenommen wird. Eine strukturelle Krise mag sich in einem solchen Fall dahinschleichen, verschärfen oder zuspitzen; und wenn mangels Wahrnehmung keine Abhilfe geschaffen wird, kann sich das eskalierende Problem zu einem Krisenereignis verdichten – und die letzten Endes unvermeidbare Krisenwahrnehmung kann zu spät kommen. Als Beispiel drängt sich der Klimawandel auf: Solange die Bäume noch grün sind, gibt es keine Krisenerfahrung; wenn die Bäume nicht mehr sprießen, also das Krisenereignis eintritt, ist vermutlich nicht mehr viel zu tun. Die Phase der Nichtwahrnehmung eines Reformbedarfs geht unmittelbar in die Phase der Nichtreformierbarkeit (in die Phase der ‚verpassten Reform‘) über. Zweitens sind ereignishafte und strukturelle Krisen zu unterscheiden. Es gibt strukturorientierte oder systemische Krisen, die als Prozesse verstanden werden, in denen die Struktur eines Systems in Frage gestellt 32
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Dabei wird auf aktuelle Katastropheninszenierungen abgestellt, in denen ein Sensationalismus obwaltet, der durch wirkliche Ereignisse nicht gerechtfertigt ist: Den europäischen Ländern drohe der Zerfall, nur weil syrische Flüchtlinge an der europäischen Mittelmeerküste landeten. Es wird aber mit diesem Beispiel nicht geleugnet, dass die Migrationssituation, insbesondere mit dem Blick auf die afrikanische (demographische und ökologische) Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten, zu einem gewaltigen (vielleicht zu dem entscheidenden) europäischen Problem des 21. Jahrhunderts werden wird. Wenn die politischen Instanzen geschickt sind, wird in einem solchen Fall eine Reform simuliert, weil man den gefühlten Handlungsbedarf der Wählerschaft nicht einfach ignorieren kann. Allenfalls mag diese Reform an der Sache gar nichts ändern, sie wird sie hoffentlich nicht verschlechtern. – Es gibt aber auch jene Fälle, in denen ein permanenter politischer Reformbedarf formuliert wird, obwohl die objektive Sachlage nicht problematisch erscheint – und wenn dann zum Nachweis der politischen Handlungsfähigkeit permanente Reformen durchgeführt werden, die an der wirklichen Problemlage vorübergehen, können diese die Leistungsfähigkeit der betroffenen Institutionen verringern (weil beispielsweise alle Akteure im System nur noch mit der Bewältigung von dauernden Reforminitiativen beschäftigt sind). Manchen fällt zu einer solchen Konstellation das Beispiel Schule ein.
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wird,34 weil relevante Variablen nicht mehr innerhalb bestimmter Bandbreiten gehalten werden können: eine langfristige Systemdesintegration; der soziale Prozess läuft aus dem Ruder.35 Diesen strukturellen Phänomenen stehen ereignishafte Krisen gegenüber, Entscheidungsprozesse unter Zeitdruck: „eine Situation, in der das bisherige Verhalten irgendwelcher wichtiger Akteure unter Zeitdruck geändert werden muss, wenn nicht ein ganz großer Wertverlust oder eine schwere Schädigung des Systems eingeleitet werden soll.“36 Die Ignoranz gegenüber einer strukturellen Krise führt oft zu einer Ereigniskrise, zu einer echten Gefährdungssituation. Rechtzeitige Reform hätte diese unter Umständen abwenden können.37 Spannungen in der Kirche gab es beispielsweise lange vor Martin Luther, doch waren die Machthaber der Überzeugung, dass die Sektenbewegungen mit herkömmlichen Mitteln in den Griff zu bekommen wären. Es gibt konservierende Fehleinschätzungen, deren Folgen man zu tragen hat – wenn man Reform versäumt oder Reformen in der falschen Richtung (zurück in die unwiederbringliche Vergangenheit) versucht. Am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts versuchten beispielsweise einige Päpste, den Kern des Glaubens mit aller Kraft zu festigen und Aufruhr und Zweifel zu vertreiben. Eine lange Reihe von Phänomenen der modernen Welt wurde geächtet, nicht nur Demokratie und Liberalismus, selbst die wissenschaftliche Bibelexegese, die sich gerade im 19. Jahrhundert unter historisierendem Einfluss entfaltet hatte. Treueeide wurden abverlangt. 34
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CLAUS OFFE, ‚Krisen des Krisenmanagements‘. Elemente einer politischen Krisentheorie, in: Martin Jänicke (Hrsg.), Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, Opladen: Verlag für Sozialwissenschaften 1973, S. 197–223. RUDOLF VIERHAUS, Zum Problem historischer Krisen, in: Historische Prozesse, hrsg. von Karl-Georg Faber / Christian Meier, München: dtv 1978, S. 313–329. KARL W. DEUTSCH, Zum Verständnis von Krisen und politischen Revolutionen, in: M. Jänicke (Hrsg.), Herrschaft und Krise (Anm. 34), S. 90–100, hier: S. 92 f. Rechtzeitige Reform kann die Revolution abwenden. In der sozialistischen Bewegung pflegte man – bis herauf in die neomarxistischen Sechzigerjahre – reformistische Maßnahmen als Verhinderung von ‚echter‘ Revolution zu diskreditieren. Aber Eduard Bernstein, der als weitblickender Revisionist in die Geschichte eingehen sollte, hielt bereits vor dem Ersten Weltkrieg die revolutionäre Perspektive der orthodoxen Kommunisten für unrealistisch und baute auf einen allmählichen Übergang zum Sozialismus. Da war er sich nicht nur mit dem österreichischen Marxisten Rudolf Hilferding einig, sondern (paradoxerweise) auch mit dem konservativen Kanzler Otto Bismarck, der sich schon früh im Klaren war, dass Arbeiterschutz und Sozialpolitik – also arbeits- und sozialpolitische Reformen – vonnöten waren, um einen Aufstand der Arbeiterbewegung zu verhindern.
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Man wollte mit dieser Retro-Reform ‚Fels in der Brandung‘ sein.38 „Doch“, wie Peter Watson lapidar feststellt, „außerhalb der katholischen Kirche hörte kaum ein Mensch zu.“39 Denn gleichzeitig kündete eine große Modernismus-Bewegung in der Kunst und in den Geisteswissenschaften von der Ankunft einer postromantischen, postindustriellen und postreligiösen Befindlichkeit; Charles Darwin war akzeptiert, Karl Marx fand man interessant, Sigmund Freud stand vor der Tür, Friedrich Nietzsche hatte schon den Tod Gottes verkündet. Da musste ein Reformversuch, der darauf zielte, sich gegen alles Moderne zu stemmen, einfach ‚aus der Zeit fallen‘; eine Aktion, die nur noch als dysfunktional, ja sogar als skurril wahrgenommen werden konnte – mit Langzeitwirkungen über die nächsten Jahrzehnte. Andere aktuelle Beispiele liegen auf der Hand: Eine langfristige Migrationsproblematik wird zunächst nicht wahrgenommen, aber sie führt irgendwann zu einer ereignishaften Krise; und diese aktuelle Krise wird einige Zeit auf der Ebene von Symptomen zu bewältigen versucht – ein Beispiel für Reformbedarf, bei dem allerdings Lösungen nicht absehbar sind. Eine langfristige Finanzialisierung der globalen Wirtschaft findet statt, die sich irgendwann in einer Bankenkrise entlädt; und man hat nicht den Eindruck, dass das entsprechende System mittlerweile durch institutionelle Maßnahmen stabilisiert worden wäre – ein Beispiel für Reformbedarf, bei dem wirksame Lösungen durch Machtverhältnisse verhindert werden.
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Die Rede ist von den Päpsten Pius IX. und Leo XIII. (Syllabus errorum), vor allem aber von Pius X. und seinem Antimodernisteneid 1910. Es machte sich eine ‚katholische Wagenburgmentalität‘ breit. Es gehört zu den pikanten Elementen der Weltgeschichte, dass gerade zu dieser Zeit modernistische Strömungen im Islam eine besondere Bedeutung gewannen: „Um 1900 war es nicht unrealistisch, den modernistischen Tendenzen im Islam, die sich stark voneinander unterschieden, eine große Zukunft vorherzusagen. Ihr Niedergang im Zeitalter von säkularem (etwa kemalistischem) Nationalismus, Faschismus und bolschewistischem Sozialismus gehört in eine andere Epoche – und in eine Geschichte verpasster Gelegenheiten“; so JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München: Beck 2011, S. 1275 f. PETER WATSON, Ideen. Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne, München: Goldmann 2008, S. 1119.
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10. Die Welt kann revolutionär werden: Reformen außer Kontrolle Revolutionen entstehen nicht, wie man in der Marxʼschen Tradition annahm, aus Elend und Verzweiflung. Im Elend sind die Menschen tagtäglich mit ihrem Überleben beschäftigt, und ihre Lage macht sie apathisch. Theoretisch kann man sich dabei auf das Tocqueville-Davies-Modell berufen: Reformen, die zu ‚Lockerungen‘ oder ‚Verbesserungen‘ führen, führen eine ‚kritische‘ Phase herbei.40 Denn wenn sich die Situation verbessert, werden Erwartungen ausgelöst, in denen die Verbesserung extrapoliert wird; und wenn es gegenüber diesen Erwartungshaltungen einen Backlash gibt, eine Rezession oder Krise, bricht sich die Enttäuschung Bahn und es kann zu Demonstrationen und Gewaltakten kommen. Ein durchwegs repressives Regime ist weniger gefährdet als eine reformbereite Regierung – deshalb reagieren autoritäre Regime oft stark auf oppositionelle Bestrebungen: principiis obsta! Reformen können ungewollt zu Revolutionen werden.41 Das war auch
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JAMES C. DAVIES, Eine Theorie der Revolution, in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels, Königstein/Ts.: Athenäum Hain Scriptor Hanstein 1979, S. 399–417. Manche Diskussionen kommen einem fremd vor, auch wenn sie erst vor wenigen Jahrzehnten gängig waren. Dazu gehört etwa der Streit darüber, dass Reformen abzulehnen seien, weil sie bloße Systemmodifizierungen darstellen, ja vielleicht sogar die systemverändernde Revolution verhindern. Durchgreifende Reform kann revolutionär sein, sowohl Reform als auch Revolution kann zur „Systemveränderung“ führen – was immer das sein mag. In einem Wörterbuchartikel von Fritz Vilmar heißt es: „Wenn [demokratischer Sozialismus] sich zum Weg schrittweiser Reformen bekennt, so sind Reformen mit systemveränderndem Charakter gemeint. Systemverändernde Reformen haben die schrittweise Verwirklichung der Selbstbestimmung der Menschen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens zum Zweck, den Abbau von Fremdbestimmung, von sozialer wie psychischer Verelendung, die Herstellung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der es keine Macht, keine Herrschaft von Menschen über Menschen mehr gibt, die nicht realdemokratisch kontrolliert und auf das funktional unabdingbar Notwendige reduziert wäre. Eine revolutionäre, die Gesellschaft grundlegend revolutionierende Reformstrategie kann nur erfolgreich sein, wenn sie in mehreren gesellschaftlichen Teilbereichen gleichzeitig ansetzt“; FRITZ VILMAR, Demokratischer Sozialismus, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, München: Piper 1993, S. 80–81, hier: S. 81. Es ist interessant, dass ein solcher Text, der aus dem Jahre 1991 stammt, eine recht ‚historische‘ Anmutung vermittelt; sowohl Sprache als auch Argumentation
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schon der Fall bei Martin Luther, der einer von vielen war, welche die Kirche reformieren wollten – aber am Ende stand die Spaltung (trotz der mit Verzögerung einsetzenden innerkirchlichen Reform, etwa durch das Konzil von Trient). Wenn man die bekannte Unterscheidung zwischen exit und voice trifft,42 dann war bei Martin Luther voice beabsichtigt: Kritik an der Kirche und Reform der Institution. Doch es wurde Exit daraus, Revolte.43 Bescheidene Reformideen hatte auch Michail Gorbatschow: Er wollte keineswegs die Sowjetunion beseitigen, ja nicht einmal die führende Rolle der kommunistischen Partei gefährden – er wollte Transparenz und Pluralität, ein menschliches Gesicht für den Kommunismus. Glasnost und Perestroika sind reformistisches Vokabular. Entscheidend war aber sein Gewaltverzicht, durch den binnen kurzer Zeit das ganze System implodierte. Der Verzicht auf einen (blutigen) Showdown ist in einer solchen Situation eine historische Leistung; im Normalfall wird Unglaubwürdigkeit durch Steigerung von Gesinnungsintensität und Krisenzuspitzung durch Gewaltanwendung zu bewältigen versucht. In solchen Situationen herrscht oft eine dramatische Eskalationsdynamik. Sie macht aus Krisen Revolutionen und radikalisiert innerhalb der Revolution. Revolutionäre wollen einander überbieten: die noch reinere Lehre, die wahrere Gesinnung. Im Wettbewerb lassen sich Gegner unschwer der Kompromisslerei zeihen, des Verhaftetseins in der alten Welt, oder als halbherzige cunctatores hinstellen. In die Kategorie von Reformen, die ungewollt zu Revolutionen werden, mag man auch die britische Politik der letzten Monate (Frühjahr 2016) einordnen: Eine Agitation, die aus innenpolitisch-parteipolitischen Gründen angezettelt wurde und den Reformdruck auf die Partnerstaaten in der EU erhöhen sollte, hat zu einem Ergebnis geführt, das von den relevanten
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scheinen aus einer Zeit zu stammen, die bereits einige Jahrzehnte weiter zurückliegt. ALBERT O. HIRSCHMAN, Abwanderung und Widerspruch, Tübingen: Mohr 1974. Die ‚reformatorische‘ Revolution hatte längerfristige Konsequenzen: das allgemeine Priestertum der Gläubigen, eine gewisse Demokratisierung und Individualisierung der Religion, die Bildung weiterer Glaubensgemeinschaften, die Abspaltung der englischen Kirche. – Auch hinter der offiziellen Versöhnlichkeit bei der 500-Jahr-Feier stecken noch Vorbehalte der großen Denominationen: Für manche Funktionäre der katholischen Kirche ist – bei aller offiziellen Versöhnlichkeit – das Gedenken um die fünf Jahrhunderte kein ungetrübter Anlass zum Feiern, schließlich handelt es sich um ein Abtrünnigkeits- und Spaltungsgeschehen; und was unmittelbar folgte, waren die Glaubenskriege.
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Akteuren nicht beabsichtigt wurde, und weitere „revolutionäre“ Überraschungen (in Schottland und Nordirland) könnten folgen. Manchmal sind politische Strategen am Werke, die sich selbst austricksen. Fast alle Revolutionen scheitern. Von den großen historischen Referenzereignissen war nur die amerikanische Revolution erfolgreich, sowohl die französische als auch die russische haben binnen kurzer Zeit im Blutbad geendet. Was Freiheitsstreben war, mündet in Diktatur. Was Befreiung von Angst und Unterdrückung hätte sein sollen, mündet in Pogrome und Massenvernichtung. Die Französische Revolution hat die Massenliquidierungseffizienz (mittels Guillotine) wesentlich gesteigert. Die Russische Revolution hat mit herkömmlicheren Mitteln in den zwanziger Jahren etliche Millionen Menschen zu Tode gebracht.44 Der chinesische Sprung vorwärts und die Kulturrevolution werden in der Geschichte mit 40 bis 70 Millionen Toten verbucht. Der arabische Frühling (ab 2010) wurde bejubelt – die Aufstände in Nordafrika, in Syrien, Ägypten, Libyen und anderswo, doch mittlerweile ist die Begeisterung geschwunden, denn es wurde offenbar, dass diese Revolutionen kaum Probleme gelöst, aber etliche verschärft haben.45 Es ist uns ein neuer, nicht ganz behaglicher Gedanke, dass für manche Regionen einigermaßen stabile, nicht allzu brutale Diktaturen eine recht brauchbare Lösung im Vergleich mit anderen machbaren Modellen darstellen. Jedenfalls haben Revolutionen eine geringe Erfolgsrate. Auch in Bezug auf die lutherische Reformation kann man geteilter Meinung sein, inwieweit seine Aktion ‚gelungen‘ ist, nicht nur wegen der folgenden Religionskriege, die beinahe die Hälfte der europäischen Bevölkerung das Leben gekostet haben, sondern auch angesichts des Umstands, dass letzten Endes nicht die ‚wahre Kirche‘ wiederhergestellt wurde. Es gibt unzählige ‚Protestantismen‘ auf der Welt, ohne einheitliches theologisches Substrat. Der „Weltprotestantismus“, sagt Friedrich Wilhelm Graf, ist ein „hochideologisches kirchenpolitisches Konstrukt“.46 Das Feld hat sich weithin aufgespalten: Mennoniten und Anabaptisten, Presbyterianer und Methodisten, Baptisten, Sieben-Tages-Adventisten, Pfingstler, Kon-
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JÖRG BABEROWSKI (Hrsg.), Moderne Zeiten? Krieg, Revolution und Gewalt im 20. Jahrhundert, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2006. Vgl. VOLKER PERTHES, Der Aufstand. Die arabische Revolution und ihre Folgen, München: Pantheon 2011; DERS., Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen. Ein Essay, Berlin: Suhrkamp 2015. Vgl. F. W. GRAF, Der Protestantismus (Anm. 8), S. 78 f., 85.
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gregationalisten und so weiter.47 Und die Gründung der anglikanischen Kirche zeichnete sich weniger durch theologische Substanz aus als durch eheliche Problematik. Das alles wollte der Wittenberger Mönch wohl nicht.
11. Die Welt kann kollabieren: Modelle des Zusammenbruchs Man kann eine krisenhafte Situation in noch dramatischeren Kategorien wahrnehmen, nämlich als existenzielle Bedrohung, Niedergang oder Untergang. Gesellschaften, die sich im Abstieg befinden, neigen zu apokalyptischen Selbstbeschreibungen; dies ist heute bei den Gesellschaften des Westens der Fall, im Unterschied zu ostasiatischen Gesellschaften. Das Bild der Apokalypse ist in der jüdisch-christlichen Tradition bekannt: „Mene mene tekel u-pharsim“48. Oder, in der modern-reformistischen Sprache: „Es ist fünf vor zwölf“ – in der dramatischeren Form heißt es: „Es ist fünf nach zwölf“. Die apokalyptische Sprache hat einerseits Gelegenheit geboten für Gewalt, Grausamkeit und Fundamentalismus, andererseits verbindet sich damit oft die Idee einer Katharsis: „Wir müssen umkehren“.49 Dort kann auch Reform ansetzen: Reformdruck kann nur er-
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Bei den zahlreichen ‚Protestantismen‘ gibt es elementare Unterschiede in den theologischen Auffassungen, der liturgischen Tradition, in der moralischen Lebensführung und in den Weltbildern – wenn man irgendetwas Gemeinsames feststellen will, dann ist es wohl die Ablehnung irgendeiner zentralen, verbindlichen, hierarchischen Instanz und stattdessen das Selbstverständnis, dass einzelne Gruppen ihren Glauben selbst definieren, auch unter Rückbezug auf das ‚Priestertum aller Gläubigen‘. Die Freiheit des Christenmenschen bedeutete die Abschüttelung kirchlicher Bevormundung und klerikaler Herrschaft; seinerzeit formulierte man noch drastischer: die Beseitigung von ‚römischem Seelenzwang‘ und ‚klerikaler Geistesknechtschaft‘; vgl. F. W. GRAF, Der Protestantismus (Anm. 8), S. 97. Die Formulierung stammt aus dem Buch Daniel des Alten Testaments (Dan 5,25), aus der Geschichte, als Daniel dem übermütigen König Belsazar seinen Untergang voraussagte. Daraus wird das moderne Wort ‚Menetekel‘ abgeleitet, welches sich nicht nur auf böse Ahnungen, Voraussagen oder Prophezeiungen bezieht, sondern in dem das Unglück als unvermeidbar und unabwendbar angesehen wird. (Schließlich wurde auch Belsazar in derselben Nacht noch ermordet.) Eine Kombination finden Apokalypse und Erlösung dann, wenn zuerst Vernichtungssituationen durchlaufen werden müssen (etwa die Liquidierung größerer sozia-
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zeugt werden, wenn man den Untergang noch abwenden kann.50 Es gibt verschiedene Gründe für den Kollaps, für unseren Reformkontext sind – fatalerweise – zwei gegensätzliche Gründe relevant: erstens zu wenig oder falsche Reform, zweitens zu viel Reform. Jared Diamond hat in seinem Buch Collapse große Zivilisationen, die untergegangen sind, untersucht und die Frage gestellt, warum sie den Zusammenbruch nicht durch Reformen abgewendet haben – wo sich doch der verhängnisvolle Weg im Rückblick klar abzeichnete, beinahe als ‚retrospektiver Determinismus‘. Vielmehr haben sie meist den falschen Weg noch intensiviert. Untergangsfaktoren waren Diamonds Analysen zufolge Umweltprobleme, Feinde, der Wegfall von Handelspartnern, das Festhalten an überkommenen Werten und unverantwortliche Eliten.51 Mit dieser Liste könnten wir auch in der Gegenwart sinnvoll operieren. Eine wesentliche Kategorie seiner Untersuchungen ist jedenfalls die Reformverweigerung in Anbetracht drängender Probleme: erstens weil die Notwendigkeiten nicht wahrgenommen werden (‚es gibt kein Pensionsproblem‘); zweitens weil sich die Machthaber in ihren Positionen eingraben (‚alle sozialen Errungenschaften werden garantiert‘, ‚Klimawandel ist beherrschbar‘), drittens weil allgemeine Ignoranz herrscht (‚es wäre für alle Probleme genug Geld da, wenn man nur die Reichen besteuerte‘). Die Untersuchung eines Historikers namens Joseph Tainter ergänzt das Diamondʼsche Modell – durch das Gegenteil: Untergang durch zu viele Reformen. Tainter hat die steigende Komplexität von Reformen für den Untergang von Zivilisationen verantwortlich gemacht.52 Das klingt zunächst
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ler Gruppen, die nicht zum ‚neuen Menschen‘ umerziehungsfähig sind, oder feindlicher ‚Agenten‘), um am Ende den Sieg zu erzielen oder in das Paradies einzugehen. Von möglichen Zusammenbrüchen der modernen Welt ist in zahlreichen Büchern die Rede, so schreibt etwa ROBERT KURZ, Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt am Main: Eichborn 1991; DETLEF HORSTER, [schreibt über den] Untergang des Abendlandes? Die Zukunft der europäischen Kultur in der Welt, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2012; BERNARD LEWIS, [über den] Untergang des Morgenlandes. Warum die islamische Welt ihre Vormacht verlor, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2002; wieder andere über den Niedergang des Staates, wie MARTIN L. VAN CREVELD, Aufstieg und Untergang des Staates, München: GerlingAkademie 1999. Man könnte eine relativ lange Liste erstellen. Vgl. JARED DIAMOND, Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt a. M.: Fischer 2010. Vgl. JOSEPH A. TAINTER, The Collapse of Complex Societies, Cambridge u. a.: Cambridge Univ. Press 1988.
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eigenartig, doch sein Argument läuft darauf hinaus, dass gerade friedliche, stabile und reiche Gesellschaften einen steigenden ‚Wartungsaufwand‘ (und Energieaufwand) für ihre immer komplizierteren Institutionen aufweisen. Die Kompliziertheit schafft Probleme, und die auftretenden Probleme werden durch immer weitere und differenziertere Regeln, also Gesetze und Verwaltungsmaßnahmen, bearbeitet. Solche immer ausgefeilteren Reformvorhaben aber bedeuten eine überproportionale Steigerung von Transaktionskosten, und auf lange Sicht droht die Selbsterstickung in der selbstgeschaffenen Komplexität. – Diesem Modell kann jeder Bürokratiekritiker etwas abgewinnen, und wer gehört schon nicht zu diesen?
12. Die Welt ist liquide: Aspekte der Unreformierbarkeit Soweit also die dramatischen Konstellationen, in denen Reform eine Rolle spielt: Krise, Revolution, Zerfall. Die aktuellen Szenerien einer spätmodernen Gesellschaft bieten allerdings besondere Reformschwierigkeiten, obwohl der Reformbedarf besonders hoch ist. Die Spätmoderne ist eine dynamische, flexible, wandelhafte, geschwinde Gesellschaft – alles ändert sich. Der polnische Soziologe Zygmunt Bauman hat diesen Sachverhalt in die einprägsame Formel von der ‚liquiden Gesellschaft‘ gefasst,53 im wirtschaftlichen Bereich spricht man von einer neuen ‚Volatilität‘. Alles ist im Prozess, alles verändert sich andauernd, alles ist nur diffus wahrzunehmen: Das mag eine interessante und attraktive Konfiguration für intellektuelle Beobachter sein, doch es produziert bei den Menschen eine Verunsicherung, die sich in Enttäuschung, Ressentiment und Aggression entlädt54; und es ist eine prekäre Situation für Planung und Gestaltung, also für rationale Reformpolitik. Reform und Angst stehen zueinander in Spannung. Rationale Reformpolitik hat immer die Suggestion von Wissenschaftlichkeit, Planung, Gesamtkonzeption, Kontrolle mitgeliefert: den nahezu allmächtigen Regierungsakteur. Doch Reformen werden heute anders beschrieben. Unter spätmodernen Verhältnissen geht es eher um das Arrangement von Reformprozessen: mit vielen Mitspielern (Experten, Lobbys,
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ZYGMUNT BAUMAN, Liquid Modernity, Cambridge: Polity Press 2000. Vgl. HEINZ BUDE, Gesellschaft der Angst, Hamburg: Hamburger Edition 2014.
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Interessenverbänden), mit ungeklärten Nebenwirkungen, als Versuch und Irrtum, mit ungewissem Ergebnis; ein Output von ‚policy-Netzwerken‘ und verflochtenen Handlungssystemen55; ebenso speist die mediale Öffentlichkeit ihre eigene Dynamik ein. An die Stelle eines ‚vernunftgeleiteten Reformkonzepts‘ tritt das mehr oder minder kluge Management von oft unvorhersehbaren Prozessen. Wenn die politische Führung diese Sachlage kommuniziert, ist es keine attraktive Botschaft. Denn das Publikum, das selbst in der Liquidität zu ertrinken droht, sucht nach Rettungsringen, Haltepunkten und Verlässlichkeiten. Es sucht erstens die einheitlichen Werte, das Kosmion, den schützenden Baldachin56, eine einheitliche und konsistente Wertekonstellation, die es in einer pluralistischen Gesellschaft nun einmal definitionsgemäß nicht gibt. Es sucht zweitens nach einem Gemeinschaftsgefühl, dessen Quellen versiegt sind, dem Erleben von Zugehörigkeit, Einbindung, Einbettung; aber da sind nur noch fluktuierende Gruppierungen. Es sucht drittens nach Führungsgestalten, die sich nicht mit den Komplexitäten von Reformen quälen, sondern den gordischen Knoten (tunlichst vor der Kamera) durchschlagen. Doch es gibt keine Gordischen Knoten mehr; wenn es welche gäbe, würden die Akteure sie nicht finden; wenn sie sie fänden, hätten sie keine Schwerter. Das ist das ‚Elend des Reformierens‘.57 Diese Verstehenskluft fördert jene populistischen Aktivitäten (bis hin zum Brexit), in denen die ‚schrecklichen Vereinfacher‘ Retro-Politik, also eine Reform im Rückwärtsgang, versprechen: eine heile und konsistente Wertewelt, eine festgefügte Gemeinschaftlichkeit, politischen und etatistischen Schutz. Auch wenn dies praktischer Unsinn ist, löst es bei anderen politischen Akteuren den Druck zu fake-Reformen aus.58 Es würde zur 55
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MICHAEL T. GREVEN, Die politische Gesellschaft. Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie, Opladen: Leske + Budrich 1999, S. 69. Vgl. HANS-GEORG SOEFFNER, Gesellschaft ohne Baldachin. Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2000. ALEXANDER KRAFFT / GÜNTER ULRICH, Vom Elend des Reformierens, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament), Nr. 40 (2004), S. 3–5. Politiker, die näher an der Wirklichkeit sind und wissen, dass solche Anforderungen nicht zu erfüllen sind, müssen gleichwohl (aus Überlebensinstinkt) die Wirklichkeit gegenüber der Wählerschaft verschleiern, wenn sie nicht sofort untergehen wollen. Sie simulieren Handlungsfähigkeit, wo bloße Ratlosigkeit vorherrscht. Sie inszenieren ‚Führung‘, auch wenn sie keinen Kompass besitzen. Sie tun, als ob sie reformieren. Sie tun, als ob sie wüssten, was sie tun.
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Stabilisierung einer Demokratie gehören, den Staat vor nicht einlösbaren Zumutungen zu schützen (durch Besonnenheit und Realitätskenntnis) und die Wählerschaft vor nicht verstehbaren Fragestellungen zu bewahren (durch repräsentative Demokratie). Aber das scheint mit dem Zeitgeist wenig verträglich zu sein.
13. Die Welt ist pluralistisch: Reformeindeutigkeit und Perspektivenvielfalt Die liquide Spätmoderne ist eine pluralistische Gesellschaft, und das bedeutet, dass sie keine einheitliche (geschlossene und konsistente) Werteordnung besitzt, sondern mit einem ‚Supermarkt‘ von ideologischen Angeboten und Lebensstilen zurechtkommen muss.59 Herauf bis in das 19. Jahrhundert konnte man sich gesellschaftliche Integration nicht anders vorstellen als durch Religion, im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie immer stärker durch die ‚imagined community‘, also durch die Nation, ersetzt.60 Hundert Jahre später wird empfohlen, sich auch die nationalistische Vergemeinschaftung abzugewöhnen. Von einer Integration durch gemeinsame Werte kann in einer pluralistischen Gesellschaft kaum noch die Rede sein, und die Wissenschaft als Glaubenssystem gibt auch nicht mehr viel her – und damit stehen wir in den europäischen Ländern der Gegenwart vor dem Problem, was diese Gesellschaften zusammenhalten könnte.61 Der Appell, dass die Einheit gerade in der Vielfalt bestünde, ist ein rhetorischer Trick, der nicht weit trägt – und mit dem wir doch irgendwie zurechtkommen müssen. Reformpolitik braucht jedenfalls ein gemeinsames (oder zumindest von einer starken Mehrheit getragenes) Wollen, aber sie kann sich nur noch sel-
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PETER L. BERGER, Altäre der Moderne: Religion in pluralistischen Gesellschaften, Frankfurt a. M.: Campus 2015; FRIEDRICH W. GRAF, Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2014. BENEDICT R. ANDERSON, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London u. a.: Verso 1991. WILHELM HEITMEYER (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt: Suhrkamp 1997.
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ten auf eine solide Mehrheit stützen, die weiß, was sie will62 – außer in jenen Fällen, in denen es Geld an viele soziale Gruppen zu verteilen gilt. Aber die Fülle von Distributionsmöglichkeiten – und damit Befriedungsmechanismen einer Schönwetterdemokratie – geben aktuelle Staatsbudgets nicht mehr her. Verteilungskonflikte intensivieren sich, und ‚Reformpolitik‘ wird fast durchwegs so verstanden, dass die anderen zahlen und ‚ich‘ bekommen soll – was sich insgesamt nicht ausgehen kann und in die wechselseitige Blockade führt. Wenn Reformen nicht mehr möglich sind, landen Systeme in der Erstarrung. Lester Thurow hat schon vor Jahrzehnten, als erstmals über das Schwinden hoher Wachstumsraten diskutiert wurde, überlegt, ob und wie demokratische Politik in einer Epoche der Stagnation funktionieren könnte. Wenn unter solchen Verhältnissen, also in einer Nullwachstumsgesellschaft, Maßnahmen nicht durch zusätzliche Gelder finanziert werden können, wenn vielmehr jede Reform bedeutet, dass dem einen gegeben, aber dem anderen genommen wird, wenn schließlich alle Gruppen stark genug sind, dass sie sich gegen ihre eigene Benachteiligung wehren können – dann ist ganz offensichtlich keinerlei Reform mehr durchführbar.63 Wir haben es mit einer Situation der konsequenten Reformunmöglichkeit – und das auch noch in einem turbulenten Ambiente mit Reformdruck – zu tun.64
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In einer pluralistischen Gesellschaft wird nicht nur der Geltungsanspruch von Religionen unterhöhlt, sondern auch der allgemeine normative Kosmos einer Gesellschaft; dieser wieder beeinflusst nicht unwesentlich die Vorstellungen von der Wirklichkeit. Manchmal ist gar nicht recht unterscheidbar, wie normative und deskriptive Weltbeschreibungen ineinandergreifen oder wo ihre jeweiligen Grenzen sind. Wenn allerdings viele solche Beschreibungen nebeneinander existieren, relativieren sie einander nicht nur gegenseitig, es ist auch schwer vorstellbar, wie man eine für den Großteil der Bevölkerung akzeptable Reformpolitik machen kann. Im schlimmsten Fall schlägt man ein Konstrukt vor, gegen dessen unterschiedliche Elemente alle Gruppen sind – weil sie jeweils andere Elemente des Reformpakets gut oder schlecht finden. In Anbetracht gewisser Optimierungs- oder Perfektionierungsvorstellungen (die mit dem Anspruch einhergehen, dass man die eigenen Vorstellungen auf jeden Fall durchsetzen können muss, wenn man nicht ‚Verlierer‘ sein will) kommt es dann zur Blockade. LESTER C. THUROW, Die Null-Summen-Gesellschaft. Einkommensverteilung und Möglichkeiten wirtschaftlichen Wandels, München: Vahlen 1981. Es gibt ein eigentümliches Indiz für den Stimmungswandel. Wohl wird von der Schulpolitik, von der Klimapolitik, von der Wissenschaftspolitik und anderen Partialpolitiken gesprochen, wenn man aber in der elektronischen Welt nach dem Begriff ‚Reformpolitik‘ sucht, wird man zum Großteil auf die 1970er oder 1980er Jahre verwiesen. Auch bei diesem Thema ist der Kollektivsingular in Verruf gera-
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Derzeit scheinen uns keine Reformen einzufallen, mit denen die prekär gewordene demokratische Ordnung gestützt werden könnte – denn fast alle notwendigen Reformen scheinen durch mehrheitliche Legitimierungsunfähigkeit gekennzeichnet zu sein.
14. Die Welt soll liberal sein: die Reichweite von Reformen Unser Verständnis von Demokratie hat mindestens gleich viel mit Liberalität und Rechtsstaatlichkeit wie mit Mitbestimmung und Wahlrecht zu tun. Reformen können auch von totalitären Systemen oder ‚totalitären Demokratien‘ umgesetzt werden, und Reformen werfen allemal die Frage nach der Reichweite politischen Handelns auf. „In der politischen Gesellschaft ist virtuell alles politisch.“65 Was ist reformierbar oder reformierungsbedürftig, und was bleibt aus Gründen der Freiheit der Reform entzogen? Damals, im 15. und 16. Jahrhundert (und eigentlich trotz des Westfälischen Systems hinauf bis ins 19. Jahrhundert), gehörte es zu den entscheidenden politischen Fragen, inwieweit politische Instanzen für die ‚religiöse Korrektheit‘ ihrer Untertanen zuständig sein sollten. Als man die Unterscheidung von ‚Staat‘ und ‚Gesellschaft‘ zu treffen begann, war die Frage umzuformulieren: Wie weit solle der Staat in die Gesellschaft ‚hineinregieren‘ (oder ‚hineinreformieren‘)? Denn gute Gründe für eine ‚Bevorschriftung aller Lebensbereiche‘ lassen sich immer namhaft machen. Die Reform des Bauwesens führt zu immer exakteren Bauvorschriften, die Reform des Raumes zur feiner ziselierten Raumplanung, die Reform der Industriepolitik zu ausgefeilten Güternormierungen, die Reform der Gesundheitspolitik zu einer Fülle von Nahrungsmittel- und Hygienevorschriften, die Schulreform zu Maßnahmen in allen nur erdenklichen Richtungen. Eine ‚Durchreformierung‘ bzw. ‚Durchstaatlichung‘ dieser Art kann immer durch den ‚Segen‘ einer Reform begründet werden. Muss die Staatsgewalt für ein gesundes Verhalten ihrer Bürgerinnen und Bürger sorgen: gegen das Rauchen, für die Fitness, für gesundes Essen? Wie weit müssen
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ten, man widmet sich dem Detail, die Welt im Ganzen wird nicht reformiert. Was sollte man denn auch tun? Es ist keine gute Zeit für Visionen. M. T. GREVEN, Die politische Gesellschaft (Anm. 55), S. 72.
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im Dienste der Generationenobsorge Kontrollen in das Privatleben hineinwirken: Elternführerschein? Verpflichtender Kleinkindergartenbesuch ab dem dritten Lebensjahr? Vorgeschriebene genetische Untersuchungen für Babys? Im Zuge der Modernisierung wurden zahlreiche intermediäre Gewalten und verhaltensrelevante Statusunterschiede abgebaut, die Sphäre des Politischen wurde ausdifferenziert und begrenzt, dennoch wurde das Eingriffsspektrum im modernen Staat ungemein ausgeweitet und verallgemeinert. „Der einzelne und die Gesellschaft sollen dem Zugriff des Staates, seiner Organisierung und Aktualisierung individueller Verhaltensleistungen nicht total, d.h. in jeder Hinsicht, sondern nur in bestimmter Hinsicht und bestimmten Bereichen, eben jenen, die für die Erreichung der Staatszwecke notwendig sind, unterworfen sein. Was jenseits dessen liegt, bleibt in einem spezifischen Sinn vorstaatlich, von staatlicher Organisierung und Aktualisierung frei: die Freiheitssphäre der Individuen und der Gesellschaft.“66 Nicht jedes Bestehen eines Problems legitimiert die politischadministrative Reform, ihr muss vielmehr die Entscheidung vorausgehen, ob die konkrete Situation dem herrschaftlichen Zugriff auf individuelle Verhaltensbereiche unterliegt oder nicht. Denn es gibt nicht nur die politische Freiheit der Mitbeteiligung an der kollektiven Willensbildung, sondern auch die bürgerliche Freiheit des Individuums und der Gesellschaft vor Zugriffen der Staatsgewalt (und vor der Mehrheitsbestimmung) überhaupt, auch wenn diese Maßnahmen förderlich sein mögen. Sonst handelte es sich um das, was zuweilen ‚illiberale‘ oder ‚totalitäre Demokratie‘ genannt wird: Alle können über alles beschließen, und die Mehrheit beseitigt individuelle Freiheit.67 Reformen sind nicht von vornherein gerechtfertigt, nur weil sie segensreich scheinen. Es gibt auch einen ‚wohlwollenden Reformtotalitarismus‘. Es kann Reformverzicht im Dienste der Freiheit geben.
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ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 215. – Daraus ergibt sich erstens die Frage nach der rechtsstaatlichen Domestizierung der Staatsgewalt, zweitens die Frage nach Mitbestimmung und Partizipation der Gesellschafter der staatlichen Entscheidungsgewalt, drittens die Frage nach der Liberalität, d.h. nach der von politischer Ingerenz freien Sphäre, die nur dem Individuum, auch nicht der Mehrheit des Kollektivs zugänglich ist. FAREED ZAKARIA, The Future of Freedom. Illiberal Democracy at Home and Abroad, New York: Norton 2003.
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15. Die Welt ist normalitätsbedürftig: Zuverlässigkeitsbedarf Seit dem Entstehen der modernen Gesellschaft handelt es sich um einen permanenten Krisenzustand mit Reformbedarf. Wenn wir die Moderne als turbulente, dynamische, kreative, liquide und volatile Gesellschaft bezeichnen, dann ist in einer solchen Beschreibung ständiger Reformbedarf impliziert. Gleichzeitig und mit gewisser Berechtigung wird der allgemeinen Liquidität aller gesellschaftlichen Bereiche das Verlangen nach Normalität entgegengehalten: der Wunsch der Menschen, in einer Welt zu leben, in der sie sich auskennen. Aber wir haben kaum Vorstellungen darüber, inwiefern Reform nicht nur auf radikalen Wandel, sondern auch auf die Stabilisierung einer ‚normalen Welt‘ abzielen kann, insbesondere unter den Bedingungen der Spätmoderne. Deshalb ist Reform ins Zwielicht geraten, sie steht nicht immer nur für Zukunftsversprechen, Aufbruch und Besserstellung, sondern immer öfter im Kontext von Belastungen – aber jedenfalls im TINA-Kontext: there is no alternative.68 Das lässt die Reformfähigkeit der Politik zweifelhaft werden und es steigert das Unbehagen vieler Menschen. Reform war die große Erzählung von Versprechungen und Fortschritten, und sie wird – auch in Ländern mit einem immer noch luxuriösen Ambiente – mehr und mehr zur großen Erzählung von Bedrohungen und Zwängen.
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Im besten Fall sind Reformen zukunftsträchtig, über die situative Notwendigkeit hinaus; oft sind sie aber auch nur notwendig, um Institutionen oder Umwelten einigermaßen stabil zu halten. Umweltpolitik wäre nur die Abwendung von Verschlechterung. Bei der Wettbewerbspolitik befindet man sich im Zugzwang. Digitalisierungspolitik ist eine Unabwendbarkeit. Auch Migrationspolitik macht man nicht freiwillig.
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„Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung“
Papst Franziskus’ Reform der Kirche aus Freude am Evangelium
„Es ist uns wohl bekannt, dass sich am Heiligen Stuhl seit vielen Jahren abscheuliche Dinge zugetragen haben: Missstände in geistlichen Dingen, Verletzungen von Normen, und zwar so arg, dass sich die Verhältnisse ins schiere Gegenteil verkehrt haben. Es ist daher kein Wunder, dass sich die Seuche vom Kopf auf die Glieder, von den Päpsten auf die Kirchenfürsten und Prälaten übertragen hat. Wir alle sind vom Pfad des Rechts abgewichen, und seit langer Zeit gibt es niemanden mehr, der gut gehandelt hat.“1 Aus welcher Zeit diese geharnischte Kritik an der römischen Kurie stammt, erkennen wahrscheinlich nur Kenner der Kirchengeschichte. Erst recht würden die wenigsten die Autorschaft erraten. Denn dieses Eingangszitat stammt nicht aus der Feder eines vatikankritischen Kirchenreformers unserer Zeit, sondern dieser massive Vorwurf wurde am 3. Jänner 1523 auf dem Reichstag zu Nürnberg von Nuntius Francesco Chierigati den deutschen Ständen gegenüber vorgetragen. Chierigati verlas eine Note des weithin vergessenen letzten nichtitalienischen Papstes vor Carol Wojtyla, nämlich Hadrian VI., der 1522 als Nachfolger von Papst Leo X. auf den Stuhl Petri gewählt worden war. Dieser angesehene niederländische Theologe mit bürgerlichem Namen Adrian Florensz d’Edel wurde vom Konklave gewählt, um die von Martin Luther angeprangerten Missstände in maßvoller Weise auszumerzen. Doch dieses Vorhaben, an dessen Ausführung kein Geringerer als der maßgebliche römische Gegenspieler Luthers die Hand im Spiel hatte, Kar-
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Deutsche Reichstagsakten. Jüngere Serie, Bde. 1–3, Gotha 1893–1901, III, S. 447 f., zit. nach VOLKER REINHARDT, Luther der Ketzer. Rom und die Reformation, München 2016, S. 204.
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dinal Cajetan, scheiterte völlig. Hadrian brachte durch seine rigorose Ablehnung des zweifelhaften Lebens- und Führungsstils seiner Vorgänger, des Borgia-Papstes Alexander VI. (1492–1503) und des Medici-Papstes Leo X. (1513–1521), nicht nur den kirchlichen Hofstaat gegen sich auf. Sein Schuldeingeständnis bestätigte geradezu die Anhänger Martin Luthers, dass eine Reform der Kirche an Haupt und Gliedern niemals von Rom, sondern nur noch von Deutschland ausgehen könne, wo die römische Seuche der Korruption, des Glaubens- und Sittenverfalls noch keine Verbreitung gefunden hat.2 Papst Hadrian blieb für seine Kirchen- und Kurienreform leider auch das Glück eines langen Lebens versagt: Bereits neun Monate nach seinem Schuldbekenntnis verstarb er, und ihm folgte Giulio de’ Medici, der sich Clemens VII. (1523–1534) nannte und die Wahl mit Versprechungen ertragreicher Pfründen gegenüber einflussreichen Mitgliedern des Konklaves für sich entscheiden konnte. Die Wahl des argentinischen Jesuiten und Kardinals von Buenos Aires, Jorge Mario Bergoglio, am 13. März 2013 verlief unter völlig anderen Vorzeichen und Umständen, aber dennoch war auch diesem Konklave bewusst, dass es mit der römischen Kirche so nicht weitergehen könne. Auf der Generalkongregation der Kardinäle, die vor dem Konklave abgehalten wurde, um die Situation nach dem Rücktritt von Papst Benedikt XVI. zu beraten, machten sich mit bislang ungewohnter Freimütigkeit der Unmut und die Unzufriedenheit über den Zustand der Kirche Luft.3 Der sogenannte Vatileaks-Skandal4 hat bekanntlich Informationen aus dem innersten Kreis des Vatikans an die Oberfläche gespült, die über Vorgänge in der römischen Kurie ein düsteres Bild abgaben, das ohnehin durch die Missbrauchsfälle sowie die gescheiterte Annäherung an die ultrakonservative Piusbruderschaft schon extrem eingetrübt war. Auf diesem Vorkonklave hat Kardinal Bergoglio eine wahrscheinlich wahlentscheidende Rede gehalten, bei der er u. a. Folgendes sagte: „Ich habe Bezug genommen auf die Evangelisierung. Sie ist der Daseinsgrund der Kirche. Es ist die ‚süße, tröstende Freude, das Evangelium zu verkünden‘ (Papst Paul VI.). Es ist
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Vgl. V. REINHARDT, Luther (Anm. 1), S. 196–208. Vgl. JOSEF GELMI, Papst Franziskus – eine Revolution von oben. Ein Gegenbild zur Vergangenheit, Kevelaer 2014, S. 30 ff.; PAUL VALLELY, Papst Franziskus. Vom Reaktionär zum Revolutionär, Darmstadt 2014, S. 162–173. Vgl. GIANLUIGI NUZZI, Seine Heiligkeit. Die geheimen Dokumente aus dem Schreibtisch von Papst Benedikt XVI., München / Zürich 2012.
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Jesus Christus selbst, der uns von innen her dazu antreibt. 1. Evangelisierung setzt apostolischen Eifer voraus. Sie setzt in der Kirche kühne Redefreiheit voraus, damit sie aus sich selbst herausgeht. Sie ist aufgerufen, aus sich selbst herauszugehen und an die Ränder zu gehen. Nicht nur an die geografischen Ränder, sondern an die Grenzen der menschlichen Existenz: die des Mysteriums der Sünde, die des Schmerzes, die der Ungerechtigkeit, die der Ignoranz, die der fehlenden religiösen Praxis, die des Denkens, die jeglichen Elends. 2. Wenn die Kirche nicht aus sich selbst herausgeht, um das Evangelium zu verkünden, kreist sie um sich selbst. Dann wird sie krank […]. Die Übel, die sich im Laufe der Zeit in den kirchlichen Institutionen entwickeln, haben ihre Wurzeln in dieser Selbstbezogenheit. Es ist ein Geist des theologischen Narzissmus. In der Offenbarung sagt Jesus, dass er an der Tür steht und anklopft. In dem Bibeltext geht es offensichtlich darum, dass er von außen klopft, um hereinzukommen […]. Aber ich denke an die Male, wenn Jesus von innen klopft, damit wir ihn herauskommen lassen. Die egozentrische Kirche beansprucht Jesus für sich drinnen und lässt ihn nicht nach außen treten. 3. Die um sich selbst kreisende Kirche glaubt – ohne dass es ihr bewusst wäre –, dass sie ihr eigenes Licht hat. Sie hört auf, das ‚Geheimnis des Mondes‘ zu sein, und gibt jenem schrecklichen Übel der ‚geistlichen Mondänität‘ Raum (nach Worten de Lubacs das schlimmste Übel, was der Kirche passieren kann). Diese [Kirche] lebt, damit die einen die anderen beweihräuchern. Vereinfacht gesagt: Es gibt zwei Kirchenbilder: die verkündende Kirche, die aus sich selbst hinausgeht, die das ‚Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet‘; und die mondäne Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt. Dies muss ein Licht auf die möglichen Veränderungen und Reformen werfen, die notwendig sind für die Rettung der Seelen.“5 Wenige Tage nach dieser programmatischen Rede, am 13. März 2013, betrat Jorge Mario Bergoglio die Benediktionsloggia der Peterskirche. Noch bevor er sich der Öffentlichkeit zeigte, war durch die Bekanntgabe der Wahl eines neuen Papstes durch den Kardinalprotodiakon Renato Raffaele Martino aber bereits klar, dass das Petrusamt von einem Kardinal übernommen wurde, der jedenfalls einen unglaublichen Mut an den Tag legt: Erstmals wagte es ein Papst, sich den Namen des heiligen Poverello aus Assisi anzueignen.
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PAPST FRANZISKUS, ‚Und jetzt beginnen wir diesen Weg‘. Die ersten Botschaften des Pontifikats, Freiburg / Basel / Wien 2013, S. 122–124.
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Was seit diesen 40 Monaten des Pontifikats unter Franziskus geschah, kann hier nicht ausführlich dargelegt werden. Vielmehr möchte ich in einem ersten Teil versuchen, das Reformprofil zu skizzieren, das sich bislang vor allem durch seine Person, durch seinen Stil und seine Reden, in seinen Enzykliken und auf seinen pastoralen Reisen zeigte. Im zweiten Teil möchte ich zwei Reformthemen der katholischen Kirche benennen, die von struktureller Natur sind und nur langfristig gelöst werden können.
1.
Franziskus – der Reformpapst? Eine Spurensuche
Papst Franziskus ist nun dreieinhalb Jahre im Amt. Auf die Frage, was Franziskus bislang erreicht hat, antwortet Michael Böhnke sehr treffend: „Die Menschen“6. In der Tat: Die Sympathie und die Herzen der Menschen aller Kontinente hat dieser Mann aus Argentinien mit italienischen Wurzeln auf Anhieb seit den ersten Tagen seines Amtsantrittes gewonnen. Sein sympathisches „Buonasera“ bei seiner ersten Präsentation auf der Loggia der Peterskirche; der Verzicht auf Mozetta und rote Schuhe; seine Einladung, mit ihm einen Weg der Barmherzigkeit und des Hinausgehens der Kirche zu den Menschen an den Rändern zu beginnen; sein bescheidener Wohnstil im Gästehaus Santa Marta; der direkte Umgang mit den Menschen im Vatikan, bei den Audienzen und Pastoralreisen; seine Art, die höfischen Gepflogenheiten entweder mit Humor zu unterlaufen – etwa wenn er auf einen ihn mit „Heiliger Vater“ anredenden Priester spontan „Heiliger Sohn“ erwidert – oder mit ungeschützter Kritik anzugreifen – wenn er beispielsweise die höfische Kultur des Vatikans als Lepra bezeichnet7 oder den Kurienkardinälen ziemlich unverhohlen in aller medialen Öffentlichkeit die Leviten liest; seine erste Pastoralreise auf die Insel Lampedusa; die demonstrative Auswahl kleiner Autos auf seinen Reisen;
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MICHAEL BÖHNKE, „Und nun beginnen wir diesen Weg …“ – Theologische Weichenstellungen des Papstes vom Ende der Welt, in: Gemeinschaft der Freunde und Förderer der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn (Hrsg.), Korrespondenzblatt der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Studienjahr 2013/14, Bonn 2014, S. 46–58, hier: S. 49. Vgl. LUDWIG RING-EIFEL (Hrsg.), Die Interviews mit Papst Franziskus. Eingeleitet von Luigi Accattoli, Freiburg / Basel / Wien 2016, S. 48.
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spontane Telefonanrufe bei Menschen, die ihm geschrieben haben; seine schlichte liturgische Feier der Morgenmesse mit den inzwischen weltbekannten kleinen Homilien, in welchen vielleicht am unmittelbarsten sein Denken, Fühlen und Glauben zum Ausdruck kommt … – all diese Gesten und Zeichen vermitteln das Bild eines Priesters, der das Petrusamt nicht mehr allein aus der überkommenen Tradition heraus ausüben will, sondern aus der Kraft seiner Persönlichkeit und seines Lebensweges. Diese markante Persönlichkeit von Jorge Mario Bergoglio ist offensichtlich zutiefst von personalen, kommunikativen und spirituellen Qualitäten geprägt: Bescheidenheit; eine direkte bildhafte Kommunikation; eine freundliche, gewinnende Ausstrahlung; seine authentische Bezugnahme auf die Marginalisierten und Notleidenden und sein persönlicher Einsatz etwa für die Obdachlosen Roms; sein herzlicher, geschwisterlicher Umgang mit den Vertretern der evangelischen und der orthodoxen Kirchen oder mit Vertretern anderer Religionen; die medienpolitisch und bisweilen lehramtlich unberechenbaren spontanen Äußerungen abseits vorbereiteter Redemanuskripte … Es ist also vor allem dieser erfrischende, jugendliche, unprätentiöse Stil, der beeindruckt und hoffen lässt. Man hat das Gefühl, dass dieser Papst das Bild des Papstamtes nachhaltig ändert, und zwar nicht durch Lehrschreiben oder theologische Reflexionen, sondern durch die Art und Weise, wie er das Papstamt ausübt. Nun ist die Reform des Papstamtes durch die Persönlichkeit von Franziskus sicher begrüßenswert, aber das allein wird nicht reichen. „Päpste kommen und gehen, wir aber bleiben“ – nicht wenige in der vatikanischen Bürokratie oder unter den tausenden Bischöfen der Weltkirche verfolgen mit Vorbehalt das Pontifikat von Jorge Mario Bergoglio und schielen auf sein baldiges Ende. Darum ist ein Blick auf sein theologisches, pastorales und ekklesiologisches Selbstverständnis ein Schlüssel zu seinem Reformverständnis. Als eine Art Leitmotiv betrachte ich das bereits zitierte Statement von Bergoglio im Vorkonklave, das in seiner Diktion ganz und gar geprägt ist von seinem pastoralen und ekklesiologischen Selbstverständnis. Theologisch steht hinter dem Appell, an die Ränder zu gehen, die Option für die Armen. Sie ist nicht nur die entscheidende befreiungstheologische Grundformel, sie ist seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ein Grundprinzip der Kirche in ihrem Verhältnis zu den Menschen und zur Welt: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung Trauer und Angst der Jünger Christi“ (GS 1).
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Was aber Franziskus mit dieser Theologie der Zuwendung zu den Marginalisierten wie kein anderer Papst vor ihm akzentuiert, ist seine Entschiedenheit und Fokussiertheit, dieses Prinzip auch zu verwirklichen, sei es durch seinen Lebens- und Führungsstil, sein Selbstverständnis und seine pastorale Vision. Allerdings verbirgt sich in diesem Aufruf der Öffnung der Kirche für die Bedrängten kein gesellschaftspolitischer Aktionismus, sondern aus ihm spricht zuerst die Fähigkeit der Wahrnehmung des jeweiligen Menschen. Ein Textbeispiel aus seinem bislang wichtigsten Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium (EG) kann dies verdeutlichen. Unter der Nr. 2 heißt es dort: „Die große Gefahr der Welt von heute mit ihrem vielfältigen und erdrückenden Konsumangebot ist eine individualistische Traurigkeit, die aus einem bequemen, begehrlichen Herzen hervorgeht, aus der krankhaften Suche nach oberflächlichen Vergnügungen, aus einer abgeschotteten Geisteshaltung. Wenn das innere Leben sich in den eigenen Interessen verschließt, gibt es keinen Raum mehr für die anderen, finden die Armen keinen Einlass mehr, hört man nicht mehr die Stimme Gottes, genießt man nicht mehr die innige Freude über seine Liebe, regt sich nicht die Begeisterung, das Gute zu tun“ (EG 2). Papst Franziskus betrachtet die Misere der Welt nicht auf Anhieb mit einer sozialanalytischen Diagnose ungerechter Strukturen, sondern blickt zuerst auf den je konkreten Menschen, auf seine psychische Struktur und fragt, ob sie offen geblieben ist für die Wahrnehmung der Leidenden, die Wahrnehmung des Göttlichen. Er schreibt: „Für die Kirche ist die Option für die Armen in erster Linie eine theologische Kategorie und erst an zweiter Stelle eine kulturelle, soziologische, politische oder philosophische Frage. Gott gewährt ihnen ‚seine Barmherzigkeit‘ […] Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen. Sie haben uns vieles zu lehren. Sie haben nicht nur teil am sensus fidei, sondern kennen außerdem dank ihrer eigenen Leiden den leidenden Christus“ (EG 198). Die Solidarität, die Franziskus einfordert, geht einher mit der Forderung nach Empathie für die anderen, besonders für die Leidenden. Das bekannte Bild, dass die Hirten bzw. die Evangelisierenden den „Geruch der Schafe“ (EG 24) haben müssen, zeigt die Identifikation mit den anderen an, um die es Franziskus geht. In diese Linie fügt sich auch sein Bild einer therapeutischen Kirche ein: In seinem ersten größeren Interview im Sommer 2013 mit dem OrdensMitbruder Antonio Spadaro SJ sagte er auf die Frage „Was braucht die Kirche in diesem historischen Moment besonders? Sind Reformen nötig? Was sind Ihre Wünsche für die Kirche in den kommenden Jahren? Von
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welcher Kirche ‚träumen‘ Sie?“: „Ich sehe ganz klar […], dass das, was die Kirche heute braucht, die Fähigkeit ist, Wunden zu heilen und die Herzen der Menschen zu wärmen – Nähe und Verbundenheit. Ich sehe die Kirche wie ein Feldlazarett nach einer Schlacht. Man muss einen Schwerverwundeten nicht nach Cholesterin oder nach hohem Zucker fragen. Man muss die Wunden heilen. Dann können wir von allem anderen sprechen. Die Wunden heilen, die Wunden heilen […] Man muss ganz unten anfangen.“8 An diesen Aussagen, die seither in vielen Variationen wiederkehren, wird sichtbar, dass Franziskus kein Reformer ist, der die Kirche sofort über strukturelle oder lehrmäßige Eingriffe verändern, sondern der zuallererst eine neue Grundeinstellung der Christinnen und Christen evozieren will: Es geht darum, dass die Verletzten, die seelisch und körperlich Leidenden, durch welche Umstände auch immer verursacht, wahrgenommen werden.9 Das theologische Fundament aber dieser Einstellung ist für Franziskus nicht ein allgemeiner Humanismus, sondern sein zentrales theologisches Grundprinzip: die Barmherzigkeit Gottes10. Nun mag diese Kategorie sozialethisch durchaus auch problematische Konnotationen haben – mit ihr werden eben auch Paternalismus und Gönnerschaft assoziiert –, aber diese Kritik an Franziskus geht meines Erachtens ins Leere, weil der biblische Begriff der Barmherzigkeit nicht zuerst einer ethischen Pflicht entspringt, sondern die soteriologische Konsequenz der Gnade Gottes ist: „Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott“ (Ex 34,6). Diese Formel finden wir unzählige Male in der Bibel. Dass Franziskus im Zuge der Familiensynode das Kirchenjahr 2016/17 als ‚Jahr der Barmherzigkeit‘ ausgerufen hat, unterstreicht noch einmal das spirituelle Anliegen des Papstes. Schließlich bezieht er sich selbst in diese Theologie der Barmherzigkeit ein. Antonio Spadaro fragte ihn unvermittelt und etwas unsicher, ob sich diese Frage einem Papst gegenüber überhaupt ziemt: „Wer ist Jorge Mario Bergoglio?“ Und Bergoglio antwortet: „Ich weiß nicht, was für eine Definition am zutreffendsten sein könnte […]. Ich bin ein Sünder. Das ist die
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ANTONIO SPADARO, Das Interview mit Papst Franziskus, hrsg. von Andreas R. Batlogg, Freiburg / Basel / Wien 2013, S. 47 f. Ebd., S. 48: „Die organisatorischen und strukturellen Reformen sind sekundär, sie kommen danach. Die erste Reform muss die der Einstellung sein. Die Diener des Evangeliums müssen in der Lage sein, die Herzen der Menschen zu erwärmen, in der Nacht mit ihnen gehen.“ Vgl. dazu: WALTER KARDINAL KASPER, Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel des christlichen Lebens, Freiburg / Basel / Wien 2012.
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richtigste Definition. Und es ist keine Redensart, kein literarisches Genus: Ich bin ein Sünder.“11 – Eine sehr erstaunliche Antwort aus dem Munde eines Papstes. Bergoglios Kirchenbild beschränkt sich allerdings nicht auf den therapeutischen Impuls. In Evangelii gaudium fordert er den Aufbruch der Kirche als Prinzip einer umfassenden Transformation und gießt diesen in die Überschrift Eine unaufschiebbare kirchliche Erneuerung: „Ich träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient“ (EG 27). Diesem Ziel hat dann auch die Reform der Strukturen zu dienen, „dass die gewöhnliche Seelsorge in all ihren Bereichen expansiver und offener ist“ (ebd.). Der Papst appelliert, sich von einer Seelsorge des „Es wurde immer so gemacht“ zu verabschieden und „wagemutig und kreativ zu sein“ (EG 33). Bemerkenswert ist in dieser Hinsicht ein originäres Detail im Kirchenbild Bergoglios. Eine aufbrechende Kirche ist dem Papst zufolge gefährdet, selbst verwundet und verbeult zu werden, aber dieses Risiko müsse sie in Kauf nehmen: „Mir ist eine ‚verbeulte‘ Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist“ (EG 49). Die Erneuerung der Kirche geht nach Franziskus alle Gläubigen an, die er immer wieder aufruft, sich auf den Weg Jesu einzulassen, eine Kultur der Vorläufigkeit und Unverbindlichkeit aufzugeben, und bereit zu sein, das christliche Zeugnis erfahrbar zu machen, durchaus auch mit Schwung: „Hagan lío!“ – „Macht Wirbel!“ rief er den Jugendlichen in Rio de Janeiro zu. Diese Erneuerung ist für Franziskus nun nichts anderes als die Evangelisierung selbst: Sie ist die „Aufgabe der Kirche. Aber dieses Subjekt der Evangelisierung ist weit mehr als eine organische und hierarchische Institution, da es vor allem ein Volk auf dem Weg zu Gott ist“ (EG 111). Aufgabe der Kirche ist es, dass das ganze Volk Gottes das Evangelium verkündet, „das Heil, das Gott uns anbietet, ist ein Werk seiner Barmherzigkeit“ (EG 112). Darum gibt es ein „Prinzip des Primats der Gnade“, und dieses „muss ein Leuchtfeuer sein, das unsere Überlegungen zur
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A. SPADARO, Das Interview (Anm. 8), S. 27.
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Evangelisierung ständig erhellt“ (EG 112). Aus diesem Primat entspringt die Freude des Evangeliums (EG 1), die jede Verkündigung begleiten soll. Für Bergoglio ist diese Freude kein Hindernis, die Probleme der katholischen Kirche beim Namen zu nennen. Auffallend am Beginn seines Pontifikats war schon, dass er vornehmlich den Klerus in den Blick nahm und dessen Karrieresucht, Selbstbezogenheit und Abgehobenheit heftig anprangerte. Die schärfste Attacke bislang war die eingangs erwähnte Ansprache vor den Leitern der Kurie zwei Tage vor Heiligabend im Jahr 2014, als er die Kurie mit einer Miniaturgestalt der Kirche verglich, ihre Tugenden skizzierte, aber auch ihre Krankheiten beim Namen nannte. Der Papst sprach beispielsweise von der Krankheit, sich „unsterblich“, „immun“ oder geradezu „unersetzlich“ zu fühlen, indem die nötigen und gewohnheitsmäßigen Kontrollen außer Acht gelassen werden. „Es gibt auch die Krankheit der geistigen und geistlichen ‚Versteinerung‘“; „Die Krankheit der ausufernden Planung und des Funktionalismus“. „Es gibt auch die Krankheit des ‚geistlichen Alzheimer‘, der Vergessenheit der Geschichte des Heils, der persönlichen Geschichte mit dem Herrn, der ‚ersten Liebe‘ (Apg 2,4).“ „Die Krankheit der Rivalität und der Ruhmsucht (EG 95–96), – wenn das Äußere, die Farben der Kleidung und Zeichen der Ehre zum vorrangigen Lebensziel werden“; „Die Krankheit der Vergötterung der Vorgesetzten“ oder „Die Krankheit der Gleichgültigkeit gegenüber anderen“. Als 15. Krankheit nannte er „die des weltlichen Profits, der Zurschaustellung – wenn der Apostel seinen Dienst zu Macht umgestaltet und seine Macht zu einer Ware, um weltlichen Nutzen oder mehr Befugnisse zu erhalten“.12 So versteht Papst Franziskus seine Wahl explizit als Auftrag, Reformen der Kirche einzuleiten – dafür sei er gewählt worden. Umgehend setzte er nach seiner Wahl ein Beratungsgremium ein, den sogenannten Kardinalsrat oder inzwischen populär „K9-Rat“ genannt, der ihm bei der geforderten Kurienreform behilflich sein soll. Die ersten Maßnahmen wurden inzwischen gesetzt, etwa die Reform der wirtschaftlichen Administration des Vatikans oder die Reform der Vatikanbank. Eine weitere neue Behörde soll demnächst entstehen, die den bisherigen Laien- und Familienrat und die Akademie für das Leben zusammenführt. Sicher werden noch weitere
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Quelle: Radio Vatikan vom 21.12.2014. Abrufbar unter: http://de.radiovaticana.va/ news/2014/12/23/die_papstansprache_an_die_kurie/1115831 (Stand: Nov. 2016).
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organisatorische Reformen folgen, wie tiefgreifend und umfassend sie sein werden, wird sich zeigen. Jedenfalls scheint sich Papst Franziskus bewusst geworden zu sein, dass die Kurienreform „ein langwieriger Prozess“ ist: „Die Kurienreform braucht viel Zeit, sie ist der komplexeste Teil […] und geschieht in kleinen Schritten.“13 In diesem Zusammenhang sind auch seine Äußerungen zum Lehramt und zum Papstamt aufschlussreich. Es ist nicht unbeachtet geblieben, dass sich Franziskus bei seinem Amtsantritt bewusst als „Bischof von Rom“ und nicht als „Papst“ vorgestellt und sein Amt bislang auch nicht doktrinär geprägt hat. Von den römischen Dikasterien verlangt er, dass sie über den Dienst für den Papst hinaus den Ortskirchen, den Bischofskonferenzen helfen müssen.14 In Evangelii gaudium schreibt er zur Rolle des Lehramtes, „dass man vom päpstlichen Lehramt [nicht, F.G.] eine endgültige oder vollständige Aussage zu allen Fragen erwarten muss, welche die Kirche und die Welt betreffen“; der Papst sucht vielmehr eine „heilsame Dezentralisierung“ (EG 16), ohne allerdings genauer zu sagen, was damit gemeint ist. Jedenfalls möchte er die synodalen Strukturen und Kommunikationsformen stärken. In einer seiner Morgenpredigten sagte er vor kurzem: „Das ist der Weg der Kirche: die sogenannte Synodalität, in der sich die Gemeinschaft der Kirche ausdrückt.“15 Das Wesen der Kirche: die Synode!? – auch hier zeigt sich wieder einmal die produktive Spannung zwischen Realität und Utopie im Kirchenverständnis des Papstes. Die beiden Synoden zum Thema Familie im Herbst 2015 und 2016 waren prozedural und inhaltlich tatsächlich erste Schritte in diese Richtung. Mittels Fragebogen wurden auch die Gläubigen eingeladen, ihre Meinungen zu äußern. Auch wenn Form und Durchführung noch sehr optimierbar sind, war es zumindest ein wichtiges Signal: Die Kirchenleitung will das Volk Gottes hören, bevor sie berät und antwortet. Angesichts der durchaus divergierenden Positionen innerhalb der Synode – gerade hinsichtlich der Zulassung zum Kommunionempfang der getrennten und wiederverheirateten Mitchristen und Mitchristinnen oder der Positionierung der Kirche zum Thema Homosexualität – gab es große Erwartungen, ob Franziskus nun doktrinär Änderungen anstößt oder sich im Wesentlichen an den Konsens der Synode hält. Inzwischen kennen wir
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L. RING-EIFEL (Hrsg.), Die Interviews (Anm. 7), S. 186 f. A. SPADARO, Das Interview (Anm. 8), S. 53 f. Radio Vatikan vom 28.6.2016.
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das Ergebnis: Franziskus hat in seinem nachsynodalen Apostolischen Schreiben Amoris laetitia (AL) über die Liebe in der Familie (2016) den Synodenbericht anerkannt, aber darin seine pastorale Handschrift eingetragen, die durchaus Spielraum für Entwicklungen zulässt. Drei Aspekte sind deutlich zu erkennen: Für den Papst ist erstens der synodale Vorgang wichtiger, als ihr gegenüber seine eigene Position durchzusetzen (sollte er eine markant davon abweichende Position überhaupt haben). Er ermutigte zum Ringen um eine gemeinsame Orientierung, die durchaus Streit zulassen konnte, denn er verstand seine Rolle als „Garant der Einheit“ und als Moderator und Hörender im Hintergrund (eine durchaus ungewohnte Ausübung seines Lehramts und organisationstheoretisch nahe an einem Widerspruch). Zweitens: Auch die Synode der Bischöfe wird mit dem Phänomen des Pluralismus innerhalb der eigenen Reihen konfrontiert. Will das Lehramt diesen Pluralismus ernst nehmen, kann es die Differenzen nicht einfach durch doktrinäre Entscheide neutralisieren. Und darum setzt Franziskus drittens auf eine neue pastorale Dynamik, so dass die kirchliche Praxis mehr Gewicht als bisher erhält; der Papst weist auch in diesem Schreiben erneut darauf hin, „dass nicht alle doktrinellen, moralischen und pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen. Selbstverständlich ist in der Kirche eine Einheit der Lehre und der Praxis notwendig; das ist aber kein Hindernis dafür, dass verschiedene Interpretationen einiger Aspekte der Lehre oder einiger Schlussfolgerungen, die aus ihr gezogen werden, weiterbestehen“ (AL 3). Fassen wir die Spurensuche nach Bergoglios Reformschritten zusammen: 1. Papst Franziskus versteht seine Wahl als Auftrag der Kardinäle, Reformen auf den Weg zu bringen. 2. Diese Reformen konzentrieren sich vor allem auf die Organisationsstruktur des Vatikans und werden von einem internationalen Beratungsteam – zusammengesetzt aus von Franziskus persönlich ausgewählten Kardinälen – begleitet. 3. Papst Franziskus sieht sein Amt nicht auf diese organisatorischen Reformen beschränkt, vielmehr prägt er einen neuen, pastoral umgänglichen und kommunikativ wohlwollenden, einfühlsamen Stil, der ihm große Sympathie entgegenbringt und ihm hohe Authentizität verleiht. Trotz seines fortgeschrittenen Alters wirkt der Papst jugendlich, immer wieder überraschend und unberechenbar. Beobachter sprechen von einem „disrup-
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tiven“ Reformstil16, der keinen Masterplan verfolgt, sondern spontan, je nach Situation und Anlass angestoßen wird. 4. Franziskus hat keine Scheu, heiße Eisen anzusprechen, allerdings geht er klug und bedächtig vor. So verortet er die päpstliche Unfehlbarkeit in der Unfehlbarkeit der ganzen Kirche und balanciert damit die Asymmetrie des Unfehlbarkeitsprimats ein Stück weit aus. Er fordert eine Aufwertung der Frauen in der Kirche, öffnet aber – wenn auch für viele Frauen doch enttäuschend – nicht die Debatte der Frauenordination, denn mehrmals verwies er inzwischen darauf, dass diese Tür von Johannes Paul II. geschlossen worden sei. Er weigert sich, sich auf die Themen der Empfängnisverhütung, der Abtreibung oder homosexueller Ehen zu fixieren, weil er die Verkündigung des Evangeliums in seiner Weite bewahren will. Er will in der Ökumene offenbar einen unverkrampfteren und herzlicheren, vor allem aber einen menschlich und spirituell anerkennenden Umgang kultivieren und von da aus die nächsten Schritte gehen, die im Reformationsjubiläum 2017 wenigstens die Hoffnung auf neue Initiativen am Leben lässt. 5. Der profilgebende pastorale und theologische Akzent von Papst Franziskus liegt zweifelsohne auf der Sozialethik. Franziskus ist geprägt von der lateinamerikanischen Theologie des Volkes, von befreiungstheologischen Impulsen, von höchster Sensibilität für den konkreten Menschen, aber auch von einer klaren Position gegenüber strukturellen Bereichen der Wirtschaft, des Geldes, der Konsummentalität, der Umweltzerstörung. Er steht in der Linie der Soziallehre der Kirche, markiert aber intensiver die Frage der Gerechtigkeit, der Armut und die Frage der Ökologie, der erstmals in seiner Enzyklika Laudato si (2015) breiter Raum gegeben wurde. 6. Franziskus’ großes Charisma ist seine Fähigkeit, die geistliche Dimension des Christseins verständlich und ohne Aufweichung darzustellen. In seinen Betrachtungen, Predigten, Ansprachen und Interviews ereignet sich je neu eine einzigartige Begegnung zwischen ihm und den Zuhörenden. Er tritt unmittelbar in Beziehung zu ihnen, und genau darum finden bei ihm Botschaft und Medium eine solch authentische Übereinstimmung.
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Vgl. VOLKER RESING, Disruptive Barmherzigkeit, in: Herder Korrespondenz 70 (2016), S. 4–5.
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2. Ecclesia semper reformanda – Über einige Reform‐Brennpunkte in der katholischen Kirche Dass die Kirchen immer wieder vor der Herausforderung von Reformen standen und stehen, zeigt der Weg der Kirche durch die Zeiten der Geschichte.17 Im Laufe der Kirchengeschichte gab es zahlreiche historische Einschnitte, in denen massive Reformschübe stattfanden, und es gab Phasen ohne nennenswerte Veränderungen. Die protestantische Reformation und die auf sie folgende katholische Reform in der Zeit nach dem Konzil von Trient zählen aber zu den bedeutendsten Umbrüchen der letzten Jahrhunderte. Die Notwendigkeit der ständigen Reform – ein Gedanke der calvinistischen Theologie, die sich ihrerseits darin auf Augustinus berief – ist theologisch erst in der jüngeren Vergangenheit erkannt worden. Das Motto der Ökumenischen Sommerakademie 2016 „Es muss sich etwas ändern“ ist Ausdruck einer Erkenntnis, dass eine bestimmte Lebenssituation oder konkrete Organisationsformen so nicht fortgesetzt werden können wie bisher, weil das Beharren auf dem Status quo einen irreversiblen Schaden nach sich ziehen würde. Reformappelle reagieren also auf Krisenwahrnehmungen und adressieren bestimmte Reformsubjekte. Der Reformdiskurs im Kontext von Kirche darf sich allerdings nicht nur auf pragmatische Aspekte beschränken, da Kirche keine Institution ist, die sich aus sich selbst heraus begründet, sondern die sich als „Werkzeug und Zeichen für die innigste Verbindung Gottes mit dem Menschen“ (LG 1) versteht. Kirche ist somit ein theologales Phänomen, grundlegende Reformen müssen theologisch begründet werden, also an der Heiligen Schrift und ihrer Rezeption Maß nehmen. Nicht von ungefähr fokussiert sich deshalb der Reformbegriff auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil besonders im Kontext der Frage der Ökumene: „Da jede Erneuerung der Kirche wesenhaft in einer vermehrten Treue gegen ihrer Berufung besteht, ist dies ohne Zweifel der Grund, warum die Bewegung zur Einheit strebt. Solange die Kirche auf ihrem Weg pilgert, wird sie von Christus zu dieser ständigen Reform gerufen, derer sie selbst als menschliche und irdische
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Vgl. ANDREAS MERKT / GÜNTHER WASSILOWSKY / GEORG WURST (Hrsg.), Reformen in der Kirche. Historische Perspektiven (QD 260), Freiburg / Basel / Wien 2014.
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Einrichtung dauernd bedarf“ (UR 6). Reform beansprucht normativ also immer eine Rückbesinnung auf den Kern der Frohbotschaft, auf die Grundbestimmung von Kirche und Christsein, darum gilt im Besonderen das Wort Jesu aus dem Markusevangelium: „Erfüllt ist die Zeit, nahe gekommen ist das Reich Gottes, kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15). Doch als Reformkonzil ist das Zweite Vaticanum vor allem wegen seines „Aggiornamento“, der „Ver-heutigung“, zum Meilenstein geworden, weil der Glaube und dessen ekklesiologische Gestalt nicht tote Tradition sind, sondern lebendige Gegenwart. Die Aufforderung der Kenntnis der „Zeichen der Zeit“ (GS 4) ist für das Konzil jener Horizont, auf den hin Kirche immer sichtbar und wirksam werden muss. Auch 50 Jahre nach dem Konzil stehen wir noch immer vor derselben Frage wie damals, worin dieses „Aggiornamento“ besteht und welche Gestalt es annehmen muss. Der Disput um die Auslegung des Reformimpulses des Konzils hat besonders die Zeit der Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. bestimmt: Die unabgeschlossene Reform drohte vor allem restaurative Züge anzunehmen. Papst Franziskus knüpft hingegen wieder explizit am Reformimpuls des Konzils an und mahnt mit ungewohntem Nachdruck: „[…] heute, 50 Jahre danach, müssen wir uns fragen: Haben wir da all das getan, was uns der Heilige Geist im Konzil gesagt hat? In der Kontinuität und im Wachstum der Kirche, ist da das Konzil spürbar gewesen? Nein, im Gegenteil: Wir feiern dieses Jubiläum und es scheint, dass wir dem Konzil ein Denkmal bauen, aber eines, das nicht unbequem ist, das uns nicht stört. Wir wollen uns nicht verändern und es gibt sogar auch Stimmen, die gar nicht vorwärts wollen, sondern zurück: Das ist dickköpfig, das ist der Versuch, den Heiligen Geist zu zähmen.“18 So verwundert es also nicht, dass sich bei den Schlagworten „Krise“ und „Reform“ die Geister allein schon an der Frage scheiden, worin denn die Krise der Kirche von heute liege und wie sie mit Reformen überwunden werden könnten.19 Seit vielen Jahren wird ein ganzes Bündel an Kri-
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Radio Vatikan vom 16.4.2013. Schon der Begriff der „Krise“ selbst findet keine ungeteilte Zustimmung. N. Luhmann etwa würde den Begriff der Krise nur für strukturell und zeitlich überschauund bewältigbare Problemkonstellationen verwenden. Die Religionen in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft, allen voran das Christentum, leiden aber weniger unter einer solchen „Krise“, sondern viel mehr unter dem fundamentaleren Problem der strukturellen Passung an eine völlig anders geartete Form der Gesell-
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senphänomenen genannt und diskutiert: Die Kirche leide an einer Krise der Kommunikation, einer Krise der Strukturen, der Leitung, der Glaubwürdigkeit, einer fundamentalen Glaubenskrise, an einer Gotteskrise usw. Aus dieser heterogenen und vom Standort abhängigen Sichtweise möchte ich an dieser Stelle allerdings nur zwei Brennpunkte in den Blick nehmen, die sich unbeschadet ihrer Komplexität für mich als zentral erweisen. (a) Eine grundlegende Herausforderung liegt in der theologisch und institutionell nie wirklich einlösbaren spirituellen Krise der Kirche. Sie entsteht je neu aus der Spannung, dass Kirche selbst immer nur in beschränkter und oft unzureichender Weise den Heilswillen Gottes mit der Menschheit bezeugt und dessen Konsequenzen in ihren bekennenden, diakonischen und sakramentalen Vollzügen vermittelt. Weil Kirche kein Selbstzweck ist, sondern das Instrument und Sakrament der göttlichen Liebe zu den Menschen (vgl. LG 1), darum ist jeder einzelne Christ und jede Zeit immer wieder vor die bedrängende Frage gestellt, wie diese Liebe in und durch Kirche Resonanz erhält. Ob der schöpferische und weltverändernde Geist Gottes sich Plausibilität verschaffen kann, hängt gewiss nicht an Meinungsumfragen und Erfolgsmeldungen, aber zweifelsohne prägen die Geschichte der Kirche „fette und magere Jahre“ – in den westlichen Ländern scheinen die dürren Zeiten angebrochen zu sein. Die „spirituelle Kompetenz“ der christlichen Kirchen wird deshalb heute in einem großen Ausmaß bezweifelt. Der Zeithistoriker und Gründer der Gemeinschaft Sant’Egidio, Andrea Riccardi, sieht den eigentlichen spirituellen Krisenkern der Kirche, aber nicht minder Europas, im offenkundigen Mangel an Hoffnung: „Heute tendiert es eher zu einer Haltung der Gleichgültigkeit und der Resignation. Man kann nichts verändern, so denkt man; die ökonomischen Ressourcen sind nicht vorhanden; es fehlt die Macht und vor allem ist Veränderung nicht nötig.“20 Riccardi weiß sich in seiner Analyse besonders von den Gedichten des P. David Maria Turoldo angeregt. Dieser spricht von einer „Senilität des Geistes“21, die das christliche Volk Gottes heute im Griff habe. In ihm herrsche ein Geist der Gleichgültigkeit und der Schwermut vor. Diese ergraute Kirche sei aber kein Phänomen des Alters, sondern des Fehlens an Hoffnung.
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schaft. Vgl. NIKLAS LUHMANN, Die Religion der Gesellschaft, Frankfurt/M. 2000, S. 278–319. ANDREA RICCARDI, Franziskus. Papst der Überraschungen. Krise und Zukunft der Kirche, Würzburg 2014, S. 38. DAVID MARIO TUROLDO, Uomini senza rimorsi, in: Il sapore del pane, San Paolo 2002, S. 11.
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Tatsächlich erscheinen die westlichen Kirchen von einer tiefen Müdigkeit eingehüllt zu sein. Es fehlt ihnen weitgehend an Esprit, an geistiger Frische und Energie, den Zeichen der Zeit mit innovativen, mutigen, kreativen neuen Formen und Antworten des Christseins zu begegnen. Jetzt, da die Schubkraft der christlichen Milieus erschöpft ist, da die Traditionen nicht mehr tragen, sondern als Last und Fremdheit empfunden werden, zeigt sich eine große Ratlosigkeit vor den Herausforderungen einer säkularen und vor allem konsumistischen und egozentrischen Gesellschaft. Diese Krise der Kirchen ist ein epochales Phänomen, das nicht weniger verlangt als eine „Neu-Findung“ und „Neu-Entdeckung“ des Christentums in einem „säkularen und postsäkularen Zeitalter“, wie die beiden prominentesten Sozialphilosophen der Gegenwart, Jürgen Habermas und Charles Taylor, unsere Epoche bezeichnen.22 (b) Der andere Brennpunkt des Reformdiskures in der katholischen Kirche ist struktureller Art und hat sich als unvermeidbares Folgeproblem des Zweiten Vatikanischen Konzils herausgestellt. Das Konzil hat neben vielen „Baustellen“ vor allem zwei kirchenorganisatorische Herausforderungen ausgelöst, die bis heute nicht verarbeitet wurden, sondern von Jahrzehnt zu Jahrzehnt sich weiter zugespitzt haben. Das Konzil hat ein grundlegend neues „Kirchenbild“ entworfen, und zwar das Bild von der Kirche als pilgerndem Volk Gottes. Welche Konsequenz daraus für das Verhältnis von Weltkirche und Ortskirche und für das Verhältnis von gemeinsamem und Weihe-Priestertum zu ziehen sei, hat das Konzil nicht näher geklärt. Tatsächlich sind aber einige wesentliche Probleme der katholischen Kirche Ausdruck dieser theologisch und rechtlich ungelösten Konsequenzen aus dem Zweiten Vaticanum. Zur ersten Herausforderung: So visionär die Vorstellung von Kirche als Volk Gottes und als Communio in hierarchischer Ordnung ist, so sehr fehlt ihr bis heute eine überzeugende und organisatorisch erkennbare Abbildung dieser „Volk-Gottes-Ekklesiologie“23. Die grundlegende Einheit von Kirche vor aller hierarchischen Ausdifferenzierung verlangt intrinsisch (!) eine andere Konzeption des hierarchisch gegliederten besonderen Priesteramtes in Bezug auf das gemeinsame Priesteramt, das allen Gläubigen zukommt. Die bloße ontologische Abgrenzung, dass sich das Weiheamt
22 23
Vgl. CHARLES TAYLOR, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt/M. 2011. Vgl. RAINER BUCHER (Hrsg.), Die Provokation der Krise. Zwölf Fragen und Antworten zur Lage der Kirche, Würzburg 2003.
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„nicht dem Grade, sondern dem Wesen nach“ von der „Tauf-Weihe“ jedes Christen, jeder Christin unterscheidet, leistet noch keine theologische und pastorale Lösung (LG 12). Darauf müssen aber Theologie und Lehramt eine Antwort finden, wenn die katholische Kirche ihrem Auftrag der Verkündigung des Gottesreiches gerecht werden will. Auch Papst Franziskus hat zur Lösung dieses Problems bislang keine wegweisenden Maßnahmen ergriffen. Seine Wertschätzung der Christinnen und Christen, deren Charismen und Fähigkeiten zum Aufbau des Gottesvolkes dienen, ist eine Conditio sine qua non eines würdigen und respektvollen Umgangs miteinander. Dass er dem Glaubenssinn der Gläubigen (sensus fidelium) eine deutlich höhere Anerkennung entgegenbringt als seine Vorgänger, ist erfreulich24, aber damit ist im hierarchischen Vollzug von Kirche, in ihren Akten der Rechtsprechung und der Wahrheitsfindung, noch kein entscheidender Schritt nach vorne gelungen. Zwar scheint dem Papst diese Herausforderung, vor allem im Kontext mangelnder Priesterberufungen bewusst zu sein, hat er doch aufgerufen, ihm in der Frage des kirchlichen Weiheamtes mutige Vorschläge zu unterbreiten; doch bislang sind hierzu keine konkreteren Aussagen oder gar Reformen angesagt worden. Auch die inzwischen eingesetzte Kommission zur theologischen Prüfung des Diakonats der Frau ist zwar als Zeichen einer dankbar wahrgenommenen Sensibilität vermerkt, ob daraus tatsächlich eine Entwicklung hin zu einem weiblichen Diakonat in Gang kommt, ist derzeit noch nicht abzusehen. Darüber hinaus ist die Herausforderung der Rolle der Frau in Kirche und Gesellschaft meines Erachtens im Lehramt nach wie vor unzureichend erkannt, und sie wird auch unter Papst Franziskus vor dem Hintergrund der einseitig geführten „Anti-Gender-Debatte“ sogar mit irritierenden und peinlichen Aussagen noch weiter verzerrt. Die zweite strukturelle Krise nährt sich aus dem neu zu bestimmenden Verhältnis von Weltkirche und Ortskirche, also dem Verhältnis von Papst und dem Kollegium der Bischöfe. Die Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. setzten auf eine starke Re-Zentralisierung der Kirchenführung. Die Ortskirchen wurden entmachtet, die Interpretation der amtstheologischen Probleme hat Rom an sich gezogen. Das ist nicht nur Ausdruck eines machtbewussten Zentralismus, sondern auch Folge einer glo-
24
Vgl. dazu: INTERNATIONALE THEOLOGENKOMMISSION, Sensus fidei und sensus fidelium im Leben der Kirche (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 199, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 2015.
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balisierten Welt, wo alles, was in den Ortskirchen vor sich geht, mit der Geschwindigkeit medialer Kommunikation im Zentrum der Weltkirche ankommt. Dieses Problem kann nur durch eine Dezentralisierung von Macht und einer Neubestimmung päpstlicher Machtausübung gelöst werden. Allerdings ist dies leichter gesagt als getan, tendiert doch jede Macht nicht zu ihrer Selbstbegrenzung, sondern zu ihrer Selbstverstärkung. Sollte Entscheidungsmacht tatsächlich nach unten im Sinne der Stärkung der synodalen Ebene abgegeben werden, müssen die Bischöfe auch die unangenehmen Folgen in Kauf nehmen, etwa die Verantwortung unliebsamer Entscheidungen usw. Dass das Verhältnis von Papstamt und dem Kollegium der Bischöfe neu strukturiert werden muss, ist in den letzten Jahrzehnten offenkundig geworden. Katholischerseits bewegen wir uns noch immer im Schatten des Ersten Vatikanums (1869–1870), im Grunde sogar im Schatten des Konzils von Konstanz (1414–1418), wo in der Konzilsgeschichte zum letzten Mal um die Frage des Verhältnisses von Papst und Konzil heftig gestritten wurde. Wie der päpstliche Primat und die Kollegialität der Bischöfe, aber auch die Repräsentation des ganzen Volkes Gottes in einem künftigen Konzil strukturell und kirchenrechtlich ausbalancierter geordnet werden können, darauf müssen künftige Pontifikate eine Antwort finden. Der Appell des heiligen Papstes Johannes Paul II., über das Petrusamt neu nachzudenken, zeigt immerhin ein Problembewusstsein an. Theologischerseits gibt es denn auch bereits konkrete Vorschläge, wie etwa die Errichtung eines ständigen Senats der Communio der Bischöfe.25 Die Einrichtung des „K9-Rats“ durch Papst Franziskus ist deshalb als ein erster pragmatischer Versuch zu werten, eine Kurienreform auf den Weg zu bringen. Die Leitung und Organisation der Bischofssynoden ist ein weiterer Hinweis, dass es Papst Franziskus mit Reformen ernst meint. So ist abschließend festzuhalten, dass mit Papst Franziskus wenigstens die Hoffnung auf Reform der katholischen Kirche wieder auflebt. Franziskus verfolgt allerdings eine andere Rangordnung, als viele auf Reform drängende Katholikinnen und Katholiken vielleicht von ihm erwarten. Die erste und schwierigste Reform ist seiner Ansicht nach die Reform der Ge-
25
PAPST JOHANNES PAUL II., Enzyklika „Ut unum sint“ über den Einsatz für die Ökumene (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls, Nr. 121, hrsg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz), Bonn 1995, Art. 95; JOHN R. QUINN, Die Reform des Papsttums (QD 188), Freiburg / Basel / Wien 2001; Concilium 49 (2013), Themenheft 5: Zur Reform der Römischen Kurie.
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sinnung, die Reform der Herzen. Sie besteht in der doppelten Zuwendung sowohl zum Evangelium als auch zum marginalisierten Nächsten. Ohne diese Reform verfehlen organisatorische, administrative, strukturelle Reformen ihr Ziel – denn die Kirche ist keine NGO, wie Franziskus nicht müde wird zu betonen. Gerade deshalb will Franziskus eine umfassendere Reform, als es sich die Menschen erwarten oder gar wünschen: eine Verwandlung der ganzen Kirche! Christoph Kardinal Schönborn ist recht zu geben, wenn er sagt, dass uns Franziskus deshalb ungeheuer herausfordert. Karl August Fink hat im Handbuch der Kirchengeschichte folgenden denkwürdigen Satz geschrieben: „Rom hat die Reform verhindert und dafür wenig später die Reformation erhalten.“26 Heute können wir immerhin sagen: „Rom“ ist nicht nur lehrende Kirche geblieben, sondern auch eine hörende, zum Dialog bereite Kirche geworden, im Zweiten Vatikanum sogar als theologisch verbrieftes Selbstverständnis. Das 21. Jahrhundert wird allerdings nicht mehr davon bestimmt sein, was die Kirchen ekklesiologisch und ökumenisch umtreibt, sondern ob das Christentum als solches eine glaubwürdige, überzeugende Antwort auf die großen Fragen der Gegenwart hat: die Frage der Gerechtigkeit; die Frage der Gewalt; die Frage der Ökologie, und nicht zuletzt: die Frage nach Gott, die Frage nach der Gegenwart Gottes in der Schöpfung, in der Geschichte, im Menschen.
26
KARL AUGUST FINK, Das abendländische Schisma und die Konzilien, in: Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte, Freiburg / Basel / Wien 1968, Band III/2, S. 490–588, hier: S. 588.
Dokumentation
Gemeinsame Erklärung
zum gemeinsamen katholisch‐lutherischen Reformationsgedenken
Bei der Apostolischen Reise von Papst Franziskus nach Schweden zum gemeinsamen katholisch-lutherischen Gedenken der Reformation (vom 31. Oktober bis 1. November 2016) wurde am 31. Oktober 2016 während der Feier des Gemeinsamen Ökumenischen Gebetes in der lutherischen Kathedrale von Lund die im Folgenden dokumentierte1 „Gemeinsame Erklärung anlässlich des gemeinsamen katholisch-lutherischen Reformationsgedenkens“ sowohl von Papst Franziskus als auch vom Präsidenten des Lutherischen Weltbundes Bischof Munib Younan unterzeichnet. GEMEINSAME ERKLÄRUNG anlässlich des gemeinsamen katholisch-lutherischen Reformationsgedenkens „Bleibt in mir, dann bleibe ich in euch. Wie die Rebe aus sich keine Frucht bringen kann, sondern nur, wenn sie am Weinstock bleibt, so könnt auch ihr keine Frucht bringen, wenn ihr nicht in mir bleibt“ (Joh 15,4)
Mit dankbaren Herzen Mit dieser Gemeinsamen Erklärung bringen wir Gott unsere frohe Dankbarkeit für diesen Augenblick des gemeinsamen Gebets in der Kathedrale
1
Text der Übersetzung des englischen Originaltextes „JOINT STATEMENT on the occasion of the Joint Catholic-Lutheran Commemoration of the Reformation“ ist entnommen von: http://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/ 2016/10/31/0783/01757.html#tede.
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von Lund zum Ausdruck und beginnen damit das Gedenken an 500 Jahre Reformation. 50 Jahre ununterbrochener und fruchtbarer ökumenischer Dialog zwischen Katholiken und Lutheranern haben uns geholfen, viele Unterschiede zu überwinden, und haben unser gegenseitiges Verständnis und Vertrauen vertieft. Gleichzeitig sind wir einander durch gemeinsame Dienste an unseren Mitmenschen, oft in Situationen von Leid und Verfolgung, nähergekommen. Durch Dialog und gemeinsames Zeugnis sind wir nicht länger Fremde. Vielmehr haben wir gelernt, dass das uns Verbindende größer ist als das Trennende.
Vom Konflikt zur Gemeinschaft Während wir eine tiefe Dankbarkeit empfinden für die geistlichen und theologischen Gaben, die wir durch die Reformation empfangen haben, bekennen und beklagen wir vor Christus zugleich, dass Lutheraner und Katholiken die sichtbare Einheit der Kirche verwundet haben. Theologische Unterschiede wurden von Vorurteilen und Konflikten begleitet und Religion wurde für politische Ziele instrumentalisiert. Unser gemeinsamer Glaube an Jesus Christus und unsere Taufe verlangen von uns eine tägliche Umkehr, durch die wir die historischen Meinungsverschiedenheiten und Konflikte, die den Dienst der Versöhnung behindern, ablegen. Während die Vergangenheit nicht verändert werden kann, kann das, woran man sich erinnert und wie man sich erinnert, verwandelt werden. Wir beten um die Heilung unserer Wunden und Erinnerungen, die den Blick aufeinander verdunkeln. Nachdrücklich lehnen wir allen vergangenen und gegenwärtigen Hass und alle Gewalt ab, besonders jene im Namen der Religion. Wir hören heute Gottes Gebot, jeden Konflikt beizulegen. Wir erkennen, dass wir durch Gnade befreit sind, uns zur Gemeinschaft hin zu begeben, zu der Gott uns beständig ruft.
Unsere Verpflichtung zum gemeinsamen Zeugnis Da wir diese Begebenheiten der Geschichte, die uns belasten, hinter uns lassen, verpflichten wir uns, gemeinsam Gottes barmherzige Gnade zu bezeugen, die im gekreuzigten und auferstandenen Christus sichtbar geworden ist. Im Bewusstsein, dass die Art und Weise, wie wir miteinander in
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Beziehung treten, unser Zeugnis für das Evangelium prägt, verpflichten wir uns selbst, in der Gemeinschaft, die in der Taufe wurzelt, weiter zu wachsen, indem wir uns bemühen, die verbleibenden Hindernisse zu beseitigen, die uns davon abhalten, die volle Einheit zu erlangen. Christus will, dass wir eins sind, damit die Welt glaubt (vgl. Joh 17,21). Viele Mitglieder unserer Gemeinschaften sehnen sich danach, die Eucharistie in einem Mahl zu empfangen als konkreten Ausdruck der vollen Einheit. Wir erfahren den Schmerz all derer, die ihr ganzes Leben teilen, aber Gottes erlösende Gegenwart im eucharistischen Mahl nicht teilen können. Wir erkennen unsere gemeinsame pastorale Verantwortung, dem geistlichen Hunger und Durst unserer Menschen, eins zu sein in Christus, zu begegnen. Wir sehnen uns danach, dass diese Wunde im Leib Christi geheilt wird. Dies ist das Ziel unserer ökumenischen Bemühungen. Wir wünschen, dass sie voranschreiten, auch indem wir unseren Einsatz im theologischen Dialog erneuern. Wir beten zu Gott, dass Katholiken und Lutheraner fähig sein werden, gemeinsam das Evangelium Jesu Christi zu bezeugen, indem sie die Menschheit einladen, die gute Nachricht von Gottes Heilshandeln zu hören und zu empfangen. Wir bitten Gott um Eingebung, Ermutigung und Kraft, damit wir zusammenstehen können im Dienst und so für die Würde und die Rechte des Menschen, besonders der Armen, eintreten, für die Gerechtigkeit arbeiten und alle Formen von Gewalt zurückweisen. Gott fordert uns auf, all denen nahe zu sein, die sich nach Würde, Gerechtigkeit, Frieden und Versöhnung sehnen. In besonderer Weise erheben wir heute unsere Stimme für ein Ende der Gewalt und des Extremismus, die so viele Länder und Gemeinschaften sowie unzählige Schwestern und Brüder in Christus betreffen. Wir bitten dringend, dass Lutheraner und Katholiken zusammenarbeiten, um den Fremden aufzunehmen, denen zu Hilfe zu kommen, die wegen Krieg und Verfolgung gezwungen waren zu fliehen, und die Rechte der Flüchtlinge und der Asylsuchenden zu verteidigen. Mehr als je zuvor stellen wir fest, dass unser gemeinsamer Dienst in dieser Welt sich auf Gottes Schöpfung erstrecken muss, die durch Ausbeutung und die Auswirkungen einer unersättlichen Gier in Mitleidenschaft gezogen wird. Wir anerkennen das Recht der zukünftigen Generationen, sich an Gottes Erde in all ihrem Reichtum und all ihrer Schönheit zu erfreuen. Wir bitten um einen Wandel der Herzen und der Sinne, der uns zu einer liebevollen und verantwortlichen Art und Weise der Sorge für die Schöpfung führt.
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Eins in Christus Bei diesem glücklichen Anlass bekunden wir unsere Dankbarkeit gegenüber den Brüdern und Schwestern, die die verschiedenen christlichen Weltgemeinschaften und -vereinigungen vertreten, die anwesend sind und sich im Gebet mit uns verbinden. Wenn wir uns wieder verpflichten, uns vom Konflikt zur Gemeinschaft zu bewegen, tun wir das als Teil des einen Leibes Christi, in den wir alle durch die Taufe eingegliedert worden sind. Wir fordern unsere ökumenischen Partner auf, uns an unsere Verpflichtungen zu erinnern und uns zu ermutigen. Wir bitten sie, weiter für uns zu beten, mit uns zu gehen und uns dabei zu unterstützen, unser durchbetetes Engagement, das wir täglich zu erkennen geben, lebendig werden zu lassen.
Aufruf an Katholiken und Lutheraner weltweit Wir wenden uns an alle lutherischen und katholischen Gemeinden und Gemeinschaften, unerschrocken und schöpferisch, freudig und hoffnungsvoll bezüglich ihres Vorsatzes zu sein, die große Reise, die vor uns liegt, fortzusetzen. Mehr als die Konflikte der Vergangenheit wird Gottes Gabe der Einheit unter uns die Zusammenarbeit leiten und unsere Solidarität vertiefen. Indem wir uns im Glauben an Christus näher kommen, indem wir miteinander beten, indem wir aufeinander hören und Christi Liebe in unseren Beziehungen leben, öffnen wir uns, Katholiken und Lutheraner, der Macht des Dreieinen Gottes. In Christus verwurzelt und ihn bezeugend erneuen wir unsere Entscheidung, treue Boten von Gottes grenzenloser Liebe für die ganze Menschheit zu sein. Lund, 31. Oktober 2016
Biographische Hinweise
zu den Autorinnen und Autoren
BÜNKER MICHAEL, Dr. theol., ist Bischof der Evangelischen Kirche A. B. in Österreich, Vorsitzender des Evangelischen Oberkirchenrates A. und H. B. in Österreich sowie Generalsekretär der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa; er ist u. a. Honorarprofessor an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Mitglied im Redaktionskomitee der Ökumenischen Sommerakademie. GRUBER FRANZ, Dr. theol., ist Professor für Dogmatik und Ökumenische Theologie an der Fakultät für Theologie der Katholischen Privat-Universität Linz, seit 2014 Rektor der KU Linz und u. a. Mitglied des Kuratoriums des Europäischen Forum Alpbach. KARDINAL KOCH KURT, Dr. theol., ist Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, war u. a. Professor für Dogmatik und Liturgiewissenschaften in Luzern und Bischof des Bistums Basel; er ist Mitglied mehrerer Dikasterien der römischen Kurie. KÖRTNER ULRICH H. J., Dr. theol., DDr. theol. h. c., ist Professor für Systematische Theologie (H. B.) an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und u. a. Vorstand des Instituts Ethik und Recht in der Medizin sowie in wissenschaftlichen Beratungsgremien der österreichischen Bundesregierung tätig. LEDERHILGER SEVERIN J., O.Praem., Mag. theol., Dr. iur., Dr. iur.can., ist Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät der Katholischen Privat-Universität Linz und u. a. Generalvikar der Diözese Linz, Mitglied im Religionsbeirat des Landes Oberösterreich sowie Mitglied im Redaktionskomitee der Ökumenischen Sommerakademie. LEHNER GEROLD, Dr. theol. ist Superintendent der Diözese Oberösterreich der Evangelischen Kirche A. B. und u. a. Präsident der Österreichischen Bibelgesellschaft, Mitglied im Religionsbeirat des Landes Oberösterreich und im Redaktionskomitee der Ökumenischen Sommerakademie.
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Autorinnen und Autoren
LEXUTT ATHINA, Dr.in theol., ist Professorin für Kirchen- und Theologiegeschichte sowie Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Evangelische Theologie am Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen. PRISCHING MANFRED, Mag. rer. soc. oec., Dr. iur., ist Professor für Soziologie sowie Leiter des Centrums für Sozialforschung an der Sozial- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Graz; er ist u. a. Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, des Hochschulrates und des Stiftungsrates der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule der Diözese Graz-Seckau sowie des Österreichischen Wissenschaftsrates. SCHEUER MANFRED, Dr. theol., ist katholischer Bischof der Diözese Linz, war Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Trier und ist u. a. innerhalb der Österreichischen Bischofskonferenz Referent für Ökumene und für Kontakte zum Judentum sowie stellvertretender Vorsitzender im Ökumenischen Rat der Kirchen in Österreich. UNTERBURGER KLAUS, Mag. phil., Dr. theol., ist Professor für Historische Theologie / Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg und u. a. Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Kommission für Theologiegeschichtsforschung).
Zum Buch Anlässlich des Jubiläums „500 Jahre Reformation (1517–2017)“ setzte sich die 18. Ökumenische Sommerakademie Kremsmünster 2016 unter zahlreichen Perspektiven mit diesem die Neuzeit zutiefst prägenden Ereignis auseinander. Es ging um die damit verbundenen geschichtlich ambivalenten Entwicklungsprozesse seither, um deren theologische Grundlagen sowie um den einstigen Ruf nach sozialen und religiösen Reformen, der ein wesentlicher Anstoß für unsere Gegenwart geblieben ist: „Es muss sich etwas ändern“ beschreibt ja nicht nur den Zeitgeist des 15. und 16. Jahrhunderts, sondern trifft ebenso aktuelle Forderungen nach Veränderung und Reform in Gesellschaft, Politik, Kultur und Kirchen. Vor dem Hintergrund von 500 Jahren Reformation und im Blick auf die letzten Jahrzehnte eines intensiven wechselseitigen Lernvorganges der Kirchen unternehmen die Beiträge dieses Tagungsbandes theologische Selbstvergewisserungen. Sie bieten zugleich motivierende Impulse zur Weiterentwicklung der evangelisch-katholischen Ökumene-Bemühungen.
Der Herausgeber Severin J. Lederhilger Opraem, Mag. theol., Dr. iur., Dr. iur.can., ist Professor für Kirchenrecht an der Katholischen Privat-Universität Linz, Generalvikar der Diözese Linz und seit 1999 Mitglied im Redaktionskomitee der Ökumenischen Sommerakademie.
ANSGAR KREUTZER / CHRISTOPH NIEMAND (HG.)
Authentizität – Modewort, Leitbild, Konzept Theologische und humanwissenschaftliche Erkundungen zu einer schillernden Kategorie Schriften der Katholischen Privat-Universität Linz, Band 1 384 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-7917-2777-6 auch als eBook
Authentizität ist ein schillerndes, gleichzeitig aber sehr populäres Wort. Vielen gilt allenfalls ein „authentisch gelebter Glaube“ noch als glaubwürdig. Soziologisch hängt die Hochkonjunktur des Begriffs damit zusammen, dass die orientierende Kraft von Traditionen, Gemeinschaften und Organisationen brüchig geworden ist, sodass die Einzelnen auf der Suche nach Identität immer mehr auf sich selbst verwiesen sind. Aus philosophischer, sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive sowie in theologischen Aufnahmen untersuchen die Autorinnen und Autoren die Tragweite und die zeitdiagnostische Bedeutung des Begriffes.
Verlag Friedrich Pustet Unser komplettes Programm unter:
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Tel. 0941 / 92022-0 Fax 0941 / 92022-330 [email protected]
SEVERIN J. LEDERHILGER (HG.)
Warum Leid?
Der Mensch zwischen Resignation und Aufbegehren Schriften der Katholischen Privat-Universität Linz, Band 2 200 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-7917-2797-4 auch als eBook
Leid zu erfahren, Lied zu ertragen, eigenes oder fremdes Leid zu bewältigen oder daran zu zerbrechen, zählt zu den existienziellsten Erlebnissen des Menschen. Zugleich stellt dies für Religion und Philosophie eine echte Herausforderung dar. Die Frage Warum Leid? lässt sich kaum allein mit einem intellektuellen Diskurs beantworten. Zwischen Resignation und Aufbegehren gilt es, aus religiöser Perspektive auch Hoffnung zu bewahren, selbst wenn damit das geheimnisvolle Dunkel des „Warum“ konkreten Leidens nie zur Gänze ausgeleuchetet wird. Nicht nur bei schuldlosem Leid erhebt sich die Frage nach der Existenz Gottes, nach seiner Gerechtigkeit, Güte und Allmacht. Wie kann er all das Schreckliche in der Welt zulassen? Die Suche nach Antworten auf das Theodozee-Problem ist dabei stets durch eine Haltung der Solidarität mit den Opfern zu ergänzen.
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