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German Pages 290 [291] Year 2022
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1470
Mehrheitsprinzip und Minderheitsregierung – Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz Von
Julia Merdian
Duncker & Humblot · Berlin
JULIA MERDIAN
Mehrheitsprinzip und Minderheitsregierung – Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1470
Mehrheitsprinzip und Minderheitsregierung – Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Von
Julia Merdian
Duncker & Humblot · Berlin
Die Fakultät für Rechtswissenschaft der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahr 2021 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Satz: Textforma(r)t Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-18494-1 (Print) ISBN 978-3-428-58494-9 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Für meine Eltern
Vorwort Ich hatte die Besessenheit, etwas wissen zu wollen, mein Wissen zu erweitern, weil ich merkte, man kann im Leben nur weiterkommen, wenn man über ein gewisses Maß an Kenntnissen verfügt. (Elisabeth Selbert)
In den letzten drei Jahren hat mich nichts so sehr beschäftigt wie die Demokratie. Das aktuelle Zeitalter birgt große Herausforderungen für Politik, Gesellschaft und nicht zuletzt für die parlamentarische Demokratie. Die Regierungsbildung ist ein Thema, das mir persönlich am Herzen liegt und meine zwei großen Leidenschaften, die Politik und die Rechtswissenschaft, miteinander vereint. Die Arbeit lag im Juni 2021 der Juristischen Fakultät der Universität Bielefeld als Dissertation vor. Sie ist auf dem Stand von Mai 2021. Somit bleibt insbesondere die Bundestagswahl 2021 für die Analyse außer Betracht. Dieses Vorwort steht im Zeichen des Dankes. In der Zeit des Promovierens bin ich vielen Menschen begegnet, die mich alle auf ihre eigene Weise dazu inspirierten, stets meinen persönlichen Überzeugungen zu folgen und meine Ziele im Blick zu behalten. Besonders hervorzuheben ist zunächst mein Doktorvater Prof. Dr. Christoph Gusy. Ihm gebührt herzlicher Dank für die zielführende und eindrucksvolle Betreuung, seine nie fehlende Diskussionsbereitschaft und sein Interesse an meiner persönlichen Entwicklung. Die Arbeit an seinem Lehrstuhl als wissenschaftliche Mitarbeiterin erlebte ich als prägend und wegweisend. Meinem Zweitgutachter, Herrn Prof. Dr. Andreas Fisahn, möchte ich für sein Interesse an meinem Dissertationsthema sowie seine zügige und zuverlässige Erstellung des Zweitgutachtens danken. Große Projekte lassen sich ohne Freundinnen und Freunde sowie ihren guten Zuspruch in schwierigen Phasen nur schwer bewältigen. Allen Begleiterinnen und Begleitern der letzten Jahre möchte ich für ihre Freundschaft und ihre Loyalität danken. Jede und jeder von ihnen hat auf eine ganz eigene Art einen Beitrag zu dieser Arbeit erbracht. Der größte Dank gilt meinen Eltern Elena und Viktor Merdian, die mich in allen Vorhaben und so auch in meiner Promotion bedingungslos unterstützten und mir diejenigen Werte vermittelten, die mich als Menschen ausmachen und leiten. Ihnen und meinem Bruder Christian ist die Arbeit gewidmet. Bielefeld, September 2021
Julia Merdian
Inhaltsverzeichnis Einleitung 17 A. Untersuchungsanlass und Untersuchungsziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 B. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 C. Untersuchungsgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Kapitel 1
Die Bundesregierung und die Regierungsbildung nach dem GG: Regierungsformen, ihre Bildung und Begriffsbestimmungen 25
A. Die Regierung und ihre Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Die formelle Mehrheitsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Mehrheitsregierung nach der ersten Wahlphase (Art. 63 Abs. 1, 2 GG) . . . . . 27 2. Mehrheitsregierung nach der zweiten Wahlphase (Art. 63 Abs. 3 GG) . . . . . . 29 II. Die Minderheitsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Zum Begriff der Minderheitsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 2. Die Bildung von Minderheitsregierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 a) Die dritte Wahlphase nach Art. 63 Abs. 4 GG („formelle Minderheitsregierung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 b) Sonstige Bildungen einer Minderheitsregierung („materielle Minderheitsregierung“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 c) Minderheitsregierungen in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 aa) Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 bb) Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 cc) Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Die Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Kapitel 2
Die politische Krise – Herausforderungen für das parlamentarische Regierungssystem und seine Regierungsbildung 38
A. Der verfassungsrechtliche Normalfall, der Ausnahmezustand und die (politische) Krise 39 I. Einordnung der regierungsrelevanten Vorschriften nach dem heuristischen Schichtenmodell des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
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Inhaltsverzeichnis 1. Die Normallage als erste Rechtsschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Vom Normalfall und Krisenverhinderungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Die Mehrheitsregierung als verfassungsrechtliche Normallage . . . . . . . . . 41 aa) Inkurs: Das demokratische Mehrheitsprinzip im GG . . . . . . . . . . . . . 42 bb) Die Einordnung des Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG anhand der Mehrheits systematik im GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 cc) Einordnung anhand der zeitlichen Begrenzung und möglicher Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 dd) Generelle Krisenverhinderung durch Art. 63 GG . . . . . . . . . . . . . . . . 47 c) Einordnung sonstigen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 2. Das einfache Krisenrecht als zweite Rechtsschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 a) Die Einordnung des Art. 63 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 aa) Einordnung anhand der eigenen Normsystematik und Subsidiarität . . 49 bb) Einordnung anhand der Rechtsfolgen aus Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG . . . . 49 cc) Art. 63 Abs. 4 GG als materielles Reserverecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 b) Einordnung der Vorschriften aus Art. 67 und 68 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3. Das Ausnahmerecht: Die Ausnahme im Recht als dritte Rechtsschicht . . . . . 53 4. Der absolute Ausnahmefall als vierte Rechtsschicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II. Die politische Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 I. Fehlende Koalitionsfähigkeit durch die quantitative Steigerung politischer Akteure im Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 1. Wahlen als Ausgangspunkt für anstehende Regierungsbildungen . . . . . . . . . 58 2. Inkurs: Die Wahlsysteme und ihre Auswirkungen auf die Regierungsbildung 59 a) Die Mehrheitswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 aa) Inhalt und Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 bb) Ziele der Mehrheitswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (1) Die Wahl des Abgeordneten als Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 (2) Auslese einer politischen Aristokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 (3) Hervorbringen einer politischen Regierungsmehrheit . . . . . . . . . 62 (4) Mäßigung der Parteienlandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 b) Die Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 aa) Inhalt und Funktionsweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 bb) Ziele der Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (1) Größere Legitimität der Regierung durch Abbildung möglichst vieler Wählerstimmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (2) Veranlassung von (Regierungs-)Kompromissen durch entstehendes Koalitionserfordernis und Chancen für neuartige politische Strömungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Inhaltsverzeichnis
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(3) „Gerechtere“ Repräsentation durch maximale Verwirklichung der optimalen Erfolgswertgleichheit abgegebener Stimmen . . . . . . . 68 (4) Zwischenergebnis: Auswirkungen von Verhältniswahl und Mehrheitswahl auf die Mehrheitsfindung zur Regierungsbildung . . . . 68 c) BRD: Die personalisierte Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Die personalisierte Verhältniswahl als Wahlsystem der BRD: Inhalt und Rechtsnatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 bb) Die Entscheidung für die personalisierte Verhältniswahl – Verhältniswahl und Mehrheitswahl im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 cc) Ziele der personalisierten Verhältniswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 dd) Politisch-praktische Konsequenzen des deutschen Wahlsystems . . . . 74 (1) Koalitionserfordernis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 (2) Inkurs: Koalitionsverträge – Definition, Rechtsnatur und Praxis . 74 (3) Parteienfragmentierung und Koalitionspraxis in der BRD . . . . . . 76 (a) Die Anzahl der Fraktionen als Kriterium der Stabilisierung und Destabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 (b) „Effective“ Number of Parties nach Laasko / Taagepera . . . . . 77 (c) Die „Effective“ Number of Parties in der BRD . . . . . . . . . . . 80 (4) Überschreitung der gesetzlichen Mitgliederzahl im Deutschen Bundestag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 ee) Wahlrechtliche Sperrklauseln als Korrekturversuch – die „FünfprozentHürde“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 3. Fazit: Ideales Wahlrecht? – Stabilität vs. Kompromissbildung . . . . . . . . . . . . 87 II. Verminderte Koalitionsbereitschaft für die Bildung einer formellen Mehrheitsregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 1. Motive von Fraktionen zur Ausübung der Regierungs- und Oppositionsrolle 92 a) Empirische Untersuchung der Motive zur Koalitionsbildung . . . . . . . . . . 92 b) Koalitionsbildung auf Bundesebene in der 19. Legislaturperiode . . . . . . . 93 aa) Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Koalitionsinkompatibilitäten . . . . . . 93 bb) Gescheiterte Jamaika-Verhandlungen und Neuauflage der Großen Koalition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 2. Populismus als Ursache der Koalitionsinkompatibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 a) Zum Begriff des Populismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 b) Populismus im parlamentarischen Regierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . . 99 aa) Anti-institutionelle Ausrichtung: Identität statt Repräsentation . . . . . 101 bb) Anti-pluralistische Ausrichtung: Homogenität statt Pluralität . . . . . . . 102 c) Die Rolle des Populismus in der BRD . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 d) Fazit: Populismus – Unzulänglichkeit der Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . 103 III. Ursachen zur Entstehung einer materiellen Minderheitsregierung – der nachträgliche Mehrheitsverlust . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104
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Inhaltsverzeichnis 1. Der Koalitionsbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 2. Parteiaustritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 IV. Fazit: Typische Phänomene und Faktoren der erschwerten Regierungsbildung – die Herausforderungen des parlamentarischen Regierungssystems . . . . . . . . . . . 107
Kapitel 3
Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz – Erfüllung der Regierungsfunktion 109
A. Die Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Die Bundesregierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 II. Die Regierungsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 III. Die parlamentarische Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 IV. Regierungsstabilität im parlamentarischen Regierungssystem . . . . . . . . . . . . . . . 115 B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität . . . . . . . . . . . . . 118 I. Sicherung der Regierungskontinuität durch die Konzeption der Kanzlerwahl nach Art. 63 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 1. Zur Einordnung des Art. 63 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 2. Wahl- und Vorschlagsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 a) Die erste Wahlphase: Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten und die Abstimmung des Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 aa) Der geforderte Bundespräsident? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 (1) Zur Integrationsfunktion des Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . 120 (2) Freies Ermessen für den präsidentiellen Vorschlag? . . . . . . . . . . . 122 (a) Vorschlagsrecht nach der wörtlichen Auslegung . . . . . . . . . . 123 (b) Vorschlagsrecht nach der historischen Auslegung . . . . . . . . . 123 (c) Der Bundespräsident als „Geburtshelfer“ der Regierungs bildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 (d) Die Ermessenssystematik aus Art. 63 GG . . . . . . . . . . . . . . . 128 (e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 (3) Der „richtige“ Zeitpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 bb) Die parlamentarische Bestellungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 b) Die zweite Wahlphase: alleiniges Entscheidungsrecht des Parlaments . . . 134 c) Die dritte Wahlphase: das materielle Reserverecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 aa) Die Wahlverpflichtung in der dritten Wahlphase . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (1) Wahlverpflichtung nach dem Wortlaut des Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG 135 (2) Wahlverpflichtung nach Sinn und Zweck des Art. 63 Abs. 4 GG . 135
Inhaltsverzeichnis
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(3) Konsequenzen der Wahlpflicht für Beschlussfähigkeit und Vorschlagsquoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 bb) Die Rolle des Bundespräsidenten in der dritten Wahlphase . . . . . . . . 137 (1) Das Ermessen des Bundespräsidenten aus Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG nach wörtlicher Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 (2) Das Ermessen des Bundespräsidenten im Kontext der systematisch und historisch bedingten Auflösungsfeindlichkeit . . . . . . . . . . . . 138 (3) Das Ermessen des Bundespräsidenten anhand der Zeitsystematik 139 (4) Das Ermessen des Bundespräsidenten anhand des im Einzelfall bestehenden Krisenbezugs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 (5) Auflösungsrecht bei unterbliebener Wahl? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 (6) (Mit-)Bestellungsrecht des Bundespräsidenten in der dritten Wahlphase? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3. Fazit: Zwischen präsidentiellen Vorschlagsrecht und parlamentarischer Bestellungsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II. Sicherung der Regierungskontinuität durch die Konzeption des konstruktiven Misstrauensvotums nach Art. 67 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Tatbestandliche Ausgestaltung des konstruktiven Misstrauensvotums . . . . . . 146 2. „Bonn ist nicht Weimar“ – Zum Stabilisierungspotential des konstruktiven Misstrauensvotums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Konstruktiv statt destruktiv: Weimar als Stabilitätsargument? . . . . . . . . . . 149 aa) Die Unterschiede zwischen Art. 54 WRV und Art. 67 GG . . . . . . . . . 149 bb) Destabilisierung in der Weimarer Republik durch Art. 54 WRV? . . . . 150 cc) Konstruktive Mehrheit als Stabilitätsgarantie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Keine Abwahl einzelner Bundesminister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 c) Fehlende Anwendungspraxis auf Bundesebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Reformerfordernis des Art. 67 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 a) Zeitliche Trennung von Misstrauensantrag und Neuwahl des Bundes kanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 b) Orientierung an Art. 44 Abs. 3 S. 2 BayLVerf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 aa) Die Konsequenzen der Rücktrittsverpflichtung nach dem GG . . . . . . 160 bb) Krisenbeseitigung durch Neubesetzung nach Art. 63 GG? . . . . . . . . . 161 c) Rücktrittsverpflichtung des Bundeskanzlers per Aufforderung durch den Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 d) Rein destruktives Misstrauensvotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4. Fazit: Das konstruktive Misstrauensvotum und sein missverstandenes Stabilisierungspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 I. Inkurs: Kooperative Gesetzgebung mit und ohne politische Mehrheit . . . . . . . . . 168
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Inhaltsverzeichnis 1. Gesetzgebung als kooperative Regierungsaufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 2. Mehrheitsfindung und Kooperationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 a) Mehrheitsfindung durch Koalitionsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 b) Mehrheitsfindung in Minderheitsregierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 aa) Das Tolerierungsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (1) Die Funktionsweise des Tolerierungsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (2) Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Das Kooperationsmodell wechselnder Mehrheiten . . . . . . . . . . . . . . . 176 (1) Die Funktionsweise wechselnder Mehrheiten . . . . . . . . . . . . . . . 176 (2) Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (3) Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 (4) Erfahrungen aus Dänemark . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 cc) Bewertung und Priorisierung der Modelle vor dem Hintergrund ihres Stabilisierungspotentials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (1) Minderheitsregierungen – eine Seltenheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (2) Der „Mehrheitsbegriff“ und die Mehrheitsfindung im GG . . . . . . 182 (3) Erfahrungswerte aus Schlüsselentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 184 (4) Zwischenergebnis: Parlamentarisierung der Gesetzgebung . . . . . 185 II. Art. 68 GG – Zwischen Kontinuität und Handlungsfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . 187 1. Die tatbestandliche Ausgestaltung der Vertrauensfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 2. Einordnung des Art. 68 GG in das parlamentarische Regierungssystem . . . . 189 3. Präventive Wirkung als Beitrag zur Regierungskontinuität und Handlungs fähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 a) Vertrauensfrage als Instrument des Bundeskanzlers . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 b) Druck- und Disziplinierungsfunktion der Vertrauensfrage . . . . . . . . . . . . 190 4. Voraussetzungen der Bundestagsauflösung nach Art. 68 GG . . . . . . . . . . . . . 192 5. Fazit: Doppeltes Drohpotential und restriktive Bundestagsauflösung . . . . . . 194 III. Der Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG als ultima ratio . . . . . . . . . . . . . . . 194 1. Begriffsverständnis und Systematik des Gesetzgebungsnotstands . . . . . . . . . 195 2. Der Gesetzgebungsnotstand und seine Voraussetzungen im Einzelnen . . . . . 197 a) Die erste Phase: Das Verfahren bis zur Erklärung des Gesetzgebungs notstands (Art. 81 Abs. 1 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 aa) Erste Alternative: Art. 81 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 68 GG . . . . . . . . . . . 197 (1) Der negative Ausgang der Vertrauensfrage bei gleichzeitigem Verbleib des Bundeskanzlers im Amt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 (2) Das Scheitern einer Gesetzesvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (3) Dringlichkeit der Gesetzesvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 bb) Zweite Alternative: Art. 81 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art. 68 GG . . . . . . . . . . 201
Inhaltsverzeichnis
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(1) Scheitern einer mit einer Gesetzesvorlage verbundenen Vertrauensvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 (a) Einheitliche Abstimmung über Vertrauensfrage und Gesetzesvorlage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 (b) Einheitliches oder gespaltenes Abstimmungsergebnis? . . . . . 206 (aa) Herabsetzung des Quorums auf das Niveau aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (bb) Erhöhung des Quorums auf das Niveau aus Art. 68, 121 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 (c) Auswirkungen auf Art. 81 GG und die Rechtsfolgen des Art. 68 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 (d) Zwischenergebnis: Die Auslegungsfragen bei Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 (2) Erfordernis einer Dringlichkeitserklärung im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 (3) Antrag von Bundesregierung und Beteiligung des Bundesrates . . 210 b) Die zweite Phase: Die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch den Bundespräsidenten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 c) Die dritte Phase: Das Verfahren nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands und die Beschlussfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 d) Tatbestandliche und teleologische Grenzen nach Art. 81 Abs. 3, 4 GG . . . 215 3. Der politische und verfassungsrechtliche Anwendungsbereich des Art. 81 GG 217 a) Politische Krise nach historischer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 b) Anknüpfung an das Vertrauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 4. Folgenabschätzung und Bewertung des Art. 81 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 a) Die präventive Wirkung des Art. 81 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 b) Diktatur der Minderheit in der Krise? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 c) Die Überbrückungsfunktion des Art. 81 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 aa) Die Reformbestrebungen für ein förmliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 bb) Art. 68 und 81 GG als geeignete Alternative zum parlamentarischen Selbstauflösungsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 (1) Eigener Aktionsradius des Bundestages bei bestehenden Auflösungswegen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 (2) Die Überbrückungsfunktion des Art. 81 GG: Gesetzgebungsnotstand vs. förmliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments . . . . . 228 cc) Plädoyer für ein Selbstauflösungsrecht nach dem Abschluss des Gesetzgebungsnotstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 (1) Zwischen „Stunde der Exekutive“ und „Legiscide“ . . . . . . . . . . . 233 (2) Vollständiges Ausschöpfen des Potentials des Art. 81 GG . . . . . . 235
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Inhaltsverzeichnis d) Der Bundesrat als Legalitätsreserve: Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 aa) Die Rolle des Bundesrates nach dem Verständnis des Verfassungsgebers 236 bb) Die Rolle des Bundesrates anhand des empirischen Abstimmungs verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 cc) Die Rolle des Bundesrates im Reformvorschlag zu Art. 81 GG . . . . . 241 e) Bewertung der prozeduralen Ausgestaltung und entsprechende Reform vorschläge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 aa) Zeitliche Ersparnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 bb) Ersparnisse bei der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands . . . . . . . . 244 5. Der Gesetzgebungsnotstand als ultima ratio – ein Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Kapitel 4
Die Geschäftsregierung 248
A. Die Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 B. Die Kompetenzen von Geschäfts- und Minderheitsregierung im Vergleich . . . . . . . . 251 I. Verfassungsrechtliche Regierungsinstrumente: Minderheits- und Geschäftsregierung im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 1. Zur Anwendbarkeit von Art. 68 und 81 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 2. Personalkontinuität als praktische Paradoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 II. Geschäftsregierung im Lichte des Demokratieprinzips . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 III. Politischer Stillstand und das freie Mandat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 IV. Fazit: Chance der Parlamentarisierung vs. demokratischer Stillstand . . . . . . . . . 256
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258
Anlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Anhang zu Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 Anhang zu Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Online-Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289
Einleitung Demokratie ist Freiheit als Staatsform. Aber sie ist mehr als das. (Katarina Barley)1
Demokratie bedeutet Herrschaft mithilfe der Mehrheit.2 Das Mehrheitsprinzip ist ein grundlegendes Strukturmerkmal der Demokratie und meint, dass Entscheidungen grundsätzlich anhand zu bildender Mehrheiten getroffen werden.3 In diesem Prinzip laufen sämtliche andere essenzielle Elemente wie (Meinungs-) Freiheit, das pluralistische Menschenbild und die pluralistische Gesellschaft sowie das Gleichbehandlungsgebot von Menschen, aber auch die Komplexität, auf welche die Demokratie letztlich angelegt ist, zusammen: bereits aus praktischen Gründen können einstimmige Abstimmungsergebnisse nicht erwartet werden, stattdessen ist in der Bevölkerung regelmäßig eine Vielfalt verschiedener Ansichten zu hochkomplexen Sachmaterien vorzufinden. Das Mehrheitsprinzip sichert die Entscheidungsfindung und sorgt für die gleichwertige Einflussnahme auf eben diese Entscheidungen. Es ist damit auch ein grundlegendes Funktionsprinzip der demokratischen Herrschaft. Beschränkung erfährt das Mehrheitsprinzip durch rechtsstaatliche Grundsätze.4 Im parlamentarischen System, so wie es in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 in der Verfassung angelegt ist, ist das Mehrheitsprinzip auch im Verhältnis von Parlament und Regierung relevant. Die Regierung ist für die Erfüllung des Regierungsauftrages auf die mehrheitliche Unterstützung des Parlaments angewiesen, denn einige Regierungsaufgaben erfordern eine Mitwirkung des Parlaments. Parlamentsbeschlüsse bedürfen ihrerseits je nach Art der Entscheidung einen bestimmten Grad an quantitativer Unterstützung; die Regierung, die dem Parlament gegenüber verantwortlich sein soll, ist auf dessen mehrheitliches Vertrauen angewiesen. Doch nicht nur die Handlungsfähigkeit der Regierung steht in Abrede, wenn sich die Regierung einer überwiegenden Unterstützung des Parlaments aufgrund bestehender oder zwischenzeitlich modifizierter Mehrheitsverhältnisse nicht versieht: Das Mehrheitsprinzip wird in allen seinen Nuancen, Ausprägungen und zum Teil auch historisch bedingten Anforderungen hieran bereits bei der Regierungsbildung und später bei Fragen der Regierungskontinuität bzw. Regierungsstabilität relevant. Die Regierungsbildung ist nur einer derjenigen Bereiche, in welchen eine Mehr 1
https://www.faces-of-democracy.org/katarina-barley/. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (16); vgl. ebenso im Folgenden Lijphart, Patterns of Democracy, S. 2. 3 BVerfGE 2, 143 (161). 4 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (16). 2
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Einleitung
heitsbildung erforderlich wird. Bei dem Auffinden der Mehrheit können sich angesichts des Wandels politischer bzw. verfassungsrechtlich relevanter Veränderungen Schwierigkeiten und neuartige Herausforderungen ergeben.
A. Untersuchungsanlass und Untersuchungsziel Der Deutsche Bundestag ist das Herz der Demokratie der Bundesrepublik. (Deutscher Bundestag)5
Spätestens die 19. Legislaturperiode der Bundesrepublik Deutschland (2017 bis 2021) offenbarte bereits zu Beginn neuartige Schwierigkeiten in Bezug auf Regierungsbildung und Regierungsstabilität. Mehrwöchige, erfolglose Sondierungs gespräche einer Jamaika-Koalition führten zu einem Novum in der Historie der Bundesrepublik: eine Fraktion verweigert die Regierungsbeteiligung. Die Verkündung erfolglos beendeter Sondierungsgespräche durch Christian Lindner (FDP) wurde zum Symbol einer gescheiterten Regierungsbildung, einer vermeintlichen „Krise“ und der erstmals praktisch relevanten Frage nach verfassungsrechtlichen Alternativen: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“6 Im Weiteren stellte sich die Frage, ob und welche Koalitionsoptionen einer Mehrheitsregierung noch in Betracht kamen. Denkbar erschien nach dem Scheitern des JamaikaBündnisses unter anderem eine Koalition zwischen CDU / CSU und SPD, also eine sogenannte „Neuauflage“ der Großen Koalition. Da die SPD aber die Regierungsbeteiligung unter der CDU / CSU bereits am Wahlabend ausgeschlossen hatte, wurde zum ersten Mal seit 1949 die Minderheitsregierung als alternative Regierungsform zu Beginn einer Legislaturperiode auf Bundesebene relevant. Diese Option wurde allerdings von der politischen Spitze der CDU7 wie auch von der Bevölkerung8 abgelehnt. Die nachfolgende Untersuchung soll darlegen, dass die Minderheitsregierung trotz kategorischer politischer Ablehnung einiger politischer Akteure in der 19. Legislaturperiode durchaus praktikabel sein kann und angesichts erschwerter Mehrheitsfindung in der Zukunft grundsätzlich sowohl auf Bundes- als auch als Landes ebene als Option in Betracht gezogen werden sollte und sogar muss. Zwar ist das Mehrheitsprinzip – wie eingangs konstatiert – ein wesentliches Merkmal des Demokratieprinzips. Dennoch besteht zwischen dem Amtieren einer Minderheits 5
https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2013/47633144_kw44_herz-213948. Siehe etwa https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-11/christian-lindner-sondierungjamaika-abbruch-fdp. 7 Siehe etwa https://www.zeit.de/politik/2017-11/cdu-praesidium-grosse-koalition-danielguenther-angela-merkel?. 8 Von insgesamt 1005 Menschen gaben 75 Prozent der Befragten an, Neuwahlen gegenüber dem Amtieren einer Minderheitsregierung zu präferieren. Siehe https://de.statista.com/ infografik/11893/lieber-neuwahlen-als-minderheitsregierung/. 6
A. Untersuchungsanlass und Untersuchungsziel
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regierung und dem Demokratieprinzip bzw. dem Mehrheitsprinzip kein Widerspruch: durch das Amtieren einer Minderheitsregierung wird das Mehrheitsprinzip grundsätzlich nicht suspendiert. Stattdessen bestehen Abweichungen der Mehrheitsfindung. Konkret meint dies, dass sich Minderheitsregierung und Mehrheitsregierung bezüglich der Mehrheitsfindung im Gesetzgebungsprozess, das heißt bei der Findung von Sachentscheidungen nur in dem „Wie“ der Mehrheitsfindung unterscheiden. Sie unterscheiden sich aber nicht in dem Erfordernis, überhaupt Mehrheiten bilden zu müssen, um erfolgreich Gesetzesinitiativen zu beschließen. Nur in demjenigen Falle, wo ein Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG zur Anwendung kommt, verlagert sich die Mehrheitsfindung auf andere Verfassungsorgane und vermag daher das Mehrheitsprinzip (teilweise) zu suspendieren, soweit der Zusammenhang zum sogenannten Parlamentsvorbehalt besteht. Die Untersuchung soll außerdem begründen, dass die Wahrscheinlichkeit des Amtierens einer Minderheitsregierung gestiegen ist. Nicht zuletzt rechtfertigt sich daraus auch das praktische Erfordernis der Untersuchung. Maßgeblich und entscheidend ist vor allem, dass die erhöhte Wahrscheinlichkeit auf solche Umstände zurückzuführen ist, die einem politisch und gleichzeitig verfassungsrechtlich relevanten Wandel entspringen. Es sind systemimmanente Mechanismen, die etwa eine Pluralisierung des Parlaments und den Einzug populistischer Parteien in Bundestag bzw. Landtage fördern. Diese Faktoren beeinflussen letztlich die Koalitionsbildung und führen dazu, dass bisherige Koalitionspraktiken der letzten Dekaden nicht mehr erfolgreich sind. Die Anzahl der im Bundestag vertretenen Fraktionen und ihre politischen Ausrichtungen und Unvereinbarkeitsbeschlüsse legen nahe, dass künftig auch erwogen werden muss, dass Koalitionen aus mehr Fraktionen als nur zwei gebildet werden. Was in der 19. Legislaturperiode im Rahmen der sogenannten Jamaika-Koalition scheiterte, wird in künftigen Koalitionsprozessen erneut relevant. Neben der insoweit politikwissenschaftlichen Erörterung der Koalitionsbedingungen und ihrer Ursachen wird die Regierungsbildung auch verfassungsrechtlich eingeordnet. Die Untersuchung soll zeigen, dass die Minderheitsregierung weniger verfassungsrechtlichen Hürden begegnet, als dies durch die zum Teil kategorische politische Ablehnung scheint. Das Grundgesetz hat umfassende Vorkehrungen getroffen, die eine Stabilität sichern stellen und zeigt insoweit auch keinen Widerspruch der Minderheitsregierung und dem parlamentarischen Regierungssystem auf. Die Arbeit soll die pauschale Erklärung widerlegen, dass die „Not die Stunde der Exekutive“ sei. Sie soll stattdessen darlegen, dass das in dem von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes geschaffenen parlamentarischen Systems der Ausweg aus der Krise vor allem Parlamentarisierung ist. Das Parlament ist das Herzstück der parlamentarischen Demokratie und muss auch aus verfassungsrechtlicher Sicht angehalten sein, Mehrheitskrisen zu bewältigen.
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Einleitung
B. Untersuchungsgegenstand und Untersuchungsfragen Knappe Mehrheiten sind kein Hindernis für eine wirksame Politik. (Willy Brandt)
Auf Basis dieser (neuartigen) erschwerten Regierungsbildung durch beeinträchtigte Mehrheitsfindung thematisiert die Arbeit, welche Alternativen zur parlamentarischen Mehrheitsregierung aus verfassungsrechtlicher Sicht für die Bundes republik Deutschland bestehen. Konkret stellen sich die Fragen: – Welchen verfassungsrechtlichen Bedingungen unterliegt das Regieren als Minderheitsregierung? – Ist sie eine „echte Alternative“ für denjenigen Fall, dass die Bildung einer Mehrheitsregierung nicht gelingt? – Warum wurde die Minderheitsregierung in der 19. Legislaturperiode überhaupt relevant? Welche Hürden und Gründe bestehen für die Bildung von Mehrheiten im Kontext des Regierens und der Regierungsbildung? Der Untersuchung liegt zunächst die Annahme zu Grunde, dass die Wahrscheinlichkeit des Amtierens einer anderen Regierungsform als jener der Mehrheitsregierung durch rechtlichen und politischen Wandel gestiegen ist. Zu klären ist, welche alternativen Möglichkeiten rechtlich eingeräumt sind bzw. welche Formen der Regierung verfassungsrechtlich zulässig sind. Ferner stellt sich die Frage, welche Bedingungen die Bildung der jeweiligen Regierungsformen erschweren oder begünstigen, indem hierfür typische Phänomene herausgearbeitet werden. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob diese womöglich der Demokratie als Staats- und Herrschaftsform immanent sind. Bisweilen werden alternative Regierungsmodelle wie die Minderheitsregierung im öffentlichen Diskurs sowie in der rechtswissenschaftlichen Literatur mit Zweifeln, größtenteils auch mit starker Ablehnung begegnet. Es handle sich, so Kritiker, um ein „Krisenphänomen“ und die Erfolgschancen seien gegenüber einer Mehrheitsregierung als geringer zu erachten.9 Nur vereinzelt finden sich Befürwortungen für die Etablierung einer Minderheitsregierung auf Ebene der Bundesrepublik Deutschland.10 Zu erörtern ist daher, wie die einzelnen Regierungsformen hinsichtlich ihrer Rechtsfolgen verfassungsrechtlich anhand ihres Krisenbezugs zu kategorisieren sind. In diesem Zusammenhang ist klärungsbedürftig, welche „Krisen“ 9
v. Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, S. 570; vgl. auch Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 57 ff.; Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt? Grundsätzliche Bedenken, in: ZParl 1997, S. 717; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 44; Jesse, Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994, in: ZParl 1998, S. 460 (473). 10 Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391; Klecha, Minderheitsregierungen in Deutschland; Strohmeier, Minderheitsregierungen in Deutschland auf Bundesebene – Krise oder Chance?, in: ZfP 2009, S. 260.
C. Untersuchungsgang
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oder „Ausnahmezustände“ die Verfassung kennt. Im Besonderen ist zu begründen, ob die Minderheitsregierung als „verfassungsrechtliche Krise“ anzusehen ist, weil die verfassungsrechtliche Ausgestaltung eine solche indiziert. Namentlich ist zu untersuchen, welche Rechtsfolgen an die jeweilige Regierung anknüpfen. Berücksichtigung finden die hierfür einschlägigen Verfassungsvorschriften. Auch diese müssen letztlich hinsichtlich ihres Krisenbezugs erörtert und eingeordnet werden. Hierdurch muss beantwortet werden, ob und wie auch alternative Regierungsformen jenseits der bislang erprobten Mehrheitsregierung den Regierungsauftrag erfüllen können. Zur Beantwortung der aufgeworfenen Untersuchungsfragen ist zu ergründen, ob und wie das Grundgesetz bereits selbst Mechanismen für das Regieren ohne parlamentarische Mehrheiten enthält oder ob etwa Reformen anzuraten sind, die künftigen Regierungen ohne parlamentarische Mehrheit ein Regieren ermöglichen. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang das stetige Ausloten des Verhältnisses zwischen Regierung und Parlament.
C. Untersuchungsgang Demokratie ist auch gar nicht bequem, sie ist sogar anstrengend, manchmal sehr anstrengend. Der große Vorteil der Demokratie besteht jedoch darin, dass sie beständig die Chance zur Selbstkorrektur in sich trägt, nicht zuletzt die Chance, eine neue Regierung zu wählen. (Joachim Gauck)
Zur Klärung der aufgeworfenen Fragen wählt die Arbeit folgenden Gang der Untersuchung: Das 1. Kapitel führt in die Thematik unterschiedlicher Regierungstypen und ihrer verfassungsrechtlichen Konsequenzen für die Regierungsstabilität ein. Hierzu werden die verschiedenen Regierungsarten im Sinne des Art. 63 GG, namentlich die Mehrheits- und Minderheitsregierung, mitsamt aller ihrer Unterfälle erörtert. In diesem Zusammenhang sollen auch die verschiedenen Bildungen bzw. die jeweiligen Wahlmodalitäten der einzelnen Wahlphasen aus Art. 63 GG erklärt werden. Zuletzt findet die Geschäftsregierung aus Art. 69 Abs. 3 GG Erwähnung. Die Arbeit behandelt die für sie relevanten Gegebenheiten bis zum Ende des Jahres 2020. Während für die Geschäftsregierung feststeht, dass diese nach dem Ende einer vorangegangenen Legislaturperiode amtiert, erörtert das 2. Kapitel, welche verfassungsrechtlich relevanten Phänomene und Bedingungen typisierend eine bestimmte Regierungsart begünstigen. Hierzu werden die Regierungstypen mitsamt und anhand der für sie jeweils einschlägigen Vorschriften in ein heuristisches Schichtenmodell des Verfassungsrechts nach Anna-Bettina Kaiser kategorisiert. Diese Einordnung erfolgt anhand des Krisenbezugs der jeweils einschlägigen Vorschrift. Im Kern wird die Krisensystematik im siebten, daneben auch im achten Abschnitt des Grundgesetzes erarbeitet. Dem liegt die Annahme zu Grunde, dass die Berufung und das Amtieren als formelle bzw. materielle Mehrheitsregierung
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Einleitung
den im Grundgesetz verfassungsrechtlichen und auch politischen „Normalfall“ darstellt, während die Berufung und das Amtieren einer formellen bzw. materiellen Minderheitsregierung ein hiervon abweichender Fall ist. Fraglich und klärungsbedürftig ist, ob aufgrund dieser Abweichung bereits eine „Verfassungskrise“ oder gar ein Anwendungsfall sogenannten „Ausnahmerechts“ besteht. Es sind die verfassungsrechtlich maßgeblichen Gründe herauszuarbeiten, welche für oder gegen eine Einordnung der Minderheitsregierung als „Ausnahmezustand“ sprechen. Schließlich sollen rechtlich und gesellschaftlich gewandelte Phänomene und ihre Auswirkungen auf die Regierungsbildung untersucht werden. Fraglich ist, welche Bedingungen möglicherweise der Herrschaftsform „Demokratie“ oder der konkreten Ausgestaltung der Regierungsbildung immanent sind, die eine Mehrheitsfindung insoweit erschweren, als eine formelle Minderheitsregierung nach Art. 63 Abs. 4 GG anstelle einer Mehrheitsregierung in das Amt berufen wird. Hierfür wird auf das durch die Verhältniswahl induzierte Koalitionserfordernis abgestellt und es werden Faktoren analysiert, welche die Koalitionsbereitschaft und die Koalitionsfähigkeit als notwendige Kriterien einer erfolgreichen Koalitionsbildung betreffen. Berücksichtigung findet dabei in einem ersten Schritt zunächst das geltende Wahlrecht als ein möglicherweise die Koalitionsfähigkeit beeinträchtigender Faktor. Wahlen markieren das Ende einer vorangegangenen Legislaturperiode bzw. gleichzeitig den Beginn einer neuen Legislaturperiode und bilden regelmäßig den Ausgangspunkt einer sodann erfolgenden Regierungsbildung. Die personalisierte Verhältniswahl wird in Abgrenzung zu anderen Wahlsystemen hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Regierungsbildung thematisiert. Im Kontext der Koalitionsbereitschaft werden parteipolitische Unvereinbarkeitsbeschlüsse basierend auf polarisierenden und populistischen (bzw. extremistischen) Ansichten thematisiert. Daneben benennt das Kapitel auch die Konsequenzen und Auswirkungen dieser für die Demokratie bzw. das parlamentarische Regierungssystem. Was den nachträglichen Verlust der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung der Regierung betrifft, finden der Koalitionsbruch und Parteiaustritte als zwei theoretische, insoweit nicht abschließende Konstellationen Berücksichtigung. Das 3. Kapitel beantwortet weiter die Frage, ob und wie der Regierungsauftrag von einer Regierung erfüllt werden kann, die sich materiell keiner mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung versieht. Dazu sollen zunächst der Regierungsauftrag und sein Inhalt abstrakt erklärt werden. Schließlich wird dieser im Kontext des parlamentarischen Regierungssystems erörtert, um aufzuzeigen, inwieweit eine Regierung in diesem Gefüge auch von der Mitwirkung des Parlaments abhängig ist und welche Ausgestaltung das Mehrheitsprinzip hierbei erfährt bzw. welche Rolle diese Ausgestaltung spielt. Die Erfüllung des Regierungsauftrags ist abhängig von der Regierungskontinuität bzw. das in das Amt Berufen der Re gierung einerseits und der Handlungsfähigkeit der Regierung andererseits. Im Kontext der Regierungsbildung werden die auf Basis des 1. Kapitels erklärten
C. Untersuchungsgang
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Wahlphasen des Art. 63 GG zur Bundeskanzlerwahl analysiert. Die Vorschrift zur Bundeskanzlerwahl wird hinsichtlich der Rolle des Bundespräsidenten und der Bestellungsgewalt des Bundestages im Besonderen ergründet. Zu beachten sind insbesondere historische sowie gesamtsystematische und normsystematische Auslegungsaspekte. Die Regierungskontinuität wird anhand Art. 67 GG, dem konstruktiven Misstrauensvotum, anhand historischer und systematischer Erwägungen behandelt. Erwähnung findet insbesondere die Abkehr von dem in der Weimarer Reichsverfassung noch geltenden rein destruktiven Misstrauensvotum. Auch in diesem Zusammenhang werden die an dieser Stelle aus Art. 63, 121 GG fortgeführte Ausgestaltung des Mehrheitsprinzips und seine Funktion erörtert. Zentral ist des Weiteren die Gesetzgebung als mitwirkungsbedürftige Regierungsaufgabe. Hier offenbart sich, dass Handlungsfähigkeit parlamentarischer Regierungen sich an deren Fähigkeit messen lässt, Mehrheiten zu erzielen. Anhand politikwissenschaftlicher Modelle wird hierzu zunächst untersucht, wie Mehrheitsfindung im Gesetzgebungsprozess jenseits von institutionell geregelter politischer Mehrheit (Koalitionsvereinbarungen und Fraktionsdisziplin insbesondere in Koalitionsfraktionen) erfolgen kann: So bestehen in der Bundesrepublik Deutschland bereits Erfahrungen auf Landesebene für das Tolerierungsmodell sowie für das Modell wechselnder Mehrheiten. Während das Tolerierungsmodell vor allem anhand seiner Anwendung als „Magdeburger Modell“ in Sachsen-Anhalt Anwendung fand, regierte eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten in Nordrhein-Westfalen. Diese exemplifizieren die Formen des alternativen Einigungs- oder Mehrheitsfindungsprozesses. Eine Auswertung der Gesetzgebung von der Minderheitsregierung in Thüringen unter Ministerpräsident Ramelow kann angesichts der Aktualität dagegen nicht vorgenommen werden und wird daher insgesamt nur hinsichtlich der Regierungsbildung thematisiert. Die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG wird sodann im Kontext der Regierungskontinuität, aber vor allem in Bezug auf die Handlungsfähigkeit einer amtierenden Regierung thematisiert. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass demokratische bzw. parlamentarische Regierungen für ihre Handlungsfähigkeit Mehrheiten erzielen müssen. Geprüft wird eine präventive Wirkung des Art. 68 GG zugunsten der amtierenden Bundesregierung und der Beitrag der Vertrauensfrage zur Krisenbewältigung. Erwähnung finden die aus Art. 68 GG resultierenden Wirkungen für das parlamentarische Regierungssystem und der Mehrheitsgewinnung im Parlament. Für den Fall des Scheiterns dieser Gesetzgebungsmodelle wird der in der Bundesrepublik bislang nicht praktisch gewordene Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG als ultima ratio thematisiert. Er wird zunächst anhand seiner tatbestandlichen Voraussetzungen erörtert. Schließlich wird seine Praktikabilität und sein Beitrag zur Krisenbewältigung sowie seine Defizite für das parlamentarische Regierungssystem und dem hierin relevanten Verhältnis zwischen Regierung und Parlament dargelegt. Insbesondere erfolgt eine Abwägung zwischen einem zum
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Einleitung
Teil geforderten parlamentarischen Selbstauflösungsrecht und dem Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG. Das 4. Kapitel thematisiert schließlich die Geschäftsregierung und vergleicht Regierungen nach Art. 63, 64 GG mit solchen aus Art. 69 Abs. 2 GG. Während die Geschäftsregierung in den Kapiteln 2 und 3 eher am Rande Erwähnung und Berücksichtigung findet, soll zuletzt beantwortet werden, ob die Geschäftsregierung für denjenigen Fall praktikabel erscheint, in dem etwa keine Berufung eines Bundeskanzlers nach Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG zu erwarten ist oder ob in diesen Fällen dennoch das Ingangsetzen der Wahlphasen zu bevorzugen ist. Hierzu werden insbesondere die Kompetenzen des Bundeskanzlers einer Regierung nach Art. 63 Abs. 1 bis 4 mit jenen eines geschäftsführenden Kanzlers verglichen. Die Arbeit beantwortet letztlich, ob und wie eine Regierung ohne parlamentarische Mehrheit amtieren kann. Sie beseitigt die zum Teil vorschnellen und unbegründeten Annahmen von einem Krisen- oder Ausnahmezustand in solchen Fällen und gibt hierzu Handlungsempfehlungen für die gesetzgeberische Ausgestaltung der Regierungsmodalitäten der Regierungen und stellt letztlich eine Priorisierung der unterschiedlichen Regierungsformen auf.
Kapitel 1
Die Bundesregierung und die Regierungsbildung nach dem GG: Regierungsformen, ihre Bildung und Begriffsbestimmungen Sie [die Verfassung] wäre, ja sie ist ein Kunstwerk, das zugleich Führung und Kritik, zugleich Kraft und Freiheit verbürgt. Sie wäre, ja sie ist nicht bloß das kleinste Übel. Sie ist ein hohes Gut, das Anerkenntnis, Anhänglichkeit, ja Zuneigung wahrlich verdiente. Wir müssen es nur zuvor erkennen.“ (Dolf Sternberger)1
Ist der Untersuchungsgegenstand die Regierung und die Erfüllung des Regierungsauftrages, so bedarf es im ersten Schritt der Abhandlung eingehender Ausführungen zum Regierungsbegriff, namentlich der Klärung sämtlicher verfassungsrechtlich zulässiger Formen der Regierungsbildung und ihrer Bildung im Einzelnen. Konkret sollen die Termini Mehrheits- und Minderheitsregierung inklusive aller ihrer möglichen Unterfälle, außerdem soll die Geschäftsregierung erläutert werden. Sie werden im Folgenden anhand ihrer verfassungsrechtlichen Bildungsmodalitäten voneinander abgegrenzt.
A. Die Regierung und ihre Bundesregierung Ich bin der Auffassung, daß die Opposition eine Staatsnotwendigkeit ist, daß sie eine staatspolitische Aufgabe zu erfüllen hat, daß nur dadurch, daß Regierungsmehrheit und Opposition einander gegenüberstehen, ein wirklicher Fortschritt und eine Gewöhnung an demokratisches Denken zu erzielen ist. (Konrad Adenauer)2
Der dieser Arbeit zugrundeliegende Untersuchungsgegenstand ist die Bundesregierung im Kontext des parlamentarischen Regierungssystems. Die Bundesregierung ist ein oberstes Verfassungsorgan der Bundesrepublik Deutschland.3 1 Abgedruckt bei Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kon trolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (19). 2 Konrad Adenauer, Regierungserklärung am 20. 09. 1949. 3 Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 62 Rn. 17; ebd. / D etterbeck, GG Art. 93 Rn. 7; Hofmann / Hennecke / U hle / Müller-Franken, GG Art. 62 Rn. 9 f.; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 62 Rn. 3.
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Kap. 1: Bundesregierung und Regierungsbildung nach dem GG
Dieses besteht gemäß Art. 62 GG4 aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern, wobei der Bundeskanzler nach Art. 63 GG in drei möglichen Wahlphasen vom Bundestag gewählt wird und die Bundesminister auf Vorschlag des Kanzlers ernannt werden. Das Kollegialorgan5 (Art. 65 S. 3 GG) ist entsprechend der klassischen Gewaltenteilungslehre und gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG innerhalb des Staatsgefüges der vollziehenden Gewalt zuzuordnen und nimmt vor allem gubernative, aber auch administrative Aufgaben, etwa im Bereich bundeseigener Verwaltung aus Art. 87 ff. GG, wahr. Die Bundesregierung steht dabei an der Spitze der Bundesexekutive.6
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG „Die Bundesregierung weiß, dass sie dazu der loyalen Zusammenarbeit mit den gesetz gebenden Körperschaften bedarf. Dafür bietet sie dem Deutschen Bundestag und natürlich auch dem Bundesrat ihren guten Willen an.“ (Willy Brandt)7
Die Bildung der Bundesregierung vollzieht sich auf zwei rechtlich zu trennenden, in der Praxis aber in engem Zusammenhang vollzogenen Stufen.8 Auf erster Stufe erfolgt die Kanzlerwahl nach Maßgabe des Art. 63 GG, dem „Hauptsitz“ der Regierungsbildung9, in drei möglichen Wahlphasen. Sie, so Uhle, bilde das „Herzstück“10 der Regierungsbildung. Insoweit verleiht die Kanzlerwahl dem Kollegialorgan die erforderliche demokratische Legitimation. Auf zweiter Stufe werden die Bundesminister auf Vorschlag des Bundeskanzlers vom Bundespräsidenten ernannt, sodass die Kabinettsbildung der unmittelbaren Disposition des Parlaments entzogen ist.11 Die Festlegung der Ressorts (sog. materielles Kabinettsbildungsrecht) und deren jeweilige Verbindung mit einer Personalie liegen dabei in der Entscheidung des Bundeskanzlers, dies entspricht dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik vorgibt, Art. 65 S. 1 GG.12 4
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. 05. 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. 03. 2019 (BGBl. I S. 404) m. W. v. 04. 04. 2019. 5 BVerfGE 91, 148 (166). 6 BVerfGE 9, 268 (282) = BVerfG, NJW 1959, 1171; siehe auch Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 62 Rn. 18; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 62 Rn. 1; 64 ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 342 ff.; Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 11 f. 7 Willy Brandt, Regierungserklärung vom 28. 10. 1969. 8 Schröder, HStR III, § 65 Rn. 2; siehe außerdem Mangoldt / Starck / K lein / Schröder, GG Art. 63 Rn. 5; zustimmend: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon / Uhle unter „Bundesregierung“; Sachs / Oldiges, GG Art. 63 Rn. 1. 9 So Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (8). 10 Görres-Gesellschaft / Uhle unter „Bundesregierung“. 11 Mangoldt / Starck / K lein / Schröder, GG Art. 63 Rn. 6. 12 Stellvertretend für viele BeckOK / Epping, GG Art. 64 Rn. 1; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 64 Rn. 16.
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG
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I. Die formelle Mehrheitsregierung Als formelle Mehrheitsregierung kann eine Regierung bezeichnet werden, deren Bundeskanzler nach Maßgabe der Art. 63 Abs. 1, 2 bzw. Art. 63 Abs. 3 GG mit der mehrheitlichen Unterstützung der gesetzlichen Mitgliederzahl des Parlaments aus Art. 121 GG gewählt wurde und das mehrheitliche Vertrauen der Parlamentarier nachträglich nicht verloren hat. Im Folgenden werden die beiden ersten Wahl phasen jeweils in ihrer Durchführung beschrieben. 1. Mehrheitsregierung nach der ersten Wahlphase (Art. 63 Abs. 1, 2 GG) Die erste Wahlphase ist als Abstimmung13 zu charakterisieren, da die abzugebenden Stimmen nur Zustimmung („Ja“)14 oder Ablehnung („Nein“) bezüglich eines Kandidaten lauten können. Gemäß Art. 63 Abs. 1 GG wird der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten ohne Aussprache gewählt. Klärungsbedürftig15 erweisen sich die hierfür bestehenden inhaltlichen Anforderungen an das Vorschlagsrecht. Vielfach wird angeführt, der Bundespräsident sei dazu verpflichtet, einen Vorschlag zu unterbreiten, bei welchem er vermuten darf, dass dieser das erforderliche Quorum von mehr als der Hälfte der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinen kann.16 Es stehe, so Jellinek, im Widerspruch mit der dem Amte des Bundespräsidenten immanenten Würde und seiner verfassungsrechtlichen repräsentativen, integrativen Stellung und Autorität, wenn das Staatsoberhaupt den Kandidaten nach freiem Belieben auswählen würde.17 In der Staatspraxis wartete der Bundespräsident die zuvor erfolgten Koalitionsverhandlungen bislang stets ab und entsprach sodann dem Vorschlag der Regierungsfraktion bzw. dem gemeinsamen Vorschlag der koalierenden Regierungsfraktionen. Bisweilen war ebenso üblich, dass die Regierungsfraktionen in der Vergangenheit den Bundespräsidenten schriftlich ersuchten, denjenigen Kandidaten zu benennen, auf den diese sich im Rahmen ihrer Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen schließlich geeinigt
13
Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 26; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 21; Schröder, HStR II, § 51 Rn. 16; Rein, Die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten bei der Bildung der Bundesregierung, in: JZ 1969, S. 374. 14 Nach Jellinek sind auch solche Stimmen, die auf den Namen des Kandidaten lauten, unbedenklich als Ja-Stimmen zu werden, s. ders., Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (8 f.). 15 Ausführlich hierzu Kapitel 3 B. I. 2. 16 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 18; Nettesheim, HStR II, § 62 Rn. 4; ebenso Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 97; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 27; Ipsen, Regierungsbildung im Mehrparteiensystem, in: JZ 2006, S. 217 (220); Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (3) m. w. N. 17 Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (8 f.); siehe auch Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 97.
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Kap. 1: Bundesregierung und Regierungsbildung nach dem GG
hatten.18 Nach herrschender Ansicht besteht eine Verpflichtung19 des Bundespräsidenten, innerhalb einer angemessenen Frist20 einen Kandidaten vorzuschlagen.21 Gewählt ist im Rahmen der ersten Wahlphase gemäß Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG, wer die Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Parlaments auf sich vereinen kann. Der Mehrheitsbegriff22 (auch: „Kanzlermehrheit“23) aus Art. 63 Abs. 2 S. 1 GG ist damit kongruent zu jenem Mehrheitsgriff aus Art. 121 GG. Die Vorschrift aus Art. 121 GG ist in diesem Fall unmittelbar anwendbar.24 Die vorgeschriebene Bezugsgröße, die gesetzliche Mitgliederzahl des Parlaments, umfasst auf Bundesebene nicht nur die in § 1 BWG (Bundeswahlgesetz)25 normierten 598 Mandatsträger, sondern diejenige Mitgliederzahl, die sich zum Zeitpunkt der Bundeswahl aus der nach dem Bundeswahlgesetz hervorgehenden Erhöhung etwa um Überhang- und Ausgleichsmandate26 nach § 6 Abs. 5, 7 BWG ergibt. Ferner ist die Zahl um diejenigen Fälle des Verlustes eines (noch) nicht neu besetzten Mandates nach §§ 46 ff. BWG, bei Erschöpfung der Parteienliste nach §§ 6 Abs. 4 S. 4, 48 Abs. 1 S. 3 BWG sowie bei Erledigung eines Wahlkreismandates gemäß §§ 44 Abs. 3 S. 2, 46 Abs. 4 S. 2, 48 Abs. 2 S. 3 BWG und bei einem Parteienverbot nach § 46 Abs. 4 BWG, Art. 21 Abs. 2 S. 2 GG zu vermindern.27 Die einstweilige Verhinderung eines Abgeordneten etwa bei Krankheit, Urlaub, Sitzungsausschluss oder aufgrund entsprechender Fraktionsabsprachen dezimiert indes nicht die Bezugsgröße.28
18
Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (210). Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (9); Nettesheim, HStR II, § 62 Rn. 4; Münch, Die Bundesregierung, S. 133; Rein, Die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten bei der Bildung der Bundesregierung, in: JZ 1969, S. 574; Lippert, Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem, S. 278 f., der die Verpflichtung aus dem Amtseid gemäß Art. 56 GG ableitet; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 16. Die Frage, woraus die Verpflichtung abgeleitet wird, wird im Kapitel 3 B. I. 2. a) aa) ausführlich erörtert. 20 So Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (3); als klärungsbedürftig erweist sich in diesem Zusammenhang die Rolle des Bundespräsidenten bei der Kanzlerwahl in der ersten Wahlphase. Fraglich ist, ob hier tatsächlich eine Frist besteht bzw. wann diese in Gang gesetzt wird. Dem Wortlaut der Verfassung ist eine solche Frist jedenfalls zunächst nicht zu entnehmen. Ausführlich hierzu ebenfalls Kapitel 3 B. I. 2. a) aa) (3). 21 Zu den inhaltlichen Anforderungen an das Vorschlagsrecht, siehe Kapitel 3 B. I. 2. a) aa) (2). 22 Ausführlich zu den Mehrheitsbegriffen im Grundgesetz, siehe R. Kaiser, Mehrheitserfordernisse im Staatsrecht, in: JuS 2017, S. 221. 23 BVerfGE 112, 118 (145). 24 BeckOK / Brocker, GG Art. 121 Rn. 1. 25 Bundeswahlgesetz, neugefasst durch Beschl. v. 23. 07. 1993 (BGBl. I S. 1288, 1594); zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 14. 11. 2020 (BGBl. I S. 2395); Geltung ab 03. 07. 1975. 26 Siehe § 6 Abs. 5, 7 BWG für Übergang- und Ausgleichsmandate bei der Bundestagswahl. 27 Jarass / Pieroth, GG Art. 121 Rn. 2. 28 Mangoldt / Starck / K lein / Muckel, GG Art. 121 Rn. 15; Friauf / Höfling / Schreiber, GG Art. 38 Rn. 236. 19
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG
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2. Mehrheitsregierung nach der zweiten Wahlphase (Art. 63 Abs. 3 GG) Die Einleitung der zweiten Wahlphase ist bedingt durch das Scheitern der ersten Wahlphase. Mithin kommt es zu Wahlen nach Art. 63 Abs. 3 GG, soweit der vom Bundespräsident vorgeschlagene Kandidat nicht die absolute Mehrheit der Mitglieder auf sich vereinen kann.29 Dabei geht das Vorschlagsrecht auf den Bundestag über.30 Zur Verhinderung aussichtsloser Kandidaturen und eines zu unübersichtlichen Bewerberfeldes erfordert § 4 S. 2 GO BT31 das Unterbreiten des Vorschlags durch mindestens ein Viertel der Abgeordneten bzw. durch eine Fraktion, die mindestens über ein Viertel der Stimmen im Parlament verfügt. Wegen der Anforderung an das zu erfüllende Quorum in der zweiten Wahlphase, in welcher ebenfalls gewählt ist, wer die Kanzlermehrheit im Sinne des Art. 121 GG erreicht, ist § 4 S. 2 GO BT als verfassungsmäßige Konkretisierung des Art. 63 Abs. 3 GG mitsamt seines Vorschlagsrechts zu sehen.32 Wegen der Möglichkeit von Konkurrenzwahlen, also solchen Wahlen, bei welchen mehrere, maximal vier Kandidaten, gegeneinander antreten können, wird die Natur der anzustellenden Entscheidung als „echte Wahl“ bezeichnet.33 Diese Bezeichnung muss allein vor dem Hintergrund der Natur der Entscheidung in der ersten Phase gewürdigt werden: Anders als in der ersten Wahlphase erfolgt in der zweiten Phase keine Abstimmung über den Wahlvorschlag. In der zweiten Wahlphase können beliebig viele Wahlgänge binnen der von der Verfassung aufgegebenen 14 tätigen Frist durchgeführt werden.34 Fristbeginn ist der Folgetag der gescheiterten Abstimmung in der ersten Wahlphase35; der Frist ablauf bemisst sich nach Maßgabe der §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB36. Insbesondere ist auch ein Verstreichenlassen der Frist ohne die Vornahme jeglicher Wahl 29
Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 132; Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (3). 30 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 31. 31 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in der Fassung der Bekanntmachung vom 02. 07. 1980 (BGBl. S. 1237, zuletzt geändert am 01. 03. 2019 (BGBl. S. 197). 32 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 35; zustimmend Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 28; Jarass / Pieroth, Art. 63 Rn. 3; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, Art. 63 Rn. 35; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 133; Hoffmann / Hennecke / Uhle / Müller-Franken, GG Art. 63 Rn. 20; Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (3); andere Ansichten unter anderem bei Sodan / L eisner, GG Art. 63 Rn. 7, der „Überraschungserfolge“ im Rahmen der zweiten Wahlphase nicht ausschließt; außerdem Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 30, welcher die Rechtfertigungsgründe für das Aufstellen des Quorums als „unrealistisch“ verwirft. 33 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 36. 34 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 32, 36; Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetz gebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (9). 35 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 32. 36 Bürgerliches Gesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 02. 01. 2002 (BGBl. I S. 42, ber. S. 2909, 2003 S. 738) geändert durch Gesetz vom 30. 03. 2021 (BGBl. I S. 607) m. W. v. 07. 04. 2021.
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Kap. 1: Bundesregierung und Regierungsbildung nach dem GG
handlung verfassungsrechtlich zulässig.37 Der Bundespräsidenten hat denjenigen zum Bundeskanzler zu ernennen, der als erster in der zweiten Wahlphase die absolute Mehrheit auf sich vereinen kann.38
II. Die Minderheitsregierung 1. Zum Begriff der Minderheitsregierung Eine Regierung ist als Minderheitsregierung zu bezeichnen, wenn sie nicht das gegenwärtige Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments, die sogenannte absolute Mehrheit, besitzt. Vertrauen39 meint dabei die Bereitschaft der Abgeordneten, jedenfalls den Bundeskanzler und das Sachprogramm der Regierung zu unterstützen. Insoweit unterscheidet sich die Minderheitsregierung von einer Mehrheitsregierung, welche regelmäßig aufgrund der formal vorherrschenden Sitzverteilung davon ausgehen kann, dass ihre Fraktionen in parlamentarischen Abstimmungen die erforderliche Stimmenmehrheit erreicht.40 Von einer Minderheitsregierung kann aber auch schon dann ausgegangen werden, wenn die Fraktionsgröße der Regierung formell zwar eine Mehrheit im Parlament zusichert, materiell aber weniger als die Hälfte der Parlamentarier die Richtlinien der Politik unter Vorgabe des Bundeskanzlers zu unterstützen vermag.41 Dasselbe gilt für den Fall einer Pattsituation, in der zwischen Opposition und Regierungsfraktion(en) Stimmengleichheit42 herrscht, zumal parlamentarische Entscheidungen im demokratischen Gefüge stets von „Mehrheitsentscheidungen“ ausgehen, vgl. etwa Art. 42, 78 GG. Von einer Mehrheit kann numerisch nur bei dem Überwiegen eines Gewichtes ausgegangen werden. Maßgeblich ist die Lage, dass zwischen Parlament und Regierung nicht die grundsätzliche politische Übereinstimmung besteht. Der Terminus „Minderheitsregierung“ ist der Verfassung fremd. Dennoch ist er, entgegen der Ansicht Puhls43, insoweit als verfassungsrechtlich relevant anzu 37
So Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZPR 2018, S. 2 (3). Jellinek geht davon aus, dass der Bundespräsident nach Wahl eines Kanzlers mit absoluter Mehrheit den neuen Kanzler spätestens binnen einer Woche zu ernennen hat, da er in diesem Fall nicht mehr das Recht habe, eine Geschäftsregierung im Amte zu belassen, wenn das Parlament sich auf einen neuen Kanzler geeinigt habe. Das GG, so Jellinek, sei frei von derartigen autoritären Gedankengängen, siehe ders., Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (9). 39 BVerfGE 62, 1; außerdem Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2. 40 Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 20. Ausführlich hierzu: Kapitel 3 C. I. 2. a); siehe außerdem Thomas, Zur Handlungsfähigkeit der Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 (793). 41 Kersten bezeichnet diesen Kanzler als „konstruktiven Misstrauenskanzler“, Kersten, Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Gusy, Weimars lange Schatten, S. 281 (293). 42 Siehe im Folgenden dazu Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 20 Fußnote 4. 43 Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 20. 38
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG
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sehen, als sich an diese Regierungsform spezifische Rechtsfolgen anschließen, etwa die Anwendbarkeit bestimmter Handlungsinstrumente von Regierung bzw. Bundeskanzler aus Art. 68 bzw. Art. 81 GG.44 Es handelt es sich nicht um ein ausschließlich politisches Phänomen. Das Grundgesetz verdichtet die Kabinettsfrage von vorneherein zur Kanzlerfrage45, da die Regierungsbildung auf erster Stufe die Wahl eines Bundeskanzlers vorsieht; die Minister werden anschließend nach Maßgabe des Art. 64 S. 1 GG ernannt. Ferner zeigen die Vertrauensregelungen aus Art. 67 und 68 GG, dass sich das von dem Parlament gegenüber der Regierung entgegenzubringende Vertrauen ausschließlich auf den Bundeskanzler bezieht.46 Zuletzt ist die Beendigung der Ministerämter mit Ausnahme der Entlassung eines einzelnen bzw. mehrerer Minister(s) oder dessen / deren persönliches Ausscheiden47 bedingt durch die Erledigung des Kanzleramtes, Art. 69 Abs. 2 GG. 2. Die Bildung von Minderheitsregierungen Für die Bildung einer Minderheitsregierung bestehen zunächst im Groben zwei Wege: Denkbar ist die Bildung einer Minderheitsregierung von Beginn an, das heißt eine Wahl nach Art. 63 Abs. 4 GG. In diesem Fall wird die Regierung bereits formell als Minderheitsregierung in das Amt berufen. Ferner kann eine Regierung, die formell als Mehrheitsregierung nach Art. 63 Abs. 1, 2 GG gewählt wurde, im Nachhinein zu einer Minderheitsregierung werden. Zur Differenzierung dieser verschiedenen Formen der Minderheitsregierung wird hier für den ersten Fall von einer formellen Minderheitsregierung gesprochen. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass sich das materiell fehlende Vertrauen formell bei der Bundeskanzlerwahl gezeigt hat. Eine materielle Minderheitsregierung bezeichnet darüber hinaus aber auch eine Regierung, die sich – unter anderem infolge des nachträglichen mehrheitlichen Vertrauensverlustes – aktuell faktisch nicht mehr der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung versieht. Es ist davon auszugehen, dass jede formelle Minderheitsregierung grundsätzlich auch eine materielle Minderheitsregierung ist; demgegenüber ist nicht jede materielle Minderheitsregierung eine solche, die auch formell als eine solche Minderheitsregierung in das 44
Ausführlich hierzu Kapitel 3 C. II. bzw. III. Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (27); siehe auch Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 20, Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2. 46 Andere Ansicht bei Puhl, der davon ausgeht, dass sich das Vertrauen auf die gesamte Regierung beziehe, was angesichts der fehlenden Möglichkeit einen einzelnen Minister abzuwählen, aber nicht zutreffend ist, siehe Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 20. 47 Etwa durch Krankheit, Tod oder wegen der Inkompatibilität seines Amtes mit weiteren politischen Tätigkeiten, etwa dem Vorsitz der eigenen Fraktion wie zuletzt 2017 Andrea Nahles (ehem. [geschäftsführende] Ministerin für das Ressort Arbeit und Soziales). 45
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Kap. 1: Bundesregierung und Regierungsbildung nach dem GG
Amt berufen wurde. Ein Beispiel hierfür ist die Regierung Willy Brandts I: Politische Differenzen hatten während der laufenden Legislaturperiode dazu geführt, dass einige FDP sowie SPD-Mitglieder aus der sozialliberalen Koalition austraten, was eine Patt-Situation der Regierungsfraktionen und der CDU hervorbrachte. a) Die dritte Wahlphase nach Art. 63 Abs. 4 GG („formelle Minderheitsregierung“) Die Bildung einer formellen Minderheitsregierung erfolgt nach Maßgabe des Art. 63 Abs. 4 GG als eine der möglichen Rechtsfolgen in der dritten und letzten möglichen Wahlphase zur Wahl eines Bundeskanzlers. Darin sind die verfassungsrechtlichen Vorkehrungen zu sehen, die im Falle des Scheiterns jener Idee der Wahl eines Mehrheitskanzlers greifen.48 Der Beginn dieser Wahlphase ist wiederum bedingt durch das Scheitern der zweiten Phase; sie beginnt, soweit auch auf Vorschlag des Bundestages keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit nach Art. 63 Abs. 2, 121 GG erreicht oder die Frist von 14 Tagen nach Scheitern der ersten Phase fruchtlos verstrichen ist.49 Gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG hat sie unverzüglich, das heißt ohne schuldhaftes Zögern (vgl. § 121 BGB analog) zu erfolgen.50 Das Vorschlagsrecht51 besteht erneut auf Seiten des Bundestages. Der Art. 63 Abs. 4 GG enthält drei mögliche Rechtsfolgen. Erreicht der vorgeschlagene Kandidat die absolute Mehrheit in der dritten Phase, ist der Bundespräsident zu dessen Ernennung binnen sieben Tagen gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 2 GG verpflichtet. Derjenige, der das Erfordernis der Kanzlermehrheit aus Art. 63 Abs. 2, 3; 121 GG im dritten Wahlgang erfüllt, ist folgerichtig nicht anders zu behandeln als Mehrheitskandidaten aus der ersten bzw. zweiten Wahlphase.52 Gebietet das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 2 GG eine ununterbrochene Legitimationskette der Staatsorgane und Artikulation des Volkswillens durch Delegation der Entscheidung an das Parlament53, so verbleibt für ein präsidiales Ermessen kein Raum, wenn das Parlament eine Mehrheitsentscheidung aller Mitglieder trifft.
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Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 33. Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (9); Lippert, Berufung und Abbestellung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem, S. 307; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 34; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 37; Jarass / Pieroth, GG Art. 63 Rn. 4; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 33. 50 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 38. 51 Zu den Anforderungen an den Vorschlag und zur Verpflichtung der Abstimmung siehe Kapitel 3 B. I. 52 Vgl. Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (211); siehe auch BeckOK / Huster / Rux, GG Art. 20 Rn. 81; Jarass / Pieroth, GG Art. 63 Rn. 5. 53 BVerfGE 83, 60; 93, 37 (66). 49
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG
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Erreicht keiner der vorgeschlagenen Kandidaten die absolute Mehrheit, so ist gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG gewählt, wer die relative Mehrheit54, also die meisten der abgegebenen Stimmen auf sich vereint. In diesem Fall besteht nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG auf Seiten des Bundespräsidenten ein Wahlrecht hinsichtlich der Ernennung des Minderheitskanzlers oder der Auflösung des Bundestages binnen sieben Tagen. Die Entscheidung hierüber liegt im (politischen) Ermessen des Bundespräsidenten55: Ihm kommt ein Ernennungs- sowie ein Auflösungsermessen zu. Bei Auflösung des Bundestages schließen sich Neuwahlen an. Nach seiner Ernennung durch den Bundespräsidenten kann ein Minderheitskanzler im zweiten Schritt der Regierungsbildung – ebenso wie ein als formeller Mehrheitskanzler in das Amt Berufene – Ressorts und Personalbesetzungen für das Kabinett planen und beschließen. b) Sonstige Bildungen einer Minderheitsregierung („materielle Minderheitsregierung“) Eine Minderheitsregierung kann darüber hinaus auch im Laufe einer Legislaturperiode entstehen. Bei Ablehnung der Vertrauensfrage gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG durch das Parlament oder dem Rückzug einer Regierungsfraktion bzw. dem Austritt einer dafür ausreichenden Anzahl einzelner Abgeordneter aus einer bestehenden Mehrheitskoalition56 kann es auch im Nachhinein zu einer Minderheitsregierung kommen. In sämtlichen genannten Fällen besitzt der Bundeskanzler nicht das Vertrauen der absoluten Mehrheit im Parlament, was für eine Minderheitsregierung das maßgebliche Charakteristikum ist. c) Minderheitsregierungen in der BRD Auf Bundesebene amtierten insgesamt drei Minderheitsregierungen, die allerdings als Übergangserscheinung anzusehen sind. Die Regierungen Adenauers (1962), Erhards (1966) und Schmidts (1982) waren durch einen Koalitionsbruch zu materiellen Minderheitsregierungen geworden.57 Kurze Zeit danach wurde jeweils eine Mehrheitskoalition gebildet.58 Auf Landesebene dagegen bestehen einige auch 54 Vgl. hierzu den Mehrheitsbegriff aus Art. 42 Abs. 2 GG, ausführlich hierzu Kapitel 2 A. I. 1. b). 55 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 39; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 20. 56 Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2. 57 Siehe hierzu auch Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (394 f.). 58 Siehe etwa Parlamentsrecht / Waack, § 22 Rn. 27 sowie Informationen aus der dort aufgeführten Fußnote 68.
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Kap. 1: Bundesregierung und Regierungsbildung nach dem GG
längere Erfahrungen mit dem Amtieren von Minderheitsregierungen. Die wohl bedeutsamsten Beispiele sind die Minderheitsregierungen aus Sachsen-Anhalt, Nordrhein-Westfalen und Thüringen. aa) Sachsen-Anhalt Von 1994 bis 1998 amtierte eine Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt bestehend aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen, die von der PDS toleriert wurde (sog. „Magdeburger Modell“).59 Von 1998 bis 2002 regierte die SPD weiter als Minderheitsregierung ohne Beteiligung des Bündnisses 90/Die Grünen, die den Wiedereinzug in das Parlament verpasst hatte. Erneut bestand ein Tolerierungsverhältnis zwischen PDS und regierender SPD. Ausschlaggebend für die Bildung der Minderheitsregierung war die Intention, eine Große Koalition bestehend aus SPD und CDU zu vermeiden.60 bb) Nordrhein-Westfalen In Nordrhein-Westfalen amtierte unter Hannelore Kraft eine Minderheitskoalition bestehend aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen von 2010 bis 2012. Erst als der Haushaltsentwurf der Regierung im Jahr 2012 keine Mehrheit fand, löste sich das Parlament auf Vorschlag der Ministerpräsidentin einstimmig auf.61 cc) Thüringen Das Beispiel der jüngsten Vergangenheit ist das Minderheitskabinett Bodo amelows. Nach dem Rücktritt des Ministerpräsidenten Kemmerich und der sodann R vielfach angenommenen und so bezeichneten Regierungskrise62 wurde R amelow in der dritten Wahlphase gemäß Art. 70 Abs. 3 S. 2 a. E. ThürLVerf63 mit relativer Mehrheit zum Ministerpräsidenten gewählt. Die Regierungskoalition Ramelows besteht aus der SPD, Bündnis 90/Die Grünen sowie der Linkspartei. Das Parlament hatte zu Beginn der Regierungszeit vereinbart, den Landtag nach einem Jahr aufzulösen, um auf diese Weise Neuwahlen nach Art. 50 Abs. 2 Nr. 1 ThürLVerf 59
Siehe Kapitel 3 C. I. 2. b) aa) (2) bzw. Kapitel 3 C. I. 2. b) bb) (2). Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (395). 61 Siehe Anträge nach Art. 35 Abs. 1 LVerf NRW, LT-Drucks. 15/4290 (CDU-Fraktion) und 15/4291 (Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen); Plenarsitzung vom 14. 03. 2012, LT-Plenarprotokoll 15/57, 5720. 62 Siehe etwa https://www.tagesschau.de/inland/thueringen-225.html. 63 Verfassung des Freistaats Thüringen vom 25. 10. 1993 (GVBl. 1993, 625); zuletzt geändert durch das Gesetz vom 11. Oktober 2004 (GVBl. S. 745). 60
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG
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herbeizuführen.64 Die Landtagsauflösung durch Neuwahlen wurden jedoch infolge der COVID-19-Pandemie und dem hiermit verbundenen Infektionsrisiko bei der Durchführung von Wahlen kurzzeitig verschoben.65
III. Die Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG Die geschäftsführende Regierung (auch: Geschäftsregierung) ist eine solche Regierung, die nach dem Ende der Amtszeit des bisherigen Bundeskanzlers die Regierungstätigkeit fortführt, solange kein neues Kabinett gebildet wurde. Die Regierung wird dabei nicht nach Maßgabe des Art. 63 GG gebildet. Stattdessen sind gemäß Art. 69 Abs. 3 GG die Geschäfte auf Ersuchen des Bundeskanzlers bzw. Bundespräsidenten fortzuführen. Im Falle des Bundeskanzlers ersucht ausschließlich der Bundespräsident den bisherigen Amtsinhaber; im Falle der Bundesminister ist vorrangig der Bundeskanzler zu diesem Ersuchen berechtigt.66 Es besteht die verfassungsrechtliche Pflicht des Bundespräsidenten den Bundeskanzler zu ersuchen, auf Seiten des Bundeskanzlers, ggf. auch des Bundespräsidenten67, besteht die Pflicht, die Bundesminister zur Fortführung zu ersuchen.68 Das Ersuchen ist seinerseits gemäß Art. 58 S. 2 GG nicht gegenzeichnungspflichtig. Die Regierungsbildung vollzieht sich im Ergebnis nicht in der Wahl eines Bundeskanzlers mit anschließender Ernennung von Ministern auf Vorschlag des Kanzlers. Vielmehr wird die Geschäftsregierung dadurch gebildet, dass bestehende Amtsträger um die Amtsfortführung von Bundeskanzler bzw. Bundespräsident ersucht werden. Eine gesonderte „Auswahl“ der Regierungsmitglieder erfolgt dabei grundsätzlich nicht. Die ersuchten Bundesminister und Bundeskanzler sind wiederum zur interimistischen Führung der Regierungsgeschäfte verpflichtet69; es besteht keine Möglichkeit einer freien Willensentscheidung des bisherigen Amtsinhabers über das „Ob“ der Weiterführung. Insoweit widerspricht der Art. 69 Abs. 3 GG den Grundsätzen der Entscheidungsfreiheit über eine Amtsausübung.70 Ausnahmsweise 64
Siehe https://www.thueringen24.de/erfurt/article228500433/Thueringen-Nach-Einigungim-Wahl-Chaos-CDU-lehnt-Vorschlag-ab-Neuwahl-Bodo-Ramelow-Linke-CDU-Maerz.html. 65 https://www.sueddeutsche.de/politik/landtagswahl-thueringen-termin-corona-1.5175129; https://www.mdr.de/thueringen/kommentar-sondermann-becker-wahl-verschiebung-100.html. 66 Vgl. Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 69 Rn. 58. 67 Der Bundespräsident ersucht die Bundesminister, soweit der Bundeskanzler sein Amt nicht fortführen wird, etwa bei Tod oder schwerer Krankheit des Bundeskanzlers. 68 Unerheblich ist, ob die Pflicht generell besteht oder ein Ermessen des Bundespräsidenten, welches hinsichtlich des Ersuchens auf Null reduziert wäre. Für eine Verpflichtung siehe etwa Dreier / Hermes, GG Art. 69 Rn. 20; Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 35 f.; ebenso Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (106); für ein auf Null reduziertes Ermessen etwa Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 52. 69 BeckOK / Pieper, GG Art. 69 Rn. 6. 70 Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 36 ff.; Schemmel spricht hierbei unzutreffend von einer Mandatsausübung; jedoch handelt es sich hierbei um die Amtsausübung, siehe ders., Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (106) m. w. N.
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Kap. 1: Bundesregierung und Regierungsbildung nach dem GG
kann eine Amtsfortführung oder ein Ersuchen des jeweiligen Amtsinhabers verweigert werden, wenn dem zwingende Gründe entgegenstehen: neben den Fällen von Krankheit sind nur diejenigen Beteiligten von der Fortführung befreit, denen das Interregnum persönlich unzumutbar ist, etwa weil eine Lebensgefahr für den Amtsträger selbst oder seine nahen Angehörigen einherginge.71 Ebenso führen personelle Inkompatibilitäten von verschiedenen Ämtern zum Ausschluss der Geschäftsfortführung.72 Zuletzt kann das gänzlich verlorene politische Ansehen des Betroffenen für eine persönliche Unzumutbarkeit sprechen. Außerdem ist auch die Unterscheidung der eigenen politischen Gesinnung von dem neu gewählten Bundeskanzler dann als unzumutbar für die Amtsfortführung anzusehen, wenn die Abweichung sich auf Regierungsfragen bezieht. Dagegen ist die Angehörigkeit des jeweiligen Ministers zu einer anderen Partei als diejenige des nunmehr geschäftsführenden Bundeskanzlers für sich genommen kein solcher zwingender Grund, der eine Unzumutbarkeit der Amtsfortführung rechtfertigte. Dies ist auf den Sinn und Zweck des Art. 69 Abs. 3 GG zurückzuführen. Dieser besteht darin, einen regierungslosen Zustand zu vermeiden. Ein Fall der Regierungslosigkeit73 ist verfassungsrechtlich ausgeschlossen; sollte ein längerer Zeitraum der Koalitionsbildung erforderlich sein oder eine Bundeskanzlerwahl nach Art. 63 GG mit seinen Wahlphasen nicht in Gang gesetzt werden, so bestünde immerhin eine Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG. Ein pauschales Rücktrittsrecht, etwa bei der Beendigung der bislang bestehenden Koalition nach Ende der Legislaturperiode nach Art. 39 Abs. 2 GG würde die Verpflichtung zur Fortführung aushöhlen und unter Umständen auch die Funktionsfähigkeit der Regierung gefährden.74 Beispielsweise amtierten die FDP-Bundesminister nach Beendigung der 17. Legislaturperiode noch weiter bis zur Bildung einer neuen Regierung zwischen SPD und CDU / CSU, obgleich die FDP in der 18. Legislaturperiode nicht mehr im Bundestag vertreten war. Ein Verweigerungsrecht aus politischen Gründen kann allenfalls bestehen, wenn die abweichende politische Auffassung sich wie dargestellt auf wesentliche Regierungsfragen bezieht und daher unzumutbare Nachteile des Bundesministers bedeuten würden. Ferner gilt bei der Konstituierung einer Geschäftsregierung das sogenannte Versteinerungsprinzip.75 Dies bedeutet, dass nur diejenigen letztlich Personen der geschäftsführenden Regierung werden können, die ehemalige Regierungsmitglieder waren.76 Insbesondere ist dem geschäftsführenden Bundeskanzler nicht erlaubt, Kabinettsumbildungen in Form der Neukonstituierung eines Ressorts oder dem Vorschlag neuer Minister vorzunehmen. 71
Jarass / Pieroth, GG Art. 69 Rn. 5. Siehe bereits [Fußnote 57] zu Andrea Nahles. 73 Siehe dazu Dreher, Geschäftsführende Regierungen, in: NJW 1982, S. 2807, der auch von einem „Falle der Unregierbarkeit“ spricht. 74 Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 69 Rn. 35. 75 Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (109). 76 Im Folgenden Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (107) m. w. N.; außerdem Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 69 Rn. 39; Münch / Kunig / Mager, GG Art. 69 Rn. 28 m. w. N. 72
B. Die Regierungsformen und ihre Bildung nach dem GG
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Unberührt hiervon bleibt das Recht, bestehende Ressorts zusammenzufassen, um diese durch denselben Minister leiten zu lassen, wenn ein ehemaliger Amtsträger in zulässiger Weise bzw. aus den oben genannten Gründen die Amtsfortführung verweigert. Würden sämtliche ehemalige Regierungsmitglieder die Geschäftsfortführung verweigern, die einer anderen Partei angehören als der geschäftsführende Bundeskanzler, bestünde die Gefahr, dass zu wenige künftige Bundesminister zur Verfügung stünden, die wesentlichen Ressorts in funktionsfähiger Weise zu verwalten. Denkbar ist, dass eine Geschäftsregierung als Minderheitsregierung das Amt ausübt, soweit sich bei Neuwahlen die Kräfteverhältnisse im Parlament so veränderten, dass die zuvor gebildete und nach Abschluss der vergangenen Legislaturperiode geschäftsführend im Amt verbliebenen Regierungsmitglieder einschließlich des kommissarisch regierenden Bundeskanzlers sich nicht mehr der mehrheitlichen Unterstützung sicher sein können. Außerdem ist möglich, dass der nachträgliche Mehrheitsverlust im Laufe der Legislaturperiode zur Ablehnung der Vertrauensfrage mit anschließender Bundestagsauflösung führt. Da durch die Bundestagsauflösung auch sämtliche Ämter der Regierung nach Art. 69 Abs. 2 GG enden, ist nunmehr die Bildung einer geschäftsführenden Regierung erforderlich, die sich ebenfalls nicht der parlamentarischen Mehrheit versieht. In beiden genannten Fällen regiert die Geschäftsregierung als Minderheitsregierung.
Kapitel 2
Die politische Krise – Herausforderungen für das parlamentarische Regierungssystem und seine Regierungsbildung „Die Bildung einer Regierung ist zwar immer ein schwieriger Prozess des Ringens und auch des Haderns. Aber der Auftrag zur Regierungsbildung ist auch ein hoher, vielleicht der höchste Auftrag des Wählers an die Parteien in einer Demokratie. Und dieser Auftrag bleibt.“ (Frank-Walter Steinmeier)1
Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Bildung und der sich anschließenden Rechtsfolgen sind formelle und materielle Mehrheitsregierungen sowie formelle und materielle Minderheitsregierungen, außerdem sind hiervon Geschäftsregierungen als vom Grundgesetz zugelassene Regierungsformen formal zu unterscheiden. Im Folgenden ist zu klären, welche dem System womöglich immanenten Phänomene und Faktoren die jeweiligen unterschiedlichen Regierungsformen begünstigen oder erschweren. Im folgenden Kapitel wird den Fragen nachgegangen, – welche Parameter und Bedingungen typischerweise die Bildung einer formellen (und materiellen) Mehrheitsregierung erschweren sowie – welche Parameter und Bedingungen in der Folge typischerweise die Bildung einer formellen Minderheitsregierung begünstigen. Gegenstand und Anlass der Untersuchung ist der Wandel politischer, gesellschaftlicher und verfassungsrechtlich relevanter Rahmenbedingungen, welche die Regierungsbildung mittelbar oder gar unmittelbar betreffen. Zunächst soll daher der in der Abhandlung zugrundeliegende Begriff des verfassungsrechtlichen Ausnahmerechts sowie der (politischen) Krise eingeführt und schließlich auf die Gegebenheiten der Minderheits- und Mehrheitsregierungen übertragen werden, indem die Begriffe unter anderem definiert und von anderen Formen verfassungsrechtlich relevanter Zustände, insbesondere von der rechtlichen Normallage, abgegrenzt werden. Insgesamt sollen sämtliche für diese Arbeit relevante und daher zu berücksichtigende Verfassungsnormen hinsichtlich ihrer rechtlichen Wirkung gegenüber Krisen eine Einordnung erfahren. Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland soll im Weiteren die Erschwerung der Regierungsbildung anhand fehlender Koali 1
Frank-Walter Steinmeier, Erklärung zur Regierungsbildung, Rede vom 20. 11. 2017, abrufbar unter https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/ Reden/2017/11/171120-Statement-Regierungsbildung.html.
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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tionsfähigkeit und verminderter Koalitionsbereitschaft dargestellt werden, wobei hierfür insbesondere die verfassungspolitischen Bedingungen der jüngeren Vergangenheit, aber auch ältere Erfahrungen thematisiert werden. Dabei wird hinsichtlich der fehlenden Koalitionsfähigkeit auf das geltende Wahlrecht in seiner konkreten Ausgestaltung und mit seinen politisch-praktischen Konsequenzen eingegangen. Dargestellt wird der Zusammenhang zwischen erschwerter Regierungsbildung und der Erhöhung der Zahl politischer Akteure in Form von Parteien und der Anzahl der Bundestagsmitglieder mit der personalisierten Verhältniswahl. Bezüglich fehlender Koalitionsfähigkeit von Parteien werden zunächst die leitenden Motive für die Übernahme der Koalitions- oder Oppositionsrolle von Fraktionen und Fraktionsmitgliedern thematisiert. Sodann wird die Rolle von Populismus innerhalb der Parteienlandschaft hinsichtlich ihrer Konsequenzen für das parlamentarische Regierungssystem diskutiert und geklärt, welche Auswirkungen und rechtlichen Konsequenzen für die Regierungsbildung abgeleitet werden können.
A. Der verfassungsrechtliche Normalfall, der Ausnahmezustand und die (politische) Krise A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise „The Chinese use two brush strokes to write the word ‚crisis.‘ One brush stroke stands for danger; the other for opportunity. In a crisis, be aware of the danger – but recognize the opportunity.“ (John F. Kennedy)
Der Diskussion um die Frage, ob die formell ins Amt berufene oder die durch nachträglichen Vertrauensverlust zu einer solchen gewordene Minderheitsregierung in der Bundesrepublik Deutschland eine geeignete Alternative zu einer (formellen) Mehrheitsregierung darstellt, werden vielfach folgende Annahmen zugrunde gelegt: – Die Mehrheitsregierung ist der verfassungsrechtlich und politisch intendierte Normalfall. Sie ist daher als Regierungsform zu präferieren.2 – Bei der Minderheitsregierung handelt es dagegen sich um eine Abweichung von diesem Normalfall. Diese Abweichung könnte daher theoretisch als „Ausnahme“ oder gar als „Ausnahmezustand“ von ebendiesem Normalzustand bzw. auch als (politische) „Krise“ bezeichnet werden.3 Folgerichtig sei bereits ein in das Amt Berufen der formellen Minderheitsregierung vorzubeugen; auch das Entstehen einer materiellen Minderheitsregierung bewirkt oder folgt aus einer „Krise“ und ist ergo zu vermeiden.4 2
Vgl. Darstellung bei Klecha, Minderheitsregierungen in Deutschland, S. 17 m. w. N. Vgl. zum Beispiel Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt? Grundsätzliche Bedenken, in: ZParl 1997, S. 717; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 44; Jesse, Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994, in: ZParl 1998, S. 460 (473). 4 Niclauß, Der diskrete Charme einer Minderheitsregierung, in: ZParl 2017, S. 211 (215). 3
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Kap. 2: Die politische Krise
Klärungsbedürftig ist, inwieweit diese Annahmen eine dogmatische Stütze im Verfassungsrecht finden bzw. wie die tatsächlich im Grundgesetz gezeichnete Einordnung gegebenenfalls zu begründen ist und wie im wissenschaftlichen Diskurs bereits vorgenommene Einteilungen zutreffend und / oder ihrerseits präzisierungsbedürftig erscheinen. Maßgeblich ist in diesem Zusammenhang, die Begrifflichkeiten trennscharf voneinander abzugrenzen und zu erkennen, worin die verfassungsrechtlichen Unterschiede liegen.
I. Einordnung der regierungsrelevanten Vorschriften nach dem heuristischen Schichtenmodell des Verfassungsrechts A. Kaiser entwickelte ein heuristisches Schichtenmodell des Verfassungsrechts5, bei welchem sie vier Schichten des Rechts anhand ihres Krisenbezugs voneinander abgrenzt: – die rechtliche Normallage als erste Rechtsschicht – das einfache Krisenrecht als zweite Rechtsschicht – das Ausnahmerecht als dritte Rechtsschicht – der absolute Ausnahmefall als vierte Rechtsschicht. Aufgrund der möglichen Verwechslungsgefahr müssen in diesem Zusammenhang die Begriffe „Ausnahmerecht“, „Ausnahmezustand“ und „Krise“ voneinander abgegrenzt werden; außerdem muss das Verhältnis der Begriffe für den hier relevanten Kontext der Regierungsbildung und des Amtierens einer bestimmten Regierung geklärt werden. Zunächst ist unter einer „Ausnahme“ eine Abweichung eines bestehenden Regelkonzeptes gemeint (Regel-Ausnahme-Verhältnis). Die „Ausnahmen“, die im Folgenden genannt werden, sind stets Ausnahmen in der Verfassung, keinesfalls sind Ausnahmen von der Verfassung gemeint. Konkret soll dargelegt werden, dass das Amtieren einer Mehrheits- wie auch einer Minderheitsregierung verfassungsrechtlich geregelte Fälle sind. In keinem der genannten Fälle werden einzelne Bestimmungen oder die gesamte Verfassung suspendiert. Es tritt dabei kein Zustand ein, der jenseits der Regelungswirkung der Verfassung liegt. Nur dieser Fall wird als „Ausnahmezustand“ bezeichnet.6 Bei den insoweit als einschlägig und relevant einzuordnenden Verfassungsnormen kann von sogenanntem „Ausnahmerecht“ gesprochen werden. Mit der Anwendung des Ausnahmerechts geht kein Ausnahmezustand einher. Vielmehr soll das Ausnahmerecht den Ausnahmezustand verhindern. Es soll mit dem Ausnahmerecht mithin ein Zustand vermieden werden, der sich außerhalb der Verfassung 5
Im Folgenden A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 65 ff. A. Kaiser nennt diesen Fall auch die „absolute Ausnahme“, siehe dies., Ausnahmeverfassungsrecht, S. 66 m. w. N. 6
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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und ihrer Bestimmungen bewegt. Im Hinblick auf den Krisenbegriff ist festzuhalten, dass nicht jede Regierungskrise eine Verfassungskrise darstellt. Nicht jede Verfassungskrise ist gleichzeitig eine Staatskrise. Im Folgenden sollen nach abstrakter Darstellung der Schichten die verschiedenen Regierungsformen sowie die jeweils einschlägigen Vorschriften, unter anderem Art. 63 Abs. 1 bis 4, Art. 67, Art. 68 sowie Art. 69 Abs. 3 und Art. 81 GG, in das Modell eingeordnet werden. 1. Die Normallage als erste Rechtsschicht a) Vom Normalfall und Krisenverhinderungsrecht Die rechtliche Normallage7 und die hierfür einschlägigen Vorschriften weisen keinen spezifischen Krisenkontext auf. Ein mittelbarer Krisenbezug besteht allenfalls darin, eine Steuerungswirkung zu entfalten, die letztlich zum Erhalt oder zur Herstellung der Normalität beiträgt. Auch auf der Ebene der verfassungsrecht lichen Normallage sind Funktionsstörungen prinzipiell tauglich, in eine generelle Verfassungsstörung zu münden. Insgesamt sei das Recht der Normallage gleichzeitig auch Krisenverhinderungsrecht. Insoweit ist auch auf die Steuerungskraft des Rechts8 bzw. seine normalisierende Wirkung zu verweisen. Unter einem Normalfall im rechtlichen Sinne können demgemäß solche Umstände bzw. Zustände verstanden werden, die primär zur Anwendung kommen (sollen). Erst ihre Unanwendbarkeit oder das Vorliegen außerordentlicher Umstände führen zur Anwendung ebenso außerordentlicher gesetzlicher (oder gar außergesetzlicher) Regelungen, die den nachfolgenden Schichten des Verfassungsrechts zuzuordnen wären. b) Die Mehrheitsregierung als verfassungsrechtliche Normallage Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellen das Amtieren einer Mehrheitsregierung bzw. ihrer Wahl nach Art. 63 Abs. 1 bis Abs. 3 GG9 die verfassungsrechtlich, politisch intendierte und ergo zu präferierende rechtliche Normallage dar.10 7
Zum Normalitätsbegriff siehe Herzmann, Die „ökonomische Normallage“ im Recht, in: IWS 2011, S. 9 ff. 8 Hierzu verweist A. Kaiser auf Heller, Staatslehre, S. 252. 9 A. Kaiser differenziert nicht zwischen den einzelnen Wahlphasen, sondern nennt die Konstituierungsvorschriften der Verfassungsorgane pauschal als zugehörig zum Recht der reinen Normallage. Hier wird von dieser pauschalen Einordnung Abstand genommen. 10 Vgl. auch Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 54; ebenso Schröder, HStR III, § 65 Rn. 4, Stern, Staatsrecht I, S. 981; Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (52).
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Kap. 2: Die politische Krise
aa) Inkurs: Das demokratische Mehrheitsprinzip im GG Das Mehrheitsprinzip ist eines der fundamentalen Prinzipien11 einer demokratischen Herrschaft.12 Darunter ist eine politische Entscheidungsregel13 zu verstehen, nach welcher Entscheidungen grundsätzlich mithilfe einer (quantitativ überlegenen) Majorität getroffen werden.14 Ein homogener Volkswille15 bzw. das Auffinden der objektiv korrekten Antwort wird damit jedoch nicht fingiert. Stattdessen wird beabsichtigt, eine relativ vernünftige und relativ richtige Sachentscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt zu finden.16 Schliesky spricht insoweit von einer „widerlegliche[n] Vermutung der Richtigkeit“.17 Dreier verzichtet dagegen auf einen Richtigkeitsanspruch18 und geht davon aus, dass die Legitimität von Entscheidungen daraus erwächst, dass diese als offen für Fehler und daher umkehrbar anzusehen sind. Entscheidungen, die von der Mehrheit getroffen werden, stehen grundsätzlich im Einklang mit der Auffassung von mehr Menschen (sog. Freiheitsargument).19 Dabei ist die Mehrheit nicht als verfassungsrechtliche Kategorie zu begreifen, die zur Bildung der Entscheidung ausschließlich berechtigt ist. Kennzeichnend ist, dass diese Mehrheit „von Fall zu Fall“ zu bilden ist. Insoweit handelt es sich allenfalls um eine politische Mehrheit bzw. eine politische Kategorie, die sich durch die Sitzverteilung im Parlament abzeichnen kann.20 Entscheidungen werden nicht „von der Mehrheit, sondern vom Bundestag getroffen“.21 Für die Findung der Mehrheit werden insoweit Regeln im Sinne des Mehrheitsprinzips aufgestellt. Die Mehrheit als solches ist dabei insbesondere auch „kein parteifähiges Gebilde, das zur Vertretung eigener Rechte das Bundesverfassungsgericht anrufen könnte.“22 11
Morlok bezeichnet das Mehrheitsprinzip als „Strukturelement der freiheitlich-demokratischen Grundordnung“, siehe Dreier / ders., GG Art. 42 Rn. 31. 12 BVerfGE 1, 299 (315); 2, 1 (12), 5, 85 (140, 197); 29, 154 (165); 44, 125 (141 f.); 73, 206 (251); 112, 118 (140). Kritisch zum Begriff der „Mehrheitsdemokratie“ Steffani, Mehrheitsentscheidungen und Minderheiten in der pluralistischen Verfassungsdemokratie, in: ZParl 1986, S. 569 (572 ff.). Die Bundesrepublik Deutschland sei nicht als „Mehrheitsdemokratie“ zu bezeichnen, sondern vielmehr als „Verfassungsdemokratie“. Grund hierfür sei, dass der Gesetzgeber bei der Gesetzgebung insgesamt an verfassungsrechtliche Bestimmungen, an Grundrechte und Kompetenzregelungen gebunden sei. Diese terminologische Frage kann für die hier angeführte Thematik außer Betracht bleiben. 13 Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 12. 14 Siehe auch Lijphart, Patterns of Democracy, S. 2. 15 Dreier spricht insoweit nur von einem „Mindestmaß“ an Homogenität, siehe Dreier / ders., GG Art. 20 Rn. 71. 16 Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 10 mit Verweis auf Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren der Demokratie, S. 45 f. 17 Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 10. 18 So auch Schneider / Zeh / Meyer, § 4 Rn. 5. 19 Dreier / ders., GG Art. 20 Rn. 69 f. 20 BVerfGE 106, 253 (273). 21 BVerfGE 2, 143 (161). 22 BVerfGE 2, 143 (163).
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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Begründbar ist das Mehrheitsprinzip mit praktischen Erwägungen und den in der Demokratie übrigen fundamentalen Prinzipien: Sind Meinungsfreiheit und ein heterogenes Menschenbild konstitutive Elemente der demokratischen Herrschaftsform, so wird in Bezug auf Sachfragen vielfach ein ebenso heterogenes Meinungsbild in der Gesamtbevölkerung vorzufinden sein. Von einer einhelligen, einstimmigen Ansicht ist vor allem im Bereich hochkomplexer Sachmaterien regelmäßig nicht auszugehen. Indem das Mehrheitsprinzip eine Entscheidungsregel aufstellt, ist es auch ein essenzielles Funktionsprinzip der Demokratie.23 Die Einstimmigkeit wäre zwar als Idealfall der Entscheidungsfindung zu sehen, ist aber gerade nicht notwendig.24 Die Demokratie basiert vielmehr auf dem Gedanken, dass Entscheidungen mithilfe der Mehrheit getroffen werden, die durch die Minderheit solidarisch mitgetragen und letztlich grundsätzlich auch akzeptiert werden müssen, obgleich diese Minderheit im Einzelfall gegen eine jeweilige Entscheidung gestimmt hatte. Dies setzt seinerseits ein Mindestmaß an Gemeinschaft und in Gestalt eines gemeinsamen Grundkonsenses voraus.25 Der Minderheit26 ist es nicht zuletzt durch die zeitliche Begrenzung von gesetzgebender Hoheitsgewalt theoretisch jederzeit möglich, selbst zur Mehrheit zu werden.27 Die Lehre Rousseaus über die Mehrheitsentscheidung als Gemeinwille und den Irrtum der Minderheit ist nicht als zutreffende Begründung hierfür anzusehen.28 Vielmehr ist der in demokratischen Gefügen ebenso relevante Grundsatz der Gleichberechtigung von Menschen heranzuziehen, wonach Menschen auch im politischen Entscheidungsprozess gleichwertige Einflussmöglichkeiten auf eben diesen zukommen müssen. Käme Minderheiten etwa ein Vetorecht gegenüber von der Mehrheit gefällten Entscheidungen zu, so wären die Einflussmöglichkeiten ebendieser Minderheit als stärker anzusehen.29 Im Ergebnis bestünde infolgedessen eine Ungleichheit zwischen jenen, die sich der Mehrheit angeschlossen haben 23
Stern, Staatsrecht I, S. 611; Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 9. Siehe hierzu Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 93 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 610; Parlamentsrecht / Sacksofsky, § 6 Rn. 3; Jochum, Materielle Anforderungen an das Entscheidungsverfahren der Demokratie, S. 36 ff.; zustimmend: Sachs / ders. GG Art. 20 Rn. 21 m. w. N. Dreier bezeichnet die Einstimmigkeit auch als unpraktikabel, siehe Dreier / ders., GG Art. 20 Rn. 67, ähnlich auch Mangoldt / K lein / Starck / Schliesky, GG Art. 42 Rn. 7. 25 Vgl. Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 11. 26 Das Grundgesetz kennt keine allgemeine Garantie einer Opposition, schützt aber implizit die Minderheit bzw. Opposition durch einzelne Schutzbestimmungen. In der Bundesrepublik Deutschland bestehen unter anderem Rechtsbehelfe, etwa abstrakte Normenkontrollen aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG bzw. Organstreitverfahren aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Diese sind nicht ausschließlich der Opposition vorbehalten, vgl. Sachs / ders., GG Art. 20 Rn. 26 m. w. N. Siehe insbesondere auch BVerfGE 2, 1 (12 f.); 5, 85 (140 f.; 199). 27 Dies gilt insbesondere auch für die Reversibilität von Sachentscheidungen, so Dreier / ders., GG Art. 20 Rn. 78 f.; vgl. auch Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 9; Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (16). 28 Herb, in Brandt / ders., Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, VI. Buch, S. 169 ff. 29 Vgl. Hillgruber, Die Herrschaft der Mehrheit, in: AöR 2002, S. 460 (461 ff.). 24
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Kap. 2: Die politische Krise
und jenen, die als quantitativ unterlegene Minderheit die Mehrheitsentscheidung zu Fall bringen könnten. Das Mehrheitsprinzip beruht im Ergebnis auf der für die Demokratie ebenfalls konstitutiven Freiheit und Gleichheit der Menschen.30 Für die Regierungsbildung stellt das Grundgesetz eine spezifische Mehrheitssystematik auf. In den Vorschriften aus Art. 42 Abs. 2 und 121 GG sowie Art. 63 Abs. 1 bis 4 GG findet das auch bei der Regierungsbildung relevante und funktionssichernde Mehrheitsprinzip spezifische Ausformungen. Anhand dieser soll im Folgenden eine Einordnung der Bundeskanzlerwahl erfolgen. In einem zweiten Schritt soll die so vorgenommene Einordnung von Art. 63 GG sodann anhand der hier konstruierten subsidiären Abfolge von Wahlphasen innerhalb der Norm belegt werden. bb) Die Einordnung des Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG anhand der Mehrheitssystematik im GG Die politische Entscheidungsregel für Beschlüsse des Bundestages findet sich im Grundgesetz in Art. 42 Abs. 2. Nach dieser Vorschrift kommt die einfache Mehrheitsregel jedoch nur dann zur Anwendung, wenn das Grundgesetz keine für den jeweiligen Fall speziellere Vorschrift vorsieht („soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt“). Insoweit ist Art. 121 GG als eine solche speziellere, die Vorschrift aus Art. 42 Abs. 2 GG modifizierende31 Vorschrift anzusehen. Die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages ist danach die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl. Art. 121 GG ist unmittelbar anwendbar in den ersten beiden Wahlphasen aus Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG.32 Dass die Mehrheitsregel aus Art. 63 Abs. 2 i. V. m. Art. 121 GG den Grundfall der Bundeskanzlerwahl darstellt, manifestiert sich bereits darin, dass eine formelle Mehrheitsregierung durch die Wahl des Bundeskanzlers in den ersten beiden Wahlphasen in ihr Amt berufen wird: Die Eröffnung der jeweils nachfolgenden Wahlphasen ist aufschiebend bedingt durch das Scheitern der vorangegangenen Wahlphasen. Dies bedeutet eine formale Subsidiarität nachfolgender Wahlphasen, speziell der dritten Wahlphase. Für die Einordnung des Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG als rechtliche Normallage spricht daher die in ihr enthaltene Mehrheitssystematik: Gemäß Art. 63 Abs. 1, 2 bzw. Art. 63 Abs. 3 GG wird der Bundeskanzler formell mit mehrheitlichem Vertrauen der Abgeordneten im Sinne des Art. 63 Abs. 2 i. V. m. 121 GG gewählt. Die dritte Wahlphase aus Art. 63 Abs. 4 GG ist als demgegenüber subsidiär anzusehen. Sie kommt ausschließlich dann zur Anwendung, wenn das 30
Vgl. stellvertretend für viele Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 52; Badura, HStR II, § 25 Rn. 31; Dreier / ders., GG Art. 20 Rn. 73; Schneider / Zeh / Hofmann / Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5 Rn. 59 ff. 31 Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 12; Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 61. 32 BVerfGE 112, 118 (145).
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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Mehrheitsquorum aus Art. 121 GG in der ersten oder zweiten Wahlphase jeweils nicht erfüllt werden konnte. Das in der dritten Phase zu erfüllende Quorum der relativen Mehrheit entspricht dem ebenfalls insoweit subsidiär anwendbaren Mehrheitsbegriff aus Art. 42 Abs. 2 GG. Dadurch ist sie jedenfalls nicht mehr als Recht der Normallage anzusehen.33 Die Wahl einer formellen Minderheitsregierung ist ergo nicht der ersten Rechtsschicht im Sinne des heuristischen Schichtenmodells zuzuordnen. Es wird von dem Grundfall abgewichen, dass ein Kanzlerkandidat in einer der ersten beiden Wahlphasen die absolute Mehrheit aus Art. 121 GG auf sich vereinen konnte.34 Hinsichtlich der ersten beiden Wahlphasen und ihrer Einordnung in die erste Rechtsschicht ist dabei keine Differenzierung vorzunehmen: Die Verfassung geht bei diesen zwei Wahlphasen davon aus, dass primär eine Wahl des Mehrheitskanzlers auf Basis des präsidentiellen Vorschlages als Abstimmung erfolgt. Abweichend hiervon lässt die Verfassung eine Wahl des Kandidaten im Rahmen einer echten Wahl auf Vorschlag des Bundestages selbst zu. Da es sich hierbei allerdings nur um eine tatbestandliche Ausgestaltung des Vorschlagsrechts handelt, die jedoch letztlich keine Konsequenzen für die spätere Qualifizierung als Mehrheits- oder Minderheitsregierung bewirkt bzw. keinen Aufschluss hinsichtlich späterer Mehrheitsoder Vertrauensverhältnisse zulässt, ist davon ausgegangen, dass auch die zweite Wahlphase trotz ihrer tatbestandlichen Besonderheiten den verfassungsrechtlichen Normalzustand markiert. Maßgeblich für die spätere Einordnung einer Regierung als formelle Mehrheits- oder Minderheitsregierung ist allein der Beschluss des Bundestages.35 Nur das Parlament kann in den ersten beiden Wahlphasen grundsätzlich über die Unterstützung eines vorgeschlagenen Bundeskanzlers befinden und ist letztlich die reale Entscheidungsinstitution. cc) Einordnung anhand der zeitlichen Begrenzung und möglicher Rechtsfolgen Die Amtszeit der Bundesregierung endet gemäß Art. 69 Abs. 2 GG in jedem Falle mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages. Die Legislaturperiode ist gemäß Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG auf vier Jahre begrenzt. Damit stehen die Vorschriften aus Art. 69 Abs. 2 GG in unmittelbarem Zusammenhang mit Art. 39 Abs. 1 GG. Darin ist die Grundregel für das Ende der Amtszeit von Regierung und Parlament zu sehen.36 Da es sich im parlamentarischen Regierungsgefüge 33 Lippert spricht von einer „eingeschränkten parlamentarischen Vertrauensbedürftigkeit“, siehe ders., Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem, S. 307. 34 Zur ausführlichen Einordnung der dritten Wahlphase aus Art. 63 Abs. 4 GG in das heuristische Schichtenmodell, siehe Kapitel 2 A. I. 2. a). 35 Zur alleinigen Bestellungsgewalt der Regierung durch den Bundestag, siehe Kapitel 3 B. I. 2. a) bb). 36 Siehe etwa Dreier / Morlok, GG Art. 39 Rn. 31; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 37.
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Kap. 2: Die politische Krise
nicht um eine präsidentielle Regierung (auch: Regierung auf Zeit37), sondern eine vom Vertrauen abhängige Regierung handelt, besteht als alternativer Mechanismus für das Beenden der Regierungszeit außerhalb des Falls von Art. 39 Abs. 1 S. 1, 69 Abs. 2 GG (nur) das konstruktive Misstrauensvotum. Bei der Schaffung des Grundgesetzes wurde beschlossen, dass die Bundesregierung nicht nur durch das Parlament gebildet werden sollte und dann für eine gewisse, gesetzlich fixierte Zeit amtiert. Vielmehr ist der Fortbestand der Regierung von dem (Fort-)Bestehen des Vertrauens abhängig. Im Falle des konstruktiven Misstrauensvotums ist demnach ein Abweichen dieser regelmäßigen Amts- bzw. Mandatszeiten gegeben. Konkret bedeutet dies: Nur für die Fälle, dass die Bundesregierung zurücktritt oder dass ein konstruktives Misstrauensvotum erfolgreich ist, soll es ausnahmsweise zu der Neubildung der Regierung kommen. Das konstruktive Misstrauensvotum unterliegt dabei engen tatbestandlichen Voraussetzungen und setzt die Berufung eines Bundeskanzlers mit einer Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG voraus. Die Vorschrift aus Art. 63 GG ist dagegen grundsätzlich zu Beginn der Legislaturperiode anwendbar, wenn das Amt des Bundeskanzlers vakant ist. Andere Gründe der Vakanz des Bundeskanzleramtes, die ebenfalls zur Anwendung von Art. 63 GG führen, sind der freiwillige Rücktritt des Bundeskanzlers, außerdem auch äußere Umstände wie Tod oder sonstige Amtsunfähigkeit des Kanzlers.38 Amtiert eine Regierung und versieht sich materiell des mehrheitlichen parlamentarischen Vertrauens, so ist nicht ersichtlich, dass Art. 67 GG zur Anwendung kommt. In diesem Fall wird es zu einer regelmäßigen Beendigung der Amtszeiten von Regierung und Parlament nach Art. 39 Abs. 1 S. 1, 69 Abs. 2 GG kommen. Auch eine Anwendung von Art. 68 und 81 GG ist in diesen Fällen grundsätzlich nicht ersichtlich.39 Etwas anderes ist nur dann in Betracht zu ziehen, wenn die formelle Mehrheitsregierung im Nachhinein das Vertrauen verliert und zu einer materiellen Minderheitsregierung wird. In der Bundesrepublik Deutschland ist der Art. 81 GG noch nie zur Anwendung gekommen. Die Vertrauensfrage wurde in den bisher 19 Legislaturperioden insgesamt nur fünf Mal von vier unterschiedlichen Bundeskanzlern gestellt. Die tatbestandlichen Voraussetzungen von Art. 68 und Art. 81 GG sind als sehr hoch zu bewerten, sodass es praktisch zu einer restriktiven Anwendung dieser Vorschriften kommt.40
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Siehe Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 43; siehe auch Darstellung bei Kersten, Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Gusy, Weimars lange Schatten, S. 281 (282 ff.). 38 Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 63; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 19; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 2, Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 47. 39 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 1: Die Vorschriften aus Art. 67, 68 und 81 GG markieren, so Herzog, jedenfalls nicht die Regierungsarbeit im „Normalfall“. 40 Kapitel 3 C. II. bzw. III.
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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dd) Generelle Krisenverhinderung durch Art. 63 GG Unabhängig etwaiger Differenzierungen zwischen den Wahlphasen ist Art. 63 GG auch generell wegen seiner die Krise verhindernden Ausrichtung der ersten Rechtsschicht zuzuordnen. Die Vorschrift findet Anwendung, wenn das Amt des Bundeskanzlers vakant ist. Regelmäßig ist dies nach Beendigung der vorangegangenen Legislaturperiode nach Art. 39 Abs. 1 S. 1, 69 Abs. 2 GG der Fall. Darüber hinaus kann Art. 63 GG aber auch dann wegen Vakanz des Bundeskanzleramtes zur Anwendung gelangen, wenn der bisweilen amtierende Kanzler verstirbt oder sich als amtsunfähig erweist.41 Zwar kann dann zunächst der Stellvertreter des Bundeskanzlers zunächst als geschäftsführender Bundeskanzler nach Art. 69 Abs. 3 GG amtieren, jedoch führt Art. 63 GG dazu, dass in diesen Fällen jederzeit ein neuer Bundeskanzler gewählt werden kann. Der Beitrag des Art. 63 GG zur Krisenverhinderung ist demnach, dass ein Bundeskanzler in das Amt berufen werden kann, der – anders als der geschäftsführende Kanzler – sämtliche Befugnisse auszuüben vermag. Zu diesen Befugnissen zählt die (Um-)Bildung des Kabinetts in Sach- und Personalfragen, das Stellen der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG und der Antrag zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes nach Art. 81 GG per Kabinettsbeschluss. Das Stellen der Vertrauensfrage kommt dabei in Betracht, um die Kongruenz von formeller und materieller Minderheitsregierung herzustellen oder festzustellen. Außerdem erscheint beim Amtieren des Stellvertreters als geschäftsführender Kanzler problematisch, dass der direkte Vertrauenszusammenhang des Bundestages sich regelmäßig auf die Person des Bundeskanzlers durch seine Wahl geschaffen wurde. In Koalitionen ist das Amt des Vizekanzlers regelmäßig durch diejenige Fraktion besetzt, die gegenüber dem Koalitionspartner diejenige mit dem im Parlament geringeren Stimmenanteil ist. Das bedeutet konkret: Womöglich amtiert mit dem ehemaligen Stellvertreter ein Amtsträger, der nicht der größten Partei des Bundestages angehört. Die Bestellung anderer Regierungsmitglieder, namentlich auch des Vizekanzlers obliegt regelmäßig der alleinigen Verantwortung des Bundeskanzlers.42 Auf die Besetzung einzelner Ministerämter hat der Bundestag aber jedenfalls keinen direkten Einfluss. Allenfalls können die Koalitionsfraktionen mittelbar über Koalitionsabsprachen die personelle Besetzung bestimmen.
41 Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 63; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 19; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 2, Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 47. 42 In der Koalitionspraxis werden Ministerämter regelmäßig auch im Koalitionsvertrag ausgehandelt und vereinbart. Zum Kreationsrecht des Bundeskanzlers siehe Böckenförde, Die Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 139 f.
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Kap. 2: Die politische Krise
c) Einordnung sonstigen Verfassungsrechts Zur rechtlichen Normallage gehören neben Art. 63 Abs. 1–3 GG unter anderem die Vorschriften der ordentlichen Gesetzgebung nach Art. 70 ff. GG43, von welchen durch den Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG abgewichen wird. Auch das Amtieren einer geschäftsführenden Regierung ist nach Art. 69 Abs. 3 GG in die erste Rechtsschicht einzuordnen. Regelmäßig wird es zu einer solchen Geschäfts regierung kommen, wenn die regelmäßige und verfassungsrechtlich vorgeschriebene Legislaturperiode beendet wurde und Neuwahlen stattgefunden haben. Die neue Legislaturperiode beginnt mit den Neuwahlen, gemäß Art. 69 Abs. 2 GG endet wie dargestellt nach Art. 39 Abs. 2 GG in diesem Fall auch das Amt des Bundeskanzlers und jedes Kabinettsmitglieds. In der Zeit zwischen dem Zusammentritt des neuen Parlaments und der Regierungsbildung amtiert die bisherige Regierung gemäß Art. 69 Abs. 3 GG als geschäftsführende Regierung weiter. Zwar kommt dem geschäftsführenden Bundeskanzler nicht das Recht zu, Umbildungen des Kabinetts vorzunehmen und die Vertrauensfrage zu stellen. Der Geschäftsregierung als Kollegialorgan kommt aber auch nicht das Recht zu, den Antrag zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes zu stellen. Nichtsdestoweniger ist die Geschäftsregierung im Übrigen vor allem inhaltlich nicht hinsichtlich des Hervorbringens von Gesetzesinitiativen beschränkt. Die Regierung bzw. der Bundeskanzler können auch als geschäftsführende Verfassungsorgane die Richtlinienpolitik im Sinne des Art. 65 S. 1 GG bestimmen bzw. die Ressorts inhaltlich grundsätzlich frei führen. Entgegen des Wortlauts aus Art. 69 Abs. 3 GG ist die Geschäftsregierung nicht nur zur bloßen „Fortführung“ von zuvor bereits in Gang gesetzten politischen Handlungen und Prozessen verpflichtet. Die Vorschrift aus Art. 69 Abs. 3 GG weist jedenfalls keinen unmittelbaren Krisenbezug auf, sondern ist nach ihrem Sinn und Zweck darauf gerichtet, durch die Prävention einer regierungslosen Zeit eine Krise zu vermeiden.44 Es handelt sich angesichts dieses nur mittelbaren Krisenbezugs um Krisenverhinderungsrecht. 2. Das einfache Krisenrecht als zweite Rechtsschicht In der zweiten Schicht45, dem sogenannten einfachen Krisenrecht besteht im Unterschied zur ersten Schicht ein direkter Krisenbezug der im Grundgesetz angelegten Instrumente. Das einfache Krisenrecht soll ebenso wie das Recht der ersten Schicht Krisenzustände vermeiden oder lösen, insoweit könne das einfache Krisenrecht auch der rechtlichen Normallage zugeordnet werden. Der direkte Krisenbezug besteht dabei zu kurzfristigen und eng lokalisierbaren Ereignissen. Als Beispiele aus dem Verfassungsrecht führt A. Kaiser das Einrichten eines Par 43
So auch A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 65. Zum Sinn und Zweck des Art. 69 Abs. 3 GG ausführlich siehe Kapitel 4 A. 45 Im Folgenden A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 65. 44
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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lamentarischen Untersuchungsausschusses nach Art. 44 GG, außerdem das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 67 GG sowie die Präsidentenanklage nach Art. 61 GG an. a) Die Einordnung des Art. 63 Abs. 4 GG aa) Einordnung anhand der eigenen Normsystematik und Subsidiarität Abweichend von der pauschalen Einordnung A. Kaisers46 ist auch die Vorschrift des Art. 63 Abs. 4 GG als Bestandteil der zweiten Schicht, des einfachen Krisenrechts, anzusehen.47 Wie oben dargestellt stellt die formelle Minderheitsregierung gegenüber der Mehrheitsregierung schon von Gesetzes wegen eine verfassungsrechtlich geregelte Ausnahme dar. Dies offenbart sich bereits durch die schon im Wortlaut angelegte Subsidiarität des Art. 63 Abs. 4 GG: Unter der Prämisse, dass eine Wahl nach Art. 63 Abs. 1, 2 bzw. Art. 63 Abs. 3 GG „nicht zustande kommt“, ist gewählt, wer die Mehrheit der tatsächlich abgegebenen Stimmen erhalte. Die Einleitung der dritten Wahlphase ist mithin aufschiebend bedingt durch das Scheitern der vorangegangen Wahlphasen eins und zwei.48 Ein Scheitern ist gegeben, wenn in keiner der ersten beiden Wahlphasen ein Kandidat mit der in Art. 63 Abs. 1 bis 3 bzw. Art. 121 GG normierten Mehrheit gewählt wird. So spricht also bereits die tatbestandliche Ausgestaltung des Art. 63 Abs. 4 GG selbst für die Einordnung in die zweite Rechtsschicht. bb) Einordnung anhand der Rechtsfolgen aus Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG Auch die dritte Wahlphase aus Art. 63 Abs. 4 GG kann anhand ihrer Rechtsfolgen hinsichtlich ihres Krisenbezugs kategorisiert werden. Für eine Regierung, die als formelle Minderheitsregierung in das Amt berufen wird, ist charakteristisch, dass sich das fehlende mehrheitliche Vertrauen im Sinne des Art. 121 GG bereits bei der Bundeskanzlerwahl offenbart: die fehlende materielle Unterstützung manifestiert sich konkret darin, dass das Mehrheitsquorum aus Art. 121 GG nicht erreicht wird. Damit ist ein erfolgreiches Regieren zwar noch nicht gänzlich ausgeschlossen. Jedenfalls stehen dem Bundeskanzler, der nach Art. 63 Abs. 4 GG mit nur relativer Mehrheit gewählt wird, dieselben Kompetenzen zu wie einem Kanzler, der in der ersten oder zweiten Wahlphase die absolute Mehrheit auf sich
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A. Kaiser ordnet den gesamten Art. 63 GG pauschal als Recht der ersten Schicht ein. Vgl. hierzu auch Kämmerer, Deutschland auf dem Weg zur „Lame Duck Democracy“? – Eine kleine Systemkritik, in: NVwZ 2014, S. 29 (31). Kämmerer sieht in Art. 63 Abs. 4 GG ein „Krisensymptom“, führt aber gleichzeitig an, Art. 63 Abs. 4 GG ermögliche gerade die Wahl einer Alternative zur Geschäftsregierung. Hierzu auch Kapitel 4 A. 48 Vgl. Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 23. 47
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Kap. 2: Die politische Krise
vereint.49 Die Verfassung enthält für diese Fälle gesonderte Befugnisse für Regierung und Parlament, um (weiter) zu regieren oder gar die Regierungszeit zu beenden.50 Während dem Bundeskanzler das Druckmittel aus Art. 68 GG51, die Vertrauensfrage zur Verfügung steht, kann das Parlament, soweit sich dieses nach Art. 67 GG52 mehrheitlich auf einen neuen Bundeskanzler zu einigen vermag, den amtierenden Minderheitskanzler und mittelbar auch seine Regierung abwählen. Zwar steht die Vertrauensfrage prinzipiell jedem Bundeskanzler als Instrument zur Verfügung, denn jedenfalls ist das Stellen der Vertrauensfrage formal nicht an die Voraussetzung geknüpft, dass es sich um einen nach Art. 63 Abs. 4 GG gewählten Bundeskanzler handeln muss.53 Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist im Rahmen des Art. 68 GG allerdings eine „Lage politischer Instabilität“ als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal54 erforderlich. Ob eine solche Lage besteht, liegt im nur bedingt justiziablen politischen Ermessen des Bundeskanzlers. Eine solche kann sich generell etwa darin erweisen, dass der Bundeskanzler bei dem Versuch, die Richtlinienkompetenz aus Art. 65 S. 1 GG auszuüben, Abstimmungsniederlagen wegen fehlendem Vertrauen und fehlender inhaltlicher Kooperationsbereitschaft55 des Parlaments erleidet. Der Verfassungsgeber hielt es jedenfalls für möglich, dass einem formellen Minderheitskanzler solche Instrumente zur Verfügung stehen müssen, die eine politische wie auch verfassungsrechtliche Reaktion auf die fehlende parlamentarische Mitwirkungsbereitschaft zulassen56: Er sah eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ein formeller Minderheitskanzler auch materiell sich keines stetigen Vertrauens versieht. Für den Fall des „Versagens parlamentarischer Regelungen“ sollten Korrekturen geschaffen werden, welche die Regierungsbildung und die Existenz der Regierung absichern sollten. Ein „Versagen“ nahm der Verfassungsgeber an, wenn das Parlament nur in negativen Entscheidungen geeint sei und sich nicht in der Läge sähe, hinsichtlich der Besetzung des Bundeskanzleramtes ein positives Votum abzugeben, das den angestellten Mehrheitserfordernissen genügt. Dies verdeutlichen auch die möglichen Rechtsfolgen des Art. 68 GG. Demnach ist sowohl eine Bundestagsauflösung als auch eine Erklärung des Gesetzgebungsnotstands nach Art. 81 GG zulässig. Ebenso wie die Vertrauensfrage und ihr negativer Ausgang noch keine automatische Parlamentsauflösung mit sich zieht, ist auch Art. 67 GG auflösungsfeindlich ausgestaltet. Das Parlament kann den amtierenden 49
Stellvertretend für viele Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 53; BeckOK / Epping, GG Art. 63 Rn. 10; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 181; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 34. 50 BVerfGE 114, 121 (151). 51 Ausführlich zu Art. 68 GG und seinen Tatbestandsvoraussetzungen Kapitel 3 C. II. 1. 52 Ausführlich zu Art. 67 GG Kapitel 3 B. II. 53 Dreier / Hermes, GG Art. 68 Rn. 14. 54 BVerfGE 62, 1 (39 ff.). 55 Zur Kooperationsbereitschaft außerhalb von Koalitionen und einem alternativen Mehrheitsfindungsprozess, siehe Kapitel 3 C. I. 2. 56 Im Folgenden vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 43–46.
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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Kanzler, wie bereits genannt, nur „konstruktiv“ beseitigen, indem es sich mehrheitlich, das heißt in Einklang mit Art. 121 GG und dem dort normierten Quorum, auf einen neuen Kanzler einigt. Die amtierende Regierung ist hier die Folge einer parlamentarischen Krise, die durch ein Parlamentsversagen zu Tage tritt. cc) Art. 63 Abs. 4 GG als materielles Reserverecht Die dargestellte Auflösungsfeindlichkeit, die sich aus den Rechtsfolgen einer in das Amt berufenen formellen Minderheitsregierung und der dort konstatierbaren prinzipiellen Auflösungsfeindlichkeit des Grundgesetzes ergibt, verdeutlicht, dass die (formelle) Minderheitsregierung zunächst als Abweichen von der rechtlichen Normallage57, der Mehrheitsregierung, anzusehen ist. Missverständlich erscheint dabei die Bezeichnung einer „Ausnahme“, da dieser Terminus suggeriert, es handle sich daher auch um einen Ausnahmezustand. Dies vermittelt den Eindruck, dieser sei nicht als Unterfall der rechtlichen Normallage einzuordnen. Unter einem Ausnahmezustand, so A. Kaiser, sei „die Summe derjenigen Regelungen einer Verfassung“ zu verstehen, „mit der sie für außerordentliche Notlagen Vorkehrungen trifft und der sie Stellung nimmt zu Relativierungen im Bereich Freiheitsrechte und Verschiebungen bei der Gewaltenteilung“.58 Beim Amtieren einer Minderheitsregierung ist dagegen weder eine Relativierung bestimmter Freiheitsrechte noch eine grundsätzliche Abweichung vom Gewaltenteilungsgrundsatz zulässig. Vielmehr differenziert die Verfassung gerade nicht zwischen den Kompetenzen eines Bundeskanzlers, der in den ersten beiden Wahlphasen bzw. in der dritten Wahlphase in sein Amt berufen wurde. Auch die den Gewalten zugehörigen Kernkompetenzen, insbesondere die Kompetenzverteilung und das Verhältnis von Parlament und Regierung, bleiben grundsätzlich unangetastet, denn eine Anwendung von Art. 81 GG, bei dem ein Abweichen der Gewaltenteilung erfolgt, ist nur als ultima ratio anzudenken. Abgewichen wird bei der Bildung einer formellen Minderheitsregierung nur von dem in den ersten beiden, vorrangig anwendbaren Wahlphasen erforderlichen Mehrheitsquorum. In der dritten Wahlphase ist eine Mehrheit aus Art. 121 GG nicht mehr erforderlich, es reicht die einfache Mehrheit im Sinne des Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG. Die Minderheitsregierung ist demnach eine Ausnahme ohne Ausnahmezustand. Das BVerfG sieht in Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG eine „Sicherungsmaßnahme“, da das Grundgesetz prinzipiell mit den bereits genannten Art. 67 und 68 GG Wege aus der Krise heraus bereithalte.59 Dadurch, dass das Grundgesetz die Minderheitsregierung also ausdrücklich zulässt und ihr Instrumente zur Verfügung stellt, die aber primär die Regierungskontinuität absichern, sollten die Wahl und das Amtieren eines formellen Minderheitskanzlers als materielles Reserverecht bezeichnet werden. Anders als die irreführende Be 57
Ähnlich Klecha, Minderheitsregierungen in Deutschland, S. 17. A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 52. 59 BVerfGE 114, 121 (151). 58
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Kap. 2: Die politische Krise
zeichnung des Ausnahmezustands wird diese Bezeichnung eher dem Charakter eines direkten Krisenverhinderungsrechts gerecht. b) Einordnung der Vorschriften aus Art. 67 und 68 GG Neben den in dieser Arbeit berücksichtigten Art. 63 Abs. 4 sowie Art. 67 GG, ist auch Art. 68 GG60, die Vertrauensfrage, in diese zweite Rechtsschicht einzuordnen.61 Wird die Vertrauensfrage gestellt, wird erfragt und überprüft, ob mehrheitliches parlamentarisches Vertrauen besteht oder ob eine Vertrauenskrise besteht. Es handelt sich um ein Kriseninstrument, welches die Handlungsoptionen eines amtierenden (Minderheits-)Kanzlers erweitert. Insbesondere dient Art. 68 GG auch der Stabilität der materiellen Minderheitsregierung, also derjenigen Regierung, die das mehrheitliche Vertrauen (nachträglich oder von vorneherein) durch Veränderung der Stimmenverteilung im Parlament etwa wegen eines Koalitionsbruchs oder Parteiaustritten nicht (mehr) aufweist.62 Wegen einiger denkbarer Rechtsfolgen der abgelehnten Vertrauensfrage – des Antrags der Bundesregierung auf Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes sowie der möglichen Bundestagsauflösung – hat Art. 68 GG eine präventive Wirkung.63 Hierbei besteht ein unmittelbarer Krisenbezug, der je nach gewählter Rechtsfolge auf eine kurzfristige Beseitigung der Krise durch Bundestagsauflösung oder auf die Ermöglichung weiterer Kriseninstrumente, dem Gesetzgebungsnotstand, gerichtet ist. Neben der Auflösungsoption aus Art. 68 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 GG enthält die Vorschrift gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG eine Möglichkeit zugunsten des Parlaments zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers mit einer Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG. Hierin ist ein Abweichen von den Regeln aus Art. 69 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 2 GG für die Beendigung der Amtszeit einer Regierung zu erkennen. Die Vorschrift aus Art. 67 GG normiert das konstruktive Misstrauensvotum. Demnach kann das Parlament jederzeit aus eigener Initiative den Bundeskanzler mitsamt der amtierenden Regierung abwählen, indem es einen neuen Bundeskanzler mit der Mehrheit aus Art. 121 GG wählt. Hierbei besteht der unmittelbare Krisenbezug ebenfalls in dem gestörten Vertrauensverhältnis zwischen Bundesregierung und Bundestag: Durch die Neuwahl eines Kanzlers offenbart sich die fehlende mehrheitliche Unterstützung des Parlaments für die amtierende Regierung bzw. den Bundeskanzler.64 Während Art. 69 Abs. 2 in Verbindung mit 60 Zu der tatbestandlichen Ausgestaltung und den rechtlichen Wirkungen des Art. 68 GG siehe Kapitel 3 C. II. 61 Vgl. BVerfGE 114, 121 (151). 62 Vgl. Heun, Die Stellung des Bundespräsidenten im Licht der Vorgänge um die Auflösung des Bundestages, in: AöR 1984, S. 13 (16). 63 Ausführlich hierzu siehe Ausführungen zu Art. 68 GG in Kapitel 3 C. II. 64 Stellvertretend für viele Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 57; Dreier / Hermes, GG Art. 67 Rn. 8; Jarass / Pieroth, GG Art. 67 Rn. 1.
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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Art. 39 Abs. 2 GG wie dargestellt das regelmäßige Ende der Amtszeit einer Regierung normiert, ist Art. 67 GG als eine insoweit von diesem Grundfall abweichende Bestimmung anzusehen. Gleichwohl soll Art. 67 GG – jedenfalls nach dem Willen des Verfassungsgebers – einen Beitrag dazu leisten, dass eine Krise verhindert wird, indem ein konstruktives, anstelle eines rein destruktiven Misstrauensvotums für die Neuwahl obligatorisch ist.65 Vermieden werden soll damit, dass eine materielle Minderheitsregierung durch eine andere Minderheitsregierung abgelöst wird. Das Parlament soll daher für die Abwahl des Bundeskanzlers dazu angehalten sein, mehrheitsbildende Prozesse anzustreben, um den amtierenden Kanzler abwählen zu können.66 3. Das Ausnahmerecht: Die Ausnahme im Recht als dritte Rechtsschicht Die Ausnahme meint nach dem natürlichen Sprachgebrauch eine Abweichung der geltenden Regel bzw. einen Sonderfall.67 Als juristischer Begriff bezeichnet die Ausnahme „einen Rechtssatz, der mit Rücksicht auf besondere zusätzliche Tatbestandsvoraussetzungen von der gewöhnlich eintretenden Rechtsfolge dispensiert oder die allgemeine durch eine besondere Rechtsfolge (Privileg) ersetzt“68. Dabei rechtfertigt sich die Existenz gesetzlicher Ausnahmen aus den Gründen von „Billigkeit und Not“. Der Gesetzgeber, so Aristoteles69, könne nicht für jeden erdenklichen Einzelfall allgemein die richtige Regelung treffen. Vielmehr liege in der Natur der Sache, dass die allgemein getroffene Regelung für einen Einzelfall nicht richtig sei: „Das hat darin seinen Grund, daß jedes Gesetz allgemein ist und bei manchen Dingen richtige Bestimmungen durch ein allgemeines Gesetz sich nicht geben lassen. Wo nun eine allgemeine Bestimmung zu treffen ist, ohne daß sie ganz richtig sein kann, da berücksichtigt das Gesetz die Mehrheit der Fälle, ohne über das diesem Verfahren anhaftende Gebrechen im Unklaren zu sein. Nichtsdestoweniger ist dieses Verfahren richtig. Denn der Fehler liegt weder an dem Gesetz noch an dem Gesetzgeber, sondern in der Natur der Sache.“70
Ferner sei für eine rechtliche Ausnahme charakteristisch, dass diese hinsichtlich ihrer Anwendungshäufigkeit quantitativ hinter der Anwendung von Regelungen des Normalzustandes zurückbleibe.71 Die Termini Abweichung und Ausnahme werden im natürlichen Sprachgebrauch zum Teil synonym verwendet. Nach dem rechtlichen Verständnis ist indes eine Abgrenzung angezeigt. Der Begriff der Ab 65
Siehe etwa Darstellung bei Schröder, HStR III, § 65 Rn. 36. Ausführlich zur Frage, ob und welche Rolle Art. 67 GG für eine Krisenbeseitigung spielt, siehe Kapitel 3 B. II. 67 Siehe https://www.duden.de/rechtschreibung/Ausnahme. 68 Ritter / Hofmann, Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. 1, Art. Ausnahme, Abschnitt II, Sp. 668. 69 Aristoteles, Nikomachische Ethik in der übersetzten Ausgabe von Rolfes, 5. Buch, S. 125 f. 70 Aristoteles, Nikomachische Ethik in der übersetzten Ausgabe von Rolfes, 5. Buch, S. 126. 71 A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 37. 66
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Kap. 2: Die politische Krise
weichung, so A. Kaiser, „[verschleiere], dass von einer Ausnahme nur dann gesprochen wird, wenn ein legitimer Grund vorliegt oder zumindest behauptet wird. Die Ausnahme erscheint so gesehen allein als die gerechtfertigte Abweichung.“72 Hier wird ausschließlich von einer solchen Ausnahme gesprochen, die sich im Recht befindet; nicht gemeint ist die Ausnahme vom Recht. Als solches Ausnahmerecht wird in dieser Arbeit der Gesetzgebungsnotstand73 aus Art. 81 GG behandelt. Es handelt sich dabei um ein Mittel ultima ratio; kennzeichnend für das Ausnahmeverfassungsrecht ist gerade, dass es die Grenze im Recht darstellt. Diese Grenze findet sich also innerhalb des Rechts und ist nicht außerhalb dessen zu verorten.74 Der Gesetzgebungsnotstand kommt dann zur Anwendung, wenn sämtliche Mehrheitsfindung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Art. 70 ff. GG scheiterte. Die Anwendung ist bedingt durch das Vorliegen aller materieller Voraussetzungen der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, die nach obigen Ausführungen zwar einen direkten Krisenbezug aufweist, im Vergleich zu Art. 81 GG aber keine Durchbrechung der Gewaltenteilung vorsieht: Gemäß Art. 81 GG ist Gesetzgebung auch ohne die Zustimmung des Parlaments möglich, soweit die tatbestandlichen Voraussetzungen des Gesetzgebungsnotstands vorliegen.75 Insoweit besteht auch eine Abweichung des grundsätzlich gezeichneten Mehrheitsprinzips als Entscheidungsregel im Bereich der Gesetzgebung. Im Gegensatz zu der Bestellung einer formellen Minderheitsregierung als materielles Reserverecht, handelt es sich bei Art. 81 GG daher wegen der Durchbrechung der Gewaltenteilung um einen gesetzlich geregelten Fall, mithin um sogenanntes Ausnahmerecht. 4. Der absolute Ausnahmefall als vierte Rechtsschicht Bei der vierten Schicht handelt es sich um den sogenannten absoluten Ausnahmefall.76 Dieser liegt „außerhalb des Rechts“, es handelt sich um außergesetzliche Tatbestände. Das bedeutet konkret, dass die Verfassung in diesen Fällen nicht anwendbar ist. Nach Carl Schmitt bewähre „[d]ie Existenz des Staates (…) hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne Absolut.“ Weiter „suspendiere der Staat das Recht kraft eines Selbsterhaltungsrechtes“.77 Die hier behandelten „Ausnahmen“ sind dagegen, wie auch von 72
Lindner, Das Regel-Ausnahme-Verhältnis im Verwaltungsrecht, in: VerwArch 2007, S. 213 (220); zustimmend: A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 41. 73 Zum Notstandsbegriff des Art. 81 GG und zur konkreten Einordnung des Begriffs sowie sein Verhältnis zum Ausnahmerecht und dem Kontext des Schichtmodells des Rechts, siehe Kapitel 3 C. III. 1. 74 Vgl. A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 66. 75 Zur ausführlichen Einordnung des Art. 81 siehe Kapitel 3 C. III. 1. 76 A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 66 m. w. N. 77 Schmitt, Politische Theologie, S. 19.
A. Normalfall, Ausnahmezustand und (politische) Krise
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A. Kaiser ausgeführt, in der dritten Schicht zu verorten, da es sich um Ausnahmen im Recht, keinesfalls Ausnahmen vom Recht handelt.78 Insbesondere führt das Amtieren einer formellen Minderheitsregierung nicht zur Suspendierung des Rechts. Daher bleibt die vierte Schicht für die hier vorgenommene Untersuchung und Einordnung außer Betracht.
II. Die politische Krise Diskutabel erscheint darüber hinaus, in welcher Relation die Termini Krise und Ausnahme zueinanderstehen. Sowohl in medialer Berichterstattung79 als auch in der rechtswissenschaftlichen Literatur80 wird häufig angenommen, das Amtieren einer Minderheitsregierung stelle eine „Krise“ dar. Nach dem natürlichen Sprachgebrauch ist unter einer Krise eine schwierige Lage bzw. eine Notsituation, eine Schwierigkeit oder eine Zeit der Gefährdung bzw. des Gefährdetseins oder eine Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt zu verstehen.81 Während die Ausnahme ein Begriff mit rechtlicher Dimension ist, findet der Begriff der Krise jedenfalls keine Entsprechung im Wortlaut des Gesetzes. Dennoch ist der Begriff verfassungsrechtlich relevant. Allgemein, so A. Kaiser, könne beobachtet werden, dass eine erhöhte „Sensibilität für Krisen“ in der Gesellschaft vorherrsche, was in der jüngeren Vergangenheit „unter anderem zu einer inflationären Verwendung des Krisenbegriffs geführt [habe]“.82 Schwerdtfeger definiert Krisen als einen „vorübergehende[n] Zustand, der einem als regulär betrachteten Zustand nachfolgt“. Dieser Zustand werde „selbst durch die Abwesenheit der Normallage geprägt“ und gelte als „bewältigt […], sobald die Rückkehr zu […] Normalität gelingt“.83 Schwerdtfeger geht davon aus, dass eine Krise in der „zeitlichen Perspektive eine Ausnahme vom Normalzustand 78
A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 66. So nennt Niklas Blome die Minderheitsregierung „halsbrecherisch“, siehe https://www. deutschlandfunkkultur.de/debatte-um-minderheitsregierung-deutschland-muss.2950.de.html? dram:article_id=401186; Steffi Lemke hat laut eigener Aussage „keine guten Erinnerungen an Minderheitsregierungen“, siehe https://www.n-tv.de/politik/Gruene-hadern-mit-Minder heitsregierung-article20146198.html. 80 Siehe zum Beispiel Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (5); Maunz / Dürig / Herzog GG Art. 63 Rn. 56; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 44; Plöhn, 40 Jahre nach dem ersten Misstrauensantrag im Deutschen Bundestag, in: ZParl 2013, S. 76 (92); Vgl. zum Beispiel Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt? Grundsätzliche Bedenken, in: ZParl 1997, S. 717; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 44; Jesse, Koalitionsveränderungen 1949 bis 1994, in: ZParl 1998, S. 460 (473). 81 https://www.duden.de/rechtschreibung/Krise. 82 A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 71; vgl. auch Voßkuhle, der anführt, aktuell folge „ein globales Krisenszenario nach dem anderen“, siehe ders., Die Demokratie in Europa, in: APuZ 2012, S. 5 (6); zum inflationären Gebrauch des Krisenbegriffs siehe Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 1, 6 f. m. w. N. 83 Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 9 m. w. N. 79
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Kap. 2: Die politische Krise
dar[stellt]. Ein solcher ging ihr voraus und zu einem solchen sollen die zu treffenden Entscheidungen zurückführen, um die Krise zu beenden.“84 A. Kaiser sieht in dem Abweichen von der rechtlichen Normallage ggf. eine Ausnahme, sofern die einschlägige Rechtsnorm der dritten Rechtsschicht zuzuordnen ist und lehnt eine synonyme Benutzung der Termini „Krise“ und Ausnahme“ ab. Sie geht davon aus, dass der Krisenbegriff „normlogisch allein der Tatbestandsseite zuzuordnen“ sei, „während der Begriff des Ausnahmezustands an bestimmte – gesetzlich selektierte – Krisen zusätzlich bestimmte Rechtsfolgen knüpft“.85 Tatbestandlich besteht die Abweichung zwischen formeller Minderheits- und formeller Mehrheitsregierung im Rahmen von Art. 63 GG in dem fehlenden mehrheitlichen Vertrauen der Parlamentarier für einen Kanzlerkandidaten. Es handelt sich nach diesem Verständnis allenfalls um eine Vertrauenskrise86, welche das im parlamentarischen Gefüge maßgebliche Verhältnis von Regierung und Parlament betrifft.87 Im Hinblick auf die Definition Schwerdtfegers ist – wie bereits oben dargelegt – das fehlende mehrheitliche Vertrauen als derjenige Zustand zu verstehen, der von dem Normalfall, namentlich der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung der Regierung, abweicht. Die Vertrauenskrise manifestiert sich in diesem Fall darin, dass in materieller Hinsicht an sich jedenfalls diese Voraussetzung des Art. 68 GG, der Vertrauensfrage, gegeben wäre; wenn also davon auszugehen wäre, dass dem Bundeskanzler das mehrheitliche Vertrauen verweigert würde, sofern dieser die Vertrauensfrage stellte.
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung „Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft.“ (Carlo Schmid)88
Es wurde festgestellt, dass beide Formen der Minderheitsregierung, sowohl die formelle als auch die materielle Minderheitsregierung, gegenüber der Mehrheitsregierung materielles Reserverecht darstellen: Die formelle wie auch die materielle Minderheitsregierung ist tatbestandlich dadurch determiniert, dass eine Vertrauenskrise zwischen Parlament und Regierung bzw. Bundeskanzlerkandidat besteht. Nachfolgend ist zu ergründen, welche Ursachen für die Vertrauenskrise bestehen bzw. welche Parameter sie institutionell fördern. So geht Finkelnburg davon aus, dass es „[d]rei Phänomene […] [sind], die die politisch-parlamentarische Stabilität in der Bundesrepublik gefährden: Das Auftreten einer nach Stimmenanteil möglicherweise gewichtigen, 84
Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 9. A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 69. 86 Das BVerfG spricht von einer „politischen Krise“, siehe BVerfGE 114, 121 (151). 87 Vgl. Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 11. 88 Carlo Schmid, Rede im Parlamentarischen Rat am 08. 09. 1948. 85
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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aber nicht koalitionsfähigen Partei, der drohende Mehrheitsverlust der bisherigen Koalitionen und eine nachlassende Koalitionsbereitschaft der etablierten Parteien.“89
Für die Ursachen der Bildung einer formellen Minderheitsregierung, das heißt das bereits zu Beginn der Legislaturperiode bzw. im Vorfeld der Regierungsbildung fehlende anfängliche Vertrauen werden hier die fehlende oder verminderte Koalitionsfähigkeit sowie die fehlende oder verminderte Koalitionsbereitschaft angenommen. Die Koalitionsfähigkeit ist durch die quantitative Steigerung politischer Akteure beeinträchtigt; die Koalitionsbereitschaft leidet unter dem Einzug stimmgewichtiger, aber etwa in Folge der populistischen Ausrichtung koalitionsinkompatibler Parteien in das Parlament. Hier bestehen beispielsweise parteiübergreifend Unvereinbarkeitsbeschlüsse für Koalitionen mit rechtspopulistischen Parteien; aber auch sonstige Unvereinbarkeitsbeschlüsse reduzieren die Möglichkeiten für Koalitionskonstellationen. Im Folgenden werden diese Ursachen als zwei Dimensionen der erschwerten Regierungsbildung im Einzelnen besprochen und es wird dargelegt, welche Korrelationen letztlich zwischen Regierungsbildung und (politisch und) verfassungsrechtlich relevanten Phänomenen bestehen. Ziel ist es, typisierende Konstellationen und systemimmanente Faktoren zu bestimmen, die eine Regierungsbildung als Mehrheitsregierung erschweren. In einem dritten Schritt sollen auch diejenigen Faktoren Erwähnung finden, die eine materielle Minderheitsregierung begünstigen, welche also zu einem nachträglichen Vertrauensverlust im Parlament führen können: Sowohl eine unter Umständen erhöhte Zahl von Fraktionsaustritten oder der Koalitionsbruch werden in diesem Zusammenhang thematisiert.
I. Fehlende Koalitionsfähigkeit durch die quantitative Steigerung politischer Akteure im Bundestag Zunächst ist die fehlende oder verminderte Koalitionsfähigkeit als ein solcher Faktor anzusehen, der die Bildung einer formellen Mehrheitsregierung erschwert. Als Koalitionsfähigkeit ist demnach die Summe derjenigen Begleitumstände anzusehen, welche die Konstituierung einer solchen Regierung betreffen und das Finden einer parlamentarischen Mehrheit nach Art. 121 GG fördern oder erschweren. Hierzu gehören sämtliche politische, gesellschaftliche und sonstige faktische für die Regierungsbildung relevante Parameter. Als ein solcher ist das geltende Wahlrecht anzusehen. Dieses führt in seiner konkreten Ausgestaltung letztlich dazu, dass einerseits die Anzahl der Abgeordneten im Bundestag steigt bzw. bereits in sich nicht darauf angelegt ist, die gesetzliche Mitgliederzahl von 598 Abgeordneten nach § 1 Abs. 1 S. 1 BWG einzuhalten. Andererseits fördert die personalisierte Verhältniswahl das Vielparteiensystem bzw. eine zusätzliche Pluralisierung der Parteienlandschaft und erhöht damit die Anzahl der Fraktionen im Bundestag. 89
Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 6.
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Kap. 2: Die politische Krise
1. Wahlen als Ausgangspunkt für anstehende Regierungsbildungen Unter dem geltenden Wahlsystem90 ist jene Methode zu verstehen, vermittels derer abgegebene Stimmen in Mandate umgesetzt werden.91 Ungeachtet dessen, welches Wahlrecht in einem Staat zur Anwendung kommt, handelt es sich dabei nach einhelliger Auffassung um eine „politisch hochsensible Materie“, denn sie betreffe die politische Kultur eines Staates und seines Systems, zumal das Wahlrecht die Zugangschancen politischer Kandidaten für Mandate regle und überdies eine Leitentscheidung hinsichtlich der Art der Volksrepräsentation treffe.92 Es handelt sich, so Meyer, um eine „Wettbewerbsordnung“.93 Die konkrete Ausgestaltung des Wahlrechts ist ergo stets an die sozio-politischen Gegebenheiten des Gemeinwesens anzupassen.94 Das Wahlsystem müsse sich, so Boehl, in die politische Kultur und in die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft einfügen und ferner den Vorgaben der Verfassung entsprechen.95 Das Erfordernis, das Wahlrecht als potentiell typisierendes Phänomen eingehend hinsichtlich seiner politischen und verfassungsrechtlich relevanten Konsequenzen für Regierungsbildungen zu untersuchen, ergibt sich aus dem verfassungsrechtlichen Zusammenhang zwischen Wahl und Regierungsbildung. Das geltende Wahlrecht ist hier dahingehend zu untersuchen, ob es für spätere Stabilität hinsichtlich der Mehrheitsfindung und Mehrheitskontinuität sorgt oder ob und wie es womöglich zu einer Destabilisierung führt. Gemäß Art. 20 Abs. 2 GG geht die Staatsgewalt vom Volke aus. Das entsprechende Verfahren zur Legitimation des Parlaments bzw. zur verbindlichen Äußerung des politischen Willens vom Volk sind Wahlen nach Maßgabe des Art. 38 GG.96 Nohlen97 benennt für demokratische bzw. kompetitive Wahlen insgesamt drei Zielfunktionen: (1) Artikulation des Volkswillens (2) Bildung einer funktionsfähigen Regierung und (3) Ausübung von Kontrolle über die Regierung.
90
Die Frage, ob der Terminus „Wahlsystem“, „Wahlverfahren“ oder „Wahlrecht“ jeweils zu bevorzugen ist, bleibt hier offen. Siehe hierzu Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 21 ff. 91 Meyer, HStR III, § 45 Rn. 22; Jesse / Löw / Nohlen, Wahlen in Deutschland, S. 55 ff.; 135 ff.; zustimmend Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 151. 92 So etwa Meyer, Die Zukunft des Bundestagswahlrechts, S. 66; außerdem Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 157; vgl. auch Lijphart, Patterns of Democracy, S. 2 ff. 93 Meyer, HStR III, § 45 Rn. 13. 94 Hierzu etwa Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 29 f., 60 f. 95 Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, in: ZRP 2017, S. 197 (198) mit Bezug zu Nohlen, Zur Reform von Wahlsystemen, in: ZfP 2011, S. 310. 96 Statt vieler Stern, Staatsrecht I, S. 609; Meyer, HStR III, § 45 Rn. 1. 97 Im Folgenden Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 28; für Zielfunktionen hinsichtlich der Repräsentation des Volkes durch Wahlen siehe auch ders., ZfP 2011, S. 310 (315 ff.).
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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Das BVerfG sieht in Wahlen nicht nur die Artikulation des Wählerwillens, sondern auch das Hervorbringen „ein[es] Parlament[es] als funktionsfähiges Staatsorgan. (…) Klare und ihrer Verantwortung für das Gesamtwohl bewusste Mehrheiten im Parlament sind (…) für die Bildung einer nach innen und außen aktionsfähigen Regierung und zur Bewältigung der sachlichen gesetzgeberischen Arbeit erforderlich.“98 Wahlen sind der Regierungsbildung aus Art. 63 GG zeitlich und sachlich vorgeschaltet. Die Regierungsbildung erfolgt auf Basis der im Parlament durch die Wahl festgelegten Fraktionsstärken; das Parlament wählt den Bundeskanzler. Insoweit ist von einer Kreationsfunktion des Parlaments zu sprechen, die ihre wichtigste Ausprägung in der Wahl des Bundeskanzlers gemäß Art. 63 GG findet.99 Die legitimationsverschaffende Kraft für die Wahl dieses und weiterer Staatsverfassungsorgane hängt dabei wesentlich von der konkreten Ausgestaltung des Wahlrechts ab.100 Laut Kaack stellt die spätere Regierungsbildung die „dominante“ Funktion der Wahl dar101, denn erst mit der Regierungsbildung formiere sich auch das Parlament, indem einzelne Fraktionen ihre Rolle als Regierungs- und Oppositionsfraktion festlegen. Die Dominanz der Regierungsbildung als Wahlfunktion manifestiert sich bereits im Vorfeld der Wahlen im Rahmen des Wahlkampfes: So benennen größere Parteien zum Teil lange Zeit vor den Wahlen ihren Spitzen- bzw. Kanzlerkandidaten102; andere Parteien, die in vergangenen Wahlen hinsichtlich ihrer Fraktionsstärke hinter den potentiellen Regierungsparteien zurückblieben, benennen dagegen keinen Kanzlerkandidaten und werben konkret mit ihrer Rolle als Opposition oder artikulieren öffentlich eine Koalitionsbereitschaft mit einer größeren Partei als Juniorpartnerin.103
2. Inkurs: Die Wahlsysteme und ihre Auswirkungen auf die Regierungsbildung Die zwei klassischen bzw. traditionellen Wahlsysteme, die Mehrheits- sowie die Verhältniswahl, unterscheiden sich in ihren Vor- und Nachteilen sowie in ihren Zielrichtungen. Während die Mehrheitswahl vor allem wegen ihres Beitrags zur Stabilisierung eines Systems befürwortet wird, erfährt die Verhältniswahl wegen 98
BVerfGE 6, 84 (92). Dreier / Morlok, GG Art. 38 Rn. 42; ausführlich Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 53 ff. 100 Parlamentsrecht / Morlok, § 3 Rn. 20. 101 Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 26. Jesse spricht von einer „entscheidenden“ Funktion, siehe ders., Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 48. 102 In der Vergangenheit wurden die Kanzlerkandidaten regelmäßig von CDU / CSU und SPD aufgestellt; lediglich die FDP stellte 2002 mit Guido Westerwelle ebenfalls einen Kanzlerkandidaten auf. Besondere praktische Relevanz erhält die Benennung des Kanzlerkandidaten hinsichtlich des sogenannten „Kanzler-Duells“, wo Westerwelle trotz Nicht-Einladung teilnehmen wollte, siehe BVerfG, NJW 2002, 2939. Das Kanzler-Duell erregt in der Öffentlichkeit regelmäßig viel Aufmerksamkeit. 103 Vgl. Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 26. 99
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Kap. 2: Die politische Krise
der durch sie zutage tretenden Abbildung der nahezu gesamten Wählerschaft im Parlament Unterstützung. Im Folgenden werden die traditionellen Wahlsysteme dargestellt. Zudem wird herausgestellt, welche Zielrichtungen im Einzelnen bestehen und wie diese in der europäischen Wahl- und Regierungsbildungspraxis zu bewerten sind. Zum Teil werden auch Bezüge zur verfassungsrechtlichen bzw. demokratischen Rechtslage der Bundesrepublik Deutschland gezogen. a) Die Mehrheitswahl aa) Inhalt und Funktionsweise Die Mehrheitswahl wurde in Deutschland bis zum Jahr 1918104 praktiziert und stellt generell eine Personenwahl dar.105 Gewählt ist derjenige Bewerber, der die relative oder absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt.106 Für die Wahl wird das Wahlgebiet in sogenannte Wahlkreise eingeteilt, die Anzahl der Wahlkreise ist kongruent zu der Anzahl der zu vergebenen Mandate. Stimmen, die unterlegene Kandidaten erhalten haben, bleiben bei der Sitzverteilung unberücksichtigt107; die Mehrheitswahl stellt damit ausschließlich auf den gleichen Zählwert der Stimmen, nicht aber auf ihren Erfolgswert ab.108 Im Wesentlichen werden vier Kernargumente für das Praktizieren einer Mehrheitswahl angeführt. bb) Ziele der Mehrheitswahl (1) Die Wahl des Abgeordneten als Mandat Befürworter der Mehrheitswahl gehen zunächst davon aus, dass Wahlen eine Repräsentationsfunktion erfüllen.109 Mit seiner Stimmabgabe delegiert der Wähler neben der Gesetzgebungsgewalt auch die Regierungsgewalt an den Gewählten. Hierfür sei essenziell, dass der Wähler die Identität des Gewählten bestimmen kann, um letztlich repräsentiert zu werden. Zwischen solchen Abgeordneten, die 104
Zu den ständischen Wurzeln des Mehrheitswahlrechts, siehe Bonner Kommentar / Badura, GG Anh. zu Art. 38 Rn. 45; siehe auch Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 51 ff. 105 BVerfGE 1, 208 (248); 51, 222 (253); Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 153; Sachs / Magiera, GG Art. 38 Rn. 113; Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 10; Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 137. 106 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 131. 107 Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 156; Lijphart spricht vom Prinzip des „winner-takesit-all“, siehe ders., Patterns of Democracy, S. 130. 108 BVerfGE 95, 335 (353). 109 Die Repräsentation zwischen Wähler und Gewählten soll, so Behnke, nach dem Trust- Verhältnis nach John Locke zu qualifizieren sein, siehe im Folgenden Behnke, Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 14.
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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per Mehrheitswahl gewählt werden, und Wählern bestehe bereits aufgrund lokaler Gegebenheiten ein spezifisches Näheverhältnis.110 Jedenfalls ist davon auszugehen, dass durch die Mehrheitswahl überhaupt eine Beziehung von Abgeordnetem zu seinem Wahlkreis entsteht; ohne lokalen Bezug bestünde diese persönliche Beziehung nicht oder weniger intensiv.111 Demgegenüber nehmen Kritiker der reinen Mehrheitswahl an, die Bedeutung der personellen Beziehung habe insgesamt aus unterschiedlichen Gründen abgenommen.112 Laut einer empirischen Erhebung, der Comparative Study of Electoral Systems für die Bundestagswahl von 1998 (CSES-Studie), seien nur 23,8 Prozent der Wähler überhaupt in der Lage, einen Kandidaten ihres Wahlkreises namentlich zu benennen. Nur 17,9 Prozent konnten einen weiteren Namen korrekt benennen.113 Ein pauschalisierbarer Kausalzusammenhang zwischen Stimmenabgabe und Identität des Kandidierenden bzw. seiner Parteizugehörigkeit ist empirisch nicht eindeutig zu belegen.114 (2) Auslese einer politischen Aristokratie Zum Teil lehnen Befürworter der Mehrheitswahl eine Abbildung der Gesamtgesellschaft durch Wahlen ab. Sie sehen im Parlament stattdessen eine „politische Elite im Sinne einer ‚natürlichen Aristokratie‘“.115 Es sollen nicht möglichst viele verschiedene Ansichten in einem pluralistischen Parlament vertreten sein. Vielmehr sollen nur solche Abgeordneten vertreten sein, die sich gegenüber allen anderen Bewerbern im eigenen Wahlkreis durchsetzen konnten. Dass die Mandatszuweisung das Ergebnis der Auslese einer natürlichen bzw. politischen Aristokratie darstellt, steht in der Bundesrepublik Deutschland und dem Verfassungsrecht bereits im Widerspruch dazu, dass das geltende Recht hinsichtlich einer bestimmten beruflichen oder politisch relevanten Qualifikation bzw. Expertise keine Voraussetzungen für das passive Wahlrecht aufstellt. Gemäß Art. 38 Abs. 2, 116 GG ist wählbar, wer Deutscher im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG 110
So auch BVerfGE 7, 63 (74); 16, 130 (140); 41, 399 (423); 95, 335 (352 f.). Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 156. 112 Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 2009, S. 473 (503 f.). Für das Wahlsystem der BRD, das Elemente der Mehrheitswahl mit der Verhältniswahl vorsieht, sei die lokale Bindung insbesondere in sogenannten „sicheren Wahlkreisen“ nicht gegeben: hier würde die Allgemeinheit mehrheitlich für einen Kandidaten nur auf Basis seiner Partei zugehörigkeit abstimmen. Nicht von Relevanz sei, wer konkret für ebendiese Partei kandidiere. Zudem sorge der Verrechnungsmechanismus hier für die Entpersonalisierung: Die meisten Bundestagsmitglieder haben sowohl für einen Wahlkreis kandidiert als auch „abgesichert“ auf der Landesliste für den Einzug in das Parlament kandidiert. 113 Deutsche Nationale Wahlstudie – Nachwahlstudie 1998 (Deutsche CSES-Studie), abrufbar unter https://search.gesis.org/research_data/ZA3073. 114 So Behnke, Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 221. 115 Behnke, Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 16. 111
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Kap. 2: Die politische Krise
ist und das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; ferner darf der Betroffene nicht gemäß § 13 BWG infolge eines Richterspruchs vom Wahlrecht ausgeschlossen worden sein. Generell ist die Wahl von Abgeordneten als aristokratische Auslese mit den Grundsätzen einer parlamentarischen Demokratie unvereinbar: in Entscheidungsprozesses und bei Beschlüssen kommt es ausschließlich auf Mehrheiten an.116 Die Anerkennung anderer Meinungen, auch solcher von Minderheiten ist konstitutiver Bestandteil einer Demokratie.117 Dass aus Wahlen politische „Eliten“ hervorgehen, ist dagegen unschädlich. Wahlen befähigen einzelne Personen, letztlich gesellschaftliche Entwicklungen durch Ausübung des Abgeordnetenmandats auszuüben.118 Die Begriffe der „Elite“ und „Aristokratie“ sind nicht gleichzusetzen. (3) Hervorbringen einer politischen Regierungsmehrheit Als das wohl gravierendste Argument für das Praktizieren einer (reinen) Mehrheitswahl ist die Stabilisierung der Regierungsbildung anzusehen, welche das Wahlsystem durch seine spezifische Mandatsverteilung bewirkt. Zunächst ist die Mehrheitswahl ein System von „großer Einfachheit“, welches „frei von Problemen wie Überhangmandate, negatives Stimmgewicht und Flexibilisierung der Sitzzahl durch Ausgleichsmechanismen“ ist.119 Ferner wende die Mehrheitswahl institutionell das Erfordernis ab, eine Koalition aus mehreren Fraktionen zu konstruieren, um der Regierung die mehrheitliche Unterstützung des Parlaments zu sichern.120 So wurde die Mehrheitswahl in der Vergangenheit – wie auch schon während der Beratungen des Parlamentarischen Rates – von der CDU / CSU befürwortet. Das Bedürfnis nach der Beendigung des Koalitionserfordernisses erwuchs aus mehreren internen Krisen in der Koalition aus CDU / CSU und FDP des vierten Bundestages (1961–1965). In seiner Regierungserklärung vom 13. Dezember 1966 erklärte der damalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger: „Während dieser Zusammenarbeit [der Großen Koalition] soll nach Auffassung der Bundesregierung ein neues Wahlrecht grundgesetzlich verankert werden, das für künftige Wahlen zum Deutschen Bundestag nach 1969 klare Mehrheiten ermöglicht.121 Dadurch wird ein institutioneller Zwang zur Beendigung der Großen Koalition und eine institutionelle Abwehr der Notwendigkeit zur Bildung von Koalitionen überhaupt geschaffen.“122
Das Erfordernis einer Koalitionsbildung entfalle dadurch, dass eine Wahl nach Mehrheitswahlsystem bereits selbst die Mehrheitsverhältnisse so darstelle, dass 116
Zum Mehrheitsprinzip siehe Kapitel 2 A. I. 1. b) bb). Siehe Kapitel 2 B. II. 2. 118 Zum Elitenbegriff siehe Görres-Gesellschaft Staatslexikon / Hartmann unter „Elite“. 119 Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, in: ZRP 2017, S. 197 (198). 120 Vgl. Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 24. 121 Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 14. 122 Kurt Georg Kiesinger, Regierungserklärung zur Großen Koalition vom 13. 12. 1966, siehe 90. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 13. 12. 1966, S. 3656/16. 117
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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die Wahl direkt die Zuweisung von Regierungs- und Oppositionsrolle vornehme. Hermens rechtfertigt die Ausschaltung kleinerer Fraktionen bzw. Minderheiten: „Generally speaking, it can be said, that majority voting contains a combination of stick and carrot. Any truly ‚factional‘ group is defeated, and the rank and file of their followers are absorbed by the major and moderate parties.“123
Hermens erklärt, die Minderheit ist offensichtlich im Unrecht; anderenfalls sei sie keine Minderheit.124 Die Mehrheitswahl sei insgesamt ein „mehrheitsbildendes Wahlrecht“.125 Während die Verhältniswahl die Pluralität von Parteien fördere, würde das Mehrheitswahlsystem auf langfristige Sicht wohl dazu führen, dass sich ein Zwei-Parteien-System etabliert126 bzw. dass sich jedenfalls die Anzahl der Parteien im Parlament reduziert. Damit werden „Splittergruppen“ bzw. die von Hermens bezeichnete „Minderheit“ ausgeschaltet und die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit gegenüber der maßstabsgetreuen Abbildung von Meinungsbildern der Gesellschaft, wie dies durch die Verhältniswahl intendiert wird, priorisiert. Erwartbar seien dann auch Förderungen hinsichtlich eines Regierungswechsels mit Beginn einer neuen Legislaturperiode: Marginale Veränderungen im Stimmverhalten der Wählerschaft können bereits eine große Auswirkung auf die Mandatszuweisung bewirken.127 Die praktischen Erfahrungen mit der reinen Mehrheitswahl in Großbritannien vermögen das Argument klarer Mehrheitsverhältnisse und das dadurch abgewendete Erfordernis einer Koalitionsbildung indessen nicht zu belegen: sowohl im Jahr 1974 als auch im Jahr 2010 resultierten aus vorangegangenen Unterhaus-Wahlen zunächst keine Kräfteverhältnisse, die das Regieren einer einzelnen Fraktion vorgaben.128 Im Jahr 1974 führten die unklaren Verhältnisse zu Neuwahlen, die acht Monate später im Oktober stattfanden und letztlich eine absolute Mehrheit zugunsten der Labour Party hervorbrachte. Die Regierung David Camerons dagegen war im Jahr 2010 auf die Unterstützung der Liberaldemokraten (Liberal Democrats) angewiesen. Die Konservativen bildeten letztlich eine Mehrheitskoalition mit den Liberaldemokraten.129 Zuvor hatten Sondierungsgespräche sowohl zwischen den Liberaldemokraten und der konservativen Partei, zu der auch Cameron gehörte, als auch mit der Labour Party stattgefunden. Die zwei Beispiele belegen, dass 123
Lijphart / Grofman / Hermens, Choosing an Electoral System, S. 17. So interpretiert und übersetzt die Aussage Behnke, Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 17. 125 Im Folgenden Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 156. 126 Vgl. Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 144. 127 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 144. 128 Für die Wahlergebnisse siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Britische_Unterhauswahl_ Oktober_1974; https://de.wikipedia.org/wiki/Britische_Unterhauswahl_2010. 129 In einem solchen Fall wird von einem sog. hung parliament gesprochen. Das Parlament befindet sich in einem Schwebezustand, weil die Mehrheitsverhältnisse durch vorangegangene Wahlen nicht derart eindeutig sind, dass eine Regierung bereits durch die Wahlen selbst bestimmt wurde. Für die Wahlen im Jahr 2010 siehe McRobb, UK’s first Hung Parliament in a Generation, in: Economic and Political Weekly 2010, S.12. 124
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die Abwendung des Koalitionserfordernisses nicht schlechthin gelingt. Wäre es innerhalb der Verhältnisse im Jahr 2010 außerdem zu keiner Einigung zwischen Liberaldemokraten und Konservativen gekommen, wäre das Bündnis aus Labour Party und Liberaldemokraten zusätzlich auf die Unterstützung von Regional parteien angewiesen gewesen.130 (4) Mäßigung der Parteienlandschaft Durch die Ausschaltung von Splittergruppen sei in der Parteienlandschaft durch die Mehrheitswahl eine generelle politische Mäßigung zu erwarten: Um ein möglichst breites Spektrum der Wählerschaft anzusprechen, müssen die politischen Parteien ihre politische Programmatik sowie ihr mögliches Regierungsprogramm an der politischen Mitte ausrichten. Extremistische bzw. polarisierende Ansichten, die nur in geringerem Ausmaß Anklang in der Gesellschaft finden, würden dadurch gemäßigt.131 Hiergegen sprechen erneut die praktischen Erfahrungen Großbritanniens und Frankreichs. Sowohl die Regierung Margaret Thatchers im Jahr 1979 als auch die Wahl Boris Johnsons als Beispiel der jüngeren Vergangenheit zeigen, dass die seit Jahrzehnten praktizierte Mehrheitswahl in Großbritannien nicht zwingend dafür sorgen, dass die Regierungsfraktion der gemäßigten politischen Mitte zuzuordnen ist. Die politische Ideologie Margaret Thatchers ist vor allem durch ihre europakritische Haltung gekennzeichnet: während die anderen Mitgliedsstaaten sich zu der Amtszeit Thatchers um eine Integration der Europäischen Gemeinschaft bemühten, erreichte diese den bis zum Ende der britischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union geltenden „Britenrabatt“.132 Die Wahl des rechtspopulis tischen national-konservativen Premierministers Boris Johnson erfolgte, nachdem dieser die Kampagne zum Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union angeführt hatte.133 Unter der Bewerbung des sogenannten Brexits durch Johnson, der vor seiner Amtszeit als Leitfigur der europakritischen Bewegung im Rahmen des Brexit-Referendums fungierte, sprach sich die britische Bevölkerung für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union aus. Beide Kandidaturen und Präsidentschaften exemplifizieren, dass die Mehrheitswahl nicht notwendigerweise mit einer politischen Mäßigung, sondern auch mit extremistischen und insbesondere national-konservativen Regierungskursen einhergehen kann. 130
Siehe http://www.ukpolitical.info/2010.htm sowie Anhang zu Kapitel 2, Abbildung 3. Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 144. 132 Als charakteristisch gilt das Motto, unter welchem Thatcher damals verhandelte: „I want my money back.“, siehe etwa https://www.margaretthatcher.org/document/104180 für die Rede Thatchers nach dem Europäischen Rat in Dublin im Jahr 1979. 133 Für die Wahlergebnisse zur Wahl des britischen Unterhauses im Jahr 2019, siehe https:// www.bbc.com/news/election/2019/results. Der Premierminister wird vom Monarchen ernannt, der denjenigen Kandidaten auswählt, der Vorsitzender der stärksten Fraktion des Unterhauses ist. 131
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Auch die Wahlen aus Frankreich belegen die generelle Mäßigung der Parteienlandschaft nicht: Da in Frankreich die absolute Mehrheitswahl praktiziert wird, ist regelmäßig ein zweiter Wahlgang bzw. eine Stichwahl zwischen den im ersten Wahlgang zwei stärksten Kandidaten für die Präsidentschaft erforderlich. Zuletzt konkurrierten Emmanuel Macron und Marine Le Pen um die Präsidentschaft, da diese im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten hatten.134 Evident ist, dass Macron und Le Pen dabei gegensätzliche politische Ideologien verfolgen: Während Macron mit der von ihm gegründeten Partei La Republique En Marche !135 sozial-liberale Positionen vertritt, ist Le Pen und die rechtsextremistische Sammel bewegung Rassemblement National136, der sie angehört, dem national-konservativen bzw. rechtsextremistischen Spektrum zuzuordnen. Auch Le Pen warb im Rahmen ihrer Präsidentschaftskandidatur mit dem Austritt Frankreichs aus der Europäischen Union („Frexit“)137 und aus der NATO138, der Rückkehr zur ehemaligen französischen Währung Francs139 und lehnte Migration wegen negativer Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft ab. Zeitweise forderte Le Pen ein Referendum zur Wiedereinführung der Todesstrafe als Reaktion auf die verübten Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo.140 Damit vermögen auch die französischen Erfahrungen keine Mäßigung zu belegen, vielmehr besteht die Möglichkeit, dass im Rahmen von Stichwahlen polarisierende politische Gegensätze und auch ex tremistische Tendenzen zu Tage treten. b) Die Verhältniswahl aa) Inhalt und Funktionsweise Die Verhältniswahl ist eine sog. Parteien- bzw. eine Parteilistenwahl, das bedeutet, der Wähler gibt seine Stimme einer im Vorfeld durch wahlvorschlagsberechtigten Organisation (Parteien oder Wählervereinigungen) gefertigten Liste.141 Diese enthält eine Mehrzahl von Kandidaten in einer verbindlichen142 Reihenfolge. 134 Für die französischen Wahlergebnisse im ersten und zweiten Wahlgang im Jahr 2017 siehehttps://www.sondages-en-france.fr/sondages/Elections/Presidentielle-2017/General. 135 La Republique en Marche !, siehe https://en-marche.fr/. 136 Rassemblement National, siehe https://rassemblementnational.fr/. 137 https://www.sueddeutsche.de/politik/front-national-marine-le-pen-forciert-den-frexit-1. 3364152. 138 https://www.spiegel.de/politik/ausland/frankreich-marine-le-pen-stellt-zusammenarbeitmit-nato-infrage-a-1133202.html. 139 https://www.tagesspiegel.de/politik/frankreich-le-pen-greift-macron-an-doch-der-wehrtsich/19740094.html. 140 https://www.spiegel.de/politik/ausland/charlie-hebdo-attentat-le-pen-fordert-referendumueber-todesstrafe-a-1011857.html. 141 BVerfGE 1, 208 (248); 6, 84 (92); 95, 335 (352); Sachs / Magiera, GG Art. 38 Rn. 113; Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 154. 142 Zur Verbindlichkeit der Reihenfolge von Parteilisten („starre Listen“) siehe BVerfGE 7, 63.
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Die jeweiligen Mandate werden dann auf die (Landes-)Listen entsprechend dem errungenen prozentualen Stimmenanteil verteilt. Verfechter der Verhältniswahl begründen ihre Ansicht insgesamt mit der durch die Verhältniswahl ermöglichten Repräsentation der Wählerschaft. Die Verhältniswahl bewirke eine maßstabsgetreue Abbildung der in der Wählerschaft vertretenen politischen, durch Parteien vertretenen Richtungen, indem sie sämtliche abgegebene Stimmen bei der Vergabe der Parlamentssitze berücksichtigt.143 So ziehen nicht nur die im einzelnen Wahlkreis siegreichen Bewerber ein. Aus dem Gedanken der wirklichkeitsgetreuen Abbildung der Wählerstimmen, die der Verhältniswahl zugesprochen wird, werden im Kern drei zentrale Argumente144 entwickelt. bb) Ziele der Verhältniswahl (1) Größere Legitimität der Regierung durch Abbildung möglichst vieler Wählerstimmen Wie oben dargestellt bleiben im Rahmen der reinen Mehrheitswahl sämtliche Stimmen bei der Sitzverteilung unberücksichtigt, die im Wahlkreis an Kandidaten vergeben wurden, die nicht die meisten Stimmen auf sich vereinen konnten. Je nachdem, ob ein relatives oder absolutes Mehrheitswahlrecht zur Anwendung kommt, wäre es denkbar, dass in Fällen des relativen Mehrheitswahlrechts Kandidierende ein Mandat erhalten, die mit einer Wahlquote von beispielsweise nur 20 Prozent in das Parlament einziehen.145 Im Gesamtgefüge könnte eine solche Sitzverteilung nach relativem Mehrheitswahlrecht dazu führen, dass eine Partei im Parlament die absolute Mehrheit erhält, obgleich diese prozentual nur ein Drittel der abgegebenen Stimmen erhalten hat.146 Bei einer absoluten Mehrheitswahl werden im zweiten Wahlgang kleinere Fraktionen pauschal ausgeschaltet. Wähler sind dann gezwungen, ihre Stimme solchen Kandidaten zu geben, die sie ursprünglich nicht wählen wollten. Dadurch, dass eine Abbildung möglichst vieler Stimmen im 143
Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 156. So etwa Schütt-Wetschky, in: ZParl 1978, S. 94. 145 Beispielhaft sind hier die Ausführungen Nohlens heranzuziehen: So erhielt die Konservative Partei in Großbritannien bei geltender Mehrheitswahl 42,4 Prozent der Stimmen, besetzte im Parlament allerdings 61,6 Prozent. Bei derselben Wahl in Großbritannien vereinte die Allianz aus Liberalen und Sozialdemokraten 25,4 Prozent der Stimmen, erhielt letztlich jedoch nur 3,5 Prozent der Mandate. Ebenso erhielt die Konservative Partei in Kanada im Jahr 1984 50,0 Prozent der Stimmen; im Parlament besetzte sie dagegen 74, 8 Prozent. Die Liberale erhielt bei derselben Wahl in Kanada 28,0 Prozent der Stimmen, erhielt dann aber nur 14,2 Prozent der Mandate im Parlament. In der Bundesrepublik Deutschland besetzte die CDU 49,0 Prozent der Mandate, nachdem sie bei der Wahl im Jahr 1983 48,0 Prozent der Stimmen erhalten hatte, welche als (personalisierte) Verhältniswahl stattgefunden hatte. 146 Vgl. im Folgenden Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, in: ZRP 2017, S. 297 (198). 144
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Parlament bezweckt wird, seien verschiedene gesellschaftliche Kräfte, insbesondere verschiedene religiöse und ethnische Gruppen repräsentiert.147 Insgesamt wird die Verhältniswahl demgegenüber als „demokratischer“ wahrgenommen. Kennzeichnend für ein System, in welchem die Verhältniswahl praktiziert wird, ist die nahezu maßstabsgetreue Abbildung der Wählerstimmen und damit der Wählerschaft insgesamt ohne dabei Stimmen grundsätzlich unberücksichtigt zu lassen.148 Mit der Verhältniswahl haben auch kleinere Parteien die Chance, in das Parlament einzuziehen.149 (2) Veranlassung von (Regierungs-)Kompromissen durch entstehendes Koalitionserfordernis und Chancen für neuartige politische Strömungen Insgesamt führe die Verhältniswahl zum Erfordernis einer Kompromissbildung, weil institutionell die Koalitionsbildung150 erzwungen werde.151 Anstelle einer Einparteienregierung, welche die (absolute oder relative) Mehrheit auf sich vereinen konnte, ist regelmäßig der Zusammenschluss mehrerer Parteien erforderlich, um das Mehrheitsquorum für eine Mehrheitsregierung zu erfüllen. Dies legitimiere eine Regierung nicht nur durch höhere Wahlquotienten, sondern insbesondere auch die Inhalte des Regierungsprogramms.152 Fördert die Verhältniswahl auch den Einzug kleinerer politischer Parteien und veranlasst es die Koalitionsbildung und Kompromisspolitik, so können die kleineren Parteien als Juniorpartner auch 147 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 145. Dennoch erscheint zweifelhaft, ob das Wahlrecht ohne konkrete Vorgaben hierzu aufzustellen, für ein inklusives und heterogenes Parlament mit verschiedenen Ethnien, Geschlechtern und Religionen sorgen kann. Im Bundestag der Bundesrepublik Deutschland ist das männliche Geschlecht mit insgesamt 68,6 Prozent in der 19. Legislaturperiode überrepräsentiert. Auch andere Konfessionen als die katholische bzw. evangelische sind nur marginal vertreten. Siehe Kürschners Volkshandbuch: Deutscher Bundestag (19. Legislaturperiode), S. 62 bzw. 329. 148 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 145. 149 Lijphart, Patterns of Democracy, S. 140. 150 Zum Koalitionsbegriff und zu den Auswirkungen in der Bundesrepublik Deutschland siehe Kapitel 2 B. I. 2. b) bb) (2) bzw. Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (2). 151 Friesenhahn geht bereits davon aus, dass das parlamentarische Regierungssystem als solches auf Kompromisspolitik angelegt ist, vgl. ders., Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (25). 152 Während die Koalition aus CDU und Bündnis90/Die Grünen lange ohne Anwendungsfall verblieb, ist eine derartige Koalition nunmehr in insgesamt zwei bzw. drei Fällen auf Landesebene praktiziert worden. In Hessen amtiert zum zweiten Mal eine schwarz-grüne Regierung; in Baden-Württemberg ist seit 2016 eine schwarz-grüne Koalition unter Ministerpräsident Kretschmer im Amt. Auch auf Bundesebene ist ein derartiges Bündnis möglich geworden. Dies belegen die zwischen CDU / CSU und Bündnis 90/Die Grünen erfolgten Sondierungsgespräche zu Beginn der 19. Legislaturperiode. Die FDP hatte die Sondierungen für gescheitert erklärt, weil die CDU / CSU dem Bündnis90/Die Grünen zu große inhaltliche Zugeständnisse gemacht hatte. Ausführlich hierzu siehe unten Kapitel 2 B. II. 1. b).
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Regierungsbeteiligte sein.153 Dadurch bestehen Chancen für neuartige, bislang unpraktizierte politische Koalitionen.154 Die Ansicht, Kompromisspolitik sei allein durch die Verhältniswahl zu bezwecken, verkennt indes, dass auch innerparteilich bereits Kompromisse für spätere Kandidaturen und die Aufstellung eines Wahlprogramms oder der generellen Positionierung von Sachfragen obligatorisch ist. Je nach Größe der Partei können sich derartige interne Verhandlungen als langwierig und komplex erweisen.155 (3) „Gerechtere“ Repräsentation durch maximale Verwirklichung der optimalen Erfolgswertgleichheit abgegebener Stimmen Für seine Vereinbarkeit mit der Verfassung hat sich das geltende Wahlrecht an den Wahlgrundsätzen zu messen. Gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG werden die Abgeordneten unter anderem in gleichen Wahlen gewählt. Die Auswirkungen von Mehrheits- und Verhältniswahl unterscheiden sich hinsichtlich der Wahlgleichheit.156 Während im Rahmen der reinen Mehrheitswahl Wahlgleichheit nur die Gleichheit des Zählwertes und in diesem Zusammenhang die vergleichbare Größe des Wahlkreises gewährleistet wird157, ist bei einer Verhältniswahl auch die Erfolgswertgleichheit entscheidend. Dies meint, dass sich abgegebene Stimmen auch im Ergebnis gleich auswirken müssen.158 In der Folge werden sämtliche abgegebene Stimmen im Grundsatz – nach deutschem Wahlrecht mit Ausnahme derjenigen Stimmen, die aufgrund der Fünf-Prozent-Klausel unberücksichtigt bleiben – auch im Ergebnis berücksichtigt.159 Dies korrespondiert den bereits dargestellten divergierenden Zielsetzungen der unterschiedlichen Wahlsysteme. (4) Zwischenergebnis: Auswirkungen von Verhältniswahl und Mehrheitswahl auf die Mehrheitsfindung zur Regierungsbildung Die tradierten Wahlsysteme, die Verhältniswahl und Mehrheitswahl wirken sich jeweils unterschiedlich auf die Regierungsbildung aus. Grundsätzlich hat die Mehrheitswahl durch ihre Konstruktion eher das Potential, die Bildung von Mehrheitsregierungen zu begünstigen, wohingegen die Verhältniswahl grundsätzlich 153
Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 145. Allgemein hierzu vgl. Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 145. 155 Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (107); ebenso Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (52). Friesenhahn geht davon aus, dass „eine große Mehrheitspartei […] gewissermaßen eine Koalition in sich dar[stellt]“. 156 BVerfGE 95, 335 (353); 120, 82 (103). 157 BVerfGE 93, 335 (353). 158 Vgl. BVerfGE 1, 208 (246 f.); 16, 130 (139); 95, 335 (353). 159 Sachs / Magiera, GG Art. 38 Rn. 114. 154
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zu einer Pluralisierung des Parlaments führt und daher Minderheitsregierungen eher begünstigt. c) BRD: Die personalisierte Verhältniswahl Das Grundgesetz selbst legt das geltende Wahlrecht für Bundestagswahlen nicht fest; stattdessen delegiert es die Entscheidung über das anzuwendende Wahlsystem an den einfachen Gesetzgeber. Diesem kommt durch die Ermächtigung aus Art. 38 Abs. 3 GG ein hoher Gestaltungsspielraum bei der Festlegung des Wahlrechts zu.160 Diese Auffassung überzeugt vor dem Hintergrund der Wichtigkeit des Wahl systems und der Funktion als „Wettbewerbsordnung“ nicht: eine ausufernde oder zu weite Gestaltungsfreiheit des einfachen Gesetzgebers kann allein deshalb nicht angenommen werden, weil dieser sich wegen der fundamentalen Bedeutung der Wahlen im demokratischen System an gesellschaftlichen Gegebenheiten zu orientieren hat.161 Theoretisch wäre in diesem Zusammenhang die Festlegung einer Mehrheitswahl, einer Verhältniswahl bzw. einer Kombination beider traditioneller162 Systeme rechtlich zulässig.163 Meyer dagegen hält die Einführung einer Mehrheitswahl für verfassungswidrig, da sie gegen das Gleichbehandlungsgebot verstoßen würde.164 aa) Die personalisierte Verhältniswahl als Wahlsystem der BRD: Inhalt und Rechtsnatur § 1 Abs. 1 S. 2 BWG165 normiert als das geltende Wahlrecht für die Wahl von Bundestagsabgeordneten die personalisierte Verhältniswahl. Danach werden die Abgeordneten des deutschen Bundestages nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt. 160 BVerfGE 3, 19 (24); 59, 119 (124); 96, 335 (349). Grenzen der gesetzgeberischen Gestaltungsmacht sind die Wahlgrundsätze aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG sowie die Chancengleichheit der politischen Parteien, siehe etwa Hömig / Wolff / Risse / Witt, GG Art. 38 Rn. 34; hierzu und zu den Wahlrechtsgrundsätzen etwa Parlamentsrecht / Morlok, § 3 Rn. 22 ff. 161 Vgl. auch Meyer, HStR III, § 45 Rn. 22 ff.; weitere Kritik an der Delegation der Wahlgesetzgebung an den einfachen Gesetzgeber findet sich unter anderen bei Parlamentsrecht / Wiefelspütz, § 51 Rn. 22 ff. Es handle sich dabei um materielles Verfassungsrecht, das aus diesem Grund auch in die Verfassung gehöre und daher auch der Gesetzgebung des Verfassungsgesetzgebers unterliege. 162 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 133. Nohlen bezeichnet die Wahlsysteme auch als „Grundtypen, die ein dichotomisches Ordnungssystem bilden, siehe ders., ebd., S. 131. 163 Erichsen, Wahlsysteme, in: Jura 1984, S. 22 (22 ff.); Stern, Staatsrecht I, S. 294 ff.; Pauly, Das Wahlrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: AöR 1998, S. 235 ff. 164 Ausführliche Darstellung bei Meyer, Wahlsystem und Verfassungsordnung. Bedeutung und Grenzen wahlsystematischer Gestaltung nach dem Grundgesetz, S. 192, 221, 263. 165 Bundeswahlgesetz, neugefasst durch B. v. 23. 07. 1993 BGBl. I S. 1288, 1594; zuletzt geändert durch Artikel 1 G. v. 25. 06. 2020 BGBl. 2020 I S. 1409; Geltung ab 03. 07. 1975.
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Die personalisierte Verhältniswahl kombiniert die Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl; es handelt sich um ein sogenanntes gemischtes Wahlsystem166 bzw. ein Mischwahlsystem.167 Konkret ist die Kombination der Wahlsysteme dadurch ausgestaltet, dass Wähler ausweislich des § 4 BWG bei Bundestagswahlen zwei Stimmen, die Erst- und Zweitstimme, vergeben. – Das Element der relativen Mehrheits- bzw. Personenwahl realisiert sich darin, dass die Hälfte der gesetzlichen Anzahl von Mandaten, insgesamt 299 Abgeordnete, gemäß §§ 1 Abs. 2, 5 BWG auf der Grundlage von Wahlkreisvorschlägen in hierfür formierten Wahlkreisen per Wahl mit der sogenannten Erststimme vergeben werden. – Die übrigen 299 Abgeordneten werden gemäß §§ 1 Abs. 2, 6, 27 Abs. 1 S. 1 BWG unter Anrechnung der per Erststimme vergebenen Mandate anhand von Landeswahlvorschlägen als Landeswahllisten nach den Grundsätzen der Verhältnis- bzw. Listenwahl mit der sogenannten Zweitstimme gewählt.168 In ständiger Rechtsprechung des BVerfG wurde als grundsätzlicher Charakter der aus zwei Wahlsystemen, der Mehrheitswahl sowie Grundelementen der Verhältniswahl, bestehenden personalisierten Verhältniswahl als Charakter der Verhältniswahl festgelegt: „Das Bundesverfassungsgericht hat in ständiger Rechtsprechung festgestellt, dass die Bundestagswahl – infolge des auf der zweiten Stufe der Wahl durchzuführenden und in § 6 Abs. 4 BWG normierten Verhältnisausgleichs und unbeschadet der Direktwahl der Wahlkreiskandidaten nach den Prinzipien der Mehrheitswahl – den Grundcharakter einer Verhältniswahl trägt.“169
Während die Erststimme und damit der im Wahlsystem enthaltene Bestandteil der Mehrheitswahl die Frage betrifft, wer ein Mandat ausübt, sind für die Verteilung der Bundestagssitze im Grundsatz allein die per Zweitstimme bzw. Verhältniswahl errungenen Prozentsätze maßgeblich.170 Ausnahmen hiervon sind die Wahl von parteilosen Abgeordneten durch Direktmandat sowie die Grundmandatsklausel. Gemäß § 6 Abs. 3 BWG bleiben grundsätzlich Parteien bei der Verteilung der Mandate unberücksichtigt, die weniger als fünf Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnten. Dies gilt jedoch nicht, wenn es der Partei gelingt, in mindestens drei Wahlkreisen ein Direktmandat zu erlangen. In diesem Fall ist
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Parlamentarischer Rat, Protokoll der 8. Sitzung vom 24. 02. 1949, S. 127. BVerfGE 1, 208 (209); 95, 335 (373). 168 Siehe etwa Mangoldt / Starck / K lein / Müller, GG Art. 38 Rn. 189; vgl. auch die Darstellung des Wahlsystems bei Sachs / Magiera, GG Art. 38 Rn. 117 f.; Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 317; Behnke, Das Wahlsystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 207. 169 BVerfGE 121, 266 (297); siehe auch BVerfGE 6, 84 (90); 7, 63 (74); 13, 127 (129); 16, 130 (139); 66, 291 (304); 79, 169 (171); 95, 335 (357 f.); 97, 317 (325); kritisch Schreckenberger, Zum Streit über die Verfassungsmäßigkeit der Überhangmandate, in: ZParl 1995, S. 678 (678 f.). 170 Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 2009, S. 473 (476). 167
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also die Erststimme ausnahmsweise entscheidend für die Verteilung von Sitzen an eine bestimmte Partei.171 bb) Die Entscheidung für die personalisierte Verhältniswahl – Verhältniswahl und Mehrheitswahl im Vergleich Das erste Wahlgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde auf Basis von Art. 137 Abs. 2 GG vom Parlamentarischen Rat erlassen. Der Entscheidung für die personalisierte Verhältniswahl mit dem Wahlgesetz 1949172 gingen intensive und kontroverse Beratungen im Parlamentarischen Rat voraus.173 Die Entscheidung, das Wahlrecht der Gesetzgebung des einfachen Gesetzgebers zu unterstellen, basierte auf der Annahme, das Wahlrecht müsse „elastisch bleiben, damit nicht dann, wenn die Regelung nicht mehr passt, der ganze Apparat der Verfassungsänderung in Gang gesetzt werden muss.“174 Dies sollte außerdem eine Vorläufigkeit des ersten Wahlgesetzes bewirken175: Aus historischer Sicht stellt die Kombination aus Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl eine politische Kompromisslösung dar.176 Zwar stellten sowohl das erste Wahlgesetz von 1949 als auch das zweite Wahlgesetz von 1953 zunächst nur Provisorien dar. Dennoch blieb es auch im dritten Wahlgesetz, welches letztlich die kontinuierliche Grundlage des Wahlrechts bot, bei der bereits im ersten Wahlgesetz festgelegten personalisierten Verhältniswahl.177 Während in den Kreisen von CDU / CSU im Jahr 1953 die Auffassung dominierte, die „Katastrophe von Weimar [sei] vorwiegend durch das falsche Verhältniswahlrecht verursacht worden“178, befürwortete die SPD die Verhältniswahl weiter.179 171 Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 2009, S. 473 (476 Fußnote 7). 172 Wahlgesetz zum ersten Bundestag und zur ersten Bundesversammlung der Bundesrepublik Deutschland vom 15. 06. 1949 (BGBl. S. 21), geändert durch Gesetz vom 05. 08. 1949 (BGBl. S. 25) und dem Wahlgesetz 1953 (Wahlgesetz zum zweiten Bundestag und zur Bundesversammlung vom 08. 07. 1953 (BGBl. I S. 470). 173 Der Parlamentarische Rat, so Meyer, habe sich mit keiner anderen Frage so intensiv beschäftigt wie mit der Wahlrechtsfrage. Siehe ders., Wahlsystem und Verfassungsordnung, S. 28. 174 Zitat von Schmid, abgedruckt in: Deutscher Bundestag, Der parlamentarische Rat 1948– 1949, Bd. 2, S. 127. 175 Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 92. 176 Im Folgenden BVerfGE 95, 335 (351) mit Verweis auf vgl. Protokolle der 8. Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen vom 14. 10. 1948, Parlamentarischer Rat Bd. 6, S. 209 (213). 177 BVerfGE 95, 335 (351 f.). 178 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Deutschen Bundestages, 1. Legislaturperiode, 254. Sitzung vom 18. 03. 1953, S. 12203. 179 Frühere, zum Teil überholte Ansichten für die Gründe des Scheiterns der Weimarer Republik finden sich bei Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, S. 22 ff., für eine aktuelle, geänderte Betrachtungsweise siehe Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung.
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In der Weimarer Republik war gemäß Art. 17 S. 2, 22 S. 1 WRV180 ein Verhältniswahlrecht praktiziert worden, bei welchem die Mandatsverteilung nicht anhand des prozentualen Stimmanteils erfolgte, sondern durch ein „automatisches System“181, bei dem gemäß § 30 des RWahlG182 (1920) pro 60.000 Wählerstimmen ein Mandat zugeteilt wurde. Reststimmen, die über die Anzahl von 60.000 im selben Wahlkreis hinausgingen, konnten mit Stimmen aus anderen Wahlkreisen addiert werden, sodass weitere Mandate bei dem Erreichen der Grenze von 60.000 folgten.183 Aus dieser Mandatszuweisung folgte, dass die Anzahl der Abgeordneten bzw. die Parlamentsgröße bis zum endgültigen Wahlergebnis ungewiss war. Die historischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik, insbesondere das Koalitionserfordernis und die allgemeine Zersplitterung des Parlaments, veranlassten die CDU / CSU zur Befürwortung der Mehrheitswahl.184 Demgegenüber hielten die SPD sowie kleinere Parteien an der Verhältniswahl fest und übten Widerstand gegen die Forderung der CDU / CSU nach einem relativen Mehrheitswahlrecht. Angeführt wurde, dass die Wahl von Personen letztlich nicht aufgrund ihrer Identität erfolge, sondern gerade aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit.185 Zudem seien die Erfolgsaussichten eines „handfeste[n] Demagoge[n]“ mit einer „lauten Persönlichkeit“ im Falle eines reinen Mehrheitswahlrechts höher als jene eines „fein strukturierte[n] Mensch[en]“.186 Im Ergebnis fand weder der Vorschlag eines reinen (relativen) Mehrheitswahlrechts noch jener eines reinen Verhältniswahlrechts eine Mehrheit im Wahlrechtsausschuss.187 Letztlich einigten sich die Ausschussmitglieder auf den Vorschlag Die 180 Art. 17 S. 2 WRV lautete: Die Volksvertretung muß in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von allen reichsdeutschen Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden. Art. 22 S. 1 WRV lautete: Die Abgeordneten werden in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über zwanzig Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt. 181 Im Folgenden Parlamentsrecht / Sacksofsky, § 6 Rn. 22; zur Darstellung der Auszählungsmodalitäten siehe auch Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 16. 182 Reichswahlgesetz vom 27. 04. 1920, § 30 lautete: Jedem Kreiswahlvorschlage werden soviel Abgeordnetensitze zugewiesen, daß je einer auf 60.000 für ihn abgegebene Stimmen kommt. Stimmen, deren Zahl für die Zuteilung eines oder eines weiteren Abgeordnetensitzes an einen Kreiswahlvorschlag nicht ausreicht (Reststimmen), werden, soweit sie auf verbundene Wahlvorschläge gefallen sind, dem Wahlverbandsausschusses und, soweit sie auf Wahlvorschläge gefallen sind, die nur einem Reichswahlvorschlag angeschlossen sind, dem Reichswahlausschusses zur Verwertung überwiesen. 183 Vgl. auch die Darstellung der politischen Reformbestrebungen des Wahlrechts zur Zeit der Weimarer Republik bei Jesse, Wahlrecht zwischen Kontinuität und Reform, S. 56. 184 Für die Bestimmung der Ursache des Scheiterns der Weimarer Republik lässt sich jedenfalls keine derart auf das Wahlrecht beschränkte und pauschalisierte Aussage treffen. Vielmehr ist das Scheitern der Weimarer Republik im Gesamtzusammenhang mehrerer Faktoren zu sehen, siehe stellvertretend für viele Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 55. 185 So Carlo Schmid (SPD), siehe Parlamentarischer Rat, Protokoll der 8. Sitzung vom 24. 02. 1949, S. 131; ebenso Theodor Heuss (FDP), siehe Parlamentarischer Rat, Protokoll der 52. Sitzung vom 22. 02. 1949, S. 696. 186 So Helene Wessel (DZP), siehe Parlamentarischer Rat, Protokoll der 52. Sitzung vom 22. 02. 1949, S. 692. 187 Vgl. Parlamentarischer Rat, Protokolle der 8. Sitzung des Ausschusses für Wahlrechtsfragen vom 14. 10. 1948, Parlamentarischer Rat Bd. 6, S. 209, 213.
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derichs, der die Wahl der Abgeordneten per Bundesliste als Verhältniswahl vorsah, wobei die per Wahlkreis gewählten Abgeordneten mit jenen Mandaten der per Bundesliste gewählten verrechnet werden sollten. Später entfiel die Wahl per Bundesliste und wurde mit einer Wahl anhand einer Landesliste ersetzt; zudem forderten die Ministerpräsidenten sowie die Alliierten eine stärkere Gewichtung der Mehrheitswahl, sodass das Verhältnis von Mehrheitswahl und Verhältniswahl letztlich auf eine Verteilung von 60 zu 40 festgelegt wurde. Ferner wurde auch die Fünf-Prozent-Klausel in das erste Wahlgesetz eingeführt, ehe es in Kraft trat. Das zweite Wahlgesetz bewirkte eine Änderung der Verhältnisse von Mehrheitsund Verhältniswahl, indem das Verhältnis auf 50 zu 50 festgelegt wurde. Das dritte Wahlgesetz hielt an den zuvor getroffenen Kompromissen fest und führte nur zu marginalen Änderungen, etwa, dass die Anzahl der einzelnen Länder jeweils zugewiesenen Sitze künftig nicht mehr vorgeschrieben war.188 cc) Ziele der personalisierten Verhältniswahl Diskutabel erscheint, wieso die Verhältniswahl mit den Elementen einer Mehrheitswahl in der nach dem Wahlgesetz gezeichneten Weise sinnvoll ist.189 Zunächst sei in der Konzeption nicht die Konstruktion einer Eventualstimme zu sehen: Sollte eine der beiden abgegebenen Stimmen sich nicht im Wahlergebnis niederschlagen, weil etwa der Direktkandidat per Erststimme nicht die meisten Stimmen im jeweiligen Wahlkreis auf sich vereinen konnte, hätte der hiervon betroffene Wähler die Möglichkeit, die parlamentarische Zusammensetzung wenigstens noch durch die Zweitstimme zu beeinflussen. Andersherum wäre anzunehmen, dass der Wähler einer Partei, welche die erforderliche Quote von fünf Prozent nicht erreicht, immerhin per Erststimme eine Wahl vollzogen haben könnte, durch welche der jeweilige Direktkandidat in den Bundestag einziehen konnte. Dem steht jedoch entgegen, dass die Persönlichkeitswahl gegenüber den „koalitionstaktischen Überlegungen“ zurücksteht und durch diese dominiert wird. Stattdessen, so Meyer, bestehe der Sinn in der Kombination der Wahlsysteme in einem parteipolitischen bzw. innerparteilich-demokratischen Gedanken. Es wurde bereits dargestellt, dass der personelle Bezug auch bei Personenwahlen aus empirischer Sicht wohl als begrenzt anzusehen ist, da der Großteil der Bevölkerung nicht in der Lage ist, die jeweiligen Direktkandidaten namentlich zu benennen. Die politische bzw. demokratische maßgebliche Erwägung besteht darin, dass die per Zweitstimme zu wählenden Listen sogenannte Landeslisten sind bzw. auf landespolitischer Ebene aufgestellt werden. Die Direktkandidaten, die per Erststimme gewählt werden können, werden dagegen von den Kreisverbänden politischer Parteien bestimmt. Nach der Auffassung des BVerfG werde so die inner-parteiliche Demokratie gestützt.190 Durch die 188
BVerfGE 95, 335 (350 f.). Im Folgenden Meyer, HStR III, § 46 Rn. 85. 190 BVerfGE 95, 335 (353). 189
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Bestimmung der Wahlkreisbewerber durch die Kreisverbände hätten laut Meyer auch Bewerber mit unkonventionelleren politischen Ansichten und insbesondere politischer Nachwuchs die Möglichkeit, in den Bundestag einzuziehen. Nichtsdestoweniger vermag auch diese Argumentation nicht vollständig zu überzeugen: Der Großteil der Wahlkreisbewerber findet sich auch auf einer Landesliste und zieht gegebenenfalls auch in das Parlament ein, wenn der Kandidat die meisten Stimmen innerhalb des eigenen Wahlkreises nicht auf sich vereinen konnte. dd) Politisch-praktische Konsequenzen des deutschen Wahlsystems (1) Koalitionserfordernis Grundsätzlich begünstigt die Verhältniswahl gegenüber der Mehrheitswahl den Einzug von mehr Fraktionen und ebenso von kleineren Fraktionen in das Parlament. Als Folge der Verhältniswahl hat sich in der Bundesrepublik ein pluralistisches Mehrparteiensystem etabliert.191 Das bedeutet konkret, dass die Anzahl der Fraktionen im Parlament steigt und für die Bildung einer Mehrheitsregierung in der Praxis regelmäßig der Zusammenschluss von wenigstens zwei Parteien erforderlich war.192 Die Regierungsbildung selbst ist demnach nicht allein durch die Wahlergebnisse vorherbestimmt, sondern bedarf eines nach der Wahl auf Basis der Ergebnisse erfolgenden Einigungsprozesses und Zusammenschlusses von Parteien.193 Dies erfolgt im Rahmen von ggf. Sondierungsgesprächen, Koalitionsvereinbarungen sowie einem späteren Koalitionsvertrag. Im Folgenden sollen zunächst Koalitionsbegriff und Koalitionspraxis in der Bundesrepublik Deutschland dargestellt werden. In einem zweiten Schritt sollen der Parteienpluralismus und eine damit verbundene, unter Umständen systemimmanente Erschwerung oder die damit einhergehende Destabilisierung der Regierungsbildung thematisiert werden. (2) Inkurs: Koalitionsverträge – Definition, Rechtsnatur und Praxis Koalitionsvereinbarungen sind Absprachen bzw. Willenseinigungen194 mehrerer Parteien, die auf die Konstituierung einer gemeinsamen Regierung gerichtet sind und sowohl Sachfragen für ein gemeinsames Regierungsprogramm als auch die Verteilung der Regierungsämter beinhalten. Regelmäßig sind auch prozedurale Absprachen, insbesondere Vereinbarungen hinsichtlich des formalen Abstimmungsverhaltens in Regierung und Parlament oder eventuelles Konfliktver 191 v. Schlieffen, HStR III, § 49 Rn. 1; vgl. hierzu auch Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (53). 192 Siehe Anhang zu Kapitel 2, Abbildung 1 und 4a, 4b und 4c. 193 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 24. 194 Sasse, Koalitionsvereinbarung und Grundgesetz, in: JZ 1961, S. 719 (722).
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halten bzw. die Einrichtung von Koalitionsgremien Gegenstände des Vertrages.195 Seit 1998 hat sich bewährt, dass Koalitionsvereinbarungen schriftlich fixiert und schließlich auch publiziert werden.196 Laut Strom sind Merkmale einer Koalition bzw. des zugehörigen „Vertrages“ seine explizite Form, die ausführliche Behandlung politischer Sachfragen und Themen sowie die jedenfalls gewisse Dauer.197 Den Koalitionsvereinbarungen bzw. dem Koalitionsvertrag sind sogenannte oalitionsverhandlungen vorgeschaltet. Dies sind solche politischen Beratungen, K die zwischen Parteien – nicht zwischen Fraktionen – geführt werden. Die Verhandlungen werden nicht von den Fraktionsvorsitzenden, sondern regelmäßig von den Parteivorsitzenden geleitet. Potentielle Koalitionsverträge wurden in der Vergangenheit regelmäßig in den an der (möglichen) Koalition beteiligten Parteien zur Disposition und zur Abstimmung gestellt.198 Während die CDU und FDP nach der Wahl im Jahr 2005 jeweils Sonderparteitage abhielten um über die Koalitionen abzustimmen, ließ die SPD über die Großen Koalitionen in der 18. und 19. Legislaturperiode in der gesamten Partei abstimmen.199 Die Rechtsnatur von Koalitionsverträgen ist zwar umstritten, jedoch herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass hierüber keine rechtliche Bindung200 und in 195
Zum Inhalt von Koalitionsverträgen siehe v. Schlieffen, HStR III, § 49 Rn. 1, 6; außerdem Saalfeld, Stable Parties, Chancellor Democracy and the Art of Informal Settlement, in: Müller / Strom, Coalition Government in Western Europe, S. 32 (57 f.); siehe auch Friauf, Zur Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrages, in: AöR 1963, S. 257 (307); Sasse, Koalitionsvereinbarung und Grundgesetz, in: JZ 1961, S. 719 (722). 196 Siehe Müller / Etzig, Der SPD-Mitgliederentscheid und die Freiheit des Mandats, in: NVwZ 2018, S. 549; siehe auch v. Schlieffen, HStR III, § 49 Rn. 1. Ob die Koalitionsverträge publiziert werden, liegt im ausschließlichen, verfassungsrechtlich nicht intendierten Ermessen der Koalitionsfraktionen, so Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 15. 197 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 97. 198 Schütt-Wetschky, Parlament oder Parteien: Wer entscheidet, wer beschließt?, in: ZParl 2005, S. 489 (494); so auch Müller / Etzig, Der SPD-Mitgliederentscheid und die Freiheit des Mandats, in: NVwZ 2018, S. 549; zur Frage, ob Fraktionen auch Bestandteil der Koalitionsvereinbarungen sind vertiefend Bonner Kommentar / Schenke GG Art. 63 Rn. 84; v. Schlieffen, HStR III, § 49 Rn. 3 f. 199 Kritische Anmerkungen zum SPD-Mitgliedschaftsvotum als vermeintlichen „Angriff auf das Grundprinzip der demokratischen Repräsentation nach Art. 38 I GG“, siehe Pagenkopf, Verbindliches Mitgliedervotum einer Partei, in: ZRP 2018, S. 37; andere, zutreffende Ansicht bei Müller / Etzig, Der SPD-Mitgliederentscheid und die Freiheit des Mandats, in: NVwZ 2018, S. 549, die in der öffentlichen Kritik allein eine politische Motivation erkennen, das Mitgliedervotum aber für vereinbar mit dem freien Mandat halten. Das BVerfG hatte das Mitgliedervotum nicht zur Entscheidung angenommen, siehe https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/ bverfg-soll-spd-mitgliederentscheidung-pruefen-basisdemokratie-freies-mandat/. 200 Andere Ansicht finden sich bei Friauf, Zur Problematik des verfassungsrechtlichen Vertrages, in: AöR 1963, S. 257 (308); Pohle, Anmerkung zu BGH, Urt. v. 19. 01. 1959 – III ZR 160/57, in: MDR 1959, S. 824 (825); Sasse, Koalitionsvereinbarung und Grundgesetz, in: JZ 1961, S. 719 (722); Zuck, Verfassungswandel durch Vertrag?, in: ZRP 1998, S. 457 (458); Zivier, Der Koalitionsvertrag, in: Recht und Politik 1998, S. 204 m. w. N. Es wird jeweils vertreten, bei Koalitionsverträgen handle es sich um verfassungsrechtliche Verträge.
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der Folge eine Justiziabilitätsbeschränkung besteht201, die Vereinbarungen also allenfalls moralische202 Wirkung entfalten. Wie dargestellt ist das Mehrheitsprinzip in demokratischen Systemen ein konstitutives Element203, welches demokratische Funktionen absichert und außerdem die Gleichwertigkeit von Einflussnahmen auf den Prozess der Entscheidungsfindung des Volkes sicherstellt. In parlamentarischen Gefügen, bei denen die Regierung vom Vertrauen des Parlaments abhängt, stellen Koalitionsverträge eine Möglichkeit der institutionellen Mehrheitsfindung dar. Koalitionsverträge erfüllen in parteipluralen Systemen notwendigerweise ebenfalls eine die Mehrheit sichernde Funktion und sind ergo eine notwendige, aus dem Mehrheitsprinzip herzuleitende Ausprägung dessen. (3) Parteienfragmentierung und Koalitionspraxis in der BRD Steht fest, dass Koalitionen die Beteiligung mehrerer Fraktionen erfordern und letztlich in parteipluralistischen Systemen einen dem Mehrheitsprinzip anhaftenden Beitrag zur Mehrheitssicherung leisten, ist dies in den Zusammenhang mit der Anzahl im Parlament vorzufindender Fraktionen zu stellen. So ist die Anzahl politischer Akteure im deutschen Bundestag grundsätzlich als ein solcher Faktor anzusehen, der die Regierungsbildung potentiell erschwert oder erleichtert: Je höher die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien, umso wahrscheinlicher wird eine Parlamentszersplitterung, die eine Mehrheitsfindung für das zu erreichende Quorum von einer Mitgliedermehrheit erschwert. Für die Bildung einer formell sowie materiellen204 Mehrheitsregierung ist eine Mehrheit von mindestens 50 Prozent der Sitze im Parlament erforderlich. (a) Die Anzahl der Fraktionen als Kriterium der Stabilisierung und Destabilisierung Fraglich ist, inwieweit durch die bloße Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien bereits für sich genommen eine stabilisierende oder destabilisierende 201 So Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 76; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 15; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 11 ff.; v. Schlieffen, HStR III, § 49 Rn. 9 ff., 18 ff.; Kloepfer, Koalitionsverhandlungen – unverbindlich, aber rechtlich relevant, in: NJW 2018, S. 1799 (1802). 202 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 10. 203 Siehe Kapitel 2 A. I. 1. b) aa). 204 Eine formelle Mehrheitsregierung ließe sich auch dadurch bilden, dass der ein potentieller Tolerierungspartner die Wahl eines Bundeskanzlers formell im Rahmen des Verfahrens nach Art. 63 Abs. 1, 2 bzw. Art. 63 Abs. 3 GG unterstützt, im Gesetzgebungsverfahren selbst allerdings inhaltliche Fragen gesondert behandelt und gesondert entscheidet, ob eine inhaltliche Unterstützung gewährt wird oder nicht.
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Wirkung auf die Regierungsbildung feststellbar ist. Die Verteilung der Sitze auf die Akteure lässt sich zunächst modellhaft mit der Formel f(x) = 100 x beschreiben. X meint dabei die Anzahl der Parteien. Grundsätzlich gilt, je höher der Wert des x, umso kleiner ist der Wert f(x). Diese Modellrechnung ist nur hypothetischer Natur, da sie zugrunde legt, dass sämtliche Fraktionen gleichsam stark im Parlament vertreten sind. Da gemäß § 6 Abs. 3 BWG die Fünf-Prozent-Hürde gilt, also Fraktionen grundsätzlich erst dann in das Parlament einziehen, soweit sie mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen können205, beträgt die Maximalanzahl der Fraktionen und damit auch der Maximalwert x = 20. Die Modellrechnung kann jedoch nicht abschließend klären, ob die bloße Anzahl von Fraktionen im Parlament generalisierbar eine destabilisierende Wirkung hat: Besteht ein Parlament etwa aus elf Fraktionen, so ist dennoch möglich, dass Fraktion A insgesamt 50 Prozent auf sich vereinigt und damit als formelle und materielle Mehrheitsregierung amtieren kann; die anderen zehn Fraktionen besäßen dann jeweils fünf Prozent der Mandate. Die Anzahl der faktisch vertretenen Fraktionen selbst ist daher allenfalls ein Indiz dafür, ob ein Parlament zersplittert erscheint, stellt aber kein hinreichendes Kriterium für die Beurteilung einer potentiellen Stabilisierung oder Destabilisierung der Regierungsbildung dar. (b) „Effective“ Number of Parties nach Laasko / Taagepera Die Politikwissenschaftler Markku Laakso und Rein Taagepera gehen davon aus, dass die Beantwortung der Destabilisierungsfrage durch gesteigerte Anzahl politischer Akteure anhand der sogenannten „Effective“ Number of Parties zu beantworten ist.206 Bevor die Stabilität bewertet würde, müsse diese erst als maßgebliche Größe und als Grundlage für die Bewertung ermittelt werden.207 Die Anzahl der Fraktionen würde durch diese Größe dergestalt operationalisiert, als auch die Fraktionsstärken im Einzelnen Berücksichtigung finden. Allgemein sei die „Effective“ Number of Parties zu definieren als die Anzahl der hypothetisch gleich großen Fraktionen in einem Parlament, welche den gleichen Effekt auf die Fragmentierung hätten wie die Anzahl der tatsächlich vertretenen Fraktionen ungleicher Größe.208 205
Ausführlich dazu siehe Kapitel 2 B. I. 2. c) ee). Im Folgenden Laakso / Taagegepera, „Effective“ Number of Parties: A Measure with Application to West Europe, in: Comparative Political Studies 1979, S. 3 (3 f.); Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227. 207 Für weitere, grundlegende Überlegungen siehe Lijphart, Patterns of Democracy, S. 63 f. 208 Laakso / Taagepera, „Effective“ Number of Parties: A Measure with Application to West Europe, in: Comparative Political Studies 1979, S. 3 (4). 206
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Berechnet wird die Größe anhand der Formel N2 = n 1 2 ∑ i=1 p i Pi steht für den Anteil der Stimmen bzw. Sitze der Partei i. Es wird die Summe gebildet aller mit Sitzen oder Stimmen im Parlament vertretenen Parteien, deren Anzahl mit n beschrieben ist. Wenn alle Stimmanteile der unterschiedlichen Parteien gleichwertig sind, ist N2 deckungsgleich zum Wert n. Im Nenner wird letztlich die Summer der quartierten Fraktionsstärken gebildet.209 Diese wird in das Verhältnis des Gesamtparlaments (100 Prozent) gesetzt. Taagepera erkennt einen dauerhaften Effekt der Größe auf die Regierungskontinuität sowie ihren Handlungs optionen, da diese maßgeblich von der Parteienlandschaft als solchen abhängen. Diese sei insgesamt zwar nicht als hierfür monokausal zu betrachten, jedenfalls aber als ein beeinflussender Faktor.210 Er stützt sich auf die Annahme Lijpharts211, es seien insgesamt zwei Faktoren entscheidend: erstens sei zu fragen, wie viele Fraktionen im Kabinett vertreten sind und zweitens ob es sich um eine minimale Gewinnkoalition handelt. Unter einer minimalen Gewinnkoalition ist eine (materielle) Mehrheitsregierung zu verstehen, die ihre Mehrheit dadurch verlieren würde, dass eine beliebige Regierungsfraktion das Kabinett verlassen würde. Diese Faktoren seien neben der „Effective“ Number of Parties ausschlaggebend für eine etwaige Erschwerung der Regierungsbildung bzw. insgesamt für die Koalitionsfähigkeit. Für die Frage, ob die Anzahl der Fraktionen die Regierungsbildung destabilisiert, seien laut Lijphart fünf Typen der Regierungen zu unterscheiden:212 – minimal winning one-party cabinet (materielle Mehrheitsregierung, die aus nur einer Partei besteht) – minimal winning multiparty cabinets (materielle Mehrheitsregierung als minimale Gewinnkoalition, die aus mindestens zwei Fraktionen besteht) – one-party minority cabinet (materielle Minderheitsregierung, die aus einer Fraktion besteht) – multiparty minority cabinets (materielle Minderheitsregierung, die aus mindestens zwei Fraktionen besteht) – oversized cabinets (übergroße Mehrheitsregierungen, das heißt solche Regierungen, bei denen nicht zwingend jede Fraktion erforderlich ist, um die Mehrheit zu sichern).213 209
Zur methodischen Vorgehensweise siehe ebd. Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (228). 211 Siehe Lijphart, Patterns of Democracy, S. 79 ff. 212 Lijphart, Patterns of Democracy, S. 79. 213 Lijphart und Taagepera gehen davon aus, dass ein Kabinett, dessen Fraktion(en) im Parlament mindestens 80 Prozent der Sitze auf sich vereint, bereits als übergroße Regierung ungeachtet etwaiger Koalitionsverhältnisse anzusehen ist. 210
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Je nachdem, in welchem Bereich die „Effective“ Number of Parties sich bewegt, ist die Bildung bestimmter Kabinette unmöglich oder unwahrscheinlich; hierzu können folgende zu verallgemeinernde Aussagen getroffen werden: – Liegt die „Effective“ Number of Parties unter zwei, so ist davon auszugehen, dass eine Fraktion allein mindestens 50 Prozent der Mandate innehält. Daher ist eine Ein-Parteien-Mehrheitsregierung wahrscheinlich. Nur in Ausnahmefällen, die als rein theoretisch eingestuft werden können, könnte eine Minderheitsregierung bestehend aus ein oder mehrere Fraktionen amtieren, wenn die Fraktion, welche die absolute Mehrheit erhalten hat, aus politischen Gründen auf die Ausübung der Regierungsgewalt verzichten würde. Denkbar wäre daneben auch, dass die Mehrheitsregierung mit über 50 Prozent so viele Mandate im Parlament hält, dass sie eine übergroße Regierung bilden könnte.214 In den herangezogenen Untersuchungen regierten bei Werten unter zwei in 99,6 Prozent der Fälle materielle Mehrheitsregierungen. Für die Notwendigkeit der Koalitionsbildung bedeutet ein Wert unter zwei, dass grundsätzlich keine Koalition zur Bildung einer Mehrheitsregierung erforderlich ist.215 – Liegt „Effective“ Number of Parties zwischen zwei und vier, so ist eine Ein-Parteien-Regierung als materielle Mehrheitsregierung theoretisch möglich. In den Untersuchungen ist erkennbar, dass die relative Häufigkeit der materiellen Mehrheitsregierung bestehend aus mindestens zwei Fraktionen jedoch zunimmt, je näher sich der Wert an vier annähert. Dementsprechend nimmt auch die Anzahl der Ein-Parteien-Mehrheitsregierungen ab, je höher die „Effective“ Number of Parties im Parlament steigt.216 Falls Koalitionen gebildet werden müssen, bestehen diese aus zwei Fraktionen. Im Übrigen besteht ggf., bei Annäherung des Wertes an zwei, kein Koalitionserfordernis, weil bereits eine Fraktion die absolute Mehrheit trägt und wie dargestellt alleine als (formell-materielle) Mehrheitsregierung regiert.217 – Liegt der Wert über vier, so ist eine Ein-Parteien-Mehrheitsregierung unmöglich; im Umkehrschluss ist eine Koalition für die Bildung einer Mehrheitsregierung unumgänglich. Die Koalition sichert in diesem Fall konkret die Mehrheitsbildung ab. Die empirischen Erhebungen hierzu zeigen, dass übergroße Koalitionen in 70,3 Prozent der untersuchten Fälle etabliert werden, wenn der Wert der „Effective“ Number of Parties über fünf liegt. Im Übrigen regieren in diesen Fällen zu 22,9 Prozent Mehrheitsregierungen, die aus mindestens zwei Fraktionen bestehen.218 In Fällen, wo die Zahl zwischen vier und sechs liegt, ist mit zwei oder 214
Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (229). 215 Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (233). 216 Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (229, 230). 217 Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (233). 218 Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (229, 230).
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drei Fraktionen als Regierungskoalition zu rechnen, bei Werten über sechs können sogar bis zu vier Fraktionen erforderlich sein, um letztlich eine Mehrheitsregierung zu bilden.219 Auch Strom geht in seiner Untersuchung davon aus, dass eine Anzahl von vier oder fünf vertretenen Fraktionen die Anzahl erforderlicher Fraktionen für eine Mehrheitskoalition steigert und dadurch rechnerisch mehr Koalitionsoptionen bestehen.220 Bei dem hypothetischen Beispiel, ein Parlament würde aus insgesamt elf Fraktionen bestehen, wovon Fraktion A 50 Prozent erhalten hat, während die Fraktionen B bis einschließlich Fraktion K jeweils fünf Prozent erhalten hat, liegt der Wert der „Effective“ Number of Parties bei 3,60. Damit ist eine Einparteienregierung als Mehrheitsregierung möglich; es besteht kein zwingendes Koalitionserfordernis. Theoretisch wäre aber auch eine übergroße Koalition anzudenken. (c) Die „Effective“ Number of Parties in der BRD Bezogen auf die Bundesrepublik Deutschland ist evident, dass die „Effective“ Number of Parties nur in den Jahren 2009 und 2017 den Wert „vier“ überstieg. Der höchste Wert war in der 19. Legislaturperiode zu verzeichnen; er betrug 4,64. Damit war eine Alleinregierung einer einzelnen Partei als Mehrheitsregierung bereits durch die durch Wahl herbeigeführten Kräfteverhältnisse von vorneherein ausgeschlossen. Für die Bildung einer formellen sowie materiellen Mehrheits regierung bestand ein zwingendes Koalitionserfordernis. Bleiben die politische Ausrichtung und ideologische Kompatibilität der Parteien sowie etwaige (Un-)Vereinbarkeitsbeschlüsse einzelner Parteien über Koalitionen mit anderen unberücksichtigt, so ergaben sich durch die Wahlen zum 19. Deutschen Bundestag insgesamt elf Koalitionskonstellationen, die der Kategorie der minimalen Gewinnkoalition zuzuordnen sind. Diese Konstellation ist als die für das deutsche System, insbesondere auch auf Ebene der Bundesländer, typische anzusehen. Typisch ist ebenso, dass die Regierungskoalition zumeist auch die Beteiligung derjenigen Fraktion einschließt, die hinsichtlich ihrer Stimmenzahl am stärksten vertreten ist.221 Demgegenüber ist eine übergroße Koalition untypisch für die deutsche Praxis der Regierungsbildung. So lehnte die Partei Bündnis 90 / Die Grünen eine Beteiligung an einer übergroßen Koalition mit CDU / CSU und SPD in der 19. Legislaturperiode ab.222 219
Taagepera, Implications of the effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 2002, S. 227 (233). 220 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 27. Trotz erhöhter Anzahl möglicher Koalitionskonstellationen geht damit keine Erleichterung der Koalitionsbildung einher. 221 Vgl. Bräuninger / Debus / Müller / Stecker, Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, S. 219. Es wird in der Politikwissenschaft insoweit von einer bargaining proposition gesprochen. 222 Eckhard / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (254).
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Augenscheinlich ist, dass nur eine der in der 19. Legislaturperiode möglichen Konstellationen, die von 2017 bis 2021 amtierende Große Koalition aus CDU / CSU und SPD, aus nur zwei Fraktionen besteht. Alle anderen zehn Konstellationen bedürfen einer Beteiligung von mindestens drei Fraktionen für eine formelle Stimmmehrheit im Deutschen Bundestag, vier der minimalen Gewinnkonstellationen bestehen aus sogar vier Fraktionen. Derartige Regierungskoalitionen werden von Klecha als „komplexe Koalitionen“ bezeichnet. Nach diesem Verständnis sind allerdings nicht nur Mehrheits-, sondern ggf. auch formelle Minderheitsregierungen umfasst, die aus mindestens drei miteinander konkurrierenden Parteien bestehen.223 In der Vergangenheit war es auf Bundesebene stets üblich, eine Regierungskoalition aus nur zwei Fraktionen zu bilden: Seit 1961 hat es auf Bundesebene keine Regierungskoalition mehr gegeben, in der mehr als zwei Fraktionen beteiligt waren.224 Zur Veranschaulichung, dass es sich in der 19. Legislaturperiode um eine insoweit destabilisierende Wirkung durch die Sitzverteilung und die Anzahl der Fraktionen handelte, sollen Vergleiche zu dem hypothetischen Fall der Maximalanzahl von Fraktionen im Bundestag sowie zu den Wahlen in den Jahren 1976 sowie 2009 gezogen werden: Während im Jahr 1976 die „Effective“ Number of Parties mit 2,31 am niedrigsten war, lag der Wert im Jahr 2009 bei 3,97 und markiert damit den zweithöchsten Wert für Wahlen seit 1949. Evident ist für die Sitzverteilung im Jahr 1976, dass insgesamt nur drei minimale Gewinnkoalitionen bestanden, wovon eine Konstellation nach Ansicht Lijpharts bereits als übergroße Koalition anzusehen wäre.225 Zwar war die Alleinregierung nur einer Fraktion als Mehrheitsregierung ausgeschlossen. Jedoch waren theoretische Koalitionskombinationen kongruent zu den im Grundsatz praktizierten minimalen Gewinnkoalitionen und die denklogischen Möglichkeiten daher beschränkt statt vielfältig.226 Demgegenüber waren im Jahr 2009 insgesamt vier minimale Gewinnkoalitionen möglich.227 Da der Wert der „Effective“ Number of Parties bei fast vier lag, ist davon auszugehen, dass hier mindestens zwei Fraktionen erforderlich wären, um eine Mehrheit zugunsten der Regierung im Parlament zu sichern. 223
Klecha, Komplexe Koalitionen: Welchen Nutzen bringen sie den Parteien?, in: ZParl 2011, S. 334. 224 Siehe Anlage zu Kapitel 2, Abbildung 1 und 5b. 225 Siehe Anlage zu Kapitel 2, Abbildung 4c. 226 Es ist davon auszugehen, dass eine Große Koalition aus CDU / CSU und SPD im Jahr 1976 allein deshalb politisch wie auch verfassungsrechtlich nicht vorzugswürdig ist, weil diese Koalition zur Folge hätte, dass die FDP mit einem Anteil von nur 7,72 Prozent alleine die Oppositionsrolle übernehmen würde, was die parlamentarische Kontrollrechte angesichts der Nicht-Erfüllung gesetzlicher Quoren stark eingeschränkt hätte: So ist für eine abstrakte Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG „ein Viertel der Mitglieder des Bundestages“ notwendig. Die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses erfordert gemäß Art. 44 Abs. 2 GG, § 1 PUAG den Beschluss des Bundestages. Ein Beschluss des Bundestages meint die Unterstützung des Ausschusses durch die Hälfte der jeweils abgegebenen Stimmen und demgemäß die einfache Mehrheit im Sinne des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG. So auch Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 6. 227 Siehe Anlage zu Kapitel 2, Abbildung 4b.
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Wegen der Fünf-Prozent-Hürde beträgt die Maximalanzahl von Fraktionen im Bundestag 20. Dabei handelt es sich um einen insoweit hypothetischen Fall, da in der Praxis nicht mit einer gleichmäßigen Sitzverteilung von fünf Prozent für insgesamt 20 Fraktionen zu rechnen ist. Gleichwohl markiert der Maximalwert der Fraktionen auch den Maximalwert der „Effective“ Number of Parties. Diese beträgt ebenfalls 20, sodass bei einer gleichmäßigen Sitzverteilung auf die insgesamt 20 Fraktionen deren gleichwertiger Einfluss kongruent zur tatsächlichen Anzahl der Fraktionen wäre. Hierbei wären insgesamt zehn Fraktionen erforderlich, um eine minimale Gewinnkoalition als (formelle und materielle) Mehrheitsregierung zu bilden. Es ist davon auszugehen, dass diese Konstellation die maximal instabilsten Koalitionsverhältnisse impliziert. Je näher sich der jeweilige, auf der Sitzverteilung des Bundestages basierende Wert der „Effective“ Number of Parties an die Maximalzahl 20 annähert, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Destabilisierung der Regierungsbildung. Je gleichmäßiger die Kräfteverhältnisse im Parlament verteilt sind, umso näher liegen die Werte der tatsächlichen Anzahl der Fraktionen und die „Effective“ Number of Parties beieinander. (4) Überschreitung der gesetzlichen Mitgliederzahl im Deutschen Bundestag Neben dem Potential, eine Erhöhung der Anzahl von Fraktionen herbeizuführen, enthält die personalisierte Verhältniswahl systemimmanente Mechanismen228, aus denen zusätzlich die Erhöhung der Abgeordnetenanzahl insgesamt resultiert: Überhang- und Ausgleichsmandate führen zu einer unmittelbaren Erhöhung der Mandate. Die Berechnung der Mandate erfolgt nach Maßgabe des § 6 BWG, der die Rechenschritte indes nur implizit nennt.229 Zunächst führt die personalisierte Verhältniswahl zur Entstehung von Überhangmandaten, also solchen Mandaten, die eine Partei erhält, indem sie mehr Direktmandate erreicht, als ihr prozentual nach der Zweitstimme zustehen. Als Faustformel für Überhangmandate kann definiert werden, dass diese dann entstehen, „wenn der Anteil der durch eine Partei errungenen Direktmandate an allen Direktmandaten mehr als doppelt so hoch ausfällt wie der Anteil der Zweitstimmen dieser Partei in diesem Bundesland“.230 Letztlich wurzelt die Entstehung der Überhangmandate in der Tatsache, dass es sich bei der personalisierten Verhältniswahl um ein Mischwahlsystem handelt, in welchem zwei Stimmen vergeben werden.231 228
Lenski bezeichnet diese Mechanismen als „tiefgehende Bruchstellen bzw. ein[en] Widerspruch im Wahlrecht, siehe dies., Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 2009, S. 473 (505 f.). 229 Zu den einzelnen Rechenschritten siehe im Einzelnen die Darstellung bei Parlamentsrecht / Sacksofsky, § 6 Rn. 83–88. 230 Behnke, Das Wahlrecht der Bundesrepublik Deutschland, S. 187. 231 BVerfGE 121, 266 (273); vgl. Massicotte / Blais, Mixed Electoral Systems: a conceptual and empirical survey, in: Electoral Studies 1999, S. 314; Farell, Electoral Systems. A mixed introduction, S. 98 ff.
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Der Stimmberechnung von Erst- und Zweitstimme in Mandate liegen jeweils unterschiedliche Berechnungsebenen zugrunde. Die Sitzverteilung vollzieht sich dabei in mehreren Schritten. Zunächst werden die in den Wahlkreisen per Erststimme errungenen Direktmandate ermittelt. Sodann wird der per Zweitstimme erhaltene Proporz jeder Landesliste gesondert berechnet. In einem dritten Schritt erfolgt die Anrechnung der im ersten Schritt festgestellten Direktmandate auf die prozentual errungenen Sitze.232 Aus der dargestellten Verrechnung resultierte bereits in der 4. Legislaturperiode das Problem des sogenannten „negativen Stimmgewichts“ bzw. inversen Erfolgswerts. Konkret ist hierunter zu verstehen, dass eine Partei mit zahlenmäßig weniger Stimmen mehr Mandate erhalten konnte als eine andere Partei mit zahlenmäßig mehr Stimmen.233 Das negative Stimmgewicht entsteht dadurch, dass Erst- und Zweitstimme verschieden vergeben werden (sog. Stimmensplitting): so kann die Erststimme an den Kandidaten einer anderen Partei vergeben werden, als mit der Zweitstimme unterstützt wird. Die Paradoxie der personalisierten Verhältniswahl besteht hier darin, dass davon ausgegangen wird, dass kein Stimmensplittung erfolgt, obgleich die Kombination aus Mehrheits- und Verhältniswahl ein solches gerade systemimmanent zulässt.234 Die nur theoretische, aber nicht schlechthin unmögliche Fallgestaltung, dass eine Partei bundesweit sämtliche Direktmandate gewinnt und gleichzeitig nur fünf Prozent der Zweitstimmen erhält, hätte zur Folge, dass die Mitgliederzahl des Bundestags von 598 auf insgesamt 897 steigt.235 Nachdem das BVerfG das negative Stimmgewicht für verfassungswidrig erklärt hatte und dem Gesetzgeber letztlich den Auftrag erteilt hatte, geeignete gesetzliche Vorkehrungen zu treffen, die jenes Problem beseitigten236, wurden mit dem 19. Änderungsgesetz des BWG237 sogenannte Ausgleichsmandate zur Kompensation der Überhangmandate eingeführt.238 Ausgleichsmandate können definiert werden als solche Mandate, die vergeben werden, um anfallende Überhangmandate hinsichtlich des bundesweiten Zweitstimmenproporzes auszugleichen.239 Die Gesamtzahl der Parlamentssitze wird gemäß § 6 Abs. 5, 6 BWG so lange erhöht, bis das Proporzergebnis ausgeglichen ist. Das bedeutet, eine Erhöhung erfolgt so lange, bis Überhangmandate faktisch keinen Vorteil mehr für einzelne Parteien darstellen. Die Einführung des Ausgleichsverfahrens hat in der Folge in der 19. Legislaturperiode für einen Anstieg auf insgesamt 709 Abgeordnete gesorgt, sodass die ge 232
BVerfGE 121, 266 (269 f.). BVerfGE 121, 266 (267). 234 Vgl. Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 2009, S. 473 (506). 235 Lenski, Paradoxien der personalisierten Verhältniswahl, in: AöR 2009, S. 473 (506). 236 BVerfGE 121, 266 (313). 237 19. Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz vom 25. 11. 2011 (BGBl. I S. 2313). 238 Dennoch gilt das Problem des negativen Stimmgewichts als nicht vollständig beseitigt, siehe etwa Behnke, Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2013, in: ZParl 2014, S. 17 (25 ff.); ebenso Hettlage, Die „personalisierte“ Verhältniswahl schafft sich ab, in: DÖV 2015, S. 329 (331). 239 Im Folgenden Parlamentsrecht / Sacksofsky, § 6 Rn. 85. 233
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Kap. 2: Die politische Krise
setzliche Mitgliederzahl von 598 um insgesamt 111 Mandate überstiegen wurde. Hieran wird in der Literatur zum Teil Kritik geübt: So ist Hettlage der Auffassung, der Ausgleich laufe dem Demokratieprinzips zuwider. Ein Wahlergebnis dürfe ohne entsprechende Abstimmung hierüber nicht ausgeglichen werden.240 ee) Wahlrechtliche Sperrklauseln als Korrekturversuch – die „Fünfprozent-Hürde“ Wahlrechtliche Sperrklauseln „machen die Teilnahme der Parteien an der Mandatsverteilung von der Auflage abhängig, eine bestimmte Anzahl von Stimmen oder Direktmandaten zu erreichen“.241 Gemäß § 6 Abs. 3 S. 1 BWG werden bei der Verteilung der Sitze nur solche Parteien berücksichtigt, die mindestens fünf Prozent der im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können (sog. Fünfprozent-Hürde). Nur ausnahmsweise zieht eine Partei gemäß § 6 Abs. 3 S. 2 BWG auch ohne dieses Erfordernis in das Parlament ein, soweit es ihr gelingt, insgesamt drei Direktmandate im Wahlgebiet zu erhalten (sog. Grundmandatsklausel). Nach deutschem Wahlrecht bezieht sich die Sperrklausel auf das gesamte Bundesgebiet als Wahlgebiet, nicht etwa auf die einzelnen Wahlkreise.242 Weil die Nicht-Berücksichtigung von Stimmen im Rahmen eines Verhältniswahlsystems die Wahlgleichheit in Form der Erfolgswertgleichheit tangiert, ist diese rechtfertigungsbedürftig. Nach der Rechtsprechung des BVerfG243 unterliegt die Wahlgleichheit keinem absoluten Differenzierungsverbot. Nichtsdestoweniger sind die Beteiligung von Minderheiten und dementsprechend auch die Berücksichtigung von Wählerstimmen für kleine, weniger populäre politische Parteien von tragender Bedeutung für die demokratische Ordnung.244 Daher ist nur ein „zwingender Grund“ tauglich, eine Differenzierung von Stimmen hinsichtlich ihrer Erfolgswertgleichheit bzw. ihrer Berücksichtigung oder Nicht-Berücksichtigung zu rechtfertigen.245 Wie dargestellt ist die dominante Funktion einer Wahl die spätere 240
Hettlage, Die „personalisierte“ Verhältniswahl schafft sich ab, in: DÖV 2015, S. 329. Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 102. 242 BVerfGE 4, 375 (380); 6, 84 (95); 34, 81 (100 ff.). 243 Ständige Rechtsprechung der Rechtfertigungsdogmatik bei Differenzierungen seit BVerfGE 1, 208 (249). 244 Meyer, HStR III, § 46 Rn. 30; Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 35. Ungeachtet dessen tangiert die Fünf-Prozent-Hürde auch die Erfolgschancengleichheit der Parteien; der Einzug in das Parlament ermöglicht eine „Selbstdarstellung“ der jeweiligen Partei und führt dazu, dass diese Teil des öffentlichen Diskurses ist. Nicht in das Parlament gewählt zu werden, bedeutet für einzelne Parteien unter Umständen eine Existenzgefährdung. Siehe hierzu Kaack, a. a. O., S. 35, ebenso Morlok / Kühr, Wahlrechtliche Sperrklauseln und die Aufgaben einer Volksvertretung, in: JuS 2012, S. 385. Dieser Kritik ist entgegenzuhalten, dass sowohl dem Bündnis 90/Die Grünen als auch die AfD als Neugründungen der letzten vierzig Jahre beide den Einzug sowohl in nahezu alle bzw. eine Vielzahl von Landesparlament und Bundestag als auch politischen Gremien auf kommunaler Ebene gelungen ist, vgl. Nohlen, Wahlrecht und Parteisystem, S. 317. 245 BVerfG, NVwZ 2012, S. 33. 241
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Regierungsbildung.246 Gleichwohl verfolgt das Verhältniswahlsystem die maßstabgetreue Abbildung von Interessen im Parlament.247 Diese Zielrichtungen von Wahlen kollidieren: Eine pluralistische Gesellschaft birgt eine Vielfalt von Meinungen und Interessen. Dies bedingt ein entsprechend heterogenes Wahlverhalten und letztlich die Wahl einer Vielzahl von Parteien.248 Je mehr Fraktionen in einem Parlament vertreten sind, umso schwieriger erscheint letztlich die Regierungsbildung, da die Mehrheitsverhältnisse mit steigender Anzahl politischer Akteure unklarer werden.249 Dies gefährdet insgesamt die Stabilität der Regierungsbildung im parlamentarischen Regierungssystem.250 Erschwert ist konkret auch das Bilden einer Mehrheit durch Koalitionen, die wie dargestellt eine mehrheitssichernde Funktion übernehmen.251 Die Fünfprozent-Hürde soll daher die Konstituierung funktionsfähiger Staatsorgane, namentlich der Regierung, sichern. Ihr kommt insoweit eine hinsichtlich Störungen im Verfassungsgefüge präventive bzw. mehrheitsfördernde252 Wirkung zu. Die Stabilisierung und Herstellung der Funktionsfähigkeit des Parlaments wird insoweit als „zwingender Grund“ anerkannt und vermag daher die Differenzierung von Wählerstimmen verfassungsrechtlich zu rechtfertigen.253 Wegen ebendieser präventiven Wirkung kann die Fünfprozent-Hürde dem Krisenverhinderungsrecht, also der ersten Rechtsschicht des Verfassungsrechts zugeordnet werden. Zwar unterliegt das Wahlrecht gemäß Art. 38 Abs. 3 GG der Legislation des einfachen Gesetzgebers.254 Wegen seiner fundamentalen Bedeutung für die Demokratie und den unmittelbaren Auswirkungen auf das Verfassungsgefüge, kann das Wahlrecht dennoch zum materiellen Verfassungsrecht gezählt werden.255 Nach der Rechtsprechung des BVerfG steht es dem Gesetzgeber im Rahmen seiner ohnehin bestehenden Gestaltungsfreiheit und Einschätzungsprärogative auch nach Art. 38 Abs. 3 GG zu, solche Vorkehrungen zu treffen, welche als insoweit 246
Siehe Kapitel 2 B. I. 1. Vgl. BVerfGE 6, 84 (93). 248 Bei der Bundestagswahl zur 19. Legislaturperiode standen beispielsweise in NordrheinWestfalen insgesamt 23 Landeslisten zur Wahl. 249 Morlok / Kühr, Wahlrechtliche Sperrklauseln und die Aufgaben einer Volksvertretung, in: JuS 2012, S. 385 (388 f.). 250 Morlok / Kühr, Wahlrechtliche Sperrklauseln und die Aufgaben einer Volksvertretung, in: JuS 2012, S. 385 (389 f.). 251 Siehe Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (2). 252 Meyer, HStR II, § 46 Rn. 75. 253 Wegen der Nicht-Berücksichtigung derjenigen Stimmen, die an solche Parteien gegeben wurden, welche die Fünf-Prozent-Hürde nicht erreichen, wird zum Teil eine Ersatzstimme gefordert, siehe etwa Thiele, Ausgestaltung des Wahlrechts zur Wiederbelebung der Demokratie, in: ZRP 2017, S. 105 (106). 254 Zum Teil wird eine Normierung des Wahlrechts im Grundgesetz gefordert, siehe etwa die Vorschläge von Robbe / Weinzierl, Mehr Wahlrecht in das Grundgesetz?, in: ZRP 2015, S. 84. 255 BVerfGE 95, 335 (349); 112,266 (297); vgl. auch Schmid: „Die Frage: Verhältniswahl oder Mehrheitswahl? Ist ein wichtigeres Problem als viele andere Dinge, die in den Verfassungen stehen“, abgedruckt in Deutscher Bundestag, Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 2, S. 127. 247
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„desintegrierende Elemente“ gesehen werden können.256 Die Höhe der Sperrklausel unterliegt ebenso der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers. Dabei gilt grundsätzlich: Je höher die Sperrklausel angesetzt wird, umso stärker ist ihr potentieller Beitrag zur Stabilisierung und Herstellung der Funktionsfähigkeit des Parlaments. Allerdings ist die „Funktionsfähigkeit“ eines Verfassungsorgans nicht als absoluter Wert zu verstehen; die Fünfprozent-Hürde ist nicht zwingend die Garantie politischer Stabilität. Da die Regierungsbildung im parlamentarischen Regierungssystem eben die Relation von Regierung und Parlament markiert, ist die Funktionsfähigkeit auch im Lichte sonstiger demokratischer Anforderungen zu sehen, um diese letztlich bewerten zu können.257 Bei der Festlegung einer zu hohen Sperrklausel besteht die Gefahr, dass sich wegen fehlender politischer Konkurrenz ein parteipolitischer Immobilismus ergibt, der letztlich für Störungen im demokratischen Gesamtgefüge sorgt, indem wegen des Abdrängens von Minderheiten ein „Märtyrerbewusstsein“ für die Akzeptanz und Unterstützung radikaler oder extremistischer Parteien in der Gesellschaft entsteht.258 Fünf Prozent markiert daher laut BVerfG die Obergrenze des Tolerierbaren.259 Daneben hat die Fünfprozent-Hürde in der Bundesrepublik Deutschland auch für eine Verfestigung des Parteiensystems gesorgt, worin ebenfalls eine stabilisierende Wirkung erkannt werden kann.260 Grund hierfür ist, dass solchen Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, regelmäßig der Einzug in das Parlament nicht gelingt261: So zog die Bayernpartei im Jahr 1953 nicht wieder in den Bundestag ein und erlitt im Folgenden auf sämtlichen politischen Ebenen Stimmverluste; ferner wurde sie seit 1958262 auch nicht mehr in den bayerischen Landtag gewählt. Der BHE (Gesamtdeutscher Block / Bund der Heimatvertriebenen) löste sich 1961 auf, nachdem er im Jahr 1957 nicht mehr in den Bundestag gewählt wurde. Die Piratenpartei, ein Beispiel der jüngeren Vergangenheit, verpasste nach ihrer Gründung im Jahr 2006 sowohl bei der Bundestagswahl 2009, wo sie 2,0 Prozent erreichte, als auch 2013 und 2017 mit Ergebnissen von 2,2 und 0,4 Prozent den Einzug in den Bundestag. Der Einzug in die Landtage gelang ihr 2011 in Berlin, in Nordrhein-Westfalen, Schleswig-Holstein und im Saarland zog die Piratenpartei ebenso wie in Berlin einmalig in den Landtag, ehe ihr bei den darauffolgenden Wahlen in keinem Bundesland der Wiedereinzug gelang. Dies entspricht ihrem Scheitern bei den Bundestagswahlen und dem hier konstatierbaren Abfallen des 256
BVerfGE 6, 84 (93). Klein, HStR III, § 279 Rn. 24. 258 Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 36 f. 259 BVerfGE 34, 81 (100 ff.). 260 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 103, 316. Dasselbe ist in Polen und Slowakei zu beobachten, siehe ebd. m. w. N. 261 Siehe im Folgenden Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 35. 262 Siehe Wahlen zum Bayerischen Landtag 1946–2008, Kennziffer B VII 2-4/Z, abrufbar unter https://www.statistischebibliothek.de/mir/servlets/MCRFileNodeServlet/BYHeft_ derivate_00000656/B7243C%20200951.pdf;jsessionid=E3F1C162508A1550FA786EECB5D 73B83, S. 20. 257
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errungenen Proporzes.263 Auch die von Frauke Petry gegründete Partei „Die Blaue“ verpasste den Einzug in die Landesparlamente Sachsen und Thüringen und löste sich daher Ende 2020 auf.264 Insgesamt wird die Fünfprozent-Hürde im wissenschaftlichen Diskurs entweder über- oder unterbewertet. Mitsamt ihrer Höhe ist sie als angemessenes und verfassungsmäßiges Mittel zugunsten der Funktionsfähigkeit anzusehen; sie erschwert Kleinstparteien den Zugang zum Parlament und leistet jedenfalls einen Beitrag zur Prävention der Parlamentszersplitterung.265 Auch die Fünfprozent-Hürde fördert damit die Mehrheitsfindung im Sinne des Mehrheitsprinzips. Allerdings erschöpft sich die Wirkung der Hürde auf diesen Teilbeitrag: Die Fünfprozent-Hürde verhindert nicht schlechthin den Einzug koalitionsinkompatibler Fraktionen, sobald diese mehr als fünf Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen können. Mußgnug führt dazu aus, dass „nicht jede Partei, die an [der Fünfprozent-Hürde] scheitert, […] die Stabilität der Regierung [gefährde], und nicht jede die sie überspringt, [leiste] einen förderlichen Beitrag zur Politik“.266 Eine erhöhte Anzahl von Parteien im Parlament bedeute für sich genommen noch keine „Lähmung des Parlaments“. Dagegen habe die Klausel „ihre Dienst versagt“, wenn „Protestwähler“ links- oder rechtsextremistische Parteien wählen und ihnen damit den Parlamentseinzug ermöglichen, obgleich diese später als „Sperrminorität“ bei möglichen Koalitionen auftreten und „jede Regierung kompromisslos bekämpft“.267 Zum Teil wird angeführt, dem begegne das Grundgesetz stattdessen durch die Option eines Parteienverbots nach Art. 21 GG.268 Die Fünf-Prozent-Hürde führt ihrerseits nicht zwingend zu inhaltlichen Konsensen bzw. zur Mäßigung der Parteienlandschaft und hat auf Bundesebene jedenfalls nicht verhindert, dass sieben Parteien in das Parlament einziehen und die Anzahl der politischen Akteure insoweit gegenüber der frühen Bonner Republik erheblich gestiegen ist. Als Instrument der Verhinderung einer Parlamentszersplitterung ist die Fünf-Prozent-Hürde aber politisch neutral. 3. Fazit: Ideales Wahlrecht? – Stabilität vs. Kompromissbildung Legt das Wahlrecht die „Spielregeln“ für das Gewinnen politischer Macht in einem Staat fest, so kommt dem Wahlrecht in demokratischen Systemen eine immense Bedeutung zu.269 Insbesondere wirkt sich die konkrete Ausgestaltung des 263
https://de.wikipedia.org/wiki/Piratenpartei_Deutschland#Wahlergebnisse. https://www.sueddeutsche.de/politik/petry-blaue-partei-1.4669388. 265 Morlok / Kühr, Wahlrechtliche Sperrklauseln und die Aufgaben einer Volksvertretung, in: JuS 2017, S. 385 (390). 266 Mußgnug, Der Beitrag des Grundgesetzes zur politischen Stabilisierung der Bundes republik, in: ders., Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, S. 53 (60 f.). 267 Mußgnug, Der Beitrag des Grundgesetzes zur politischen Stabilisierung der Bundes republik, in: ders., Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, S. 53 (60). 268 So etwa Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 18. 269 So Parlamentsrecht / Sacksofsky, § 6 Rn. 27; ebenso Meyer, HStR III, § 45 Rn. 13. 264
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Wahlrechts auf die Regierungsbildung aus. Lijphart sieht etwa einen direkten Bezug bzw. eine „Verbundenheit“ der Bevölkerung eines Staates zu dem eigenen Wahlrecht.270 Den Gesetzgeber trifft wegen ebendieser fundamentalen gesellschaftlichen Bedeutung des Wahlrechts die Pflicht, die hierfür relevanten Entwicklungen271 zu beobachten und diesen erforderlichenfalls in Wahlrechtsreformen Rechnung zu tragen.272 Auch in der jüngeren Vergangenheit finden Reformbestrebungen immer wieder Eingang in die Gesetzgebung, entweder weil dies aus politischer Sicht erforderlich erscheint oder weil das BVerfG dem einfachen Gesetzgeber explizit unter Angabe einer Reformfrist die Änderung des geltenden Wahlrechts aufgegeben hat, um die Verfassungsmäßigkeit des Wahlrechts künftig sicherzustellen. Das BVerfG hat in ständiger Rechtsprechung explizit offengelassen, welches Wahlrecht zu bevorzugen ist. Es erklärt lediglich, dass sowohl die Mehrheits- wie auch die Verhältniswahl als traditionelle Systeme Abgeordneten die nach Art. 20 Abs. 2 S. 2, 38 Abs. 1 S. 2 GG erforderliche demokratische Legitimation vermitteln würde. Letztlich sei aber keinem der beiden Systeme der unmittelbare Vorzug zu geben.273 Da die beiden Grundtypen, Verhältniswahl und Mehrheitswahl, antithetisch zu einander stehen, sind die Vorteile des einen Systems gleichwohl als Nachteile des jeweils zu sehen.274 Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Reformen des Wahlrechts mitunter nicht nur rechtlich motivierte bzw. rein sachliche Bestrebungen durch die politischen Akteure angestellt werden. Oftmals schwingt der latente Vorwurf mit, jede Fraktion versuche das für sie und ihre Mandatsgewinnung vermeintlich günstigste System zu etablieren. Das Missbrauchsrisiko wird auch in der jüngeren Rechtsprechung zu Modifikationen des Wahlrechts, hier in Bezug auf die ursprünglich von CDU / CSU und FDP initiierte Abschaffung der Stichwahl des (Ober-)Bürgermeisters bei Kommunalwahlen, erkannt: „Gerade bei der Wahlgesetzgebung besteht aber die Gefahr, dass die jeweilige Parlaments mehrheit sich statt von gemeinwohlbezogenen Erwägungen vom Ziel des eigenen Macht erhalts bzw. dem eigenen Vorteil leiten lässt. Aus diesem Grund unterliegt die Ausgestaltung des Wahlrechts nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle, die sich auch auf gesetzgeberische Prognoseentscheidungen erstreckt.“275
Wegen ebendieses Risikos hat es sich in der parlamentarischen Praxis durchgesetzt, dass Wahlrechtsreformen stets im Einvernehmen mit den Oppositions 270
Lijphart, Patterns of Democracy, S. 130 f. Vgl. Nohlen, Zur Reform von Wahlsystemen: Internationale Erfahrungen und der deutsche Fall, in: ZfP 2011, S. 310; zustimmend Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, in: ZRP 2017, S. 197 (198). 272 Hömig / Wolff / Risse / Witt, GG Art. 38 Rn. 33. 273 BVerfGE 95, 335 (352); so auch Hömig / Wolff / Risse / Witt, GG Art. 38 Rn. 33. 274 Nohlen, Wahlrecht und Parteiensystem, S. 145. 275 VerfGH NRW, Urteil vom 20. 12. 2019, 35/19, S. 50. Zur Rechtsprechung des BVerfG siehe vgl. BVerfGE 120, 82; 129, 300 Rn. 91; 135, 259 Rn. 59; zustimmend: Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 157. 271
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fraktionen erfolgen.276 Aktuelle Reformbestrebungen sind allenfalls durch die Bundestagsgröße motiviert; insbesondere die gestiegenen Kosten des „größten Bundestages“ der Geschichte werden als Argument für das Erfordernis einer Modifikation genannt. Dabei reichen die Vorschläge von einer Verringerung der Anzahl der Wahlkreise von 299 auf 250 bis hin zu einer völligen Umstrukturierung des Wahlrechts in Form von der Etablierung eines reinen Verhältniswahlrechts277, wohingegen die Einführung eines reinen Mehrheitswahlrechts für politisch „kaum zu realisieren“ gehalten wird.278 Die aktuellen Änderungen, die insbesondere die Verringerung der Wahlkreise von 299 auf 280 enthält279, wird von der Opposition als „politische Mogelpackung“280 bezeichnet und veranlasste die Bundestagsfraktionen von FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke eine einstweilige Anordnung vor dem BVerfG zu beantragen.281 Andere, zum Teil unfundierte Vorschläge betreffen dagegen die Absicht, die Wahlbeteiligung etwa durch Etablierung von Wahlparaden, also festlichen Umzügen auf den Straßen am Wahltage nach dem Beispiel der Russischen Föderation zu steigern und somit vermeintlich sachdienliche Wahlergebnisse zu erhalten.282 Auch eine Wahlpflicht wird als Beitrag zur erforderlichen „Wiederbelebung“283 der deutschen Demokratie angeführt, wobei aber nicht erkennbar ist, dass eine solche Pflicht oder gar die Etablierung von Volksparaden am Wahltag empirisch in einem Zusammenhang mit der Größe des Bundestages oder den erschwerten Bedingungen der Regierungsbildung stehen. Obgleich jene Bestrebungen für geeignete Verkleinerungsmaßnahmen bereits seit Beginn der 19. Legislaturperiode bestanden, ist zum gegebenen Zeitpunkt jedenfalls keine einvernehmliche Reformbestrebung erkennbar. Mehrheiten für grundlegende Änderungen, also etwa der Abkehr von der personalisierten Verhältniswahl für die Einführung eines reinen Mehrheits- oder Verhältniswahlsystems, sind nicht erkennbar.284 276
Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 157. Schönberger, https://verfassungsblog.de/auf-dem-weg-zum-nationalen-volkskongresswarum-die-geschichte-der-personalisierten-verhaeltniswahl-auserzaehlt-ist/. Schönberger begründet ihre Ansicht mit empirischen Belegen dazu, dass nur 37 Prozent der Menschen einen Kandidaten ihres Wahlkreises namentlich benennen könnten und befürwortet daher das reine Verhältniswahlrecht. 278 Schwarz, Neuregelung der Regierungsbildung?, in: ZRP 2018, S. 24. 279 26. Änderungsgesetz zum Bundeswahlgesetz (Bundestag Drucks. 19/22504); Änderung des BWG durch Art. 1 des Gesetzes vom 14. November 2020 (BGBl. I S. 2395). 280 https://www.merkur.de/politik/politische-mogelpackung-fdp-linke-und-gruene-ziehenwegen-wahlrechtsreform-vors-bundesverfassungsgericht-zr-90114375.html. 281 https://www.tagesspiegel.de/politik/fdp-linke-und-gruene-klagen-vor-bundesverfassungs gericht-warum-karlsruhe-das-wahlrecht-der-groko-stoppen-soll/26871500.html. 282 So Thiele, Neugestaltung des Wahlrechts zur Wiederbelebung der Demokratie, in: ZRP 2017, S. 105 (107). 283 Fragwürdig erscheint bereits die metaphorische Darstellung des Anliegens. 284 So auch Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 157. 277
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Unabhängig davon, ob oder welche politischen Mehrheiten derzeit eine grundlegende Umstrukturierung befürworten könnten, soll die Frage nach dem „idealen“ und daher konkret einzuführenden Wahlrecht bzw. seine Ausgestaltung an dieser Stelle offenbleiben. Sollte jedoch ein Mehrheitswahlrecht eingeführt werden, ginge damit notwendigerweise die vollständige Umstrukturierung der Wahlkreise und ihrer Anzahl einher; die Wahlkreise müssten verkleinert werden, die Anzahl der Wahlkreise müsste erhöht werden.285 In diesem Falle wäre aber jedenfalls eine starke Reduktion der Parteien bis hin zur Etablierung eines Zwei-Parteien-Systems wahrscheinlich. Zwar würde die Regierungsbildung hierdurch stark vereinfacht: Bereits das Wahlergebnis offenbarte dann, welche Fraktion die künftige Regierungsrolle einnehmen würde. Eine solche Entwicklung stünde dem Gedanken einer pluralen, offenen Demokratie entgegen: In einer demokratischen Grundordnung ist eine Vielfalt von Meinungen, auch jene Meinungen der „Minderheit“ und deren Interessen gerade gewollt. Anders ausgedrückt: Die Beteiligung und Inkorporation von Minderheiten ist in einer Demokratie systemnotwendig.286 Wegen seiner fundamentalen Bedeutung für Demokratie, Gesellschaft, Volksrepräsentation und letztlich auch für den Parlamentarismus sollte das Wahlrecht nicht nur im Lichte von Stabilitätsaspekten bewertet werden, sondern sich dennoch an den Gegebenheiten und Strukturen der Gesellschaft orientieren. Für sich genommen ist Parteienpluralismus auch systemimmanent und stellt kein Strukturproblem dar, solange dieser das Mehrheitsprinzip nicht so beeinträchtigt, dass eine Mehrheitsfindung schlechthin nicht mehr erfolgen kann.287 Eine gesteigerte Anzahl von Fraktionen findet seine Entsprechung in einer pluralisierten Gesellschaft: Wie der Übergang der Weimarer Republik zur Bonner Republik gezeigt hat, ist die Verhältniswahl durchaus auch fähig, die Verringerung und langjährige Etablierung eines Dreiparteiensystems hervorzurufen, sofern dies den gesellschaftlichen Entwicklungen entspricht.288 Es wäre politisch wie auch verfassungsrechtlich verfehlt, Interessen und Meinungen einer homogenen Masse künftig nur noch durch – im drastischsten Falle – zwei Parteien repräsentieren zu lassen und Einbußen an Meinungsvielfalt um den Preis der vereinfachten Regierungsbildung zuzulassen, indem die Anzahl der Parteien institutionell gesteuert wird. Stattdessen ist die Wahl zwar als notwendige Basis für künftige Regierungen, aber gleichwohl als hiervon zu trennende Formulierung des Volkswillens zu sehen. Das Wahlrecht schafft und formt insoweit diejenigen Bedingungen, die später maßgeblich für die Mehrheitsfindung im Sinne des systemnotwendigen Mehrheitsprinzips ist. Während der Wähler das Parlament wählt, ist es für die repräsentative Demokratie gerade charakteristisch, dass die Wahl des Bundeskanzlers nicht unmittelbar durch die Bundestagswahl determiniert ist, sondern es Aufgabe im Sinne der Kreationsfunktion des Parlaments ist, den Bundeskanzler zu wählen. In Debat 285
So etwa Boehl, Zu viele Abgeordnete im Bundestag?, in: ZRP 2017, S. 197 (198). So auch Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 35. 287 Vgl. Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in: JuS 2018, S. 929 (930). 288 Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (98). 286
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ten sollten daher solche Vorkehrungen im Vordergrund stehen, die das Parlament bzw. die einzelnen in das Parlament eingezogenen Fraktionen anhalten, sich der Regierungsverantwortung zu stellen: Es ist die Aufgabe der gewählten Parlamentarier, eine Regierung zu bilden, sich zu einer Mehrheit zusammen zu finden oder gegebenenfalls Koalitionen zu bilden oder eine Minderheitsregierung zu tolerieren. Es sollte Berücksichtigung finden, dass es nicht die Aufgabe des Wählers ist, durch sein Wahlverhalten oder durch die allgemeine drastischere Konzentration eines weiteren Meinungsspektrums zu einem politischen Lager solche Verhältnisse zu „erwählen“, die es den Parlamentariern besonders einfach gestaltet, eine Regierung ins Amt zu berufen. Ein Wähler kann gerade keine Koalitionen wählen, sondern vergibt seine Stimmen an einzelne Kandidaten bzw. an eine Liste. In Bezug auf die eingangs aufgeworfenen Untersuchungsfragen ist festzustellen, dass die Wahrscheinlichkeit des Regierens einer Minderheitsregierung unter anderem durch das Wahlrecht gestiegen ist. Die im Kern als Verhältniswahl einzuordnende personalisierte Verhältniswahl tendiert bereits ihrem Wesen nach zu einer Pluralisierung des Parteienspektrums im Parlament. Hinzu kommt die konkrete Ausgestaltung als einer mit Elementen der Mehrheitswahl verbundenen Verhältniswahl, wodurch aufgrund des Stimmensplittings ein Ausgleichsbedürfnis entsteht, das wiederum zur quantitativen Steigerung politischer Akteure, der Parlamentarier selbst, führt. Als Ausgangspunkt für Regierungsbildungen schafft das in der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Bundestagswahlen praktizierte Wahlsystem solche Bedingungen, die eine Koalitionsbildung unabdingbar machen und diese aber gleichzeitig verkomplizieren: Die Koalitionsfähigkeit wird dadurch beeinträchtigt und die Bildung einer Mehrheitsregierung erschwert.
II. Verminderte Koalitionsbereitschaft für die Bildung einer formellen Mehrheitsregierung Neben einer „technischen“ Beeinträchtigung der Koalitionsfähigkeit wird im Folgenden dargelegt, dass auch die Koalitionsbereitschaft als zweiter maßgeblicher Faktor für Koalitionsbildung durch Veränderungen insbesondere bei der Regierungsbildung der 19. Legislaturperiode tangiert ist. Unter der Koalitionsbereitschaft ist dabei der durch politische, (wahl-)taktische und ideologische Grad der Bereitwilligkeit einer Partei zum Eingehen einer Koalition zu verstehen. In der 19. Legislaturperiode sind drei Veränderungen289 evident: wie bereits dargelegt stieg die Anzahl der politischen Akteure in Form von Fraktionen und Abgeordneten. Die personalisierte Verhältniswahl wirkt sich insoweit auf die Regierungsbildung aus, als die im Wahlsystem angelegte Pluralisierung der Fraktionen und die Erhöhung der Abgeordnetenzahl eine Koalition erfordern. Ohne Koalition kann jedenfalls keine Mehrheitsregierung amtieren. Die zweite Veränderung ist 289
Im Folgenden Kersten, Parlament und Populismus, in: JuS 2018, S. 929 (931).
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Kap. 2: Die politische Krise
in der Relativierung der Bedeutung sogenannter „Volksparteien“, namentlich von CDU / CSU und SPD, zu sehen.290 Sicherten diese in der Vergangenheit stets zuverlässig die Etablierung einer parlamentarischen Mehrheit, ist die Parteienlandschaft pluralistischer denn je: Die „Effective“ Number of Parties erreichte ihren bisherigen Höhepunkt. Kleinere Parteien, die bislang einen geringeren Stimmenanteil auf sich vereinen konnten, verzeichneten insgesamt einen Bedeutungszuwachs. Die dritte Veränderung ist der Einzug einer Partei, die von sämtlichen anderen Parteien als koalitionsinkompatibel bezeichnet wurde, obgleich sie die drittstärkste Kraft im Parlament darstellt. Die Koalitionsbereitschaft ist insoweit als vermindert anzusehen; der Einzug einer starken, aber koalitionsinkompatiblen Fraktion schmälert im Ergebnis die Koalitionsoptionen und erschwert insgesamt die Bildung einer Mehrheitsregierung. Dies begünstigt die Bildung einer Minderheitsregierung.291 Im vorangegangenen Abschnitt wurde konstatiert, dass die Koalitionsfähigkeit vermindert ist. Nachfolgend soll untersucht werden, ob und wieso auch die Koalitionsbereitschaft als zweiter Bestandteil der Mehrheitsfindung im Kontext der Regierungsbildung als beeinträchtigt anzusehen ist und inwieweit möglicherweise systemimmanente Faktoren die Wahrscheinlichkeit der Bildung einer formellen Minderheitsregierung erhöhen. Ergründet wird dabei, welche Motive Fraktionen bezüglich der Entscheidung über die Übernahme einer Koalitions- oder Oppositionsrolle haben. In diesem Zusammenhang soll auf einschlägige empirische Untersuchungen eingegangen werden; ferner sollen die gescheiterten Koalitionsverhandlungen zu Beginn der 19. Legislaturperiode dargestellt werden. Es wird außerdem auf die Große Koalition sowie die bereits genannte Koalitionsinkompatibilität der Alternative für Deutschland und ihre Rolle für die Regierungsbildung eingegangen. Schließlich soll Populismus als Ursache verminderter Koalitionsbereitschaft und seine Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem thematisiert werden. 1. Motive von Fraktionen zur Ausübung der Regierungs- und Oppositionsrolle a) Empirische Untersuchung der Motive zur Koalitionsbildung Besteht die Frage, welche Motive politische Parteien hinsichtlich der Frage leiten, ob sie eine Regierungs- oder Oppositionsrolle einnehmen, so ist zu analysieren, welche Interessen überhaupt im Koalitionsprozess von den beteiligten Parteien verfolgt werden. Grundsätzlich intendieren politische Parteien, bei der Übernahme der Koalitionsrolle im Rahmen der Verhandlungen, dass möglichst viele Inhalte der 290
Zu dieser Entwicklung auch vgl. Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (5 f.), den möglichen Ursachen siehe Decker, Populismus und der Gestaltwandelt des demokratischen Parteienwettbewerbs, in: APuZ 2012, S. 10. 291 Vgl. Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt, in: ZParl 1977, S. 717 (718).
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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eigenen politischen Ideologie Inhalt des Koalitionsvertrages werden (sog. Policy- Nutzen).292 Weiterer essenzieller Bestandteil von Koalitionsvereinbarungen ist ferner die personelle Besetzung von Ministerämtern. Koalierende Parteien streben die Besetzung möglichst vieler politischer Ämter an (sog. Office-Nutzen); außerdem wird die Besetzung sog. Schlüsselministerien293 intendiert. In der bisherigen Praxis wurden Ministerämter innerhalb einer Koalition proportional zu dem per Wahl erreichten Stimmenanteil vergeben.294 Diese Fragen sollen im Folgenden für die 19. Legislaturperiode der Bundesrepublik beantwortet werden. b) Koalitionsbildung auf Bundesebene in der 19. Legislaturperiode Die Bundestagswahl zur 19. Legislaturperiode erfolgte am 24. September 2017.295 Im Ergebnis zogen insgesamt sieben Parteien in den Deutschen Bundestag ein und bildeten schließlich sechs Fraktionen.296 Die Sitzverteilung ergibt insgesamt 63 verschiedene Konstellationen für Regierungskoalitionen in Form von Mehrheits- und Minderheitsregierung; 32 Konstellationen verfügen – jedenfalls formell – über eine Stimmenmehrheit im Parlament.297 Wie bereits dargestellt298, bestanden dabei elf denkbare Konstellationen einer für die deutsche Praxis typischen minimalen Gewinnkoalition. aa) Unvereinbarkeitsbeschlüsse und Koalitionsinkompatibilitäten Existieren in der Theorie elf mögliche Konstellationen einer minimalen Gewinnkoalition für die 19. Legislaturperiode der Bundesrepublik Deutschland, so ist im Hinblick auf die Kompatibilität der potentiellen Koalitionspartner zu konstatieren, dass die AfD zwar in sechs Fällen, das heißt in mehr als der Hälfte der 292
Im Folgenden Eckhard / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (242); vgl. auch Klecha, Komplexe Koalitionen: Welchen Nutzen bringen sie den Parteien?, in: ZParl 2011, S. 334 (335), der insoweit von „office-seeking“ sowie „policy-seeking“ spricht. 293 Unter Schlüsselministerien sind solche Ministerien zu verstehen, denen durch den Sachbereich, den sie betreffen, in der öffentlichen Wahrnehmung wie auch in politischer Hinsicht eine gegenüber anderen Ressorts herausragende Bedeutung zukommt. Graichen nennt als Beispiele für Schlüsselministerien das Ressort Arbeit und Soziales, Auswärtiges und Finanzen, siehe Eckhard / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (253), siehe außerdem: https://www. vorwaerts.de/artikel/koalitionsvertrag-steht-spd-holt-schluesselministerien. 294 Graichen spricht insoweit von einer allgemeingültigen Norm, die empirisch zur Anwendung kommt, da diese Aufteilungsregel allgemein als „offenkundig überzeugend“ wahrgenommen wird, siehe Eckhard / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (242). 295 Siehe BGBl. 2017 I, S. 74. 296 Für das amtliche Wahlergebnis siehe https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/. CDU und CSU bilden eine Fraktion. 297 Im Folgenden Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (239 f.). 298 Siehe Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (3).
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Kap. 2: Die politische Krise
möglichen Konstellationen, vertreten ist.299 Allerdings haben sämtliche andere Fraktionen eine Koalition mit der AfD schon im Vorfeld der Wahl wegen fehlenden ideologischen Konsenses zwischen den einzelnen Parteien und der AfD beziehungsweise der rechtspopulistischen Ausrichtung der Partei abgelehnt.300 Insofern bestehen sogenannte parteipolitische Unvereinbarkeitsbeschlüsse. Sie bestehen zwar nicht ausschließlich, aber vor allem in Beschlüssen aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien, die sich auf eine politische Kooperation mit der AfD beziehen. Diese führen im Ergebnis dazu, dass sich die theoretisch möglichen minimalen Gewinnkoalitionen auf zunächst fünf Optionen reduzieren. Problematisch ist dabei insbesondere, dass die Alternative für Deutschland die nach Stimmenanteil drittstärkste Kraft im Parlament darstellt und insoweit auch eine Stimmenmehrheit im Sinne der Mehrheitskoalition als Anwendungsfall des Mehrheitsprinzips hätte verschaffen können.301 Wegen dieses Kräfteverhältnisses ist erforderlich, dass mit Ausnahme der Großen Koalition, sich mindestens drei andere, in einem Fall (SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke) sogar vier Fraktionen an der Regierung beteiligen müssten, um eine Mehrheitsregierung zu konstruieren. Neben einem Unvereinbarkeitsbeschluss für eine Regierungskooperation mit der AfD besteht in der CDU / CSU auch ein solcher Beschluss für eine Koalition mit der Linkspartei.302 Nach Reduktion der faktisch elf möglichen Konstellationen um die Unvereinbarkeitsbeschlüsse verbleiben für die 19. Legislaturperiode und ihre Sitzverteilung im Ergebnis nur drei Optionen für die Bildung einer formellen (und materiellen) Mehrheitsregierung: – die Große Koalition aus CDU / CSU und SPD – die Jamaika-Koalition aus CDU / CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen, – eine Koalition aus SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Im Ergebnis wurden die faktisch elf durch die Wahlpraktik geschaffenen möglichen Konstellationen also von vorneherein von den Parteien selbst auf nur drei Optionen einer formellen (und materiellen) Mehrheitsregierung beschränkt, die im Folgenden die Grundlage für Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen darstellte.
299
Vgl. Anlage zum Kapitel 2, Abbildung 2 und 4a. Siehe etwa https://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-2017-historische-verlustefuer-union-und-spd-afd-zweistellig-1.3681185. 301 Finkelnburg befand den erstmaligen Einzug der Bündnis90/Die Grünen für problematisch und erklärte, der Einzug einer möglicherweise nach Stimmanteil gewichtigen, aber nicht koalitionsfähigen Partei erschwere die Bildung einer formellen Mehrheitsregierung, siehe ders., Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 6; vgl. auch Klecha, Komplexe Koalitionen: Welchen Nutzen bringen sie den Parteien?, in: ZParl 2011, S. 334 (336). 302 CDU, Unsere Haltung zur Linkspartei und AfD, S. 2 (Beschluss vom 31. Parteitag, 08. 12. 2018, C 76, C 101, C 164, C 179). 300
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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bb) Gescheiterte Jamaika-Verhandlungen und Neuauflage der Großen Koalition Die zunächst anberaumten Koalitionsverhandlungen zu einer „Jamaika“-Koalition bestehend aus CDU / CSU, FDP und Bündnis 90/Die Grünen scheiterten nach vier Wochen.303 Die FDP gab an, die fehlenden inhaltlichen Übereinstimmungen mit den Zielvorstellungen der Grünen seien ausschlaggebend für den Abbruch der Sondierungsgespräche. Mit der CDU / CSU, so die FDP, habe eine Option zur Einigung und damit auch zur Bildung einer Koalition bestanden. Als problematisch habe sich dagegen die Einigungsfähigkeit bzw. Kompromissbereitschaft zwischen Grünen und FDP erwiesen.304 Während die Option einer „Neuauflage“ der Großen Koalition zwischen CDU / CSU und SPD von der letzteren am Tag der Wahl zunächst ausgeschlossen wurde, nahmen die Parteien nach einer Aufforderung des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier gegenüber sämtlichen Parteien, sich wegen der verfassungsrechtlichen Verantwortung für Verhandlungen offen zu zeigen, Sondierungsgespräche auf.305 Nach einer dreizehntätigen Sondierungszeit wurden Koalitionsgespräche aufgenommen. Schließlich befragte die SPD sämtliche Parteimitglieder per Abstimmung zum Koalitionsvertrag. Eine knappe Mehrheit der SPD-Mitglieder bejahte die Große Koalition, sodass Angela Merkel am 14. März 2018 – das heißt sieben Monate nach der Bundestagswahl – in vierter Amtszeit zur Bundeskanzlerin gewählt wurde. Sie amtierte damit erneut als formelle Mehrheitskanzlerin nach Art. 63 Abs. 1, 2 GG. Werden Office- bzw. Policy-Nutzen für die jeweils beteiligten politischen Parteien innerhalb der drei aufgezeigten Koalitionsoptionen für die 19. Legislatur periode zugrunde gelegt, so ist evident, dass die für die CDU / CSU hinsichtlich des Office-Nutzens günstigste Koalitionsoption eine Koalition mit der SPD darstellt.306 Unter den verbliebenen drei möglichen minimalen Gewinnkoalitionen wäre es für die CDU / CSU am günstigsten, eine Jamaika-Koalition einzugehen. Für die SPD ist in Bezug auf den Policy-Nutzen eine Koalition mit der CDU / CSU optimal; in Bezug auf den Office-Nutzen ist unter den drei aufgezeigten Optionen eine Koalition aus SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke für die SPD am besten. Für die FDP wäre der Policy-Nutzen in einer Jamaika-Koalition höher als in einer Regierungsbeteiligung mit SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linke. Der 303
Siehe etwa Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (209). 304 So Lindner, siehe https://www.sueddeutsche.de/politik/sondierung-fdp-bricht-jamaikasondierungen-ab-1.3755800. 305 Ipsen spricht insoweit von einer „Schlüsselrolle“ der SPD, die aus dem Abbruch der Sondierungsgespräche zur Jamaika-Koalition entstand, siehe Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (213). 306 Siehe im Folgenden Anhang zum Kapitel 2, Abbildungen und 6 bis 8 sowie Eckhard / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (243 ff.).
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Kap. 2: Die politische Krise
Office-Nutzen wäre umgekehrt in ebendieser Koalition für die FDP höher als in einer Jamaika-Koalition. Für die Partei Bündnis90/Die Grünen sind der PolicyNutzen sowie auch der Office-Nutzen in der Koalition zwischen SPD, FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen am höchsten. Je nachdem, wie der Office-Nutzen als Eintrittskriterium in eine Koalition von den jeweils beteiligten Parteien gegenüber dem Policy-Nutzen priorisiert wird, ergibt sich, dass eine Koalition aus CDU / CSU und SPD bereits bei geringerer Priorisierung des Office-Nutzens im Ergebnis für beide Koalitionen den größten Gesamtnutzen hat.307 Der Gesamtnutzen ist für die CDU / CSU zwar insgesamt höher als für die SPD; jedoch fand dies im Koalitionsvertrag dadurch Berücksichtigung, dass der SPD besonders einflussreiche Schlüsselministerien zugestanden wurden. Evident ist, dass die Partei Bündnis 90/Die Grünen eine Jamaika-Koalition nur dann bevorzugen würde, wenn ihnen eine insgesamt einflussreichere Position zukommen würde als der FDP. Die Jamaika-Koalition ist für das Bündnis 90/Die Grünen für sich genommen keine meistpräferierte minimale Gewinnkoalition.308 Faktisch scheiterten die Jamaika-Sondierungen daran, dass die FDP wegen starker Zugeständnisse der CDU / CSU an die Grünen eine Koalition verweigerte.309 Eine besonders Ämter orientierte FDP präferiert die Koalition aus SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linke; bei geringerer Ämterorientierung und daher höherer Policy-Orientierung ist dagegen die Jamaika-Koalition am günstigsten aus Sicht der FDP. Insgesamt ist ein positiver Gesamtnutzen der Koalition für die FDP, Linke und Bündnis 90/Die Grünen nur dann zu verzeichnen, wenn eine allgemein erhöhte Office-Motivation besteht. Bei stärkerer Politikorientierung ist dagegen davon auszugehen, dass diese Parteien jede Regierungsbeteiligung ablehnen. Nach der Modellrechnung Graichens ist im Ergebnis die Große Koalition als Regierungskoalition zu bevorzugen. 2. Populismus als Ursache der Koalitionsinkompatibilität Wie dargestellt ist der Office-Nutzen als Eintrittskriterium in eine Koalition zu sehen, da dieser darüber entscheidet, inwieweit die jeweilige Fraktion mit der Übernahme von politisch gewichtigen Ministerposten betraut wird. Der Office-Nutzen ist dabei zu ermitteln, indem der eigene bei der Wahl errungene Sitzproporz zu dem des potentiellen Koalitionspartners bzw. der potentiellen Koalitionspartner berücksichtigt wird. Der Policy-Nutzen orientiert sich an dem Grad der Übereinstimmung 307
Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (246, 248); siehe Anhang zum Kapitel 2, Abbildung 6. 308 Das Bündnis 90/Die Grünen hatte bereits im Vorfeld der Sondierungsgespräche angekündigt, nur eine Regierungskoalition einzugehen, wenn ihr „10 Punkte-Plan“ Einhalt in den Koalitionsvertrag finden würde; vgl. https://www.spiegel.de/politik/deutschland/bundestagswahlgruene-stimmen-fuer-jamaika-sondierungen-mit-cdu-csu-und-fdp-a-1170784.html. 309 Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (249, 253).
B. Ursachen der erschwerten Regierungsbildung
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von programmatischen und ideologischen Positionen der potentiellen Koalitionspartner. Als eine Ursache der fehlenden oder verminderten Koalitionsbereitschaft durch Reduktion denkbarer minimaler Gewinnkoalitionen ist Populismus zu sehen. Mit dem Einzug der rechtspopulistischen und rechtsextremistischen AfD310 in den deutschen Bundestag reduzierten sich, wie dargestellt, die Möglichkeiten von Mehrheitskoalitionen. Die AfD gilt unter den anderen im Bundestag vertretenen politischen Parteien aufgrund ihrer populistischen und rechtsextremistischen Ausrichtung einhellig als koalitionsinkompatibel. a) Zum Begriff des Populismus Eine klare oder allgemeingültige Definition des Populismusbegriffs wird einhellig für unmöglich befunden und abgelehnt, weil der Terminus unscharf und unklar ist.311 Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch ist unter Populismus eine „von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik“ zu verstehen, welche „das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen (im Hinblick auf Wahlen) zu gewinnen“.312 Einigkeit besteht darin, dass Populismus ein Phänomen der Moderne darstellt.313 Er ist ein „zyklisches Phänomen“ und ist dementsprechend anpassungsfähig für „neue Bezugssysteme“, zu welchen populistische Akteure sich regelmäßig in eine „Anti-Beziehung“ setzen.314 Populismus erhält erst durch das Hinzutreten einer bestimmten Ideologie eine politische Ausrichtung und ist insoweit nicht selbst als „vollausgebaute Ideologie“ wie etwa „der Liberalismus oder Kommunismus“ zu verstehen; grundsätzlich ist Populismus für sich genommen neutral, was seine politische Ausrichtung betrifft315 und potentiell mit jeder politischen Ideologie kombinierbar.316 Jan-Werner Müller geht davon aus, Populismus sei als eine „Politikvorstellung“ zu bezeichnen, „laut der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen – wobei diese Art von Eliten eigentlich gar 310
https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtspopulismus/271484/die-afd-werdegang-undwesensmerkmale-einer-rechtsaussenpartei. 311 Vgl. Otten / Sicking / Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, S. 29; Dahrendorf, Acht Anmerkungen zum Populismus, in: Transit 2003, S. 156; Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 2004, S. 541 (542). 312 https://www.duden.de/rechtschreibung/Populismus. 313 Schenk / Hoffarth / Mayer, Populismus, Protest – und politische Bildung, S. 627 (628); Müller, Was ist Populismus?, S. 18, 26; Otten / Sicking / Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, S. 29 (30). 314 Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 m. w. N. 315 Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 2004, S. 541 (544); zustimmend Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (121). 316 Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (3 f.) m. w. N.; dies., Definitionen und Typologien des Populismus, in: Soziale Welt 2011, S. 185 (190); siehe auch Otten / Sicking / Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, S. 29 (30); Dahrendorf, Acht Anmerkungen zum Populismus, in: Transit 2003, S. 156 (158).
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Kap. 2: Die politische Krise
nicht wirklich zum Volk gehören.“317 Cas Mudde nimmt dagegen an, Populismus erfülle die Merkmale einer politischen Ideologie und definiert ihn als „an ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic groups, ‚the pure people‘ versus ‚the corrupt elite‘, and which argues that politics should be an expression of the volonté generale (general will) of the people“.318 Priester bezeichnet Populismus aufgrund seiner programmatischen Variationsbreite als „Strategie des Machterwerbs“.319 Merkmale des Populismus sind demnach die anti-pluralistische und anti-elitäre Ausrichtung320, die sich in einem eigenen Repräsentationskonzept durch ein entsprechendes Verständnis des repräsentierten Volkes niederschlägt.321 Er ist in der Folge nicht als Substanz-, sondern vielmehr als Relationsbegriff zu begreifen, denn seine Bestimmung erfolgt ausschließlich anhand der oben genannten „Anti-Beziehung“, in welche er sich zu einem bestimmten Kontrahenten stellt.322 Nichtsdestoweniger ist nicht jede politische (System-)Kritik schlechthin als populistisch anzusehen.323 Einem demokratischen Gefüge, das Mehrheitsentscheidungen erfordert, ist Systemkritik auch unter Berufung des Volkswillens immanent: Entscheidet nach dem Mehrheitsprinzip die Mehrheit und geht die Staatsgewalt gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG vom Volke aus, so ist es durchaus möglich, sich politisch auf ebendiesen Volkswillen zu berufen, um eigene Meinungen oder gar das eigene politische Abstimmungsverhalten etwa im Parlament zu legitimieren, ohne jedoch zwingend als populistisch eingeordnet zu werden.324 Zum Teil wird die Grenze zwischen demokratischem Diskurs und populistischer Vereinfachung oder Pauschalisierung für fließend und daher nicht einfach zu ziehen gehalten.325
317
Müller, Was ist Populismus?, S. 42. Mudde, The Populist Zeitgeist, in: Government and Opposition 2004, S. 541 (543). 319 Priester, Definitionen und Typologien des Populismus, in: Soziale Welt 2011, S. 185. 320 Priester geht davon aus, dass „[l]inker Populismus“ generell „durch Partizipation und Ressourcenumverteilung die Inklusion unterprivilegierter Bevölkerungsschichten in ein parastaatliches, parlamentarisch nicht kontrolliertes Klientelsystem“ anstrebe; „[r]echter Populismus“ dagegen „betreibt […] die Exklusion von Menschen („Sozialstaatsschmarotzer“, Immigranten, Asylbewerber, ethnische Minderheiten) und reserviert politische und soziale Teilhaberechte nur für die eigene autochthone Bevölkerung“. Siehe Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3. 321 So auch Otten / Sicking / Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, S. 29 (30). 322 Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (4). 323 Der Vorwurf, ein politischer Akteur äußere sich populistisch wird im politischen Diskurs häufig vorschnell angebracht, vgl. Otten / Sicking / Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, S. 29 (41). 324 Müller, Was ist Populismus?, S. 61 f. 325 Vgl. Dahrendorf, Acht Thesen zum Populismus, in: Transit 2003, S. 156; Otten / Sicking / Puhle, Populismus: Form oder Inhalt?, S. 29 (41, 44). 318
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b) Populismus im parlamentarischen Regierungssystem Unabhängig davon, ob Populismus selbst als vollwertige Ideologie, politische Strategie oder anders eingeordnet wird, wirkt Populismus insgesamt als politisches Phänomen erschwerend für die Bildung einer Mehrheitsregierung und begünstigt im Umkehrschluss die Bildung von formellen Minderheitsregierungen: Mit seiner antidemokratischen und anti-pluralistischen Ausrichtung steht Populismus im Widerspruch zu der im Grundgesetz ausgestalteten freiheitlich-demokratischen Grundordnung.326 Ausgangspunkt und Grundlage für die insoweit bestehenden Widersprüche zum im Grundgesetz ausgestalteten demokratischen und pluralistischen Systems ist zunächst, dass Populisten behaupten, „im Besitz der Wahrheit [zu sein], (…) also die Einsicht in das für alle Richtige“ zu haben.327 Dadurch, so Voßkuhle, legitimiere die jeweilige Partei ihr Parteiprogramm: „Ein dergestalt vom allwissenden und moralisch reinen Volk abgeleitetes, ja mit dessen Anschauungen eigentlich identisches Parteiprogramm [kann] keinem diskursiven Rechtfertigungszwang mehr ausgesetzt sein […].“328 Der Besitz eines insoweit überlegenen Wissens bzw. der Besitz einer absoluten Wahrheit und die Berufung auf einen vermeint lichen „common sense“329 ist mit der starken Vereinfachung und Pauschalisierung komplexer Sachverhalte verbunden: So neigen Populisten dazu, vermeintlich einfache, rasche und oberflächliche Antworten auf schwierige, langwierige Fragen zu geben und die Komplexität politischer Diskussion dadurch zu reduzieren. Dabei wird vorgegeben, diese Vereinfachung stelle „die Sicht des Volkes“, also die Sicht des unmittelbaren Volkes selbst, dar.330 Dies sei „der ‚gesunde Menschenverstand‘“ und „dem Reflexionswissen von Intellektuellen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen, weil er auf konkreter, lebensweltlicher Erfahrung beruhe, noch nicht vom Virus des modernen Skeptizismus infiziert sei und daher noch einen unverfälschten ‚gesunden‘ Zugang zu Recht und Wahrheit habe“.331 Ein demokratisches System basiert indes eben auf der Annahme, dass es im politischen Diskurs keine absolute, allgemeingültige „Wahrheit“ existiert. Auch die nach den Prinzipien des Mehrheitsprinzips getroffenen Entscheidungen werden nicht als absolut richtig begriffen, sondern vielmehr als „widerlegliche Vermutung der Richtigkeit“.332 Es wird allenfalls angenommen, dass mehrheitliche Entscheidungen eine „relativ“ richtige Entscheidung zur gegebenen Zeit und im gegebenen 326
Im Folgenden Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (122 f.). Priester führt als Beispiel hierfür eine Aussage der „Bürgerbewegung Pro Deutschland“ an: „Das gemeine Volk weiß noch zwischen der Wahrheit und Unwahrheit zu unterscheiden, es hat gemeinhin noch ein gesundes, unverfälschtes Urteilsvermögen (…)“, siehe dies., Rechter und linker Populismus, S. 41. 328 Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (122). 329 Priester, Merkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (4). 330 Lövenich, Dem Volk aufs Maul. Überlegungen zum Populismus, in: Politische Vierteljahresschrift 1982, S. 22 (24). 331 Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (4). 332 Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 10. 327
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Kap. 2: Die politische Krise
Kontext darstellen können.333 Weiter ist eine Demokratie insbesondere auch nicht auf die Vereinfachung komplexer Fragen, sondern gerade auf Komplexität und auf einen entsprechenden inhaltlichen Diskurs ausgerichtet. Das im Grundgesetz gezeichnete Konzept zur Entscheidungsfindung knüpft nicht an die Vorstellung einer homogenen, sondern einer heterogenen Bevölkerung: So normiert Art. 3 Abs. 1 GG das allgemeine Gebot der Gleichbehandlung und Art. 3 Abs. 2, 3 GG beinhaltet das Verbot der rechtlichen Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem auf Basis von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion, Sprache oder sonstigen dort genannten personenbezogenen Merkmalen. Dabei werden sämtlichen Staatsbürgern bzw. Menschen dieselben Freiheiten in Form von Deutschen-Grundrechten bzw. Menschenrechten gewährleistet. Kommunikationsgrundrechte, die Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Fall GG sowie die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 8 bzw. Art. 9 GG, stehen als fundamentaler Bestandteil der demokratischen Grundordnung sämtlichen Individuen bzw. Staatsbürgern im Sinne des Art. 116 Abs. 1 GG zur Verfügung334: Diese werden jeweils in die Lage versetzt, ihre eigene politische Überzeugung ohne einen absoluten Geltungsanspruch zu offenbaren. Die staatliche Ordnung der freiheitlichen Demokratie, so das BVerfG, erfordere, dass „jedes Glied der Gemeinschaft“ entsprechende Mitbestimmungsrechte für Gemeinschaftsentscheidungen frei wahrnehmen kann. Die Prävention des Machtmissbrauchs sei zentrale Aufgabe der freiheitlichen Demokratie; daher sollten „die Wege für alle denkbaren Lösungen [offengehalten werden]“.335 Zuletzt sind für die Entscheidungsfindung im Gesetzgebungsprozess die Vorschriften aus Art. 42 Abs. 2, 77 Abs. 1 GG maßgeblich. Entscheidungen werden jedenfalls und mindestens von der Mehrheit der Stimmberechtigten getroffen. Danach ist nur erforderlich, dass die Hälfte der anwesenden Abgeordneten für die Annahme eines Gesetzes stimmt, nicht aber, dass sämtliche Abgeordnete ihre Zustimmung erteilen.336 Gleichwohl sind sämtliche Abgeordnete und auch die gesamte Bevölkerung in einer Demokratie angehalten, Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren. Als problematisch erweist sich, dass Populismus als Teil der in einer Demokratie fundamentalen Meinungsfreiheit von ebendieser gedeckt und gleichzeitig ermöglicht wird. Nachfolgend soll anhand der anti-institutionellen (bzw. anti-parlamentarischen) und anti-pluralistischen Ausrichtung des Populismus aufgezeigt werden, inwieweit dieser einer Mehrheitsfindung im Sinne einer Koalitionsbildung – im Kontext der Regierungsbildung – entgegensteht und wieso Populismus insoweit als ein die Minderheitsregierung fördernder und die Mehrheitsregierung beein 333
Ausführlich hierzu siehe Kapitel 2 A. I. 1. b) aa). Die Meinungsfreiheit hat das BVerfG als „schlechthin konstituierend“ für die demokratische Ordnung bezeichnet, siehe BVerfGE 8, 104 (112); die Versammlungsfreiheit ist ein „unentbehrliches Funktionselement“, siehe BVerfGE 69, 315 (344 f.). Siehe außerdem BVerfGE 7, 111 (119); 20, 99; 27, 71 (81); stellvertretend für viele siehe Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts Rn. 161; Kloepfer, HStR III, § 42 Rn. 44 ff.; Maunz / Dürig / Grzeszik, GG Art. 20 Rn. 17; Hömig / Antoni, GG Art. 20 Rn. 3; Münch / Kunig / Schnapp, GG Art. 20 Rn. 22. 335 BVerfGE 5, 85 (198 f.). 336 Siehe auch Kapitel 2 A. I. 1. b) aa) und insbesondere Heun, Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, S. 93 ff.; Stern, Staatsrecht I, S. 610; Parlamentsrecht / Sacksofsky, § 6 Rn. 3. 334
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trächtigender Faktor anzusehen ist. Hierzu werden die Ausrichtungen zunächst dargestellt. Im Nachgang wird erörtert, inwiefern hiervon die Koalitionsbereitschaft tangiert ist, indem die Rolle des Populismus bei der Regierungsbildung der 19. Legislaturperiode dargestellt wird. aa) Anti-institutionelle Ausrichtung: Identität statt Repräsentation Obgleich populistischer und demokratischer Diskurs oftmals schwer voneinander zu trennen sind, ist Populismus als solcher insgesamt als anti-demokratisch und anti-parlamentarisch, als anti-institutionell bzw. institutionenfeindlich zu deklarieren.337 So ist Populismus dadurch gekennzeichnet, dass er ein Repräsentationskonzept im Sinne eines identitären Volksverständnisses verfolgt. So behaupten Populisten, sie allein seien und repräsentieren „das Volk“, wobei ebendieses „wahre Volk“ als homogene Einheit begriffen wird.338 Populisten beanspruchen für sich eine „moralische Alleinvertretung“ und streben vielfach eine direktdemokratische, präsidentielle Demokratie an.339 Zwar gelangt eine populistische Partei durch Wahlen in das Parlament; der Populismus bedient sich also eines demokratischen Mittels.340 Dessen ungeachtet ist im Zusammenhang mit der anti-demokratischen Ausrichtung wegen dieser Bestrebungen von der Einführung direktdemokratischer Elemente und einer präsidentiellen Demokratie insbesondere auch eine anti-parlamentarische Ausrichtung von Populismus evident. Direktdemokratische Elemente wie Referenden und Plebiszite sieht das Grundgesetz explizit nur im Falle der neuen Verfassungsgebung nach Art. 146 GG oder bei der Neugliederung des deutschen Bundesgebietes nach Art. 29 GG vor. Es handelt sich dabei um Ausnahmefälle; Gesetze werden ausschließlich durch das Parlament und mitwirkenden Staatsverfassungsorganen verabschiedet. Nur eine Verfassungsänderung könnte weitere direktdemokratische Elemente ermöglichen.341 Auch das „Repräsentationskonzept“ in Form eines geltend gemachten „Alleinvertretungsanspruchs“ des „Volkes“ widerspricht der im Grundgesetz verankerten und ausgestalteten parlamentarischen Demokratie.342 Das populistische Repräsentationskonzept verweist auf ein vormodernes Repräsentationsmodell, welches Ähn 337
Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (5). Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (119 ff.); Müller, Was ist Populismus?, S. 18 ff.; 26 ff.; 67 ff.; zustimmend Kersten, Parlament und Populismus, in: JuS 2018, S. 929. 339 Müller, Was ist Populismus?, S. 26. 340 Dahrendorf, Acht Thesen zum Populismus, in: Transit 2003, S. 156 (161). 341 Die Frage, ob eine solche Änderung insgesamt „demokratischer“ wäre als die geltende Delegation des politischen Willens an „Vertreter“ des deutschen Volkes soll hier offenbleiben; vgl. hierzu etwa Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (128); ders., Über die Demokratie in Europa, in: APuZ 2012. S. 3 (5). 342 Ob und welche Form von „Repräsentation“ im Grundgesetz gezeichnet wird, kann an dieser Stelle dahinstehen. Ausführlich hierzu: Boldt, Was ist „moderne politische Repräsentation“?, in: ZPol 2008, S. 105–126. 338
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Kap. 2: Die politische Krise
lichkeiten zu jenem in der Ständegesellschaft aufweist343: Die für sich beanspruchte Alleinvertretung bzw. die einheitliche Repräsentation des Volkes basiert auf dem homogenen Volksverständnis. Bereits die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe bzw. die Zugehörigkeit zum „Volk“ geht automatisch mit einer „einheitlichen Interessenlage und schließlich gleichen politischen Präferenzen“ einher“.344 Gemäß Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG sind die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes“. Geht das Grundgesetz von einem heterogenen Volk aus, kann nur die Gesamtheit der Abgeordneten die Volksvertretung überhaupt darstellen.345 Umgekehrt können einzelne politische Parteien oder Fraktionen immer nur Gemeinwohlvorstellungen eines Teiles der Bevölkerung umsetzen.346 Unabhängig davon, welches Konzept von „Volksvertretung“ oder moderner politischer „Repräsentation“ im Grundgesetz als Aufgabe von Abgeordneten oder Parlament zu sehen ist, ist der Begriff des „Volkes“ in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG ohnehin auf die Wahlberechtigten bzw. die Aktivbürgerschaft limitiert. Die Aufgabenzuweisung „Volksvertretung“ meint keine Darstellung des gesamten Volkes im Sinne einer Repräsentation, wie es die populistische Politikstrategie verfolgt. Vielmehr wird anhand der Parlamentswahl durch die Wahlberechtigten ein Zusammenhang zwischen Staatsvolk und Staatsgewalt hergestellt, der letztlich die Verknüpfung von Rechtsstaatlichkeit und Mehrheitswillen begründet.347 Diese Verknüpfung wird innerhalb des populistischen Repräsentationskonzepts aufgehoben oder verhindert.348 bb) Anti-pluralistische Ausrichtung: Homogenität statt Pluralität Weiter ist Populismus „zwangsläufig“ anti-pluralistisch ausgerichtet.349 Populisten üben Systemkritik an dem modernen System. Das repräsentierte „Volk“ sei nach dem populistischen Verständnis der Gegensatz zur sogenannten „Elite“, wobei Uneinigkeit hinsichtlich der Trennung beider Gruppierungen besteht. Weitgehend werden jedenfalls politische Funktionsträger, etwa die jeweilige Regierung und das Parlament, der „Elite“ als konträre Gruppierung zum „Volk“ zugeordnet.350 Nach der Vorstellung von Populisten existiert nur ein „moralisch reines Volk“; ein hierauf bezogener Widerspruch ist bereits deshalb nicht legitim, weil er den von 343
Im Folgenden Müller, Was ist Populismus?, S. 47. Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (126). 345 Parlamentsrecht / Morlok, § 3 Rn. 45. 346 Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (126). 347 Vgl. Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (5). 348 Vgl. Voßkuhle, Demokratie und Populismus, in: Der Staat 2018, S. 119 (127). 349 Zur antipluralistischen Ausrichtung bzw. dem antirepräsentativen Demokratieverständnis siehe nur Schmitt, Verfassungslehre (1929), S. 235. 350 Brinkmann / Panreck, Rechtspopulismus – historisches Phänomen, politischer Kampfbegriff, analytisches Konzept?, S. 25 ff. mit weiteren Nachweisen und Darstellung zum Meinungsstand: Teilweise wird davon ausgegangen, Bildungsstand und Schichtzugehörigkeit würden bestimmen, wer zur „Elite“ gehöre; teilweise wird erklärt, Populismus sei generell keine Strömung der unteren Mittelschicht. 344
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Populisten geltend gemachten Alleinvertretungsanspruch dementiert. Ein homogener Volksbegriff ist dem Grundgesetz demgegenüber fremd.351 c) Die Rolle des Populismus in der BRD Insgesamt verfolgt Populismus eine „Anti-Politik“352 und übt Kritik an bisherigen Regierungen. In der 19. Legislaturperiode bestand bei keiner im Bundestag vertretenen Fraktion die Bereitschaft, mit der AfD zu koalieren, obgleich diese als drittstärkste Kraft im Parlament in sechs Konstellationen eine minimale Gewinnkoalition hätte ermöglichen können.353 Problematisch ist, dass populistische politische Akteure, so auch die AfD, sich in der Lage sehen, bestimmte Teile der Gesellschaft als Wählerschaft zu mobilisieren. Gleichwohl erweist sie sich mit ihrer radikalisierten Ideologie und der Systemkritik als mit demokratischen Parteien koalitions- und damit als regierungsunfähig. So fiel die Partei dadurch auf, dass Führungspersönlichkeiten unter der Verwendung nationalsozialistischer Rhetorik354 völkische Ideologien in Bezug auf die „Flüchtlingskrise“ und generell zu Immigration von Menschen in die Bundesrepublik Deutschland artikulierten. Unabhängig davon, dass die AfD radikalisierte Positionen durch populistische Strategie in den Bundestag einführt, ist eine Koalitionsfähigkeit der Partei bereits dadurch vermindert, als die Systemkritik den gesamten demokratischen Diskurs und die demokratische Ordnung im Staatsgefüge betrifft und ergo bereits auf Ebene von Grundsatzentscheidungen über die Funktionsweise des Staatsapparats zu konstitutiven Dissensen führt.355 Auch setzt sich die AfD stets in Anti-Beziehung zu den Volksparteien, zu demokratischer Ideologie und zu Mehrheitsentscheidungen. d) Fazit: Populismus – Unzulänglichkeit der Demokratie? Populismus hat angesichts seiner insgesamt demokratiefeindlichen Ausrichtung weitreichende Konsequenzen für die Regierungsbildung. Zwar können vereinzelt populistische Aussagen in jeder Partei festgestellt werden. Ist Populismus jedoch nicht nur stark vereinfachend, sondern vor allem auch demokratie- und institutionenfeindlich einzustufen, führt er zur Regierungsunfähigkeit oder jedenfalls 351
Möllers, Demokratie. Zumutungen und Versprechen, S. 48 f. Priester, Wesensmerkmale des Populismus, in: APuZ 2012, S. 3 (5). 353 Vgl. im Folgenden insbesondere Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in JuS 2019, S. 929 (933). 354 https://www.tagesspiegel.de/politik/gefaehrliche-rhetorik-der-afd-gaulands-sprache-istder-schlecht-verkleidete-jargon-von-gangstern/25569590.html; https://www.zeit.de/zustimm ung?url=https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fpolitik%2Fdeutschland%2F2020-02%2Frechterterror-rechtsextremismus-hanau-5vor8%2Fseite-2. 355 Vgl. die allgemeinen Ausführungen über radikalisierte Fraktionen und ihre Koalitionsunfähigkeit bei Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 40. 352
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Kap. 2: Die politische Krise
zur Koalitionsinkompatibilität. Indem Populisten für sich den alleinigen Wahrheits- und Vertretungsanspruch geltend machen, suggerieren sie, dass ein in der Demokratie unerlässlicher Kompromiss mit den „etablierten“ Parteien undenkbar ist. Die stattdessen stetig artikulierte Anti-Beziehung zu ihnen schließt damit den politischen Einigungsprozess zur Erzielung einer für die Demokratie erforderlichen Mehrheit aus. Damit wird die Bildung einer Minderheitsregierung wahrscheinlicher. Obgleich eine antidemokratische Ausrichtung deutlich erkennbar ist, gelangen Populisten dennoch auf demokratischem Wege, das heißt durch kompetitive Wahlen in politische Gremien und insbesondere auch in das Parlament. Dort eingezogen schmälern sie durch ihre fehlende Koalitionsfähigkeit und fehlende Koalitionsbereitschaft die Koalitionsoptionen im Bereich der in der Bundesrepublik Deutschland gängigen minimalen Gewinnkoalitionen. Problematisch erweist sich auch, dass die antidemokratische bzw. verfassungsfeindliche Opposition auch das parlamentarische Regierungssystem zu beeinträchtigen vermag. So wird eine verfassungsfeindliche Opposition auch als „unechte“ Opposition verstanden, wohingegen eine „echte Opposition“ in ihrem Regierungsprogramm grundlegende Verfassungsprinzipien unangetastet lässt.356 Problematisch ist überdies, dass im Parlament vertretene Populisten nicht nur koalitionsinkompatibel sind. Letztlich wird auch die Ausübung von Kontrollrechten, etwa der Einsatz des parlamentarischen Untersuchungsausschusses oder etwa die Berechtigung, Rechtsbehelfe wie ein Organstreitverfahren oder ein abstraktes Normenkontrollverfahren zu veranlassen, torpediert: in der Bundesrepublik Deutschland lehnen sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene andere Parteien jede Form der Kooperation mit der AfD ab.357 Wie die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen gezeigt hat, hat eine Wahl als dieser mit Unterstützung der AfD-Fraktion weitreichende politische Konsequenzen, die den Rücktritt Kemmerichs erforderte.358 Insgesamt ist Populismus eine Gefahr für die Demokratie und das parlamentarische Regierungssystem.
III. Ursachen zur Entstehung einer materiellen Minderheitsregierung – der nachträgliche Mehrheitsverlust Die materielle Minderheitsregierung ist wie bereits dargestellt eine solche Regierung, die faktisch das aktuelle mehrheitliche Vertrauen des Parlaments nicht besitzt. Dies ist etwa eine Konsequenz aus dem Bruch einer zuvor bestehenden Koalition oder Parteiaustritt. Es ist allerdings empirisch nicht generalisierbar, welche Faktoren einen Koalitionsbruch letztlich begünstigen. Finkelnburg geht davon aus, dass ein fehlender inhaltlicher Konsens eine in diesem Zusammenhang ver 356
Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (17). Siehe Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in: JuS 2018, S. 929 (933). 358 Für ausführliche Schilderungen zur „Regierungskrise“ in Thüringen, siehe Kapitel 3 C. III. 4. d) sowie Kapitel 4. 357
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minderte Koalitionsbereitschaft begünstigt. Er erklärt, dass auch der „Verbrauch“ des ideologischen Konsenses zwischen zwei Parteien letztlich dazu führt, dass eine erneute oder weitergehende Koalition sich als unmöglich erweist.359 Generell ist in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass der Koalitionsvertrag, dessen Rechtsnatur zwar umstritten ist360, jedenfalls aber politischen Bedeutungszuwachs für die Regierungsarbeit erfahren hat: Der im Vorfeld erschwerte Einigungsprozess zu den programmatischen Kompromissen gebietet, dass Koalitionsverträge sehr detailliert sind.361 Als mögliche Ursachen sollen an dieser Stelle exemplarisch der Koalitionsbruch als Abweichen einer Regierungsfraktion vom Koalitionsvertrag sowie der Parteiaustritt einzelner oder mehrerer Abgeordneter Berücksichtigung finden. Diese Ursachen sind indes nicht als abschließend und nicht als schlechthin koalitionsbrechend anzusehen. 1. Der Koalitionsbruch Wie die 19. Legislaturperiode veranschaulicht, handelt es sich bei der Androhung eines Koalitionsbruchs um ein politisches Druckmittel, um eigene Interessen durchzusetzen. Generell sind Koalitionsbrüche potentiell dazu geeignet, eine weitere Kooperation zwischen den Regierungsfraktionen zu erschweren.362 Gleichwohl führt ein abweichendes Abstimmungsverhalten nicht automatisch zu einer vollständigen oder endgültigen Auflösung der Koalition. So bezeichneten der damalige CDU / CSU-Fraktionsvorsitzende Volker Kauder sowie damaliger bayrischer Ministerpräsident Horst Seehofer das Abstimmungsverhalten der SPD im Rahmen des Gesetzes zur Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts363 als „Koalitionsbruch“. Seehofer bezeichnete das Abstimmungsverhalten außerdem als „unwürdig“. Ist ein Koalitionsvertrag allenfalls eine moralische Verpflichtung für die Mitglieder der Koalition und jedenfalls nach herrschender Ansicht nicht justiziabel364, berufen sich auch ebendiese auf den Vertrag, um ein geschlossenes Abstimmen der Koalition zur Mehrheitssicherung hervorzurufen. Ungeachtet des von CDU / CSU vorgeworfenen „Koalitionsbruchs“ der SPD wurde die Koalition nicht gekündigt. Grund hierfür ist wohl, dass die Legislaturperiode nur noch wenige Wochen andauerte. Mit Ablauf der Legislaturperiode ist eine Abnahme des Gewichts von dem politischen Druckmittel der Koalitionskündigung anzunehmen. 359
Vgl. Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 6. Siehe bereits Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (2). 361 Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in: JuS 2018, S. 929 (935). 362 So Dreier / Hermes, GG, Art. 63 Rn. 15, der von einer möglichen „politischen Krise“ ausgeht, die ein Koalitionsbruch nach sich ziehen könnte. 363 Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts, 20. 07. 2017, BGBl. 2017, S. 2787. 364 Siehe Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (2). 360
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Kap. 2: Die politische Krise
Neben abweichendem Abstimmungsverhalten von Teilen der Regierungsfraktionen ist auch die Ausübung der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers aus Art. 65 S. 1 GG tauglich, für einen Koalitionsbruch zu sorgen.365 Mit der Richtlinienkompetenz kommt dem Bundeskanzler ein Instrument zu, welches ihn in die Lage versetzt, sich potentiell auf verfassungsrechtlichem Wege über bestehende Koalitionsverhandlungen hinwegzusetzen. Beispiel einer solchen „politischen Kraftprobe“ ist die Flüchtlingskrise. Die in der 19. Legislaturperiode amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte von ihrer Richtlinienkompetenz insoweit Gebrauch gemacht, als sie die Zurückweisung geflüchteter Asylsuchender an deutschen Grenzen ablehnte. Gemäß Art. 65 S. 2 GG entfaltet diese Entscheidung Bindungswirkung für den Bundesinnenminister Horst Seehofer. Dieser kritisierte die Entscheidung Merkels öffentlich und drohte mehrfach mit seinem Rücktritt.366 Unter Zugeständnissen gegenüber dem Bundesinnenminister konnte hinsichtlich der Asylpolitik ein Kompromiss zwischen CDU und CSU und damit einen insgesamt über drei Jahre andauernden Konflikt beheben, sodass die Koalition und die Fraktion aus CDU und CSU nicht zerbrach.367 Insbesondere bei großen Fraktionen ist auch ein parteiinterner Konsens oder ein Mindestmaß von übereinstimmenden Sachauffassungen konstitutiv für den Fortbestand der Koalition. Auch interne Entscheidungsfindung ist auf die Mehrheit sichernde, demokratische Mechanismen angewiesen und kann sich im Einzelfall als ebenso schwerwiegend wie Koalitionsprozesse mit anderen Fraktionen erweisen.368 2. Parteiaustritte Parteiaustritte können gegebenenfalls, vor allem im Falle knapper Mehrheitsverhältnisse, dazu führen, dass die formell als Mehrheitsregierung ins Amt berufene Regierung die mehrheitliche Unterstützung im Parlament nachträglich verliert, sodass im Ergebnis eine materielle Minderheitsregierung vorliegt. Grund hierfür ist, dass Parteiaustritte keinen Verlust des Abgeordnetenmandats bedingen. Gemäß § 10 Abs. 2 S. 3 PartG369 ist jedes Parteimitglied zum jederzeitigen Austritt berechtigt. Gemäß § 10 Abs. 4 PartG können einzelne Parteimitglieder aus der Partei ausgeschlossen werden, soweit diese vorsätzlich gegen die parteiinterne 365
Im Folgenden Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in: JuS 2018, S. 929 (935). Siehe nur https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/showdown-zwischen-horst-seehoferund-angela-merkel-15669667.html. 367 Zur Chronologie des Streits zwischen Merkel und Seehofer, siehe https://www.sued deutsche.de/politik/angela-merkel-und-horst-seehofer-attacken-kompromisse-vorwuerfe-1.40 15817. 368 Siehe insbesondere Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (107); vgl. auch Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (52). 369 Gesetz über die politischen Parteien, In der Fassung der Bekanntmachung vom 31. 01. 1994 (BGBl. I S. 149), zuletzt geändert durch Gesetz vom 10. 07. 2018 (BGBl. I S. 1116) m. W. v. 14. 07. 2018. 366
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Satzung verstoßen oder in erheblicher Weise gegen die Ordnung der Partei versto ßen und ihr dadurch einen schweren Schaden zufügen. Nicht vorgesehen ist dagegen der Mandatsverlust eines Abgeordneten infolge des Parteiausschlusses oder Parteiaustritts, weil eine solche Regelung nicht mit den Grundsätzen des freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG zu vereinen wäre. Ein Abgeordneter, der sich jederzeit eines Ausschlusses bei abweichendem Stimmverhalten versehen müsste, würde nicht in der von Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG garantierten Weise, frei und ausschließlich dem eigenen Gewissen unterworfen, abstimmen können.370 Die gesetzliche Lage führt im Ergebnis dazu, dass Parteiaustritte und das ein damit verbundenes Verlassen der Regierungskoalition zu einer Verschiebung der Mehrheitsverhältnisse führen können.
IV. Fazit: Typische Phänomene und Faktoren der erschwerten Regierungsbildung – die Herausforderungen des parlamentarischen Regierungssystems Die Regierungsbildung als spezieller Anwendungsfall des für die demokratische Herrschaftsform konstitutiven Mehrheitsprinzips sieht sich im 21. Jahrhundert in der Bundesrepublik Deutschland mit (neuen) Herausforderungen konfrontiert: systemimmanente Faktoren wie das Wahlrecht führen insgesamt zu einer fragmentierten Parteienlandschaft. Ist Parteienpluralismus für sich genommen in parlamentarischen Regierungssystemen per se unproblematisch, kann er zum Strukturproblem werden, wenn er auf eine polarisierte bzw. populistische politische Akteure trifft371: Auf Bundes- wie auch auf Landesebene treffen die Wirkungen des komplexen Wahlsystems, der personalisierten Verhältniswahl mitsamt ihres problematischen Stimmensplittings auf den Einzug einer rechtspopulistischen und extremistischen Partei, die für sämtliche demokratische Parteien als koalitionsunfähig gilt. Wurde oben dargelegt, dass die personalisierte Verhältniswahl insgesamt für eine Pluralisierung der Parteienlandschaft und gleichzeitig für das Erfordernis einer Kompromisspolitik sorgt, so ist diese Feststellung im Folgenden auch auf die Koalitionsbereitschaft zu beziehen. Das von der Verhältniswahl bewirkte Mehr 370 Vgl. etwa Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, S. 237; Dreier / Morlok, GG Art. 38 Rn. 154, 167; Münch / Kunig / Trute, GG Art. 38 Rn. 85; Sachs / Magiera, GG Art. 38 Rn. 48; Mangoldt / K lein / Starck / Achterberg / Schulte, GG Art. 38 Rn. 51 ff.; Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 38 Rn. 208; Stern, Staatsrecht I, S. 1074 ff.; Schröder, Mandatsverlust bei Fraktionswechsel, in: DVBl. 1971, 132 (133); andere Ansicht bei Siegfried, Mandatsverlust bei Parteiausschluß, Parteiaustritt oder Parteiwechsel, in: ZRP 1971, S. 9 (11 ff.). Bestrebungen zur Verfassungsreform werden besprochen in Bundes tag, Drucks., 7/5924, S. 26 f.; zum Mandatsverlust im Falle eines Parteiverbots und zum Verhältnis von Art. 38 und Art. 21 GG, siehe BVerfGE 2, 1 (73 ff.); 10, 4. 371 Vgl. Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in: JuS 2018, S. 929 (930); Kersten, Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Gusy, Weimars lange Schatten, S. 239; vgl. außerdem Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (5).
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Kap. 2: Die politische Krise
parteiensystem schafft eine aus Sicht der politischen Akteure widersprüchliche Ausgangslage372: Einerseits ist im Vorfeld einer Wahl eine Profilierung der Parteien erforderlich. Um Wähler für sich zu gewinnen müssen Parteien sich insbesondere auch inhaltlich von den Programmen anderer Bewerber unterscheiden. Andererseits begegnen die Parteien – und nach dem Einzug in das Parlament die Fraktionen – nach der Wahl derjenigen Situation, dass inhaltliche Kompromisse geschlossen werden müssen, um eine Mehrheitsregierung durch Koalition zu ermöglichen. Hinderlich hierfür ist das Beharren auf dem eigenen Profil. Nichtsdestoweniger wird dieses Beharren eventuell als wichtig für die Wiederwahl in der nächsten Wahlperiode gesehen. Dieser Effekt kann etwa zusätzlich dadurch intensiviert werden, dass eine erhöhte Anzahl an Oppositionsfraktionen im Parlament besteht: Das eigene Profilieren wird ermöglicht, indem Oppositionsparteien sich „gegenseitig in der Schärfe der Kritik und in den Versprechungen […] überbieten“.373 Die fehlende oder verminderte Bereitschaft, Mehrheitskoalitionen zu bilden, weil die eigenen Ideologien inkompatibel mit anderen im Parlament vertretenen Fraktionen erscheinen oder weil diese generell per Parteibeschluss wegen ihrer (extremistischen) Ideologie als Koalitionspartner ausgeschlossen wurden, ist ebenso als ein für die Bildung einer Mehrheitsregierung erschwerender und gleichzeitig für die Minderheitsregierung begünstigender Faktor anzusehen. Internationale Erfahrungen belegen, dass die Entwicklung der Demokratie und der in ihr notwendigen Mehrheitsfindung durch die Polarisierung des Parlaments erheblicher gefährdet ist als durch die Erhöhung der Fraktionen bzw. als die Fragmentierung.374 Die Kombination aus beiden dargestellten Faktoren erweist sich daher im Ergebnis als Strukturproblem der parlamentarischen Demokratie und der Mehrheitsfindung im Bereich der Regierungsbildung.375 Letztlich sind diejenigen Faktoren, welche hier als für die Mehrheitsfindung erschwerend bezeichnet werden, von dem im Grundgesetz festgelegten demokratischen Systems bzw. von der freiheitlich-demokratischen Grundordnung selbst ermöglicht: Während populistische Äußerungen von Parteimitgliedern von der für die Demokratie fundamentalen Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 1, 1. Fall GG gedeckt sind, ist der Parteienpluralismus unter anderem Folge der personalisierten Verhältniswahl, für welche sich der Gesetzgeber gemäß Art. 38 Abs. 3 GG kraft der hier normierten Ermächtigung im Rahmen einer hohen eigenen Einschätzungsprärogative entschieden hat. Polarisierender Populismus und Parteienpluralismus sowie steigende Zahlen von Abgeordneten sind ergo dem System inhärente Phänomene, die das ins Amt Berufen einer Minderheitsregierung letztlich begünstigen können.
372
Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierung, in: ZParl 1987, S. 94 (101). Kaack, Zwischen Verhältniswahl und Mehrheitswahl, S. 40. 374 Nohlen, Zur Reform von Wahlsystemen, in: ZRP 2011, S. 310 (318). 375 Kersten, Parlamentarismus und Populismus, in: JuS 2018, S. 929. 373
Kapitel 3
Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz – Erfüllung der Regierungsfunktion A. Die Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem Wer aber geliebt ist, hat leicht regieren. (Johann Wolfgang von Goethe)
Im ersten Kapitel wurden bereits die drei verfassungsrechtlich zulässigen Konstellationen der Regierung in Form von Mehrheits-, Minderheits- sowie Geschäftsregierung mitsamt ihrer Unterfälle erörtert.1 Im zweiten Kapitel wurde festgestellt, dass systemimmanente Faktoren und Mechanismen die Wahrscheinlichkeit zu verringern vermögen, dass eine formelle und / oder materielle Mehrheitsregierung in das Amt berufen wird und über die gesamte Legislaturperiode amtiert. Im Umkehrschluss steigt mit und aufgrund dieser Phänomene die Wahrscheinlichkeit des Amtierens einer Minderheitsregierung, weil parlamentarische Mehrheiten zur Bildung einer Mehrheitsregierung von vorneherein nicht gefunden werden oder weil sie nachträglich verloren werden. In diesem Zusammenhang wurde demonstriert, wie verschiedene, systemimmanente Faktoren in Form von politischen und rechtlichen Wandel die Mehrheitsbildung erschweren und damit Hürden des Mehrheitsprinzips darstellen.2 In der Folge stellt sich die Frage, ob alle drei Regierungen in gleichsam effektiver und erfolgreicher Weise die Regierungsfunktion aus verfassungsrechtlicher Sicht erfüllen können. Diese Fragestellung ist Gegenstand der folgenden Analyse. Dabei steht die formelle und / oder materielle Minderheitsregierung auf dem Prüfstand, indem diese mit der formellen und / oder materiellen Mehrheitsregierung hinsichtlich ihrer Regierungsfähigkeit verglichen wird. Zuerst soll der Begriff der „Bundesregierung“ sprachlich und rechtlich eingeordnet werden. Sodann soll unter Berücksichtigung des parlamentarischen Regierungssystems und seiner Auswirkungen abstrakt erörtert werden, was Inhalt und Umfang der Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem ist. Die Regierungsfunktion und ihre Erfüllung werden schließlich in den Kontext der Regierungsstabilität gestellt. Hierzu werden aus der vorgestellten Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem Kriterien der Regierungsstabilität abge-
1 2
Ausführliche Erörterungen finden sich in Kapitel 1. Ausführliche Erörterungen finden sich in Kapitel 2.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
leitet und in den Kontext des systemnotwendigen Mehrheitsprinzips eingebettet. Es wird erörtert, wie diese Parameter jeweils durch das Grundgesetz ausgestaltet sind oder gegebenenfalls ausgestaltet werden sollten. Sodann werden die verfassungsrechtlichen Gegebenheiten hinsichtlich ihres individuellen und gemeinsamen Beitrages zur Regierungsstabilität überprüft.
I. Die Bundesregierung Nach dem natürlichen Sprachgebrauch bedeutet regieren, die Regierungs- bzw. Herrschaftsgewalt innezuhaben oder zu herrschen.3 Aus etymologischer Sicht wurzelt das deutsche Verb im lateinischen Begriff „regere“, was als herrschen oder lenken zu übersetzen ist.4 Regierung meint das oberste Organ eines Staates oder Landes, welches die richtunggebenden und leitenden Funktionen ausübt; es meint die Gesamtheit der Personen, die einen Staat oder ein Land regieren.5 Die Bundesregierung ist als Verfassungsorgan Gegenstand des VI. Abschnittes des Grundgesetzes (Art. 62–69 GG).6 Während die zweistufe Regierungsbildung (Art. 63, 64 GG), die innere Struktur (Art. 62 GG) und die Organisation als Kollegialorgan mitsamt der Aufteilung in vom Bundeskanzler zu bestimmende Ressorts explizit geregelt werden (sog. Regierung im formellen Sinne), treffen die Vorschriften des VI. Abschnittes keine direkte Aussage über die Funktionen, Kompetenzen, Zuständigkeiten und Aufgaben der Bundesregierung (sog. Regierung im materiellen Sinne). Der materielle Regierungsbegriff betrifft nach Herzog die Zuständigkeiten und Aufgaben. Er könne als „der Inbegriff der der Bundesregierung nach dem GG zustehenden Aufgaben und Befugnisse“ begriffen werden.7 Zwar sind im gesamten Grundgesetz an verschiedenen Stellen Aufgaben bzw. Befugnisse der Bundes regierung ausgebracht.8 Die Aufgaben sind nicht abschließend aufgezählt, denn die Regierungstätigkeit ist ihrem Wesen nach entwicklungsoffen bzw. innovativ, sodass der Kompetenzbereich des Wirkens und Arbeitens der Regierung Veränderungen prinzipiell zugänglich ist.9 Die Bundesregierung hat in der Sache eine 3
https://duden.de/rechtschreibung/regieren. https://duden.de/rechtschreibung/regieren. 5 https://duden.de/rechtschreibung/Regierung. 6 Im Folgenden BeckOK / Epping, GG, Vorb. Zu Art. 62 GG; vgl. auch Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG, Art. 62 Rn. 1; siehe auch Görres-Gesellschaft Staatslexikon / Uhle unter „Bundesregierung“. 7 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 62 Rn. 51. 8 Siehe Art. 13 Abs. 6; 23 Abs. 2, 3, 5, 6; 24 Abs. 1a; 26 Abs. 2; 32 Abs. 3; 35 Abs. 3; 37; 42 Abs. 1; 43 Abs. 1–3; 45; 52 Abs. 2; 53; 53a Abs. 3; 65; 76 Abs. 1; 77 Abs. 2; 80; 80a Abs. 3; 81; 84 Abs. 2–5; 86 Abs. 2–4; 87a Abs. 4; 87b Abs. 2; 91 Abs. 2; 93 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2; 94 Abs. 1; 104b Abs. 3; 108 Abs. 7; 109 Abs. 4; 111; 113; 114; 115a Abs. 1; 115d Abs. 2; 115f; 115i Abs. 2; 129 Abs. 1; 130 Abs. 1; 132 Abs. 4 GG. 9 Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 62 Rn. 23. 4
A. Die Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem
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politische Allzuständigkeit.10 Allerdings kann ein abgerundeter und scharfer materieller Regierungsbegriff hergeleitet werden, der anhand eines Schlagwortes den Regierungsbegriff klar zu definieren vermochte. Abstrakt kann unter dem Regieren im Sinne des Grundgesetzes11 die politische Staatsführung, die „Leitung des Ganzen“ und das Vorgeben der Richtung von Innen- wie Außenpolitik verstanden werden. Umfasst ist aber auch die Administration, die Realisierung staatlicher Aufgaben, der Gesetzesvollzug sowie die Aufsicht hierüber und über das Bund-Länder-Verhältnis (im Bereich der Bundesregierung insbesondere auch über den Vollzug bei bundeseigener Verwaltung nach Art. 87 ff. GG). Die Regierungstätigkeit findet ihre Grenze ausschließlich im staatlichen Gewalten- bzw. im Bundesstaatsgefüge; sie kann jedenfalls nicht die Kernkompetenz der Legislative bzw. Judikative tangieren (vgl. Art. 20 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG).12
II. Die Regierungsfunktion Der Regierungsbegriff ist aus verfassungsrechtlicher Sicht keiner klaren Definition zugänglich und kann wie dargestellt allenfalls beschrieben werden.13 Klärungsbedürftig erscheint weiter, was unter der „Regierungsfunktion“ zu verstehen ist, also welche Funktion der Regierung aus verfassungsrechtlicher Sicht zukommt. Ausgangspunkt für die Konkretisierung der sogenannten Regierungsfunktion das ist das Demokratieprinzip aus Art. 20 Abs. 1, 2 GG. So hat gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG die Staatsgewalt vom Volke auszugehen; gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG übt das Volk die Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen bzw. durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt aus.14 Das „Objekt demokratischer Legitimation“ ist also die Staatsgewalt. Hierunter ist die „institutionalisierte und legitimierte Amtsgewalt des Staates“ zu verstehen.15 Nach der Rechtsprechung des BVerfG erfordert jede Art ausgeübter Staatsgewalt einen demokratisch legitimierenden Zusammenhang.16 Entscheidend ist hierbei, dass allein das Parlament unmittelbare demokratische Legitimation erfährt. Andere Organe der Exekutive bzw. Judikative müssen jedenfalls in einem Legitimationszusammenhang zu dem vom Volk unmittelbar gewählten Parlament, das heißt durch Wahlen, stehen. Das bedeutet: Jedes die Staatsgewalt ausübende 10
Voßkuhle / Schemmel, Die Bundesregierung, in: JuS 2020, S. 736 (738). Im Folgenden Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 12; vgl. auch Stern, StaatsR II, S. 273; siehe auch Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG, Art. 62 Rn. 19 zur administrativen Führung im Bereich der Bundeseigenverwaltung. 12 Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG, Art. 62 Rn. 23; siehe auch Görres-Gesellschaft Staatslexikon / Uhle unter „Bundesregierung“. 13 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 62 Rn. 14 Siehe hierzu insbesondere Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 3. 15 Dreier / ders., GG Art. 20 Rn. 86 m. w. N. 16 BVerfGE 47, 253 (273); 77, 1 (40); 83, 60 (73). 11
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Organ muss grundsätzlich eine für sie verfassungsrechtlich zulässige Form der Legitimation erfahren, um letztlich auf den Volkswillen zurückführbar zu sein.17 Da allein das Parlament unmittelbar demokratisch legitimiert ist, ist es notwendigerweise auch „Mittler“ dieser Legitimation für die Exekutive. Die Legitimation erfolgt dabei sowohl hinsichtlich der organisatorisch-personellen18 Besetzung der Exekutive als auch sachlich-inhaltlich19 hinsichtlich der von den Exekutivorganen vorgenommenen Handlungen oder getroffenen (Sach-)Entscheidungen.20 Nur so erhält und behält das Volk den „einen effektiven Einfluss auf die Ausübung der Staatsgewalt“ durch die genannten Organe.21 In dem aufgezeigten Erfordernis demokratischer Legitimation sämtlichen staatlichen Handelns, das wie aufgezeigt aus dem Demokratieprinzip hervorgeht, „wurzelt“ die Verantwortung der gesamten Exekutive gegenüber dem Parlament.22 Im Bereich der unmittelbaren Bundesverwaltung gilt das Ministerialprinzip. Hierunter ist „die Zusammenfassung von Behörden zu Verwaltungshierarchien“ zu verstehen; an deren Spitze muss jeweils ein Bundesminister stehen.23 Fichtmüller sieht den „Kern“ des Prinzips nicht primär in der „Gliederung, sondern der Beeinflussung der Verwaltung.“ So ziele das Ministerialprinzip auf die Ermöglichung der Verwaltungsarbeit unter der Leitung der Regierung ab; die Behörden seien der Regierung sachlich untergeordnet.24 Konkret bedeutet dies, dass sämtliche hierarchisch untergeordnete Verwaltungsorgane einem Minister unterstehen müssen, gegenüber welchem sie weisungsgebunden sind. Auf diese Weise ist die nach dem Demokratieprinzip notwendige Legitimationskette25 nicht unterbrochen. Das Grundgesetz sieht vor, dass das Parlament gemäß Art. 63 GG den Bundeskanzler wählt, der wiederum zum Vorschlag der übrigen Regierungsmitglieder befugt ist.26 Meyer sieht darin die Schaffung der „personellen Verbindung“, die durch Art. 63 GG „grundgelegt“ werde und durch „die selbstverständliche prinzipielle Rekrutierung der Regierungsmitglieder aus dem Parlament“ verstärkt werde.27 In organisatorisch-personeller Hinsicht erschöpft sich hierin bereits die unmittelbare Legitimationsbeschaffung der Mitglieder von Exekutivorganen durch das Parla 17
Stellvertretend für viele Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 11 ff. Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 16 ff. 19 Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 21 ff. 20 Sachs / ders., GG Art. 20 Rn. 37. 21 BVerfGE 83, 60 (71). 22 Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 121 ff.; 140. 23 Fichtmüller, Zulässigkeit ministerialfreien Raums in der Bundesverwaltung, in: AöR 1966, S. 297 m. w. N. 24 Fichtmüller, Zulässigkeit ministerialfreien Raums in der Bundesverwaltung, in: AöR 1966, S. 297 (298). 25 Böckenförde, HStR II, § 24 Rn. 16. 26 Sachs / ders., GG Art. 20 Rn. 39. 27 Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 1974, S. 69 (86). 18
A. Die Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem
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ment. Letzteres hat jedenfalls keinen direkten Einfluss auf die Ernennung sonstiger Exekutivorgane. Auch in inhaltlich-sachlicher Hinsicht vermag das Parlament die Sachentscheidungen einzelner Verwaltungsträger, vor allem solcher, die hierarchisch untergeordnet sind, nicht unmittelbar zu beeinflussen. Dennoch muss wegen der von dem Parlament ausgehenden Legitimationswirkung auch eine effektive Kontrolle sämtlichen Verwaltungshandelns möglich sein. Die Kontrolle ist eine maßgebliche Aufgabe des Parlaments.28 Durch die Kontrollaufgabe ist auch das parlamentarische Regierungssystem maßgeblich geprägt.29 Die Bundesregierung ist die Spitze der gesamten Exekutive und schafft insoweit einen Legitimationstransfer, der die Kontrolle der Gubernative wie auch der Administrative über die unterschiedlichen behördlichen Ebenen ermöglicht. Möllers führt aus, dass „an der Spitze der Hierarchie […] diejenigen Organe der Exekutive [stehen], die aus einem demokratischen Prozess hervorgehen, und die in funktionaler Verwandtschaft zur Legislative zukunftsgerichtetes Recht mit einem hohem Allgemeinheitsgrad initiieren.“ Diejenigen Entscheidungen, die von „geringer Allgemeinheit mit vergleichsweise hoher Rechtsbindung“ sind, so Möllers, seien funktional vergleichbar mit der Rechtssetzung der Judikative.30 Dreier sieht in dem auf „Bürosystem, strikten Weisungsrecht und Berufsbeamtentum beruhenden Modell“ die Vorteile einer „höheren Sachlichkeit, höherer Unparteilichkeit und reinerer Rechtlichkeit“, da hiermit die möglichst unverfälschte Realisierung des Gesetzgebers bezweckt würde.31 In dem so aufgezeigten Legitimationstransfer der Exekutive ist für das hier untersuchte Verhältnis von Exekutive und Legislative die maßgebliche Regierungsfunktion zu sehen.
III. Die parlamentarische Demokratie In der Bundesrepublik Deutschland ist das politische System als parlamentarische Demokratie organisiert. Regieren könne in diesem System, so Friesenhahn, „immer nur ein kleiner Kreis von Personen, nicht ein ganzes Parlament“.32 Die Regierung verantwortet sich jedoch gegenüber dem Parlament; gleichzeitig sie ist in mehreren Hinsichten auf die parlamentarische Unterstützung im Sinne einer Mitwirkung angewiesen. Der Bayerische Landesverfassungsgerichtshof stellte in diesem Zusammenhang fest, dass die Regierungsfunktion nur erfüllen kann, wer die Regierungsverantwortung trägt: „Gleichwohl kann Verantwortung nur tragen, wer nicht vollumfänglich an die Entscheidungen eines anderen Organs gebunden ist.“33 Das BVerfG bestätigt diese Rechtsprechung des Gerichtshofs und bezieht diese auf das parlamentarische Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland. So 28
Ausführlich Schneider / Zeh / Steffani, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 49. BVerfGE 67, 100 (130). 30 Möllers, Gewaltengliederung, S. 113. 31 Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, S. 126. 32 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (33). 33 BayVfGH N. F. Bd. 4, Teil II, S. 30 (47). 29
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
setze „die demokratische und rechtsstaatliche Herrschaftsordnung des GG […] eine erkennbare Verantwortlichkeit im Staat und im Besonderen eine verantwortliche Regierung voraus.“ Ebendiese „selbstständige politische Entscheidungsgewalt der Regierung, ihre Funktionsfähigkeit zur Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben und die Sachverantwortung gegenüber Volk und Parlament sind […] zwingende Gebote der demokratischen rechtsstaatlichen Verfassung.“34 Insgesamt führt das parlamentarische Regierungssystem nicht zu einer per se „schwachen Regierung“. Vielmehr weist es dem Parlament gegenüber der Regierung in zweierlei Hinsichten Kompetenzen zu: Hinsichtlich der „Funktion“ des Regierens bestehen parlamentarische Mitwirkungserfordernisse. Das Wesen des parlamentarischen Regierungssystems stellt die Erfüllung des Regierungsauftrages zum Teil explizit unter die Bedingung der Mitwirkung und Zustimmung des Parlaments.35 Bei diesen Mitwirkungen sind im Sinne des Mehrheitsprinzips bestimmte, nach der Mitwirkung zu differenzierende Quoren erforderlich. Hinsichtlich der Regierung als „Organ“ besteht überdies eine Kontrollkompetenz des Parlaments.36 Generell sind die Beziehungen zwischen Staatsverfassungsorganen mit Abgrenzungsfragen von Kompetenzen und ihrer Kooperation bei der Aufgabenerfüllung innerhalb des staatlichen Gesamtgefüges störanfällig.37 In der Bundesrepublik Deutschland ist das Zusammenwirken von Regierung und Bundestag insbesondere im Bereich der Gesetzgebung38, der Verabschiedung des Staatshaushaltes sowie der Ratifizierung völkerrechtlicher Verträge erforderlich.39 Kontrollbefugnisse des Parlaments sind Rechte, die originär, aber nicht ausschließlich der Opposition40 zukommen bzw. von dieser wahrgenommen werden.41 Hierzu gehören Informationsrechte wie das Zitierrecht aus Art. 43 Abs. 1 GG in Verbindung mit § 42 GO BT und der Einsatz eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses aus Art. 44 Abs. 1 GG. Ferner bestehen Teilhaberechte der Opposition, zum Beispiel die Vertretung in Ausschüssen. Allerdings kontrolliert auch die regierungstragende Mehrheit die Regierung aus ihrer eigenen Perspektive.42 34
Jeweils BVerfGE 8, 268 (281 f.) mit Verweis auf BayVfGH N. F. Bd. 4, Teil II, S. 30 ff. (47). 35 Vgl. Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 1974, S. 69 (86). 36 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (34). 37 Klein, HStR III, § 279 Rn. 19. 38 Friesenhahn führt an, „Regieren“ würde „weitgehend“ das Initiieren von Gesetzgebung bedeuten. Vgl. ders., Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (48). 39 Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 11; ähnliche Ausführungen bei Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (212). 40 Auf den vielgestaltigen Oppositionsbegriff wird hier nicht näher eingegangen. Ausführlich hierzu Parlamentsrecht / Waack, § 22 Rn. 22. Das BVerfG definiert den Oppositionsbegriff seinerseits nicht. 41 Im Folgenden Parlamentsrecht / Waack, § 22 Rn. 59 ff. 42 Parlamentsrecht / Waack, § 22 Rn. 20.
A. Die Regierungsfunktion im parlamentarischen Regierungssystem
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Als „störanfällig“ könnte sich im Hinblick auf Minderheitsregierung und ihrem Verhältnis zum Parlament erweisen, dass dieser die parlamentarische mehrheit liche Unterstützung fehlt. Zur vollumfänglichen Erfüllung des Regierungsauftrages bedarf es aber gerade ebendieser Mitwirkung des Parlaments, denn Art. 42 Abs. 2, 77 Abs. 1 GG erfordern einen Parlamentsbeschluss mit einfacher Mehrheit für das Zustandekommen eines Bundesgesetzes. Auch hier entfaltet sich das Mehrheitsprinzip als politische Entscheidungsregel. Im Falle einer formell und / oder materiellen Minderheitsregierung erscheint die Mehrheitsfindung etwa für das Zustandekommen von durch die Bundesregierung initiierten Gesetzesvorlagen erschwert und es stellen sich hierzu einige offene Fragen: Wie kann eine Regierung dann noch die politische Führung wahrnehmen? Wie kann der Bundeskanzler die Richtlinien seiner Politik in diesem Falle effektiv umsetzen und wie kann ein Minister sein Ressort und seine Sachfragen allgemeingültig, etwa durch den Erlass abstrakt-genereller Rechtsnormen jenseits von Rechtsverordnungen ausgestalten? Ist eine Regierung wegen fehlender parlamentarischer Mehrheit per se regierungsunfähig? Scheitert sie per se am Mehrheitsprinzip? Wie stabil kann eine Regierung sein, wenn ihr die mehrheitliche parlamentarische Unterstützung fehlt?
IV. Regierungsstabilität im parlamentarischen Regierungssystem Regierungsstabilität ist aus verfassungsrechtlicher Sicht zu messen an den Erfolgsaussichten der Erfüllung der Regierungsfunktion. Diese erfordert dabei das Tragen der Regierungsverantwortung, welche sich in einem parlamentarischen System in bestimmten Bereichen der Regierungstätigkeit nur aus dem Zusammenspiel von Regierung und Parlament ergibt. Konkret bedeutet dies: Wird die Erfüllung der Regierungsfunktion durch einen bestimmten Regierungstyp in einem parlamentarischen System wie jenem in der Bundesrepublik Deutschland geprüft und erörtert, so muss grundsätzlich das Verhältnis von Regierung und Parlament mitsamt den parlamentarischen Mitwirkungsbefugnissen bei der Regierungsarbeit angepasst an den jeweiligen Regierungstypen fokussiert werden. Wo die Regierungsarbeit demgegenüber unabhängig von der Zustimmung des Parlamentes ist, bestehen bezüglich der Erfüllung von Regierungsaufgaben indes keine Besonderheiten einer materiellen Minderheitsregierung gegenüber einer materiellen Mehrheitsregierung: Solange das Kollegialorgan kollektive Entscheidungen per Beschluss fällen kann und nach außen hin in Bezug auf das politischen Richtungsgeben geschlossen aufzutreten vermag, ergeben sich hinsichtlich der verschiedenen Regierungsformen keine Besonderheiten.43 Im Ergebnis hängt die Frage des Erfüllens von Regierungsverantwortung bzw. der Regierungsstabilität also daran, ob den verschiedenen Regierungsformen, insbesondere der formellen bzw. materiellen Minderheitsregierung solche ver 43
Vgl. Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 11.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
fassungsrechtlichen oder politischen Instrumente zur Verfügung stehen, welche die eigene Wahrnehmung der jeweiligen Aufgaben im Einzelnen zulassen.44 Im zweiten Kapitel wurde bereits dargelegt, dass anhand der Verfassungsdogmatik das Amtieren einer formellen und / oder materiellen Minderheitsregierung nicht per se als Krise einzuordnen ist. Die einer Minderheitsregierung eingeräumten Befugnisse und Instrumente müssen sich dabei als insofern Krisenverhinderungsrecht oder gegebenenfalls effektives Krisenbeseitigungsrecht erweisen. Regierungsstabilität lässt sich verfassungsrechtlich im Ergebnis an drei Faktoren messen: – Die künftige Regierung hat die Möglichkeit, in das Amt zu gelangen (Bestellung der Regierung). – Die in das Amt berufene Regierung muss auch über den Zeitraum der Legislaturperiode in ihrem Amte verbleiben können und vor dem Regierungssturz hinreichend geschützt werden (Regierungskontinuität). – Die Regierung muss handlungsfähig sein bzw. bleiben, das heißt die Fähigkeit ungeachtet der formal bestehenden mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung die Regierungsaufgaben wahrzunehmen (Handlungsfähigkeit der Regierung). Das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament müsste also so konzipiert sein, dass die Bestellung in das Amt, die Regierungskontinuität und die Handlungsfähigkeit der Regierung durch das Grundgesetz auch jenseits dem Bestehen formaler Mehrheiten gesichert wäre.45 Dies bedeutet auch, dass keines dieser Kriterien für sich genommen für Regierungsstabilität sorgt, sondern dass davon auszugehen ist, dass diese Stabilitätskriterien kumulativ vorliegen müssen.46 Im Falle von Regierungskoalitionen wären die Erfolgsaussichten auch hinsichtlich der Stabilität der Koalition selbst zu ergründen. Maßgeblich wäre dabei, inwieweit sich die jeweils beteiligten Fraktionen inhaltlich sowie personell im Vorfeld (verbindlich) einigen konnten und wie störanfällig die Koalition für inhaltliche Dissense wäre. Relevant hierfür wäre auch die Festlegung eines Konfliktmanagements.47 44 Strom misst die Erfolgsaussichten von Minderheitsregierungen im Amt an den Fragen „wie“ eine Regierung amtieren kann und „wie gut“ dieses Amtieren zu bewerten ist, siehe Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 93. 45 Vgl. Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (98). 46 So geht Sternberger davon aus, dass die Begriffe Regierungskontinuität und Regierungsstabilität nicht synonym zu gebrauchen sind: „Es ist nicht ausgemacht, ob Kontinuität der Regierung unter allen Umständen auch Stabilität der Verfassungsordnung verbürge.“, siehe Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (7); vgl. auch Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (291); vgl. auch Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (392). 47 Vgl. Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (98).
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Die koalitionsinternen Störungen nach Abschluss der Koalition sollen nur Erwähnung finden, da je nach parteilicher und personeller Zusammenfassung hier nur individuelle Bewertungen vorgenommen werden können. Wie hoch die Bereitschaft zur Beilegung von Konflikten letztlich im Einzelfall ist, ist keiner schematischen oder pauschalisierbaren Darstellung zugänglich. Insbesondere ist das Schaffen politischer Übereinstimmungen in den Wahl- oder Parteiprogrammen der Parteien verfassungsrechtlich nicht steuerbar. Daher werden die Erfolgsaussichten im Folgenden ausschließlich anhand der (verfassungs-)rechtlichen Gegebenheiten beurteilt und ggf. verfassungspolitisch eingeordnet.48 Im Kontexte der Regierungskontinuität bzw. die Regierungsbestellung werden die hierfür einschlägigen Vorschriften, insbesondere auch in ihrem Zusammenhang, thematisiert. So finden Art. 63 und Art. 67 GG Berücksichtigung und es wird analysiert, welchen Beitrag die Vorschriften jeweils für das Amtieren einer Regierung und ihre Bestellung leisten bzw. wie sich in ihnen das parlamentarische Regierungssystem offenbart. Evident ist, dass hier spezifische Wahlquoren aufgestellt werden. Das Mehrheitsprinzip offenbart sich hier in einer spezifischen Form und soll einen stabilisierenden Beitrag leisten. In Bezug auf die Handlungsfähigkeit von Regierungen ohne faktisches mehrheitliches Vertrauen wird zunächst erörtert, wie parlamentarische Mehrheitsbildung aus verfassungspolitischer, aber auch aus politikwissenschaftlicher Sicht überhaupt erfolgen kann. Für den Bereich der Gesetzgebung wird auf gegenüber der Mehrheitskoalition alternative Kooperationsmodelle eingegangen. Die Modelle werden mitsamt einschlägiger Erfahrungswerte dargestellt und schließlich priorisiert. In parlamentarischen Regierungssystemen bzw. Demokratien ist die Handlungsfähigkeit von Regierungen daran zu messen, ob diese sich in der Lage versehen, Mehrheiten im Parlament zu erzielen.49 Es stellt sich daher für Regierungen ohne institutionell bestehende mehrheitliche Unterstützung (Koalitionen) die Frage, ob oder wie die Verfassung die Erzielung von Mehrheiten absichert. Hierzu werden die Vorschriften aus Art. 68 GG und Art. 81 GG herangezogen. Während die Vertrauensfrage einen das Mehrheitsprinzip absichernden Beitrag leisten soll, wird der Gesetzgebungsnotstand als letztmögliche verfassungsrechtliche Möglichkeit politischer Handlungsfähigkeit von Regierungen dargestellt. Die außerordentliche Form der Gesetzgebung soll erläutert und unter Angabe von Reformvorschlägen hinsichtlich ihres Verhältnisses von Parlamentsauflösung und Gesetzgebungsnotstand bewertet werden.
48 Siehe bereits die Ausführungen zu typisierenden Faktoren für einen Koalitionsbruch, Kapitel 2 B. III. 1. 49 Vgl. Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 201 ff.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität Hindenburg war ein volksgewählter Präsident (…). Am Ende blieben nur noch die Formen der Verfassung, nicht mehr hingegen ihre Inhalte. (Christoph Gusy)50
I. Sicherung der Regierungskontinuität durch die Konzeption der Kanzlerwahl nach Art. 63 GG Die Wahl des Bundeskanzlers bzw. des Regierungschefs durch das Parlament ist ein zentrales Merkmal des parlamentarischen Regierungssystems.51 In der Bundesrepublik Deutschland ermöglicht erst diese Wahrnehmung der parlamentarischen Aufgabe letztlich die Regierungsbildung. Die einzelnen Wahlphasen und Wahlmodalitäten wurden bereits im ersten Kapitel thematisiert.52 Im zweiten Kapitel wurde dargelegt, inwieweit die einzelnen Wahlphasen des Art. 63 GG hinsichtlich ihrer Wirkung als Krisenverhinderungsrecht einzuordnen sind.53 Dabei wurde konstatiert, dass die ersten beiden Wahlphasen zur Schicht der rechtlichen Normallage zuzuordnen sind, da diese aus der eigenen Normsystematik heraus und aus der Gesamtschau der Vorschriften des Grundgesetzes den primär anzuwendenden Fall darstellen. Die demgegenüber subsidiäre dritte Wahlphase wurde als Bestandteil der zweiten Rechtsschicht, also als einfaches Krisenrecht einsortiert. Im Folgenden soll analysiert werden, inwieweit die Konzeption der Bundeskanzlerwahl zur Stabilität der Regierung beiträgt, indem sie zunächst dazu führt, dass der Bundeskanzler in sein Amt berufen wird und sodann auch im Amt bleibt. Hierzu werden die beteiligten Verfassungsorgane bzw. ihre Mitwirkungsrechte in den einzelnen Wahlphasen erläutert. Erörtert wird insbesondere die Rolle des Bundespräsidenten, um zu klären, welchen Beitrag das präsidentielle Vorschlagsrecht zur Einleitung der ersten Wahlphase bzw. das Auswahlermessen des Bundespräsidenten in der dritten Wahlphase zur Mehrheitsfindung und letztlich für die Regierungskontinuität leistet. Darüber hinaus ist die Bestellungsgewalt des Bundestages Gegenstand des folgenden Abschnitts.
50
Gusy, 100 Jahre Weimarer Republik, S. 180. Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 3. 52 Ausführlich hierzu Kapitel 1 B. I. 53 Ausführlich hierzu Kapitel 2 A. I. 1. bzw. Kapitel 2 A. I. 2. 51
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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1. Zur Einordnung des Art. 63 GG Die Kanzlerwahl aus Art. 63 GG bildet gemeinsam mit Art. 64 GG die Vorschriften zum zweistufigen Verfahren der Regierungsbildung.54 Die Vorschrift aus Art. 63 GG wird zum Teil als „Herzstück“ der Regierungsbildung gesehen.55 Sie ist ausschließlich bei vorheriger Vakanz des Bundeskanzleramtes anwendbar.56 Das bedeutet, es kommt nur zum Durchlaufen der drei möglichen Wahlphasen, wenn das Amt zuvor infolge des Zusammentritts des neuen Bundestages nach Wahlen (Art. 69 Abs. 2 GG), des vorherigen Rücktritts des ehemaligen Bundeskanzlers, seiner Amtsunfähigkeit oder seines Todes unbesetzt ist.57 Insoweit steht die Vorschrift aus Art. 63 GG in engem Zusammenhang mit dem Art. 69 Abs. 2 GG sowie Art. 39 Abs. 2 GG58, der das gleichzeitige Ende der Amtszeit jedes Regierungsmitglieds mit dem Zusammentritt eines neuen Bundestages anordnet. Allein der Art. 67 GG, das konstruktive Misstrauensvotum, stellt ein demgegenüber alternatives Wahlverfahren dar, das auch unabhängig der genannten Vakanzgründe zur Neubesetzung des Bundeskanzlersamtes führt.59 Im Falle von durch Art. 68 GG anberaumten Neuwahlen kommt es dagegen nach dem Zusammentritt des neuen Bundestags nach der Vorschrift des Art. 69 Abs. 2 GG zu Wahlen nach Art. 63 GG.60 Insgesamt bildet Art. 63 GG gemeinsam mit Art. 67 und Art. 68 GG das System der Vertrauensabhängigkeit der Regierung vom Parlament.61 2. Wahl- und Vorschlagsrechte a) Die erste Wahlphase: Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten und die Abstimmung des Bundestages Die Bundeskanzlerwahl verläuft in insgesamt drei möglichen Wahlphasen. Sämtliche Wahlphasen unterscheiden sich hinsichtlich des Vorschlagsrechts, aber auch zum Teil hinsichtlich der verfassungsrechtlich zulässigen Rechtsfolgen. Konkret bestehen Unterschiede in den Befugnissen, welche den an der Bundeskanzlerwahl beteiligten Verfassungsorganen Bundestag und Bundespräsident zukommen. In der ersten Wahlphase obliegt es dem Bundespräsidenten einen Vorschlag für die Person des Bundeskanzlers zu unterbreiten.62 Hierüber stimmt der Bundestag schließlich ab. 54
Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 1. Görres-Gesellschaft / Uhle unter „Bundesregierung“; siehe auch Kapitel 1 B. 56 Im Verteidigungsfalle ist Art. 63 nach Art. 115h Abs. 2 modifiziert anzuwenden. 57 Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 63; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 19; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 2, Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 47. 58 Ausführlich hierzu Kapitel 2 A. I. 1. b) cc). 59 Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 2. 60 Einhellige Ansicht, siehe etwa Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 63; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 47; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 19. 61 Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 9. 62 Ausführlich hierzu Kapitel 3 B. I. 2. 55
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
aa) Der geforderte Bundespräsident? Im Zusammenhang mit dem in Art. 63 Abs. 1 GG dem Bundespräsidenten eingeräumten Vorschlagsrecht ergeben sich einige offene Fragen. Zunächst erscheint rechtfertigungsbedürftig, dass der Bundespräsident überhaupt an der Bundeskanzlerwahl mitwirkt. Fraglich ist weiter, ob oder welche Form des Ermessens dem Bundespräsidenten für den Vorschlag eines Kandidaten zukommt. Weiter stellt sich die Frage, zu welchem Zeitpunkt der Vorschlag des Bundespräsidenten eingebracht werden muss, da hierdurch erst die Wahlphasen des Art. 63 GG in Gang gesetzt werden. (1) Zur Integrationsfunktion des Bundespräsidenten Gemäß Art. 63 Abs. 1 S. 1 GG bedarf es einer Mitwirkungshandlung des Bundespräsidenten bei der Bundeskanzlerwahl: Danach wird der Bundeskanzler „auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestage ohne Aussprache gewählt“. Vor dem Hintergrund, dass die Bundeskanzlerwahl das im parlamentarischen Regierungssystem maßgebliche Verhältnis zwischen Regierung und Parlament erst etabliert63, erscheint rechtfertigungsbedürftig, wieso der Bundespräsident insoweit bei der Bundeskanzlerwahl zur Mitwirkung berechtigt ist. Der Bundespräsident ist das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Als solches kommen ihm verschiedene Funktionen zu. Diejenige Funktion, die für das Vorschlagsrecht relevant ist und insoweit auch als Rechtfertigung der präsidentiellen Mitwirkung angesehen werden kann, ist die sogenannte Integrationsfunktion des Bundespräsidenten. So ist der Bundespräsident das einzige Verfassungsorgan, das aus nur einer Person besteht. Smend geht davon aus, dass die Verkörperung des Staates in der Person des Bundespräsidenten für eine Identifikationswirkung im Sinne einer persönlichen Integration geeignet sei.64 Vor dem Hintergrund der in Demokratien bestehenden pluralistischen Gesellschaft vermag der Bundespräsident kraft seiner Würde und Autorität als Sinnbild der Einheit des Staates den Staat insgesamt zu repräsentieren und jenseits des (tages-)politischen Geschehen und parteipolitischen Grenzen Integrationswirkung durch Wertevermittlung zu erzielen.65 Die effektive Erfüllung dieser Integrationswirkung bedarf eigenständiger, verfassungsrechtlicher Kompetenzen des Bundespräsidenten.66 Das bedeutet, dass diese Kompetenzen von der prinzipiellen Gegenzeichnungspflicht aus Art. 58 GG ausgenommen sein müssen.67
63
Ausführlich hierzu Kapitel 3 B. I. 3. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, S. 475 ff. 65 Mangoldt / K lein / Starck / Fink, GG Art. 54 Rn. 14 f. 66 Mangoldt / K lein / Starck / Fink, GG Art. 54 Rn. 16. 67 Vgl. Mangoldt / K lein / Starck / Fink, GG Art. 54 Rn. 16. 64
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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Im Bereich der Bundeskanzlerwahl aus Art. 63 GG manifestiert sich die Integrationsfunktion in der ersten und dritten Wahlphase durch drei Komponenten: – Erstens wird die vorangegangene politische Debatte über die Frage, wer Bundeskanzler werden soll, für die erste Wahlphase auf eine Person fokussiert. Damit konzentriert sich die weitere Abstimmung auf nur diesen Kandidaten.68 Aus diesem Grund ist die Wahlhandlung in der ersten Wahlphase auch als Abstimmung, nicht als Wahl zwischen mehreren Optionen ausgestaltet. In der ersten Wahlphase kann etwa der Bundestag keinen eigenen Kandidaten vorschlagen, der unmittelbar mit dem präsidentiellen Vorschlag um das Amt des Bundeskanzlers konkurriert. Dabei ist der „Ort der Integration“ die Gesellschaft; der Bundespräsident verkörpert und fördert die unter der Geltung des GG verfassten Gesellschaft.69 Insofern kann hier auch von einer symbolischen Wirkung der Mitwirkung des Bundespräsidenten gesprochen werden, da dieser als parteipolitisch neutrale Instanz den Regierungsbildungsprozess initiiert. Damit wird auch auf symbolischem Wege eine Regierungsbildung etabliert, die vom Volke ausgeht.70 – Zweitens verbietet schon der Art. 63 Abs. 1 S. 1 GG die Aussprache über den vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen Kandidaten. Dies schützt nach weit verbreiteter Auffassung die Autorität des Bundespräsidenten.71 Zum Teil wird vertreten, das Ausspracheverbot schütze auch den Kandidaten selbst.72 Es wird jedenfalls aber verhindert, dass eine politische Diskussion über den präsidentiellen Vorschlag bzw. damit auch (mittelbar) die Festlegung des Bundespräsidenten durch den Bundestag erfolgt. – Drittens ist dem Bundespräsidenten in der dritten Wahlphase ein politisches Ermessen über die Frage eingeräumt, ob der Minderheitskanzler in das Amt berufen wird oder ob es zu einer Bundestagsauflösung kommt (sog. Kustos-Funktion73). Dieser Akt ist von der Gegenzeichnungspflicht aus Art. 58 GG befreit.74
68
Münch / Kunig / Mager, GG Art. 63 Rn. 13. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rn. 535, 656; Kimminich, Das Staatsoberhaupt in der parlamentarischen Demokratie, in: VVDStRL 1967, S. 2 (69); Schlaich, HStR II, § 49 Rn. 53; andere Ansicht bei Nettesheim, HStR III § 61 Rn. 16. 70 Vgl. Münch / Kunig / Mager, GG Art. 63 Rn. 13. 71 Münch / Kunig / Mager / Holzner, GG Art. 63 Rn. 22; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 32; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 25; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 65. 72 Sachs / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 22. 73 Nettesheim, HStR III, § 61 Rn. 10, 36 ff. 74 Mangoldt / K lein / Starck / Fink, GG Art. 54 Rn. 16. 69
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
(2) Freies Ermessen für den präsidentiellen Vorschlag? Der Vorschlag des Bundespräsidenten ist diejenige Handlung, welche die Wahlphasen des Art. 63 GG erst in Gang setzt. Dennoch wird eine aktive Beteiligung des Bundespräsidenten an Koalitionsverhandlungen vor der Abgabe des Vorschlags einhellig abgelehnt: ein bloßes Vorschlagsrecht impliziere nicht die grundsätz liche Befugnis, auch in rechtlich bestimmender Weise auf den politischen Prozess Einfluss zu nehmen.75 Etwaige Gespräche zwischen Bundespräsident und den Fraktionsvorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien dienen daher ausschließlich dem Informationsaustausch hinsichtlich der Frage über etwaige Erfolgsaussichten laufender Sondierungsgespräche und eine Prognose über den Abschluss eines Koalitionsvertrages. Umstritten ist dabei, ob auch eine Rechtspflicht des Bundespräsidenten hergeleitet werden kann, die Fraktionen zu konsultieren.76 Die Frage des Bestehens einer entsprechenden Konsultationspflicht kann im Kontexte des in Art. 63 Abs. 1 GG eingeräumten Vorschlagsrecht beantwortet werden: Wäre für den präsidentiellen Vorschlag ein freies, politisches Ermessen eingeräumt, spräche dies gegen diese Rechtspflicht. Sähe man ein pflichtgebundenes oder gar reduziertes Ermessen bei der Ausübung des Vorschlagsrechts, so wäre auch eine Rechtspflicht dergestalt folgerichtig zu bejahen. Die Ansichten hierzu reichen von dem Zugeständnis eines grundsätzlich ungebundenen (politischen) Ermessens77 über ein grundsätzlich oder in jedem Falle78 pflichtgebundenes Ermessen79 bis hin zur zwingenden Verpflichtung die parlamentarische Entscheidung bzw. den Koalitionsprozess vollständig abzuwarten80 und den in diesem Zusammenhang festgelegten „Mehrheitskandidaten“ vorzuschlagen. Ferner wird eine Begrenzung des Vorschlagsrechts ausschließlich durch das Missbrauchsverbot bei sachfremden Erwägungen in Betracht gezogen.81
75
So Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 89 ff. Für eine Rechtspflicht, siehe Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 71 f.; ähnlich Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 21 („verfahrensrechtliche Konsultation“). Gegen eine solche Rechtspflicht, siehe Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 3; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 27. 77 So Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 27; Sodan / L eisner, GG Art. 63 Rn. 3 („politische Prüfung“). 78 Schenke geht davon aus, dass dem Bundespräsidenten erst dann eine Ermessensentscheidung zukommt, wenn es zu Eröffnung der dritten Wahlphase kommt und der Bundestag dort einen Kandidaten nur mit relativer Mehrheit gewählt hat, siehe Schenke, Die Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie, in: JZ 2015, S. 1009. 79 So Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 18. 80 Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 97; Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 4; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 16. 81 Siehe Hofmann / Henneke / Uhle / Müller-Franken, GG Art. 63 Rn. 11. 76
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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(a) Vorschlagsrecht nach der wörtlichen Auslegung Dem natürlichen Wortsinn des Art. 63 Abs. 1 GG ist zunächst keine Wertung zu entnehmen: Der Begriff „Vorschlag“ kann einerseits als „Empfehlung“ verstanden werden, andererseits kann er auch ein neutrales „Angebot“ oder eine „Anregung“ sein. Während das Recht eine „Empfehlung“ abzugeben, die Befugnis zur Weitergabe der eigenen und persönlichen Ansicht bedeuten könnte, beinhaltet das Recht, ein „Angebot“ oder eine „Anregung“ zu geben nicht zwingend die Preisgabe dieser persönlichen Ansicht. Jedenfalls kann in dem „Vorschlag“ aber kein Auswahlrecht zu sehen sein. Ein Vorschlag ist dagegen regelmäßig eine eigene Einschätzung, die aber keinerlei Verbindlichkeit für das später zu treffende Wahlergebnis bedeutet und durch die übereinstimmende Erklärung einer zur Entscheidung befugten Instanz bedingt ist.82 Eine einseitig bestimmende und zur Verbindlichkeit führende Wahl zwischen beliebigen Optionen ist hierin nicht erkennbar. Diese Betrachtung lässt die Frage über eine inhaltliche Bindung des Vorschlags allerdings außer Betracht. Nur weil der „Vorschlag“ keine bindende Wirkung für eine spätere Entscheidung entfaltet, muss dieser nicht zwingend frei sein. Gleichwohl bedeutet der Vorschlag nach dem wörtlichen Verständnis auch nicht, dass mit ihm der späteren Entscheidung antizipiert werden muss. Damit ist der in Art. 63 GG angegebene Wortlaut mehrdeutig und bietet isoliert betrachtet keine Argumentationsgrundlage für oder gegen ein freies oder gebundenes Vorschlagsrecht. (b) Vorschlagsrecht nach der historischen Auslegung Die historische Auslegung des Vorschlagsrechts ergibt, dass der Verfassungsgeber eine Abkehr der in der Weimarer Republik praktizierten Reichskanzlerwahl nach Art. 53, 54 WRV beabsichtigte. Gemäß Art. 53 WRV wurden der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister durch den Reichspräsidenten ernannt und entlassen. Für ihre Amtsausübung bedurften Reichsminister und Reichskanzler gemäß Art. 54 WRV des parlamentarischen Vertrauens. Im Falle des jeweils auf sie bezogenen Vertrauensentzugs durch das Parlament musste jedes Regierungsmitglied zurücktreten. Zwar hatte Hugo Preuß vor der verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung erklärt, sein Verfassungsvorschlag basiere „auf dem Gedanken einer parlamentarischen Regierung“.83 In Bezug auf Art. 53, 54 WRV war allerdings 82
Vgl. Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 4. Preuß, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 336 (1919), S. 300: „Aber da der ganze Entwurf auf dem Gedanken einer parlamentarischen Regierung beruht, so können Sie die Schwäche oder Stärke der Regierung nie für sich allein betrachten. Die Stärke der Reichsregierung, wie sie hier der Entwurf vorsieht, beruht auf dem untrennbaren Zusammenhang mit dem Parlament.“ 83
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unter anderem die zentrale Frage offen geblieben, ob das Ernennungsrecht des Reichspräsidenten „allein den formellen Akt der Bestellung oder auch das Vorschlags- oder gar Auswahlrecht hinsichtlich des zu ernennenden Kandidaten [umfasste]“.84 Schließlich konkretisierte die Staatspraxis das offene Konzept der Regierungsbildung der Weimarer Reichsverfassung.85 Unter Reichspräsident F riedrich Ebert verlief die Ernennung Philipp Scheidemanns zunächst, indem Ebert die Koalitionsverhandlungen abwartete und dem Ergebnis dieser Verhandlungen folgte. Die darauffolgenden Besetzungen des Kanzleramtes unterschieden sich hiervon grundlegend und offenbarten Schwierigkeiten: Prägnante Beispiele aus der Reichspräsidentschaft Friedrich Eberts sind etwa die Ernennung Gustav Bauers im Jahr 1920, bei welchem Ebert den Vorschlag selbst erbrachte und schließlich in Verhandlung mit den Fraktionen trat, bis diese schließlich ein explizites Vertrauensvotum zugunsten Bauers aussprachen. Als das erste reine Präsidialkabinett gilt das Kabinett des parteilosen Reichskanzlers Wilhelm Cunos aus dem Jahr 1922. Diesem fehlten jegliche Merkmale einer parlamentarischen Regierung, die Regierungserklärung Cunos wurde vom Reichstag nur zur Kenntnis genommen und erhielt weder ein explizites Vertrauensvotum noch ein Tolerierungsvotum oder eine Billigung der Regierungserklärung. Letzteres traf etwa auf das Kabinett Joseph Wirths II aus dem Jahr 1921 zu. Finkelnburg charakterisiert ein solches Tolerierungsvotum als ein „mehr oder weniger unverbindlicher Beschluss, der indirekt das Einverständnis der Reichstagsmehrheit mit der Regierung zum Ausdruck brachte“.86 Das Kabinett Constantin Fehrenbachs ist die erste Minderheitsregierung, die ohne Billigung oder Vertrauensvotum amtierte.87 Insgesamt zeichnete sich bereits zu Beginn der Amtszeit Friedrich Eberts ab, dass ein „parlamentarisches Verfahren der Kandidatenauswahl und -präsentation […] auch faktisch nicht [entstand].“88 Preuß befand im Jahr 1921 das Initiativrecht des Reichspräsidenten als uneingeschränkt; auch Koalitionsabsprachen, so Preuß, vermögen dieses Recht nicht zu begrenzen.89 Das so entstehende Kooperationsmodell zwischen Reichspräsident und Parlament sei als „wahre[r] Geist des parlamentarischen Systems“ anzusehen.90 Gusy stellt für die Amtszeit Friedrich Eberts und die Auswirkungen der Ernennungspraxis dagegen fest, dass „vom ‚parlamentarischen Regieren‘ allein die Konsultationspflicht der Fraktionen [blieb]“. Letztlich, so Gusy, mutierte das „[p]arlamentarische[…] Regieren […] zur Veto-Position des Reichstags gegen amtierende Kabinette“. Der Fortbestand der Verfassung wurde damit nicht mehr durch die Normen der WRV, sondern durch das Agieren Eberts gesichert.91 84
Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, S. 181; ähnlich Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 4. 85 Im Folgenden Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, S. 182 ff. 86 Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 7. 87 Fehrenbach, Verhandlungen des Reichstages, Bd. 344, S. 181. 88 Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, S. 183. 89 Preuß (1921), Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 214 ff. 90 Preuß, Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 217. 91 Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, S. 186.
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In der Amtszeit Paul von Hindenburgs sieht Gusy die endgültige Beseitigung des parlamentarischen Regierens, indem ausschließlich der Reichspräsident über die Auswahl des Kanzlers befand und ein Mitwirkungsrecht nicht bestand bzw. ein Konsultieren der Fraktionen schließlich nicht mehr erfolgte. Eine parlamentarische Disposition bezüglich der amtierenden Regierung bestand ausschließlich im Misstrauensvotum aus Art. 54 WRV. Schließlich ging das parlamentarische vollständig in das präsidentielle System über, indem Art. 54 WRV in Gänze entwertet wurde, als Hindenburg letztlich mit Auflösungsdrohungen das Misstrauensvotum unterband.92 Letztlich bewirkten die Ernennung des Reichskanzlers aus Art. 53 WRV, die Auflösung des Reichstags nach Art. 25 WRV sowie das Notstandsrecht aus Art. 48 WRV eine „Verschiebung“ von „der parlamentarischen zur Präsidialregierung“.93 Die letzten Kabinette der Weimarer Republik sind als reine Präsidialkabinette anzusehen.94 Der Parlamentarische Rat intendierte bei der Schaffung des Grundgesetzes, die Einflussnahme des Bundespräsidenten auf die Bundeskanzlerwahl zu begrenzen. Stattdessen sollte nunmehr das Parlament eine starke Rolle bei der Bundeskanzlerwahl erhalten.95 Art. 63 GG wird als diejenige Vorschrift angesehen, die letztlich das parlamentarische Regierungssystem erst im Grundgesetz etablierte.96 Das Verständnis Hugo Preuß’ über das parlamentarische Regierungssystem wird kritisiert97, es stehe gerade nicht im Einklang mit der Konzeption einer parlamentarischen Regierung. Vielmehr, so Sternberger, habe dieses Verständnis nur „Gewaltenteilung und parlamentarische Kontrolle“ bedeutet.98 Nach dem Willen des Verfassungsgebers99 kann zunächst darauf geschlossen werden, dass das präsidentielle Vorschlagsrecht, so wie es Art. 63 GG vorsieht, eine Begrenzung finden muss. Im Grundsatz muss eine Entscheidung vom Parlament ausgehen, es soll jedenfalls keine doppelte Legitimation des Bundeskanzlers durch Bundespräsident und Bundestag erzielt werden.100 Damit, so Friesenhahn, seien alle „konstitutionellen Reste der Verfassung“ beseitigt.101 Somit verzichtet das Grundgesetz nach dem Scheitern der ersten beiden Wahlgänge auf jede 92
Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, S. 188 f. Hier und im Folgenden Gusy, 100 Jahre Weimarer Reichsverfassung, S. 180. 94 Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 4. 95 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36, 42. 96 Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (8); vgl. auch Friedrich, Anlage und Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik, in: DVBl. 1980, S. 505. 97 Siehe hierzu auch Thoma, HStR I, S. 503 ff.; außerdem Stern, Staatsrecht I. S. 951 ff. 98 Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (9). 99 Siehe hier auch die Darstellungen bei Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 47. 100 Vgl. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (41). 101 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (42 f.); ebenso Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 4. 93
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Form einer „Legalitätsreserve“, bei der ein weiteres Verfassungsorgan, etwa der Bundespräsident, zur Regierungsbestellung befugt wäre.102 Zwar intendierte der Parlamentarische Rat damit die Schwächung des Bundespräsidenten und seiner rechtlichen Kompetenzen. Allerdings enthält der Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee Ausführungen, dass das „arbeitsfähige“ Parlament allein über die Besetzung des Kanzlers verfügt.103 Es kann im Umkehrschluss angenommen werden, dass eine alleinige Amtsbesetzung des Bundeskanzlers durch das Parlament im Umkehrschluss nicht obligatorisch ist, wenn das Parlament sich in seiner Zusammensetzung als arbeitsunfähig erweist. Es ist davon auszugehen, dass die ausbleibende Einigung auf einen Mehrheitskandidaten einen solchen Fall der „Arbeitsunfähigkeit“ darstellt. In diesem Zusammenhang zeigt insbesondere Art. 63 Abs. 4 S. 4 GG, dass dem Bundespräsidenten in bestimmten Fällen der Mehrheitskrise dennoch Kompetenzen zustehen, wo jedenfalls eine Auswahlmöglichkeit und ergo ein auf null reduziertes Ermessen besteht. (c) Der Bundespräsident als „Geburtshelfer“ der Regierungsbildung In der Praxis hat der Bundestag in jeder Kanzlerwahl der Bundesrepublik Deutschland den Vorschlag des Bundespräsidenten angenommen, sodass es zur Wahl in der ersten Wahlphase kam. Der Bundespräsident hatte sich zuvor stets an den sich im politischen Einigungs- bzw. Koalitionsprozess abzeichnenden Mehrheitsverhältnissen orientiert und insoweit auch den Abschluss eines Koalitionsvertrages abgewartet.104 Problematisch erscheint jedoch, welchen Vorschlag der Bundespräsident zu unterbreiten hat und wie er zu seiner Einschätzung gelangt, wenn sich der Koalitionsvertrag einer Mehrheitsregierung nicht abzuzeichnen zu vermag. In der 19. Legislaturperiode105 drohte diese Frage praktisch relevant zu werden, zumal Sondierungsgespräche der zunächst geplanten Jamaika-Koalition scheiterten und die SPD am Wahltag eine Neuauflage der Großen Koalition ausgeschlossen hatte, sodass laut Unvereinbarkeitsbeschlüssen der Parteien an sich keine weiteren Koalitionsoptionen einer minimalen Gewinnkoalition mit der Beteiligung der CDU / CSU gegeben wären. Allenfalls wäre eine Koalition aus SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspartei als minimale Gewinnkoalition in Betracht gekommen. Hierfür war es aber nicht zu Sondierungsgesprächen gekommen. Die Idee der Einschaltung eines Hilfsorgans zur Regierungsbestellung ist kein Phänomen des Grundgesetzes und seiner Schaffung.106 Im Landtag Thüringens 102 So Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (397). 103 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 37. 104 Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 27. 105 Zu den Mehrheitsverhältnissen und zum Koalitionsprozess, siehe Kapitel 2 B. II. 1. b). 106 Im Folgenden Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20 – 1933, S. 166 ff., 208 f.
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wurde bereits im Jahr 1921 das Amt einer Vertrauensperson etabliert. Als Reaktion auf die Wahlen des ersten Thüringer Landtags, so Leimbach, wurde der „Vertrauensmann“ mit der Regierungsbildung betraut. Bedeutung habe dieser aber nur dann erlangt, sofern der Landtag sich außer Stande gesehen hatte, selbstständig eine Regierung zu bilden, da keine Einigung ersichtlich war oder eine Pattsituation bestand. In der Praxis aus den Jahren 1920 bis 1933 habe hierin aber allenfalls „eher ein Notbehelf als eine echte Lösung“ bestanden. Die Einsetzung des „Vertrauensmannes“ erfolgte zeitlich nach der Konstituierung des Thüringer Landtags. Regelmäßig hatten die Parteien bis zur Konstituierung und formellen Einsetzung des „Vertrauensmannes“ bereits die Koalitionsbildung vollzogen. Eine eigenständige Funktion kann, so Leimbach, dem Amt daher nur im Bereich nachträglichen Vertrauensverlustes etwa durch Koalitionsbruch oder möglichem konstruktiven Misstrauensvotums zugesprochen werden. Die zeitlichen Vorgaben des Art. 63 GG sprechen jedenfalls dafür, dass die Wahlphasen zur Bundeskanzlerwahl möglichst bald nach ihrem Beginn beendet werden sollen. Käme dem Bundespräsidenten in jedem erdenklichen Fall nur ein faktisch auf null reduziertes Ermessen hinsichtlich seines Vorschlags zu, indem er verpflichtet wäre, auf die Mehrheitsbildung zu warten, so könnte der Fall eintreten, dass in der gesamten Legislaturperiode gar kein Ingangsetzen der Wahlphasen nach Art. 63 GG erfolgt. Der Bundespräsident wird, dem begegnend, zum Teil als „praktische Geburtshilfe“ der Bundeskanzlerwahl bezeichnet.107 Sein Vorschlagsrecht dient insoweit der Verfahrensbeschleunigung.108 Anders als in der Weimarer Reichsverfassung kommt dem Vorschlagsrecht keine legitimierende Wirkung zu, denn der Bundeskanzler erlangt die Legitimation nur noch vom Parlament und steht nicht in doppelter Abhängigkeit zwischen Bundespräsident und Bundestag.109 Das Vorschlagsrecht ist ergo ausschließlich funktionsbezogen.110 Hinsichtlich der inhaltlichen Bindung des Vorschlagsrechts ist im Ergebnis daher zu differenzieren: Sollte sich im Koalitionsprozess abzeichnen, dass der Konsens jedenfalls (zeitnah) noch möglich ist, so hat der Bundespräsident den Prozess abzuwarten und sein Vorschlagsrecht hinsichtlich des Mehrheitskandidaten auszuüben. Zeigt sich jedoch, dass eine Einigung nicht in Sicht ist, so erweitert sich kongruent zur fehlenden Einigung das Ermessen und die dem zugrunde liegende Einschätzungsprärogative des Bundespräsidenten.111 Aus einem gebundenen Ermessen wird gegebenenfalls ein freies, politisches Ermessen.
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Münch, Die Bundesregierung, S. 131. Zustimmend: Schröder, HStR III, § 65 Rn. 6; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 14. 108 Schröder, HStR III, § 65 Rn. 6; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 17. 109 Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 27. 110 Schröder, HStR III, § 65 Rn. 11; Nettesheim, HStR III, § 62 Rn. 5; ebenso Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 19. 111 Vgl. Münch, Die Bundesregierung, S. 131; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 25. Ähnlich Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (43).
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Hierfür spricht erneut die zeitliche Systematik. Scheitert die erste Wahlphase nach Art. 63 Abs. 1, 2 GG, so ist der Bundestag angehalten, binnen 14 Tagen einen Bundeskanzler auf Basis einer eigenen Einschätzung vorzuschlagen. Auf diese Weise wird Druck auf langwierige Einigungsprozesse geübt, die dann möglicherweise innerhalb der angegebenen Frist zum Ende gelangen. In Zeiten einer Mehrheitskrise verfügt der Bundespräsident auf diese Weise über ein Druckmittel.112 Dies ist auch im Zusammenhang mit Art. 69 Abs. 3 GG zu sehen. Die Geschäftsregierung ist nicht mit solchen Rechten ausgestattet, die ein Regieren über die gesamte Legislaturperiode ermöglichen.113 Dem geschäftsführenden Kanzler fehlt etwa das Recht, die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu stellen oder einen Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG zu beantragen.114 Dies ist problematisch, weil die Kräfteverhältnisse sich von Legislaturperiode zu Legislaturperiode sich regelmäßig insofern ändern, als auch eine Gesetzgebung bzw. die hierfür erforderliche Mitwirkung des Bundestags durch dessen mehrheitliche Unterstützung nicht gewährleistet ist. Dann droht unter Umständen eine Krise, für die verfassungsrechtlich aber keine Vorkehrungen getroffen werden.115 Schließlich wird die grundsätzlich inhaltliche Bindung des Vorschlagsrechts auch mit den verfassungsrechtlichen Aufgaben und Funktionen des Bundespräsidenten gerechtfertigt. Es entspreche weiter der präsidentiellen Aufgabe, „die Integration und Kontinuität des Staatslebens zu sichern“, sodass die inhaltliche Bindung aufzuheben ist, soweit ein Einigungsprozess nicht ersichtlich ist.116 Zum Teil wird angeführt, der Grund für die Bindung sei eine vom Bundespräsidenten zu wahrende Verfassungsorgantreue.117 (d) Die Ermessenssystematik aus Art. 63 GG Zuletzt spricht die Ermessenssystematik aus Art. 63 GG für das dargestellte grundsätzlich pflichtgebundene und im Falle der Mehrheitskrise erweiterte, freie bzw. politische Vorschlagsrecht. Dem Bundespräsidenten ist in Art. 63 Abs. 4 S. 4 GG eine Entscheidungsbefugnis eingeräumt. Für den Fall, dass der Bundestag in den ersten beiden Wahlphasen scheitert, einen Kandidaten mit der erforder 112 Vgl. Lippert, Berufung und Abbestellung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem, S. 8. 113 Zur Geschäftsregierung und ihren verfassungsrechtlichen Defiziten siehe Kapitel 4. 114 Stellvertretend für viele Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 75 ff.; Stern, Staatsrecht II, S. 297; Jarass / Pieroth, GG Art. 69 Rn. 3; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 69 Rn. 63 Rn. 151; Sodan / L eisner, GG Art. 69 Rn. 5; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 61. 115 Ausführlich hierzu Kapitel 4. 116 Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 25; zustimmend: Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 3; Ipsen, Regierungsbildung im Mehrparteiensystem, in: JZ 2006, S. 217. 117 Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 72; ders., Die Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie, in: JZ 2015, S. 1009 (1010).
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lichen Mehrheit aus Art. 121 GG zu wählen, kommt es zur Eröffnung der dritten Wahlphase. In dieser Phase ist gewählt, wer die relative Mehrheit erlangt. In diesem Fall „hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen [den Gewählten] zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen“. Art. 63 Abs. 4 S. 4 GG zeigt, dass dem Bundespräsidenten weitergehende Befugnisse zukommen sollen, wenn die bezeichnete Mehrheitskrise besteht. Analog dazu erstarkt auch das Vorschlagsrecht vor Beginn der ersten Phase, wenn sich zu diesem Zeitpunkt bereits eine Mehrheitskrise abzeichnet. Sollte bereits im Vorfeld der ersten Wahlphase ein langwieriger und mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolgloser Koalitionsprozess bestehen, so ist die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass es – bedingt durch das Scheitern der ersten beiden Phasen und des Nicht-Erreichens des hier erforderlichen Mehrheitsquorums – auch zur Eröffnung der dritten Wahlphase kommt. Fraktionen, die sich im Vorfeld nicht auf einen Kanzler zu einigen vermögen, werden diesen auch nicht in den ersten beiden Wahlphasen mit absoluter Mehrheit wählen. Daher ist es sachdienlich, dem Bundespräsidenten bereits zu diesem Stadium die Möglichkeit zu geben, ein Druckmittel auszuüben, um etwaige noch laufende Sondierungs- oder Koalitionsgespräche spätestens in der zweiten Wahlphase zum Abschluss zu bringen. (e) Zwischenergebnis Insgesamt ist das Vorschlagsrecht aus teleologischen und systematischen Argumenten als grundsätzlich pflichtgebunden anzusehen. Nur in Fällen der fehlenden Einigung nach vorausgegangenen Verhandlungen kann der Bundespräsident das Vorschlagsrecht grundsätzlich frei entsprechend seiner eigenen Einschätzungsprärogative ausüben. Es handelt sich dabei um einen Fall politischen Ermessens. Das Ermessen weitet sich kongruent zur steigenden Wahrscheinlichkeit, der Einigungsprozess zwischen den Fraktionen könne scheitern. Heun spricht insoweit von einer „Reservefunktion“ des Bundespräsidenten.118 In Mehrheitskrisen muss hinsichtlich des Vorschlagsrechts eines Kandidaten in der ersten Wahlphase nicht zwingend eine Begrenzung hergeleitet werden, weil der Bundestag letztlich über den Vorschlag abstimmt und diesen ablehnen kann. Folgerichtig muss auch eine Rechtspflicht zur Konsultation des Bundespräsidenten für den Fall angenommen werden, dass die langwierigen Einigungsprozesse keine baldige Aussicht auf Erfolg versprechen.119 Eine pauschale Konsultationspflicht, die in jedem Falle und losgelöst von einer fehlenden oder erschwerten Einigung zu erfolgen hätte, besteht im Ergebnis aber nicht. Dies widerspräche insbesondere der Tatsache, dass der Bundespräsident abgesehen von seinem Vorschlagsrecht nicht zur Intervention in politische Einigungsprozesse berechtigt ist. 118
Heun, Die Stellung des Bundespräsidenten im Licht der Vorgänge um die Auflösung des Bundestages, in: AöR 1984, S. 13 (15). 119 Ebenso Heun, Die Stellung des Bundespräsidenten im Licht der Vorgänge um die Auflösung des Bundestages, in: AöR 1984, S. 13 (16).
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(3) Der „richtige“ Zeitpunkt Weiter ist in diesem Zusammenhang – insbesondere vor dem Hintergrund möglicher Mehrheitskrisen – fraglich, wann der Bundespräsident zur Abgabe des Vorschlags verpflichtet ist bzw. wann der aus verfassungsrechtlicher Sicht „richtige“ Zeitpunkt zur Abgabe des Vorschlags ist. Der Wortlaut des Art. 63 Abs. 1 GG gibt hierzu erneut keinen Aufschluss, da in Bezug auf das Ingangsetzen der ersten Wahlphase jede zeitliche Anforderung fehlt.120 Nach überwiegender Ansicht besteht für den präsidentiellen Vorschlag eine „angemessene“ Frist. Die im Verfassungsrecht übliche Verwendung des Angemessenheitsbegriffs meint die Abwägung widerstreitender Interessen.121 Ein solches Verständnis kann auch für das präsidentielle Vorschlagsrecht zugrunde gelegt werden. Es ist abzuwägen zwischen dem ausschließlich durch den Bundestag auszuführenden Bestellungsakt als grundlegendes Merkmal der verfassungsrechtlichen Ausrichtung des parlamentarischen Regierungssystems122 und der Beschleunigung und Sicherung der Regierungsbildung bei insoweit bestehenden Einigungsschwierigkeiten. Es verbietet sich eine pauschale zeitliche Einordnung, stattdessen muss sachgerecht anhand der jeweiligen Umstände differenziert werden: Konkret bedeutet dies für das Vorschlagsrecht und den insoweit als „angemessen“ zu erachtenden Zeitpunkt, dass der Bundespräsident sein Vorschlagsrecht ausüben muss, sobald die Fraktionen sich auf einen Mehrheitskandidaten geeinigt haben oder für ihn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine fehlende Einigung in für ihn absehbarer Zeit besteht. Während im Falle einer mehrheitlichen Einigung der Bundespräsident kein Recht hat, den Mehrheitskandidaten dem Bundestage vorzuenthalten123, muss der Bundespräsident analog zu seinem sich erweiterndem Ermessen im Falle einer Mehrheitskrise dafür sorgen, dass die Wahlphasen in Gang gesetzt werden. Solange eine Einigung noch wahrscheinlich oder realistisch ist, hat der Bundespräsident den Einigungsprozess abzuwarten.124 120
So Troßmann, Parlamentsrecht des Deutschen Bundestages, § 4 Rn. 6; siehe auch Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 31; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 115; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 25; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 24. 121 BVerfGE 50, 217 (227); 80, 103 (197); 99, 202 (212). 122 Ausführlich hierzu Kapitel 3 B. I. 2. a) bb). 123 Vgl. Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grund gesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (9). Jellinek geht davon aus, dass der Bundespräsident nach Wahl eines Kanzlers mit absoluter Mehrheit in der ersten bzw. zweiten Wahlphase den neuen Kanzler spätestens binnen einer Woche zu ernennen hat, da er in diesem Fall nicht mehr das Recht habe, eine Geschäftsregierung im Amte zu belassen, wenn das Parlament sich auf einen neuen Kanzler geeinigt habe. Dieser Rechtsgedanke lässt sich auch auf das Vorschlagsrecht übertragen. Ähnlich Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 4: Herzog führt davon aus, dass bei mehrheitlicher Wahl eines Kandidaten kein Ermessen zugunsten des Bundespräsidenten für oder gegen die Ernennung besteht. Zum Teil wird allenfalls ein förmliches Prüfungsrecht hinsichtlich der Einhaltung formeller Verfahrensvorschriften befürwortet, siehe etwa Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (3). 124 Vgl. BeckOK / Epping, GG Art. 63 Rn. 5; Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 71 f., 94; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 21.
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Das Fehlen einer starren Frist im Wortlaut des Art. 63 Abs. 1 GG kann dabei mit teleologischen Erwägungen begründet werden: Das Vorschlagsrecht sichere insgesamt die Regierungsbildung. Ein übereiltes Vorgehen des Bundespräsidenten könnte dieses Ziel vereiteln, indem es einen noch bestehenden und möglicherweise auch erfolgreichen Einigungsprozess unterbreche.125 Gleichwohl biete der Verzicht auf eine starre Frist die nötige Flexibilität, zumal eine (zeitbezogene) abstraktgenerelle Verrechtlichung politischer Prozesse nur bedingt möglich erscheine. Zeichne sich bereits nach kurzer Zeit ab, dass ein Einigungsprozess schlechthin nicht ersichtlich ist, so bestehen damit jederzeit und tatbestandlich grundsätzlich ungebunden die hierfür sachdienlichen Handlungsoptionen des Bundespräsidenten.126 Insbesondere ist es dem Bundespräsidenten möglich, die nicht zeitgebundene Ausübung des Vorschlagsrechts als Druckmittel zu verwenden, damit etwa schleppend verlaufende Sondierungs- oder Koalitionsprozesse beschleunigt werden oder gar zu einer finalen, rechtssicheren Entscheidung gelangen.127 Aus diesem Grund ist eine starre zeitliche Vorgabe wie auch eine Analogie zu Art. 39 Abs. 3 GG128 mangels Planwidrigkeit der Regelungslücke abzulehnen. Für die Betrachtung des Fristverzichts als Druckmittel des Bundespräsidenten bei fehlendem Einigungserfolg auf Seiten der Fraktionen spricht erneut auch die in Art. 63 GG angelegte Zeitsystematik.129 Nach Ingangsetzen der Wahlphasen durch den Bundespräsidenten hat der Bundestag in der ersten Wahlphase die Möglichkeit, den Vorschlag des Bundespräsidenten durch mehrheitliches Votum abzulehnen. Dennoch erfährt der Bundestag daraufhin in der zweiten Wahlphase eine zeitliche Begrenzung von vierzehn Tagen, sodass den Fraktionen nach dem Ingangsetzen nur noch zwei Wochen für die Einigung verbleiben. Zwar wäre es dem Bundestag unbenommen, den Einigungsprozess über die vierzehntägige Frist hinauszuzögern und weiter zu verhandeln, um eventuell in der dritten Wahlphase einen Kanzler auch mit absoluter Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG zu wählen. Allerdings hat auch diese Wahl nach Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG „unverzüglich“ zu erfolgen.130 Letztlich spricht für eine teleologisch herzuleitende, aber zeitlich unbestimmte Zeitvorgabe für den präsidentiellen Vorschlag auch seine nach einhelliger Auffas-
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Hier und im Folgenden Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 2; ebenso Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 26. 126 Siehe Kämmerer, Deutschland auf dem Weg zur „Lame Duck Democracy“? – Eine kleine Systemkritik, in: NVwZ 2014, S. 29 (32). Ebenso Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 17; Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 2; Schröder, HStR III, § 65 Rn. 8; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 20; Münch / Kunig / Mager, GG Art. 63 Rn. 18. 127 Ausführlich hierzu Kapitel 3 B. I. 2. a) aa) (2). 128 Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 2. 129 Im Folgenden Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 68; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 20. 130 Zu der Frage, ob der Bundestag das Recht hat, die Wahl nach Art. 63 Abs. 4 GG von der Tagesordnung zu nehmen und so die Wahl zu verhindern, siehe Kapitel 3 B. I. 2. c) aa).
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
sung bestehende Pflicht zur Abgabe eines Vorschlags.131 Die pflichtwidrige NichtAusübung des Vorschlagsrechts kann eine Pflichtverletzung nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG oder sogar die Einleitung einer Präsidentenanklage nach Art. 61 GG nach sich ziehen.132 Das Ablehnen einer solchen Pflicht hätte zur Folge, dass eine nach Art. 69 Abs. 3 GG amtierende Geschäftsregierung über die gesamte Legislatur periode amtieren könnte. Angesichts der eingeschränkten Befugnisse des Bundeskanzlers und dem Sinn und Zweck der Geschäftsregierung, eine regierungslose Zeit zu verhindern, wäre ein solches Amtieren jedoch als system- und verfassungswidrig anzusehen.133 Insgesamt sollte von Forderungen für eine (verfassungsrechtlich normierte) starre Zeitfrist abgesehen werden, um die Ziele des Vorschlagsrechts nicht zu vereiteln. Allerdings sind aus systematischen wie auch teleologischen Erwägungen kongruent zum Einigungsprozess und der ab- oder zunehmenden Wahrscheinlichkeit der Einigung bzw. Nichteinigung die Pflicht des Bundespräsidenten herzuleiten, zu einem angemessenen, im Einzelfall sachdienlichen Zeitpunkt Gebrauch von seinem Vorschlagsrecht zu machen. Dies steht auch im Einklang mit der dargestellten Ausweitung des präsidentiellen Ermessens hinsichtlich des Vorschlagsinhalts. Es lässt sich festhalten, dass der Zeitraum für die verfassungskonforme Ausübung des Vorschlagsrechts sich mit dem Erweitern des Vorschlagsinhalts verringert: Je weiter das Ermessen des Bundespräsidenten hinsichtlich des Inhalts, umso zeitnäher muss der Vorschlag erfolgen. bb) Die parlamentarische Bestellungsgewalt Die Konzeption des Art. 63 GG ist als Abkehr von den Vorschriften der Weimarer Reichsverfassung, den Art. 52, 53 WRV134 anzusehen. So ist die Bestellungsgewalt des Bundeskanzlers mit dem Grundgesetz vom Präsidenten bzw. vom Staatsoberhaupt auf das Parlament übergegangen, um letztlich eine neue Legitimationsgrundlage des Bundeskanzlers zu schaffen.135 Der Einfluss des Staatsoberhaupts wurde damit stark begrenzt.136 Die Wahlphasen des Art. 63 GG werden zwar dadurch in Gang gesetzt, dass der Bundespräsident seinen Wahlvorschlag unterbreitet. Hierüber stimmt der Bundes 131
Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 67; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 15; Schröder, HStR III, § 65 Rn. 7; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 18; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 20; andere Ansicht bei Münch / Kunig / Mager, GG Art. 63 Rn. 15. 132 Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 20. 133 Ausführlich zu den Schwächen der Geschäftsregierung siehe Kapitel 4. 134 Art. 52 WRV lautete: Die Reichsregierung besteht aus dem Reichskanzler und den Reichsministern. Art. 53 WRV lautete: Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen. 135 Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (8). 136 Vgl. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36, 42.
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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tag in der ersten Wahlphase ab.137 Wie bereits dargestellt ist die inhaltliche Bindung oder Beschränkung des präsidentiellen Ermessens abhängig von den Erfolgsaussichten laufender oder gar abgebrochener Koalitionsprozesse. Nichtsdestoweniger besteht in der ersten und zweiten Wahlphase nach Art. 63 Abs. 1, 2 bzw. Abs. 3 GG jeweils ein alleiniges Entscheidungsrecht, mithin ein Entscheidungsmonopol zugunsten des Parlaments. Dieses alleinige Bestellungsrecht und die im Grundsatz der präsidentiellen Disposition entzogene Wahl des Bundeskanzlers regen überhaupt die im Parlament vertretenen Parteien dazu an, Koalitionen zu bilden. Ein Parlament, das wie zur Zeit der Weimarer Republik sich faktisch nicht an der Regierungsbildung beteiligte und dies ausschließlich dem Reichspräsidenten überließ, weist infolgedessen wohl auch eine geringere Koalitionsbereitschaft auf. Das präsidentielle Vorschlagsrecht zur Einleitung der ersten Wahlphase dient wie oben dargestellt ausschließlich der Integrationsfindung. Dem Parlament ist es unabhängig von einer etwaigen inhaltlichen Bindung oder einem freien präsidentiellen Ermessen beim Vorschlagsrecht unbenommen, den Vorschlag aus Art. 63 Abs. 1 GG in der ersten Wahlphase abzulehnen. Es besteht in der ersten Wahlphase auch ein Ausspracheverbot, welches einerseits den Kandidaten und den Bundespräsidenten zu schützen vermag.138 Andererseits kann der Bundestag auf diese Weise ohne Begründung und inhaltlichen Diskurs den Vorschlag ablehnen. Der zu wählende Bundeskanzler erfährt seine Legitimation ausschließlich durch den Bundestag, nicht aber durch den Bundespräsidenten.139 Insoweit kommt der „parlamentarischen Alleinwahl des Kanzlers (…) allerhöchste[r] Symbol- und Legitimationsgehalt“ zu.140 Dies offenbart sich auch im Zusammenspiel des Art. 63 GG mit dem konstruktiven Misstrauensvotum aus Art. 67 GG. Danach ist ausschließlich der Bundestag dazu befugt, dem Bundeskanzler das Misstrauen auszusprechen. Das einzige zum Aussprechen des Misstrauens befugte Organ ist der Bundestag. Demgegenüber ist auch nur der Bundeskanzler gemäß Art. 68 GG dazu berechtigt, die Vertrauensfrage dem Parlament zu stellen und so das Vertrauen bejahen oder verneinen zu lassen.141 Eine Vertrauensbeziehung findet sich demgemäß ausschließlich zwischen Parlament und Regierung. Der alleinigen Bestellungsgewalt des Bundestages 137
Zum Abstimmungscharakter siehe Ausführungen in Kapitel 1 B. I. 1. sowie Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 26; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 21; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 118; Schröder, HStR II, § 51 Rn. 16; Rein, Die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Bundespräsidenten bei der Bildung der Bundesregierung, in: JZ 1969, S. 374. 138 Münch / Kunig / Mager, GG Art. 63 Rn. 8; ebenso Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 32; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 22. Hiervon abweichende Ansichten finden sich bei Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 9; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 25; BeckOK / Epping, GG Art. 63 Rn. 18. 139 BeckOK / Epping, GG Art. 63 Rn. 30. 140 Friedrich, Anlage und Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik, in: DVBl. 1980, S. 505 (505 f.). 141 Ausführlich zu Art. 68 siehe Kapitel 3 C. II.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
korrespondiert die alleinige Möglichkeit zur Abbestellung des Bundeskanzlers. Die Normen aus Art. 63 Abs. 1 bis 3 bringen zum Ausdruck, dass eine Mehrheitsregierung sich nicht nur faktisch des mehrheitlichen Vertrauens versehen soll.142 Vielmehr soll sich dieser Umstand bereits bei der Kanzlerwahl offenbaren. So soll sich die Unterstützung zu Beginn der Legislaturperiode auch in der formellen Bestellung niederschlagen. Für den Fall eines nachträglichen materiellen Verlustes kann schließlich Art. 67 GG zur Anwendung kommen.143 Über Art. 63 GG hat das Parlament die Möglichkeit, über das „Ob“ einer Kanzlerschaft zu befinden, über Art. 67 GG entscheidet das Parlament über die Dauer ihres Bestehens.144 b) Die zweite Wahlphase: alleiniges Entscheidungsrecht des Parlaments Hat der Bundestag den Vorschlag der ersten Wahlphase abgelehnt, so kommt es zu einer echten Wahl in der zweiten Wahlphase. Gemäß Art. 63 Abs. 3 GG geht das Vorschlagsrecht auf den Bundestag über. Falls der Bundespräsident zuvor also einen Kandidaten vorgeschlagen hat, der nicht dem tatsächlichen Mehrheitsbild im Parlament entsprach, hat der Bundestag nunmehr das Recht, in beliebig vielen Wahlgängen, die allesamt binnen der vorgegebenen vierzehntägigen Frist zu erfolgen haben, eigene Kandidaten vorzuschlagen. Im Falle einer Wahl nach Art. 63 Abs. 3, 121 GG ist der Bundespräsident verpflichtet, den Gewählten zu ernennen. Diesbezüglich kommt dem Bundespräsident kein Ermessen zu.145 Da in der zweiten Wahlphase mit Ausnahme des rein formellen Ernennungsaktes durch den Bundespräsidenten keinem anderen Verfassungsorgan eine Dispositionsbefugnis hinsichtlich der Kandidatenauswahl zukommt, ist es in der zweiten Wahlphase auch zulässig, keine Wahlhandlungen vorzunehmen.146 Hierfür spricht insbesondere auch die zeitliche Begrenzung von vierzehn Tagen. Selbst wenn also der Bundestag keine Kandidaten nach Maßgabe des § 4 S. 2 GO BT vorschlägt, welche in der Folge gewählt werden können, wird die Bundeskanzlerwahl nicht unendlich ausgeweitet. Wie dargestellt ist diese Begrenzung ein Grund dafür, dass das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten sich im Falle der Mehrheitskrise als Druckmittel erweisen kann: Ist evident, dass die Einigung langwierig oder schwierig verläuft und wurde der präsidentielle Vorschlag in der ersten Wahlphase abgelehnt, so ist die 142
Vgl. Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 9; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 2 f.; Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Vorb. zu Art. 62 Rn. 1; Dreier / Hermes, GG Art. 63 Rn. 8. 143 Vgl. Friedrich, Anlage und Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems der Bundesrepublik, in: DVBl. 1980, S. 505 (505 f.). 144 Steffani, Zur Unterscheidung präsidialer und parlamentarischer Regierungssystems, in: ZParl 1983, S. 390 (393); siehe auch: Stern, Staatsrecht I, S. 579, 956, 962; Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 6. 145 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 4. 146 Vgl. Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZPR 2018, S. 2 (3); andere Ansicht bei Sodan / Leisner, GG Art. 63 Rn. 7.
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zweite Wahlphase die grundsätzlich letzte Möglichkeit, einen Bundeskanzler als formellen Mehrheitskanzler zu bestellen. Sicherlich könnte auch in der dritten Wahlphase ein Mehrheitskanzler bestellt werden. Wie dargestellt muss diese Wahl aber unverzüglich erfolgen, das heißt die Einleitung der dritten Wahlphase gewährt keinen zeitlichen Aufschub, falls die Einigungsprozesse bis zu diesem Zeitpunkt noch zu keinem Ende gelangt sind. Unwahrscheinlich aber nicht unmöglich ist daher die Wahl einer formellen Mehrheitsregierung in der dritten Wahlphase. Die alleinige Bestellungsgewalt des Bundestages zieht sich durch sämtliche Wahlphasen: Alle drei Wahlphasen haben gemein, dass trotz unterschiedlicher Vorschlagsrechte oder unterschiedlicher Mehrheitsquoren durch die Wahl oder Abstimmung ein „fester Zusammenhang“ zwischen Bundestag und Bundesregierung geschaffen wird.147 c) Die dritte Wahlphase: das materielle Reserverecht aa) Die Wahlverpflichtung in der dritten Wahlphase In der dritten Wahlphase liegt das Vorschlagsrecht ebenso wie in der zweiten Wahlphase beim Bundestag. Ist es in der zweiten Wahlphase zulässig, die vierzehntägige Frist ohne die Vornahme von Wahlhandlungen verstreichen zu lassen, so ist klärungsbedürftig, ob dies auch auf die letzte Wahlphase zutrifft. (1) Wahlverpflichtung nach dem Wortlaut des Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG Die wörtliche Auslegung spricht zunächst für eine Wahlverpflichtung. Anders als in Art. 63 Abs. 3 GG, in der das Modalverb „kann“ die Möglichkeit, aber keine Pflicht des Bundestages aufzeigt, birgt der Wortlaut aus Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG eine Bindung: Demnach „findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt“. Die sprachliche Ausgestaltung sieht eine Pflicht für das Abstimmen selbst und den Abstimmungszeitpunkt vor. (2) Wahlverpflichtung nach Sinn und Zweck des Art. 63 Abs. 4 GG Die verfassungsrechtliche Pflicht zur Abstimmung ergibt sich schließlich aus dem Sinn und Zweck des Art. 63 Abs. 4 GG. So hat die Wahl in der dritten Wahlphase unverzüglich zu erfolgen. Zwar ist der Bundestag grundsätzlich im Gesetzgebungsprozess und sonstigen Abstimmungsprozessen frei, Tagesordnungspunkte zu verwerfen oder diese zu vertagen. In diesem Falle ist eine Unverzüglichkeit in 147
Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 9.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
des verfassungsrechtlich obligatorisch: Die Zeitangabe soll dazu führen, dass die Wahlphasen aus Art. 63 GG alsbald zu einem Ende gelangen, sodass ein rechts sicheres Ergebnis besteht.148 Die zeitliche Vorgabe könnte jedoch nicht eingehalten werden, sofern dem Bundestag ein Recht zur Verwerfung oder Vertagung der Wahl zukäme. Insoweit ist hier eine Ausnahme von der ansonsten bestehenden parlamentarischen Abstimmungsautonomie zu sehen. Sinn und Zweck der engen zeitlichen Vorgabe des Art. 63 Abs. 4 GG ist ferner die Beendigung der Amtszeit einer unterdessen amtierenden Geschäftsregierung. Diese kann nur eine Übergangsregierung darstellen, da ihr konstitutive Elemente fehlen und ihr demokratischer Auftrag verbraucht ist.149 Bestünde keine Wahlpflicht, so könnte sich das Parlament der parlamentarischen Wahl gänzlich entziehen. Zum Teil wird angeführt, dem Bundespräsidenten käme in einem solchen, womöglich nur theoretischen Fall ein Auflösungsrecht des Bundestages analog Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG zu.150 (3) Konsequenzen der Wahlpflicht für Beschlussfähigkeit und Vorschlagsquoren Ebenso wie in der zweiten Wahlphase liegt die Verantwortung für die Kanzlerwahl beim Bundestag; diesem obliegt in der Wahlphase nach Art. 63 Abs. 4 GG erneut das Vorschlagsrecht. Der Art. 63 Abs. 4 GG selbst schreibt jedenfalls nicht das Erfordernis eines bestimmten Wahlquorums des gewählten Kandidaten vor. Stattdessen könnte – wie auch für das Vorschlagsrecht nach Art. 63 Abs. 3 GG – die Vorschrift aus § 4 GO BT prinzipiell einschlägig sein. Hierbei ist problematisch, ob der Wahlvorschlag ebenso wie in der zweiten Wahlphase das Erfordernis des hierin normierten einfachgesetzlichen Mindestquorums erfüllen muss, mithin, ob der Vorschlag hier von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einer Fraktion mit ebendieser Stärke eingebracht werden muss. Da eine Verpflichtung des Bundestages angenommen wurde, muss folgerichtig auch ein solcher Vorschlag akzeptiert werden, welcher dieses Quorum nicht erfüllt. Ferner wäre in diesem Falle auch die Anforderung aus der allgemein geltenden Vorschrift des § 76 Abs. 1 GO BT, welche die Unterzeichnung eines Vorschlags von einer Fraktion oder fünf Prozent der Mitglieder des Bundestages fordert, insbesondere auch nicht subsidiär anwendbar.151 Wenn für die Wahl eines Kandidaten eine einfache Mehrheit ausreicht und insoweit von dem verfassungsrechtlich 148 Für die Folgen einer dennoch unterbliebenen Wahl in der dritten Wahlphase siehe Kapitel 3 B. I. 2. c) bb) (5). 149 Ausführlich hierzu siehe Kapitel 4. 150 Vgl. Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 141. 151 So Bonner Kommentar / Schenke, GG, Art. 63 Rn. 139; andere Ansichten bei unter anderem bei Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 35; Austermann, Die Wahl des Bundeskanzlers gemäß Art. 63 GG, in: DÖV 2013, S. 865 (870); Krings, Die Minderheitsregierung, in: ZRP 2018, S. 2 (3).
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primär anzuwendenden Falle aus der ersten und zweiten Wahlphase abgewichen wird, ist nicht davon auszugehen, dass die qualifizierten Anforderungen aus § 4 GO BT auch in der dritten Wahlphase gelten können. Sinn und Zweck des Art. 63 Abs. 4 GG ist die zeitnahe Beendigung der verfassungsrechtlichen Wahlphasen, die entweder zur Wahl eines Bundeskanzlers oder zur Auflösung des Bundestages durch den Bundespräsidenten führt. Die ausschließlich formale Anwendung des § 4 GO BT würde hier dazu führen, dass in der letzten Wahlphase aufgrund von einfachgesetzlichen Formalien keine Wahlhandlung erfolgen kann. Dies überzeugt, weil die Vorschrift aus Art. 63 Abs. 4 GG neben der Pflicht zur Durchführung mindestens eines Wahlganges auch die Unverzüglichkeit der Wahl normiert und keine Mindestquoren für gewählten Kandidaten vorschreibt. Es reicht gerade die relative Mehrheit aus, damit dieser potentiell vom Bundespräsident zum Bundeskanzler ernannt werden könnte. Auch § 45 GO BT, welcher für die Beschlussfähigkeit im Grundsatz die Anwesenheit der Hälfte der Mitglieder des deutschen Bundestages erfordert, ist im Rahmen von Art. 63 Abs. 4 GG verfassungsmäßig auszulegen: Auch bei faktischer Beschlussunfähigkeit, also bei Abwesenheit von mehr als der Hälfte der Mitglieder wird nach Art. 63 Abs. 4 GG gewählt; die Verfassungsgeber haben vielmehr die Leitentscheidung getroffen, dass die Bundeskanzlerwahl nach zweifachem Scheitern hinsichtlich des Erfordernisses einer Kanzlermehrheit zeitnah beendet werden soll. (4) Zwischenergebnis In der dritten Wahlphase besteht im Ergebnis die Verpflichtung des Bundestages abzustimmen und letztlich die Wahlphasen aus Art. 63 GG zu einem Abschluss zu bringen. Der Bundestagspräsident ist insoweit verpflichtet, den Bundestag einzuberufen und die Wahl anzuberaumen; das Parlament kann diese nicht abwenden. Damit ist die Vornahme von Wahlhandlungen durch den Bundestag mit mindestens einem Wahlgang in der dritten Wahlphase obligatorisch.152 bb) Die Rolle des Bundespräsidenten in der dritten Wahlphase Im Falle der Wahl eines Kandidaten mit relativer Mehrheit in der dritten Wahlphase bestehen zwei mögliche Rechtsfolgen: – Der Bundespräsident kann den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten zum Bundeskanzler ernennen. – Der Bundespräsident kann den Bundestag auflösen. 152
Dreier / Hermes, GG, Art. 63 Rn. 33.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Es besteht erneut Uneinigkeit darüber, inwieweit dem Bundespräsidenten ein freies oder pflichtgebundenes Auswahlermessen zukommt. Ein freies Ermessen würde bedeuten, dass der Bundespräsident frei über die zwei genannten Handlungsoptionen befinden könnte. Er könnte demnach in gleicher Weise den Bundestag auflösen, wie er den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten ernennen könnte. Ein pflichtgebundenes Ermessen hätte dagegen zur Folge, dass der Bundes präsident bestimmte aus der Verfassung abzuleitende Vorgaben hinsichtlich des Auswahlermessens zu beachten hätte. (1) Das Ermessen des Bundespräsidenten aus Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG nach wörtlicher Auslegung Der Wortlaut des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG bietet jedenfalls keinen Anhaltspunkt für eine Beschränkung des Ermessens. Zwar könnte Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG der gestalt zu verstehen sein, dass die Reihenfolge in der Aufzählung, das heißt primär die Ernennung und sekundär bzw. subsidiär die Auflösung, einen Aufschluss über die Priorisierung gibt. Demnach wäre die Ernennung gegenüber der Priorisierung vorzuziehen. Gleichwohl handelt es sich bei der Konjunktion „und“ um eine solche Verknüpfung, die insbesondere auch gleichwertige Optionen (in Gesetzen) akkumuliert.153 Allein aus dem Wortlaut kann eine Priorisierung daher nicht geschlussfolgert werden. (2) Das Ermessen des Bundespräsidenten im Kontext der systematisch und historisch bedingten Auflösungsfeindlichkeit Für ein pflichtgebundenes Ermessen dergestalt, dass der Bundespräsident primär den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten zu ernennen hat und nur subsidiär den Bundestag aufzulösen hat, spricht die im Gesamtgefüge des Grundgesetzes angelegte und vom Bundespräsidenten zu beachtende Auflösungsfeindlichkeit des Grundgesetzes. Ein allein präsidentiell dominiertes Auflösungsrecht fügt sich nur schwer in die parlamentarische Ausrichtung des Grundgesetzes ein. Der Parlamentarische Rat beabsichtigte, die aus Art. 25 Abs. 1 WRV herbeigeführten Konsequenzen durch zusätzliche förmliche Voraussetzungen einer durch den Bundespräsidenten herbeigeführten Auflösung zu unterbinden.154 Im Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee heißt es, dem Bundespräsidenten solle nur ein Auflösungsrecht zukommen, wenn das Parlament bei der Regierungsbildung „versagt“. Es ist davon auszugehen, dass die fehlende Einigung auf einen 153
Zur Wortbedeutung und der Funktion bzw. Gebrauchsweise der Konjunktion siehe https:// www.duden.de/rechtschreibung/und. 154 Ausführlich zu der Anwendungspraxis des Art. 25 WRV und den hieraus resultierenden Konsequenzen siehe Gusy, 100 Jahre Weimarer Verfassung, S. 192 ff.
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Mehrheitskandidaten als Bundeskanzler als ein solches „Versagen“ anzusehen ist. Die historische Auslegung spricht demgemäß für eine restriktive Auslegung des Auflösungsrechts.155 (3) Das Ermessen des Bundespräsidenten anhand der Zeitsystematik Jellinek erkennt in diesem Zusammenhang in der Nennung der Handlungs optionen des Bundespräsidenten eine nur „scheinbar gleichberechtigt[e]“ Aufzählung dieser. Hierfür spreche innerhalb der Wahlphasensystematik die Tatsache, dass ein Auflösungsrecht des Bundespräsidenten nach Ablauf der siebentätigen Frist erlischt, während das demgegenüber stärkere Ernennungsrecht darüber hinaus auch fortbesteht. Insgesamt sei die Bundestagsauflösung etwas so „Außergewöhnliches“, dass dieser allenfalls ein Ausnahmecharakter innerhalb einer zeitlich hierfür begrenzten Frist zukommen könne.156 Die siebentätige Frist bezeichnet Schneider als „Einschätzungsfrist“.157 (4) Das Ermessen des Bundespräsidenten anhand des im Einzelfall bestehenden Krisenbezugs Nach Auffassung Schenkes158 besteht insgesamt jedenfalls keine pauschale oder generalisierbare Priorisierung von Gesetzes wegen bzw. aus der Gesetzessystematik. Stattdessen habe der Bundespräsident die Ernennung oder Auflösung vorzunehmen, indem er mit den im Parlament vertretenen Fraktionen Kontakt aufnimmt und erfragt, inwieweit beispielsweise eine Tolerierung der potentiellen künftigen Minderheitsregierung wahrscheinlich ist. Überwiegen nach dieser Kommunikation die Erfolgsaussichten der entsprechenden Regierung, könne der Bundespräsident die Ernennung vornehmen. Je nachdem, wie sicher der künftige Erfolg der Regierung ist, könnte das Ermessen des Bundespräsidenten unter Umständen derart reduziert werden, dass sogar eine Verpflichtung zur Ernennung des Minderheitskanzlers bestehe. Für die Ansicht Schenkes spricht die durch das Gesetz eingeräumte Frist von sieben Tagen. Damit bietet die Verfassung dem Bundespräsidenten gerade auch zeitliche Kapazitäten für ein geeignetes Einschätzen künftiger Erfolgsaussichten. Ferner fügt sich diese differenzierende Ansicht auch in die Gegebenheiten der Rolle des Bundespräsidenten und etwaiges Ermessen bzw. die Ermessensdogmatik des Art. 63 GG ein: Das Ermessen des Bundespräsidenten erweitert sich immer nur 155
Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36. Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (9 f.). 157 Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 63 Rn. 11. 158 Bonner Kommentar / Schenke, GG, Art. 63 Rn. 151. 156
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dann, wenn eine Mehrheitskrise wahrscheinlicher ist als eine Einigung. Ist ein Tolerierungsmodell oder ein anderes Modell alternativer Mehrheitsfindung als durch Koalitionsbildung jedenfalls nicht schlechthin ausgeschlossen oder gar möglich, so ist das Ermessen des Bundespräsidenten pflichtgebunden und er hat den mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten zu ernennen. Es ist in diesem Kontext auch zu beachten, dass eine Tolerierung der Regierung oder ein Regieren mit wechselnden Mehrheiten nicht unmittelbar zum Zeitpunkt der Bundeskanzlerwahl positiv vorliegen muss. Es reicht in diesem Fall die potentielle Bereitschaft der Fraktionen für künftige, außerkoalitionsvertragliche Einigungsprozesse jedenfalls in Bezug auf bestimmte Sachthemen. Ob ein Bundeskanzler „erfolgreich“ zu regieren vermag, lässt sich politisch wie auch verfassungsrechtlich nicht sicher prognostizieren. Eine gewisse Flexibilität ist gerade charakteristisch für alternative Regierungsmodelle.159 Eine Ausweitung des Ermessens, das sich auf eine eigenverantwortliche und politische Auswahl der eigenen Handlungsoption bezieht, kann dagegen nur angenommen werden, wenn sich abzeichnet, dass der Regierung auch keine alternativen Formen der Mehrheitsgewinnung zur Verfügung stehen. Da es sich aber um eine Form des politischen Ermessens handelt, das nur bedingt justiziabel ist, ist es dem Bundespräsidenten selbst in diesen Fällen unbenommen, den Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen. Eine pauschale Pflicht zur Auflösung kann jedenfalls nach keiner Auffassung angenommen werden. Aus den genannten Gründen ist das präsidentielle Ermessen in Bezug auf eine mögliche Bundestagsauflösung aber in jedem Falle begrenzt. Wegen der Auflösungsfeindlichkeit darf die Auflösung nur als ultima ratio herangezogen werden.160 (5) Auflösungsrecht bei unterbliebener Wahl? Fraglich ist, wie sich eine unterbliebene Wahl auf das präsidentielle Ermessen auswirkt. Dies dürfte eine allein theoretische Fallgestaltung darstellen, denn es ist davon auszugehen, dass jedenfalls ein Teil der Abgeordneten Wahlhandlungen anstreben wird, um etwa selbst zu regieren. Unwahrscheinlich erscheint, dass jede Fraktion die Regierungsverantwortung ablehnt. Zum Teil wird vertreten, im Falle unterbliebener Wahlen aus Art. 63 Abs. 4 S. 1 GG habe der Bundespräsident den Bundestag analog Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG aufzulösen.161 Problematisch ist, dass ein Wahlrecht des Bundespräsidenten, welches die Bundestagsauflösung umfasst, tatbestandlich eine vorangegangene Vornahme von Wahlhandlungen mitsamt einem Wahlergebnis voraussetzen. Ohne die Wahl eines Kandidaten mit relativer Mehrheit hat der Bundespräsident denklogisch kein Wahlrecht zwischen Ernennung und Auflösung des Bundestages. 159
Ausführlich hierzu Kapitel 3 C. I. 2. Vgl. auch Kleiner, Die Neuverteilung der Gewichte zwischen Bundeskanzler und Bundes präsident, in: ZRP 1974, S. 129 (131). 161 Vgl. Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 63 Rn. 141. 160
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Zu erwägen ist daher eine analoge Anwendung des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG. Diese gebietet das Bestehen einer planwidrigen Regelungslücke bei vergleichbarer Interessenlage.162 Fraglich ist, ob diese Voraussetzungen für ein analoges Selbstauflösungsrecht bei unterbliebener Wahlhandlung gegeben sind. Wie bereits dargestellt intendierte der parlamentarische Rat insbesondere, Auflösungen des Bundestages nur in Einzelfällen zu ermöglichen. Letztlich wurde das Grundgesetz als solches auflösungsfeindlich ausgestaltet, was bedeutet, dass etwaige Auflösungsrechte an hohe Voraussetzungen geknüpft sind. Zudem hat sich der parlamentarische Rat eindeutig gegen ein Selbstauflösungsrecht des Parlaments entschieden und sich stattdessen auf eine mittelbare Einflussnahme auf die eigene Auflösung verständigt.163 Im Falle des Art. 68 GG hat der Bundestag es etwa in der Hand, eine eigene Auflösung zu vermeiden oder herbeizuführen und dementsprechend das Vertrauensvotum zu bejahen oder zu verneinen. Würde in Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG angenommen werden, dass das Auflösungsrecht schließlich die einzige mögliche Handlungsoption des Bundespräsidenten wäre, so käme dies einem gerade nicht intendierten Selbstauflösungsrecht gleich. Eine Planwidrigkeit der Regelungslücke ist damit zu bezweifeln. In Betracht kommt daher allenfalls ein Erst-recht-Schluss in Form des sogenannten argumentum a maiore ad minus. In diesem Fall bezieht dieser der Erstrecht-Schluss auf die Voraussetzungen bestimmter Rechtsfolgen.164 Bezogen auf das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten bei unterbliebener Wahl besteht der Erst-recht-Schluss darin, dass diesem nach dem Wortlaut aus Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG prinzipiell ein Auflösungsrecht zukommt, sofern der Bundestag keinen Mehrheitskanzler in der dritten Wahlphase hervorbringt. Dann muss dem Bundespräsidenten dieses Recht erst recht zukommen, sofern der Bundestag überhaupt gar keine Wahlhandlung vorgenommen hat. Hierfür spricht auch die historische Auslegung. Demnach sollte ein präsidentielles Einschreiten im Rahmen der Bundeskanzlerwahl ermöglicht werden, sofern ein „Versagen“ des Bundestages bei der Bestellung des Regierungschefs anzunehmen ist. Der Erst-recht-Schluss lässt sich auch hierauf beziehen: Wenn ein „Versagen“ schon angenommen werden kann, sofern der Bundestag abstimmt und sich dabei nicht auf einen Mehrheitskandidaten zu einigen vermag, muss dieses Versagen erst recht angenommen werden, falls gar keine Abstimmung erfolgt. Dann hat der Bundestag sich erst recht nicht auf einen Mehrheitskandidaten geeinigt. Nichtsdestoweniger muss diese Anwendung restriktiv erfolgen. Es wurde bereits festgestellt, dass eine Verpflichtung des Bundestages zur Abstimmung aus verfassungsrechtlichen Gründen besteht. Diese Wahl muss grundsätzlich unverzüglich erfolgen, sodass der Bundestag schon wegen unterbliebener Wahl gegen diese verfassungsrechtliche Zeitvorgabe verstoßen hätte. Allerdings muss dieser zeitliche 162
Siehe stellvertretend für viele siehe Rüthers / Fischer / Birk, Rechtstheorie, Rn. 889. Bericht über den Verfassungskonvent vom Herrenchiemsee, S. 36. 164 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 58. 163
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Verstoß hinter dem Sinn und Zweck einer Abstimmungspflicht zurückstehen. Es besteht eine alleinige Bestellungsgewalt des Parlaments für eine Regierung, die kennzeichnend und konstitutiv für das parlamentarische Regierungssystem ist. Es ist nur schwer verträglich mit dieser Konstruktion, wenn der Bundestag sich durch Unterlassen der essenziellen Bestellungsgewalt entziehen könnte und eine Auflösung zu schnell und einseitig durch den Bundespräsidenten erfolgen könnte. Im Einklang mit der Auflösungssystematik und dem Willen des Verfassungsgebers wäre der Bundestag im Falle der unterbliebenen Wahl in der dritten Wahlphase etwa durch den Bundespräsidenten zur Vornahme von Wahlhandlungen aufzufordern. Erst wenn dieser Aufforderung nach Abwarten einer angemessenen Zeit nicht nachgekommen wird, kann eine Bundestagsauflösung erfolgen. (6) (Mit-)Bestellungsrecht des Bundespräsidenten in der dritten Wahlphase? Zwar obliegt es letztlich der (pflichtgebundenen) Disposition des Bundespräsidenten, einen mit relativer Mehrheit gewählten Kandidaten zu ernennen oder nicht. Jedoch ist hierbei zu beachten, dass der Minderheitskanzler trotz Auswahlermessens des Bundespräsidenten seine demokratische Legitimation ausschließlich durch den Bundestag erfährt. Auch das Vertrauensverhältnis entfaltet sich angesichts des im Grundgesetz gezeichneten Vertrauenssystems aus Art. 63, 67 und 68 GG ebenso nur zwischen Bundestag und Bundeskanzler.165 Der Bundespräsident kann keinen Kandidaten ernennen, der nicht wenigstens mit einer relativen Mehrheit vom Bundestag eine demokratische Bestätigung erfahren hat.166 3. Fazit: Zwischen präsidentiellen Vorschlagsrecht und parlamentarischer Bestellungsgewalt Es ist festzuhalten, dass die Bestellungsgewalt unabhängig von einem freien oder etwaig pflichtgebundenen Ermessen ausschließlich auf Seiten des Parlaments liegt. Die Vorschrift aus Art. 63 GG hat die Regierungsbestellung parlamentarisiert: Der Bundespräsident hat zwar ein Vorschlagsrecht in der ersten Wahlphase, dennoch kann der Bundestag diesen Vorschlag ablehnen und in der zweiten Wahlphase sodann eigene Wahlvorschläge erbringen, woraufhin Wahlen erfolgen. Auch ein formeller Minderheitskanzler nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG erfährt seine Legitimation trotz des faktischen Auswahlermessens des Bundespräsidenten ausschließlich vom Bundestag. Insgesamt wird der Bundestag daher schon durch die Konzeption des Art. 63 GG zum „Garanten der Regierungsbildung“,167 da er zur Verhinderung der eigenen Auflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG oder Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG eine 165
BeckOK / Epping, GG Art. 63 Rn. 30. Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 63 Rn. 9; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 63 Rn. 3. 167 Meyer, in: Schneider / Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4 Rn. 16. 166
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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handlungsfähige Regierung bilden muss.168 Diese Garantenstellung setzt sich in Art. 67 und 68 GG fort: Der Bundestag hat entweder die Möglichkeit, eine neue Mehrheitsregierung ins Amt zu berufen oder kann mittelbar Einfluss auf eine mögliche Auflösung des Bundestages nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG üben, mit welcher das Ende der Regierungszeit nach Art. 69 Abs. 2 GG einherginge. Hierdurch wird auch die ausschließliche Vertrauensbeziehung zwischen Bundestag und Bundeskanzler bzw. Bundesregierung evident. Die Rolle des Bundespräsidenten während der Regierungsbildung ist daher grundsätzlich auf die Erfüllung formeller Anforderungen beschränkt und erfährt nur dann eine Erweiterung, wenn eine Mehrheitsbildung nicht möglich, unter erschwerten Bedingungen oder gar nicht verläuft. Er wird in diesem Falle als weiteres Verfassungsorgan zur Verantwortung gezogen.169 Für die Regierungspraxis ergeben sich dementsprechend folgende Konsequenzen für die Rolle bzw. die Ermessensausübungen des Bundespräsidenten im Rahmen der Bundeskanzler wahl: – Der Bundespräsident hat im Vorfeld der Ausübung seines Vorschlagsrechts zunächst abzuwarten, ob eine parlamentarische Einigung erzielt wird, und solange grundsätzlich auch keine Pflicht zur Konsultation der Fraktionen. – Sobald evident wird, dass die Einigungsprozesse nicht die hinreichende Gewähr eines zeitlich absehbaren Erfolges bieten, hat er die Fraktionen zu konsultieren. Die Feststellung über das „Scheitern“ einer parlamentarischen Einigung hat der Bundespräsident im Sinne einer prognostischen, aber dennoch politischen Fortbildung der von ihm durch die Konsultation ermittelten Indizien zu treffen. – Bei dem sodann auszuübenden Vorschlagsrecht hängt die inhaltliche Bindung davon ab, ob eine Einigung eines Kandidaten bereits vorliegt, unmittelbar bevorsteht oder ob eine solche Einigung unwahrscheinlich bzw. schlechthin nicht zu erwarten ist. Im ersten Falle hat er ein pflichtgebundenes Ermessen, im zweiten Falle ein politisches Ermessen, das wie jedes andere politische Ermessen einer Justiziabilität nicht oder nur bedingt zugänglich ist. – Was den Zeitpunkt der Ausübung des Vorschlagsrechts anbetrifft, so muss ein Vorschlag umso zeitnäher erfolgen, je weiter das Ermessen des Bundespräsidenten hinsichtlich seines inhaltlichen Vorschlagsrechts ist, um auch das Druckpotential, welches aus Art. 63 GG hervorgeht, für einen Einigungsprozess auszunutzen. – In der dritten Wahlphase hat der Bundespräsident sein Ermessen verfassungskonform bzw. pflichtgemäß auszuüben und darf angesichts der Auflösungsfeindlichkeit des Grundgesetzes nur in Ausnahmefällen den Bundestag auflösen.
168 169
BVerfGE 114, 121 (149). So auch BVerfGE 114, 121 (151).
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
– Sofern in der dritten Wahlphase keine Wahlhandlungen durch den Bundestag vorgenommen werden, hat der Bundespräsident eine Aufforderung an den Bundestag zu stellen und kann danach im Sinne eines Erst-recht-Schlusses den Bundestag auflösen. Die Konzeption des Art. 63 GG mitsamt der aufgezeigten Dogmatik der Befugnisse von Parlament und dem Bundespräsidenten als „Geburtshelfer“ bzw. als „Krisenrolle“ erbringt für die Regierungsstabilität einen essenziellen Beitrag, indem es mit seinen ersten beiden Wahlphasen eine Krise verhindert und in der dritten Wahlphase eine Krise rechtlich regelt: So ermöglicht die Vorschrift dem Bundestag eine Wahl des Bundeskanzlers auf drei unterschiedliche Arten und sieht je nach Wahlphase und abnehmender Wahrscheinlichkeit ein abgestuftes System von Mehrheitserfordernissen und der Möglichkeit eines Abweichens dar. Das Grundgesetz sieht primär eine Bundeskanzlerwahl mit qualifiziertem Mehrheitserfordernis aus Art. 121 GG vor, während es hiervon ausnahmsweise abweicht, soweit dieses Quorum in zwei Wahlphasen nicht erzielt werden kann. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Bundeskanzlerwahl das Verhältnis von Regierung und Bundestag jeweils individuell konstruiert und eine Konstruktion dieser Vertrauensbeziehung sich als besonders stabil erweist, wenn der Bundeskanzler bereits zum Zeitpunkt der Wahl quantitativ besonders hohen Zuspruch erfährt. Als entscheidend für das in das Amt Berufenwerden im Sinne der Regierungsstabilität erweist sich ferner die Rolle des Bundespräsidenten und seines sich erweiternden Ermessens, wenn oder soweit der Bundestag sich nicht in der Lage versieht angesichts geltender Kräfteverhältnisse eine parlamentarische Mehrheit zu formieren. Die Vorschrift aus Art. 63 Abs. 4 GG lässt ausdrücklich die Bestellung einer Minderheitsregierung zu. Soweit die hier dargestellte Auslegung für die Regierungspraxis zugrunde gelegt wird, wird durch das mögliche Ermessen des Bundespräsidenten im Vorfeld der Wahlphasen hinsichtlich seines Vorschlagsrechts ein Amtieren der Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG vermieden. Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor ist die Tatsache, dass selbst die formelle Minderheitsregierung nach Art. 63 Abs. 4 GG immer noch als parlamentarische Regierung in das Amt gerufen wird. Zwar übt der Bundespräsident ein Ermessen aus und entscheidet über die Parlamentsauflösung oder die Ernennung des mit der relativen Mehrheit gewählten Kandidaten der dritten Wahlphase. Nichtsdestoweniger vermittelt auch angesichts der fehlenden mehrheitlichen Unterstützung ausschließlich das Parlament dem Bundeskanzler die notwendige demokratische Legitimation. Eine doppelte Legitimierung wie sie zur Weimarer Zeit vorgesehen war, ist damit beseitigt. Vor dem Hintergrund der Regierungsverantwortung ist dies insoweit maßgeblich, als durch Art. 63 GG die für das System maßgebliche Beziehung zwischen Bundestag und Bundesregierung – nicht aber zwischen Bundespräsidenten und Bundesregierung – unabhängig von herrschenden Mehrheitsverhältnissen gezeichnet wird. Die Vorschrift aus Art. 63 GG ist der Ausgangspunkt des parlamentarischen Regierungssystems: Die Regierung, die im Amt von dem Parlament kontrolliert wird und in gewissen Teilen auch von dessen Mitwirkung
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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abhängig ist, wird eben auch von diesem zur Kontrolle und Mitwirkung berechtigten Verfassungsorgan gewählt und legitimiert. Im Hinblick auf die eingangs aufgeworfenen Untersuchungsfragen ermöglicht Art. 63 GG überhaupt das Amtieren einer Regierung: Diese kann in das Amt berufen werden, ohne sich der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung zu versehen: Es handelt sich dabei um eine Vertrauenskrise, aber nicht um einen Ausnahmezustand.170 Dies ist ein Beitrag, den Art. 63 GG insgesamt zur Regierungsstabilität leistet. Wichtig in diesem Zusammenhang und relevant für die weitere Analyse der Regierungskontinuität ist außerdem die durch Art. 63 GG erfolgende Parlamentarisierung der Regierungsbildung und die hierdurch konkretisierte Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems.
II. Sicherung der Regierungskontinuität durch die Konzeption des konstruktiven Misstrauensvotums nach Art. 67 GG Das konstruktive Misstrauensvotum ermöglicht dem Parlament den jederzeitigen Regierungssturz. Nach Art. 67 GG kann der Bundestag dem Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen, indem er mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den bis dahin amtierenden Bundeskanzler zu entlassen. Auf diese Weise ist der Bundestag nicht über die gesamte Legislaturperiode an die vorangegangene Bundeskanzlerwahl aus Art. 63 GG gebunden, sondern ist prinzipiell in der Lage, eine Regierung ihres Amtes zu entheben und einen neuen Regierungschef zu wählen.171 In systematischer Hinsicht fügt sich das konstruktive Misstrauensvotum in die Vorschriften zum parlamentarischen Regierungssystem ein: Gemeinsam mit Art. 63 und Art. 68 GG gestaltet Art. 67 GG die im parlamentarischen Regierungssystem maßgebliche Vertrauensbeziehung zwischen Parlament und Regierung aus.172 Dem parlamentarischen Bestellungsakt entsprechen auch die Möglichkeiten einer Abwahl bzw. einer Neubestimmung des Bundeskanzlers nach Art. 67 oder Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG. Im zweiten Kapitel wurde bereits dargelegt, dass das konstruktive Misstrauensvotum insoweit eine außerordentliche Form der Beendigung und Neuwahl des Bundeskanzleramtes bzw. der Regierungsämter und ein Abweichen von der regelmäßigen Amtsbeendigung aus Art. 69 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 39 Abs. 2 GG darstellt.173 Im vorangegangenen Abschnitt wurde der Beitrag des Art. 63 GG zur Bestellung einer Regierung als Kriterium der Regierungsstabilität erläutert. Im Folgenden 170
Ausführlich hierzu siehe Kapitel 2 A. I. Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 57. 172 Siehe nur BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 67; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 1; Münch / Kunig / Mager / Holzner, GG Art. 67 Rn. 21. 173 BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 67; ausführlich siehe Kapitel 2 A. I. 1. c). 171
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
soll der Beitrag des konstruktiven Misstrauensvotums zur Regierungsstabilität ermittelt werden: Neben der Bestellung einer (stabilen) Regierung geht es auch um den Erhalt dieser (stabilen) Regierung bzw. ihren Verbleib im Amte. Dabei ist zu verzeichnen, dass Art. 67 GG im aktuellen wissenschaftlichen und politischen Diskurs wegen nur vereinzelter Anwendungspraxis eine nur untergeordnete Rolle spielt, während der Vorschrift zum Zeitpunkt ihres Inkrafttretens eine weitaus bedeutsamere Stellung zugesprochen wurde.174 Zur Analyse der Fragestellung werden zunächst die tatbestandlichen Anforderungen an das Misstrauensvotum erörtert. Sodann sollen die Anwendungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland sowie der historische Kontext bzw. die Neuheiten des Art. 67 GG in Abkehr zu Art. 54 WRV dargestellt werden. In diesem Kontext wird insbesondere das als maßgeblich erachtete Zusammenspiel von Art. 63 und Art. 67 GG vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen eingegangen. Auf Basis dessen werden Auswirkungen des Art. 67 GG für die Regierungsstabilität aufgezeigt, woraufhin auch eine Auseinandersetzung mit denkbaren Reformvorschlägen oder Reformoptionen erfolgt. Erörtert wird insbesondere, welchen Beitrag Art. 67 GG leistet, sofern es zu dem Amtieren einer formellen und / oder materiellen Minderheitsregierung gekommen ist. 1. Tatbestandliche Ausgestaltung des konstruktiven Misstrauensvotums Die Vorschrift aus Art. 67 GG stellt nur wenige, ausschließlich formale Erfordernisse für ein erfolgreiches konstruktives Misstrauensvotum auf. So ist erforderlich, dass – ein Misstrauensantrag nach Maßgabe des § 97 GO BT gestellt wird, – zwischen Antrag und Abstimmung eine Frist von mindestens 48 Stunden zu wahren ist, – der Bundestag über einen mit dem Misstrauensantrag einhergehenden Vorschlag abstimmt und der Kandidat eine Mehrheit gemäß Art. 121 GG auf sich vereint und – der Bundespräsident schließlich im Falle der erfolgreichen Neuwahl des Bundeskanzlers den bisherigen Regierungschef aus seinem Amt entlässt und den mit der Mitgliedermehrheit gewählten Kandidaten zum neuen Bundeskanzler ernennt. Zur Einleitung des Verfahrens ist zunächst notwendig, dass ein Antrag gestellt wird. Das Antragserfordernis ergibt sich implizit aus Art. 67 Abs. 2 GG, wonach zwischen Antrag und Abstimmung mindestens 48 Stunden liegen müssen.175 Der Antrag ist dabei die formale Artikulation einer parlamentarischen Initiative176 für einen möglichen Regierungssturz. Antragberechtigt sind gemäß § 97 GO BT ent 174
Siehe Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (288) m. w. N. Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 8; Schröder, HStR III, § 65 Rn. 39. 176 Vgl. BeckOK / Pieper, GG Art. 67 Rn. 1. 175
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weder „ein Viertel der Mitglieder des Bundestages“ oder eine Fraktion, „die mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestages umfasst“. Der Antrag muss dabei gemäß § 97 Abs. 1 S. 2 GO BT den Vorschlag eines namentlich zu benennenden Bundeskanzlerkandidaten beinhalten.177 Das einfachgesetzlich normierte Quorum aus § 97 GO BT ist dabei als verfassungskonform178 anzusehen: Erfolgt der Regierungssturz durch Neuwahl eines Kanzlers mit einer Mehrheit aus Art. 121 GG, das heißt die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann das hier geforderte Antragsquorum als „Ernstlichkeitskontrolle“ verstanden werden.179 Aussichtslose Kandidaturen werden von vorneherein dadurch ausgeschlossen, dass sich potentielle Kandidaten bereits vor einer Wahl nach Art. 67 GG einer gewissen zahlenmäßigen Unterstützung im Parlament versehen müssen. Dies beschleunigt und konzentriert das Verfahren aus Art. 67 GG.180 Es könnte außerdem das politische oder öffentliche Ansehen amtierender Regierungen gefährden, soweit jederzeit durch eine geringe Anzahl von Abgeordneten bereits das Verfahren des konstruktiven Misstrauensvotums eingeleitet würde, obgleich die darauf erfolgende Abstimmung von vorneherein keine Aussicht auf Erfolg hat. Zu beachten ist weiter, dass in Abweichung zur ersten Wahlphase aus Art. 63 Abs. 1, 2 GG kein Ausspracheverbot im Rahmen des Verfahrens nach Art. 67 GG gilt.181 Geht es um den Fortbestand der bisherigen Regierung, so soll es dieser nicht unbenommen sein, durch eine Aussprache eventuell doch noch eine mehrheitliche parlamentarische Unterstützung (zurück) zu gewinnen. Auch Gegnern und Befürwortern muss dieser Diskurs offenstehen. Der Antrag aus § 97 GO BT ist dementsprechend auch jederzeit widerruflich.182 Nach der Stellung des Antrags müssen gemäß Art. 67 Abs. 2 GG mindestens 48 Stunden verstreichen. Sinn und Zweck dieser Frist ist die Verhinderung übereilter Entscheidungen nach möglicherweise vorangegangenen kontroversen Diskussionen.183 Auch diese Intention hat einen historischen Hintergrund: Nach 177 Zur Frage, ob der Antrag auch von sämtlichen Unterstützern unterzeichnet werden muss oder ob es reicht, dass ein Stellvertreter bzw. der Fraktionsvorsitzende den Antrag unterzeichnet, siehe Darstellung bei Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 8 m. w. N. 178 So Lippert, Berufung und Abbestellung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem, S. 439; ebenso Schröder, HStR III, § 65 Rn. 37, 39; Dreier / Hermes, GG Art. 67 Rn. 13. Zum Teil wird vertreten, das Quorum aus § 97 GO BT sei unangemessen hoch, so etwa Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 67 Rn. 23; Mangoldt / Klein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 9; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 24. 179 Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 8; ebenso Schröder, HStR III, § 65 Rn. 39; Dreier / Hermes, GG Art. 67 Rn. 13. 180 Dreier / Hermes, GG Art. 67 Rn. 13. 181 Schröder, HStR III, § 65 Rn. 39; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 2; AlternativKommentar / Schneider, GG Art. 67 Rn. 3. 182 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 29; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 67 Rn. 45; Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 11. 183 Dreier / Hermes, GG Art. 67 Rn. 15; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 26; Münch / Kunig / Mager, GG Art. 67 Rn. 7; Sachs / Oldiges, GG Art. 67 Rn. 25; Alternativ-Kommen-
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Art. 54 WRV in Verbindung mit § 54 GO RTag184 konnte die Abstimmung am Folgetag der Antragstellung erfolgen. Dies wird als destabilisierend gesehen. Die von L eimbach demgegenüber angeführte Regelung aus Thüringen, wonach gemäß § 39 S. 3 ThürLVerf a. F.185 eine sechstätige Frist zu beachten ist, habe eine „stabilisierende Wirkung [entfaltet]“.186 Für eine Wahl nach Art. 67 GG muss der im Antrag benannte Kandidat die Mehrheit aus Art. 121 GG auf sich vereinen. Dies bedeutet, ebenso wie in den ersten beiden Wahlphasen muss der Kandidat sich der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung versehen. Die Vorschrift geht daher implizit davon aus, dass mehrheitsbildende (Koalitions-)Prozesse zwischen und innerhalb der Fraktionen bereits vor Antragsstellung erfolgt sein müssen. Vereint der nach § 97 GO BT vorgeschlagene Kandidat die Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG auf sich, so ist der Bundespräsident gemäß Art. 67 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet, den bisherigen Bundeskanzler zu entlassen und den gewählten Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen. Hierbei kommt dem Bundespräsidenten kein politisches Ermessen zu. Dies folgt bereits aus dem Wortlaut, in welchem das Modalverb „muss“ diese Verpflichtung eindeutig festlegt.187 Allenfalls verfügt dieser über ein formelles Prüfungsrecht, was ihn ausschließlich zur Überprüfung der genannten formalen Kriterien wie etwa dem Antragserfordernis, der Einhaltung der Frist, der persönlichen Ernennungsvoraussetzungen188 sowie der Erfüllung des Quorums aus Art. 121 GG für die Wahl des Kandidaten berechtigt.189 Ein nach Art. 67 GG gewählter Bundeskanzler besitzt die gleiche demokratische Legitimität wie ein nach Art. 63 GG gewählter Kanzler.190
tar / Schneider, GG Art. 67 Rn. 6; Schröder, HStR III, § 65 Rn. 39; Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 14. 184 Geschäftsordnung des Reichstags von 1922 bzw. 1931. 185 Verfassung des Landes Thüringen in der Fassung vom 11. 03. 1921 (GS. 1921, S. 57 ff.). § 39 ThürLVerf in der Fassung von 1920 lautete: Der Landtag kann mit der Mehrheit der gesetzlichen Zahl der Abgeordneten in namentlicher Abstimmung jedem Mitglied der Landes regierung das Vertrauen entziehen. Es muß dann zurücktreten. Der Antrag muß von wenigstens einem Drittel der Abgeordneten gestellt und mindestens sechs Tage vor der Beratung auf die Tagesordnung gesetzt werden. 186 Leimbach, Landtag von Thüringen 1919/20 – 1933, S. 211. 187 Münch / Kunig / Mager, GG Art. 67 Rn. 9; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 67 Rn. 71; Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 67 Rn. 5; Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 18; Schröder, HStR III, § 65 Rn. 39. 188 Eine persönliche Ernennungsvoraussetzung ist etwa die deutsche Staatsbürgerschaft. Siehe hierzu Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 63 Rn. 20 ff. 189 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 34; Münch / Kunig / Mager, GG Art. 67 Rn. 9; Sachs / Oldiges, GG Art. 67 Rn. 27, Jarass / Pieroth, GG Art. 67 Rn. 3; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 67 Rn. 49 ff.; Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 67 Rn. 5. 190 BVerfGE 62, 1 (43).
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2. „Bonn ist nicht Weimar“ – Zum Stabilisierungspotential des konstruktiven Misstrauensvotums Bestand über die Einführung des konstruktiven Misstrauensvotums nach Art. 67 GG ein Allparteienkonsens191, so ist nunmehr ein Wandel dieser Auffassung zu verzeichnen. Sternberger ging bereits 1964 davon aus, dass Art. 63 GG „weit wichtiger als der so viel erörterte Art. 67“ sei.192 Vielfach wird das Stabilisierungspotential des konstruktiven Misstrauensvotums in Abrede gestellt und bezweifelt. Das Stabilisierungspotential des Art. 67 GG werde, so Schenke, vielfach überschätzt.193 Im Folgenden dienen der historische Kontext der Vorschrift und ihre spätere Anwendungspraxis als Argumentation zur Erörterung des aus Art. 67 möglicherweise abzuleitenden Stabilisierungspotentials. Auf der so getroffenen Basis sollen dann Reformvorschläge diskutiert werden. a) Konstruktiv statt destruktiv: Weimar als Stabilitätsargument? aa) Die Unterschiede zwischen Art. 54 WRV und Art. 67 GG Die konkrete Ausgestaltung des Art. 67 GG ist vor allem durch die Argumentation des Verfassungsgebers erklärbar.194 Das konstruktive Misstrauensvotum findet in früheren deutschen Verfassungen keine Entsprechung. Vielmehr handelt es sich um eine Reaktion des Verfassungsgebers auf Erfahrungen aus der Weimarer Republik195 bzw. eine „Erscheinung der unmittelbaren Nachkriegszeit“196. Zentrales Argument für die Schaffung eines konstruktiven Misstrauensvotums war die allgemein herrschende Auffassung, der Art. 54 WRV197 habe zur Zeit der Weimarer Republik maßgeblich zur Instabilität der Regierung geführt. Gemäß Art. 54 S. 1 WRV bedurften der Reichskanzler sowie auch die einzelnen Reichsminister zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. So konnte der Reichstag gemäß Art. 54 S. 2 WRV auch den einzelnen Reichsminister zum Rücktritt zwingen, soweit dieser ihm das Vertrauen einseitig entzog. Im Bericht über den Verfassungs 191
Berthold, Das konstruktive Misstrauensvotum und seine Ursprünge in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Der Staat 1997, S. 81 (82). 192 Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (8). 193 Schenke, Die Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie, in: JZ 2015, S. 1009 (1015); Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 67 Rn. 20 ff.; so auch Berthold, Das konstruktive Misstrauensvotum und seine Ursprünge in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Der Staat 1997, S. 81 (82) m. w. N. 194 So auch Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (283). 195 BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 67 GG. 196 Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 58. 197 Art. 54 WRV lautete: Die Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags. Jeder von ihnen muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht.
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konvent auf Herrenchiemsee wird ausgeführt, „[d]ie Abhängigkeit des Fortbestehens einer Regierung vom Parlament [würde] in einem entscheidenden Punkt ihrer Gefährlichkeit entkleidet. Das Parlament [könne] zwar jederzeit durch Misstrauensvotum den Bundespräsidenten zwingen, den Kanzler zu entlassen. Bedingung [sei] aber, dass es gleichzeitig einen Nachfolger benennt. Eine bloße obstruktive oder Protestmehrheit [sei] also gezwungen, sich zunächst in eine konstruktive Mehrheit zu verwandeln.“198 Die Vorschrift aus Art. 54 WRV habe insgesamt dazu geführt, dass die „destruktive Befugnis“ des Parlaments zum Sturze der Regierung „übertrieben ausgedehnt“ wurde.199 Die Vorschrift aus Art. 67 GG stelle insoweit eine Abkehr der Abwahlpraxis amtierender Regierungen aus der Weimarer Republik dar, als diese nunmehr fordere, dass das Parlament zum erfolgreichen Regierungssturz sich mehrheitlich im Sinne des Art. 121 GG auf einen neuen Bundes kanzler einige. Damit wird die Abwahl des amtierenden Bundeskanzlers unter die Bedingung der Wahl eines neuen formellen Mehrheitskanzlers gestellt.200 Ein „autonomer Kanzlersturz“ ist damit ausgeschlossen.201 bb) Destabilisierung in der Weimarer Republik durch Art. 54 WRV? Bereits zur Zeit der Weimarer Republik herrschte in der Staatsrechtslehre Uneinigkeit über einen möglichen Reformbedarf des Art. 54 WRV.202 So forderte Fraenkel schon im Jahr 1932 eine dem heutigen Art. 67 GG entsprechende Anpassung des Art. 54 WRV203: „Unser Vorschlag geht dahin, einem [Misstrauensvotum] des Parlaments gegen den Kanzler oder Minister nur dann die Rechtsfolge des Rücktrittszwangs zu verleihen, wenn die Volksvertretung das Misstrauensvotum mit dem positiven Vorschlag an den Präsidenten verbindet, eine namentlich präsentierte Persönlichkeit an Stelle des gestürzten Staatsfunktionärs zum Minister zu ernennen.“204 Fraenkel intendierte mit seinem Vorschlag, den „grundlegenden Gedanken der Abhängigkeit der Regierung von dem Vertrauen des Parlaments aufrecht(zu)erhalten“.205 198
Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36; siehe auch ebd., S. 44. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36. 200 Stellvertretend für viele Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 57; BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 67; Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (59 f.). 201 Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 1. 202 Siehe Darstellung bei Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (283 ff.) und bei Berthold, Konstruktives Misstrauensvotum in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Der Staat 1997, S. 81. 203 Zum Teil wird Carlo Schmid für den Erfinder des konstruktiven Misstrauensvotums gehalten. Allerdings nahm Fraenkel die Idee der Konzeption des Misstrauensvotums vorweg; siehe hierzu auch Berthold, Das konstruktive Misstrauensvotum und seine Ursprünge in der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Der Staat 1997, S. 81 (83). 204 Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931/32, S. 97. 205 Fraenkel, Zur Soziologie der Klassenjustiz und Aufsätze zur Verfassungskrise 1931/32, S. 97. 199
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Zwar amtierten zur Zeit der Weimarer Republik insgesamt zwölf verschiedene Reichskanzler, die insgesamt 19 Kabinette innehielten. Die Anwendungspraxis des Art. 54 WRV in der Weimarer Republik ist indessen als gering anzusehen und relativiere, so Epping, insoweit die Bedeutung des Misstrauensvotums für die Gründe des Scheiterns der Weimarer Republik.206 In nur drei207 Fällen, namentlich in den Fällen Stresemann, Marx und Luther, kam es überhaupt zu einem Misstrauensvotum. Die übrigen Beendigungen der Regierungszeit erfolgte in der Weimarer Republik durch den Rücktritt der Reichsregierungen oder die Entlassung durch den Reichspräsidenten. Hierzu habe die Konzeption des Art. 54 WRV allerdings insofern einen Beitrag geleistet, als bereits die Existenz der Vorschrift den vorzeitigen Rücktritt hervorgerufen habe. Die Regierungen hatten angesichts der Koalitionszerfälle „häufig nur die Wirkung eines bevorstehenden Misstrauensvotums vorweggenommen (…)“.208 Die meisten Rücktritte seien dann erfolgt, so Gusy, „wenn eine Koalition zerbrochen und dadurch der Verlust der parlamentarischen Mehrheit eingetreten war oder wenn ein Konflikt zwischen einer Minderheits regierung und politischen Parteien stattfand, auf deren politische Unterstützung das Kabinett angewiesen war“.209 In diesem Zusammenhang sollte Art. 54 WRV und sein etwaiger Beitrag zum Scheitern der Weimarer Republik jedoch nicht isoliert betrachtet werden. Maßgeblich ist in diesem Kontext wohl das Zusammenspiel aus der Anwendungspraxis von Art. 53 WRV zur Regierungsbestellung mit dem destruktiven Misstrauensvotum aus Art. 54 WRV. Wie dargestellt fand die anfangs offene Frage über Kompetenzen einzelner Organe bei der Regierungsbestellung durch die Staatspraxis zwar eine Konkretisierung. Jedoch hatte sich zu keiner Zeit der Weimarer Republik ein einheitliches, routiniertes Verfahren zur Bestellung der Regierung herausgebildet. Die fehlende Koalitionsfähigkeit und Koalitionsbereitschaft der Parteien im Reichstag der Weimarer Republik führten im Ergebnis dazu, dass der Reichspräsident vielfach eigeninitiativ einen Reichskanzler bestellte. Das Parlament sprach entweder ein explizites Vertrauensvotum oder ein unbedingtes bzw. bedingtes Tolerierungsvotum aus. In einigen Fällen nahm das Parlament die Regierungserklärung nur zur Kenntnis: Während das oben genannte Kabinett Stresemanns eingangs ein explizites Vertrauensvotum erhalten hatte, wurde das Kabinett Marx II nur toleriert. Das Kabinett Luther II wurde von dem Parlament mit relativer Mehrheit gebilligt. Jedenfalls aber erschöpfte sich zur Zeit der Weimarer Republik der par 206 Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 2; siehe auch Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 133. 207 Im Falle Stresemanns wurde zwar ein Antrag zum Misstrauensvotum gestellt, Stresemann reagierte jedoch hierauf mit der Vertrauensfrage, die gegen ihn ausfiel, siehe Verhandlungen des Reichstages, 392. Sitzung (22. 11. 1923), S. 12179. Erfolgreiche Misstrauensvoten verliefen in den Fällen Luther und Marx, siehe Kabinett Luther II (12. 5. 1926), siehe Reichstag, Stenographischer Bericht 1926, S. 7218 (7220 ff.); Kabinett Marx III (17. 12. 1926), siehe Reichstag, Stenographischer Bericht 1926, S. 8651 (8654 ff.). 208 Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, S. 82. 209 Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, S. 133.
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lamentarische Beitrag zur Regierungsbildung in der Aussprache des Misstrauens nach Art. 54 S. 2 WRV.210 Zu verzeichnen ist damit eine Diskrepanz zwischen der Bestellung des Reichskanzlers und der Abwahl des Reichskanzlers: während die Regierungsbildung nicht parlamentarisch verlief, konnte das Parlament aber die durch den Reichspräsidenten bestellte Regierung durch ein Misstrauensvotum ohne die Wahl einer Regierung beseitigen. Sternberger erklärt, die Verfassung „war so angelegt, dass die Reichsregierung zwischen präsidentieller Bestellung und parlamentarischem Misstrauen gleichsam eingeklemmt eine abgeleitete Legitimation und eine prekäre Existenz führte“.211 Eine Regierung, deren Bestellung der parlamentarischen Beteiligung entkleidet ist bzw. wo das Parlament nur ein für die Bestellung formal nicht relevantes Votum über eine mögliche Unterstützung abgibt, erfährt womöglich auch keine derartige Unterstützung wie eine Regierung, deren Regierungschef im Vorfeld ausschließlich parlamentarisch ermittelt wurde. Die Regierungsbildung wurde hierdurch jedenfalls nicht parlamentarisiert. Steffani erkennt dabei einen Zusammenhang zwischen parlamentarischer Regierungsbestellung und späterer Mehrheitsbildung im Sinne des konstitutiven Mehrheitsprinzips: So haben „in parlamentarischen Parlamenten […] die im Parlament vertretenen Parteien darüber hinaus die verfassungspolitische Systemfunktion, eine Regierung ins Amt zu bringen und darüber zu befinden, wie lange sie im Amt bleibt. Die hierfür erforderliche mehrheitsbildende und regierungsstabilisierende Fraktions- bzw. Koalitionsdisziplin zustande zu bringen, ist eine Systemfunktion, die sich für die Parteien eines präsidentiellen Parlaments nicht so stellt.“212 Mit anderen Worten: Ein Parlament, welches sich nicht in der Pflicht sieht und faktisch auch nicht dazu verpflichtet ist, einen Kanzler zu wählen, ist auch nicht angehalten, überhaupt stabile Koalitionen zu bilden und das eigene Abstimmungsverhalten, etwa im Bereich der Gesetzgebung, als Koalition und mittels Fraktionsdisziplin als institutionell gesteuerte oder gewährleistete Mehrheit auszurichten.213 Stellte Art. 54 WRV nur marginale formale Hürden für eine Rücktrittsverpflichtung der Regierung auf, so erfolgten die Regierungsrücktritte gerade deshalb, weil durch die auseinanderfallende Staatspraxis zu Art. 53 WRV und die formelle Rechtslage aus Art. 54 WRV eine Diskrepanz hinsichtlich der Bestellungsgewalt des Reichskanzlers zu verzeichnen war. Das Zusammenfallen der Kompetenz von Regierungsbestellung und Regierungsabberufung in demselben Verfassungsorgan bzw. in dem Parlament „führen“, so Steffani, „zu einer engen Verbindung“ der Regierung und des Parlaments „mit 210
Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (8). 211 Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (8). 212 Steffani, Zur Unterscheidung präsidialer und parlamentarischer Regierungssysteme, in: ZParl 1983, S. 391 (393). 213 Zum Beitrag von Fraktionsdisziplin bei der Gesetzgebung und Mehrheitsfindung siehe Kapitel 3 C. I. 2. a).
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der Folge, dass die Regierung und insbesondere der Regierungschef auf dem Wege der Vermittlung durch die Regierungsfraktion(en) die Parlamentsmehrheit ggf. in einem Ausmaße politisch zu lenken vermag, wie dies in präsidentiellen Systemen nicht möglich ist“.214 Die fehlende Fraktionsdisziplin in präsidentiellen Systemen führe zur „innerparlamentarischen Dezentralisation“, während parlamentarische Systeme die Fraktionsdisziplin förderten. Die wohl wichtigste Errungenschaft des Grundgesetzes für die Regierungsstabilität in Form der Regierungskontinuität ist damit die Tatsache, dass das Bestellungs- und Abberufungsrecht durch dasselbe Staatsverfassungsorgan erfolgt und dass Art. 63 GG die im Parlament vertretenen Parteien zum Koalieren und auf diese Weise zur Fraktionsdisziplin anregt. Der Stabilitätsbeitrag des Art. 67 GG ist daher nicht isoliert zu betrachten, sondern bedarf der Berücksichtigung des in Art. 63 GG gezeichneten alleinigen parlamentarischen Bestellungsrechts. Damit ist jede nach Art. 63 GG gewählte Regierung ausschließlich durch das Parlament bestellt worden und aus diesem Grund auch als parlamentarische Regierung anzusehen. Insgesamt hat die Regierungsbestellung dadurch eine Parlamentarisierung erfahren. Dem alleinigen Bestellungsrecht des Parlaments korrespondiert auch das alleinige Recht, die Regierung dadurch abzuwählen, dass sie mit qualifizierter Mehrheit eine neue Regierung bildet. Pieper erkennt hierbei einen „enge[n] Zusammenhang“ des konstruktiven Misstrauensvotums aus Art. 67 GG mit dem in Art. 42 Abs. 2 GG ausgedrückten Mehrheitsprinzips. Das Grundgesetz ziele darauf ab, die parlamentarische Mehrheit auch „im Einklang mit den die Regierung bildenden politischen Kräften zu gewährleisten“.215 cc) Konstruktive Mehrheit als Stabilitätsgarantie? Vielfach wird die Konzeption des Art. 67 GG allerdings kritisiert, weil diese zwar formal dafür sorge, dass kein Regierungssturz erfolgt, soweit das Parlament sich nicht mehrheitlich auf einen neuen Kanzler zu einigen vermag. Hierin liege, so Roßner, die „Pointe der Norm“.216 Gleichwohl liefere Art. 67 GG insoweit keinen Beitrag zur Beseitigung einer parlamentarischen Krise, denn es verhelfe der Regierung ausschließlich im Amt zu verbleiben, nicht aber das tatsächlich wohl nicht mehrheitlich bestehende parlamentarische Vertrauen (zurück-) zu gewinnen. Böckenförde bezeichnet das konstruktive Misstrauensvotum als „fragwürdige Konzeption“. Er stellt insofern eine Fiktion fest, als eine parlamentarisch gebildete Regierung auch als parlamentarische im Amt gehalten wird, obgleich diese sich des mehrheitlichen Vertrauens nicht mehr versähe.217 Böckenförde nahm die Er 214 Hier und im Folgenden Steffani, Zur Unterscheidung präsidialer und parlamentarischer Regierungssysteme, in: ZParl 1983, S. 391 (393). 215 BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 67. 216 Parlamentsrecht / Roßner, § 41 Rn. 57. 217 Im Folgenden Böckenförde, Bonn ist nicht Weimar, in: AöR 1967, S. 253 (254).
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
fahrungen aus dem Jahr 1966 zum Anlass, als sich die Regierung Erhards durch den Rücktritt von vier FDP-Ministern zu einer Minderheitsregierung wandelte. Das Parlament sah sich angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse außer Stande, sich per konstruktivem Misstrauensvotum auf eine neue Regierung konstruktiv zu einigen. Es ersuchte in der Folge den Bundeskanzler, die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG zu stellen, was jedoch unterblieb. Konstruktiv, so Böckenförde, habe keine Krise angesichts der Nicht-Anwendung des Art. 67 GG bestanden und „wer nicht nach dem Vertrauen [frage], dem [könne] es auch nicht verweigert werden“. Schließlich beendete der Rücktritt Erhards die Regierungszeit, woraufhin Kurt Georg Kiesinger in das Amt des Bundeskanzlers gewählt wurde. Als problematisch kann sich unter Umständen erweisen, dass die hohen Hürden des Art. 67 GG nicht die vermeintlich notwendige Flexibilität218 liefern, um einen Bundeskanzler seines Amtes zu entheben. Problematisch sei, dass sich das Parlament während der Amtszeit einer Bundesregierung „hinter den Kulissen“ auf einen neuen Bundeskanzler einigen müssen, was die Kanzlerwahl dem öffentlichen Diskurs entziehen könnte. Möglich sei in diesem Zusammenhang auch, dass sich die Parlamentsfraktionen auf einen Kandidaten des „politischen Nullpunktes“ einigen.219 Hierfür besteht allerdings kein Anhaltspunkt. Regelmäßig werden die Parteien bzw. Fraktionen ein Interesse daran haben, einen solchen Kandidaten zu benennen, der vor allem im Hinblick auf etwaig anstehende Wahlen als für sie günstig anzusehen sind.220 Für den nach Schneider eventuell der Öffentlichkeit entzogenen und daher erschwerten Einigungsprozess ist dagegen festzustellen, dass politische Entscheidungen regelmäßig zunächst unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen. Fraktionssitzungen sind regelmäßig nicht öffentlich. Ist jedenfalls nicht vollständig ausgeschlossen, dass Pläne und Vorhaben eines Regierungssturzes per Misstrauensvotum publik werden, so besteht kein zwingender sachlicher Zusammenhang, dass die Veröffentlichung die Regierungsbildung erleichtere. Es wird außerdem auch auf das Problem eines „klebenden Bundeskanzlers“221 verwiesen. Ein amtierender Bundeskanzler, der wegen fehlender inhaltlicher Mehrheiten im Parlament nicht mittels konstruktiven Misstrauensvotums gestürzt werden kann, hat die Möglichkeit, weiterhin im Amt zu verbleiben. Er ist auch angesichts seines alleinigen politischen Ermessens nicht angehalten, in solchen Fällen die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG zu stellen. Allein politischer Druck kann den Bundeskanzler dann dazu bringen, seinen Rücktritt zu erklären und damit dem Parlament Neuwahlen des Bundeskanzlers nach Maßgabe des Art. 63 GG zu ermöglichen.
218 Vgl. Sternberger, Parlamentarische Regierung und parlamentarische Kontrolle, in: Politische Vierteljahreszeitschrift 1964, S. 6 (7). 219 Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (28). 220 Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (289). 221 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 68 Rn. 16.
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Zwar vermag Art. 67 GG durch die Anforderung einer Mehrheit aus Art. 121 GG eine Regierung auch dann im Amt zu halten, wenn diese materiell nicht über das mehrheitliche Vertrauen verfügt. Das konstruktive Misstrauensvotum leistet insoweit keinen Beitrag dazu, dass formale Mehrheiten politisch erhalten bleiben.222 Daher ist auch der Vertrauens- bzw. Misstrauensbegriff in Art. 67 GG als rein formaler Vertrauensbegriff anzusehen.223 Dass ein konstruktives Misstrauens votum nach Art. 67 GG keinen Erfolg hat, bedeutet nicht, dass sich die Regierung automatisch aktuell des mehrheitlichen Vertrauens in positiver Hinsicht versieht. Es bedeutet unter Umständen lediglich, dass das Parlament sich jedenfalls nicht mehrheitlich auf eine andere Regierung einigen kann, obgleich es faktisch die Regierung nicht mehrheitlich unterstützt. Darin ist eine parlamentarische Krise zu sehen, da die Vertrauensbeziehung zwischen Regierung und Parlament beendet ist. Nichtsdestoweniger erweist sich dieses Erfordernis als Verlängerung der durch Art. 63 GG parlamentarisierten Bundeskanzlerwahl. Im Zusammenhang mit der alleinigen Befugnis des Parlaments, überhaupt einen Antrag im Sinne des Art. 67 GG zu stellen, wird das Parlament final zu dem allein zur Regierungsbildung bestellten Verfassungsorgan. Stellt Art. 63 GG in den ersten beiden Wahlphasen das Erfordernis der Mehrheit aus Art. 121 GG für die erfolgreiche Wahl des Bundeskanzlers auf, so kann folgerichtig für Art. 67 GG als alternative Bundeskanzlerwahl nichts Anderes gelten. Eine Regierung, die die mehrheitliche parlamentarische Mehrheit verloren hat, also eine materielle Minderheitsregierung geworden ist, kann durch Art. 67 GG nicht als materielle Minderheitsregierung zu einer Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG werden, welcher die besonderen Instrumente der Regierung gerade nicht zustehen. Damit wird ein verfassungsrechtlich wesentlich schwerwiegenderer politischer Krisenzustand vermieden.224 Das konstruktive Misstrauensvotum sichert die Bundeskanzlerwahl aus Art. 63 GG insoweit ab und vermeidet materielle Minderheitsregierungen als Geschäftsregierungen. Darin ist ein stabilisierender Faktor erkennbar. b) Keine Abwahl einzelner Bundesminister Der Bundestag hat gemäß Art. 64 Abs. 1 GG keinen unmittelbaren Einfluss auf die Besetzung und Konstituierung des Kabinetts. Demnach werden die Bundesminister formal ausschließlich durch den Bundeskanzler bestimmt, indem dieser die Kandidaten vorschlägt und der Bundespräsident sie ernennt. Insbesondere obliegt dem Bundespräsidenten dabei kein sogenanntes politisches Prüfungs-
222 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (60 f.); vgl. auch Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (288). 223 BeckOK / Pieper, GG Art. 67 Rn. 1.2. 224 Andere Auffassung, die sich jedoch nicht mit den Kompetenzen einer Geschäftsregierung auseinandersetzen, bei: Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (61).
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recht225, welches ihn seinerseits dazu berechtigen würde, einzelne Kandidaten aus politischen Gründen von dem Regierungsamt auszuschließen, ihre Ernennung zu verweigern oder sie selbstständig aus dem Amt zu entlassen.226 In der Praxis der Regierungsbildung sind die personellen Besetzungen von Regierungsämtern regelmäßig Gegenstand der vorangegangenen Koalitionsbildung.227 Im zweiten Kapitel wurde bereits dargelegt, dass der Office-Nutzen aus politikwissenschaftlicher Sicht ein solcher Faktor ist, der für Fraktionen hinsichtlich einer Regierungsbeteiligung ausschlaggebend oder auch maßgeblich ist. Nichtsdestoweniger haben auch aus dieser praktischen Betrachtungsweise nur die Regierungsfraktionen einen Einfluss auf die Regierungsbildung. Während nach einigen Landesverfassungen vorgesehen ist, dass die Landesminister jeweils noch einer parlamentarischen Bestätigung bedürfen, verzichtet das Grundgesetz auf jede Art einer gesamtparlamentarischen Intervention bei der Regierungskonstituierung. Das fehlende unmittelbare228 parlamentarische Bestimmungs- oder Bestätigungsrecht229 hinsichtlich der Amtsbesetzungen für Ministerien setzt sich in Art. 67 GG bei der Abwahl der Regierung fort230: Das Recht des Bundestages ist darauf beschränkt, den Bundeskanzler per konstruktivem Misstrauensvotum abzuwählen. Eine einzelne Abbestellung von Regierungsmitgliedern ist dagegen nicht möglich. Dies ist schon gemäß Art. 64 Abs. 1 GG ausgeschlossen, wonach Bundesminister nur auf Vorschlag des Bundeskanzlers entlassen werden. Dennoch entfaltet sich auch zwischen den Bundesministern und dem Bundestag letztlich eine Verantwortungs- und damit auch eine Vertrauensbeziehung.231 Ungeachtet dessen, dass die Abwahl einzelner Minister gemäß Art. 64 Abs. 1 bzw. 67 GG ausgeschlossen ist, ist es dem Parlament unbenommen, anderweitige Formen politischer Missbilligung232, etwa schlichte Missbilligungsbeschlüsse oder Tadel gegenüber einzelnen Regierungsmitgliedern – auch gegenüber dem Bundeskanzler – auszusprechen. Darin sind jedoch ausschließlich politische Instrumente zu sehen, die jedenfalls keine verfassungsrechtlichen Konsequenzen bewirken. Solche resultie 225 Siehe BeckOK / Epping, GG Art. 64 Rn. 8. Es wird nach herrschender Auffassung davon ausgegangen, dass dem Bundespräsidenten nur ein formelles Prüfungsrecht zukommt und er demgemäß allenfalls zur Prüfung der Ernennungsvoraussetzungen berechtigt ist, siehe Darstellung bei Dreier / Hermes, GG Art. 64 Rn. 27 m. w. N. Nach anderer Ansicht soll der Bundespräsident in „Extremfällen“ oder aus Gründen des geleisteten Amtseids eine Evidenzkontrolle leisten dürfen, siehe Schröder, HStR III, § 65 Rn. 34; Stern, Staatsrecht II, S. 248 f. Für die vorliegende Fragestellung kann diese Problemstellung außer Betracht bleiben. 226 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 46. 227 Siehe etwa Schröder, HStR III, § 65 Rn. 31. Ausführlich Kapitel 2 B. I. 1. 228 Vgl. Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 67 Rn. 7. 229 Böckenförde, Die Organisationsgewalt in der Regierung, S. 139 f. 230 Vgl. Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 67 Rn. 11, 28; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 37; BeckOK / Pieper, GG Art. 67 Rn. 1.4. 231 Vgl. Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (58 f.). 232 Zu den alternativen Möglichkeiten politischer Missbilligung, siehe Sachs / Oldiges / Brinktrine, GG Art. 67 Rn. 28 ff.
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ren allenfalls aus Art. 67 GG und ausschließlich für den Sturz der gesamten Regierung durch Neuwahl eines Bundeskanzlers. Wie auch in der Regierungsbildung nach Art. 63 GG hat sich die Frage des Regierungssturzes bei Art. 67 GG damit zur Kanzlerfrage verdichtet. Dabei tangiert Art. 67 GG ebenfalls nicht das Kabinettsbildungs- bzw. Kabinettsumbildungsrecht des Bundeskanzlers.233 Hierin ist ein weiterer Unterschied zu Art. 54 WRV zu sehen: Demnach bedurften auch die einzelnen Minister des parlamentarischen Vertrauens und konnten auch als solche isoliert von der übrigen Regierung Adressaten eines Misstrauensvotums werden.234 Die Unzulässigkeit der Abwahl einzelner Minister stärkt die „innere Kabinettsarchitektur“ und fördert die gemäß Art. 65 S. 3 GG bestehende Kabinettsdisziplin.235 Da allein der Kanzler Adressat des konstruktiven Misstrauensvotums sein könne und die Richtlinien der Politik gemäß Art. 65 S. 1 GG aufstelle, müsse er sich „mit Ministern seines Vertrauens umgeben können“.236 Insoweit kann dem Art. 67 GG wegen der fehlenden Möglichkeit der Abwahl einzelner Minister grundsätzlich ein die innere Regierungskontinuität sichernder Beitrag zugesprochen werden. Es ist davon auszugehen, dass die Bereitschaft, einen einzelnen Minister des Amtes zu entheben, wesentlich höher ausfallen kann als die Bereitschaft die gesamte Regierung abzuwählen. Problematisch könnte sich in diesem Kontext auch erweisen, welche politischen Konsequenzen ein konstruktives Misstrauensvotum einzelner Regierungsmitglieder hätte. Fraglich ist, ob und wie sich das Parlament auf ein neues Regierungsmitglied einigen würde und wie sich dieses neue, durch das Parlament bestellte Regierungsmitglied in das Kabinett einordnen würde. Bei einem insoweit parlamentarischen Mitbestimmungsrecht in Bezug auf einzelne Regierungsmitglieder müsste folgerichtig auch das Kabinettsbildungsrecht der parlamentarischen Mitwirkung bedürfen, um keinen Widerspruch zu erzeugen. Der Bundeskanzler müsste dann auch verpflichtet sein, die vom Parlament ausgewählten Kandidaten dem Bundespräsidenten zur Ernennung vorzuschlagen.237 Insgesamt ist die fehlende Befugnis zur Abwahl einzelner Minister deshalb als ein notwendiges Kriterium zur inneren238 und äußeren Regierungsstabilität anzusehen.
233
Schenke, Die Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie, in: JZ 2015, S. 1009 (1015). Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 67 Rn. 1. 235 BeckOK / Pieper, GG Art. 67 Rn. 1.4. 236 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (47). 237 Zur Frage, ob Art. 64 GG insoweit eine Relativierung des parlamentarischen Regierungssystems bedeute oder zu einer insgesamt „anti-parlamentarischen“ Regierung führt, siehe Darstellung bei Mangoldt / K lein / Starck / Schröder, GG Art. 67 Rn. 7 f. 238 Hermes erkennt nur einen Beitrag zur inneren Regierungsstabilität, siehe Dreier / Hermes, GG Art. 67 Rn. 12; vgl. auch Schröder, HStR III, § 65 Rn. 37. 234
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c) Fehlende Anwendungspraxis auf Bundesebene Auf Bundesebene kam das konstruktive Misstrauensvotum in über siebzig Jahren seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes insgesamt nur zwei Mal zur Anwendung. Während das erste Misstrauensvotum239 gegen Willy Brandt im Jahr 1972 scheiterte240, wurde im zweiten Anwendungsfall im Jahr 1982 Bundeskanzler Helmut Schmidt nach dem Zerfall der sozialliberalen Koalition241 von Helmut Kohl abgelöst. Evident ist, dass die durch einen Patt entstandene Mehrheitskrise zur Amtszeit Willy Brandts durch Art. 67 GG nicht beseitigt wurde. Der parlamentarische Antrag scheiterte nur knapp; die Umstände seien „zweifelhaft“ gewesen.242 In der Folge stellte Brandt jedoch die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG und hatte auf diese Weise eine Bundestagsauflösung herbeigeführt.243 Durch das gescheiterte Misstrauensvotum sei die Regierung jedenfalls nicht „gerettet“ gewesen.244 Fraglich und problematisch erscheint, ob derartige Erfahrungen ohne Weiteres auf die Gegebenheiten der 19. Legislaturperiode übertragbar erscheinen. Hiergegen sprechen zunächst die bezeichneten „zweifelhaften“ Umstände über das Scheitern des Misstrauensvotums im Jahr 1972. Bis heute besteht der nicht erwiesene Verdacht, dass Bestechungsgelder des Ministeriums für Staatssicherheit (Deutsche Demokratische Republik) in Höhe von 50.000 Mark letztlich den Regierungssturz verhindert hatten, indem zwei aus Sicht Rainer Barzels sicher geglaubte Abgeordnete anders votiert hatten.245 Ungeachtet dessen sind auch die parteipolitischen bzw. parlamentarischen Verhältnisse aus dem 21. Jahrhundert bereits strukturell nicht mit jenen Bedingungen aus 1972 vergleichbar.246 Zu dieser Zeit fanden sich im Parlament drei Fraktionen, sodass insgesamt nur drei verfügbare Möglichkeiten von Koalitionen in Betracht kamen: Der Regierung Willy Brandts lag eine sozialliberale Koalition zugrunde. Die Koalition verlor ihre parlamentarische Mehrheit nachträglich durch Parteiaustritte. Durch diese dem Misstrauensvotum vorausgegangenen Parteiübertritte versah sich das Parlament in einer Patt-Situation, die in der jüngeren Vergangenheit nicht in derartiger Weise zu verzeichnen war.247 Angesichts der stark gestiegenen 239
Bundestag, Stenografischer Bericht vom 27. 04. 1972, IV 10714. Ausführlich zur Chronik des Misstrauensvotums und der späteren Vertrauensfrage, siehe Lange / Richter, Erste vorzeitige Auflösung des Bundestages, in: ZParl 1973, S. 38. 241 So auch BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 67 GG. 242 Schenke, Die Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie, in: JZ 2015, S. 1009 (1015). 243 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 14. 244 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 14. 245 Siehe https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/28290403_misstrauensvotum01200574. 246 Vgl. hierzu Schenke, Die Bundesrepublik als Kanzlerdemokratie, in: JZ 2915, S. 1009 (1015); Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 67 Rn. 14. 247 Siehe Darstellung bei Müller, Das konstruktive Misstrauensvotum, in: ZParl 1972, S. 275 (283). 240
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Anzahl der Fraktionen bzw. der gestiegenen „Effective Number of Parties“248 im Bundestag sind vollkommen andere Formen von Mehrheitsbildung im Sinne des Art. 67 GG anzudenken: Angela Merkel könnte etwa dadurch abgewählt werden, dass sich etwa SPD, FDP, Bündnis 90 / Die Grünen und Linkspartei gemeinsam auf einen neuen Bundeskanzler einigen. Nur theoretischer Natur ist derjenige Fall, dass die SPD gemeinsam mit der AfD, FDP und einer der beiden anderen Fraktionen jeweils einen neuen Bundeskanzler wählt. Hier besteht ein vergleichbarer Effekt wie schon bei der Regierungsbildung nach Art. 63 GG durch die gestiegene Anzahl der im Parlament vertretenen Fraktionen.249 Bereits diese in Gänze sich hiervon unterscheidende Parlamentsstruktur veranschaulicht, dass die Erfahrungen aus 1972 nicht übertragbar sind. 3. Reformerfordernis des Art. 67 GG? Wie dargestellt ist das konstruktive Misstrauensvotum vor allem mit dem Vorwurf konfrontiert, es beseitige eine bestehende Vertrauenskrise zwischen Parlament und Regierung nicht. Mit anderen Worten: Es liefere keine Lösung oder keinen Ausweg aus der Krise. Weiter wird das Misstrauensvotum mit seinen tatbestandlichen Erfordernissen und seiner Ausgestaltung als Neuwahl des Bundeskanzlers anstelle eines ausschließlich destruktiven Regierungssturzes als zu unflexibel wahrgenommen. Es wird die Gefahr eines „klebenden Bundeskanzlers“ gesehen, der aufgrund der konkreten Wirkung des Art. 67 GG nicht zu seinem Rücktritt gezwungen werde. Nachfolgend wird überprüft, ob einschlägige Reformvorschläge als vermeintliche Lösungen für die nach dieser Auffassung bestehenden Defizite Abhilfe schaffen könnten oder ob vor dem Hintergrund des erfolgreichen Amtierens einer Minderheitsregierung überhaupt ein Reformerfordernis besteht. a) Zeitliche Trennung von Misstrauensantrag und Neuwahl des Bundeskanzlers Bereits die Beratungen des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee offenbarten unterschiedliche Auffassungen zur Praktikabilität des Misstrauensvotums mit seinem neuartigen Erfordernis einer konstruktiven Mehrheit zum erfolgreichen Regierungssturz. So erachtete es eine Minderheit als nicht praktikabel, mit der Aussprache des Misstrauens uno actu einen neuen Kanzlerkandidaten zu benennen. Das politische Misstrauen müsse sich auch „spontan“ und anlassbezogen auswirken können. In politisch-praktischer Sicht lasse sich ein neuer Mehrheitskandidat nur schwer finden, solange der bis dahin amtierende Bundeskanzler noch im Amt sei. Es sei daher zu erwägen, „das Misstrauensvotum seine Wirkung verlieren 248 249
Ausführlich hierzu siehe Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (3) (c). Ausführlich hierzu siehe Kapitel 2 B. I. 2. sowie Kapitel 3 B. I.
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zu lassen, wenn das Parlament nicht binnen einer bestimmten Frist einem neuen Kanzler sein Vertrauen ausspreche“.250 Dem, so die Befürworter der Konzeption einer gleichzeitigen Ab- und Neuwahl des Bundeskanzlers, stehe entgegen, dass eine nachträgliche Unwirksamkeit des Misstrauensantrages durch fehlende Benennung und Wahl des Mehrheitskandidaten als eine „juristische Fiktion“ anzusehen sei. Vor der Öffentlichkeit sei die amtierende Regierung bereits gestürzt worden. Das ihr so entgegengebrachte Misstrauen habe sich dann aber letztlich politisch nicht ausgewirkt.251 b) Orientierung an Art. 44 Abs. 3 S. 2 BayLVerf Zum Teil wird eine Reform des Art. 67 GG anhand der bayerischen Vorschrift aus Art. 44 Abs. 3 S. 2 BayLVerf252 gefordert.253 Gemäß Art. 44 Abs. 3 S. 2 BayLVerf besteht eine Rücktrittsverpflichtung des bayerischen Ministerpräsidenten, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen“. Im Grundsatz bestünde in diesem Falle eine Unabsetzbarkeit der Regierung, weil das Parlament nicht unmittelbaren Einfluss auf den Rücktritt nehmen könnte. Es könnte den Ministerpräsidenten nur mittelbar hierzu anhalten; letztlich würde aber der Ministerpräsident alleine über den eigenen Rücktritt entscheiden. Anstelle des Misstrauensvotums, das letztlich ein Instrument parlamentarischer Regierungskontrolle mit der Konsequenz der Neubesetzung des Amtes darstellt, tritt die Rücktrittsverpflichtung des Bundeskanzlers. aa) Die Konsequenzen der Rücktrittsverpflichtung nach dem GG Eine Rücktrittsverpflichtung des Bundeskanzlers hätte zur Folge, dass zunächst der Bundespräsident den zurückgetretenen Bundeskanzler gemäß Art. 69 Abs. 3 GG ersuchen würde, die Geschäfte als geschäftsführender Bundeskanzler fortzuführen. Der Bundeskanzler würde seinerseits die Bundesminister ersuchen, auch die Geschäfte der jeweiligen Ressorts fortzuführen. Die so gebildete Geschäftsregierung müsste so lange Regierungsaufgaben wahrnehmen, bis das 250
Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36. 252 Art. 44 Abs. 3 BayLVerf lautet: Der Ministerpräsident kann jederzeit von seinem Amt zurücktreten. Er muß zurücktreten, wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen. Der Rücktritt des Ministerpräsidenten hat den Rücktritt der Staatsregierung zur Folge. Bis zur Neuwahl eines Ministerpräsidenten geht die Vertretung Bayerns nach außen auf den Landtagspräsidenten über. Während dieser Zeit kann der Landtagspräsident vom Landtag nicht abberufen werden. 253 So lautete bereits eine Minderauffassung im Verfassungskonvent, siehe Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 36. 251
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Parlament nach Art. 63 GG einen neuen Bundeskanzler wählt. Die Vorschrift aus Art. 63 GG findet Anwendung, da das Amt des Bundeskanzlers vakant geworden ist.254 Insbesondere ist hier zu berücksichtigen, dass zwar sämtliche Regierungs ämter mit dem Ablauf der Legislaturperiode gemäß Art. 69 Abs. 2 GG enden. Gleichzeitig ist das Ende der Legislaturperiode nicht mit dem Ende der Regierungszeit verknüpft. Das Parlament wird dadurch jedenfalls nicht aufgelöst. Aus der Anwendung des Art. 63 GG und der möglichen Durchführung von drei Wahlphasen könnten sich durchaus Stabilisierungschancen bzw. Möglichkeiten der Krisenbeseitigung ergeben. Zunächst ist der Bundespräsident anders als im Rahmen des Art. 67 GG durch etwa bestehendes politisches Ermessen in der ersten Wahlphase, jedenfalls aber in der dritten Wahlphase involviert. Neben der Ernennung eines Minderheitskanzlers bestünde auf diese Weise auch die Möglichkeit, den Bundestag gemäß Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG in der dritten Wahlphase aufzulösen. Ferner hätte der Bundestag die Option, innerhalb von drei möglichen Wahlphasen einen neuen Bundeskanzler – gegebenenfalls auch als Mehrheitskanzler – in das Amt zu rufen. Die Modalitäten und die zeitliche Abfolge der Wahlphasen wären dann durch die Verfassung vorgegeben. bb) Krisenbeseitigung durch Neubesetzung nach Art. 63 GG? Problematisch erscheint jedoch bei der Rücktrittsverpflichtung und der dadurch bedingten Anwendbarkeit des Art. 63 GG, dass der Bundestag durch eine solche Rücktrittsverpflichtung nicht angehalten wäre, sich der eigenen Verantwortung als die Regierung bestellende und kontrollierende Instanz zu stellen: Die Rücktrittsverpflichtung des Bundeskanzlers bei bestimmten politischen Verhältnissen im Sinne des Art. 44 Abs. 3 S. 2 BayLVerf hätte zur Konsequenz, dass womöglich schon ein einfacher parlamentarischer Missbilligungsbeschluss oder ein Misstrauensantrag die Regierung aus ihrem Amt entheben könnte, das Parlament würde dadurch nicht direkt dazu angehalten, eine direkt mehrheitsbildende Funktion zu erfüllen. Dies kommt nahezu einem rein destruktiven Misstrauensvotum aus Art. 54 WRV gleich. Der einzige mögliche Anreiz wäre die Verhinderung einer Parlamentsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG, die jedoch im politischen Ermessen des Bundespräsidenten läge und damit ohnehin nur bedingt durch das Parlament beeinflussbar wäre, indem dieses sich im Rahmen von Art. 63 GG auf einen Mehrheitskanzler einigt. Es wurde in diesem Kontext jedoch bereits dargelegt, dass das Ermessen des Bundespräsidenten im Rahmen der ersten Wahlphase grundsätzlich pflicht gebunden ist und sich gegebenenfalls erst dann zu einem politischen Ermessen zu weiten vermag, wenn die parlamentarischen Einigungsprozesse und etwaige Koalitionsversuche zwischen den Fraktionen mit hinreichender Wahrscheinlichkeit 254
Ausführlich hierzu bereits Kapitel 3 B. I. 1.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
gescheitert sind.255 Solange hat der Bundespräsident abzuwarten und ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zur politischen Intervention befugt. Das kann unter Umständen bedeuten, dass die formal zurückgetretene Regierung über mehrere Monate als geschäftsführende Regierung amtiert, obwohl feststeht, dass sie sich keines mehrheitlichen Vertrauens und damit auch keiner entsprechenden parlamentarischen Unterstützung versieht. Eine Geschäftsregierung hat aber weder die Befugnisse aus Art. 68 noch aus Art. 81 GG. Konkret bedeutet dies, dass im Falle der Rücktrittsverpflichtung ohne gleichzeitige Bestellung eines neuen Bundeskanzlers ein politischer Stillstand ohne verfassungsrechtliches Instrument der Krisenbeseitigung einherginge. Außer der Wahl eines Bundeskanzlers bliebe dann ausschließlich die Möglichkeit, auf die Wahl eines Bundeskanzlers nach Art. 63 GG zu warten und das Parlament gegebenenfalls zum Ende der dritten Wahlphase aufzulösen. Unwahrscheinlich ist auch, dass es der durch das Parlament gestürzten Regierung gelingt, in der Zeit der geschäftsführenden Regierung alternative Gesetzgebungsmodelle256 erfolgreich zur Umsetzung der eigenen Richtlinienpolitik anzuwenden. c) Rücktrittsverpflichtung des Bundeskanzlers per Aufforderung durch den Bundespräsidenten Kleiner geht davon aus, dem möglichen Problem eines „klebenden Bundeskanzler“, also einem solchen Kanzler, der durch rein destruktive Mehrheiten im Parlament nicht durch Art. 67 GG gestürzt werden kann und dennoch selbst die Vertrauensfrage nicht stellt, könne durch die Befugnis des Bundespräsidenten begegnet werden, den Bundeskanzler zum Rücktritt zu zwingen. Hierzu hält Kleiner es zunächst für systemgerecht, aus der Gesamtschau der für das parlamentarische Regierungssystem relevanten Vorschriften, namentlich aus Art. 63 Abs. 4 S. 3, 68, 81 GG die präsidentielle Befugnis herzuleiten.257 Es existieren, so Kleiner, „keine zwingenden Gründe, die nach Wortlaut und Sinnzusammenhang vorhandenen Befugnisse für die parlamentarische Krise restriktiv auszulegen“. Dies vermag angesichts der vom Verfassungsgeber explizit intendierten insgesamt restriktiven Kompetenzen des Bundespräsidenten nicht zu überzeugen. Auch wenn diesem in Zeiten von parlamentarischen Mehrheitskrisen bzw. erschwerter Mehrheitsfindung auch bei der Regierungsbestellung ein zum Teil auch politisches Ermessen zugesprochen wird, fügt sich eine Aufforderung des Bundespräsidenten zum Rücktritt des Bundeskanzlers schlechthin nicht in das Gesamtsystem der Verfassung ein. Das politische Ermessen des Bundespräsidenten kann sich auch im Falle des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG oder Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG ausschließlich an vorangegangene parlamentarische Handlungen knüpfen: So ist eine nach Art. 63 255
Kapitel 3 B. I. 2. a) aa). Ausführlich zu alternativen Gesetzgebungsmodellen siehe Kapitel 3 C. I. 2. 257 Hier und im Folgenden Kleiner, Die Neuverteilung der Gewichte zwischen Bundeskanzler und Bundespräsident, in: ZRP 1974, S. 129 (130). 256
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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Abs. 4 S. 3 GG bestellte formelle Minderheitsregierung dennoch eine parlamentarische Regierung. Das Parlament ist aber gerade ausschließlich und alleine zur Regierungsbildung befugt. Eine Befugnis des Bundespräsidenten würde sich den Vorschriften der Weimarer Verfassung annähern, indem diese eine negative Legitimation des Bundespräsidenten für den Bestand der Regierung konstruieren würde: Die Regierung sähe sich in der Abhängigkeit des Bundespräsidenten, dass dieser sie nicht unmittelbar zum Rücktritt auffordern könnte. Ein mittelbarer politischer Druck zum Rücktritt steht dem Bundespräsidenten nur in denjenigen Fällen zu, die das Grundgesetz ausdrücklich regelt: So kann der Bundespräsident die Bundestagsauflösung nach Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG verweigern; außerdem kann er den Antrag der Bundesregierung zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands aus Art. 81 GG ablehnen. d) Rein destruktives Misstrauensvotum Zum Teil zeichnen sich Forderungen ab, die anstelle eines konstruktiven Misstrauensvotums auch ein destruktives Votum für den Regierungssturz genügen lassen wollen.258 So führt Böckenförde aus, der „Angst vor den ‚negativen Mehrheiten‘ von Weimar“ sollte „der Garaus gemacht werden“. Verfassungen seien „nicht bessere Ordnungen für die Vergangenheit, sie sollen taugliche Ordnungen für die Zukunft sein“.259 Zweifelhaft erscheint, ob ein destruktives Misstrauensvotum den Gegebenheiten des durch Art. 63 GG gezeichneten parlamentarischen Regierungssystems gerecht wird: Das Parlament hat nach Art. 63 GG die alleinige Bestellungsgewalt der Regierung. Folgerichtig muss es dem Parlament daher auch möglich und ausschließlich vorbehalten sein, die Regierung auch jederzeit abwählen zu können. Eine Rücktrittsverpflichtung des Bundeskanzlers, die entweder aus tatbestandlichen Voraussetzungen im Sinne des Art. 44 Abs. 3 S. 2 BayLVerf resultiert oder etwa durch den Bundespräsidenten erzwungen werden kann, verwehrt dem Parlament den unmittelbaren Einfluss auf den Fortbestand der Regierung. Dies widerspricht der für das parlamentarische Regierungssystem zentralen alleinigen Bestellungsgewalt. Der nur mittelbare Einfluss auf eine Rücktrittsverpflichtung oder den Fortbestand fügt sich in das System nicht ein. Wie dargestellt ist es weiter schwerlich mit der Rolle des Bundespräsidenten vereinbar und vor dem Hintergrund des parlamentarischen Regierungssystems schlechthin unerträglich, wenn der Bundespräsident (in rechtsfortbildender Anwendung) zu der Aufforderung eines Rücktritts befugt wäre. Zuletzt überzeugt auch die Alternative eines nachträglich unwirksamen Misstrauensantrags bei ausbleibender Wahl eines Mehrheitskanzlers nach gegebener Frist nicht. Zwar könnte dadurch eine deutlich höhere Bereitschaft für 258 259
Böckenförde, Bonn ist nicht Weimar, in: AöR 1967, S. 253 (253 f.). Böckenförde, Bonn ist nicht Weimar, in: AöR 1967, S. 253 (254).
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
die Anwendung des Art. 67 GG auf Seiten des Parlaments provoziert werden. Die Vorschrift des Art. 67 GG entfaltet aber ihre Wirkung dadurch, dass sie zeitlich und sachlich an vorangegangene politische Einigungsprozesse anknüpft: Durch das Erfordernis der Gleichzeitigkeit von Misstrauensantrag und Wahl eines neuen Mehrheitskanzlers wird implizit davon ausgegangen, dass zum Zeitpunkt des Misstrauensantrags bereits feststeht, ob er tatsächlich Erfolg haben wird oder nicht. Hierdurch wird eine Geschäftsregierung aus Art. 69 Abs. 3 GG verhindert und es treten insbesondere auch keine Schwebezustände einer amtierenden oder nicht-amtierenden Regierung ein. Derartige Schwebezustände bergen das Risiko einer Rechtsunsicherheit und könnten womöglich dazu beitragen, die Akzeptanz der Regierung auch in der Bevölkerung zu schmälern. 4. Fazit: Das konstruktive Misstrauensvotum und sein missverstandenes Stabilisierungspotential Letztlich ist zu konstatieren, dass in Übereinstimmung mit der Auffassung Friesenhahns dem Art. 67 GG aufgrund des historisch angenommenen Kontextes aus der Retrospektive eine nicht adäquater politische Wirkung zugemessen wird.260 Die Erwartungshaltung, die mit der Schaffung des Grundgesetzes in der Nachkriegszeit an Art. 67 GG gestellt wurden, werden dem eigentlichen Sinn und Zweck bzw. der faktischen Auswirkungen jedenfalls nicht gerecht: Vielfach wurde Art. 67 GG als bahnbrechende Neuerung gesehen, die alleine die Regierungsstabilität sichern sollte. Diese Betrachtung erweist sich insofern als nicht angemessen, als eine einzelne Vorschrift, die sich in eine Gesamtsystematik zur Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems einfügt, auch nicht alleine als Stabilitätsgarantin angesehen werden kann. Bei der Folgenabschätzung bzw. Bewertung des Art. 67 GG offenbart sich, dass Regierungsstabilität sich nicht nur an einer Vorschrift und einem Faktor messen lässt, sondern sich aus der Zusammenwirkung bestehender Mechanismen aus dem Verhältnis der maßgeblichen Staatsverfassungsorgane, dem Bundestag und der Bundesregierung, ergibt. Ungeachtet dessen liegt der bisherigen Bewertung des Art. 67 GG die einseitige Betrachtung zugrunde, dass politische Prozesse anscheinend absolut durch Verfassungsnormen steuerbar sind. Dies lässt außer Betracht, dass Regierungsstabilität eine verfassungsrechtliche, aber auch eine politische Dimension aufweist. Die Stabilität von Regierungskoalitionen lässt sich normativ jedenfalls nicht sichern. Ist der Koalitionsprozess und der Fortbestand von Koalitionen ein maßgebliches Kriterium für das erfolgreiche Amtieren einer (Mehrheits-)Regierung, so ist hinsichtlich dieser politischen Einigungsdimension im Sinne der Koalitionsbildung und des Koalitionsfortbestandes einer Mehrheitsregierung zunächst kein Einfluss des Art. 67 GG erkennbar. Politische Prozesse sind – auch jenseits von Art. 67 GG – 260 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (59 f.).
B. Bestellung der Regierung und Sicherung der Regierungskontinuität
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nicht unmittelbar verfassungsrechtlich steuerbar. Im zweiten Kapitel wurde bereits dargelegt, dass der Koalitionsprozess und auch der Fortbestand von Koalitionen vielmehr durch andere, politische und demokratische bzw. systemimmanente Faktoren wie das Wahlrecht zum Teil vorherbestimmt oder jedenfalls beeinflusst sind.261 Es wurde auch geklärt, dass die Motive für die Beteiligung an einer Koalition politisch dominiert sind, namentlich von den Fragen, welche Inhalte des eigenen Wahlprogramms zur Gesetzeslage werden und welche politischen Ämter im Falle einer Regierungsbeteiligung besetzt werden können.262 Einen solchen Beitrag oder Einfluss kann ein konstruktives Misstrauensvotum indes nicht leisten: Die fehlende Möglichkeit des Parlaments zur Abwahl der Regierung ohne Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG lässt eine zerbrochene Regierungskoalition nicht fortbestehen, für (Minderheits-)Regierungen besteht eine bedingte Bestandsgarantie. Daher kann allein die verfassungsrechtliche Regierungsstabilität verfassungsrechtlich ergründet werden und dies zeigt sich an keiner anderen Stelle so explizit wie bei der Debatte um das konstruktive Misstrauensvotum und seinen Beitrag für oder gegen die Regierungsstabilität. Verfassungsrechtliche Regierungsstabilität durch Verfassungsnormen wirken zwar auch politisch, sind nur an ihrem verfassungsrechtlichen Beitrag zu messen. Die Vorschrift aus Art. 67 GG leistet im Kontexte der Regierungsstabilität dennoch einen nicht zu leugnenden Beitrag in Form von Regierungskontinuität als Kriterium der Stabilität. Friedrich geht davon aus, „der Zielwert der Stabilisierung der Regierung [würde] durch den Zielwert der Aufrechterhaltung ihrer dauernden Abhängigkeit von der sie tragenden parlamentarischen Mehrheit realisiert“.263 Durch die hohen tatbestandlichen Hürden ist ein Regierungssturz erschwert. Insoweit schützt das geforderte Quorum einer qualifizierten Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG die Regierung vor einem Regierungssturz. So ist auch die fehlende Anwendungspraxis auf Bundesebene sicherlich durch die konkrete Ausgestaltung der gleichzeitigen Ab- und mehrheitlichen Neuwahl als zwingende Voraussetzungen bedingt. Das konstruktive Misstrauensvotum leistet im Kontext des parlamentarischen Regierungssystems insgesamt drei fundamentale Beiträge: – Das in Art. 63 GG vorgezeichnete und in Art. 67 GG fortgeführte qualifizierte Mehrheitsquorum als Ausgangspunkt der Beziehung zwischen Parlament und Regierung leistet aus verfassungsrechtlicher Sicht einen entscheidenden Beitrag: Es wird vermieden, dass eine Geschäftsregierung aus Art. 69 Abs. 3 GG bestellt wird. Dies ist in diesem Kontext deswegen so wichtig, weil eine materielle Minderheitsregierung, die als Regierung aus Art. 63, 64 GG amtiert, immerhin noch über verfassungsrechtliche Instrumente verfügt. Der Bundeskanzler einer nach 261
Ausführlich hierzu Kapitel 2 B. I. Ausführlich hierzu Kapitel 2 B. II. 1. 263 Friedrich, Anlage und Entwicklung des parlamentarischen Regierungssystems in der Bundesrepublik, in: DVBl. 1980, S. 505 (507). 262
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Art. 63 GG bestellten Regierung kann – ungeachtet dessen, ob eine formelle oder materielle Minderheitsregierung besteht – die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG stellen oder den Bundesrat und Bundespräsidenten um die Unterstützung für das Erklären des Gesetzgebungsnotstandes aus Art. 81 GG ersuchen. Ein materieller Minderheitskanzler, der zum geschäftsführenden Kanzler aus Art. 69 Abs. 3 GG bestellt wird, weil er durch eine rein destruktive Mehrheit gestürzt wurde, obgleich sich das Parlament nicht auf einen neuen Kanzler zu einigen vermag, ist handlungsunfähig. Er hat keine verfassungsrechtlichen Instrumente in der Hand, um seine Richtlinienpolitik mittels Gesetzesinitiativen umzusetzen. Aus diesem Grund überzeugt die Forderung nach einem rein destruktiven Misstrauensvotum nicht. – Durch die konkrete Konzeption des Art. 67 GG – der alleinigen Antragsbefugnis des Parlaments in Kombination mit dem qualifizierten Mehrheitserfordernis aus Art. 121 GG – wird der Rechtsgedanke aus Art. 63 GG fortgesetzt: Die Regierung ist ausschließlich durch das Parlament legitimiert und auch nur diesem verfassungsrechtlich gegenüber verantwortlich. Ist die Kanzlerwahl aus Art. 63 GG der Ausgangspunkt und die Basis des parlamentarischen Regierungssystems, so ist Art. 67 GG die Fortsetzung und folgerichtige Verlängerung der allein parlamentarischen Kompetenz und Verantwortlichkeit für die Regierungsbestellung. Insoweit vermögen Reformvorschläge, die stärkere Kompetenzen des Bundespräsidenten im Zusammenhang des Regierungssturzes annehmen oder eine Rücktrittspflicht der Bundesregierung an tatbestandliche Voraussetzungen, auf die der Bundestag unmittelbar keinen Einfluss üben kann, nicht zu überzeugen. – Einzelne Minister können nicht abgewählt werden und das Kabinettsumbildungsrecht ist damit vollständig dem Bundeskanzler überlassen, worin wohl eine Förderung des Kollegialprinzips aus Art. 65 S. 3 GG erkennbar ist. Insoweit ist insgesamt eine Förderung der Regierungskontinuität als einer der Parameter einer Regierungsstabilität nicht schlechthin ausgeschlossen. Die Vorschrift des Art. 67 GG erscheint zunächst geeignet, den Fortbestand der Regierung jedenfalls zu ermöglichen. Dem Parlament eröffnet es die Möglichkeit, im Falle neuartiger konstruktiver Mehrheiten eine amtierende Regierung abzuwählen. Wenn das Parlament aber in der Lage ist, eine neue konstruktive Mehrheit zu etablieren, ist jedenfalls nicht davon auszugehen, dass auf parlamentarischer Ebene wirklich ein „Krisenzustand“ gegeben ist. Überdies ist an dieser Stelle auch nicht schlechthin ausgeschlossen, dass das Parlament im Rahmen des Art. 67 GG eine formelle Mehrheitsregierung in das Amt beruft, die materiell aber eine Minderheitsregierung ist und sich damit nicht von der bisherigen Regierung unterscheidet. Gerade dies sollte aber durch Art. 67 GG vermieden werden. In Bezug auf die eingangs aufgeworfenen Untersuchungsfragen ist festzustellen, dass das konstruktive Misstrauensvotum eine Verlängerung der in Art. 63 GG angelegten Parlamentarisierung der Regierungsbildung darstellt. Gemeinsam mit der Vorschrift aus Art. 63 GG versetzt Art. 67 GG letztlich die in das Amt gelangte
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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formelle Minderheitsregierung in die Lage, weiter zu regieren, also in ihrem Regierungsamt zu verbleiben. Beide Konzeptionen schützen die Regierungskontinuität und ermöglichen damit der formellen aber auch nur materiellen Minderheitsregierung das „Ob“ des Regierens.
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung „Meine Damen und Herren, genau in diesem Sinne bitte ich um das Vertrauen des Deutschen Bundestages, um Vertrauen in Vernunft und Verlässlichkeit meiner Politik und um Vertrauen in weitere Arbeit dieser Bundesregierung.“ (Gerhard Schröder)264
Wie bereits zu Beginn des dritten Kapitels dargestellt, ist Regierungsstabilität an drei Faktoren zu messen: an der Regierungsbestellung, der Regierungskontinuität und an der Handlungsfähigkeit der Regierung. Es wurde ebenfalls festgestellt, dass keines dieser drei Kriterien für sich genommen hinreichend für Regierungsstabilität ist. Nachdem die Bundeskanzlerwahl nach Art. 63 GG und das konstruktive Misstrauensvotum nach Art. 67 GG im Kontext der Regierungsbestellung und Regierungskontinuität thematisiert und der jeweilige und gemeinsame Beitrag zur Regierungsstabilität erörtert wurden, soll nunmehr die Handlungsfähigkeit der Regierung analysiert werden. Konstatiert wurde in diesem Zusammenhang, dass das Zusammenspiel aus Art. 63 und Art. 67 GG jedenfalls der Regierung ermöglichen, in das Amt zu gelangen und dort zu verbleiben, sodass das „Ob“ des Regierens zunächst gesichert ist. Im zweiten Kapitel wurde bereits erläutert, dass das Erzielen von Mehrheiten in demokratischen Systemen eine notwendige Funktion darstellt.265 Wird von der Handlungsfähigkeit parlamentarischer Regierungen gesprochen, so ist auch diese Handlungsfähigkeit bedingt durch die Fähigkeit der Regierung, parlamentarische Mehrheiten zu erzielen: Eine parlamentarische Regierung, die ihre Regierungsaufgaben wahrnehmen soll, bedarf im Grundsatz der mehrheitlichen Unterstützung des Parlaments. Dies offenbart sich insbesondere im Bereich der Gesetzgebung. Diese dient im Folgenden daher der Erörterung der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung. Gesetzgebung ist eine Regierungsaufgabe. Aus empirischer Sicht werden die meisten Gesetzesvorlagen durch die Bundesregierung initiiert266; dies ist ein maßgebliches Instrument dafür, dass der Regierungschef die Richtlinienpolitik gemäß Art. 65 S. 1 GG bestimmen kann. 264
Gerhard Schröder, abgedruckt im Stenographischen Bericht des Deutschen Bundestages (Deutscher Bundestag, 14. Wahlperiode, 202. Sitzung, 16. 11. 2001), S. 19858. 265 Ausführlich hierzu Kapitel 2 A. I. 1. b) aa). 266 In der 19. Legislaturperiode wurden bis März 2021 insgesamt 846 Gesetzesinitiativen eingebracht. Davon entfielen 445 Initiativen auf die Bundesregierung, 124 Vorlagen wurden durch die Bundesländer eingebracht, die übrigen 277 Vorlagen wurden durch den Bundestag initiiert. Siehe hierzu: Statistik der Gesetzgebung, 19. Legislaturperiode, Stand: 03. 03. 2021, abrufbar unter: https://www.bundestag.de/resource/blob/533188/d616131f1653440129447a2810f dbe02/gesetzgebung_wp19-data.pdf.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Hierzu soll zunächst als Inkurs dargestellt werden, wie Gesetzgebung bei dem Amtieren einer formellen und / oder materiellen Mehrheitsregierung durch Koalitionsbildung und unter der Bedingung der praktizierten Fraktionsdisziplin regelmäßig erfolgt. Die Erkenntnisse und Darstellungen dienen als Grundlage für die Erläuterung und Evaluierung alternativer Gesetzgebungsmodelle, die parlamentarische Mehrheitsbildung jenseits von Koalitionsbildung ermöglichen und gegebenenfalls auch für formelle und / oder materielle Minderheitsregierungen absichern. Berücksichtigung finden das Tolerierungsmodell sowie das Modell wechselnder Mehrheiten. Sodann werden die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG sowie der Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG als Instrumente zur Sicherung der Handlungsfähigkeit behandelt und außerdem hinsichtlich ihres individuellen oder gemeinsamen Beitrages zur Handlungsfähigkeit im Sinne der Regierungsstabilität thematisiert. Auch diese Vorschriften finden eine Einordnung in das parlamentarische Regierungssystem und sollen das Verhältnis von Parlament und Regierung im Hinblick auf das Mehrheitsprinzip ausloten.
I. Inkurs: Kooperative Gesetzgebung mit und ohne politische Mehrheit 1. Gesetzgebung als kooperative Regierungsaufgabe Im Fokus steht im Folgenden die Gesetzgebung. Gesetzgebung soll im Folgenden als Staatsaufgabe exemplifizieren, wie eine Minderheitsregierung auch ohne die formelle mehrheitliche Unterstützung des Parlaments regieren und funktionieren kann; wie eine Minderheitsregierung also Gesetzgebung als Regierungsaufgabe aus verfassungsrechtlicher Sicht erfüllen könnte. Stünde dem Bundestag im Falle einer Minderheitsregierung ein „Gesetzgebungsmonopol“ zu, so wäre die Regierung an dem Einbringen von Gesetzesinitiativen als Teil der Regierungsverantwortung gehindert.267 Gesetzgebung, so Möllers, sei eine kooperative Aufgabe, die von Exekutive und Legislative erfüllt werde. Dazu „besetz[e] die Bundesregierung eine eigenständige Rolle, die sich namentlich im praktisch bedeutsamen Initiativrecht zeigt“. Damit entscheide die Bundesregierung als Spitze der Exekutive und als Instanz der Gesetzesvorbereitung über den Inhalt möglicher Gesetze. Entscheidend sei angesichts Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, dass das Gesetz letztlich aber dem Bundestag als „Repräsentationsorgan“ zuzurechnen sei. Damit befinde das Parlament letztlich über die Verbindlichkeit des von der Bundesregierung initiierten Gesetzes per Gesetzesbeschluss. In dieser Form der Gewaltengliederung sei ein „funktional schlüssiger [Zusammenhang]“ erkennbar: Gesetzgebung als solche berge eine „technische 267 Vgl. Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grund gesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (31).
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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Seite“, wodurch die dem Parlament gegenüber verantwortliche Regierung als Spitze der Exekutive einzubeziehen sei. Bei der Ausarbeitung und Ausrichtung der Gesetzesinitiative berücksichtige die Exekutive bereits die parlamentarischen Kräfteverhältnisse und die auf ihnen basierenden politischen Strömungen. Dass dabei eine „Ministerialbürokratie“ im demokratischen Gefüge herrsche, sei nach Auffassung Möllers kein „Krisenphänomen“, sondern eine Notwendigkeit. Möllers stützt seine Argumentation auf die aus Art. 43 GG hervorgehende Befugnis des Bundestages, die Anwesenheit von Vertretern der Exekutive verlangen zu können. Auch anderweitige, zumeist als Oppositionsrechte bezeichnete parlamentarische Kontrollrechte stützen die Annahme, dass das Kooperationsverhältnis notwendig sei und die Partizipation von Ministern insoweit nicht schädlich sei. Möllers benennt das Recht zum Einsatz eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses als insoweit wichtigstes Recht.268 Letztlich ist Gesetzgebung ohne die Kooperation von Regierung und Parlament nach dem Grundgesetz nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren aus Art. 76 ff. GG – abgesehen von dem nach Maßgabe des Art. 81 GG denkbaren Gesetzgebungsnotstand – nicht möglich. Meyer sieht hierin eine „Verschränkung“ von Parlament und Regierung.269 Insgesamt, so Meyer, sei die Gesetzgebung hinsichtlich der hier beteiligten Gewalten ein grundsätzlich „zweipoliges“ System, zumal „die Regierung kein Parlamentsausschuss“ sei. Sie handle nach eigenem Recht und bilde nicht zwingend die parlamentarischen Kräfteverhältnisse ab.270 In einer formellen Mehrheitsregierung, die sich gegenwärtig auch der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung versieht, kommt es regelmäßig zur Annahme der durch die Bundesregierung initiierten einfachen Gesetzesinitiativen271, da diese durch ihre Fraktionen im Parlament über eine zahlenmäßig überwiegende Unterstützung verfügen und die Opposition überstimmen können. Für Minderheitsregierungen ist demgegenüber gerade charakteristisch, dass die mehrheitliche parlamentarische Unterstützung nicht besteht, sondern die Mehrheitsfindung auch die Beteiligung der Opposition erfordert, um die aufgezeigte notwendige Kooperation zwischen Exekutive und Legislative im Bereich der Gesetzgebung zu ermöglichen.
268
Möllers, Gewaltengliederung, S. 411 f. Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 1974, S. 69 (87). 270 Meyer, Das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes, in: VVDStRL 1974, S. 69 (89). 271 Im Bereich von Verfassungsänderungen gelten hier Besonderheiten: Auch eine Mehrheits regierung kann sich der Änderung hier regelmäßig nicht sicher sein, da hierfür gemäß Art. 79 Abs. 2 GG eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat erforderlich sind. 269
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
2. Mehrheitsfindung und Kooperationsmodelle a) Mehrheitsfindung durch Koalitionsbildung Ausgangspunkt für Gesetzgebung bzw. für Gesetzesbeschlüsse ist das für demokratische Entscheidungsfindung konstitutive Mehrheitsprinzip. Es wurde bereits erörtert, dass dieses als politische Entscheidungsregel insbesondere den Entscheidungsprozess absichert, indem es auf Einstimmigkeit verzichtet und gleichzeitig Sachentscheidungen herbeiführt, die quantitativ am stärksten unterstützt werden.272 Die zur Entscheidung Berechtigten üben dabei in gleichwertiger Weise Einfluss auf die Entscheidung aus. Im Bereich der Gesetzgebung stellt das Grundgesetz Regelungen der Entscheidungsfindung in den Vorschriften aus Art. 77 Abs. 1, 42 Abs. 2 S. 1 GG auf. Wesentliche Entscheidungen273 sind durch das Parlament nach diesen Normen per Gesetz durch einfache Mehrheit zu treffen. Das bedeutet, im Rahmen von Abstimmungen entscheiden die (anwesenden)274 Abgeordneten mehrheitlich, was der Bundestag letztlich als Organ beschließt.275 Bezugsgröße für die Mehrheitsregel aus Art. 77 Abs. 1, 42 Abs. 2 S. 1 GG ist die Zahl der tatsächlich abgegebenen Stimmen, nicht die gesetzliche Mitgliederzahl des deutschen Bundestages nach §§ 1, 6 BWG im Sinne des Art. 121 GG.276 Im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland ist die Frage der Regierungsmacht mit den Fragen über Sachentscheidungen verbunden: Eine Regierung bedarf der parlamentarischen Unterstützung im Sinne des Mehrheitsprinzips. Ohne Mehrheit kann sie ihre Regierungsmacht im Parlament nicht durchsetzen. Niederlagen bei konstitutiven und politisch bedeutsamen Entscheidungen würden mit einem Vertrauensverlust gleichgesetzt und damit „als Regierungskrise interpretiert“.277 Amtiert eine materielle Mehrheitsregierung, die gegenwärtig auch das mehrheitliche Vertrauen des Parlaments besitzt, so gestaltet sich die Mehrheitsfindung für die eigens getroffenen Gesetzesentwürfe278 in der 272
Ausführlich hierzu Kapitel 2 A. I. 1. b) aa). Zum Verantwortungsbereich des Gesetzgebers in wesentlichen Entscheidungen bzw. zur vom BVerfG entwickelten Wesentlichkeitstheorie siehe BVerfGE 33, 1 (10 ff.); 33, 125 (158 f.); 33, 303 (346); 34, 165 (192): 41, 251 (260); 45, 400 (417): 47, 46 (78 ff.); 49, 89 (126 ff.); 58, 257 (267 ff.); 76, 171 (184 ff.); 78, 249 (272); 83, 130 (142 ff.); 90, 286 (383 ff.); 98, 218 (251 ff.); 105, 279 (305); 108, 282 (310 ff.); 116, 24 (58); 128, 282 (317 ff.); 134, 141; 141, 143; 147, 253. 274 Die Frage, ob eine Anwesenheitspflicht von Abgeordneten besteht, kann hier dahinstehen. 275 Schütt-Wetschky, Parlament oder Parteien: wer entscheidet, wer beschließt?, in: ZParl 2005, S. 489 (492). 276 Parlamentsrecht / Schliesky, § 5 Rn. 12; Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 42 Rn. 83; Dreier / Morlok, GG Art. 42 Rn. 34. 277 Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (398). 278 Zur Praxis der Beschließung von Gesetzesentwürfen in der Bundesregierung und die Mitwirkung von Staatsministern sowie zur Abgrenzung von „Entscheidungsfindung“ und 273
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Regel unproblematisch und die angeführte „Machtfrage“ tritt grundsätzlich nicht zutage. Mehrheitsparteien stellen regelmäßig ein „Bindeglied zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit“ dar. Dies, so Friesenhahn, fördere zunächst die Zusammenarbeit.279 Insgesamt stehe im Falle einer (materiellen) Mehrheitsregierung die Regierung gemeinsam mit der sie tragenden Parlamentsmehrheit der Opposition gegenüber280: Die von der Regierung initiierten Gesetzesvorlagen werden per verfassungsrechtlich zulässiger Fraktionsdisziplin von den zahlenmäßig im Parlament mehrheitlich vertretenen Abgeordneten getragen.281 Der Opposition kommt in diesen Fällen grundsätzlich die Regierungskontrolle als Aufgabe zu, an der Gesetzgebung ist sie jenseits von fraktionsübergreifenden Konsensen bei bestimmten maßgeblichen politischen Entscheidungen zumeist inhaltlich unbeteiligt.282 Im deutschen Bundestag zeichnet sich ein Abstimmungsverhalten „im Block“ ab, das Parlament erscheint als Parteienkonvent.283 Zwar steht am Ende einer Plenardebatte gemäß § 86 GO BT stets eine Abstimmung über eine oder mehrere, zusammengefasste Sachfragen. Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten ist jedoch schon durch im Vorfeld abgehaltene Fraktionssitzungen und in diesem Kontexte getroffene Absprachen determiniert.284 Als Gründe für die Fraktionsdisziplin bzw. das „geschlossene“ Handeln der Parteiakteure benennt Schütt-Wetschky285 die Handlungsfähigkeit im Parlament sowie die Glaubwürdigkeit politischer Parteien gegenüber Wählern. Die Handlungsfähigkeit bzw. der Erfolg der Regierungskonstellation würde sichergestellt, indem die Abgeordneten der Regierungsfraktionen geschlossen ihre Stimmmehrheit durch einheitliches Abstimmen nutzen. In Konstellationen, wo die Regierung aus mehr als einer im Parlament vertretenen Fraktion besteht286, wird eine parlamentarische Mehrheit generell dadurch erzielt, dass ganze Fraktionen miteinander kooperieren.287 Die Kooperation erfolgt „Beschlussfassung“, siehe Schütt-Wetschky, Parlament oder Parteien: wer entscheidet, wer beschließt?, in: ZParl 2005, S. 489 (492 f.). 279 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (35). 280 Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 201 f. 281 So auch Schütt-Wetschky, Parlament oder Parteien: wer entscheidet, wer beschließt?, in: ZParl 2005, S. 489 (493 f., 497 f.). 282 Vgl. Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 202. 283 Jun, Koalitionsbildung in den neuen Bundesländern, S. 24. 284 Schütt-Wetschky, Parlament oder Parteien: wer entscheidet, wer beschließt?, in: ZParl 2005, S. 489 (492); ebenso Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (24). 285 Schütt-Wetschky, Parlament oder Parteien: wer entscheidet, wer beschließt?, in: ZParl 2005, S. 489 (497). Schütt-Wetschky geht dabei von einem realistischen Parteibegriff aus, der dem traditionellen Parteibegriff (eine auf Dauer angelegte Organisation von Bürgern, um gemeinsam und damit erfolgreicher bei Parlamentswahlen Mandate zu erlangen) das Merkmal der Geschlossenheit hinzufügt, siehe ders., ebd., S. 489 (489 f.). 286 Bislang handelte es sich bei den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland immer um Koalitionen, das heißt um solche Regierungen, in der mehr als nur eine Partei vertreten war. 287 Im Folgenden Lehmbruch, Verhandlungsdemokratie, Entscheidungsblockaden und Arenenverflechtung, S. 1 ff.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
dabei auf Basis von parteipolitischen Ordnungskriterien, namentlich auf Basis von Gemeinsamkeiten in politischer Ideologie und insbesondere auch im Wahlkampfprogramm. Ein wichtiger Anwendungsfall hiervon ist die Bildung einer Koalition288 durch Schließung eines Koalitionsvertrages, wobei der Koalitionsvertrag zur Absicherung der Erwartungshaltung künftiger parlamentarischer mehrheitlicher Unterstützung fungiert.289 Insoweit kann von einer mehrheitsbeschaffenden Funktion von Koalitionen bzw. Koalitionsverträgen gesprochen werden.290 Im Ergebnis gewährleisten in einer Mehrheitskoalition also sowohl das Bilden und Bestehen der Koalition selbst als auch die Fraktionsdisziplin die Mehrheitsbeschaffung. Zum Teil wird ausgeführt, dass im Falle des Amtierens einer Mehrheitsregierung ein „starrer Dualismus“ zwischen Opposition und Regierung herrsche. Die Gesetzgebung sei dann exekutiv dominiert, indem durch die Bundesregierung eingebrachte Gesetzesvorlagen bereits durch die parlamentarische Zusammensetzung erfolgreich seien.291 Demgegenüber geht Friesenhahn davon aus, das Amtieren einer Mehrheitsregierung habe nicht zur Folge, dass das im parlamentarischen Regierungssystem bestehende Spannungsverhältnis zwischen Parlament und Regierung beseitigt würde. Nach wie vor habe „jede Institution ihr eigenes Gewicht und ihre besondere Funktion bei der Formung des Gesamtwillens“.292 Denn „so wenig wie die Regierung ein [Vollzugsausschuss] des Parlaments zu sein braucht, so wenig [muss] das Parlament zu einem bloßen Instrument werden, dessen sich die Regierung bedient, wenn es ihr notwendig erscheint“.293 b) Mehrheitsfindung in Minderheitsregierungen Wie bereits dargestellt besteht in dem parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland eine Verknüpfung der Frage über die Regierungsmacht mit den Fragen über Sachentscheidungen; die „Machtfrage dominiert alle Sachfragen“ und abgelehnte Gesetzesinitiativen der Regierung werden als 288
Zum Koalitionsbegriff und zu den Merkmalen einer Koalition siehe auch Kapitel 2 B. I. 2. c) dd) (2). 289 Hierzu auch Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (49). 290 Kloepfer, Koalitionsvereinbarungen – unverbindlich, aber rechtlich relevant, in: NJW 2017, S. 1799. 291 So Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern, in: ZParl 1997, S. 391; außerdem Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des Magdeburger Modells, in: ZParl 2003, S. 792; ebenso Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (889). 292 Stenographischer Bericht des Deutschen Bundestages (Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode, 19. 01. 1956, 124. Sitzung), S. 6532. 293 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (35 f.).
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Niederlagen und als Vertrauensverlust bzw. Regierungskrise interpretiert.294 Bei der Minderheitsregierung dagegen könnte der Mehrheitsgewinnung für eigene Gesetzesinitiativen der Bundesregierung die eingangs genannte Problematik entgegenstehen, dass oppositionelle Fraktionen die Gesetzgebung blockieren. Verfassungsrechtliche Institute wie Fraktionsdisziplin bzw. das Abstimmungsverhalten von Fraktionen „im Block“ – das heißt ein Abstimmungsverhalten nur nach „Parteigrenzen“ – erschweren die Mehrheitsfindung für eine Minderheitsregierung dabei gegebenenfalls insoweit: Wie dargestellt ist das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten durch ihre Fraktionszugehörigkeit determiniert. Allenfalls schwerfällig erscheint im bisher praktizierten Parlamentarismus daher das Erreichen inhaltlicher Mehrheiten dadurch, dass jeder Abgeordnete frei abstimmt.295 Anstelle einer ausschließlich wettbewerbsorientierten Betrachtungsweise des Parteienparlamentarismus wird hier daher auf eine kooperative Perspektive abgestellt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass in dem Falle, dass eine Minderheitsregierung amtiert, die Opposition nicht auf die Kontrollaufgabe beschränkt ist, sondern sich aktiv an der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung von Gesetzen oder generell an der Gesetzgebung beteiligt.296 Hiermit soll die Frage geklärt werden, wie parlamentarische Mehrheiten auf Basis des theoretischen Hintergrunds der Verhandlungsdemokratie nach Gerhard Lehmbruch bei Minderheitsregierungen möglich sind.297 Die Lösungsansätze werden dahingehend diskutiert, dass die Regierungsfraktion bzw. die Regierungsfraktionen der Minderheitsregierung Mehrheiten angesichts der praktizierten Fraktionsdisziplin in Form von gesamten Fraktionen suchen. Als Unterschiede gegenüber Koalitionen sieht Strom bei alternativen Kooperationsmodellen eine generell höhere Flexibilität von Bündnissen bezüglich Zeit bzw. Dauer der Unterstützung, den Umfang im Hinblick auf spezifische Sachfragen und eine generell geringere Bindung: „However, minority governments can seek legislative coalitions that are much less consistent in membership. That is to say legislative support agreements may cover a narrower range of issues, a shorter time frame, and / or be less binding than what we require of external support agreements that qualify for formal minority status.“298
Im Ergebnis sei die Kontinuität der „Mitgliedschaft“ in einer Koalition damit stärker als diejenige im Rahmen eines Kooperationsmodells. Minderheitsregierungen stünden dagegen vielfältige Regierungsstrategien und solche Strategien zur 294 Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern, in: ZParl 1997, S. 391 (398). 295 Eine solche Form des Parlamentarismus wird beispielsweise in Schweden praktiziert, dort sitzen die Abgeordneten nicht in Fraktionen, sondern entsprechend der Wahlkreisaufteilungen zusammen, siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Reichtag_(Schweden). 296 Vgl. Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 201 ff. 297 Lehmbruch, Verhandlungsdemokratie, Entscheidungsblockaden und Arenenverflechtung, S. 1. 298 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 97.
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Mehrheitsfindung zur Verfügung. Bei Mehrheitskoalitionen dagegen sei augenscheinlich, dass die Mehrheitsfindung stets durch Kooperation derselben Fraktionen, namentlich der Koalitionspartner, erfolge. Hierzu kommen zwei idealtypische299 Modelle in Betracht: das Tolerierungsmodell (auch: parlamentarisch gestützte Minderheitsregierung300) und das Modell wechselnder Mehrheiten (auch: bloß tolerierte Minderheitsregierung301). Die Kooperationsmodelle werden im Folgenden abstrakt dargestellt. Ferner werden exemplarisch für beide Arten der Mehrheitsbildung jeweils Beispiele aus verschiedenen Bundesländern302, in welchem Minderheitsregierungen amtierten, sowie aus dem Ausland angeführt. aa) Das Tolerierungsmodell (1) Die Funktionsweise des Tolerierungsmodells Das Tolerierungsmodell (auch: formal minority government)303 ist ein auf Dauer angelegtes, parlamentarisches Kooperationsverhältnis zwischen Regierungsfraktion und einer oder mehrerer Oppositionsfraktionen. Das Tolerierungsmodell weist Bezüge und Parallelen zum Parteienparlamentarismus auf.304 Allerdings ist dieses Kooperationsverhältnis von einer Koalition abzugrenzen: Zwar besteht zwischen den kooperierenden Fraktionen ein jenseits von Sachfragen liegendes, übergeordnetes Abkommen über die parlamentarische Unterstützung im Bereich der Gesetzgebung. Jedoch verbleibt der tolerierende Kooperationspartner in der Opposition. Insbesondere fehlt es an festen Koalitionsabsprachen und der damit einhergehenden Zusage einer dauerhaften Unterstützung. Vielmehr ist darin ein loses Zusammenwirken zu sehen, was seinerseits potentiell jederzeit beendet werden könnte. Darin sei auch keine koalitionsähnliche Absprache zu sehen.305 299
Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (889). 300 So Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (104 f.), der anhand der Art der Mehrheitsbildung im Bereich der Gesetzgebung „zwei Arten“ von Minderheitsregierungen ausmacht. 301 Schütt-Wetschky, Verhältniswahl und Minderheitsregierungen, in: ZParl 1987, S. 94 (105). 302 Zu den Minderheitsregierungen der Vergangenheit auf Länderebene, siehe Kapitel 1 B. 2. c). 303 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 94. 304 Im Folgenden Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 (795), außerdem Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (212), der von einem „Kooperationsmodell“ spricht, dieses aber nicht näher als „Tolerierungsmodell“ bezeichnet. 305 Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 (799), der auf das Urteil des Landesverfassungsgerichtshofs Sachsen-Anhalt, VerfGH 1/96 verweist und erklärt, dass aufgrund der engen Zusammenarbeit auch ein Ausschluss der PDS aus der Opposition und eine Einstufung als Regierungsfraktion hätte durchaus vorgenommen werden können.
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(2) Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt Exemplarisch wird hier Bezug auf das Magdeburger Modell genommen. In der Zeit zwischen 1994 bis 2002 regierte in Sachsen-Anhalt für zwei Legislaturperioden jeweils eine Minderheitsregierung.306 In der ersten Legislaturperiode (1994 bis 1998) regierte die SPD mit Bündnis 90 / Die Grünen als Minderheitsregierung. Damit sollte das Amtieren einer Großen Koalition verhindert werden.307 Nach einigen Monaten der wechselnden Mehrheiten ergab sich eine Einigung mit der damaligen PDS zur Tolerierung der Minderheitsregierung. In der zweiten Legislaturperiode (1998 bis 2002) regierte die SPD alleine als Minderheitsregierung, nachdem der bisherige Koalitionspartner aus dem Landtag ausgeschieden war. Erneut wurde das Tolerierungsmodell in Kooperation mit der PDS praktiziert. In Sachsen-Anhalt führte das Praktizieren des Tolerierungsmodells dazu, dass die Gesetzgebung auf Basis der durch die Regierung initiierten Initiativen ermöglicht wurde.308 Die in der zweiten Legislaturperiode auftretenden Komplikationen beim Erlass des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt wurden dadurch gelöst, dass die PDS zwar eine Tolerierung in diesem Einzelfall verweigerte. Die CDU stellte sich aber als Befürworterin des Gesetzes als Kooperationspartnerin im Bereich dieser Sachfrage zur Verfügung, sodass das von der Regierung initiierte Gesetz beschlossen wurde. Trotz dieser Abweichung vom insoweit innovativen und dynamischen Tolerierungsmodell zerbrach das Tolerierungsabkommen zwischen der SPD und der PDS nicht. In anschließenden Verhandlungen, den sogenannten „5+5 Gesprächen“309 arbeiteten die Fraktionen Pläne und Kompromisse für den Rest der Legislaturperiode aus. Dabei wurden jeweils fünf Vertreter jeder Fraktion entsandt, die im Vorfeld erarbeitete Arbeitsprogramme und ihrer Ansicht nach umzusetzende politische Sachfragen verhandelten und priorisierten. Wegen der Parallelen zum Parteienparlamentarismus kann hier jedenfalls schon von einem koalitionsähnlichen und koalitionsnahen Verhältnis zwischen SPD und PDS ausgegangen werden. Die beteiligten Fraktionen selbst bezeichneten die Kooperation zur damaligen Zeit als „Tolerierungsmanagement“ und sahen darin eine Intensivierung des Tolerierungsmodells, aber gerade keine Koalition. Unabhängig davon, wie dieses Verhältnis im Ergebnis zu bezeichnen ist, kann aus diesen Gegebenheiten ein Entwicklungspotential des Tolerierungsmodells abgeleitet werden: Fraktionen, die zu Beginn einer Legislaturperiode nicht willens sind, eine Koalition einzugehen, haben auf 306
Landtag Sachsen-Anhalt, Plenarprotokoll 2/1 vom 21. 07. 1994, S. 9–26. Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (395). 308 Im Folgenden Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 (802 ff.). 309 Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 (803). 307
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Basis dieser Form von Kooperation die Möglichkeit, eine Zusammenarbeit zu erproben, die es zuließe, in Einzelfragen vom Sachprogramm der Regierung abzuweichen. Ein Tolerierungsmodell kann damit eine später zu schließende Koalition vorbereiten, indem sie der tolerierenden Fraktion die Chance einer offenen Kooperation eröffnet. Es kann gewissermaßen eine Vorstufe zu einer späteren Koalition darstellen, muss aber nicht zwingend hierin münden. bb) Das Kooperationsmodell wechselnder Mehrheiten (1) Die Funktionsweise wechselnder Mehrheiten Vom Tolerierungsmodell ist das Führungsmodell wechselnder Mehrheiten zu unterscheiden. Dieses basiert auf der Annahme, dass parlamentarische Mehrheiten situativ in politischen Einzelentscheidungen konstruiert und erzielt werden. Anstelle von parteipolitischer Ordnung orientieren sich Entscheidungen an Sachfragen.310 (2) Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt In Sachsen-Anhalt kam diese Form von Mehrheitsgewinnung einer Minderheitsregierung in den ersten Monaten der ersten Legislaturperiode zum Einsatz. Dieses hatte seinerseits zur Folge, dass auch Gesetzesinitiativen und Anträge der CDU als Gesetze beschlossen wurden; dieses Führungsmodell birgt also die Besonderheit, dass aufgrund der hohen Flexibilität zur Findung von Mehrheitsentscheidungen möglicherweise im Einzelfall auch Gesetzesvorlagen der Opposition angenommen werden können, ohne dass die Regierung zustimmt: In demjenigen Falle, dass eine materielle Minderheitsregierung amtiert, ist die Regierung auch gerade zahlenmäßig unterlegen. Gesetze sind im Bereich der Gesetzgebung mit wechselnden Mehrheiten insgesamt nicht mehr nur durch die Bundesregierung initiiert. Dies ist ein entscheidender Unterschied zu dem Tolerierungsmodell und zur Mehrheitsfindung in Mehrheitskoalitionen. Nach Konstituierung einer Tolerierungsbeziehung der SPD und Bündnis 90 / Die Grünen mit der PDS wurden keine Anträge der CDU mehr angenommen.311
310
Lehmbruch, Verhandlungsdemokratie, Entscheidungsblockaden und Arenenverflechtung, S. 13. 311 Siehe Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 (795).
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(3) Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen Für das Modell wechselnder Mehrheiten soll exemplarisch auf das Minderheitskabinett Hannelore Kraft I eingegangen werden, welches in der Zeit von 2010 bis 2012 in Nordrhein-Westfalen amtierte. Kraft wurde nach gescheiterten Sondierungsgesprächen im Juli 2010 mit relativer Mehrheit zur Minderheitsministerpräsidentin gewählt.312 Die nach Art. 52 Abs. 2 NRWLVerf313 im zweiten Wahlgang notwendige Mehrheit der tatsächlich abgegebenen Stimmen (einfache Mehrheit) wurde formell dadurch gesichert, dass sich die Abgeordneten der Linkspartei in diesem Wahlgang kollektiv ihrer Stimme enthielten. Sowohl die Linkspartei als auch die CDU und FDP signalisierten dem rot-grünen Minderheitsbündnis im Vorfeld der Ministerpräsidentenwahl die jeweils individuelle Bereitschaft zur Kooperation mit dem rot-grünen Bündnis.314 Während das Haushaltsgesetz für das Jahr 2011315 noch mit einfacher Mehrheit verabschiedet wurde, indem die Linkspartei nicht an der Plenarsitzung teilgenommen hatte, führte das zweite Haushaltsgesetz im Jahr 2012 zu dem Ende der Amtszeit der Minderheitsregierung. Die Regierungszeit des Kabinetts Kraft I endete zwei Jahre nach seiner Bildung, als die Opposition geschlossen einen Einzelplan des Haushaltsgesetzes316 für das Jahr 2012 ablehnte und sich der Landtag NRW in derselben Sitzung gemäß Art. 35 Abs. 1 NRWLVerf durch Beschluss auflöste.317 Evident ist, dass die SPD im Folgenden ihr ursprüngliches Regierungsprogramm sodann zu ihrem Wahlprogramm für die Landtagswahlen erklärte. Damit stellte die Regierungsfraktion ihr Regierungsprogramm bei den Wahlen unmittelbar den Wählern zur Abstimmung.318 Kraft konnte gegenüber der vorangegangenen Wahlperiode ein Plus von 4,6 Prozent verzeichnen und bildete anschließend in der 16. Legislaturperiode eine Mehrheitskoalition mit der Partei Bündnis 90 / Die Grünen.319 In der 15. Legislaturperiode praktizierte Kraft das Modell wechselnder Mehrheiten. Das Gesetzgebungsverfahren in Nordrhein-Westfalen erfordert zunächst eine Gesetzesinitiative, zu welcher gemäß Art. 65 NRWLVerf die Landesregie 312
LTag NRW, Plenarprotokoll 15/3 vom 14. 7. 2010, S. 32. Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. 6. 1950, siehe GV. NW. 1950 S. 127/GS. NW. S. 3, zuletzt geändert durch das Gesetz vom 30. 06. 2020 (GV. NRW. S. 644), in Kraft getreten am 14. 07. 2020. 314 Siehe Darstellung bei Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887. 315 Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2011 (Haushaltsgesetz 2011) vom 18. 05. 2011, siehe GV.NRW, S. 248. 316 Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2012 (Haushaltsgesetz 2012), Drucks. 15/3400 vom 18. 12. 2011. 317 LTag NRW, Plenarprotokoll 15/57 vom 14. 3. 2012, S. 5720. 318 Eine umfangreiche Analyse des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse sowie entsprechende politische Reaktionen finden sich bei Bajohr, Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 13. Mail 2012: Von der Minderheit zur Mehrheit, in: ZParl 2012, S. 543. 319 Amtliches Wahlergebnis der Wahlen zur 16. Legislaturperiode in Nordrhein-Westfalen, siehe https://www.wahlergebnisse.nrw/landtagswahlen/2012/aktuell/a0lw1200.html. 313
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rung oder die „Mitte des Landtags“ berechtigt ist. Nach Art. 66 S. 1 NRWLVerf ist weiter ein Beschluss des Landtags notwendig, dieser entscheidet gemäß Art. 44 Abs. 2 NRWLVerf durch die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Dies wird durch § 43 GO LT NRW320 einfachgesetzlich konkretisiert.321 Demnach entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, Stimmenthaltungen sowie ungültige Stimmen zählen nicht mit. Im Ergebnis besteht in Nordrhein-Westfalen, wie auch auf Bundesebene nach Art. 77 Abs. 1 S. 1, 42 Abs. 2 S. 1 GG, für den Beschluss von Gesetzen das Erfordernis einer einfachen Stimmenmehrheit. Die hier zugrunde gelegte Analyse322 dieser Gesetzgebung erbringt folgende Erkenntnisse: – Bis März 2012 wurden insgesamt 91 Gesetzesentwürfe behandelt, wovon 59 Entwürfe angenommen wurden. Fünf Entwürfe wurden zurückgezogen, weitere sieben wurden abgelehnt, über 20 Entwürfe konnte durch die vorzeitige Landtagsauflösung nicht mehr abgestimmt werden. – Evident ist, dass nur eine durch die Regierung initiierte Gesetzesvorlage während der zweijährigen Wahlperiode, das bereits genannte Haushaltsgesetz, als gescheitert anzusehen ist: Die Landesregierung legte mit 59 Entwürfen die meisten Gesetzesentwürfe vor, wovon 47 Entwürfe erfolgreich waren. Die übrigen zehn wurden entweder zurückgezogen oder verfielen. – Die oppositionellen Fraktionen brachten 22 Initiativen ein, hiervon wurden insgesamt vier Entwürfe angenommen. Im Vergleich zur Bundesebene sei hierdurch bereits ein Aufweichen der exekutiven Dominanz im Bereich der Gesetzgebung zu verzeichnen.323 Diejenigen Gesetzesvorlagen, welche die Landesregierung gemeinsam mit einer oder mehreren Oppositionsfraktionen einbrachte, wurden allesamt angenommen. Es ist davon auszugehen, dass das gemeinsame Einbringen den Einigungsprozess insgesamt vorverlagert hat. Das bedeutet, dass zum Zeitpunkt des Einbringens bereits eine Vorlage solchen Inhalts vorlag, über die ein Konsens im Parlament bestand. Es hatte sich hinsichtlich der zugrundeliegenden Sachfrage eine parlamentarische Mehrheit als politische, nicht aber verfassungsrechtliche Kategorie formiert. In der hier zugrunde gelegten Analyse wird als interessant befunden, dass zum Zeitpunkt der Landtagsauflösung noch solche Gesetzesvorlagen eingebracht wor-
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Geschäftsordnung des Landtags Nordrhein-Westfalen. In Kraft getreten am 01. 06. 2017 (GV. NRW. 2020 S. 40); geändert am 12. 02. 2020 (GV. NRW. S. 158), in Kraft getreten am 14. 03. 2020. 321 § 43 Abs. 4 GO LT NRW in der Fassung vom 14. 03. 2020 lautet: Die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet. Stimmenthaltungen und ungültige Stimmen zählen nicht mit. 322 Siehe im Folgenden Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (892 ff.). 323 Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (893) m. w. N.
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den waren, die von der Landesregierung und der FDP stammten, die aber infolge der Auflösung nicht mehr beschlossen werden konnten.324 Hinsichtlich des Inhalts der eingebrachten Gesetze wird konstatiert, dass sowohl politische als auch technische Gesetze beschlossen wurden, die durch die Landesregierung initiiert wurden. Dabei haben insgesamt sechs verschiedene Unterstützerkoalitionen bestanden.325 Bei politischen Gesetzen, die dadurch gekennzeichnet seien, dass diese eine Verschiebung des „Status quo nach links oder rechts“ anhand der zugrundeliegenden Sachfrage bestand, erfuhr die Landesregierung in 28 Fällen die Unterstützung durch die Linkspartei. In acht Fällen beteiligte sich ausschließlich oder unter anderem die CDU, in sechs Fällen war auch die FDP an dem Beschluss politischer Gesetzesinitiativen der Landesregierung interessiert. Evident ist, dass die FDP und Linkspartei in fünf Fällen sogar gemeinsam die Mehrheit zugunsten der Landesregierung sicherten. Dieses Kooperationsverhältnis zwischen FDP und Linkspartei wird als „ungewöhnliche[…] Einigkeit“ bezeichnet. Unter technischen Gesetzen sind etwa solche Gesetze zu verstehen, bei denen Bundesrecht in Landesrecht umzuwandeln war oder eine Reaktion auf eine vorausgegangene Gerichtsentscheidung darstellten. 22 der insgesamt 25 technischen Gesetze verabschiedete der Landtag in einer „Allparteienkoalition“, bei den übrigen drei technischen Gesetzen fehlte jeweils die Beteiligung der Linkspartei. Als bahnbrechende politische Entscheidungen ist insbesondere die Einführung der Sekundarschule326 hervorzuheben.327 Diese erforderte neben eines einfachen Gesetzesbeschlusses zur Änderung des Schulgesetzes NRW328 eine Verfassungsänderung, da nach dieser die Hauptschule garantiert war.329 Verfassungsänderungen bedürfen gemäß Art. 69 Abs. 2 NRWLVerf einer Zweidrittelmehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Landtags. Der Änderung des Schulgesetzes ging ein langwieriger Einigungsprozess zwischen den Regierungskoalitionen und der CDU voraus. Letztlich konnten die Einigung und die erforderliche Mehrheit zur Verfassungsänderung durch gegenseitige Zugeständnisse, vor allem auch durch Zugeständnisse an die CDU erzielt werden. Insgesamt ist anhand des Beispiels wechselnder Mehrheiten aus NordrheinWestfalen zu konstatieren, dass mit dieser Art der Mehrheitsfindung ein hohes Maß 324 Es handelte sich dabei um das Gesetz über die Genehmigung der Kreisumlage und anderer Umlagen sowie das Gesetz zur Stärkung des kommunalen Ehrenamtes. 325 Im Folgenden Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (893 ff.). 326 Gesetz zur Änderung der Schulstruktur in Nordrhein-Westfalen (6. Schuländerungs gesetz) vom 25. 10. 2011 (GV.NRW S. 205). 327 Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (897). 328 Schulgesetz für das Land Nordrhein-Westfalen vom 15. 02. 2005 (GV.NRW. S. 102), in Kraft getreten am 01. 08. 2005, zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 1. 9. 2020 (GV. NRW. S. 890), in Kraft getreten am 23. 09. 2020. 329 So wurde der Art. 12 der NRWLVerf geändert. Siehe Gesetz vom 25. 10. 2011 (GV. NRW. S. 499), in Kraft getreten am 29. 10. 2011.
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an Flexibilität einhergeht. Von dieser Flexibilität profitieren gegebenenfalls nicht nur die Regierungsfraktion bzw. die Regierungskoalitionen, sondern auch die oppositionellen Fraktionen, die dadurch überhaupt in die Lage versetzt werden, auch erfolgreich eigene Gesetzesinitiativen umzusetzen. Weil die Regierungskoalitionen auf die Zustimmung einer anderen oppositionellen Fraktion angewiesen sind, ist bereits im Vorfeld der Einbringung der Gesetzesvorlagen ein inhaltlicher Einigungsprozess vorgeschaltet, der der Opposition die Möglichkeit einräumt, auch inhaltlich in Detailfragen Kompromisse mit den Regierungskoalitionen auszuhandeln und letztlich Teile des eigenen Wahlprogramms in Gesetzesform zu gießen. Nichtsdestoweniger zeugt der empirische Befund von einer weitgehend regierungsdominierten Gesetzgebung und legt keineswegs ein Scheitern der nordrhein-westfälischen Regierung nahe. Hierbei muss auch Berücksichtigung finden, dass Hannelore Kraft in einigen Fällen die Parlamentsauflösung als Druckmittel verwendete, um einen inhaltlichen Konsens zu erzielen und sich parlamentarische Unterstützung zu sichern. Grund hierfür war, dass eine Parlamentsauflösung sowohl aus Sicht der FDP als auch der Linkspartei als „ungünstig“ wahrgenommen wurde, da diese Fraktionen sich schlechten Umfragewerten konfrontiert sahen.330 (4) Erfahrungen aus Dänemark Ein Modell wechselnder Mehrheiten wird auch in Dänemark praktiziert.331 Evident ist, dass nur drei von insgesamt 25 der dänischen Regierungen aus der Nachkriegszeit keine Minderheitsregierung waren. Aus dem Erfordernis der fehlenden Mehrheitsregierung hat sich in dem skandinavischen Staat eine institutionalisierte Form der Einigung ohne koalitionsbedingte Mehrheit etabliert. Gesetzgebung erfolgt dadurch, dass Mehrheiten von Zeit zu Zeit in verschiedenen politischen Bereichen mit individuellen Kooperationspartnern gebildet werden. Hierfür existiert eine vorparlamentarische Institution in Form der „forlig“, welche eine jeweils bindende Absprache zwischen mehreren Parteien unter Beteiligung der Regierungsund mindestens einer weiteren Fraktion impliziert, in bestimmten Sachfragen Gesetze kollektiv anzunehmen oder abzulehnen. Eine solche Absprache wird in Dänemark für ein Drittel aller Gesetze getroffen. Diese Form von Entscheidungsfindung und parlamentarischer Mehrheitsgewinnung wird daneben auch für die Zustimmung bei völkerrechtlichen Verträgen praktiziert.332 Auch im Bereich des Führungsmodells wechselnder Mehrheiten ist mithin ein verbindlicherer Charakter der mehrheitlichen Unterstützung denkbar und praktikabel. Die Anwendung des 330 Die angedrohte Parlamentsauflösung wurde insbesondere bei der Frage der Abschaffung der Studiengebühren relevant, so Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (897 f.). 331 Im Folgenden Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 105 f. 332 Preker / Haas, Flexibilität und Effektivität vor Stabilität, in: ZfP 2012, S. 453 (468).
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Modells in Dänemark gilt – jenseits der verabschiedeten Gesetze und der politischen Linie – international als erfolgreich. Die Regierungen Dänemarks haben, so Strom, nicht bloß „überlebt“, sie seien bemerkenswert.333 cc) Bewertung und Priorisierung der Modelle vor dem Hintergrund ihres Stabilisierungspotentials Beiden Kooperationsmodellen steht vielfach Ablehnung im rechtswissenschaftlichen wie auch im politischen Diskurs entgegen. Inhaltliche und wechselnde Mehrheiten, so Ipsen, seien in der Bundesrepublik mit ihrer politischen und parlamentarischen Realität kaum vereinbar, sei die Entscheidungsfindung in bestehenden Koalitionen sogar schon problematisch, erscheine eine fallweise Kooperation von Regierung und Parlament gar ausgeschlossen. So würden in Koalitionen sogenannte „Koalitionsrunden“ schon nur notdürftig über Konflikte entscheiden.334 Koalitionen hätten gegenüber Kooperationsmodellen einen wesentlich verbind licheren Charakter als solche lose Kooperationen, bei denen im Einzelfall Abweichungsmöglichkeiten des tolerierenden Partners bestehen. Steffani führt in diesem Zusammenhang an, dass das oppositionelle Stützen oder Tolerieren einer Minderheitsregierung sich allenfalls auf die Regierungskontinuität, auf die „Amtsinhabe“ beziehe, nicht aber auf „alle gewünschten oder dem Wähler versprochenen Gesetzesvorhaben der Regierung“.335 Nach dieser Auffassung könnte eine Minderheitsregierung also zwar in das Amt berufen werden und dort auch verbleiben. Eine Handlungsfähigkeit sei allerdings nicht gegeben. Eine Minderheitsregierung mit wechselnden Mehrheiten, so Meinel, sei angesichts eines fehlenden parlamentarischen Diskurses in der Bundesrepublik gar nicht denkbar. Derartige Vorstellungen seien „romantischer Unfug und beruhen auf grundsätzlichen Fehlvorstellungen über das Regierungssystem im Allgemeinen und die heutige Verfassungslage im Besonderen“. Die Verfassungslage sehe insbesondere vor, dass Mehrheitsentscheidungen getroffen würden. Ausweislich des Art. 42 Abs. 2 GG zeichne sich „unsere Demokratie“ gerade durch das Mehrheitsprinzip aus.336 In einem parlamentarischen Regierungssystem beruhe „die Stärke des Parlaments aber auf der engen personellen und institutionellen Verknüpfung von parlamentarischen und exekutivem Handeln“. Durch eine Minderheitsregierung würde das Parlament stattdessen geschwächt.337 Schon zu Zeiten des Magdeburger Modells sprachen sich Gegner der Minderheitsregierung in sehr drastischer Weise dagegen aus, Ulrich von Alemann bewertete das Modell als „du 333
Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 108 m. w. N. Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (212). 335 Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt?, in: ZParl 1997, S. 717 (718). 336 Meinel, siehe https://verfassungsblog.de/warum-eine-minderheitsregierung-niemandwollen-kann/. 337 Meinel, Vertrauensfrage, S. 201. 334
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
biose Minderheitsregierung mit PDS-Unterstützung“.338 Finkelnburg geht von einer „begrenzten Handlungsfähigkeit“ der Minderheitsregierung aus.339 (1) Minderheitsregierungen – eine Seltenheit? Der vielfachen Ablehnung der Minderheitsregierung stehen zunächst empirische Erkenntnisse entgegen: In internationalen Vergleichen ist evident, dass Minderheitsregierungen keinen Ausnahme-, sondern vielmehr den Regelfall in parlamentarischen Demokratien darstellen. Insgesamt regieren in circa 30 Prozent aller parlamentarischer Demokratien Minderheitsregierungen.340 Auf europäischer Ebene ergab eine empirische Erhebung, dass von insgesamt 255 Regierungen in den Jahren 1945 bis 1995 etwa zu 40 Prozent Minderheitsregierungen, zu 24 Prozent Große Koalitionen und nur zu 36 Prozent sonstige Mehrheitsregierungen341 amtierten. Im Vergleich zu formellen Mehrheitsregierungen überwog die Minderheitsregierung hinsichtlich ihrer relativen Häufigkeit.342 Diese Erkenntnisse vermögen auch ältere Studien zu unterstützen.343 Insgesamt ist damit zunächst zu konstatieren, dass die Empirie die Vorbehalte nicht zu belegen vermag. (2) Der „Mehrheitsbegriff“ und die Mehrheitsfindung im GG Neben der fehlenden empirischen Stütze pauschaler Vorbehalte ist weiter nicht ersichtlich, wieso eine mitunter instabile Koalition eine bessere Chance auf effektive Umsetzung ihrer Richtlinienpolitik hätte als eine Minderheitsregierung, die eine Vereinbarung über eine womöglich dauerhafte Tolerierung geschlossen hat. Unabhängig davon, welche Form der Regierung amtiert, erfolgt die Entscheidungsfindung anhand des Mehrheitsprinzips und seiner im konkreten Einzelfall bestehenden Regelungen. Beiden Regierungsformen ist zwar immanent, dass es in Bereichen von Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungsfraktionen immer wieder zu Verhandlungen kommen muss. Verhandlungen sind – ungeachtet der Regierungsart – essenzieller Bestandteil des demokratischen Diskurses und diesem wesensimmanent344: ohne Verhandlungen gibt es auch in formell-materiel 338
Alemann / Heinze / Schmid, Parteien im Modernisierungsprozess, in: APuZ 1998, S. 29 (31). Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 11. 340 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 3. 341 Darunter sind solche Mehrheitsregierungen zu verstehen, die entweder aus nur einer Fraktion oder einer Koalition aus einem größeren und einem kleineren Koalitionspartner bestanden. 342 Diermeier / Eraslan / Merlo, Bicameralism and Government Formation, S. 4. 343 Siehe Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl 2003, S. 792 mit entsprechenden Hinweisen auf Studien aus dem Jahr 1986, 1984, 1973 und 1971, die jeweils belegen, dass Minderheitsregierungen auf europäischer wie auch auf internationaler Ebene weit verbreitet sind. 344 Lehmbruch, Verhandlungsdemokratie, Entscheidungsblockaden und Arenenverflechtung, S. 13 f. 339
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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len Mehrheitsregierungen keine Entscheidung. Ist eine solche sich in einer Sachfrage nicht einig, ist dem Gesetzgebungsprozess regelmäßig eine Verhandlung zu diesem Thema vorgeschaltet. Insbesondere amtiert die Bundesregierung als Kollegialorgan. Für Gesetzesinitiativen der Bundesregierung bedarf es gemäß § 15 Abs. 1 lit. a) GO BReg345 daher regelmäßig eines kollegialen Beschlusses. Ferner vermag auch der Einwand, die Verfassung „gehe von Mehrheitsentscheidungen aus“, nicht davon zu überzeugen, dass eine Minderheitsregierung der Verfassung zuwiderlaufe: auch bei einer Minderheitsregierung sind die Beschlüsse von Gesetzen anhand bzw. mithilfe einer Mehrheit zu treffen. Nur im Fall des Art. 81 GG, dem Gesetzgebungsnotstand, welcher allenfalls für eine begrenzte Zeit zur Anwendung kommen könnte, ist eine Ausnahme von Art. 42 Abs. 2 S. 1, 77 Abs. 1 S. 1 GG hiervon denkbar. Der Unterschied zwischen Mehrheits- und Minderheitsregierung besteht allenfalls hinsichtlich der Frage, ob die Regierungsfraktion(en) allein die parlamentarische Mehrheit erzielen. Mehrheiten sind „von Fall zu Fall zu bilden“. Es handelt sich nicht um eine verfassungsrechtliche Kategorie: So findet keine Stütze im Grundgesetz, dass die Mehrheit ausschließlich anhand einer Koalition zu bilden ist. Die Vorschriften aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG sowie Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG sprechen stattdessen von einem Beschluss des „Bundestages“, nicht von einem Beschluss der „parlamentarischen Mehrheit“. Die „Mehrheit“ ist damit ausschließlich eine politische Kategorie, wird aber gerade auch verfassungsrechtlich nicht aufgegriffen.346 Aus verfassungsrechtlicher Sicht der Mehrheitsentscheidungen ist gerade unerheblich, welche Stimmen aus dem Parlament quantitativ für eine Mehrheit im Parlament sorgen. In diesem Kontext wird insbesondere hervorgehoben, dass Minderheitsregierungen durch den Grad an Flexibilität dieser Mehrheitsfindung auch das Potential haben, der vielfach befürchteten Entparlamentarisierung347 entgegenzutreten.348 An die Stelle des starren Dualismus von Regierung und Opposition und der damit einhergehenden exekutiven Dominanz im Bereich von Gesetzgebung trete ein „kooperativer Parlamentarismus“349, da es angesichts fehlender verbindlicher institutionell ausgerichteter Mehrheitsfindung prinzipiell allen im Parlament vertretenen Fraktionen möglich sei, die Interessen eigener Anhänger und Wähler gesetzgeberisch umzusetzen.
345
Geschäftsordnung der Bundesregierung vom 11. 05. 1951 (GMBl. S. 137). Vgl. BVerfGE 2, 143 (161); 106, 253 (273). 347 Zur Entparlamentarisierungsthese siehe Kirchhof, Die Zukunft der Demokratie im Verfassungsstaat, in: JZ 2004, S. 981 (984). 348 Vgl. hier und im Folgenden Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (889). 349 Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des Magdeburger Modells, in: ZParl 2003, S. 792 (794). 346
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
(3) Erfahrungswerte aus Schlüsselentscheidungen Des Weiteren vermögen die bisherigen Erfahrungen des Gesetzgebungsprozesses die Befürchtungen ebenfalls nicht zu stützen. Im Bereich von Verfassungsänderungen ist – ungeachtet der Regierungsart – gemäß Art. 79 Abs. 2 GG stets eine Mehrheit von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages erforderlich. Dieses Quorum kann auch eine materielle Mehrheitsregierung ihrerseits regelmäßig nicht alleine aufbringen und muss daher auf die Unterstützung anderer Fraktionen hoffen. So sind in der Bundesrepublik Deutschland auch außerhalb von Großen Koalitionen zwei Drittel Mehrheiten zustande gekommen. Bei Entscheidungen hoher rechtspolitischer Bedeutung, etwa bei Normierung des Großen Lauschangriffs in Art. 13 Abs. 3–6 GG (1994–1998)350 oder die Asylrechtsnovelle des Art. 16a GG351 war ein hohes Maß an oppositioneller Bereitschaft zur Annahme einer Gesetzesinitiative durch die Opposition erkennbar.352 Im Bereich sogenannter Schlüsselentscheidungen353 kann ausweislich empirischer Untersuchungen davon ausgegangen werden, dass die Opposition generell eine höhere Bereitschaft zur Annahme von diesen Gesetzen hat. Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Kompromissfähigkeit in solchen Fällen höher ist. Unter Schlüsselentscheidungen sind solche Entscheidungen zu verstehen, die – ein breites Interesse bezüglich der Thematik, – eine Regelung mit Tiefe und Dauerhaftigkeit sowie – ein erhöhtes Konfliktpotential der Entscheidung beinhalten. Faktoren, die eine Kompromissfähigkeit generell schmälern, sind föderale Spaltungen, Fundamentalismus und das Praktizieren einer Blockadepolitik. So wurden in den Wahlperioden von 1998 bis 2012 bei vier Schlüsselentscheidungen geschlossen für die Annahme des Gesetzes gestimmt. Bei 22 von insgesamt 63 als Schlüsselentscheidung eingeordneten Gesetzesentwürfen stimmte die Opposition jedenfalls mehrheitlich für die Annahme des Gesetzes. Dies entspricht einer Annahmequote von circa 35 Prozent im Bereich wichtiger Gesetze.354 Gleichzeitig ist evident, dass die Abgeordneten der Regierungsfraktionen der Großen Koalition häufiger uneinheitlich abstimmten als bei knapperen Verhältnissen.355 Schwerdtfeger stellt dar, dass es für oppositionelle Fraktionen riskant sei, eine pauschale 350 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes BGBl. 1998, S. 610, Bundestag Drucks., Plenarsitzungsprotokoll 13/214, S. 73. 351 Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes. Änderung von Art. 16 und 18 GG durch Art. 1 Nr. 2 durch das Gesetz vom 28. 06. 1993 mit Wirkung vom 30. 06. 1993, siehe BGBl. 1993 I, S. 1002. 352 Preker / Haas, Flexibilität und Effektivität vor Stabilität, in: ZfP 2012, S. 453 (472). 353 Reutter, Struktur und Dauer der Gesetzgebungsverfahren des Bundes, in: ZParl 2007, S. 299 (301 ff.). 354 Preker / Haas, Flexibilität und Effektivität vor Stabilität, in: ZfP 2012, S. 453 (472). 355 Preker / Haas, Flexibilität und Effektivität vor Stabilität, in: ZfP 2012, S. 453 (473 f.).
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Blockierungsposition einzunehmen, soweit es um politisch bedeutsame Entscheidungen geht. Soweit eine „Krisenbewältigung“ erforderlich ist, könnte ein solches Blockieren die prekäre Situation weiter verschlimmern.356 Der These, eine Tolerierung oder ein Stützen der Regierung beziehe sich allenfalls auf die Regierungskontinuität lassen sich die bereits dargestellten Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt entgegenhalten. Hier führte das Tolerierungsmodell dazu, dass neben dem bloßen Schutz der Regierungskontinuität auch im Grundsatz die politischen Entscheidungen der Minderheitsregierung durch die tolerierende Opposition getragen wurden. Nur in Abweichungsfällen, die auch bei bestehenden Mehrheitskoalitionen und in Fällen der Uneinigkeit zwischen Koalitionspartnern denkbar sind, unterstützte der Tolerierungspartner die Minderheitsregierung nicht. Auch die Erfahrungen aus Nordrhein-Westfalen mit dem Modell wechselnder Mehrheiten in der Zeit zwischen 2010 und 2012 vermögen zu stützen, dass im Bereich politisch und gesellschaftlich bedeutsamer Entscheidungen eine parlamentarische Unterstützung möglich ist: Das angeführte Beispiel der Änderung des Schulgesetzes hatte massive politische und gesellschaftliche Bedeutung und erforderte insbesondere eine Verfassungsänderung, die auch in Zeiten einer Minderheitsregierung erzielt werden konnte.357 (4) Zwischenergebnis: Parlamentarisierung der Gesetzgebung Insgesamt lassen sich die grundsätzlichen, und zum Teil auch pauschalen, unbelegten Behauptungen nicht durch die Empirie und die Erfahrungswerte bei Abstimmungen in jüngerer Vergangenheit damit nicht belegen. Im Ergebnis sind beide Kooperationsmodelle daher durchaus praktikabel und auf Ebene der Bundesländer praktiziert. Angesichts der Tendenz eines zersplitterten Parlaments aufgrund der erhöhten Zahl von Oppositionsfraktionen wäre eine dauerhafte Form der Tolerierung allerdings grundsätzlich zu bevorzugen. Es handelt sich zwar nicht um eine obligatorische Unterstützung, gleichwohl könnte die Interaktion mit demselben Tolerierungspartner wohl aber weniger unsicher erscheinen kann als das ständige Aushandeln einer Sachfrage im Sinne der wechselnden Mehrheit. Das Tolerierungsmodell ist eine dem Parteienparlamentarismus ähnlichere Form als das Kooperationsmodell wechselnder Mehrheiten. Strom geht davon aus, dass die befürchteten Unsicherheiten im Bereich der Gesetzgebung bei formellen Minderheitsregierungen im Vergleich zu formellen Mehrheitsregierungen nicht bestehen: „In some cases, however, this uncertainty is virtually nil.“358 In diesem Zusammenhang erscheint jedoch prekär, inwieweit Fraktionen sich tatsächlich auf das Tolerierungsmodell einzulassen vermögen. Ein Tolerierungsmodell begründet praktisch gesehen Regierungsverantwortlichkeit: Die tolerierende(n) Fraktion(en) sind ange 356
Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 44 ff. Ausführlich hierzu Kapitel 3 C. I. 2. b) bb) (3). 358 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 94. 357
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
halten, Gesetzesinitiativen der Regierungsfraktion(en) inhaltlich mitzutragen oder eventuell sogar mitzugestalten. Wie im zweiten Kapitel dargestellt359 kann der sogenannte Office-Nutzen als Eintrittskriterium für das Regieren in einer Koalition gesehen. Problematisch erscheint, dass die mit dem Tolerierungsmodell erlangte Regierungsverantwortlichkeit ohne Office-Nutzen erfolgt. Wenn zugrunde gelegt wird, dass Fraktionen anhand des Office-Nutzens darüber befinden, ob sie die Oppositions- oder Regierungsrolle einnehmen, ist nicht ersichtlich, wieso aus dieser Sicht eine Fraktion Teil einer Tolerierungskonstellation werden sollte. Das Modell wechselnder Mehrheiten sei nach den Untersuchungen Stroms vor allem flexibel in Bezug auf Partner und Kooperationen im Bereich von Sachfragen, sei gleichzeitig aber am anfälligsten für Abstimmungsniederlagen.360 Insgesamt leitet Strom folgende Regelungen für den Zusammenhang zwischen Flexibilität und Stabilität im Sinne von fehlenden Abstimmungsniederlagen her:361 – Für Regierungsfraktionen, die ihren politischen Einfluss maximieren wollen, ist eine Mehrheitskoalition am unattraktivsten. Demgegenüber ist die Mehrheitskoalition dann vorzuziehen, wenn es der Fraktion darauf ankommt, keine Abstimmungsniederlagen zu erleiden. – Das höchste Maß an Flexibilität und der höchste Grad an politischer Einflussnahme erreicht die Minderheitsfraktion mit dem Modell wechselnder Mehrheiten. – Die Regierungskontinuität von Minderheitsregierungen hängt auch von deren Handlungsfähigkeit ab. Ein Tolerierungsmodell, soweit die Fraktionen einem solchen zustimmen, kann insoweit die Regierungsdauer begünstigen. Es ist ferner auch nicht schlechthin ausgeschlossen, die Parlamentspraxis dahingehend zu novellieren, als eine Vorinstanz wie das dänische „forlig“ die Sachfragen im Vorfeld politisch verbindlich klären. In beiden Kooperationsmodellen hängt die Gesetzgebung als Regierungsaufgabe maßgeblich von der Kooperation mit der Opposition ab.362 Auch das Grundgesetz setzt seinerseits an keiner Stelle voraus, dass Mehrheiten ausschließlich anhand von Koalitionen oder durch eine einzige Mehrheitsfraktion gebildet werden. So geht es im Bereich der Gesetzgebung nur davon aus, dass es eines Beschlusses des Bundestages bedarf. Ein Beschluss setzt seinerseits die mehrheitliche Unterstützung abgegebener Stimmen voraus. Über die Frage, wer die Gesetzesinitiative unterstützt oder diese ablehnt, trifft das Grundgesetz indes keine Aussage. Auch das BVerfG geht davon aus, Mehrheiten seien „von Fall zu Fall“ zu bilden. Die „Mehrheit“ ist dagegen als solche verfassungsrechtlich nicht zur Entscheidung berechtigt, sondern nur eine politische Kategorie.363 Strom 359
Ausführlich hierzu Kapitel 2 B. II. 1. b). Hier und im Folgenden Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 97. 361 Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 108 f. 362 Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern, in: ZParl 1997, S. 391 (399). 363 BVerfGE 2, 143 (161, 163); 106, 253 (273). 360
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sieht bei Minderheitsregierungen grundsätzlich das Erfordernis politischer Zugeständnisse an mögliche Bündnispartner.364 Jedenfalls liegt dem Gesetzgebungsprozess im Bereich von Minderheitsregierungen hierdurch ein parlamentarischer, inhaltlicher und auch politischer Einigungsprozess zugrunde. Dadurch, dass Mehrheiten nicht nur pauschal durch Mehrheitskoalition und Fraktionsdisziplin gebildet werden, sinkt die im Falle des Amtierens von Mehrheitskoalitionen zu verzeichnende exekutive Dominanz der Regierung im Bereich der Gesetzgebung. Minderheitsregierungen können in diesem Zusammenhang als Chance gesehen werden, die Gesetzgebung zu parlamentarisieren und einer möglicherweise bestehenden Entparlamentarisierung entgegenzuwirken.365
II. Art. 68 GG – Zwischen Kontinuität und Handlungsfähigkeit Es wurde festgestellt, dass das Grundgesetz grundsätzlich keine verfassungsrechtlichen Vorgaben aufstellt, wie innerparlamentarisch Mehrheiten gebildet werden bzw. wie die Regierung eine Mehrheit im Falle eigener Gesetzesinitiativen finden kann. Fest steht ebenso: In Demokratien ist die Handlungsfähigkeit von Regierungen abhängig von dem Erzielen von Mehrheiten. Dies offenbart sich an insbesondere im Bereich der Gesetzgebung; sie ist – wie bereits erläutert – eine Regierungsaufgabe.366 Die Regierung initiiert aus empirischer Sicht die meisten Gesetzesvorlagen, die sodann im Parlament beraten werden. Im Folgenden stellt sich daher die Frage, welche Mechanismen das Grundgesetz letztlich hinsichtlich der Absicherung der Mehrheitsfindung im Sinne der Handlungsfähigkeit als Stabilitätskriterium aufstellt. Hierzu soll die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG367 erläutert werden. Zunächst wird die tatbestandliche Ausgestaltung im Grundgesetz sowie die systematische Einordnung dargelegt. Schließlich wird auf die von der Vertrauensfrage ausgehende präventive Wirkung und deren Relevanz für die Regierungsstabilität eingegangen.
364
Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 98 f. Vgl. Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des Magdeburger Modells, in: ZParl 2003, S. 792 (794); Ganghof / Stecker / Eppner / Heeß, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: ZParl 2012, S. 887 (893) m. w. N. 366 Hierzu bereits Kapitel 3 A. I. bzw. Kapitel 3 A. II. 367 Für die Bestimmungen auf Landesebene siehe Art. 44 Abs. 3 BLVerf; Art. 87 BRLVerf; Art. 36 HambLVerf; Art. 51 MVLVerf; Art. 88, 69 SaarLVerf; Art. 73 SALVerf; Art. 36 SHLVerf; Art. 74, 50 Abs. 2 Nr. 2 ThürLVerf. – Zu Abs. 2: Art. 36 Abs. 2 HambLVerf; Art. 51 S. 3 MVLVerf; Art. 88 Abs. 2 S. 4 SaarLVerf; Art. 73 S. 3 SALVerf; Art. 36 Abs. 1 S. 2 SHLVerf; Art. 74 S. 1 ThürLVerf. 365
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1. Die tatbestandliche Ausgestaltung der Vertrauensfrage Gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG hat der Bundeskanzler das Recht, dem Bundestag die Vertrauensfrage zu stellen. Dem liegt ein mehrstufiges Verfahren zugrunde.368 Je nach Ausgang der Vertrauensfrage kommen mehrere, aus verfassungsrechtlicher Sicht bedeutsame Rechtsfolgen in Betracht. Nach seinem Wortlaut erfordert das Instrument der Vertrauensfrage aus Art. 68 GG zunächst ausschließlich formelle Tatbestandsvoraussetzungen369, die durch das BVerfG in den Entscheidungen aus dem Jahr 1972370 und 2005371 jedoch um ein materielles, ungeschriebenes Merkmal ergänzt wurden. In formeller Hinsicht bedarf es zunächst der Antragstellung. Gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG ist hierzu ausschließlich und allein der Bundeskanzler (nicht: die Bundesregierung) berechtigt.372 Antragsadressat ist der Bundestag; im Antrag selbst ist eine empfangsbedürftige öffentlich-rechtliche Willenserklärung zu sehen, die sowohl mündlich als auch schriftlich abgegeben werden kann und keinem formellen Begründungserfordernis unterliegt.373 Weiter erfolgt eine Abstimmung des Bundestages über die Vertrauensfrage, wobei für die Vertrauensbestätigung ein qualifiziertes Mehrheitsquorum aus Art. 121 GG erreicht werden muss. Zwischen dem Antrag und der parlamentarischen Abstimmung müssen gemäß Art. 68 Abs. 2 GG insgesamt mindestens achtundvierzig Stunden liegen. Im Falle der abgelehnten Vertrauensfrage kommen mehrere Rechtsfolgen in Betracht374: – Zunächst ist der Bundeskanzler berechtigt, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen. Der Bundespräsident trifft hierbei eine politische Ermessensentscheidung über die Auflösung, hat dabei aber die vom Bundeskanzler zugrunde gelegte Betrachtungsweise über die fehlende Handlungsfähigkeit infolge der bestehenden politischen Kräfteverhältnisse zu berücksichtigen.375 Die Auflösung hat gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG binnen einer Frist
368
Rinck, Sondervotum, BVerfGE 62, 70 (71). Nettesheim, HStR II, § 62 Rn. 13. 370 BVerfGE 62, 1. 371 BVerfGE 114, 121. 372 Dreier / Hermes, GG Art. 68 Rn. 17; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 68 Rn. 21, 23; Münch / Kunig / Mager, GG Art. 68 Rn. 5; Parlamentsrecht / Michael, § 48 Rn. 29; Sachs / Oldiges, GG Art. 68 Rn. 26; BeckOK / Pieper, GG Art. 68 Rn. 8; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 47; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 68 Rn. 45, 52; Mangoldt / Klein / Starck / Epping, GG Art. 68 Rn. 8; Schreiber / Schnapauff, Rechtsfragen „im Schatten“ der Diskussion um die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG, in: AöR 1984, S. 369 (374). 373 Schreiber / Schnapauff, Rechtsfragen „im Schatten“ der Diskussion um die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG, in: AöR 1984, S. 369 (380 f.). 374 Im Folgenden Schröder, HStR III, § 65 Rn. 42. 375 BVerfGE 62, 1 (2, LS. 8 b)). 369
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von insgesamt 21 Tagen nach der Ablehnung der Vertrauensfrage zu erfolgen. Angesichts der prinzipiellen Auflösungsfeindlichkeit des Grundgesetzes muss die Bundestagsauflösung jedoch eine restriktive Anwendung finden.376 Sie kann, sobald diese durch den Bundeskanzler vorgeschlagen wurde, gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG nur dadurch parlamentarisch abgewendet werden, dass der Bundestag mit qualifizierter Mehrheit im Sinne des Art. 121 GG einen neuen Bundeskanzler wählt, bevor der Bundespräsident die Auflösung tatsächlich erklärt. – Weiter ist die Bundesregierung befugt, als Kollegialorgan mit der Zustimmung des Bundesrates dem Bundespräsidenten vorzuschlagen, er möge den Gesetz gebungsnotstand aus Art. 81 GG erklären. – Schließlich kann der Bundeskanzler auch folgenlos trotz abgelehnter Vertrauensfrage weiterregieren und weder die Bundestagsauflösung erklären noch das eigene Kabinett, den Bundesrat und den Bundespräsidenten ersuchen, den Gesetzgebungsnotstand zu erklären. Von allen Möglichkeiten unberührt bleibt auch das Recht des Bundeskanzlers jederzeit von seinem Amt zurückzutreten. In diesem Falle enden auch sämtliche Ämter bislang amtierender Bundesminister nach Art. 69 Abs. 2, 2. Fall GG. Dadurch wird der Bundestag in die Lage versetzt, aufgrund der dadurch hervorgerufenen Vakanz des Bundeskanzleramtes einen Bundeskanzler nach Maßgabe des Art. 63 GG bzw. in einer der hierin normierten Wahlphasen zu wählen. 2. Einordnung des Art. 68 GG in das parlamentarische Regierungssystem Die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG findet keine Entsprechung in deutschen Vorgängerverfassungen.377 Insgesamt fügt sich die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG in die dem parlamentarischen Regierungssystem zugrundeliegende Vertrauenssystematik ein und soll die Handlungsfähigkeit der Regierung sichern.378 Im Rahmen der Vertrauensfrage erfragt der Bundeskanzler das Vertrauen des Parlaments gegenüber ihm selbst. Darüber hinaus ist Art. 68 GG als die „Einstiegsnorm“379 für den Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG anzusehen.
376 Die Frage, welche Auswirkungen eine Bundestagsauflösung hat und wie diese auf die Regierungsstabilität wirkt bzw. ob ein parlamentarisches Auflösungsrecht zu befürworten ist, wird im Abschnitt zum Gesetzgebungsnotstand umfangreich erörtert, siehe hierzu Kapitel 3 C. III. 4. c). 377 Dreier / Hermes, GG Art. 68 Rn. 1. 378 BVerfGE 114, 121 (LS. 1). 379 Münch / Kunig / Mager, GG Art. 68 Rn. 3.
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3. Präventive Wirkung als Beitrag zur Regierungskontinuität und Handlungsfähigkeit a) Vertrauensfrage als Instrument des Bundeskanzlers Zum Stellen der Vertrauensfrage ist alleine und ausschließlich der Bundeskanzler berechtigt. Dies geht aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut des Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG hervor. Anders als im Bereich des Gesetzgebungsnotstands befindet der Regierungschef ohne obligatorische Beteiligung der Bundesregierung als Kollegialorgan darüber, ob er die Vertrauensfrage stellen darf. Obgleich es sich hierbei um eine Angelegenheit von innenpolitischer Bedeutung handelt, findet die Vorschrift aus § 15 Abs. 1 GO BReg, welche solche Angelegenheiten unter den Vorbehalt einer Kabinettsberatung und einer entsprechenden Beschlussfassung stellt, keine Anwendung.380 Nichtsdestoweniger steht es dem Bundeskanzler frei, sein Vorhaben in seinem Kabinett zur Disposition zu stellen und darüber beraten zu lassen. An die daraus hervorgehende Entscheidung ist der Bundeskanzler jedoch nicht gebunden.381 Auch vermag ein parlamentarisches Antragsersuchen nichts an dem alleinigen Antragsrecht des Bundeskanzlers zu ändern: Ein Antrag aus der Mitte des deutschen Bundestages fällt jedenfalls nicht unter den Anwendungs bereich des Art. 68 GG, da das Parlament zu einem solchen Antrag bereits aus rein formalen Gründen nicht befugt ist.382 Das bedeutet: Auch eine parlamentarische Mehrheit kann den Bundeskanzler nicht gemäß Art. 68 GG zum Stellen des hier erforderlichen Antrags zwingen. Damit steht dem Bundeskanzler ein Instrument zur Verfügung, das als „gouvernmentales Seitenstück zum konstruktiven Misstrauensvotum“383 angesehen wird. Bereits durch die Alleinkompetenz zum Stellen der Vertrauensfrage wird die verfassungsrechtliche Stellung des Bundeskanzlers gestärkt. b) Druck- und Disziplinierungsfunktion der Vertrauensfrage Der zweite Beitrag, den die Vertrauensfrage zur Handlungsfähigkeit der Regierung leistet, ist eine Druck- und Disziplinierungsfunktion.384 Das aus der Vertrauensfrage resultierende „Drohpotential“ realisiert sich dabei in zweifacher Weise als präventive Wirkung: Erstens kann der Bundeskanzler dem Parlament, das ihm 380 Einhellige Auffassung, siehe nur Münch / Kunig / Mager, GG Art. 68 Rn. 5; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 47; Schreiber / Schnapauff, Rechtsfragen „im Schatten“ der Diskussion um die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG, in: AöR 1984, S. 369 (375); Stern, Staatsrecht, S. 993; Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 68 Rn. 8. 381 Schreiber / Schnapauff, Rechtsfragen „im Schatten“ der Diskussion um die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG, in: AöR 1984, S. 369 (375 f.). 382 Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 68 Rn. 8. 383 Schröder, HStR III, § 65 Rn. 40. 384 So etwa BeckOK / Pieper, GG Art. 68 Rn. 3.
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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das mehrheitliche Vertrauen versagt, mit einer Bundestagsauflösung drohen.385 Zweitens ist die Ablehnung der Vertrauensfrage die Einstiegsvoraussetzung eines möglichen Gesetzgebungsnotstands aus Art. 81 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG.386 Die Bundestagsauflösung kann im Rahmen des Art. 68 GG nur noch dadurch vom Parlament abgewendet werden, dass dieses gemäß Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG nach dem Auflösungsantrag des Bundeskanzlers einen neuen Bundeskanzler mit qualifizierter Mehrheit aus Art. 121 GG wählt. Um die Auflösung und damit die gegenüber Art. 39 Abs. 3 GG vorzeitige und möglicherweise aus Sicht der Parlamentarier nicht interessengerechte Auflösung des Bundestages zu verhindern, muss der Bundestag also entweder dem Bundeskanzler das mehrheitliche Vertrauen positiv aussprechen oder sich kurzfristig auf einen neuen Bundeskanzler einigen. Letzteres könnte sich schwierig erweisen: Ein Bundestag, der sich in der Lage versieht, angesichts fehlenden Vertrauens in die bestehende Regierung einen neuen Bundeskanzler zu wählen, würde dies bereits durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG vornehmen. Das Verfahren aus Art. 67 GG ist bereits aus praktischen Gründen als vorteilhafter für den Bundestag anzusehen: So wäre im Rahmen eines konstruktiven Misstrauensvotums allein das Parlament befugt, über den maßgeblichen Zeitpunkt zu befinden. Es könnte sich bis zur Antragstellung ausreichend Zeit für den Einigungsprozess belassen und erst dann den Antrag stellen und damit das Verfahren in Gang setzen, wenn der Einigungsprozess abgeschlossen ist. Das konstruktive Misstrauensvotum setzt nach seiner Konzeption gerade eine im Vorfeld bereits abgeschlossenen Einigung des Parlaments voraus. Dagegen obliegt es im Falle einer Neuwahl nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG dem Bundespräsidenten, schließlich die Auflösung zu erklären. Diesem ist eine Frist von insgesamt 21 Tagen für die Auflösung eingeräumt. Darin ist allerdings gleichzeitig die Höchstfrist zu sehen, binnen welcher der Bundestag die Auflösung noch abwenden könnte. Diese Höchstfrist erhöht sich praktisch gesehen allenfalls noch um jene 48 Stunden, die gemäß Art. 68 Abs. 2 GG zwischen dem Antrag des Bundeskanzlers und der Abstimmung liegen. In diesem Zeitraum vermag der Bundestag als solcher aber eventuell noch nicht sicher einzuschätzen, ob der Antrag letztlich angenommen oder abgelehnt wird, sodass womöglich noch keine Sondierungs- oder Koalitionsgespräche zur Einigung auf einen Mehrheitskanzler aufgenommen werden. Dieser Zeitraum von 48 Stunden soll gerade vor übereilten und zufälligen Ergebnissen schützen.387 385
Nettesheim, HStR III, § 62 Rn. 12; ebenso Schoch, Der funktionale Zusammenhang zwischen der Vertrauensfrage und dem parlamentarischen Regierungssystem, in: ZSE 2006, S. 88 (93 ff.). 386 Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (12). Ebenso Münch / Kunig / Mager, GG Art. 68 Rn. 3. 387 Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 54; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 68 Rn. 187; Alternativ-Kommentar / Schneider, GG Art. 68 Rn. 9; Schreiber / Schnapauff, Rechtsfragen „im Schatten“ der Diskussion um die Auflösung des Deutschen Bundestages nach Art. 68 GG, in: AöR 1984, S. 369 (382).
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Als Einstiegsnorm für einen möglichen Gesetzgebungsnotstand vermag die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG das Parlament abermals zu disziplinieren. Bei der Ablehnung der Vertrauensfrage kann die Bundesregierung als Kollegialorgan dem Bundespräsidenten vorschlagen, einen Gesetzgebungsnotstand zu erklären. Evident ist, dass im Falle des Gesetzgebungsnotstands die Bundesregierung in die Lage versetzt wird, Gesetzgebung im Einvernehmen mit dem Bundesrat ohne parlamentarische Zustimmung zu betreiben. Gesetzgebung bzw. der Beschluss von Gesetzen ist aber gerade eine der Kernkompetenzen des Legislativorgans. Es dürfte insoweit nicht interessengerecht für das Parlament sein, dass ein Gesetzgebungsnotstand möglicherweise erklärt wird. Dies wird vor allem relevant, wenn sich aus politischer Sicht bereits vor dem Antrag des Bundeskanzlers aus Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG abzeichnet, dass der Bundeskanzler nicht intendiert, zurückzutreten oder sein eigenes Amt durch den Vorschlag einer Bundestagsauflösung nach Art. 68 Abs. 1 i. V. m. Art. 69 Abs. 2, 39 Abs. 3 GG zu beenden. Möglich ist in diesem Zusammenhang, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage mit einer für ihn und seine Richtlinienpolitik aus Art. 65 S. 1 GG wesentlichen politischen Sachfrage verbindet, die er dem Parlament zur Disposition stellt. Wenn das Parlament diese Sachfrage und die Vertrauensfrage ablehnt, hat es in der Folge zu befürchten, dass der Bundeskanzler im Einvernehmen der in Art. 81 GG beteiligten Organe, mit dem Bundesrat und Bundespräsidenten, den Gesetzgebungsnotstand erklärt und diese Sachfrage schließlich ohne parlamentarische Beteiligung beschließt. Dies regt das Parlament möglicherweise zu Verhandlungen mit der Bundesregierung an. 4. Voraussetzungen der Bundestagsauflösung nach Art. 68 GG Grundsätzlich kommt dem Bundeskanzler eine weite, politische Einschätzungsprärogative für die Fragen zu, ob er die Vertrauensfrage stellt und ob er im Falle der Ablehnung des Antrags dem Bundespräsidenten die Auflösung vorschlägt. Eine verfassungsrechtliche und politische Kontroverse besteht in diesem Zusammenhang bezüglich der auflösungsgerichteten Vertrauensfrage, die sogenannte „unechte“ Vertrauensfrage. In materieller Hinsicht ist ausweislich der zugrundeliegenden Rechtsprechung des BVerfG eine Lage politischer Instabilität für die Bundestagsauflösung erforderlich. Die Auflösung soll demnach nur dann vom Bundeskanzler angeregt werden dürfen, „wenn es politisch für ihn nicht mehr gewährleistet ist, mit den im Bundestag bestehenden Kräfteverhältnissen weiterzuregieren“.388 Das bedeutet, dass die politischen Kräfteverhältnisse die Regierungsarbeit dadurch beeinträchtigen, dass die zur Erfüllung des Regierungsauftrages erforderliche parlamentarische mehrheitliche Unterstützung nicht gegeben ist.389 Die Frage, ob die Handlungsfähigkeit der Regierung letztlich beeinträchtigt oder gehemmt ist, obliegt einer politischen Ermessensentscheidung des Bundeskanzlers, 388 389
BVerfGE 62, 1 (2, LS. 6). BVerfGE 62, 1 (2, LS. 7).
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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die insoweit auch nur einer eingeschränkten Justiziabilität zugänglich ist.390 Die hierbei einschlägigen Urteile391 des BVerfG haben viel Kritik erfahren. Das Gericht geht jedenfalls davon aus, dass eine auflösungsgerichtete Vertrauensfrage zulässig sei, sofern jedenfalls nach der Einschätzung des Bundeskanzlers eine Handlungsfähigkeit nicht gegeben ist. Die Handlungsfähigkeit sei an der parlamentarischen Unterstützung zu messen. Insgesamt bedürfe es einer materiellen Auflösungslage als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal für die Auflösung des Bundestages.392 Jedenfalls ist im Grundgesetz eine prinzipielle Auflösungsfeindlichkeit feststellbar. Angesichts der Erfahrungen der Weimarer Republik zu der Anwendungspraxis des Art. 25 WRV393 muss konstatiert werden, dass selbst im Falle auflösungs gerichteter Vertrauensfragen die Auflösungen nicht dazu führen dürfen, dass eine Entmachtung des Parlaments droht. Die Abkehr von dieser Vorschrift wurde auch vom Parlamentarischen Rat bei der Schaffung des Grundgesetzes intendiert.394 Es fügt sich nur schwer in das parlamentarische Regierungssystem ein, wenn es zwei einzelnen Verfassungsorganen, dem Bundeskanzler und Bundespräsidenten in unbeschränktem politischen Ermessen zur Disposition stehen soll, das Parlament nach freiem Belieben oder etwa aus Gründen vorteilhafter Umfragewerte für den Fall von Neuwahlen aufzulösen. Lübbe-Wolff kritisiert die Entscheidung und Auslegung des BVerfG und führt insoweit in ihrem Sondervotum aus, dass „der Kanzler [bestimme]“, während der Bundestag „als ein willensloses Anhängsel, Instrument und Opfer des Bundeskanzlers, zwangsläufig infiziert von dessen Fehlern und unfähig, die Verfassung einzuhalten, wo dieser sie missachtet“.395 Bei der vorzeitigen Beendigung der Legislaturperiode handelt es sich um ein Abweichen des in Art. 39 Abs. 1 S. 1 GG festgelegten Grundsatzes, dass die Dauer der Legislaturperiode vier Jahre beträgt.396 Der Antrag des Bundeskanzlers zur Bundestagsauflösung darf daher nur das oben genannte Disziplinierungspotential entfalten, im Ergebnis darf eine zu große Ausweitung des Rechts zur Auflösung jedoch nicht dazu führen, dass ungeachtet der politischen Kräfteverhältnisse eine Bundestagsauflösung erfolgt. Es wurde bereits dargelegt, dass auch bei formal fehlender Mehrheit bzw. fehlender Mehrheitskoalition solche Gesetzgebungs modelle praktikabel erscheinen, die alternative Wege zur Mehrheitsbeschaffung ermöglichen. Eine Auflösung des Bundestages sollte daher nur dann vorgenommen werden, wenn feststeht, dass keines dieser Modelle Aussicht auf Erfolg hat. Außerdem sollte auch in Betracht gezogen werden, die Legislaturperiode anhand 390
BVerfGE 114, 121. BVerfGE 62, 1 sowie BVerfGE 114, 121. 392 BVerfGE 114, 121 (4. LS). 393 Art. 25 WRV lautete: Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß. Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt. 394 Siehe Darstellung bei Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 68 Rn. 106 ff. 395 Lübbe-Wolff, Sondervotum, BVerfGE 114, 182 (183); zustimmend unter anderem: Mangoldt / K lein / Starck / Epping, GG Art. 68 Rn. 30 f. 396 BVerfGE 114, 121 (146 f.). 391
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
des Gesetzgebungsnotstands aus Art. 81 GG um bis zu sechs Monate zu verlängern.397 Eine vorschnelle Auflösung nach Art. 68 Art. 1 S. 1 GG398 birgt das Potential einer Destabilisierung und ist daher als kontraproduktiv gegenüber dem gesamten parlamentarischen Regierungssystem und der im Grundgesetz konzipierten Vertrauensfrage anzusehen. 5. Fazit: Doppeltes Drohpotential und restriktive Bundestagsauflösung Ebenso wie Art. 67 GG vermag Art. 68 GG keinen unmittelbar politischen Einfluss auf das Zusammenhalten einst geschlossener Koalitionen zu üben. Fehlender inhaltlicher Konsens und koalitionsinterne Konflikte können auch dadurch nicht verhindert werden, dass dem Bundeskanzler als Regierungschef ein spezifisches Instrument zur Verfügung steht. Abermals ist festzustellen, dass politische Stabilität sich normativ nicht oder nur bedingt steuern lässt, sodass auch die Vertrauensfrage nur hinsichtlich ihres verfassungsrechtlichen oder verfassungspolitischen Beitrags evaluiert werden kann. Dabei ist festzustellen, dass die Vertrauensfrage in mehreren Hinsichten ein Drohpotential und damit eine präventive Wirkung entfaltet, welche das Parlament entweder dazu anregen, selbst nach Maßgabe des Art. 67 GG sich mehrheitlich auf einen neuen Bundeskanzler zu einigen und den bisherigen Amtsinhaber damit seinem bisherigen Amte zu entlassen oder aber bei kontroversen Gesetzesvorlagen Mehrheiten durch alternative Gesetzgebungsmodelle zu erzielen und so noch Einfluss auf die jeweilige Sachfrage zu üben. Sollte das Auflösungsrecht aus Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG nicht restriktiv, sondern extensiv angewandt werden, führt dies jedoch insgesamt zu einer Destabilisierung. Das Verhältnis zwischen der Parlamentsauflösung oder einem parlamentarischen Selbstauflösungsrecht und der demgegenüber vorzugswürdigen Anwendung des Gesetzgebungsnotstands wird im folgenden Abschnitt erläutert.
III. Der Gesetzgebungsnotstand nach Art. 81 GG als ultima ratio Im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses bei amtierender Regierung ohne parlamentarische Mehrheit ist Art. 81 GG, der Gesetzgebungsnotstand, einschlägig. Unter bestimmten Voraussetzungen ermöglicht dieser das Zustandekommen von Bundesgesetzen ohne die Zustimmung des Bundestages. Sofern sich die Gesetzgebung auch unter Anwendung eines der vorgestellten Kooperationsmodelle als erfolglos erweisen sollte, weil der Bundestag sich jeder Mehrheitsfindung versperrt, kann Art. 81 GG Abhilfe schaffen. Im Folgenden wird untersucht, inwieweit Art. 81 GG für diese Problematik in der Regierungspraxis eine geeignete und 397
Ausführlich zu der Überbrückungsfunktion des Art. 81 GG siehe Kapitel 3 C. III. 4. c). Die Frage, ob dem Parlament stattdessen ein Selbstauflösungsrecht zukommen sollte, wird in Kapitel 3 C. III. 4. c) behandelt. 398
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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auch praktikable Lösung darstellt. Dazu werden nach Erläuterung der allgemeinen Terminologie des Gesetzgebungsnotstands sowie seiner Einordnung in den verfassungsrechtlichen Kontext zunächst die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 81 GG geklärt. In diesem Zusammenhang wird anschließend der politische Anwendungsbereich des Art. 81 GG anhand der zuvor dargestellten tatbestand lichen Grenzen konkretisiert. Abschließend wird eine umfassende Folgenabschätzung bzw. Bewertung des Instruments vorgenommen, um letztlich zu entscheiden, ob Legislation durch Art. 81 GG in problematischen Regierungskonstellationen gesichert werden kann. Es soll insgesamt beantwortet werden, welche politischen und verfassungsrechtlichen Konsequenzen aus dem Gesetzgebungsnotstand innerhalb seines Anwendungsbereichs erwachsen. Zudem sollen Reformvorschläge gegeben werden, die dem Verhältnis von Regierung und Parlament innerhalb des parlamentarischen Regierungsgefüges vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen gerecht werden. 1. Begriffsverständnis und Systematik des Gesetzgebungsnotstands Bereits nach dem natürlichen Sprachgebrauch handelt es sich bei dem Gesetzgebungsnotstand um eine außerordentliche (Not-)Lage bzw. um eine Problematik oder eine (Staats-)Krise399, die sich ausweislich der Zusammensetzung mit dem Substantiv „Gesetzgebung“ auch auf ebendiese bezieht. Zur näheren Konkretisierung ist der Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG zunächst von allgemeinen staatlichen Zwangslagen bzw. dem inneren und äußeren Notstand abzugrenzen: Dies sind Fälle der Art. 80a ff., 91 sowie 115a ff. GG.400 Während der innere Notstand (Art. 91 GG) eine Lage regelt, in der Naturkatastrophen oder innere Unruhen bestehen, meint der äußere Notstand einen erfolgten oder unmittelbar bevorstehenden Angriff auf das Bundesgebiet mit Waffengewalt (sog. Verteidigungs- bzw. Spannungsfall aus Art. 115a ff. bzw. 80a GG). Bei Art. 81 GG handelt es sich hingegen nicht um eine solche Lage, in der die reguläre Gesetzgebung durch den Bundestag als Legislativorgan aus militärischen, revolutionären oder katastrophenbedingten Störungen beeinträchtigt ist (sog. „technische Krise“401).402 Vielmehr behandelt Art. 81 GG die aus den bestehenden Mehrheitsverhältnissen resultierende Blockade der Gesetzgebung durch den Bundestag.403 Es handelt sich um eine parlamentsinterne Krise, während die anderen aufgezeigten Notstände solche sind, die parlamentsextern zu verorten sind. 399
Siehe dazu https://www.duden.de/rechtschreibung/Notstand. So etwa Hömig / Wulff / Schnapauff, GG Art. 81 Rn. 1; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 6; BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 81. 401 Füßlein / Matz, Zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes, in: AöR 1949, S. 346 (353); Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (239). 402 Siehe auch Benda, Die Notstandsverfassung, S. 28. 403 Vgl. BVerfGE 6, 104 (118), siehe auch Reimer / Kempny, Einführung in das Notstandsrecht, in: VR 2011, S. 253 (253 f.); Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 1. 400
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
A. Kaiser geht davon aus, dass der verfassungsrechtliche Notstandsbegriff neben denjenigen des Ausnahmezustandes tritt: Art. 81 GG benennt das Rechtsinstitut als „Notstand“, war im ersten Regierungsentwurf aber ausdrücklich mit dem „Ausnahmezustand“ betitelt.404 Inhaltlich, so A. Kaiser, unterscheiden sich die Begriffe des Ausnahmezustandes und des Notstandes nicht. Allenfalls würde durch den Terminus Notstand der Tatbestand betont werden, wohingegen der Ausnahmezustand die Rechtsfolgenseite fokussiert.405 Mit Art. 81 GG kannte das Grundgesetz schon zum Zeitpunkt seines Inkrafttretens ein (rudimentäres) Ausnahmeverfassungsrecht; damit sei auch die in jüngerer Vergangenheit getroffene Aussage406, das Grundgesetz enthalte kein eigenes Ausnahmeverfassungsrecht, entkräftet.407 Auch Schwerdtfeger erläutert, dass Gesetze, die aus der Anwendung des Art. 81 hervorgehen, nach ihrem Verständnis nicht als „Krisengesetze“ anzusehen sind. Der Verfassungsstaat reagiere mit der regulären Gesetzgebung auf Krisen. Diese seien jedoch außerrechtlich zu verorten, wohingegen der Gesetzgebungsnotstand eine Verfassungsstörung, das heißt eine innerverfassungsrechtliche Beeinträchtigung markiere. Auch Schwerdtfeger grenzt den Gesetzgebungsnotstand von hier als „technischen“ Krisen ab, konstatiert aber, dass die interne Krise des parlamentarischen Regierungssystems und technische Krisen durchaus in Korrelation stehen können.408 Schließlich handelt es sich bei Art. 81 GG nicht um ein Notverordnungsrecht.409 Vielmehr ordnet die Vorschrift die Durchführung eines außerordentlichen Gesetzgebungsverfahrens an.410 Dies lässt sich sowohl aus der Tatsache, dass nicht allein die Exekutive Gesetze verabschiedet, sondern Bundestag, Bundesrat und Bundespräsident beteiligt werden als auch aus der systematischen Stellung der Vorschrift ableiten. So befindet sich Art. 81 GG am Ende des siebten Abschnitts des Grundgesetzes, der „die Gesetzgebung des Bundes“ in den Art. 70 bis einschließlich 82 GG behandelt. Während das reguläre Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 77 Abs. 1 S. 1 GG einen mehrheitlichen Beschluss des Bundestages im Sinne des Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG für die Annahme eines Gesetzes erfordert, wird im Gesetzgebungsnotstand hiervon abgewichen. Insoweit stellt Art. 81 GG lex specialis gegenüber den Art. 76–78 GG dar.411 Außerdem wird eine Abweichung von dem im Grundsatz geltenden Mehrheitsprinzip getroffen, indem im Bereich 404
A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 50 f.; siehe hierzu auch schon Kapitel 2 A. I. 3. A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 51. 406 Siehe BVerfGE 133, 277 (333 f.); sowie Kersten, Ausnahmezustand?, in: JuS 2016, S. 193 (194). 407 A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 51. 408 Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 13. 409 So Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 6; Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 1; Bonner Kommentar / Klein, GG Art. 81 Rn. 5; Friauf / Höfling / Guckelberger, GG Art. 81 Rn. 20; vgl. auch Dreier / Brosius-Gersdorf, GG Art. 81 Rn. 7. 410 Vgl. Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 1. 411 Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 1; BeckOK / Pieper, GG Vorb. zu Art. 81; Dreier / BrosiusGersdorf, GG Art. 81 Rn. 6, 26. 405
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der Gesetzgebung der mehrheitliche Beschluss aus Art. 42 Abs. 2 S. 1, 77 Abs. 1 S. 1 GG nicht erforderlich ist. An die Stelle des Bundestages tritt im Ergebnis eine „Legislativreserve“412 in Form von Bundesregierung und Bundesrat.413 2. Der Gesetzgebungsnotstand und seine Voraussetzungen im Einzelnen Die Bewertung der Praktikabilität einer Verfassungsnorm erfordert die eingehende Untersuchung der Tatbestandsvoraussetzungen. Sollten sich die Voraussetzungen als zu eng bzw. die verfassungsrechtlichen Hürden als zu hoch erweisen, könnte dies bedeuten, dass der Gesetzgebungsnotstand nicht sachdienlich ist, um die Handlungsfähigkeit einer Minderheitsregierung her- oder sicherzustellen. Das Gesetzgebungsverfahren im Rahmen des Gesetzgebungsnotstands kann generell in drei Phasen414 eingeteilt werden: In dem Verfahren bis zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands muss ein Erklärungsgrund in Form des Art. 81 Abs. 1 S. 1 bzw. S. 2 GG vorliegen, der die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates zum Antrag berechtigt (erste Phase); sodann bedarf es der förmlichen Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch den Bundespräsidenten (zweite Phase). Schließlich erfolgt – wie im regulären Gesetzgebungsverfahren nach Art. 76 ff. GG – eine End- oder Abschlussphase, in welcher die Ausfertigung und Verkündung des Gesetzes erfolgt (dritte Phase). a) Die erste Phase: Das Verfahren bis zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands (Art. 81 Abs. 1 GG) Für den Antrag der Bundesregierung, den Gesetzgebungsnotstand durch den Bundespräsidenten erklären zu lassen, bedarf es in der ersten Verfahrensphase zunächst eines Erklärungsgrundes. Hierfür bestehen gemäß Art. 81 Abs. 1 GG zwei Alternativen. aa) Erste Alternative: Art. 81 Abs. 1 S. 1 i. V. m. Art. 68 GG Gemäß Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG kann der Antrag auf Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch die Bundesregierung gestellt werden, wenn eine von ihr als dringlich bezeichnete Gesetzesvorlage vom Bundestag abgelehnt wurde, nachdem 412
Der Begriff der Legalitätsreserve wurde bereits in den Verhandlungen zum Bonner Grund gesetz verwendet, siehe nur Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 37. 413 Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (14); siehe auch Nettesheim, HStR II, § 62 Rn. 20. 414 Eine derartige Teilung ist vorzufinden bei Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 17.
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zuvor die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG verneint wurde und es dennoch nicht zur Bundestagsauflösung kam. Damit enthält der Erklärungsgrund aus Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG drei zentrale Voraussetzungen: – der negative Ausgang der Vertrauensfrage bei gleichzeitigem Verbleib des Bundeskanzlers im Amt, – das Scheitern der Gesetzesvorlage sowie die Erklärung der Gesetzesvorlage als „dringlich“ durch die Bundesregierung. (1) Der negative Ausgang der Vertrauensfrage bei gleichzeitigem Verbleib des Bundeskanzlers im Amt Zunächst bedarf es – ausweislich des ersten Konditionalsatzes415 der Vorschrift – eines negativen Ausgangs der Vertrauensfrage aus Art. 68 GG bei gleichzeitigem Verbleib des Bundeskanzlers im Amt.416 Ein negativer Ausgang der Vertrauensfrage417 bedeutet, dass der Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die erforderliche Mehrheit aus Art. 121 GG findet. Mit der fehlenden Bereitschaft der Mehrheit der Bundestagsabgeordneten manifestiert sich eine Störung im Verhältnis von Bundestag und Bundeskanzler bzw. Bundesregierung. Der Bundeskanzler kann sich jedenfalls einer mehrheitlichen Unterstützung nicht (mehr) sicher sein und es offenbart sich – jedenfalls aus Sicht des Bundestages – schon deshalb eine Vertrauenskrise zwischen Regierung und Parlament.418 Der Verbleib des Kanzlers im Amt kann daraus erwachsen, dass dieser die Auflösung des Bundestages beim Bundespräsidenten nicht beantragt hat oder daraus, dass der Bundespräsident auf der Grundlage seines hierfür eigens eingeräumten politischen Ermessens dem Auflösungsbegehren des Bundeskanzlers nicht entsprach. Das Amt des Bundeskanzlers darf sich außerdem nicht durch den eigenen Rücktritt, dem Zusammentritt eines neuen Bundestages nach Art. 39 Abs. 2 in Verbindung mit 69 Abs. 2 GG oder die Wahl eines neuen Mehrheitskanzlers nach Art. 67 bzw. 68 Abs. 1 S. 2 GG erledigt haben.419 Der Verbleib des Bundes 415
Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237. Stellvertretend für viele im Folgenden: Hömig / Wulff / Schnapauff, Art. 81 Rn. 2; Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 3; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 18 f., 21 f.; Sodan / Haratsch, GG Art. 81 Rn. 5; Jarass / Pieroth, GG Art. 81 Rn. 2; Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 3; Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 16; Parlamentsrecht / Schulz § 46 Rn. 12; Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 187 f. 417 Ausführlich Kapitel 3 C. II. 418 So Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 19. 419 Stellvertretend für viele Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 18 f.; Sodan / Haratsch, GG Art. 81 Rn. 5; Jarass / Pieroth, GG Art. 81 Rn. 2; Alternativ Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 16; Parlamentsrecht / Schulz, § 46 Rn. 12; Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 187 f. 416
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kanzlers im Amt wird auch als ungeschriebene420 Voraussetzung gesehen. Diese ist bereits denklogisch notwendig: Ein zurückgetretener Bundeskanzler muss den Erfolg der regierungsinitiierten Gesetzesvorhaben nicht mehr anhand der Instrumentalisierung eines außerordentlichen Gesetzgebungsverfahrens sichern. Ein aus Sicht des Bundespräsidenten auflösungsreifer und damit aufzulösender Bundestag wird im Hinblick auf die damit erledigten Abgeordnetenstellungen seine Mandate um überhaupt über Gesetzesvorlagen abzustimmen in absehbarer Zeit verlieren.421 Art. 81 GG soll und kann nur einer noch amtierenden Bundesregierung zur politischen Handlungsfähigkeit verhelfen. Da die Ämter von Bundesministern gemäß Art. 69 Abs. 2, 2. Fall GG mit der Erledigung des Kanzleramtes beendet werden, kommt es hier maßgeblich auf den Verbleib des Bundeskanzlers, nicht aber auf den Verbleib der gesamten Bundesregierung, im Amt an. Im Falle eines mit der abgelehnten Vertrauensfrage einhergehenden Rücktritts einzelner Bundesminister hätte der Mehrheits- sowie auch der Minderheitskanzler (nicht: der Geschäftskanzler422) das Recht, die Ministerämter gemäß Art. 64 Abs. 1 GG neu zu besetzen. Ferner impliziert der Verbleib des Bundeskanzlers im Amt auch, dass das Parlament nicht in der Lage ist, das konstruktive Misstrauensvotum aus Art. 67 GG erfolgreich durchzuführen, mithin einen Bundeskanzler mit absoluter Kanzlermehrheit aus Art. 121 GG zu wählen. Das Erfordernis einer Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes würde sich gar nicht erst stellen, wenn der Bundestag sich in der Lage versähe, sich mehrheitlich auf einen neuen Bundeskanzler zu einigen oder sogar eine neue Mehrheitskoalition zu bilden.423 (2) Das Scheitern einer Gesetzesvorlage Weiter erfordert Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG das Scheitern einer Gesetzesvorlage. Dabei ist der Terminus „Scheitern“ weit zu fassen. Ein solches ist anzunehmen, wenn der Bundestag die Vorlage424 explizit ablehnt, indem er das Quorum der einfachen Mehrheit aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG nicht erfüllt425, die Gesetzesinitiative über einen unangemessenen Zeitraum nicht behandelt426, zweifach eine Abstim 420
So etwa Hömig / Wulff / Schnapauff, GG Art. 81 Rn. 2. Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 21 f. 422 Jarass / Pieroth, GG Art. 69 Rn. 3; Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 75 f.; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 61; Stern, Staatsrecht II, S. 297; Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (109); Puhl, Die Minderheits regierung nach dem Grundgesetz, S. 186 m. w. N. Zu den Kompetenzen des Geschäftskanzlers gegenüber dem nach Art. 63 GG gewählten Kanzler siehe Kapitel 4. 423 Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 20. 424 Unerheblich ist, so Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 bzw. Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 3, wer die Gesetzesvorlage im Vorfeld eingebracht hatte. Sie muss nicht zwangsläufig durch die Bundesregierung initiiert sein. 425 Zum Beispiel Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237; Mangoldt / Klein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 23. 426 Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 4. 421
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mung im Bundestag wegen seiner Beschlussunfähigkeit nach § 99 Abs. 2 GO BT unterbleibt427 oder das Gesetz in einer für die Bundesregierung unannehmbaren Fassung beschließt428. Im letzteren Falle liegt das Kriterium der Unannehmbarkeit ausschließlich im politischen Ermessen der Bundesregierung.429 Grund hierfür ist der Rechtsgedanke aus Art. 81 Abs. 2 GG430: Danach stimmt der Bundestag bei seiner weiteren Beteiligung nach Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes über die Annahme oder Ablehnung einer bestimmte Gesetzesvorlage erneut ab. Lehnt er dann die Gesetzesvorlage ab oder nimmt sie in einer für die Bundesregierung unannehmbaren Fassung an, bedarf es für das Zustandekommen noch der Zustimmung des Bundesrates. Dies dient der Sicherung vom Sinn und Zweck des Gesetzgebungsnotstandes. Stellt der Gesetzgebungsnotstand ein Instrument zugunsten der Bundesregierung und des Erfolgs ihres Gesetzesvorhabens dar, liefe ein Abänderungsrecht zur Verhinderung des jeweiligen Gesetzes ebendiesem Sinn zuwider. Daher soll ein Gesetz auch dann als gescheitert anzusehen sein, wenn der Bundestag das Gesetz zwar faktisch angenommen hat, indem die Hälfte der abstimmenden Mitglieder das Gesetz billigt, wenn der Inhalt des Gesetzes das Vorhaben der Bundesregierung aber konterkariert. Das freie431 bzw. insoweit politische Ermessen der Bundesregierung in Bezug auf die Unannehmbarkeit der beschlossenen Gesetzesfassung432 unterliegt hier wie auch sonstiges Ermessen von Exekutivorganen nur der eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle, da es auf einer „Einschätzung, Wertung und Beurteilung politischer Vorgänge und Verhältnisse [beruht]“.433 Im Ergebnis führt jede unangemessene Verzögerung aus verfahrensrechtlichen Gründen oder verweigernden Erwägungen des Bundestages sowie die explizite Ablehnung durch Nichtannahme oder implizite Ablehnung durch Abänderung zum Scheitern der Gesetzesvorlage im Sinne des Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG. (3) Dringlichkeit der Gesetzesvorlage Schließlich müsste die Gesetzesvorlage im Vorfeld durch die Bundesregierung als dringlich bezeichnet worden sein. Die Bezeichnung eines Gesetzes als „dringlich“ steht ebenfalls ausschließlich im freien Ermessen der Bundesregierung selbst. 427
Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 18. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 44; Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 18 f.; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 25; Hömig / Wulff / Schnapauff, GG Art. 81 Rn. 3; Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 3; BeckOK GG / Pieper, Art. 81 Rn. 4 f. 429 Zur Intention des Gesetzgebers siehe Allgemeiner Redaktionsausschuss Drucks. 374 vom 16. 12. 1948. 430 Siehe im Folgenden Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 4; BeckOK GG / Pieper, GG Art. 81 Rn. 4.1. 431 Zum Begriff des freien Ermessens und seinen Grenzen: Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Ermessenskontrolle, in: SJZ 1948, S. 741 (743). 432 So Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 19. 433 BVerfGE 62, 1 (50); siehe auch BVerfGE 46, 160 (164 f.); 49, 89 (131); 55, 349 (364 f.). 428
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Die Bezeichnung hat durch die Bundesregierung als Kollegialorgan zu erfolgen.434 Dabei ist der Terminus „Dringlichkeit“ nicht als eine rein zeitliche Komponente zu interpretieren. Vielmehr ist Dringlichkeit im Sinne einer Erforderlichkeit oder Notwendig- sowie Zweckmäßigkeit435 zu verstehen: Es muss sich um ein inhaltlich bedeutsames Vorhaben handeln, das sich für das Weiterregieren als essenziell darstellt. Ein Beispiel hierfür ist die Verabschiedung des Haushalts.436 Die Bezeichnung als dringliches Gesetzesvorhaben bezweckt, dass die Abstimmung auf Verlangen der Bundesregierung Eingang in die Tagesordnung der nächsten Sitzung des Bundestages finden muss, ein Absetzen von der Tagesordnung ist in diesem Falle gemäß § 99 GO BT nur einmal möglich. Der Bundestag ist mithin gezwungen, zumindest in der übernächsten Sitzung über die Gesetzesinitiative abzustimmen. bb) Zweite Alternative: Art. 81 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art. 68 GG Gemäß Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG besteht ein Erklärungsgrund auch dann, wenn eine mit einer Gesetzesvorlage verbundene Vertrauensfrage (auch: „konkretisierte Vertrauensfrage“437) abgelehnt wurde. Damit knüpft auch die zweite Form des Erklärungsgrundes an eine gescheiterte Vertrauensfrage aus Art. 68 GG an. (1) Scheitern einer mit einer Gesetzesvorlage verbundenen Vertrauensvorlage Die Tatsache, dass eine Vertrauensfrage und eine Gesetzesvorlage verbunden werden, führt zu mehreren Problemstellungen.438 Es herrscht Uneinigkeit darüber, ob die Gesetzesvorlage und die Vertrauensfrage einheitlich abzustimmen sind; in diesem Zusammenhang wird unterschiedlich beurteilt, ob der Bundeskanzler die Kompetenz besitzt, eine einheitliche Abstimmung zu veranlassen. Weiter ist umstritten, welche Rechtsfolgen aus den spezifischen Abstimmungsergebnissen zu ziehen sind. Die Klärung der aufgezeigten Problematiken ist relevant, um zu bewerten, inwieweit im Rahmen von Art. 81 GG tatbestandliche Hürden auferlegt werden und welche Konsequenzen sich bereits durch die tatbestandliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsnotstands für die Effektivität des Art. 81 GG abzeichnen. 434 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237; Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 4; Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 3; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 32 f.; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 23. 435 Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Ermessenskontrolle, in: SJZ 1948, S. 741 (743). 436 BeckOK / Pieper, GG Art. 81 Rn. 4.1. 437 Haass, Vertrauensnotstand – Konkretisierte Vertrauensfrage und politische Instabilität, in: BayVBl. 2004, S. 204. 438 Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 13 ff. erkennt hier insgesamt drei Problemkreise, dabei findet die Frage, ob der Bundeskanzler die Kompetenz zu Stellung eines einheitlichen Antrages besitzt, keine Berücksichtigung.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
(a) Einheitliche Abstimmung über Vertrauensfrage und Gesetzesvorlage? Problematisch ist, ob über die Vertrauensfrage und Gesetzesvorlage einheitlich, das heißt in nur einem Abstimmungsverfahren mit nur einer Stimme für beide Fragen, abgestimmt wird. Das würde konkret bedeuten, dass ein „Ja“ zur Gesetzesvorlage automatisch ein „Ja“ zur Vertrauensfrage meint; umgekehrt wäre ein „Nein“ zur Gesetzesvorlage auch ein „Nein“ zur Vertrauensfrage. Es ist danach zu fragen, was „Verbindung“ im Sinne des Art. 81 GG bedeutet. Hierzu ging Jellinek davon aus, Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG bedeute insgesamt, dass das Einbringen der zum Gesetzgebungsnotstand führenden Gesetzesvorlage bereits bei der Stellung der Vertrauensfrage erfolgen könne. Dies habe zeitliche Vorteile: So müsste die Bundesregierung mit der „Einbringung einer solchen privilegierten Vorlage […] warten, bis die Vertrauensfrage verneint worden ist“439. Jellinek begründet seine Auffassung mit dem Verhältnis von Art. 81 und Art. 68 GG: So soll lediglich der Schluss von Art. 68 auf Art. 81 GG möglich sein, nicht aber umgekehrt. Die hieße, dass nicht jede Ablehnung einer Gesetzesvorlage gleichzeitig die Versagung des parlamentarischen Vertrauens gegenüber dem Bundeskanzler anzeigt. Vielmehr hätte es das Grundgesetz explizit normieren müssen, wenn aus der Ablehnung einer Gesetzesvorlage ein Erklärungsgrund zum Gesetzgebungsnotstand resultiere oder zu der Auflösung eines Bundestages führen solle.440 Der Art. 68 ist demnach dem Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG sowohl zeitlich als auch sachlich vorgelagert, denn erst die Versagung des Vertrauens und die danach oder währenddessen abgelehnte Vertrauensfrage kann das weitere Verfahren des Gesetzgebungsnotstandes nach sich ziehen. Schließlich, so Jellinek, könne ein Abgeordneter der Koalitionsfraktionen dem Bundeskanzler formal das Vertrauen aussprechen; gleichwohl könne er einzelne Gesetzesvorlagen des Bundeskanzlers ungeachtet seines prinzipiellen Vertrauens ablehnen. Auf diese Weise können einzelne Sachfragen abweichend vom Programm des Bundeskanzlers beantwortet werden, ohne sich aus der Koalition zurückzuziehen. Die Koalition werde so vor ihrem Zerbrechen geschützt. Auch Schönberger441 sieht in der „Verbindung“ einen rein zeitlichen Zusammenhang zwischen der Vertrauensfrage und der Abstimmung über die Gesetzesvorlage. Die zeitliche Verbindung suggeriere die Wichtigkeit der Gesetzesvorlage; letztlich würde aber getrennt abgestimmt.442 Schönberger begründet seine Ansicht mit dem im Grundgesetz gezeichneten Regel-Ausnahme-Verhältnis von parlamen 439 Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (14). 440 Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (12). 441 Im Folgenden Schönberger, Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2002, S. 211; zustimmend auch Jarass / Pieroth GG Art. 81 Rn. 3. 442 Schönberger, Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2002, S. 211 (212).
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tarischer Verfahrensautonomie und den Kompetenzen des Bundeskanzlers, bestimmte Verfahrensvorgaben zu determinieren: Es entspreche dem schon in den Vorgängerverfassungen geltenden Regelverhältnis443, dass allein das Parlament angesichts seiner im parlamentarischen Regierungssystem herrschenden parlamentarischen Geschäftsautonomie über die Einheitlichkeit einer Stimmabgabe beim Vorliegen mehrerer Anträge bzw. Sachfragen entscheiden könne. Dies folge bereits aus der Gewaltenverteilung im Grundgesetz und den hierfür einschlägigen Vorschriften aus Art. 38 ff. GG bzw. Art. 62 ff. GG.444 Der Terminus „Verbindung“ sei dem Verfassungsrecht im Übrigen fremd, für das Parlamentsrecht sei er angesichts der Vorschrift des § 24 GO BT dagegen als Verbindung der Beratungen definiert: Danach kann der Bundestag jederzeit eine gemeinsame Beratung von gleichartigen oder im Sachzusammenhang stehenden Verhandlungsgegenständen beschließen. Eine gemeinsame Beratung meine aber keine Verbindung im Sinne einer einheitlichen Abstimmung.445 Eine einheitliche Abstimmung kenne das geltende Geschäftsordnungsrecht nur ausnahmsweise in § 80 Abs. 4 GO BT, wonach eine einheitliche Abstimmung nur im Bereich des vereinfachten Überweisungsverfahrens an einen Ausschuss von Gesetzes wegen möglich sei. Selbst in diesem gesetzlich geregelten Fall stehe die einheitliche Abstimmung dem Bundestag insoweit zur Disposition, als dieser das Verfahren gemäß §§ 80 Abs. 4 S. 3, 47 GO BT dennoch trennen könne.446 Der Bundeskanzler hingegen könne die einheitliche Abstimmung anberaumen, soweit ihm hierfür eine explizite Kompetenz durch das Grundgesetz zugeschrieben wird. Dies sei im Rahmen von Art. 81 GG nicht ersichtlich. Etwaige Stabilitätsargumente greifen hier, so Schönberger nicht, denn im Rahmen von Art. 81 GG ginge es angesichts der zeitlichen Begrenzung nicht um die Herstellung einer dauerhaften Stabilität.447 Nach anderer, nunmehr herrschender Ansicht448 soll eine Verbindung von Gesetzvorlage und Vertrauensfrage dergestalt möglich sein, dass einheitlich abge 443
So führt Schönberger an, es habe vor Inkrafttreten des GG keine Vertrauensfrage und damit erst recht keine einheitliche Abstimmung über eine mit der Vertrauensfrage verbundene Sachfrage gegeben. Die Weimarer Reichsverfassung eröffnete zwar die Möglichkeit eines destruktiven Misstrauensvotums des Reichstages gegenüber dem Reichskanzler und den einzelnen Reichsministern in Art. 54 S. 2 WRV, jedoch war eine formalisierte Vertrauensfrage der Verfassung fremd. Die Verbindung von Vorlagen insgesamt sei historisch schon immer eine Frage des Parlamentsrechts gewesen. Siehe ders., Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2012, S. 211 (213) m. w. N. 444 Schönberger, Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2002, S. 211 (213). 445 Roll, § 24 GO BT Rn. 1. 446 Schönberger, Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2002, S. 211 (214). 447 Schönberger, Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2002, S. 211 (215). 448 Soweit ersichtlich als erster Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237; dem folgend Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 6; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 28; Stern, Staatsrecht II, S. 1379; Haass, Vertrauensnotstand – Konkretisierte Vertrauensfrage und politische Instabilität, in: BayVBl. 2004, S. 204.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
stimmt wird. Eine solche einheitliche Abstimmung mit nur einer Stimme für die kombinierten Anträge ist aus mehreren schwerwiegenden Gründen zu präferieren: Neben der Praktikabilität und der schnelleren Herbeiführung einer Entscheidung durch eine statt zwei erforderlichen und ergo zeitintensiveren Abstimmungen449 sprechen insbesondere teleologische Erwägungen für eine einheitliche Abstimmung. So stünde es dem Bundestag offen, im Falle einer gesonderten Abstimmung von Gesetzesvorlage und Vertrauensfrage, dem Bundeskanzler zum „Schein“ sein Vertrauen auszusprechen; die Gesetzesvorlage könnte der Bundestag ohne Konsequenzen ablehnen. Dem Argument Jellineks, durch eine einheitliche Abstimmung könnten bestehende Koalitionen beseitigt werden, ist entgegenzuhalten, dass einer Koalitionsfraktion, die nicht bereit ist, Sachfragen entsprechend der vom Bundeskanzler gemäß Art. 65 S. 1 GG bestimmten Richtlinienpolitik zu unterstützen, ohnehin das für eine Koalition nötige Mindestmaß einer Einheitlichkeit bzw. einer Einigungsfähigkeit als notwendige Voraussetzungen für das Funktionieren einer Koalition fehlt. Impliziert das Tragen der Regierungsverantwortung auch das (Mit-)Tragen von politischen, ggf. auch unpopulären Entscheidungen des Koalitionspartners, weil die Basis des gemeinsamen Bündnisses durch vorherige Einigung zu Sachfragen geschaffen wurde, erscheint eine bloß formale Aussprache des Vertrauens dagegen gerade als Regierungsflucht. Die Möglichkeit einer getrennten Abstimmung bietet dann die Möglichkeit, sich insoweit der Regierungsverantwortung zu entziehen. Durch die Verbindung von Vertrauensfrage und Sachantrag intendiert der Bundeskanzler nicht nur die Klärung der Mehrheitsverhältnisse, sondern auch die Annahme eines bestimmten Gesetzes. Er gibt damit zu verstehen, dass die Aussprache des Vertrauens auch die Annahme eines solchen Gesetzes erfordert, das untrennbar zu seinem Regierungsprogramm gehört.450 Der Bundeskanzler intendiert, eine etwaig bestehende Regierungskoalition (soweit eine Mehrheitsregierung nach Art. 63 Abs. 1 bis 3 GG besteht) zu disziplinieren oder das Parlament durch Androhung der Auflösung zur Bejahung des Vertrauens und Annahme des Gesetzes zu bewegen. Ein Bundeskanzler, dem indes nur formal das Vertrauen ausgesprochen wird, ohne dass die Richtlinien seiner Politik mitsamt entsprechender Gesetzesinitiativen unterstützt werden, ist ein handlungsunfähiger Bundeskanzler: Sofern die Voraussetzungen des Art. 68 GG nicht vorliegen, sind dem Bundeskanzler die Instrumente der Bundestagsauflösung wie auch das Initiieren des weiteren Verfahrens aus Art. 81 GG verwehrt – diesem Bundeskanzler bliebe letztlich nur der Rücktritt. Damit obliege es faktisch dem nur im Negativen geeinten Parlament, den Bundeskanzler zum Rücktritt zu zwingen, obgleich das Grundgesetz dem mit der Normierung eines konstruktiven anstelle eines destruktiven Misstrauens 449 Ginge man von einem bloß zeitlichen Zusammenhang aus, ist durchaus denkbar, dass zwischen dem Stellen der Vertrauensfrage und der Abstimmung über die Gesetzesvorlage mehrere Tage oder gar wenige Wochen liegen. 450 Vgl. Blischke, Verfahrensfragen des Bundestages im Jahr 1972, in: Der Staat 1973, S. 65 (72).
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votums in Form des Art. 67 GG eine Absage erteilt hat.451 Art. 81 GG hingegen bezweckt unter anderem die Sicherung der Handlungsfähigkeit einer Regierung in Bezug auf die Gesetzgebung, wenn sich das Parlament jeder Mehrheitsfindung verwehrt. Bei getrennten Abstimmungen entfaltet der Art. 81 GG seine präventive Wirkung452 nicht, es wird für die Regierungsfraktionen aber auch insgesamt für das destruktive Parlament kein Anreiz geboten, eine Sachfrage des Bundeskanzlers zu bestätigen; sie haben keine Bundestagsauflösung oder eine faktische Ausschaltung des Mandats im Bereich der Gesetzgebung zu befürchten.453 Dem Argument, eine einheitliche Abstimmung konterkariere das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Geschäfts- bzw. Verfahrensautonomie im parlamentarischen Regierungsgefüge, kann schließlich entgegengehalten werden, dass es durchaus auch der parlamentarischen Praxis entspricht, über Anträge auch gebündelt abzustimmen.454 Weiter ist fraglich, inwieweit die Geschäftsordnung des Bundestages angesichts ihrer Rechtsnatur und der untergeordneten Stellung innerhalb der Normenhierarchie455 wegen des in Art. 20 Abs. 3 GG statuierten Vorrangs der Verfassung überhaupt tauglich ist, einen Begriff des Grundgesetzes zu definieren: Bei der Geschäftsordnung handelt es sich nach herrschender Ansicht in der Literatur um einen „Rechtssatz sui generis“456 bzw. um eine von einem „Verfassungsorgan erlassene, individuell-abstrakte Regelung des Innenrechts“457. Zuletzt lässt auch der Wortlaut, der Begriff des „Verbindens“ eine derartige, die Position des Bundeskanzlers stärkende und das Parlament schwächende Auslegung zu: Der bloß zeitliche Zusammenhang ohne Sachbezug scheint nach dem Sprachgebrauch nicht der Intensität des Begriffs „verbinden“ zu entsprechen. So bedeutet „verbinden“, zwei oder mehrere voneinander entfernte Gegenstände durch Überbrücken des sie trennenden Abstands zusammenzubringen bzw. in eine engere Beziehung zu setzen.458
451
Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 16. Die präventive Wirkung des Art. 81 GG wird ausführlich in Kapitel 3 C. III. 4. a) behandelt. 453 Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 15. 454 Im Folgenden Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 15. 455 Schmidt-Aßmann, HStR II, § 26 Rn. 28; Ossenbühl, HStR V, § 101 Rn. 2; Kingreen, HStR XII, § 263 Rn. 1 ff., 26 ff.; Dreier / Schulze-Fielitz, GG Art. 20 Rn. 81 ff.; Mangoldt / Klein / Starck / Sommermann, GG Art. 20 Rn. 253. 456 Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, in: AöR 2003, S. 608 (613); ebenso Dreier / Morlok, GG Art. 40 Rn. 18; Maunz / Dürig / Klein, GG Art. 40 Rn. 61; Sachs / Robbers, GG Art. 52 Rn. 14. Die Bezeichnung der Geschäftsordnung als „autonome Satzung“ durch das BVerfG (st. Rspr. siehe BVerfGE 1, 144 (148); 44, 308 ff.; 70, 324 (360 ff.); 80, 188 (218); 84, 304 (321 f.)) wird aufgrund der untechnischen Verwendung des Begriffs „Satzung“ kritisiert, siehe hierzu Schmidt, ebd., 608 (611) m. w. N., zustimmend Parlamentsrecht / Cancik, § 9 Rn. 33. 457 Schmidt, Die Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane als individuell-abstrakte Regelungen des Innenrechts, in: AöR 2003, S. 608 (613). 458 https://www.duden.de/rechtschreibung/verbinden. 452
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Insgesamt sprechen die wörtlichen, systematischen, aber insbesondere die Erwägungen der Regierungskontinuität und -stabilität für eine einheitliche Abstimmung im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 S. 2 und der hierfür erforderlichen abzulehnenden Vertrauensfrage und gescheiterten Gesetzesvorlage. (b) Einheitliches oder gespaltenes Abstimmungsergebnis? Aus dem Erfordernis einer einheitlichen Abstimmung erwachsen weitere Probleme in Bezug auf die eintretenden Rechtsfolgen der möglichen Abstimmungsergebnisse. Keine Probleme bereiten diejenigen Fälle, in denen die auf „Ja“ lautenden Stimmen die Kanzlermehrheit im Sinne des Art. 121 GG erreichen bzw. die auf „Ja“ lautenden Stimmen auch das Quorum der einfachen Mehrheit aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG unterschreiten.459 Da für die Annahme des Gesetzes nur die einfache Mehrheit erforderlich ist, ist dieses Quorum immer dann ebenfalls erfüllt, wenn die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages auch die Vertrauensfrage bejaht. Hingegen wird das für die Vertrauensfrage erforderliche Quorum nicht erreicht, wenn mit der Anzahl der „Ja“-Stimmen die einfache Mehrheit unterschritten wird. Problematisch ist derjenige Fall, in denen die einfache Mehrheit aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG erfüllt ist, die auf „Ja“ lautenden Stimmen allerdings nicht die Mehrheit der Mitglieder des Bundestages umfassen. Als mögliche Rechtsfolgen sind drei Alternativen denkbar: – Die zwar einheitlich eingeholte Abstimmung ist hinsichtlich ihres Abstimmungsergebnisses zu spalten; die Rechtsfolgen treten damit jeweils für die im Einzelnen beantwortete Frage über das Vertrauen und die Gesetzesvorlage gesondert ein.460 – Das Quorum ist zu vereinheitlichen, dabei wird das für die Vertrauensfrage erforderliche Quorum dem Quorum des Gesetzgebungsbeschlusses angepasst, d. h. es wird insgesamt für beide Anträge auf die einfache Mehrheit herabgesetzt. – Das Quorum ist zu vereinheitlichen, dabei wird das für die Gesetzesvorlage erforderliche Quorum dem Quorum der Vertrauensfrage angepasst, d. h. es wird insgesamt für beide Anträge auf die absolute Mehrheit angehoben.461 459
Bücker, Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage, in: ZParl 1972, S. 292 (293); vgl. auch Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (238). 460 Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 19; Haass, Vertrauensnotstand – Konkretisierte Vertrauensfrage und politische Instabilität, in: BayVBl. 2004, S. 204 (205); Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 28; Bonner Kommentar / Klein, (1986) GG Art. 81 Rn. 49; Stern, Staatsrecht II, S. 1379. 461 So Bücker, Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage, in: ZParl 1972, S. 292 (294 f.).
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(aa) Herabsetzung des Quorums auf das Niveau aus Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG Die Vereinheitlichung der Quoren bei gleichzeitiger Herabsetzung des Quorums der Vertrauensfrage auf die einfache Mehrheit erweist sich als verfassungswidrig: Eine Herabsetzung führt dazu, dass das Erfordernis aus Art. 68 GG umgangen werden könnte, indem der Antrag auf Erklärung des Vertrauens mit einer Sachfrage kombiniert würde. Die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG soll jedoch gerade nur in „Lagen der politischen Instabilität“462 zur Anwendung kommen. Eine solche Instabilität kann angenommen werden, wenn der Bundeskanzler sich keiner stetigen mehrheitlichen Unterstützung im Parlament versieht und dadurch „eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene und unterstützte Politik des Kanzlers nicht mehr sinnvoll ermöglicht [ist]“463. Die Herabsetzung des Quorums eröffnet dem Bundeskanzler letztlich auch unter geringeren Voraussetzungen die Bundestagsauflösung; an diese sollen jedoch aufgrund der prinzipiellen auflösungsfeindlichen Ausrichtung des Grundgesetzes gerade erhöhte Anforderungen bestehen.464 Sie unterläuft damit fundamentale Mechanismen der Sicherung vor der missbräuchlichen Anwendung eingeräumter Kriseninstrumente zugunsten des Kanzlers und eröffnet den Weg einer unechten Vertrauensfrage465 zu einem für den Bundeskanzler und seine Wiederwahl vermeintlich günstigen Zeitpunkt. (bb) Erhöhung des Quorums auf das Niveau aus Art. 68, 121 GG Für eine generelle Festlegung des höheren Quorums im Sinne der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl (Art. 121 GG) sprechen zunächst systematische Gründe.466 So ordnet Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG als Grundsatz an, dass für einen Beschluss des Bundestages die Mehrheit der abgegebenen Stimmen erforderlich ist, „soweit dieses Grundgesetz nichts anderes bestimmt“. Art. 68 GG kann insoweit als speziellere Vorschrift zu sehen sein, sodass die nach der allgemeinen Regel die generelle Norm zurücktritt, „falls das Gesetz für die Beurteilung des Sachverhalts eine spezielle Norm zur Verfügung stellt“467. Zudem erhält die mit der Vertrauensfrage verbundene Sachfrage durch ebendiese Verbindung ein bedeutsameres Gewicht.468 Ferner ist Sinn und Zweck des Art. 81 Abs. 1 S. 2 i. V. m. Art. 68 GG zu klären, inwieweit eine Regierungskrise besteht, welche eine gesonderte Anwendung entsprechender Kriseninstrumente erforderlich macht. Nur wenn anhand des forma 462
BVerfGE 62, 1 (42). BVerfGE 62, 1 (49 f.). 464 BVerfGE 62, 1 (42). 465 BVerfGE 62, 1 (48 f.); 114, 121 (183). 466 Im Folgenden Bücker, Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage, in: ZParl 1972, S. 292 (295). 467 BVerfGE 13, 290 (296). 468 Bücker, Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage, in: ZParl 1972, S. 292 (295). 463
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
len Wahlaktes feststeht, inwieweit sich der Kanzler noch der Unterstützung sicher sein kann, erfüllt Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG auch den insoweit klärenden und damit Rechtssicherheit stiftenden Sinn und Zweck.469 Dem steht jedoch ein teleologisches Argument entgegen: Art. 81 GG soll die Gesetzgebung absichern. Es wäre sinnwidrig, das Mehrheitserfordernis zu erhöhen, wenn die Konsequenz wäre, dass die Bundesregierung die Gesetzesvorlage im Nachhinein erneut einbringen müsste, um diese im regulären Verfahren nach Art. 76 ff. GG mit der einfachen Mehrheit beschließen zu lassen, obgleich die einfache Mehrheit schon im Vorfeld sicher war.470 Eine Erhöhung des Quorums auf die absolute Mehrheit im Bereich einfacher Gesetzesbeschlüsse lässt sich nicht auf Basis der Bestimmungen des Grundgesetzes legitimieren.471 Aus diesem Grund ist derjenigen Ansicht zu folgen, die eine Spaltung der Rechtsfolgen als möglich ansieht, sodass eine Durchbrechung472 der im Grundgesetz angeordneten Mehrheitsverhältnisse nicht erfolgt; im Falle der Versagung des Vertrauens ist die Annahme des Gesetzes möglich, soweit jedenfalls das Quorum als Art. 42 Abs. 2 S. 1 GG erfüllt ist. (c) Auswirkungen auf Art. 81 GG und die Rechtsfolgen des Art. 68 GG Zuletzt stellt sich die Frage, ob die Annahme des Gesetzes bei gleichzeitiger Versagung des Vertrauens trotzdem im Weiteren zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes aus Art. 81 GG bzw. zur Auflösung des Bundestages nach Art. 68 GG führen kann. Es erscheint sachgerecht, den Eintritt der Rechtsfolgen gesondert anhand dessen zu beurteilen, ob die jeweiligen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen: Für Art. 81 GG ist erforderlich, dass die Gesetzesvorlage gescheitert ist; bezweckt wird damit die Sicherung der Gesetzgebung. Eine lediglich gescheiterte Vertrauensfrage reicht daher nicht aus, um im Weiteren die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands anzuregen.473 In Bezug auf Art. 68 GG ist im Einzelfall insbesondere zu konstatieren, ob aus Sicht des Bundeskanzlers die erforderliche Lage politischer Instabilität vorliegt, wenn zwar die Vertrauensfrage abgelehnt wurde, einfache Gesetze aber 469 Vgl. Bücker, Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage, in: ZParl 1972, S. 292 (294). 470 Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 18; siehe auch Münch / Kunig / Bryde GG Art. 81 Rn. 5; Haass, Vertrauensnotstand – Konkretisierte Vertrauensfrage und politische Instabilität, in: BayVBl. 2004, S. 204 (205). 471 Vgl. Blischke, Verfahrensfragen des Bundestages im Jahr 1972, in: Der Staat 1973, S. 65 (72). 472 So Kremer / Henkel, Parlamentsauflösung, S. 18. 473 Dreier / Brosius-Gersdorf, GG Art. 81 Rn. 16; Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 5; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 31; Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 20; Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 7; andere Ansichten entsprechend bei Bücker, Verbindung der Vertrauensfrage mit einer Gesetzesvorlage, in: ZParl 1972, S. 294 (294 f.) und Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (238).
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angenommen werden. Damit werden die für das jeweilige Kriseninstrument tatbestandlichen Restriktionen nicht ausgehöhlt. (d) Zwischenergebnis: Die Auslegungsfragen bei Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG Maximale Effektivität und Stabilität in Bezug auf die Anwendung des Art. 81 Abs. 1 S.2 GG verlangt insgesamt eine einheitliche Abstimmung, die Spaltung der Rechtsfolgen für Gesetzesvorlage und Vertrauensfrage sowie eine gesonderte Betrachtung in Bezug auf das Vorliegen der (darüber hinaus bestehenden) Tatbestandsvoraussetzung von Vertrauensfrage und Gesetzgebungsnotstand. (2) Erfordernis einer Dringlichkeitserklärung im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG? Das zusätzliche Erfordernis einer Dringlichkeitserklärung könnte sich daraus ergeben, dass der Wortlaut „das Gleiche“ sich auf sämtliche sonstige Voraussetzungen des Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG bezieht. Eine solche Auslegung ist abzulehnen. Stattdessen bezieht sich „das Gleiche“ im Sinne des Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG nur auf den Hauptsatz des Art. 81 Abs. 1 S. 1: „so kann der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates für eine Gesetzesvorlage den Gesetzgebungsnotstand erklären“.474 Zunächst wird eine mit der Vertrauensfrage verbundene Gesetzesvorlage regelmäßig auch als „dringlich“ zu bezeichnen sein, da ihr allein durch die Verbindung selbst eine hohe politische Relevanz zukommt. Zudem ist zu erwarten, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage angesichts ihrer hohen Anforderungen und ihrer politischen Bedeutung nur mit solchen Gesetzesvorlagen kombiniert, die ein dem entsprechenden Gewicht aufweisen. An die Stelle der Dringlichkeitserklärung tritt ergo die Erklärung des Bundeskanzlers über die Verbindung der Anträge.475 So hat Gerhard Schröder im Jahr 2001 den Antrag476 über den Einsatz bewaffneter deutscher Streitkräfte bei der Unterstützung der gemeinsamen Reaktion auf terroristische Angriffe gegen die Vereinigten Staaten von Amerika477 mit 474
Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (237 f.). Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 39 f.; zustimmend Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 7; Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 4; Blischke, Verfahrensfragen des Bundestages im Jahr 1972, in: Der Staat 1973, S. 65 (72). 476 Zu den Anträgen Bundestag, Drucks. 14/7740 vom 13. 11. 2001 (Antrag des Bundeskanzlers nach Art. 68 GG). Zwar handelte es sich hierbei nicht um eine Gesetzesvorlage, dennoch ist ein sogenannter wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt konstitutiv für die deutsche Beteiligung in Form von bewaffneten Auslandseinsätzen (BVerfGE 90, 286 (383)). Für entsprechende Anträge kann ein erst-recht-Schluss zu Gesetzesvorlagen gezogen werden. 477 Bundestag, Drucks. 14/7440; zur Debatte und Abstimmungsergebnis, siehe außerdem Plenarprotokoll 14/202 vom 16. 11. 2011, S. 19855 ff., 19893. 475
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der Vertrauensfrage verbunden. Der bewaffnete militärische Einsatz deutscher Streitkräfte bewirkt schwerwiegende gesellschaftliche wie auch diplomatische und völkerrechtliche Konsequenzen. Zweifellos kann hier von einem der Vertrauensfrage hinsichtlich ihrer Bedeutsamkeit und politischen Tragweite entsprechenden Antrag ausgegangen werden. Das zusätzliche Erfordernis einer Dringlichkeitserklärung erschöpft sich damit in einer formalen Anforderung, welche die tatbestandlichen Voraussetzungen des Gesetzgebungsnotstandes und seinen Sinn und Zweck weder näher beschreibt, umgrenzt oder fördert.478 Im Ergebnis ist eine explizite Dringlichkeitserklärung im Rahmen von Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG nicht notwendig. (3) Antrag von Bundesregierung und Beteiligung des Bundesrates Liegt ein Erklärungsgrund aus Art. 81 Abs. 1 S. 1 oder S. 2 GG vor, so übt die Bundesregierung als Kollegialorgan ihr Ermessen hinsichtlich der Frage aus, ob sie den Antrag auf Erklärung des Gesetzgebungsnotstands stellt. Für das Stellen des Antrages ist die Bundesregierung zwar an keine Frist gebunden, jedoch ist davon auszugehen, dass der Antrag aus Gründen der Rechtssicherheit alsbald zu stellen ist; im Falle eines unangemessen langen Abwartens ist eine Verwirkung des Rechts anzunehmen. Wegen der Beteiligung von Bundesrat und Bundespräsident als Kontrollinstanzen kann auf Tatbestandsebene aber auf ein explizites Fristerfordernis verzichtet werden.479 Schon der Antrag der Bundesregierung bezieht sich auf die in Rede stehende Gesetzesvorlage. Dies geht aus dem hier eindeutigen Wortlaut des Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG („Gesetzesvorlage“) hervor.480 Die Wirksamkeit des Antrags der Bundesregierung ist durch die Zustimmung des Bundesrates aufschiebend bedingt (§ 158 Abs. 1 BGB analog). Es bedarf mithin eines Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG entsprechenden Mehrheitsbeschlusses des Bundesrates.481 Dabei bezieht sich die Zustimmung des Bundesrates auf die Gesetzesvorlage in derjenigen Fassung, in welcher sie zunächst in das Parlament eingebracht und sodann von ebendiesem abgelehnt wurde. Die Zustimmung kann sich dabei nicht auf einzelne Teile des Gesetzes beziehen, sondern betrifft das abgelehnte Gesetz 478
Vgl. Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (238), der insoweit Kritik an der Ansicht Jellineks, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 übt. 479 So Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237, vgl. auch Alternativ- Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 21 und Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 34. 480 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237, so auch Stern, Staatsrecht II, S. 1378. 481 Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 5; siehe auch Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 34; Alternativ- Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 21.
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im Ganzen; auch eine Bündelung mehrerer Gesetze ist denkbar.482 Insbesondere betrifft die Zustimmung des Bundesrates nicht die förmliche Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes durch den Bundespräsidenten, denn die Wirksamkeit der Erklärung des Bundespräsidenten ist nicht aufschiebend bedingt durch die Zustimmung des Bundesrates. Sinn und Zweck der Beteiligung des Bundesrates in der ersten Verfahrensphase des Gesetzgebungsnotstandes ist die Sicherung der Unterstützung des Bundesrates.483 Fungiert dieser gemeinsam mit der Bundesregierung als sogenannte „Legalitätsreserve“484, indem der Beschluss von Gesetzen in Fällen des Gesetzgebungsnotstandes nur durch die Zustimmung des Bundesrates bedingt ist, soll frühzeitig feststehen, ob die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes überhaupt sinnvoll ist: die Ablehnung des Bundesrates in diesem Stadium zeigt an, dass eine Zustimmung nach Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes nicht zu erwarten wäre. Der Bundeskanzler wäre in diesem Fall gezwungen, alternative Versuche anzustellen, um das mehrheitliche Vertrauen des Parlaments (zurück-) zu gewinnen, indem er weitere Sondierungsgespräche für spätere Koalitionen initiiert oder anderweitig inhaltliche Mehrheiten durch politische Vereinbarungen mit anderen Fraktionen, etwa durch bestimmte, auszuhandelnde Zugeständnisse erzielt. Im Übrigen bliebe dem Bundeskanzler der Rücktritt bzw. der Antrag beim Bundespräsidenten zur Auflösung des Bundestages485 offen. Eine tatbestandliche Ausgestaltung des Gesetzgebungsnotstands, die eine frühzeitige Zustimmung in der Form der Beteiligung des Bundesrates vor Erklärung des Gesetzgebungsnotstands außer Acht ließe, würde einem politischen Stillstand einen weiteren zeitlichen Aufschub gewähren, anstatt unmittelbar und kurzfristig Lösungen für parlamentarische Zustimmungsblockaden zu liefern. Aus historischer Sicht erforderten föderale Interessen gegenüber unitarischen Bestrebungen die Beteiligung des Bundesrates im Rahmen von Art. 81 GG. Der Verfassungsgeber intendierte, auch in Fällen von Regierungskrisen eine Minderheitendiktatur auszuschließen und vielmehr die Bundesländer als entscheidende Instanz einzusetzen, um letztlich Entscheidungsmacht zu dezentralisieren.486 Die 482
Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 35 f. So Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 35. 484 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 37. 485 Es wird hier vertreten, dass im Falle des negativen Ausgangs der Vertrauensfrage aus Art. 68 GG ein entsprechendes Auflösungsbegehren nicht unmittelbar danach gestellt werden muss. Verbleibt dem Bundespräsidenten für seine Entscheidung hierüber eine Frist von 21 Tagen aus Art. 68 Abs. 1 S. 1 GG, so muss auch dem Bundeskanzler für seine Entscheidung über den Verbleib im Amt oder einen Antrag zur Auflösung ein gewisser zeitlicher Raum zugestanden werden. Verwehrte man diese Möglichkeit dem Bundeskanzler hätte dies im Falle der darauffolgenden Zustimmungsverweigerung des Bundesrates zur Folge, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage erneut stellen müsse, obgleich ihr negativer Ausgang von vorneherein feststünde. Eine solche rein formalistische Auffassung ist daher abzulehnen. 486 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, 237; ebenso Schneider, Gesetzgebung, Rn. 147. 483
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
Ausgestaltung resultiert auch aus den Erfahrungen der Weimarer Zeit: Während im Reichstag nur negative Mehrheiten gebildet wurden, blieb der Reichsrat dagegen funktionsfähig.487 b) Die zweite Phase: Die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch den Bundespräsidenten Der Gesetzgebungsnotstand ist gemäß Art. 81 Abs. 1 S. 1 GG durch den Bundespräsidenten zu erklären. Hierbei steht ihm ein eigenständiger Beurteilungs- und Handlungsspielraum zu; dies folgt bereits aus dem Wortlaut bzw. der Verwendung des Modalverbs „kann“. Die Rolle des Bundespräsidenten ist in diesem Zusammenhang nicht bloß auf Vollzugsakte sowie der Wahrnehmung repräsentativer Aufgaben beschränkt.488 Anders als der Bundestag, dessen Handlungsbefugnis insoweit auf Art. 67 oder Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG beschränkt ist, soll der Bundespräsident den Bundeskanzler jedenfalls mittelbar durch eine Versagung des Antragsbegehrens für die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes zum Rücktritt zwingen können489, um stattdessen eine nichtparlamentarische Übergangsregierung im Sinne des Art. 69 Abs. 3 GG zu ersuchen und zu dulden.490 Ähnlich wie im Rahmen der Vertrauensfrage nach Art. 68 GG stellt der Bundespräsident eine eigene politische Bewertung und Prognose hinsichtlich der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung im Bereich der Gesetzgebung bei bestehender Kräfteverteilung im Parlament an.491 Dabei hat der Bundespräsident dennoch die zuvor getroffene Einschätzung des Bundeskanzlers zu berücksichtigen: „Kommt der Bundeskanzler zu der Auffassung, daß seine politischen Gestaltungsmöglichkeiten bei den gegebenen politischen Kräfteverhältnissen im Rahmen des parlamentarischen Regierungssystems erschöpft sind, so kann der Bundespräsident nicht seine eigene Beurteilung der politischen Gegebenheiten an die Stelle der Auffassung des Bundeskanzlers setzen.“492
Damit erschöpft sich die Prüfung des Bundespräsidenten im Rahmen des Art. 81 GG in der Kontrolle der formalen Anforderungen sowie einer Kontrolle evidenter Verfassungsverstöße. Der Bundespräsident hat zu prüfen, ob eine rechtsmissbräuchliche Anwendung auf Seiten des Bundeskanzlers ernstlich zu befürchten ist.493 Stünde dem Bundespräsidenten hier ein demgegenüber erweitertes Ermessen zu, so käme ihm mittelbar die Disposition bezüglich der Gesetzesvorlage zu. Im Bereich der Gesetzgebung kommen dem Bundespräsidenten nach herrschen 487
Schneider, Gesetzgebung, Rn. 147. Vgl. BVerfGE 62, 1 (35). 489 Hömig / Wulff / Schnapauff, GG Art. 81 Rn. 2. 490 Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 3. 491 BVerfGE 62, 1 (50). 492 BVerfGE 62, 1 (50). 493 So Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 5; BeckOK GG / Pieper, GG Art. 81 Rn. 3. 488
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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der Auffassung ebenfalls nur ein formelles Prüfungsrecht sowie ein materielles Prüfungsrecht zu, das auf eine Evidenzkontrolle beschränkt ist.494 Die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes bedarf schließlich der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers im Sinne von Art. 58 S. 1 GG.495 Das Unterlassen der Erklärung bzw. Ablehnung des Gesetzgebungsnotstands ist nicht gegenzeichnungspflichtig, da sich Art. 58 S. 1 GG ausschließlich auf aktives Tun bezieht.496 Die Gegenzeichnung hat dabei wegen der hohen Bedeutung und gravierenden Rechtsfolgen ungeachtet des Sachbereichs der Gesetzesvorlage nicht vom hierfür das Ressort bekleidende Minister, sondern ausschließlich vom Bundeskanzler zu erfolgen.497 Eine Verweigerung der Gegenzeichnung durch den Bundeskanzlers ist denkbar, wenn sich etwa die Kräfteverhältnisse durch die (Neu-)Bildung einer Koalition, eines Tolerierungsmodells oder einer sonstigen neuen inhaltlichen Einigung insoweit verändert haben, als der Bundeskanzler die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands für nicht mehr erforderlich hält. Da es sich dabei um eine Entscheidung von schwerwiegender Bedeutung handelt, ist davon auszugehen, dass der Bundespräsident ungeachtet der nicht expliziten Anordnung hiervon im Grundgesetz die Erklärung im Bundesgesetzblatt zu verkünden hat.498 Insgesamt müssen damit vier Instanzen über die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands entscheiden: nach dem Antrag der Bundesregierung, bedarf es der Zustimmung hierfür durch den Bundesrat; sodann hat der Bundespräsident den Gesetzgebungsnotstand nach vorgenommener Prüfung zu erklären, zuletzt muss der Bundeskanzler die Erklärung nach Art. 58 GG gegenzeichnen. c) Die dritte Phase: Das Verfahren nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands und die Beschlussfassung Nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes durch den Bundespräsidenten für die jeweilige Gesetzesvorlage wird der Bundestag in der Weise am weiteren Gesetzgebungsprozess beteiligt, als ihm die Gesetzesvorlage gemäß Art. 81 Abs. 2 S. 1 GG erneut zum Zwecke der Abstimmung zugeht. Sofern der Bundestag die Vorlage dann ablehnt, sie in einer für die Bundesregierung unannehmbaren Fassung annimmt oder eine Abstimmung gänzlich unterbleibt (Art. 81 Abs. 2 S. 2 GG), 494 Stellvertretend für viele, siehe Schoch, Prüfungsrecht und Prüfungspflicht bei der Gesetzesausfertigung, in: ZG 2008, S. 209 (213). 495 So BeckOK / Pieper, GG Art. 81 Rn. 3; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 39; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 48; Bonner Kommentar / Klein, GG Art. 81 Rn. 44; andere Ansicht bei Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237. 496 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 58 Rn. 44. 497 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 52, zustimmend Parlamentsrecht / Schulz, § 46 Rn. 26; andere Ansicht bei Jarass / Pieroth, GG Art. 81 Rn. 2. 498 Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 24; ebenso Mangoldt / Starck / K lein / Brenner, GG Art. 81 Rn. 39.
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so kommt das Gesetz nach Art. 81 Abs. 2 S. 1 zustande, soweit der Bundesrat dem Gesetz nach Maßgabe des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG zustimmt. Die Zustimmung des Bundesrates kann sich entgegen des Wortlauts („soweit“) auch hier nur auf das Gesetz als Ganzes beziehen, um den Sinn und Zweck von Art. 81 GG, die effektive Sicherung der Gesetzgebung, nicht zu gefährden.499 Damit ist der Einfluss des Parlaments auf die Gesetzgebung beendet, soweit es das Gesetz nicht annimmt.500 Die Beschlussfassung des Gesetzes wird fingiert, das Gesetz „gilt“ als zustande gekommen, Art. 81 Abs. 2 S. 1 GG.501 Eine Fiktion ist eine Unterstellung, bei der etwas angenommen wird, was rechtlich sonst anders liegt oder anders zu behandeln (bewerten) wäre.502 Bezogen auf das durch den Gesetzgebungsnotstand erfolgende Gesetzgebungsverfahren indiziert die Fiktion, dass es sich bei dem Art. 81 GG nicht um ein alternatives Gesetzgebungsverfahren503 zu jenem aus Art. 76 ff. GG handelt. Für das Zustandekommen von Gesetzen bedarf es eines Parlaments beschlusses; dieser wird im Falle der Mitwirkung des Bundesrates fingiert.504 Das im Verfahren des Art. 81 GG beschlossene Gesetz ist ein Gesetz im formellen Sinne und ist ergo tauglicher Verfahrensgegenstand in den Verfahren aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 (abstrakte Normenkontrolle) bzw. Art. 100 Abs. 1 GG (konkrete Normenkontrolle)505. Es ist vom Bundespräsidenten ferner gemäß Art. 82 GG nach den allgemeinen Regelungen auszufertigen und zu verkünden.506 Das Gesetz unterscheidet sich hinsichtlich seiner Rechtsnatur bzw. seines Rangs nicht von solchen Rechtsnormen, die im regulären Gesetzgebungsverfahren nach Art. 76 ff. GG zustande gekommen sind.507 Das Gesetz unterliegt – wie sonstige Gesetze – grundsätzlich auch der Änderung im regulären Gesetzgebungsverfahren.508 Während der Dauer des Gesetzgebungsnotstandes darf ein im Gesetzgebungsnotstand 499 Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (32); derselben Ansicht sind Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 44; Dreier / Brosius-Gersdorf, GG Art. 81 Rn. 20; Stern, Staatsrecht II, S. 1381 m. w. N.; andere Ansicht bei Maunz / Dürig / Herzog GG Art. 81 Rn. 70; Börner, Der Gesetz gebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (238). 500 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (238). 501 Schneider, Gesetzgebung, Rn. 147. 502 Schneider, Gesetzgebung, Rn. 369. 503 Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 17. 504 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (238). 505 Vgl. Jellinek, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 3 (17 f.). 506 Hierfür spricht bereits die systematische Stellung des Art. 81 GG vor Art. 82 GG; siehe Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 9; Sachs / Nierhaus / Mann, GG Art. 82 Rn. 2. 507 Soweit ersichtlich einhellige Meinung, stellvertretend für viele siehe: BeckOK / Pieper, GG Art. 81 Rn. 6.1; Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 13 ff.; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 13 ff.; Bonner Kommentar / Klein, GG Art. 81 Rn. 68; Mangoldt / Klein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 14, 17, 46; Friauf / Höfling / Guckelberger, GG Art. 81 Rn. 44; Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 9. 508 Hömig / Wulff / Schnapauff, GG Art. 81 Rn. 3; BeckOK / Pieper, GG Art. 81 Rn. 6.1.
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beschlossenes Gesetz allerdings nicht durch den Bundestag geändert werden.509 Ein solches Änderungsverbot lässt sich mit auf den Rechtsgedanken aus Art. 81 Abs. 2 GG stützen: Das nur im Negativen geeinte Parlament soll nicht über Sachfragen entscheiden. Es gewinnt seine Kompetenz zur Normverwerfung nur dadurch zurück, dass es sich mehrheitlich auf einen anderen Bundeskanzler nach Maßgabe des Art. 67 GG einigt. Das Recht, soeben beschlossene Gesetze unmittelbar wieder aufzuheben, würde die Sicherungsfunktion des Art. 81 GG konterkarieren. Mit dem Verfassungszweck vereinbar wäre eine Änderung oder Aufhebung des Gesetzes, soweit die Gesetzesinitiative hierfür von der Bundesregierung selbst kommt.510 d) Tatbestandliche und teleologische Grenzen nach Art. 81 Abs. 3, 4 GG Der Gesetzgebungsnotstand dauert gemäß Art. 81 Abs. 3 S. 1 GG maximal sechs Monate an. Daneben endet die Frist, sobald der Bundeskanzler zurücktritt, ein neuer Bundeskanzler durch ein konstruktives Misstrauensvotum nach Art. 67 GG gewählt wird oder dadurch, dass der Bundestag dem Bundeskanzler das Vertrauen bei einer erneuten Vertrauensfrage wieder ausspricht.511 Als problematisch erweist sich die Frage, welche Wirkung die zeitliche Begrenzung für weitere Gesetzesvorlagen entfaltet. Bei dem Verweis des Art. 81 Abs. 3 S. 1 GG auf Art. 81 Abs. 1 GG handelt es sich um eine Verfahrenserleichterung512: es korrespondiert dem Sinn und Zweck des Art. 81 GG, das womöglich langwierige Verfahren der immer wieder zu stellenden Vertrauensfrage scheitern zu lassen und ausschließlich das Scheitern der Gesetzesvorlage ausreichen zu lassen, um im Folgenden das außerordentliche Verfahren aus Art. 81 GG durchzuführen. Ermöglicht der Gesetzgebungsnotstand eine Ausschaltung des destruktiven Parlaments für die Dauer von nur sechs Monaten, erschiene es sinnwidrig, immer wieder die Ablehnung der Vertrauensfrage einzuholen. Bei der Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes und den hierbei ausgeübten Ermessensentscheidungen von Bundeskanzler und Bundespräsident wird regelmäßig eine Zukunftsprognose anzustellen sein. Zudem endet die Frist, sobald ersichtlich ist, dass der Bundestag dem Bundeskanzler das Vertrauen wieder ausgesprochen hat. In diesen Fällen wird der Bundeskanzler aber regelmäßig auch keine (gehäufte Zahl von) Abstimmungsniederlagen erfahren; vielmehr wird das Verfahren aus Art. 81 GG allein deshalb schon 509 Soweit ersichtlich einhellige Meinung: Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 9; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 46; Dreier / Brosius-Gersdorf, GG Art. 81 Rn. 22; Stern, Staatsrecht II, S. 1383; Sodan / Haratsch, GG Art. 81 Rn. 19; Bonner Kommentar / Klein, GG Art. 81 Rn. 70. 510 Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 8; Sodan / Haratsch, GG Art. 81 Rn. 16; BeckOK GG / Pieper, Art. 81 Rn. 6.1; Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 9; Puhl fordert hierbei zusätzlich die Mitwirkung des Bundesrates, siehe ders., Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 200. 511 Hömig / Wulff / Schnapauff, GG Art. 81 Rn. 4. 512 Vgl. Klein, HStR VII, § 168 Rn. 35; zustimmend Parlamentsrecht / Schulz, § 46 Rn. 36.
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nicht zur Anwendung kommen, weil die jeweilige Gesetzesvorlage mit erhöhter Wahrscheinlichkeit nicht scheitert. Stattdessen verweist Art. 81 Abs. 3 S. 1 GG auf die sonstigen Verfahrensvoraussetzungen des Art. 81 Abs. 1 GG: erforderlich sind damit ein Antrag der Bundesregierung, die Zustimmung des Bundesrates, die Erklärung des Bundespräsidenten und die Gegenzeichnung des Bundeskanzlers. Teilweise wird die Dringlichkeitserklärung für entbehrlich gehalten.513 Allerdings ist hiergegen einzuwenden, dass die von der Bundesregierung zu äußernde Dringlichkeitserklärung dem Bundestag gegenüber signalisiert, dass durchaus die Bereitschaft bestehe, das außerordentliche Gesetzgebungsverfahren gegebenenfalls anzuwenden.514 Womöglich wird der Bundestag dadurch angehalten, sich inhaltlichen Debatten gegenüber offener zu zeigen und das Gesetz nicht unmittelbar abzulehnen. Zuletzt lässt sich eine Entbehrlichkeit der Dringlichkeitserklärung nicht durch den Wortlaut belegen.515 Der Gesetzgebungsnotstand kann gemäß Art. 81 Abs. 3 S. 2 GG in der Amtszeit desselben Bundeskanzlers nur einmal verkündet werden. Die Restriktion bezweckt, dass eine Gesetzgebung ohne Zustimmung des Legislativorgans bzw. die Durchbrechung der Gewaltenteilung nicht zum Regelfall wird.516 Ausgeschlossen sind gemäß Art. 81 Abs. 4 GG solche Gesetze, die das Grundgesetz (teilweise) ändern oder einzelne Bestimmungen des Grundgesetzes suspendieren.517 Sonstige Beschränkungen hinsichtlich der Art des Gesetzes, etwa für Haushaltsgesetze nach Art. 110 Abs. 2 GG, Kreditermächtigungsgesetze im Sinne des Art. 115 Abs. 1 oder Gesetze für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge nach Art. 59 Abs. 2 GG ergeben sich weder aus dem Wortlaut noch aus teleologischen Erwägungen.518 Dagegen ist Art. 81 GG nicht auf Wahlakte, gesetzesunabhängige Beschlüsse und Maßnahmen der parlamentarischen Kontrolle oder Selbstorganisation anzuwenden.519
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Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 48. Parlamentsrecht / Schulz, § 46 Rn. 37. 515 Klein, HStR VII, § 168 Rn. 35. 516 Sachs / Mann, GG Art. 81 Rn. 10; BeckOK / Pieper, GG Art. 81 Rn. 7; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 48. 517 Das explizite Verbot der Verfassungsänderung im Gesetzgebungsnotstand wäre angesichts der Existenz des Art. 79 GG, der die Grundgesetzänderung abschließend regelt, nicht zwingend gewesen; es ist nur deklaratorischer Natur, siehe Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (239); Dreier / Brosius-Gersdorf, GG Art. 81 Rn. 25. 518 Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 9; Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 49; andere Ansicht in Bezug auf die Zustimmung zu völkerrechtlichen Verträgen bei Klein, HStR XII. § 279 Rn. 39. 519 Klein, HStR XII, § 279 Rn. 39. Insbesondere wäre nicht denkbar, dass der wehrverfassungsrechtliche Parlamentsvorbehalt durch Art. 81 GG ersetzt würde, da diese Entscheidung von derart hohem gesellschaftlicher Bedeutung ist, dass eine parlamentarische Mitwirkung hier nicht fingiert werden kann. 514
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3. Der politische und verfassungsrechtliche Anwendungsbereich des Art. 81 GG Die vorgenommene Erläuterung der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 81 GG dient im Folgenden der Konkretisierung des politischen und verfassungsrechtlichen Anwendungsbereichs des Art. 81 GG. Namentlich geht es um die Frage, in welchen Situationen und unter dem Bestehen welcher Mehrheitsverhältnisse im Parlament und Regierungskonstellationen der Anwendungsbereich des Art. 81 GG eröffnet ist. Wie bereits eingangs beschrieben handelt es sich bei dem Gesetzgebungsnotstand nicht um eine Krise im „technischen“, sondern um eine solche im politischen Sinne: Die Krise besteht nicht in tatsächlichen Hindernissen, die ein Zusammenkommen und Beschließen von Gesetzen verhindert. Der Gesetzgebungsnotstand ist zugeschnitten auf jene Konstellationen, in denen im Parlament eine rein de struktive Mehrheit besteht.520 a) Politische Krise nach historischer Auslegung Für den Anwendungsbereich im Sinne einer politischen Krise sprechen zunächst historisch-systematische Aspekte521: Die Intention des Verfassungsgebers522, die Kontinuität der Regierung zu sichern, setzte einerseits die Errichtung eines konstruktiven – anstelle des in der Weimarer Reichsverfassung noch geltenden – destruktiven Misstrauensvotums voraus. So kann gemäß Art. 67 GG ein Regierungswechsel nur erfolgen, indem das Parlament einen Mehrheitskanzler wählt.523 Jedenfalls in formeller Hinsicht524 fordert das Grundgesetz somit, dass sich das dem Bundeskanzler und seiner Richtlinienpolitik verwehrende Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder auf einen neuen Kanzler einigt. Intendiert wird, dass ein Parlament, das nur im Negativen geeint ist und sich damit nicht in der Lage sieht, sich auf einen Mehrheitskandidaten zu einigen, den bislang amtierenden Bundeskanzler nicht stürzen kann.525 520 Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (31); Klein, HStR XII, § 279 Rn. 33 f. 521 Im Folgenden: Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (31). 522 Siehe nur Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 37. 523 Ausführlich hierzu Kapitel 3 B. II. 524 Art. 67 GG erfordert nur die Wahl eines formellen Mehrheitskanzlers. Es könnte sein, dass hier zum „Schein“ als Mittel des Regierungssturzes nur in formeller Hinsicht ein neuer Bundeskanzler gewählt wird, der im Folgenden dann „materiell“ aber nicht unterstützt wird. Es kann damit ein formeller Mehrheitskanzler in das Amt berufen werden, der in materieller Hinsicht aber nicht die Mehrheit des Vertrauens erhält und daher als materieller Minderheitskanzler einzustufen ist. 525 So auch Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237.
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Andererseits kann der Art. 67 GG526 die Regierung nur in ihrem Fortbestand, nicht aber in ihrer Funktionsfähigkeit hinreichend sichern.527 Dafür bedarf es eines weiteren Instruments: angesichts des herrschenden parlamentarischen Regierungsgefüges, in welchem insbesondere Gesetzgebung durch die parlamentarische Mitwirkung bedingt ist, muss der Regierung ein verfassungsrechtliches Instrument zur Verfügung stehen, das die Gesetzgebung sichert. Laut BVerfG und seiner Entscheidung zur Bundestagesauflösung III (2005)528 wird der Gesetzgebungsnotstand als Sicherungsmittel mit einem konstruktiven, eine absolute Mehrheit herstellenden „Ausweg“ aus der Krise in Form von Art. 67 GG kombiniert.529 Art. 81 GG, so Henkel, ist damit eine „notwendige Folge des konstruktiven Misstrauensvotums des Art. 67“530. b) Anknüpfung an das Vertrauen In systematischer Hinsicht knüpft Art. 81 GG unmittelbar an die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG an. Erforderlich ist, dass eine Vertrauensfrage ihren negativen Ausgang gefunden hat, der Antrag des Bundeskanzlers also abgelehnt wurde. Mithin bedingt der Gesetzgebungsnotstand das fehlende mehrheitliche Vertrauen des Bundestages. Mit Ausnahme des geschäftsführenden Bundeskanzlers (Art. 69 Abs. 3 GG) ist damit der Anwendungsbereich des Art. 81 GG prinzipiell jedem anderen Bundeskanzler eröffnet, der sich nicht (mehr) der mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung versieht. Die These, der Art. 81 GG diene dem Minderheitskanzler531, ist daher zu unscharf: So ist in diesem Zusammenhang zu klären, ob der Gesetzgebungsnotstand nur einer nach Art. 63 Abs. 4 S. 3, 64 GG gewählten Minderheitsregierung (formelle Minderheitsregierung) zukommt oder ob auch potentiell eine als Mehrheitsregierung ins Amt berufene Regierung den Gesetzgebungsnotstand beantragen könnte. Lässt sich der Anwendungsbereich des Art. 81 GG aus historischen und teleologischen Gesichtspunkten festlegen auf die Situation einer politischen Krise, die das störungsanfällige Verhältnis zwischen Parlament und Bundesregierung bzw. Bundeskanzler betrifft532, bedeutet das für eine Minderheitsregierung, dass auch 526 Im Rahmen des Art. 67 GG kann nur ein Mehrheitskanzler gewählt werden. Die „Mehrheit“ bezieht sich allerdings ausschließlich auf die formelle Wahl und die Berufung ins Amt. 527 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 37; siehe hierzu bereits Kapitel 3 B. II. 4. 528 Antrag des Bundeskanzlers Gerhard Schröder, Auflösung durch Bundespräsident Horst Köhler, siehe BVerfGE 114, 121. 529 BVerfGE 114, 121 (150). 530 Kremer / Henkel, S. 16; ebenso Füßlein / Matz, Die Entstehungsgeschichte des Grund gesetzes, in: AöR 1949, S. 346 (354). 531 So etwa Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (35), der davon ausgeht, „der Minderheitskanzler“ gerate leicht in „diese Lage“. 532 Klein, HStR XII, § 279 Rn. 19.
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hier eine Regierungskrise erkennbar sein muss. Es kommt maßgeblich darauf an, ob gegenwärtiges Vertrauen auf Seiten des Parlaments gegenüber der Regierung besteht. Das Vertrauen im Sinne des Art. 81 GG ist wie auch bei Art. 68 GG zu definieren als „die im Akt der Stimmabgabe förmlich bekundete gegenwärtige Zustimmung der Abgeordneten zu Person und Sachprogramm des Bundeskanzlers, mithin die förmliche Kundgabe der Bereitschaft, das zumindest in Umrissen vorgezeichnete Regierungsprogramm oder ein konkretes Verhalten, mit dem der Bundeskanzler die Vertrauensfrage verbindet, grundsätzlich zu unterstützen.“533
Von einer Regierungskrise ist allerdings nicht pauschal auszugehen, wenn eine Regierung nur einzelne Abstimmungsniederlagen erleidet. Vielmehr wäre zu fordern, dass die Abstimmungsniederlagen politisch von höchster Bedeutung wären oder die Anzahl der Niederlagen bereits die Annahme rechtfertigt, dass das künftige Regieren nicht erfolgreich verlaufen wird, weil weitere Niederlagen folgen. In Bezug auf eine formelle Minderheitsregierung ist der Anwendungsbereich als versperrt anzusehen, wenn ein durchweg funktionierendes Tolerierungsmodell vereinbart wurde. Dasselbe gilt für einen Bundeskanzler, der mit überwiegendem Erfolg Gesetzesvorlagen mit wechselnden Mehrheiten im Parlament verabschieden lässt. In diesen Fällen kann nämlich nicht davon ausgegangen werden, die Gesetzgebung leide unter einer gezielten Gesetzgebungsblockade. Zwar ist dies nur eingeschränkt von außen beurteilbar534, jedoch ist insbesondere im Falle eines vereinbarten Tolerierungsmodells objektiv, anhand der Abstimmungszahlen und dem Vergleich zwischen erfolgreichen Gesetzesinitiativen und Abstimmungsniederlagen, bestimmbar, ob eine Gesetzgebungsblockade vorliegt. Der Wortlaut sowie die systematische Stellung lassen des Weiteren keinen Ausschluss der formell als Mehrheitsregierung ins Amt berufenen Regierung erkennen; gleichwohl begrenzt der Wortlaut den Anwendungsbereich auch nicht explizit auf Minderheitsregierungen. Eine formell nach Maßgabe des Art. 63 Abs. 1 bis Abs. 3 GG ins Amt berufene Mehrheitsregierung kann nachträglich in materieller Hinsicht das Vertrauen des Parlaments verlieren. Entscheidend für die Eröffnung des Anwendungsbereichs von Art. 81 GG ist jedenfalls das fehlende Vertrauen zum Zeitpunkt der Antragsstellung und daraufhin erfolgenden Abstimmung ungeachtet der formellen Bestellung ins Amt des Bundeskanzlers im Rahmen des Art. 63 GG. Teilweise wird der Anwendungsbereich des Gesetzgebungsnotstandes auf denjenigen Fall festgelegt, dass im Parlament keine „demokratische Opposition“ zur Verfügung stehe. In einer demokratischen Grundordnung, in der „nicht Verfassungsfeinde, sondern eine demokratische Opposition zur Regierungsübernahme bereitsteh[e]“535, erfülle Art. 81 GG keine sinnvolle Funktion. In diesem Fall könnte ein konstruktives Misstrauensvotum aus Art. 67 GG Abhilfe schaffen. Dem ist ent 533
BVerfGE 62, 1 (37). BVerfGE 114, 121 (150). 535 Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 1. 534
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gegenzuhalten, dass die Bundestagswahl 2017 mit ihrer Regierungsbildung auch mit bei Koalitionsgesprächen involvierten nicht als verfassungsfeindlichen eingestuften Parteien, namentlich der FDP, scheiterte. Die Fraktion verweigerte als erste seit Beginn der Bundesrepublik die Regierungsverantwortung.536 Nur die Neuauflage der Großen Koalition mit der SPD, die durch ein knappes Mitgliedervotum ermöglicht wurde, schuf insoweit Abhilfe. Die Ansicht, Art. 81 GG sei überflüssig, solange nur demokratische Fraktionen die Opposition besetzten, verkennt aktuelle Phänomene wie die „Fraktionisierung“537 im Parlament und die angesichts der längeren Dauer der Koalitionsbildung gleichzeitige sinkende Koalitionsbereitschaft wegen fehlendem politischen Konsens. 4. Folgenabschätzung und Bewertung des Art. 81 GG Nach der Erläuterung der Tatbestandsvoraussetzungen und Definition des politischen und verfassungsrechtlichen Anwendungsbereichs des Gesetzgebungsnotstands soll nunmehr eine Folgenabschätzung bzw. Bewertung vorgenommen werden. Hier sollen insbesondere die Effektivität bzw. Praktikabilität des Gesetzgebungsnotstands, sein Missbrauchsrisiko sowie eine weitergehende Erläuterung der rechtlichen Wirkung und eine Bewertung dessen vorgenommen werden. Konkret soll abgeschätzt werden, welchen Beitrag der Gesetzgebungsnotstand insgesamt für die Regierungsstabilität bzw. für die Handlungsfähigkeit von formellen und / oder materiellen Minderheitsregierungen leistet. Dazu wird zunächst auf die präventive Wirkung des Art. 81 GG anhand der Durchbrechung der Gewaltenteilung und dem systematischen Zusammenhang mit Art. 68 GG eingegangen. Sodann sollen etwaige Missbrauchsrisiken, insbesondere durch den Vergleich des Art. 81 GG und dem Art. 48 WRV, abgewogen werden, ehe eine Überbrückungsfunktion des Art. 81 GG vor dem Hintergrund eines parlamentarischen Selbstauflösungsrechts als Alternative zum Gesetzgebungsnotstand als Instrument der Krisenbewältigung im Falle der fehlenden mehrheitlichen parlamentarischen Unterstützung der Regierung diskutiert wird. In diesem Zusammenhang wird das Verhältnis von Parlament und Regierung im Hinblick auf ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht mitsamt inhaltlicher Reformvorschläge diskutiert. Sodann wird erläutert, inwieweit die starke Einbindung des Bundesrates für Art. 81 GG problematisch sein könnte, des Weiteren werden bestehende und potentielle prozedurale Reformvorschläge für den Gesetzgebungsnotstand angeführt. Art. 81 GG findet keine Entsprechung in den Vorgängerverfassungen der Bundesrepublik Deutschland. Da es sich bei Art. 81 GG nicht um ein Notverordnungsrecht des Staatsoberhauptes handelt, ist der Regelungsgehalt des Art. 81 GG insbesondere auch nicht vergleichbar mit Art. 48 der Weimarer Reichsverfas 536 537
Ipsen, Eine verzögerte Regierungsbildung, in: Recht und Politik 2018, S. 208 (209). So zum Beispiel Schwarz, Neuregelung der Regierungsbildung?, in: ZRP 2018, S. 24.
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sung.538 Auch den Länderverfassungen ist ein Gesetzgebungsnotstand, wie er in Art. 81 GG geregelt ist, fremd. Die hier geregelten Notstände beziehen sich auf andere Anwendungsbereiche. So verzichten die Landesverfassungen regelmäßig auf den Erlass formeller Notgesetze durch Exekutivorgane; die hier mögliche Handlungsform sind Rechtsverordnungen.539 Tatbestandlich wird dabei an drohende Gefahren etwa für die freiheitlich demokratische Grundordnung des Landes bzw. für den Bestand des Landes540, für die lebensnotwendige Versorgung541 sowie an außerordentliche, dem menschlichen Einfluss entzogene Umstände wie Natur katastrophen542 der Eintritt besonderer Umstände543 angeknüpft. Ferner ist der Gesetzgebungsnotstand im Sinne des Grundgesetzes auch nicht auf europäischer Ebene in AEUV oder EUV für die supranationale Ebene angedacht. Weil es sich bei Art. 81 GG folglich um ein verfassungsrechtliches Unikat handelt, kann hier allenfalls eingeschränkt auf andere, vergleichbare Regierungsformen und entsprechende empirische Erfahrungen in Bezug auf die Praktikabilität des Gesetzgebungsnotstandes und seine Auswirkungen auf bestehende Regierungskrisen zurückgegriffen werden. Im Übrigen ist der Gesetzgebungsnotstand in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie praktisch geworden. Mit Ausnahme der Vertrauensfrage von Gerhard Schröder im Jahr 2001 wurde keine konkretisierte Vertrauensfrage im Bundestag gestellt.544 a) Die präventive Wirkung des Art. 81 GG Zunächst entfaltet Art. 81 GG eine präventive Wirkung: So sichert der Gesetzgebungsnotstand den regulären Gesetzgebungsprozess schon durch Androhung der dort gezeichneten Rechtsfolgen und allgemeinen rechtlichen Wirkungen ab: Dies geschieht anhand einer durch Art. 81 GG bewirkten Durchbrechung der Gewaltenteilung in Form der faktischen Ausschaltung der parlamentarischen Disposition über die Annahme, Ablehnung oder Änderung bestimmter Gesetzesvorlagen. Sinn und Zweck des Art. 81 GG ist der Ausschluss eines Regierungsverzichts aufgrund der Verweigerungshaltung des Parlaments im Gesetzgebungsprozess: Die Regierung soll nicht zum Rücktritt gezwungen werden, weil das Parlament 538
Ein ausführlicher Vergleich des Art. 48 WRV und Art. 81 GG findet sich in Kapitel 3 C. III. 4. b). 539 Parlamentsrecht / Schulz, § 46 Rn. 49. 540 Art. 62 LV Baden-Württemberg, Art. 112 RPLVerf; Art. 113 SALVerf. 541 Zum Beispiel Art. 62 BWLVerf. 542 Art. 112 RPLVerf; Art. 113 NDSLVerf, Art. 110 HessLVerf. 543 Art. 101 Abs. 2 BremLVerf. 544 Die Vertrauensfragen von Willy Brandt (1972), Helmut Schmidt (1982), Helmut Kohl (1982) und Gerhard Schröder II (2005) waren nicht mit Sachfragen verbunden, sondern wurden isoliert gestellt.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
sich den Gesetzesvorlagen gänzlich versperrt.545 Der Gesetzgebungsnotstand soll den Bundestag daher für eine Dauer von sechs Monaten einmalig während der Amtszeit desselben Bundeskanzlers aus dem Gesetzgebungsprozess verdrängen. Art. 81 GG wirkt somit darauf hin, dass der Bundestag nicht unreflektiert die Vertrauensfrage des Art. 68 GG ablehnt: verneint er die Vertrauensfrage, mündet dies nicht im Automatismus einer Parlamentsauflösung. Dem Bundeskanzler steht es frei, in seinem Amte zu verbleiben oder zurückzutreten.546 Der Bundestag dagegen hat zu befürchten, dass er vom Gesetzgebungsprozess „ausgeschlossen“ wird und damit Gesetze durch die Bundesregierung und den Bundesrat erlassen werden, die dem Bundestag unerwünscht sind. Die Gewaltenteilung erfährt dadurch eine Durchbrechung. Weil das Parlament noch immer in den Gesetzgebungsprozess involviert ist und zunächst abstimmen kann bzw. erneut in der zweiten Phase des Verfahrens abstimmen kann, ist keine Aufhebung der Gewaltenteilung gegeben.547 Im Gegensatz zur Weimarer Reichsverfassung ist eine unbedingte Herrschaft des Parlaments über die Regierung, wie sie in Art. 54 bzw. 68 WRV niedergelegt war, nicht gegeben.548 Das Parlament ist wegen der Existenz des Gesetzgebungsnotstandes eher dazu angehalten, sich dem inhaltlichen Diskurs bei Sachfragen zu stellen oder eine Minderheitsregierung zu tolerieren, anstatt ihr das Vertrauen zu verweigern und damit einen Zustand zu erzeugen, der den legislativen Interessen zuwiderliefe. Ihm obliegt es, eine „konstruktive Opposition“549 zu betreiben bzw. einer Zusammenarbeit mit der Bundesregierung im Sinne des Modells wechselnder Mehrheiten zuzustimmen.550 Hierdurch hätten einzelne Fraktionen noch die Möglichkeit, dennoch inhaltlichen Einfluss auf die Gesetzgebung zu üben und politische Zugeständnisse der Bundesregierung zu erwirken. Den faktischen Ausschluss von der Gesetzgebung hätte der Bundestag derweil selbst zu verantworten.551 Art. 81 GG entfaltet insoweit auch unmittelbare Wirkung für Art. 68 GG552: Art. 81 GG verleiht der Vertrauensfrage gemeinsam mit der Gefahr der Bundestagsauflösung als mögliche Rechtsfolge des Art. 68 GG ein besonderes Gewicht. So kann das aus Art. 68 GG hervorgehende Drohpotential entfaltet werden.553 Die Ablehnung der Vertrauensfrage ist damit als Vorstufe zum Gesetzgebungsnotstand zu sehen.554
545 Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (31), Nettesheim, HStR II, § 62 Rn. 20 f. 546 Zum Ermessen siehe BVerfGE 62, 1 (50). 547 Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 9. 548 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (239). 549 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 35. 550 Vgl. Münch / Kunig / Bryde, GG Art. 81 Rn. 8; ähnlich Schwerdtfeger, Krisengesetzgebung, S. 201 ff. 551 Mangoldt / Starck / K lein / Brenner, GG Art. 81 Rn. 8. 552 Bonner Kommentar / Klein, GG Art. 81 Rn. 2 m. w. N. 553 Ausführlich zum Drohpotential des Art. 68 siehe bereits Kapitel 3 C. II. 3. 554 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 81 Rn. 3.
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b) Diktatur der Minderheit in der Krise? Der festgestellten Durchbrechung der Gewaltenteilung könnte ein erhöhtes Missbrauchsrisiko korrespondieren. Die sich hieraus ergebenden etwaigen Bedenken sollen im Folgenden widerlegt werden. Zunächst muss denjenigen Einwänden begegnet werden, die auf historischen Erfahrungen – zu der konkreten Anwendung des Art. 48 Abs. 2 WRV – basieren. Hierzu ist auf die Unterschiede zwischen Art. 48 Abs. 2 WRV und Art. 81 GG abzustellen. Art. 48 Abs. 2 WRV ist nicht als Vorgängernorm des Art. 81 GG zu sehen. Gemäß Art. 48 Abs. 2 WRV konnte der Reichspräsident bei erheblichen Störungen oder der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung nötige Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Hierfür konnte er insbesondere Grundrechte ganz oder teilweise suspendieren. In der Verfassungspraxis wurden daraus weitreichende Befugnisse des Reichspräsidenten in Ausnahmelagen hergeleitet, Rechtsnormen zu erlassen oder außer Kraft zu setzen.555 Damit oblag allein dem Reichspräsidenten die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Bedenken eines Missbrauchsrisikos im Rahmen eines außerordentlichen Gesetzgebungsverfahrens können sich insbesondere wegen der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933556 ergeben, die auf Basis des Art. 48 Abs. 2 GG ergangen ist.557 Indes bestehen drei wesentliche Unterschiede zwischen Art. 48 Abs. 2 WRV und Art. 81 GG: – Art. 48 Abs. 2 WRV betrifft eine Staatskrise in Form eines inneren Notstandes; Art. 81 GG betrifft dagegen eine Regierungs- oder Koalitionskrise.558 Die Krise betrifft beim Gesetzgebungsnotstand eine fehlende Einigungsfähigkeit und das Verhältnis zweier Verfassungsorgane.559 – Art. 48 Abs. 2 WRV sollte die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung bewirken, während Art. 81 GG verschiedene Aufgaben zur Bewältigung oder Überbrückung einer Regierungskrise erfüllt. – Art. 48 Abs. 2 WRV räumte dem Reichspräsidenten nach dem in Weimar herrschenden Verständnis weitreichende Befugnisse ein. Bei Art. 81 GG ist dagegen die positive Mitwirkung sämtlicher politischer weitgehend personenverschiedener560 Verfassungsorgane außer jener des Bundestages erforderlich. Damit 555 Ausführliche Darstellung bei Gusy, Die zweifache „Diktatur“ des Reichspräsidenten, in: Der Staat 2019, S. 507. 556 Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. 02. 1933, siehe RGBl. 1933 I, S. 83. 557 Bonner Kommentar / Klein, GG Art. 81 Rn. 1; Alternativ-Kommentar / Ramsauer, GG Art. 81 Rn. 1 ff.; Flor, Staatsnotstand und rechtliche Bindung, in: DVBl. 1958, S. 149 (151); Fromme, Ausnahmezustand und Notgesetzgebung, in: DÖV 1960, S. 730 (732 ff.). 558 Dies war in der Weimarer Republik umstritten. 559 Vgl. im Folgenden Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 3. 560 Es besteht eine Inkompatibilität sämtlicher Ämter mit Ausnahme des Abgeordneten mandats und des Mitglieds in der Bundesregierung.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
unternimmt Art. 81 GG den Versuch, auch in Zeiten fehlenden mehrheitlichen Vertrauens die Gesetzgebungskompetenz als Machtfaktor nicht auf eine Instanz zu konzentrieren, sondern gezielt zu dezentralisieren. Art. 81 GG verhindert damit die Bestellung eines Diktators.561 – Art. 81 GG erlaubt keine Suspendierung von Grundrechten.562 Stattdessen erfolgt eine mögliche Suspendierung des Parlamentsvorbehalts563 bzw. des Grundsatzes, dass wesentliche Entscheidungen von dem Parlament zu treffen sind. Dem aus der Suspendierung des Parlamentsvorbehalts möglicherweise dennoch bestehenden Missbrauchsrisikos kann aber durch die Involvierung sämtlicher anderer Verfassungsorgane begegnet werden. Im Rahmen des Gesetzgebungsnotstands sind – wie bereits im Einzelnen für die einzelnen Verfahrensabschnitte564 dargelegt – vier Instanzen involviert. Demnach muss der Antrag zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands von der Bundesregierung als Kollegialorgan gestellt werden; er ist aufschiebend bedingt durch die Zustimmung des Bundesrates, dessen Unterstützung schon im Vorfeld des Gesetzgebungsnotstandes geprüft wird. Sodann übt der Bundespräsident ein tatbestandlich ungebundenes, an der Sachentscheidung der Bundesregierung orientiertes Ermessen aus, schließlich ist die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes gegenzeichnungspflichtig durch den Bundeskanzler. Die dem Bundestag durch Ausschluss entzogene Kompetenz wird damit nicht einer allein entscheidenden Instanz auferlegt, sondern, so Börner, in einem ausgefeilten System von checks and balances atomisiert und damit neutralisiert. Damit [sei] eine ‚Diktatur der Minderheit‘ ausgeschlossen“565. Dabei erschöpft sich die Machtdezentralisierung nicht bloß in der horizontalen Gewaltenteilung und der im Rahmen von Art. 81 GG angeordneten Verteilung der Entscheidung auf verschiedene Verfassungsorgane. Vielmehr wird die Kompetenz auch auf vertikaler Ebene dezentralisiert: So wird zugunsten föderaler Bestrebungen auch der Bundesrat involviert, sodass die Zustimmung der Bundesländer konstitutiv ist; diese müssen gleich zweimal zustimmen.566 Insgesamt ist der Gesetzgebungsnotstand nur erfolgreich, wenn alle politischen Verfassungsorgane außer dem Bundestag zustimmen.567
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A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 146 f., 152. Zur Verhandlung hierüber siehe Darstellung bei A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 147 ff. 563 BVerfGE 104, 151 (208); 121, 135. 564 Die einzelnen Verfahrensvoraussetzungen und die tatbestandliche Ausgestaltung des Art. 81 GG wurden ausführlich in Kapitel 3 C. III. 2. besprochen. 565 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (239). 566 Börner, Der Gesetzgebungsnotstand, in: DÖV 1950, S. 237 (239); Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 13. 567 Klein, HStR VII, § 268 Rn. 32. 562
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Neben der Machtdezentralisierung durch Verteilung auf verschiedene Akteure sorgt auch die zeitliche Begrenzung nach Art. 81 Abs. 3 GG und die nur einmal mögliche Anwendung für eine Minimierung des Missbrauchsrisikos.568 c) Die Überbrückungsfunktion des Art. 81 GG Der Art. 81 GG nimmt neben der präventiven Wirkung auch eine fundamentale Überbrückungsfunktion ein: Im Gegensatz zu einem förmlichen parlamentarischen Selbstauflösungsrechts, das die Wahlperiode direkt und vorzeitig beendet, kann Art. 81 GG diese um sechs Monate aufrechterhalten. Wird die Sinnhaftigkeit des Art. 81 GG bestritten, so wird zum Teil ein förmliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments gefordert. Im Folgenden werden Gesetzgebungsnotstand sowie die Vertrauensfrage und das zum Teil geforderte parlamentarische Selbstauflösungsrecht im Hinblick auf die Regierungsstabilität gegeneinander abgewogen. Fraglich ist, ob ein Selbstauflösungsrecht die Regierungsstabilität im Allgemeinen fördert oder womöglich gefährdet. Schließlich werden auf Basis der in diesem Zusammen hang gewonnenen Erkenntnisse über das parlamentarische Regierungssystem und seine Regierungsstabilität oder -instabilität durch parlamentarische Selbstauflösungsrechte sachdienliche Reformvorschläge unterbreitet. aa) Die Reformbestrebungen für ein förmliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments Die im Dezember 1976 von der Enquete-Kommission vorgelegten Vorschläge569 zur Reform des Grundgesetzes enthielten unter anderem den Vorschlag, neben der Bewahrung des Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG und Art. 68 GG als mögliche Auflösungen des Parlaments ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht in den Art. 39 zu integrieren. Die Enquete-Kommission empfahl, ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht einzufügen. Art. 39 Abs. 2 sollte nach dem Entwurf lauten: „Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder kann der Bundestag mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder beschließen, die Wahlperiode vorzeitig zu beenden.“570
Begründet wurde der Reformvorschlag mit den im Jahr 1972 vorherrschenden politischen Kräfteverhältnissen im sechsten Bundestag bzw. insgesamt mit zwei zentralen Argumenten: Das erste Argument bezieht sich auf die im Parlament bestehende sog. „Patt-Situation“: Die Regierung Willy Brandts (SPD) hatte das mehrheitliche Vertrauen im Parlament verloren; die CDU / CSU-Fraktion scheiterte indes mit dem konstruktiven Misstrauensvotum und dem Versuch, die Regierung 568
Mangoldt / K lein / Starck / Brenner, GG Art. 81 Rn. 12 f. Bundestag, Drucks. 7/5924. 570 Bundestag, Drucks. 7/5942, S. 34. 569
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Brandts durch Wahl eines neuen Mehrheitskanzlers, den hierfür vorgeschlagenen Abgeordneten Barzel (CDU), zu stürzen.571 Weder die Regierung noch die Opposition konnten damit von der Mehrheit getragene Entscheidungen treffen. Das zweite Argument betrifft die fehlende Koalitionsbereitschaft der Fraktionen. Es fehlte in der benannten Zeitperiode an der Bereitschaft, eine neue Koalition zu bilden, die der Regierung ihr mehrheitliches Vertrauen zusicherte. Dem Parlament sollte daher mit der Selbstauflösung ein Instrument zur Verfügung stehen, bestehende Blockaden zu lösen. Da sich die Auflösung unmittelbar für dieses auswirkt, sollte das Parlament selbst hierüber entscheiden.572 Der Bundestag werde so „zum Souverän in der Frage seiner eigenen Existenz“573. Ein Verfechter des parlamentarischen Selbstauflösungsrechts ist Wolfgang Bosbach. Ein förmliches Auflösungsrecht des Parlaments, so Bosbach574, habe gegenüber einer Auflösung, die im Nachgang einer gescheiterten Vertrauensfrage erfolge, den Vorteil, dass ein Selbstauflösungsrecht in der Bevölkerung nicht zu solchen Debatten führen, welche die Politikverdrossenheit in der Gesellschaft fördere.575 Noch „jede Bundestagsauflösung [sei] an den Rand der Verfassungskrise geraten mit Legitimitätszweifeln und erbitterten Verfassungsrechtsstreitigkeiten“, denn der Vertrauensfrage aus Art. 68 GG liegen insgesamt viele Unstimmigkeiten hinsichtlich des Vertrauensbegriffs und der Zulässigkeit von echten oder unechten Vertrauensfragen zu Grunde. Insgesamt sei das Recht zur Selbstauflösungsrecht eine Förderung des Parlamentarismus; es solle der Exekutive nicht zur Disposition stehen, die Legislative zu entmachten, soweit es ihr beliebe.576 bb) Art. 68 und 81 GG als geeignete Alternative zum parlamentarischen Selbstauflösungsrecht? Die Argumentation für ein förmliches Selbstauflösungsrecht, so wie es der oben dargestellte Reformentwurf als Integration in den Art. 39 GG vorsah, vermag nicht zu überzeugen; sie verkennt die im Grundgesetz angelegte Systematik der potentiellen Auflösungsfeindlichkeit. Ein Selbstauflösungsrecht, dessen Hürden ausschließlich in gesetzlichen Mindestquoren bestehen, ermöglicht dem Parlament, 571
Zur Darstellung der herrschenden Kräfteverhältnisse sowie den jeweiligen Abstimmungsergebnissen bei Vertrauensfrage und Misstrauensantrag, siehe Blischke, Verfahrensfragen des Bundestages im Jahr 1972, in: Der Staat 1973, S. 65 (74) mit weiteren Nachweisen zur Chronik und Vorgeschichte des vom Parlament unternommenen Versuchs eines konstruktiven Misstrauensvotums gegen die Regierung Willy Brandts. 572 Bundestag, Drucks. 7/5924, S. 33, 40. 573 Brandt, Vorzeitige Beendigung der Wahlperiode durch Parlamentsbeschluss, Minderheitsregierung und Gesetzgebungsnotstand, in: ZfP 1977, S. 350 (359). 574 Im Folgenden Bosbach, Mehr Verfassungs-Ehrlichkeit wagen, in: Recht und Politik 2006, S. 142. 575 Für einen solchen Zusammenhang ist kein empirischer Beleg ersichtlich. 576 Bosbach, Mehr Verfassungs-Ehrlichkeit wagen, in: Recht und Politik 2006, S. 142.
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sich seiner Verantwortung zu entziehen und droht eine bestehende Regierungskrise zu verschleppen. Nach der Bewertung des pauschalen Auflösungsrechts soll daher ein Vorschlag für ein sachgerechteres Selbstauflösungsrecht unterbreitet werden. (1) Eigener Aktionsradius des Bundestages bei bestehenden Auflösungswegen Dem Argument, es sei sachgerecht, den Bundestag hinsichtlich seiner Kontinuität selbst zur Verantwortung ziehen, lässt sich mit den bereits bestehenden Auflösungsmechanismen begegnen: Die im Grundgesetz angelegten Wege der Parlamentsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG bzw. Art. 68 GG bedingen eine Entscheidung des Bundespräsidenten. Gleichwohl bleibt das Parlament hierbei nicht unbeteiligt. Bei der Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG und den dort normierten Wahlphasen hat es der Bundestag in der Hand, durch Wahl eines Mehrheitskanzlers in der ersten oder zweiten Wahlphase auf Basis vorangegangener Koalitionen einer Parlamentsauflösung zu begegnen oder diese gerade mittelbar dadurch zu fördern, dass eine Koalition abgelehnt wird und ein Kandidat in der dritten Wahlphase nur mit relativer Mehrheit gewählt wird. Im Rahmen des Art. 68 GG obliegt es dem Bundestag, dem Bundeskanzler das Vertrauen auszusprechen oder ebendieses zu verwehren. Je nach Ablehnung oder Bejahung des Vertrauens ist die Parlamentsauflösung zu befürchten. Damit stehen die Art. 63 GG sowie Art. 68 GG im Widerspruch zu für parlamentarische Regierungssysteme „traditionellen Auflösungsrechten“, die ihrerseits voraussetzen, dass ein parlamentsexternes Organ die Auflösung des Parlaments gegen dessen mehrheitlichen Willen vornehmen kann.577 In Pattsituationen, in denen sich Regierung und Opposition jedenfalls hinsichtlich des Auflösungsbedürfnisses einig sind, enthält Art. 68 GG bereits diejenigen Vorkehrungen, derer es für eine Auflösung letztlich bedarf.578 Demgegenüber ist ein Selbstauflösungsrecht, das dem Parlament allein zur Disposition steht, nur durch das Erfordernis eines hohen Abstimmungsquorums gesichert: ein solches müsste die Mitgliedermehrheit im Sinne des Art. 121 GG oder sogar eine Zweidrittelmehrheit beinhalten. Dem Problem eines „klebenden Kanzlers“579 wird in diesen Situationen durch (innerpartei-)politische Druckmittel abgeholfen. Ein Beispiel für innerparteilichen Druck, der erforderlichenfalls für den Rücktritt des Bundeskanzlers sorgt, ist das Ende der Amtszeit Ludwig Erhards.580 577
Kremer / ders., Parlamentsauflösung, S. 141 (149). Brandt, Vorzeitige Beendigung der Wahlperiode durch Parlamentsbeschluss, Minderheitsregierung und Gesetzgebungsnotstand, in: ZfP 1977, S. 350 (359). 579 Zum Beispiel Brandt, Vorzeitige Beendigung der Wahlperiode durch Parlaments beschluss, Minderheitsregierung und Gesetzgebungsnotstand, in: ZfP 1977, S. 350 (360, Fußnote 45). 580 Zum politischen Ende und zum Autoritätsverlust, siehe nur „Opfer fürs Volk“, Spiegel 43/1966 (17. 10. 1966), S. 40 ff., abrufbar unter: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-4641 4704.html. 578
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(2) Die Überbrückungsfunktion des Art. 81 GG: Gesetzgebungsnotstand vs. förmliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments Ist die dargestellte Auflösungsreife noch nicht gegeben, kann Art. 81 GG einen Beitrag für eine aus verfassungsrechtlicher und politischer Sicht Stabilisierung der Verhältnisse leisten. Die Argumentation stützt sich auf die im Grundgesetz angelegte Auflösungsfeindlichkeit. Neben den historischen Erfahrungen aus der Weimarer Republik bzw. von den Auflösungen des Reichstages vom 4. Juli 1932 und 12. September 1932, bei denen de facto mit der Parlamentsauflösung die Ausschaltung des Parlaments einherging, sodass die Parlamentsauflösung in Analogie zur konstitutionellen Monarchie als Kampfmittel gegen das Parlament eingesetzt wurde581, spricht das Argument künftiger Regierungsstabilität gegen ein von Art. 81 GG gelöstes förmliches Selbstauflösungsrecht des Parlaments. Eine vorzeitige Beendigung der Legislaturperiode und zu diesem Zwecke frühzeitig anberaumte Neuwahlen sorgen nicht zwangsläufig dafür, dass stabilere Verhältnisse resultieren. Dies lässt sich nicht mit den Erfahrungen aus der Weimarer Republik belegen582, auch Erfahrungen anderer europäischer und nicht-europäischer Staaten mit Vielparteiensystemen in Bezug auf vorgezogene Neuwahlen vermögen nicht zu belegen, dass Neuwahlen für stabilere Verhältnisse sorgen.583 Für Erfahrungen auf Bundesebene kann hier allenfalls auf die Wahlen im Jahr 1972 abgestellt werden. Diese sind notwendig geworden, nachdem mehrere Minister ihren Rücktritt erklärt hatten. Nach der Bundestagsauflösung und den daraufhin anberaumten Neuwahlen kam es erneut zu einer sozial-liberalen Koalition aus SPD und FDP, wobei beide Parteien einen Zuwachs an Stimmen verzeichneten.584 Als aktueller Vergleich für einen Staat, in dem das Parlament über das Mittel der Parlamentsauflösung verfügt, sollen die Verhältnisse in Israel dienen.585 Nach der israelischen Rechtslage sind Parlamentsauflösungen per mehrheitlichen Beschluss möglich, außerdem sind Parlamentsauflösungen verbindlich, soweit die Aufstellung eines Haushaltes oder die Regierungsbildung scheitert. Die Kettenauflösungen im israelischen Staat im Zeitraum von 2019 bis 2021 belegen, dass kurzzeitige, gehäufte Neuwahlen infolge der parlamentarischen (Selbst-)Auflösung586 nicht zu stabileren Verhältnissen bei künftigen Wahlen führen. Ursache
581
Dreier / Hermes, GG Art. 68 Rn. 1; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 68 Rn. 84 ff. Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik, S. 57 ff., 257 ff. 583 Von Beyme, Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa, S. 392 f. 584 Siehe hierzu https://de.wikipedia.org/wiki/Bundestagswahl_1972. 585 Eine Abbildung zu den Ergebnissen der israelischen Wahlen findet sich im Anhang zu Kapitel 3, Abbildung 11. 586 Die Knesset verfügt über ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht, siehe Art. 35 des Grundgesetzes „Knesset“. Dieser lautet in einer inoffiziellen Übersetzung in englischer Sprache: „The Knesset shall not decide to dissolve itself before the expiration of its term of 582
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für die vorgezogene Neuwahl im April 2019 waren knappe Mehrheitsverhältnisse zugunsten der amtierenden Regierung infolge des Rückzugs einer Koalitionsfraktion, der Jisra’el Beitenu aus dem Bündnis mit der von Premierminister Netanjahu geführten Partei Likud. Auf Vorschlag der Likud wurde das Parlament mit der hierfür erforderlichen absoluten Mehrheit der Knesset aufgelöst.587 Die insgesamt dreifache Auflösung des Parlaments erfolgte in jedem Falle wegen gescheiterter Koalitionsverhandlungen. Damit scheinen die Kettenauflösungen im israelischen Staat im Zeitraum von 2019 bis 2021 zu verdeutlichen, dass aufeinanderfolgende Parlamentsauflösungen wegen fehlender Bereitschaft der gewählten Fraktionen zur Kreation einer Koalition keine Veränderung der Wahlergebnisse bewirken. Abgesehen davon ist evident, dass die Kettenauflösungen erfolgten, obgleich zuvor eine formelle Mehrheitsregierung gebildet wurden, die sich prinzipiell auch materiell der mehrheitlichen Unterstützung versah. Die in der zuvor bei dem Versuch einer Koalition gescheiterten Fraktionen erhöhen insbesondere auch nicht ihre Koalitionsbereitschaft; dies wird daran deutlich, dass die zwei Parteien mit den meisten Stimmen, Likud und Kachol Lavan, nur geringfügige Abweichungen der Wahlergebnisse verzeichnen können. Es gelingt keiner der beiden Parteien in zwei aufeinanderfolgenden Legislaturperioden, in der 21. bzw. 22. Knesset, eine Koalition zu bilden. Der Staatspräsident hatte beide Fraktionen nacheinander mit der Koalitionsbildung betraut und diese explizit hierzu aufgefordert. Für die Formation einer Regierungskoalition setzt der Staatspräsident regelmäßig eine Frist fest.588 Auch Ende 2020 löste sich das Parlament auf, da sich die Regierungskoalition zuvor nicht auf einen Haushalt einigen konnte. Weil die Wahlergebnisse der
office, unless by passing a law for that purpose by a majority of members.“ Ebenso besteht die Auflösungspflicht, soweit kein Haushalt in einer bestimmten Frist beschlossen wird: „If the state budget bill has not been passed within three months of the beginning of the fiscal year, the day following the conclusion of the above period (to be known as the determining day) shall be considered as if the Knesset had decided to dissolve itself before the end of its term, and early elections shall be held on the last Tuesday before the end of 90 days from the determining day, unless the Knesset has decided by a majority of its members, within five days of the determining day, due to the proximity of the election date to a festival, holiday, or memorial day, to hold elections at a later date, but no later than 100 days from the determining day. (b) Notwithstanding the regulations of Sub-section (a), if the state president has initiated measures to form a new government in accordance with Section 30 of the Basic Law: The Government, or elections to the Knesset have been held after the deadline for submitting the budget bill in accordance with Section 3 of the Basic Law: The State Economy, and before the end of three months from the beginning of the fiscal year, the determining day shall be as in Sub-section (a), three months from the beginning of the fiscal year or 45 days from the day the government is established, whichever is later.“ 587 Wootliff, The Times of Israel, 28. 12. 2018, abrufbar unter: https://www.timesofisrael. com/20th-knesset-officially-dissolves-sets-elections-for-april-9-2019/; siehe auch https://www. juedische-allgemeine.de/israel/vorgezogene-neuwahlen-in-israel/. 588 Siehe Art. 11 (a) Abs. 2 des Grundgesetzes zum Staatspräsidenten. In inoffizieller englischer Übersetzung lautet dieser: 11. (a) The President of the State (2) shall take action to achieve the formation of a Government and shall receive the resignation of the Government in accordance with Law.
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24. Knesset erneut keine Stabilität brachten, erfolgte der Koalitionsprozess erneut schleppend. Damit ist zum vierten Mal in zwei Jahren das Parlament gewählt worden, ohne dass es zu einer endgültigen Einigung über stabile Regierungsverhältnisse kam.589 Die Erfahrungen bezüglich der Auflösung von Landtagen und den darauf folgenden Neuwahlen können empirisch nicht als Vergleich herangezogen werden, um zu bewerten, ob Neuwahlen die Kräfteverhältnisse so ordnen, dass eine Regierungsbildung in der neuen Legislaturperiode vereinfacht wird: Die Landtage der Bundesrepublik Deutschland wurden insgesamt zwölf Mal590 vor Ablauf der regulären Legislaturperiode aufgelöst. Aus den Wahlergebnissen lässt sich jedoch keine verlässliche Aussage über die Wirkung der Neuwahlen und der stabilisierenden Veränderung der Wahlergebnisse ableiten. In den meisten der zwölf Fälle war die Legislaturperiode bereits sehr weit fortgeschritten, sodass nicht von einer Kettenauflösung wie zuletzt in Israel ausgegangen werden kann. Zudem sind augenscheinliche Veränderungen nur im Stadtstaat Hamburg591 in insgesamt nur vier Fällen erkennbar, der eine gegenüber der Anzahl der Wahlberechtigten der gesamten Bundesrepublik nur geringe Zahl von Stimmberechtigten abzubilden vermag. Die Parlamentsauflösung wird generell als „politisch höchst unerwünscht“ inmitten des schweren Krisenfalls von den Verfassungsgebern gesehen.592 Vor allem in denjenigen Fällen, in denen zwischen der Wahl des Bundeskanzlers aus Art. 63 und der Konstituierung seines Kabinetts nach Art. 64 GG und der Anberaumung und Durchführung von Neuwahlen nur ein kurzer Zeitraum liegt, ist zu befürchten, dass auch Neuwahlen keine derart wesentlichen Änderungen des Wahlergebnisses bewirken. Damit scheidet die Bildung zuvor bereits gescheiterter Sondierungen und Koalitionen aus. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird es schließlich zu einer Bestätigung des Wahlergebnisses kommen und die Wahl eines Minderheitskanzlers ist vorprogrammiert. Mit der zeitlichen Begrenzung auf sechs Monate erfüllt Art. 81 GG eine Überbrückungsfunktion zwischen der Regierungskrise und ihrer Beseitigung593 durch Neuwahlen oder durch Wahl eines Bundeskanzlers nach Art. 67 GG sowie der Vereinbarung eines Tolerierungsmodells oder einer Koalition. Indem der Gesetzgebungsnotstand die Legislaturperiode der Minderheitsregierung um mindestens sechs Monate verlängern kann, ist eine insoweit stabili 589
Siehe etwa https://www.sueddeutsche.de/politik/israel-wahl-koalition-netanjahu-lapid-1. 5248128. 590 Freie und Hansestadt Hamburg: 1982, 1987, 1993, 2004 und 2011; Groß-Berlin: 1948 und 1950; Schleswig-Holstein: 1988, 2009, 2012; Hessen: 2009; Niedersachsen: 2017; siehe Anlage zum Kapitel 3, Abbildung 10. 591 Die Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg lässt gemäß Art. 36 Abs. 1 Nr. 3 HambLVerf eine förmliche Selbstauflösung des Parlaments zu. 592 Allgemeiner Redaktioneller Ausschuss, Drucks. 318 vom 26. 11. 1948. 593 Vgl. Schneider, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grund gesetz, in: VVDStRL 1950, S. 21 (32).
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sierende Funktion zu sehen, die eine politisch vorteilhaftere Ausgangsposition für eine neue Koalitionsbildung nahelegt.594 Art. 81 GG bietet mit seinen zwar hohen Voraussetzungen insgesamt ein effektiveres Mittel als die Bundestagsauflösung, das sich künftig nach hier vertretener Auffassung als stabilisierend für Neuwahlen auswirken kann. Eine Bundesregierung, die mithilfe des Gesetzgebungsnotstands in der Lage ist, jedenfalls für den Zeitraum eines halben Jahres wesentliche Entscheidungen zu treffen, bleibt oder wird auch in Bezug auf die Außenwirkung in der Bevölkerung handlungsfähig. Durch die vorgenommenen Aktionen tritt die Richtlinienpolitik des Bundeskanzlers zutage. Eine Bevölkerung, die den Bundeskanzler und seine politischen Akte begrüßt, wird bei Neuwahlen seine Position bestätigen wollen, sodass hier womöglich Abweichungen vom vorherigen Wahlergebnis erwartbar erscheinen. Gleichwohl haben Wähler die Möglichkeit, die Amtsausübung der Bundesregierung oder des Bundeskanzlers zu missbilligen und dies durch förmliche Wahl einer anderen Partei zum Ausdruck zu bringen. Damit ist die Herstellung oder Sicherung der Handlungsfähigkeit einer Regierung konstitutiv dafür, dass Neuwahlen Ergebnisse hervorbringen, die zu einer stabilisierten Regierungsbildung insgesamt durch eindeutigere Kräfteverhältnisse im Parlament führen. Die Sechsmonatsfrist595 erscheint dazu geeignet, die politischen Verhältnisse insoweit ordnen zu können. Dies gilt insbesondere für diejenigen Fälle, in denen die Minderheitssituation dadurch entstand, dass Abgeordnete der Regierungsfraktionen dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht mehr entgegenbringen oder aus der Fraktion ausgeschieden sind. Schließlich ist die Fortführung eines Parlaments, jedenfalls für eine bestimmte Dauer,596 mitsamt der hier gewählten und ernannten Regierung gegenüber der sofortigen Anberaumung aus Gründen des Demokratieprinzips zu bevorzugen. Der einmal erteilte Regierungsauftrag kann hier für einige wesentliche Entscheidungen ausgeübt werden. cc) Plädoyer für ein Selbstauflösungsrecht nach dem Abschluss des Gesetzgebungsnotstands Wie bereits dargestellt erfüllt der Gesetzgebungsnotstand eine elementare Überbrückungsfunktion: Der Gesetzgebungsnotstand markiert den außerordentlichen Zustand, dass eine Regierung das Regierungsprogramm nicht durch Gesetzgebung 594 Vgl. Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (394) mit Verweis auf Strom, Minority Government and Majority Rule, S. 273 f. 595 Zur Dauer und entsprechenden Reformvorschlägen siehe unten Kapitel 3 C. III. 4. e). 596 Siehe hierzu den Reformvorschlag für ein Selbstauflösungsrecht nach Ausschöpfung des Gesetzgebungsnotstandes in Kapitel 3 C. III. 4. c) cc).
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
zu realisieren vermag. Die Regierung wird für eine Dauer von sechs Monaten in den Zustand der Handlungsfähigkeit versetzt, soweit sie Unterstützung von Bundesrat und Bundespräsident erfahren hat. Zudem begegnet Art. 81 GG mit seiner gesetzlich angeordneten Dauer von insgesamt sechs Monaten dem Risiko von Instabilität des Staatsapparats durch Kettenauflösungen, weil kurz aufeinander folgende Neuwahlen keine Abhilfe für die Konstruktion neuer Regierungskoalitionen durch neue Mandatsverhältnisse im Parlament schaffen. Die Kettenauflösungen in Israel veranschaulichen das Risiko einer zu häufigen Auflösungspraxis durch Auflösungsrechte bzw. -pflichten. Die Krise kann mitunter verstärkt werden statt beseitigt zu werden. Problematisch erweist sich nichtsdestoweniger der Umstand, dass mit dem Gesetzgebungsnotstand keine Beendigung der Krise erfolgt: es ist konkret danach zu fragen, was nach Ende der sechsmonatigen Frist passiert. Nach geltender Rechtslage bestünden folgende Optionen: – Der Bundestag wählt mit einer Mehrheit im Sinne des Art. 121, 67 GG einen neuen Bundeskanzler. Allerdings wäre wohl davon auszugehen, dass der Bundestag den Gesetzgebungsnotstand bereits im Vorfeld durch die Wahl eines neuen Mehrheitskanzlers beendet hätte, soweit sich hierfür Mehrheiten konstruieren ließen. Zudem ist zweifelhaft, ob es überhaupt zur Anwendung des Art. 81 GG gekommen wäre, wenn Möglichkeiten zur Wahl eines Mehrheitskanzlers bestanden hätten. – Der Bundeskanzler stellt erneut die Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, deren negativer Ausgang bereits im Vorfeld als sicher angesehen werden kann.597 Da der Gesetzgebungsnotstand nur einmal beantragt werden kann, reduzieren sich die Handlungsoptionen des Bundeskanzlers darauf, seinen eigenen Rücktritt zu erklären oder dem Bundespräsident schließlich die Auflösung des Parlaments vorzuschlagen. Für den Rücktritt wie auch dem Auflösungsbegehren des Bundeskanzlers besteht jedoch keine verfassungsrechtliche Pflicht; es handelt sich wie dargestellt um eine hochpolitische Ermessensentscheidung des Bundeskanzlers, die allenfalls sehr begrenzt justiziabel wäre. Theoretisch wäre es nach bestehender Rechtslage denkbar, dass der Bundeskanzler bis zum Ende der Legislaturperiode im Amte verbleibt, obgleich er und seine Regierung faktisch handlungsunfähig sind, außer das Parlament ist in der Lage, einen neuen Bundeskanzler nach Maßgabe des Art. 67 GG zu wählen. – Der Bundeskanzler erklärt seinen Rücktritt, wodurch gemäß Art. 69 Abs. 2, 2. Fall GG auch die Ämter der übrigen Regierungsmitglieder enden. Da das Amt des Bundeskanzlers nunmehr vakant ist, erfolgt eine Neubesetzung dieses Amtes durch Wahlen nach Art. 63 GG. Wenn der Bundestag sich in der Lage sähe, einen neuen Mehrheitskanzler mit einem Quorum im Sinne des Art. 121 GG zu wählen, 597 Die Frage, ob das erneute Stellen der Vertrauensfragen überhaupt erforderlich ist, wird hier ausgeklammert.
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hätte dieser dies schon während des Gesetzgebungsnotstands nach Art. 67 GG getan, nicht zuletzt auch, um den Zustand aus Art. 81 GG zu beenden. Daher ist wahrscheinlich, dass allenfalls eine Wahl nach Art. 63 Abs. 4 GG in Betracht kommt, wonach entweder eine formelle (und gleichzeitig materielle) Minderheitsregierung in das Amt bestellt wird oder der Bundespräsident den Bundestag auflöst. Bis es jedoch zur Bundestagsauflösung nach Art. 63 GG kommt, müssten alle drei Wahlphasen erfolgt sein. Dies würde für eine mögliche Bundestagsauflösung, soweit diese intendiert sein soll, einen zeitlichen Aufschub bringen. Kritiker des Gesetzgebungsnotstandes führen deshalb an, Art. 81 GG „verschleppe“ die Krise598, weil die Vorschrift keinen Mechanismus zur Krisen bewältigung enthalte. Im Folgenden soll daher ein Reformvorschlag für Art. 81 GG dergestalt unterbreitet werden, als ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht entgegen des Vorschlags der Enquete-Kommission nicht in Art. 39 GG, sondern vielmehr in die Vorschrift des Gesetzgebungsnotstandes integriert wird. Denkbar wäre die Normierung des Auflösungsrechts in einen fünften Absatz des Art. 81 GG: (5) Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder kann der Bundestag seine Auflösung beschließen, 1. wenn der sechsmonatige Gesetzgebungsnotstand beendet ist, 2. wenn der Bundesrat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder dem Auflösungsbegehren während des Gesetzgebungsnotstands zustimmt oder 3. wenn der Bundesrat und der Bundespräsident die Zustimmung zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands abgelehnt haben. Das Recht zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers nach Maßgabe des Art. 67 GG bleibt hiervon unberührt.
(1) Zwischen „Stunde der Exekutive“ und „Legiscide“ „Die Ausnahmesituation ist die Stunde der Exekutive, weil in diesem Augenblick gehandelt werden muss. Eine akute Lungenentzündung (…) wird nicht dadurch bekämpft, daß ein Ärztekongreß nach längeren Vorbereitungen einberufen wird, sondern dadurch, daß der nächsterreichbare Arzt, möglichst Hausarzt, Penicillin verordnet, und zwar sofort.“599
Dieses Zitat des ehemaligen CDU-Bundesinnenministers Schröder im Jahr 1960 veranschaulicht dessen Gedanken, die Exekutive müsse in Krisenzeiten handeln. Die These stützt sich auf das Argument, die Konzeption der Verfassung betreffe die rechtliche Normallage.600 Krisenzeiten erfordern nach dieser Auffassung daher eine Abkehr von der gewöhnlichen Gewaltenteilung. Auch Carl Schmitt vertrat 598
Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, S. 303 ff. Gerhard Schröder (CDU), Protokolle des Deutschen Bundestages, 3. Wahlperiode, 124. Sitzung vom 28. 09. 1960, S. 7177 C. 600 Vgl. A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 30. 599
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im Kontexte des Art. 48 Abs. 2 S. 1 WRV, dass es in Krisenzeiten zum „Urstand“ kommen müsse, Handlungsbefugnisse müssten dem Reichspräsidenten dann als „Einheitsgewalt“ zustehen.601 Eine solche Auslegung des Gesetzgebungsnotstandes läuft dem parlamentarischen Regierungsgefüge zuwider: Ungeachtet dessen, dass Art. 81 GG ebendiesen Beitrag zur Ordnung und Überbrückung einer Krisensituation leisten kann, handelt es sich dabei um eine drastische Abkehr von Grundprinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung: Nach der Wesentlichkeitstheorie602 sollen wesentliche Entscheidungen gerade vom Parlament, dem einzig direkt demokratisch legitimierten Verfassungsorgan, getroffen werden. Erfährt die Regierung eine Stärkung ihrer verfassungsrechtlichen Position, so ist dies in den Ausgleich zur Schwächung des Parlaments zu bringen: konkret soll dem Phänomen des Legiscide603, der Selbstentmachtung des Parlaments, begegnet werden. Das Parlament soll sich angesichts historischer Erfahrungen604 in Zeiten einer Krise nicht selbstentmachten. Zwar soll die Regierung in einer politischen Krise sichergestellt werden: Es dürfe keine regierungslose Zeit geben. Dennoch darf das Parlament auch in Krisenzeiten nicht ausgeschaltet werden. Konkret darf die Verfassung zum einen keine solche Bestimmung enthalten, die das Parlament als solches (vollständig) ausschaltet und ausschließlich die Exekutive in den Zustand der Handlungsfähigkeit versetzt. Zum anderen darf die Verfassung keine solche Bestimmung enthalten, die dem Parlament erlaubt, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Neben der Tatsache, dass das Parlament nicht gänzlich von der Gesetzgebung ausgeschlossen ist, da ihm die Gesetzesinitiativen auch während des Gesetzgebungsnotstandes zur Kenntnisnahme und zur Abstimmung zuzuleiten sind, nimmt das Parlament im parlamentarischen Regierungssystem noch immer die fundamentale Aufgabe der Regierungskontrolle wahr. Mit einem Selbstauflösungsrecht nach sechs Monaten könnte dem Parlament die Möglichkeit geboten werden, der „Souverän seiner eigenen Existenz“ zu werden. Es könnte den Gesetzgebungsnotstand auch dadurch vorzeitig beenden, dass es sich die mehrheitliche Unterstützung des Bundesrates nachträglich sichert. Insgesamt kann die Normierung derartiger Handlungsoptionen für das Parlament als Prozess der Parlamentarisierung gesehen werden. 601 Schmitt, Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Art. 48 der Reichsverfassung, in: VVDStRL 1924, S. 63.; für weitergehende Darstellung der historischen Argumentation zur Ermächtigung der Exekutive in Krisenzeiten im französischen Recht nach dem Prinzip des „plein pouvoirs“ und der aktuellen Debatte in den Vereinigten Staaten von Amerika, siehe A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 30 m. w. N. 602 BVerfGE 33, 1 (10 ff.); 33, 125 (158 f.); 33, 303 (346); 34, 165 (192): 41, 251 (260); 45, 400 (417): 47, 46 (78 ff.); 49, 89 (126 ff.); 58. 257 (267 ff.); 76, 171 (184 ff.); 78, 249 (272); 83, 130 (142 ff.); 90, 286 (383 ff.); 98, 218 (251 ff.); 105, 279 (305); 108, 282 (310 ff.); 116, 24 (58); 128, 282 (317 ff.); 134, 141; 141, 143; 147, 253. 603 Im Folgenden A. Kaiser, Ausnahmeverfassungsrecht, S. 31. 604 A. Kaiser führt als Beispiel der Selbstentmachtung das Ermächtigungsgesetz vom 24. 03. 1933 an: Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich vom 24. 3. 1933, RGBl. I, S. 141.
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Die Alternative, dass ein neuer Mehrheitskanzler nach Maßgabe des Art. 67 GG gewählt würde, ist unwahrscheinlich. Wäre das Parlament in der Lage, sich mehrheitlich auf einen neuen Bundeskanzler zu einigen, hätte es den Gesetzgebungsnotstand durch diese Neuwahl beendet. (2) Vollständiges Ausschöpfen des Potentials des Art. 81 GG Der Reformvorschlag bietet die Möglichkeit, sachdienlich mit der Krise zu verfahren: Einerseits ist denkbar, dass die Bundesregierung die gesetzliche Dauer von sechs Monaten mit der Unterstützung des Bundesrates vollständig ausnutzen kann, um Gesetzgebung zu betreiben. In diesem Falle kann Art. 81 GG die erörterte Ordnungs- und Überbrückungsfunktion wahrnehmen. Das Parlament hätte das Recht, das Parlament nach sechs Monaten aufzulösen. Dies hat gegenüber einem Auflösungsrecht aus Art. 39 GG den Vorteil, dass die Wahrscheinlichkeit späterer Kettenauflösungen damit geringer ist. Je länger die Legislaturperiode dauert, umso höher ist die Chance für stabilere Verhältnisse nach Neuwahlen. Die These basiert auf der Annahme, dass der Wähler bei Neuwahlen nach mindestens sechsmonatiger Amtszeit einer handlungsfähigen Bundesregierung die Möglichkeit hat, seine getätigte Regierungspolitik zu unterstützen oder zu missbilligen. In diesem Fall wären Abweichungen vom vorherigen Wahlergebnis wahrscheinlicher. Andererseits wäre mit der Reform des Art. 81 GG dann möglich, den Gesetz gebungsnotstand vorzeitig zu beenden, falls die Unterstützung des Bundesrates nicht mehr gegeben ist. Damit könnte der Zustand der Handlungsunfähigkeit beendet werden, falls der Bundesrat, der dem Gesetzgebungsnotstand ursprünglich zugestimmt hatte, die Regierungspolitik nicht mehr zu unterstützen vermag. Sowohl Art. 81 Abs. 5 Nr. 1 als auch Art. 81 Abs. 5 Nr. 2 GG-E beenden einen Zustand des politischen Stillstandes, sobald dieser zutage tritt, der Regierung also keinerlei Optionen mehr für ihre Handlungsfähigkeit verbleiben. d) Der Bundesrat als Legalitätsreserve: Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien? Als problematisch erweist sich unter Umständen, dass bereits die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch die mehrheitliche Unterstützung des Bundesrates im Sinne des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GG bedingt ist. Angenommen wird in diesem Zusammenhang, dass die parteipolitische Besetzung im Bundesrat ausschlaggebend dafür sein könne, dass der Bundesrat den Gesetzgebungsnotstand ablehnt. Dies sei der Fall, wenn die mehrheitliche Besetzung im Bundesrat parteipolitisch nicht der oder den Regierungsfraktion(en) entspreche.605 Im Ergebnis könne der Bundesrat durch seine Verweigerung der Zustimmung für die Erklärung des Gesetzgebungs 605
Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 15.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
notstands die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung blockieren; der Bundesrat sei dann ein „Blockadeinstrument“606. Diese Ansicht geht davon aus, dass die Zustimmung, der Einspruch und das Anrufen des Vermittlungsausschusses wie auch die Zustimmung im Rahmen des Art. 81 GG im Bundesrat im Falle der Regierungskrise ausschließlich oder jedenfalls überwiegend parteipolitisch motiviert sind. Konkret ist daher zu untersuchen, ob die Entscheidungsfindung im Bundesrat durch parteipolitische Motive oder durch Vertretung eigener, regionaler Interessen des Bundeslandes geprägt ist, um sodann die Konsequenzen für die Praktikabilität des Art. 81 GG zu erörtern. aa) Die Rolle des Bundesrates nach dem Verständnis des Verfassungsgebers Nach der ursprünglichen Zielbestimmung des Bundesrates sollte es sich dabei um eine Ländervertretung handeln, welche das Prinzip der Bundesstaatlichkeit im Gesamtgefüge manifestiert. Wegen der Entscheidung für das Bundesratsprinzip und gegen das Senatsprinzip, das den Bundesrat als „Zweite Kammer“ bzw. einer parteigespaltenen Parallele zum Parlament vorsah607, sollten dabei jedenfalls nach ursprünglicher Idee durch den Bundesrat vordergründig Länderinteressen Berücksichtigung finden. Ein entscheidendes Argument für die Ausrichtung im Sinne des Bundesratsprinzips war die Annahme, der Senat hätte aufgrund der fehlenden Vertretung der Länderinteressen und vordergründigen parteipolitischen Ausrichtung öfter Rechtsmittel in Form von Einsprüchen oder der Zustimmungsverweigerung im Bereich der Gesetzgebung eingelegt.608 Fraglich ist, ob sich das ursprüngliche Verständnis über die Einordnung des Bundesrates in der Praxis realisiert hat. bb) Die Rolle des Bundesrates anhand des empirischen Abstimmungsverhaltens Für die Frage, ob die Erfolgsaussichten für eine von Art. 81 GG erhoffte Krisenbewältigung oder -überbrückung durch die parteipolitische Besetzung des Bundesrates determiniert ist, sind Analysen des Abstimmungsverhaltens des Bundesrates heranzuziehen, die das Abstimmungsverhalten dokumentieren und außerdem in die Relation der Kräfteverteilung609 setzen. Wegen fehlender praktischer Anwen 606
Die Bezeichnung als „Blockadeinstrument“ findet sich bei Klein, Der Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland – die „Zweite Kammer“, in: AöR 1983, S. 329 (361). 607 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 37. 608 Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 38. 609 Übersichten zu den Kräfteverteilungen im Bundesrat finden sich unter anderem bei Schüttemeyer, Die Stimmenverteilung im Bundesrat 1949–1990, in: ZParl 1990, S. 473 (474) für den Zeitraum von 1949 bis 1990; für den Zeitraum bis 1999 siehe Sturm, Vorbilder für eine Bundesratsreform? Lehren aus den Erfahrungen der Verfassungspraxis Zweiter Kammern, in: ZParl 2002, S. 166 (176 f.).
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dung des Gesetzgebungsnotstands in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann hier nur auf allgemeine empirische Erhebungen und Erfassungen des Abstimmungsverhaltens des Bundesrates zurückgegriffen werden. Da im Rahmen des Art. 81 GG zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands für jede im Vorfeld gescheiterte Gesetzesvorlage die Zustimmung des Bundesrates für einen Antrag der Bundesregierung erforderlich ist und der Bundesrat auch nach Erklärung dem Gesetz erneut explizit zustimmen muss, sind daher die Statistiken zum Abstimmungsverhalten des Bundesrates im Bereich von Zustimmungsgesetzen heranzuziehen. Erweist sich der Bundesrat als ausschließlich parteipolitisch orientiert, so wäre eine effektive Sicherung des Regierungshandelns nur bei der (parteipolitischen) Unterstützung durch den Bundesrat im Rahmen des Art. 81 GG zu erwarten. Der Bundesrat wäre im Fall einer abweichenden parteipolitischen Besetzung als „Blockadeinstrument“ im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung durch den Gesetzgebungsnotstand zu sehen. Weiter bedeutete dies, dass im Falle einer Besetzung des Bundesrates durch aus Sicht der Bundesregierung oppositionelle Fraktionen die Regierung sich zur Auflösung des Bundestages oder ihren eigenen Rücktritt gezwungen sehen müsste. Eine andere Interpretation ergäbe sich dann, wenn der Bundesrat als überwiegendes Vertretungsorgan von den Interessen der Bundesländer zu kategorisieren wäre. Für die Untersuchung wird hier ausschließlich das sich in der Politik- und Rechtswissenschaft herausgebildete sogenannte ROM-Modell610 herangezogen. Auf der Grundlage dieses Modells hat Strohmeier611 das Abstimmungsverhalten des Bundesrats und die Abhängigkeit seines Abstimmungsverhaltens von der mehrheitlichen parteipolitischen Besetzung im Bundesrat untersucht und dabei konstatiert, dass der Bundesrat nicht ausschließlich Länderinteressen vertritt, sondern auch nach parteipolitischer Motivation handelt. Gleichwohl hat er aufgezeigt, dass in sämtlichen Bereichen der Mitwirkung des Bundesrates bei der Gesetzgebung (Einspruch, Zustimmung sowie Anrufung des Vermittlungsausschusses) die Ablehnung auch in sogenannten Oppositionsperioden und neutralen Perioden derart gering ist, dass jedenfalls nur von einer untergeordneten parteipolitischen Motivation des Bundesrates auszugehen ist. Im Einzelnen differenziert Strohmeier zwischen drei mögliche Perioden, auf Basis derer er einen sachlichen Zusammenhang zwischen der mehrheitlichen Besetzung des Bundesrates und seines Abstimmungsverhaltens herstellt:
610
Das ROM-Modell hat sich seit Ende der 1990er Jahre etabliert und ist auf Gerhard Lehmbruch zurückzuführen, siehe Lehmbruch, „A-Länder“ und „B-Länder“: Eine Anmerkung zum Sprachgebrauch, in: ZParl 1998, S. 348 (350 Fußnote 13). Lehmbruch schlug vor, schematische Bezeichnungen anhand der Kräfteverteilung in den Landesregierungen und damit der Besetzung im Bundesrat dergestalt zu verwenden, als „R“ für „Regierungsländer, „O“ für Oppositionsländer und „M“ für Mischländer stünde. Eine Bewertung des Modells und eine Auseinandersetzung mit anderen Modelldarstellungen kann hier nicht vorgenommen werden. 611 Strohmeier, Der Bundesrat – Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?, in: ZParl 2004, S. 717 (720 ff.).
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– In den Regierungsperioden ist die absolute Mehrheit des Bundesrates kontinuierlich von den nach Lehmbruch als R-Ländern benannten Ländern besetzt. Dies sind sogenannte Regierungsländer, in denen die Regierungsfraktion(en) denen der Bundesregierung entsprechen. Für seine Untersuchung legt Strohmeier die Wahlperioden von 1961 bis 1965 sowie 1983 bis 1987 zu Grunde.612 Auffällig ist, dass die Anzahl der Einsprüche gegen Gesetze in beiden Legislaturperioden null beträgt, in 34 bzw. sechs Fällen wurde der Vermittlungsausschuss durch den Bundesrat selbst angerufen, wobei 5,4 bzw. 0 Prozent der Gesetze im Nachhinein im weiteren Verlaufe nicht zustande kamen. Die vom Bundesrat im Bereich der Zustimmungsgesetze nicht erteilte Zustimmung belief sich auf sieben bzw. null Gesetze. Die Zeiträume und das Abstimmungsverhalten des Bundesrates sind einem Vergleich mit neutralen Perioden bzw. Oppositionsperioden zu unterziehen. – In den neutralen Perioden, die in der Bundesrepublik Deutschland etwa in der ersten und zweiten Wahlperiode von jeweils 1949 bis 1953 sowie 1957 bis 1961 vorkam, besteht kontinuierlich weder eine absolute Mehrheit für die Regierungsfraktion der Bundesregierung auf Bundesratsebene noch eine überwiegende Mehrheit der – aus Sicht der Regierung – Oppositionsfraktionen. Dabei betrug die Anzahl der Einsprüche eins bzw. drei, die Anrufung des Vermittlungsausschusses betrug 70 bzw. 46, wobei im Nachhinein dadurch 12,5 bzw. 4,1 Prozent der Gesetze nicht beschlossen wurden. Die Zustimmung wurde in zwölf bzw. vier Fällen nicht erteilt. – In den eingeschränkten bzw. absoluten Oppositionsperioden besteht eine absolute Mehrheit der – aus Sicht der Regierungsfraktionen der Bundesregierung – Oppositionsfraktionen (O-Länder) im Bundesrat. Im Falle der eingeschränkten Oppositionsperiode verfügte die Opposition nicht über die absolute Mehrheit, sondern über eine Sperrminorität.613 Hierfür wurden die Wahlperioden von 1972 bis 1976 für eine volle Oppositionsperiode, die Periode von 1994 bis Oktober 1998 für eine eingeschränkte Oppositionsperiode herangezogen. Die Anzahl der Einsprüche belief sich auf fünf in der absoluten Oppositionsperiode, der Vermittlungsausschuss wurde insgesamt 96 Mal angerufen, wobei hierdurch letztlich 7,3 Prozent der Gesetze nicht beschlossen wurden; für die eingeschränkte Periode werden hier keine Angaben gemacht. Die Zustimmung wurde in der vollen Oppositionsperiode in 19 Fällen, in der eingeschränkten Oppositionsperiode in 22 Fällen verweigert. Evident ist, dass die Anzahl der Zustimmungsverweigerungen, Einsprüche und Anrufung des Vermittlungsausschusses generell in neutralen Perioden gegenüber Regierungsperioden höher sind, die höchsten Quoten finden sich in Oppositionsperioden. Diese Auffassungen bewerten allerdings nur die Quantität der fehlenden Zustimmung. Außer Betracht bleibt die politische Bedeutung der einzelnen 612
Im Folgenden Strohmeier, Der Bundesrat – Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?, in: ZParl 2004, S. 712 (722 ff.) m. w. N. 613 Strohmeier, Der Bundesrat – Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?, in: ZParl 2004, S. 712 (721).
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Gesetze. Strohmeier schlussfolgert eine parteipolitische Motivation des Abstimmungsverhaltens. Nichtsdestoweniger ist die Anzahl der durch den Bundesrat insbesondere auch in den Oppositionsperioden nicht beschlossenen Gesetzen nicht eklatant hoch, sodass sich der Eindruck der Parteipolitisierung des Bundesrates relativiert.614 Eine Parteipolitisierung des Bundesrates, so Strohmeier, werde „also mehr durch dessen regierungskonformes Verhalten in Regierungsperioden als durch dessen regierungskonträres Verhalten in Oppositionsperioden deutlich“.615 Ähnliches konstatiert auch Klein616: Die prozentuale Verteilung von angenommenen und abgelehnten Gesetzen durch den Bundesrat sei so gering, dass in keinem Falle von einem „Blockadeinstrument“ gesprochen werden könne. Im Bereich der Zustimmungsgesetze hat der Bundesrat – ungeachtet seiner politischen Kräfte verhältnisse – in den ersten acht Legislaturperioden nur 35 von 3599 Gesetzen abgelehnt. Dies entspreche einer prozentualen Zustimmungsverweigerung von 0,97 Prozent. Klein erkennt sogar eine Widerlegung der vermuteten Blockadehaltung des Bundesrates. Beide Erhebungen vermögen jedenfalls nicht zu belegen, dass der Bundesrat bei entsprechend aus Sicht der Bundesregierung mehrheitlicher oppositioneller Ausrichtung pauschal aus parteipolitischen Motivationen seine Zustimmung zum Antrag der Bundesregierung gerichtet auf die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes verweigern wird. Diese Erkenntnis bezieht sich allerdings ausschließlich auf den Fall des Amtierens einer formellen Mehrheitsregierung, die im Parlament auch materiell sich des mehrheitlichen Vertrauens der Parlamentarier versieht. Eine Ursache für die relativierte Parteipolitisierung des Bundesrates ist die verfassungsrechtliche Ausgestaltung des Art. 51 Abs. 3 S. 2 in Verbindung mit Art. 53 Abs. 3 S. 1 GG.617 Demnach können die Stimmen im Bundesrat pro Bundesland nur einheitlich abgegeben werden, zudem erfolgt die Beschlussfassung mit der Mehrheit der Mitgliederzahl. Die von Regierungskoalitionen regierten Bundesländer sind durch das Erfordernis angehalten, bereits im Vorfeld eine einheitliche Entscheidung für ihr Abstimmungsverhalten zu treffen, da die Stimmen sonst ungültig sind. Ein Enthalten ist zu vermeiden, da sich die Enthaltung wegen des Erfordernisses der absoluten Mehrheit faktisch als Nein-Stimme auswirkt.618 Durch 614 Strohmeier, Der Bundesrat – Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?, in: ZParl 2004, S. 712 (723). 615 Strohmeier, Der Bundesrat – Vertretung der Länder oder Instrument der Parteien?, in: ZParl 2004, S. 712 (729). 616 Im Folgenden Klein, Der Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland – die „Zweite Kammer“, in: AöR 1983, S. 329 (362). 617 Vgl. im Folgenden Leonardy, Parteien im Förderalismus der Bundesrepublik Deutschand, in: ZParl 2002, S. 180 (183). 618 Dreier / Bauer, GG Art. 51 Rn. 24; Hofmann / Henneke / von der Decken, GG Art. 52 Rn. 10; Mangoldt / K lein / Starck / Korioth, GG Art. 52 Rn. 12; Münch / Kunig / Krebs, GG Art. 52 Rn. 7; Reuter, Praxishandbuch zum Bundesrat, Art. 52 Rn. 21 f.; Bonner Kommentar / Schöbener, GG Art. 52 Rn. 49.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
die vorgeschaltete Entscheidungsfindung und überparteiliche Einigung wird die parteipolitische Ausrichtung des einzelnen entsandten Vertreters relativiert. Im Bereich des Art. 81 GG könnte für ein durch Länderinteressen dominiertes Abstimmungsverhalten sprechen, dass bereits die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands an eine Sachfrage gekoppelt ist. Zudem hat der Bundesrat das Recht, jede weitere Gesetzesvorlage in dem Zeitraum von sechs Monaten als Zustimmungsgesetz zu verabschieden. Die Zustimmung zu Zustimmungsgesetzen ist gegenüber dem Einspruch der Ausnahmefall, aber gleichwohl die stärkere Form der Beteiligung des Bundesrates am Gesetzgebungsprozess619, der durch die faktische Ausschaltung des Parlaments im Gesetzgebungsnotstand eine weitere Verstärkung erfährt. Dem Bundesrat obliegt es mithin, durch die Zustimmung der erstmaligen Erklärung des Gesetzgebungsnotstands die eigene Kompetenz im Bereich der Gesetzgebung und damit die eigene Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entscheidung über Sachfragen zu stärken.620 Damit besteht für den Bundesrat prinzipiell der Anreiz die Zustimmung zu erteilen, sodass auch eine faktisch geringe Parteipolitisierung des Bundesrates diesen, jedenfalls theoretisch, nicht pauschal an der Erteilung der Zustimmung hindern wird. Im Falle unklarer Verhältnisse bietet sich außerdem an, eine Ad-Hoc-Verhandlung zwischen der Bundesregierung und der Bundesratsmehrheit auf Parteilinie zu initiieren. Diese werden zwar selten, aber in besonderen Fällen zur Ausarbeitung komplizierter Strategien durchgeführt, um einen übergreifenden Konsens zu fundamentalen politischen Entscheidungen herbeizuführen.621 Ungeachtet dessen, welchen Aufschluss die empirischen Erhebungen jeweils zum Abstimmungsverhalten des Bundesrates zulassen, erscheint die pauschale Übertragbarkeit dieser Erkenntnisse auf den Art. 81 GG und seine Rahmenbedingungen trotzdem problematisch. Mangels bestehender Erfahrungen kann insbesondere nicht unmittelbar geschlussfolgert werden, dass das Abstimmungsverhalten des Bundesrates im Falle einer Vertrauenskrise bzw. im Falle des Amtierens einer Regierung, die sich gegenwärtig nicht der mehrheitlichen Unterstützung versieht, ebenso verläuft wie im Falle der rechtlichen Normallage. In der Literatur wird ferner ein Zusammenhang zwischen Wahlergebnissen auf Bundes- und Landesebene angesichts des föderalen Mehrebenensystems erkannt: Das Regieren auf Bundesebene beeinflusse die Wahlentscheidung des Wählers auf Landesebene und umgekehrt.622 Augenscheinlich war im Februar 2020, dass die Wahl des Minderheitsministerpräsidenten Thomas Kemmerich (FDP) des Landes Thüringen zu einer bundes-
619
BVerfGE 1, 76 (79). Vgl. Klein, Der Bundesrat der Bundesrepublik Deutschland – die „Zweite Kammer“, in: AöR 1983, S. 329 (351). 621 Zu Ad-Hoc-Verfahren und ihrer Zielsetzung siehe Leonardy, Parteien im Föderalismus der Bundesrepublik Deutschland, in: ZParl 2002, S. 180 (192). 622 Vgl. Bräuninger / Debus / Müller / Stecker, Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern, S. 210. 620
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weiten Krisenstimmung623 führte624: Thomas Kemmerich (FDP) löste laut medialer Berichterstattung eine „Regierungskrise“ aus, die für bundesweites Aufsehen sorgte; auch Bundeskanzlerin Angela Merkel verurteilte die Wahl Kemmerichs, da dieser eine Stimmenmehrheit dadurch erreichte, dass die Abgeordneten der rechtspopulistischen AfD für ihn stimmten und dieser die Wahl daraufhin annahm: „Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat (…). Da es absehbar war (…), muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb auch das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss. (…) Es war ein schlechter Tag für die Demokratie.“625
Wegen des politischen Drucks von außen und aus der eigenen Partei erklärte Kemmerich schließlich wenige Tage nach der Wahl seinen Rücktritt626 als Ministerpräsident von Thüringen. Auf parteipolitischer Ebene löste die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen Grundsatz-Debatten in der CDU und FDP aus: Während Parteivorsitzender Christian Lindner dem Parteivorstand „die Vertrauensfrage stellte“627, löste die Wahl in der Bundes-CDU eine Debatte über jenen Beschluss eines Kooperationsverbotes mit Linkspartei und AfD aus. Die damalige Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer hatte im Vorfeld dem Landesverband der CDU Thüringen mit innerparteilichen Konsequenzen „gedroht“, da eine Kooperation mit der AfD gegen die in der CDU herrschende Beschlusslage verstoße. Nach dieser ist eine Zusammenarbeit ausgeschlossen.628 Konflikte auf Landesebene sind damit prinzipiell geeignet, auch das Abstimmungsverhältnis im föderalen System zu betreffen oder Einfluss auf das Parteisystem und damit auf künftige Mehrheitsbildung zu nehmen; es ist jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass dies auch das Abstimmungsverhalten im Bundesrat tangiert. cc) Die Rolle des Bundesrates im Reformvorschlag zu Art. 81 GG Das Abstimmungsverhalten des Bundesrates kann mangels Erfahrungen empirisch nicht eindeutig vorausgesehen werden. Ferner erweist sich im Hinblick auf die Beteiligung des Bundesrates bei der Anwendung des Gesetzgebungsnotstandes als problematisch, dass bei Versagen des Einverständnisses des Bundesrates für
623 Die Rede war von einer „Thüringen-Krise“ oder einer „Regierungskrise, siehe etwa https://www.tagesschau.de/inland/thueringen-225.html. 624 Zur Chronologie der Regierungsbildung in Thüringen im Jahr 2020, siehe etwa Meier / Wille, https://verfassungsblog.de/totgesagte-leben-laenger/. 625 Siehehttps://www.tagesschau.de/inland/thueringen-kemmerich-merkel-101.html. 626 Siehe etwa die Presseerklärung der FDP zur Ankündigung der Rücktrittserklärung: https:// www.fdp-thueringen.de/dirk_bergner/news/9844-kemmerich_kuendigt_ruecktritt_an.html. 627 https://www.tagesschau.de/inland/lindner-fdp-vertrauensfrage-101.html; sowie https:// www.zdf.de/nachrichten/politik/thueringen-wahl-fdp-chef-lindner-vertrauensfrage-100.html. 628 https://www.zdf.de/nachrichten/politik/thueringen-akk-warnt-cdu-100.html.
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
das Ausrufen des Gesetzgebungsnotstandes kein effektives Mittel zur Verfügung steht, die Krise zu beenden. Lehnt der Bundesrat das erforderliche Einverständnis nach Art. 81 GG bereits vor Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes ab, so ist der Bundeskanzler nicht zum Rücktritt gezwungen. Er ist insbesondere auch in dieser Situation nicht angehalten, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorzuschlagen. Die Folge ist, dass die Bundesregierung weder in den Zustand der Handlungsfähigkeit versetzt wurde noch eine effektive Beendigung der Krise zur Verfügung steht, wenn der Kanzler intendiert, in seinem Amte zu verbleiben. In diesem Fall wäre allein der Bundestag anhand des konstruktiven Misstrauens in der Lage, einen neuen Mehrheitskanzler nach Art. 67 GG zu wählen. Dies erwiese sich aber insoweit als problematisch, als das Parlament nur im Negativen geeint ist und daher die Wahl eines solchen Kanzlers, der in der derzeitigen Konstellation stabilere Regierungsverhältnisse offenbart, unwahrscheinlich ist. Aus diesem Grund sollte das oben dargestellte parlamentarische Selbstauflösungsrecht auch dann zur Anwendung kommen, wenn der Bundesrat oder der Bundespräsident die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands ablehnt. Der bereits eingeführte Reformvorschlag muss daher auch Vorkehrungen treffen, die die Rolle des Bundesrates für den Einzelfall und etwaig nicht übereinstimmende Kräfteverhältnisse berücksichtigen und letztlich auch auf die Beseitigung einer Krise hinwirken: (5) Auf Antrag eines Viertels seiner Mitglieder kann der Bundestag seine Auflösung beschließen, 1. wenn der sechsmonatige Gesetzgebungsnotstand beendet ist, 2. wenn der Bundesrat mit einer Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder dem Auflösungsbegehren während des Gesetzgebungsnotstands zustimmt oder 3. wenn der Bundesrat und der Bundespräsident die Zustimmung zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands abgelehnt haben. Das Recht zur Wahl eines neuen Bundeskanzlers nach Maßgabe des Art. 67 GG bleibt hiervon unberührt.
Das nach Art. 81 Abs. 5 Nr. 2 GG-E geforderte Zweidrittel-Quorum des Bundesrates reagiert darauf, dass das Abstimmungsverhalten des Bundesrates in Bezug auf eine Parlamentsauflösung rein parteipolitisch motiviert sein könnte. Insbesondere der vorzeitige Abbruch des Gesetzgebungsnotstands, zu dem zuvor eine Zustimmung des Bundesrates bestanden hat, soll nicht an eigenen Umfragewerten gemessen werden: So soll der Bundesrat nicht deshalb einer Parlamentsauflösung nach einer bestimmten Dauer zustimmen, weil der Zeitpunkt für Neuwahlen sich vorteilhaft für einzelne – im Bundesrat möglicherweise knapp dominierende – Parteien auswirken könnte. Stattdessen soll durch das Erfordernis einer Zustimmung von Zweidritteln des Bundesrates sichergestellt werden, dass stattdessen verfassungsrechtliche Erwägungen herangezogen werden, die die Regierungsstabilität und die Regierungsfähigkeit fokussieren. Letztlich soll mit diesem Formerfordernis dem empirisch nicht eindeutig belegbaren Abstimmungsverhalten des Bundesrates begegnet werden.
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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Ungeachtet dessen, dass Art. 81 GG einen Beitrag zur Ordnung und Überbrückung einer Krisensituation leisten kann, handelt es sich dabei um eine Abweichung von Grundprinzipien der freiheitlich demokratischen Grundordnung: Nach der Wesentlichkeitstheorie bzw. Parlamentsvorbehalt sollen wesentliche Entscheidungen gerade vom Parlament, dem einzig direkt demokratisch legitimierten Verfassungsorgan, getroffen werden. Erfährt die Regierung eine Stärkung ihrer verfassungsrechtlichen Position, so ist dies in den Ausgleich zur Schwächung des Parlaments zu bringen. Konkret soll dem Phänomen des Legiscide, der Selbstentmachtung des Parlaments, begegnet werden: – Das Parlament soll sich angesichts historischer Erfahrungen in Zeiten einer Krise nicht selbstentmachten. Zwar soll die Regierung in einer politischen Krise sichergestellt werden: es darf keine regierungslose Zeit geben. Dennoch ist die Aussage „die Krise sei die Stunde der Exekutive“ zu pauschal. – Andererseits darf die die Verfassung keine solche Bestimmung enthalten, die dem Parlament erlaubt, sich seiner Verantwortung zu entziehen. Neben der Tatsache, dass das Parlament nicht gänzlich von der Gesetzgebung ausgeschlossen ist, da ihm die Gesetzesinitiativen auch während des Gesetzgebungsnotstandes zur Kenntnisnahme und zur Abstimmung zuzuleiten sind, nimmt das Parlament im parlamentarischen Regierungssystem noch immer die fundamentale Aufgabe der Regierungskontrolle wahr. Anstelle eines Selbstauflösungsrechts, das als zusätzlichen Absatz in Art. 39 GG einzufügen wäre, könnte daher ein parlamentarisches Selbstauflösungsrecht im Art. 81 GG als zusätzlicher Bestandteil des Ausnahmeverfassungsrechts zu normieren sein. Mit dem Selbstauflösungsrecht nach Ende des Gesetzgebungsnotstandes würde dennoch das Potential einer Ordnungs- und Überbrückungsfunktion des Gesetzgebungsnotstands ausgeschöpft werden. e) Bewertung der prozeduralen Ausgestaltung und entsprechende Reformvorschläge Insgesamt stellt der Art. 81 GG hohe verfahrensrechtliche Anforderungen an das erfolgreiche Durchlaufen des Gesetzgebungsnotstandes. Teilweise werden die verfahrensrechtlichen Anforderungen als „überfrachtet“ bzw. „bis in die Nähe der Wirkungslosigkeit denaturiert“629 bzw. „schwerfällig“630 bezeichnet. Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Art. 81 GG könnte insofern zu modifizieren sein, als die Effektivität und Praktikabilität durch Einsparungen verfahrensrechtlicher Erfordernisse oder der Eingrenzung entsprechend erforderlicher Handlungen insbesondere für Minderheitsregierungen gesteigert würde. 629
Finkelnburg, Die Minderheitsregierung im deutschen Staatsrecht, S. 14. Schönberger, Parlamentarische Autonomie unter Kanzlervorbehalt?, in: JZ 2002, S. 211 (212). 630
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
aa) Zeitliche Ersparnisse Es wäre zu erwägen, ob der Bundestag seinerseits an engere zeitliche Grenzen für seine Abstimmung über das jeweilige Gesetzesvorhaben gebunden sein sollte. So könnte dem Bundestag ab Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes für die erste gescheiterte Gesetzesvorlage für sämtliche weitere von der Bundesregierung initiierte Gesetzesvorhaben eine Frist von nur sieben Tagen631 zukommen. Eine im Grundgesetz selbst normierte Abstimmungsfrist würde den gesamten Vorgang insgesamt beschleunigen und würde zeitnäher zu einer rechtssicheren Entscheidung führen. Weiter ist anzudenken, den Zeitraum des Gesetzgebungsnotstands zu verlängern. Art. 81 GG stellt hohe Voraussetzungen und begegnet dem Missbrauchsrisiko durch Integration sämtlicher politischer Verfassungsorgane. Dieser Schutzmechanismus sollte gewahrt werden; dem korrespondiert aber ein erhöhter Bedarf an Zeit für den Gesetzgebungsnotstand. So sah der Reformvorschlag der Enquete- Kommission eine Frist von neun Monaten vor.632 Ziel war es, mit der Verlängerung die Anzahl der beschlossenen Gesetze zugunsten der Bundesregierung zu erhöhen. Dagegen wird eingewandt, die Verlängerung des Zeitraumes bewirke letztlich die Kräfteverschiebung zwischen Parlament und Exekutive zugunsten der Exekutive. Dies lasse einen Missbrauch befürchten.633 Allerdings ist nicht ersichtlich, wieso die Verlängerung in Höhe von drei Monaten gegenüber dem Zeitraum von sechs Monaten für ein gravierenderes Missbrauchsrisiko sorgt. Vielmehr könnte zu erwägen sein, dass ein Zusatz von drei Monaten den Einwänden der verfahrensrechtlichen Überfrachtung des Art. 81 GG gerecht werden könnte. Die Frage nach der adäquaten Fristlänge findet keine empirische Stütze; es ist anhand bestehender Daten nicht zu beantworten, wie lange eine Regierungskrise anhält und ob ein Kriseninstrument daher eher auf sechs, neun oder gar zwölf Monate angelegt sein muss, um die Krise nachhaltig zu bewältigen. Auf Basis der genannten Reformvorschläge zum Art. 81 Abs. 5 GG-E ist allerdings wohl ein Zeitraum von sechs Monaten weiterhin zu befürworten, um dem bereits angesprochenen Problem einer Krisenverschleppung entgegen zu wirken. bb) Ersparnisse bei der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands Sollte eine Fristverlängerung daher abzulehnen sein, könnte alternativ erwogen werden, die verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Art. 81 GG der kurzen Dauer des Gesetzgebungsnotstands anzupassen, indem Verfahrenserleichterungen 631 Der Reformvorschlag der Enquete-Kommission sah im Rahmen des Art. 81 Abs. 1 S. 2 GG eine Frist von zwei anstelle von vier Wochen vor. 632 Bundestag, Drucks. 17/5924, S. 44 f. 633 Vgl. Brandt, Vorzeitige Beendigung der Wahlperiode durch Parlamentsbeschluss, Minderheitsregierung und Gesetzgebungsnotstand, in: ZfP 1977, S. 350 (361).
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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gegenüber der geltenden Fassung zu treffen sind. Die Enquete-Kommission erwog umfassende prozedurale Erleichterungen und schlug folgenden Wortlaut für Art. 81 GG vor: „Während der Amtszeit eines Bundeskanzlers kann auch jede andere Gesetzesvorlage, die die Bundesregierung innerhalb einer Frist von neun Monaten nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes im Bundestag eingebracht und ihm gegenüber als dringlich bezeichnet hat, in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Absatzes 2 verabschiedet werden. In diesem Falle beträgt die Frist des Absatzes 2 Satz 2 sechs Wochen von der Dringlichkeitserklärung an. (…)“634
Art. 81 GG sollte praktikabler werden, indem die Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes nicht für jede Gesetzesvorlage einzeln erfolgen müsste. Stattdessen sollte die erstmalige Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes nicht nur für diejenige Gesetzesvorlage gelten, für die er erstmalig beantragt wurde. Die im Zeitraum des Gesetzgebungsnotstandes eingebrachten Gesetzesvorlagen müssten auf diese Weise nicht das gesamte Verfahren des Art. 81 mitsamt der Zustimmung von vier Verfassungsinstanzen durchlaufen.635 Die Kommission rechtfertigte den Reformvorschlag gegenüber den Einwänden des Missbrauchsrisikos und der Annahme, das Parlament könne sich durch ein zu starkes Kriseninstrument in Form des Gesetzgebungsnotstands seiner Verantwortung als Gesetzgebers entledigen, mit der starken Gewaltenteilung im Grundgesetz. So wären zu Beginn des Gesetzgebungsnotstandes neben dem Antrag der Bundesregierung als Kollegialorgan die Mitwirkungshandlungen von Bundesrat, Bundespräsident und schließlich auch die Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler erforderlich. Zudem ist eingangs die Ablehnung der Vertrauensfrage notwendige Voraussetzung für ein späteres Verfahren nach Art. 81 GG. Die in Art. 68 niedergelegten Anforderungen sind hinreichend für die umfassende Sicherung vor missbräuchlicher Erklärung des Gesetzgebungsnotstandes.636 Insgesamt erscheint die prozedurale Erleichterung mithin sachgemäß und ist vor dem Hintergrund der umfassenden Sicherung durch Art. 68 GG aus verfassungsrechtlicher Sicht als nicht anfällig für schwerwiegende Missbräuche anzusehen. Hierfür spricht vor allem, dass bei der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch den Bundespräsidenten wie auch beim kollegialen Antrag der Bundesregierung ein Ermessen hinsichtlich der künftigen Handlungsfähigkeit getroffen wird. Hierbei werden die Handlungsfähigkeit der Bundes regierung und die erfolgreiche Kooperation mit dem Parlament nicht nur für eine einzelne Sachentscheidung, sondern für einen längeren Zeitraum bewertet. Ferner ist der Bundespräsident als Kontrollinstanz eingeschaltet; seine Aufgabe ist der Ausgleich der Interessen von Legislative und Exekutive unter Berücksichtigung ihrer Kräfteverhältnisse. Sein Ermessen wird sich daher regelmäßig ohnehin schon auf einen möglichen politischen Missbrauch beziehen. Im Falle derartiger prozeduraler Ersparnisse könnte dagegen auf eine längere Frist verzichtet werden. Hierfür 634
Bundestag, Drucks. 17/5924, S. 35. Bundestag, Drucks. 17/5924, S. 45. 636 Bundestag, Drucks. 17/5924, S. 46. 635
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Kap. 3: Regierungsstabilität nach dem Grundgesetz
spricht auch, dass dem Bundespräsidenten auf diese Weise auch nicht mittelbar Gesetzesvorlagen trotz abgelehnten materiellen Prüfungsrechts für Gesetze zur Disposition gestellt werden.637 5. Der Gesetzgebungsnotstand als ultima ratio – ein Fazit Der Gesetzgebungsnotstand ist noch nie zur Anwendung gekommen. Und dennoch zeigen die Ausführungen, dass die Vorschrift in keinem Falle als überflüssig anzusehen ist. Die Vorschrift leistet einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Regierungsstabilität: Der Gesetzgebungsnotstand markiert insgesamt denjenigen außerordentlichen Zustand, dass eine Regierung das Regierungsprogramm nicht durch Gesetzgebung zu realisieren vermag. Wie dargestellt leistet Art. 81 GG durch seine Rechtsfolgen einen elementaren Beitrag, eine Regierung im Bereich der Gesetzgebung in den Zustand der Handlungsfähigkeit zu versetzen. Durch seine präventive Wirkung sichert er die Rechtswirkungen und die mögliche Rechtsfolge eines Amtsverbleibs des Bundeskanzlers auch bei negativem Ausgang der Vertrauensfrage ab. Die Bundesregierung wird damit grundsätzlich als Kollegialorgan in ihrer Handlungsfähigkeit gestärkt; die präventive Wirkung könnte sogar insoweit eine Parlamentarisierung hervorrufen, als das Parlament durch Androhung der eigenen wirksamen Einflussnahme auf Gesetzgebung angehalten ist, im Rahmen alternativer Modelle der Mehrheitsfindung mit der Regierung zu kooperieren. Möglicherweise kann dadurch ein bislang jedenfalls nicht zur Tolerierung bereites Parlament wenigstens angehalten werden, wechselnde Mehrheiten für bestimmte inhaltliche Sachfragen zu bilden. Zudem begegnet Art. 81 GG mit seiner gesetzlich angeordneten Dauer von insgesamt sechs Monaten dem Risiko von Instabilität des Staatsapparats infolge von Kettenauflösungen durch fehlende Mehrheitsbildung oder fehlendes Bestehen von mehrheitlicher Unterstützung der Regierung, weil kurz aufeinander folgende Neuwahlen keine Abhilfe für die Konstruktion neuer Regierungskoalitionen durch neue Mandatsverhältnisse im Parlament schaffen. Die Situation in Israel veranschaulicht das Risiko eines parlamentarischen Selbstauflösungsrechts, das tatbestandlich nicht an solche Voraussetzungen geknüpft ist, die es so beschränken, dass es bei seiner Anwendung für eine Stabilisierung der Verhältnisse sorgt und die Krise letztlich beseitigt statt sie zu verstärken. Evident ist insgesamt, dass Art. 81 GG von dem als demokratische Entscheidungsregel und im Grundgesetz niedergelegten Mehrheitsprinzip für die parlamentarische Beschlussfassung von Gesetzen als hierzu im System der Gewaltenteilung befugtes Verfassungsorgan abweicht, um letztlich die Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen zu fördern und einen Beitrag zur Regierungsstabilität zu leisten. 637 Zu den Kompetenzen des Bundespräsidenten bei der Gesetzgebung, vgl. Schoch, Prüfungsrecht und Prüfungspflicht bei der Gesetzesausfertigung, in: ZG 2008, S. 209 (213); diese Frage wurde bereits in Kapitel 3 C. III. 2. a) ausführlich behandelt.
C. Sicherung der Handlungsfähigkeit der Regierung
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Nichtsdestoweniger enthält Art. 81 GG in seiner bisherigen Fassung keinen Beitrag zur Beseitigung der „Krise“. Zu Recht wird zum Teil auf den Zeitraum nach dem Ende des Gesetzgebungsnotstands hingewiesen. Nicht sachdienlich und zu gravierend im Hinblick auf Gewaltenteilung, Wesentlichkeitstheorie und demokratischer Gesetzgebung erscheint, den Gesetzgebungsnotstand auf eine über die sechs Monate hinausgehende Dauer zu erweitern. Der Bruch der Gewaltenteilung kann in einem demokratischen System bzw. dem parlamentarischen Regierungssystem nicht zu einem Dauerzustand werden und erst recht nicht für eine gesamte Legislaturperiode gelten. Sachdienlich und system- sowie regierungsstabilisierend erscheint aber, Kettenauflösungen zu unterbinden, indem wenigstens ein halbes Jahr Regierungszeit mitsamt der Umsetzung der vom Bundeskanzler bestimmten Richtlinienpolitik gesichert wird. Mit den in dieser Arbeit aufgeführten Reformvorschlägen sowohl zu den prozeduralen Anforderungen als auch zu dem Selbstauflösungsrecht des Bundestages kann eine Regierungszeit in für das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament angemessener Weise stabilisiert werden: Die Regierung ist und bleibt handlungsfähig, das Parlament ist zunächst zur Mehrheitsbildung und später zur Debatte über eine eigene Auflösung angehalten.
Kapitel 4
Die Geschäftsregierung „Die Verfassung darf keine Bestimmung über ein Notstandsrecht enthalten, die dem Parlament gestattet, sich der politischen Verantwortung zu entziehen.“ (W. Menzel)1
Ist der regierungslose Zustand durch Verpflichtung zur Fortführung sämtlicher Regierungsgeschäfte durch eine Geschäftsregierung verhindert, so könnte angenommen werden, dass die Bundeskanzlerwahl nach Art. 63 GG eventuell in Gänze unterbleiben könnte, wenn eine Geschäftsregierung eine verfassungsrechtlich ebenso starke oder sogar stärkere Rechtsposition gegenüber einer Minderheitsregierung hätte. Wenn etwa zu befürchten wäre, dass ohnehin keine Mehrheitsregierung zustande käme, weil die Sondierungs- oder Koalitionsphase sich problematisch darstellte, könnte von weiteren Versuchen der neuen Regierungsbildung dann abgesehen werden, wenn die Verfassung so ausgerichtet wäre, dass eine Geschäftsregierung ebenso effektiv regieren könnte wie eben eine Minderheitsregierung. Hierfür ist der unmittelbare Vergleich der verfassungsrechtlichen Stellungen von Minderheits- und Geschäftsregierung erforderlich.
A. Die Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG Im ersten Kapitel wurde bereits dargestellt, dass die Bildung der Geschäfts regierung durch das nach Art. 69 Abs. 3 GG notwendige Ersuchen bisheriger Minister bzw. Bundeskanzler durch Bundeskanzler oder Bundespräsident erfolgt.2 Die Geschäftsregierung erfährt ihre Legitimation daher ausschließlich durch diese Beauftragung, nicht aber durch vorangegangene Wahlen.3 Sie soll die staatliche Handlungsfähigkeit erhalten und verhindert deshalb den regierungslosen Zustand bzw. vereinzelte personelle Vakanzen in der Bundesregierung.4 Das Amtieren von Geschäftsregierungen ist in folgenden Fällen denkbar: – Mit dem regulären Ende der Legislaturperiode endet gemäß Art. 39 Abs. 2, 69 Abs. 2 GG auch die Amtszeit der Regierung. Solange keine neue Regierung nach 1 Richtlinien für den Aufbau der Deutschen Republik, abgedruckt bei Sörgel, Konsensus und Interessen, S. 263 (264). 2 Siehe Kapitel 1 B. III. 3 Dreier / Hermes, GG Art. 69 Rn. 18. 4 Groß, Zur geschäftsführenden Regierung, in: DÖV 1982, S. 1008 (1009 f.).
A. Die Geschäftsregierung nach Art. 69 Abs. 3 GG
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Art. 63, 64 GG gebildet wurde, amtiert die bisherige Regierung als Geschäfts regierung.5 – Tritt der Bundeskanzler zurück, so enden auch die übrigen Ämter der Regierungsmitglieder nach Art. 69 Abs. 2 HS. 2 GG. Es besteht also eine Akzessorietät zwischen Bundeskanzleramt und Bundesministerämtern. In diesem Fall amtieren ebenfalls alle Regierungsmitglieder als geschäftsführendes Kabinett weiter.6 – Wählt der Bundestag einen neuen Bundeskanzler nach Maßgabe des Art. 67 GG und hat dieser Bundeskanzler noch kein neues Kabinett gebildet, so amtieren die Bundesminister als geschäftsführende Regierungsmitglieder bis neue Minister nach Maßgabe des Art. 64 GG in ihr Amt berufen werden.7 Dasselbe gilt für denjenigen Fall, dass der Bundestag den neuen Bundeskanzler nach Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG wählt. – Wurde der Bundestag nach Art. 68 GG aufgelöst, so endet die Legislaturperiode vorzeitig. Sobald der neue Bundestag zusammentritt, enden auch sämtliche Regierungsämter gemäß Art. 69 Abs. 2 GG. Im zweiten Kapitel wurde bereits dargestellt, dass die Vorschrift des Art. 69 Abs. 3 GG keinen direkten Krisenbezug aufweist, sondern als Krisenverhinderungsrecht der ersten Rechtsschicht des heuristischen Schichtenmodells des Verfassungsrechts nach A. Kaiser zuzuordnen ist.8 Die Zulässigkeit als Geschäftsregierung zu amtieren verhindert nicht nur den Zustand einer Verfassungskrise, sondern einer Staatskrise. Sofern keine Regierung bestellt ist, treten für eine Demokratie und speziell für das parlamentarische Regierungssystem schlechterdings untragbare Konsequenzen ein: – Ohne Regierung fehlt es in Gänze an dem Legitimationstransfer, den eine Regierung im Verhältnis zum Parlament leistet. Ohne amtierende Bundesminister besteht keine parlamentarische Kontrolle des gesamten exekutiven Handelns. Ohne amtierende Bundesminister fehlt der Zusammenhang der Weisungsgebundenheit von Verwaltungsorganen und der Verantwortungsbeziehung zwischen Exekutive und Legislative.9 Nichtsdestoweniger ist hier zu beachten, dass das Parlament zwar in der Lage ist, Interpellationsrechte auszuüben. Eine effektive parlamentarische Kontrolle ist wohl aber nicht möglich, da dem Parlament die Möglichkeit des Regierungssturzes aus Art. 67 GG fehlt.10 Es wird hierdurch der Anreiz geschaffen, eine neue Regierung zu bilden; die Bundeskanzlerwahl ist dann der einzige in Betracht kommende Weg, die Geschäftsregierung zu be 5
Dreier / Hermes, GG Art. 69 Rn. 17. Dreier / Hermes, GG Art. 69 Rn. 13, 17. 7 Dreier / Hermes, GG Art. 69 Rn. 17. 8 Siehe Kapitel 2 A. I. 1. c). 9 Ausführlich hierzu siehe bereits Kapitel 3 A. II. 10 Stellvertretend für viele Dreher, Geschäftsführende Regierungen, in: NJW 1982, S. 2807 (2808); Groß, Zur geschäftsführenden Regierung, in: DÖV 1982, S. 1008 (1012 f.); Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 67 ff. 6
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Kap. 4: Die Geschäftsregierung
seitigen.11 Herzog hält es in diesem Zusammenhang für zulässig, Vakanzen für wenige Tage oder Wochen über die Leitung der Staatssekretäre zu überbrücken; in diesem Falle sei es verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn die Ressortleitung ihnen überlassen werde.12 – Sollte es zu einem regierungslosen Zustand kommen, drohen auch gravierende politische und gesellschaftliche Konsequenzen. Der Bundeskanzler bestimmt gemäß Art. 65 S. 1 GG die Richtlinien der Politik, in diesem Rahmen üben und füllen Bundesminister das ihnen unterstehende Ressort gemäß Art. 65 S. 2 GG aus. Ohne amtierenden Bundeskanzler oder Bundesminister kann mitunter auf kurzfristige Problematiken nicht adäquat eingegangen werden, da nicht klar ist, wie diese inhaltlich zu entscheiden sind. Wie dargestellt13 fungiert die Bundesregierung im Bereich der Gesetzgebung als die das Gesetz vorbereitende Instanz, während das Parlament über die Verbindlichkeit entscheidet. Zwar ist denkbar, dass Gesetzesinitiativen zur Bewältigung bestimmter politischer Herausforderungen oder zur generellen (Neu-)Regelung eines Sachverhalts auch „aus der Mitte des Bundestages“ gemäß Art. 76 Abs. 1 GG eingebracht werden. Das Parlament als solches ist politisch allerdings heterogen; die Regierung ist politisch weitgehend homogen. Soweit nur parlamentarische Gesetzesinitiativen eingebracht werden, ist zu befürchten, dass widersprüchliche Sachentscheidungen ergehen, weil eine klare politische Grundausrichtung nicht bestimmt ist. Das Parlament ist nicht nur im Bereich der Gesetzgebung aufgrund dieser heterogenen Struktur und seiner für die Demokratie essenzielle Pluralisierung nicht darauf ausgelegt zu „regieren“. Im parlamentarischen System, so Friesenhahn, könne „immer nur ein kleiner Kreis von Personen, nicht ein ganzes Parlament“ regieren.14 – Die Bundesregierung nimmt darüber hinaus noch andere, politisch wie auch verfassungsrechtlich bedeutsame Aufgaben wahr. Sie repräsentiert die Bundes republik Deutschland etwa in europäischen bzw. internationalen und diploma tischen Beziehungen. Diese sind im Zeitalter von Globalisierung und internationalen Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung, Sicherheit und sozialen wie wirtschaftlichen Problematiken und nicht zuletzt auch gemeinsamer Pandemie-Bekämpfung unabdingbar. Dagegen nimmt Herzog an, die Geschäfts regierung sei außenpolitisch ohnehin handlungsunfähig, da andere Staaten sich nicht in Verhandlungen mit einer geschäftsführenden Regierung einließen. Ferner sind die in der Verfassung ausgebrachten Aufgaben, etwa das Einbringen der Gesetzesvorlage zur Aufstellung des Haushaltes aus Art. 110 Abs. 3 GG, staatstragend. Insgesamt verhindert die Geschäftsregierung damit nicht nur eine politische Krise, sondern mitunter auch eine Verfassungs- und sogar eine Staatskrise. 11
Vgl. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 62. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 47. 13 Siehe Kapitel 3 C. I. 14 Friesenhahn, Parlament und Regierung im modernen Staat, in: VVDStRL 1958, S. 9 (33). 12
B. Die Kompetenzen von Geschäfts- und Minderheitsregierung im Vergleich
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B. Die Kompetenzen von Geschäfts- und Minderheitsregierung im Vergleich Mit anderen Worten, vergangene Woche ging bei den allermeisten ein Aufatmen durchs Land – das war deutlich zu spüren. Es ist gut, dass die Zeit der Ungewissheit und Verunsicherung vorbei ist. Es ist gut, dass drei Parteien bereit und willens sind, Regierungsverant wortung zu übernehmen. (Frank-Walter Steinmeier)
Ist der regierungslose Zustand durch Verpflichtung zur Fortführung sämtlicher Regierungsgeschäfte durch eine Geschäftsregierung verhindert, so könnte angenommen werden, dass das Ingangsetzen der Bundeskanzlerwahl nach Art. 63 GG eventuell gänzlich unterbleiben könnte, wenn eine Geschäftsregierung eine verfassungsrechtlich ebenso starke oder sogar stärkere Rechtsposition gegenüber einer Minderheitsregierung hätte. Wenn etwa zu befürchten wäre, dass ohnehin keine Mehrheitsregierung zustande käme, weil die Sondierungs- oder Koalitionsphase sich problematisch darstellte, könnte von weiteren Versuchen der neuen Regierungsbildung dann abgesehen werden, wenn die Verfassung so ausgerichtet wäre, dass eine Geschäftsregierung ebenso effektiv regieren könnte wie eben eine Minderheitsregierung. Hierfür ist der unmittelbare Vergleich der verfassungsrecht lichen Stellungen von Minderheits- und Geschäftsregierung erforderlich.
I. Verfassungsrechtliche Regierungsinstrumente: Minderheits- und Geschäftsregierung im Vergleich 1. Zur Anwendbarkeit von Art. 68 und 81 GG Zunächst könnten die Kompetenzen von Minderheits- und Geschäftskanzler ausschlaggebend sein, zumal die Stellung des Kanzlers in der parlamentarischen Demokratie der Bundesrepublik maßgeblich für die gesamte Regierungsarbeit ist. Es ist zu konstatieren, dass die Kompetenzen von Minderheits- und Geschäftsregierung gegenüber denjenigen Kompetenzen einer Mehrheitsregierung nicht begrenzt sind. Was die Geschäftsregierung betrifft, so wird überwiegend angenommen, dass entgegen dem Wortlaut, wonach eine „Fortführung der Geschäfte“ vorgesehen ist, sämtliche Regierungstätigkeit zu verstehen ist. Insbesondere verfügt der Geschäftskanzler über die Richtlinienkompetenz aus Art. 65 S. 1 GG.15 Eine andere Ansicht versteht unter Geschäftsfortführung demgegenüber ausschließlich diejenigen Geschäfte, die „den Staatsapparat am Laufen halten, darüber hinaus aber lediglich solche Vorhaben durchführen darf, die keinen Aufschub 15 Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 60; Bonner Kommentar / Schenke, GG Art. 69 Rn. 39; Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (108).
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Kap. 4: Die Geschäftsregierung
dulden“.16 Diese Ansicht hätte den Vorteil, dass durch eine Begrenzung der Kompetenzen einer Geschäftsregierung eventuell ein erhöhter Anreiz für die Neubildung der Regierung bestünde. Aus teleologischer Sicht sollen aber gerade Funktionsausfälle vermieden werden. Solange verfassungsrechtlich keine Höchstdauer für das Interregnum normiert ist, muss davon ausgegangen werden, dass Geschäftsfortführung umfassend gemeint ist. Der entscheidende Unterschied zwischen den verfassungsrechtlichen Positionen von Minderheits- und Geschäftskanzler liegt darin, dass dem Geschäftskanzler weder die Wirkung des Art. 67 GG noch diejenigen Mechanismen aus Art. 68 oder 81 GG zukommen. Entgegen der Ansicht Kerstens, der insbesondere den Gesetz gebungsnotstand als unpraktikabel erachtet17, ist darin eine deutliche Schwächung der verfassungsrechtlichen Kompetenzen zu sehen. Dem Geschäftskanzler stehen keine Druckmittel zur Verfügung, die das Parlament anhalten könnten, seinen Politikrichtlinien Folge zu leisten oder sich diesen gar inhaltlich anzunähern.18 Damit könnte die Phase der Geschäftsregierung als Zustand des absoluten politischen Stillstandes gesehen werden. So bezweifelt Schwarz, ob eine Geschäftsregierung die Staatsgewalt tatsächlich ausübt.19 In der verfassungsrechtlichen Entscheidung, die Rechtsposition des Geschäftskanzlers in dieser Hinsicht zu begrenzen, ist eine Priorisierung der Regierungsformen zu sehen. Das Parlament muss einen neuen Kanzler wählen, um die Geschäftsregierung zu beseitigen. Damit bevorzugt das Grundgesetz jede Form der Regierung gegenüber der Geschäftsregierung. Solange der Bundestag aber nicht die Wahlphasen des Art. 63 GG in Gang setzt, kann er sich ohne jede Form der Abhilfe jedweder Gesetzgebung versperren. Dies ist insbesondere für den Kanzler problematisch, der seine Mehrheit verloren hat oder dessen ehemalige Koalition zerbrochen ist, sodass er als Minderheitskanzler in einer Geschäftsregierung amtiert. Art. 67 GG verhindert seinerseits den Zustand der geschäftsführenden Regierung, indem er den Regierungssturz unter die Bedingung der Wahl eines Mehrheitskanzlers stellt.20
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Dreher, Geschäftsführende Regierungen, in: NJW 1982, S. 2807 (2808). Kersten, Parlamentarische oder stabile Regierung, in: Gusy, Weimars lange Schatten, S. 281 (295) m. w. N. 18 Jarass / Pieroth, GG Art. 69 Rn. 3; Lutz, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, S. 75 f.; Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 61; Stern, Staatsrecht II, S. 297; Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105 (109); Puhl, Die Minderheits regierung nach dem Grundgesetz, S. 186 m. w. N. 19 Schwarz, Neuregelung der Regierungsbildung, in: ZRP 2018, S. 24 (25). 20 Eine ausführliche Behandlung der Voraussetzungen und Wirkungen des konstruktiven Misstrauensvotums findet sich in Kapitel 3 B. II. 17
B. Die Kompetenzen von Geschäfts- und Minderheitsregierung im Vergleich
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2. Personalkontinuität als praktische Paradoxie Der Kanzler einer Geschäftsregierung hat keine Kompetenz zur Kreation der Regierung. Er bzw. der Bundespräsident sind verpflichtet, diejenigen Minister für das Fortführen der Ämter zu ersuchen, die bislang auch ein Ministeramt ausübten. Aus der Personalkontinuität ergeben sich – wie die Wahl des Ministerpräsidenten im Frühjahr 2020 in Thüringen gezeigt hat – Schwierigkeiten. Nach dem Grundgesetz wie auch nach der Landesverfassung Thüringens vollzieht sich die Regierungsbildung zweistufig: auf der ersten Stufe erfolgt die Bundeskanzlerbzw. Ministerpräsidentenwahl durch das jeweilige Parlament. Auf zweiter Stufe werden die Minister auf Vorschlag des Bundeskanzlers bzw. durch den Ministerpräsidenten ernannt. Nach der Landesverfassung des Freistaats Thüringen wählt der Landtag gemäß Art. 48 Abs. 2 den Ministerpräsidenten. Die Wahl vollzieht sich ebenso wie auf Bundesebene in drei möglichen Wahlphasen, wobei die erste und zweite Wahlphase gemäß Art. 70 Abs. 3 S. 1 sowie S. 2 ThürLVerf zur Wahl eines Ministerpräsidenten die Mehrheit der Mitglieder erfordert. Vermag keiner der Kandidaten in diesen Wahlphasen diese Mehrheit auf sich zu vereinen, so erfolgt eine Wahl, in welcher gemäß Art. 70 Abs. 3 S. 3 ThürLVerf gewählt ist, wer die relative Mehrheit erhält. Mit dem Zusammentritt des Thüringer Landtags am 26. November 2019 endete gemäß Art. 75 Abs. 2 S. 1, 1. Fall ThürLVerf die Amtszeit der Landesregierung. Der bis zu diesem Zeitpunkt amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) ersuchte am selben Tag die Minister zur Fortführung der Geschäfte. Thomas Kemmerich (FDP) erhielt am 5. Februar 2020 in der dritten Wahlphase eine Stimme mehr als Ramelow und wurde somit zum Ministerpräsident ernannt. Während die Tagesordnung vorsah, dass Kemmerich nach seiner Wahl gemäß Art. 70 Abs. 4 S. 1 ThürLVerf die Regierung vorstellt bzw. die Minister ernennt, beantragte er die Vertagung der Sitzung. In der Folge ernannte Kemmerich keine neue Regierung und ging entgegen dem Wortlaut aus Art. 75 Abs. 3 ThürLVerf („bis zum Amtsantritt“ der nachfolgenden Regierungsmitglieder)21 davon aus, dass die Amtszeit der geschäftsführenden Regierung mit seiner Wahl endete. Nach seinem Rücktritt konnte Kemmerich auch keine neue Regierung ernennen. In der Folge war er für eine Dauer von einem Monat bis zur Wahl Ramelows am 4. März 2020 – so jedenfalls nach der Praxis – alleiniges Mitglied der Regierung Thüringens. Dies steht dem Sinn und Zweck der Geschäftsregierung, eine regierungslose Zeit zu verhindern, zuwider. Es ist politisch wie auch verfassungsrechtlich bedenklich, einen Staat für die Dauer eines Monats regierungslos zu belassen. Doch unabhängig davon, ob die Praxis auf einer Fehlauslegung des Art. 75 Abs. 3 ThürLVerf basierte, hätte Kemmerich jedenfalls mit einem Kabinett rot-rot-grüner Minister amtiert. Kemmerich hatte stattdessen 21
Siehe Meier / Wille, https://verfassungsblog.de/totgesagte-leben-laenger/.
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Kap. 4: Die Geschäftsregierung
die Staatssekretäre mit der Fortführung der Geschäfte betraut.22 Auf Bundesebene führte die zweistufige Regierungsbildung dazu, dass vier Bundesminister der FDP für eine Dauer von drei Monaten ihr Amt behalten mussten, obwohl die Partei in der 18. Legislaturperiode nicht erneut in das Parlament eingezogen war.23
II. Geschäftsregierung im Lichte des Demokratieprinzips Zwar ist zu konstatieren, dass das Institut einer Geschäftsregierung aus staatsrechtlicher Sicht obligatorisch ist: schon der zeitweilige Wegfall von Staatsorganen, insbesondere eben der Bundesregierung als oberstes Verfassungsorgan mit politischen Kompetenzen immenser staatsrechtlicher Bedeutung, mündet wie oben dargestellt in Funktionsstörungen und Funktionsausfällen der Regierungsfunktion. Ferner könnte fehlende Organpermanenz die Machtdezentralisierung und die im Grundgesetz vorgesehene Gewaltenteilung beeinträchtigen oder sogar aufheben: Stellt das Grundgesetz bislang sicher, dass die Kompetenzen von Verfassungsorganen ihre Grenze im Kernbereich anderer Gewalten finden, wäre etwa zu befürchten, dass die politische Führung, die richtungsgebenden Entscheidungen von Innen- oder Außenpolitik wie auch die Administration nunmehr von Organen der Legislative übernommen würde. Dies wäre vor allem deshalb problematisch, weil im Sinne von checks and balances gerade Kontrollinstrumente anderer Gewalten gegenüber fremden Kernkompetenzen deren Verfassungsmäßigkeit sichern.24 Insoweit wirkt auch die Vorschrift des Art. 69 Abs. 3 GG für sich genommen stabilisierend. Insbesondere hat der Bundespräsident den bisherigen Bundeskanzler unverzüglich zu ersuchen25, woran zu erkennen ist, dass ein lückenloses Regieren gewährleistet sein soll. Hierfür streitet auch die Restriktion von Ausnahmefällen, in denen der bisherige Amtsinhaber jeweils seiner Verpflichtung zur Fortführen entgehen kann.26 Jedoch regelt Art. 69 Abs. 3 GG mit der Verpflichtung der Fortführung von Regierungsgeschäften ausweislich der systematischen Stellung der Vorschrift ausschließlich die Nachwirkungen einer aus dem Amt ausgeschiedenen Regierung.27 Dass eine möglichst effektive Vermeidung einer regierungslosen Zeit erzielt wird, meint nicht, dass die Wahl eines neuen Bundeskanzlers und anschließender (Neu-) Bildung des Kabinetts obsolet wäre. Die Annahme, dass die bloße Existenz einer Geschäftsregierung eine Neuwahl erübrigt, läuft dem Demokratieprinzip zuwider. Zwar hat die ehemalige Regierung ihre damalige Legitimation aus früheren Wahlen erfahren. Allerdings ist für ebendiese demokratische Legitimation erforderlich, 22
Siehe Meier / Wille, https://verfassungsblog.de/totgesagte-leben-laenger/. Kämmerer, Deutschland auf dem Weg zur „Lame Duck Democracy“? – Eine kleine Systemkritik, in: NVwZ 2014, S. 29 (30). 24 Vgl. Klein, HStR III, § 279 Rn. 28. 25 Sodan / L eisner, GG Art. 69 Rn. 5; vgl. auch Schröder, HStR II, § 65 Rn. 46. 26 Zu den zulässigen Gründen der Nichtfortführung siehe insbesondere Kapitel 1 B. III. 27 Vgl. Maunz / Dürig / Herzog, GG Art. 69 Rn. 46, 54. 23
B. Die Kompetenzen von Geschäfts- und Minderheitsregierung im Vergleich
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dass der Wahlauftrag fortbesteht und periodisch erneuert wird.28 Hierfür besteht eine maximale Anzahl von Jahren, die eine Legislaturperiode andauern kann bis der Auftrag des Wählers „verbraucht“ ist. Die Legitimation erfährt die Geschäftsregierung allein aus ihrer nach Art. 69 Abs. 3 GG erfolgten Beauftragung. Insoweit stellt das unbegrenzte Weiterregieren als Geschäftsregierung ohne das in Gangsetzen der Wahlphasen aus Art. 63 GG eine Verkürzung des Demokratieprinzips dar; die Legitimationsbeziehung zwischen Regierung und Parlament wird aufgelöst.29 Damit ist die Geschäftsregierung als Fremdkörper des parlamentarischen Regierungssystems anzusehen. Das Ersuchen des Bundespräsidenten vermag die notwendige demokratische Legitimation auch nicht alternativ herzustellen.
III. Politischer Stillstand und das freie Mandat Die Regierungsbildung in der 18. Legislaturperiode (Oktober 2013) dauerte insgesamt drei Monate. Durch die im Parlament nunmehr herrschenden Kräfteverhältnisse, die wie dargestellt bewirkten, dass noch vier FDP-Bundesminister geschäftsführend im Ministeramt verblieben, ohne dass ihre eigene Partei als Fraktion im Bundestag vertreten war, zeichnete sich ein Zustand des politischen Stillstandes ab: In dieser Zeit, so Kämmerer30, schaltete sich der Bundestag „auf Standby und delegierte (…) Sachaufgaben ad interim auf einen Hauptausschuss. Deutschlands Demokratie legt sich, so scheint es, ganz bewusst lahm.“ Der Hauptausschuss, bestehend aus 47 Abgeordneten, fungierte gleichzeitig als Haushaltsausschuss, Verteidigungsausschuss, als Petitionsausschuss, Ausschuss für auswärtige Fragen und anderen Ressorts. Werden Sachentscheidungen regelmäßig durch Arbeit in Ausschüssen ausgearbeitet, so war in diesem Zusammenhang augenscheinlich, dass in bezeichnetem Zeitraum keine Neubildung der zuvor 22 Ausschüsse erfolgte.31 Dies sei ein nicht im Sinne des Grundgesetzes zulässiger Zustand: Eine Verkleinerung des Parlaments sieht die Verfassung nur in abschließend im Gesetz kodifizierten Fällen, namentlich im Verteidigungsfall gemäß Art. 53a GG, vor. Nur im Verteidigungsfall kann der gemeinsame Ausschuss gemäß Art. 115e GG gesetzgeberisch anstelle des Bundestages und Bundesrates tätig werden. Eine Verkleinerung des Parlaments und damit der faktische Ausschluss von Abgeordneten tangiert das verfassungsrechtlich garantierte Institut des freien Mandats aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG.32 28
Unter anderem BVerfGE 62, 1 (44). Schemmel, Die geschäftsführende Bundesregierung, in: NVwZ 2018, S. 105; Dreher, Geschäftsführende Regierungen, in: NJW 1982, S. 2807; siehe auch Puhl, Die Minderheitsregierung nach dem Grundgesetz, S. 21. 30 Im Folgenden Kämmerer, Deutschland auf dem Weg zur „Lame Duck Democracy“? – Eine kleine Systemkritik, in: NVwZ 2014, S. 29. 31 Im Folgenden Kämmerer, Deutschland auf dem Weg zur „Lame Duck Democracy“? – Eine kleine Systemkritik, in: NVwZ 2014, S. 29 (31). 32 St. Rspr. des BVerfG, siehe beispielhaft BVerfGE 112, 118 (133 f.). 29
256
Kap. 4: Die Geschäftsregierung
IV. Fazit: Chance der Parlamentarisierung vs. demokratischer Stillstand Bereits die Unterschiede der Kompetenzen einer Minderheitsregierung bzw. einer Geschäftsregierung zeigen deutlich, dass eine Minderheitsregierung verfassungspolitisch den zu präferierenden Fall darstellt: Gegenüber dem langfristigen Amtieren einer Geschäftsregierung ist vorzugswürdig, dass eine formelle Minderheitsregierung in das Amt bestellt wird. Während die Minderheitsregierung die im dritten Kapitel dargestellten Kompetenzen und Mechanismen für sich gewinnbringend und erfolgversprechend nutzen kann, ist aus verfassungsrechtlicher wie auch aus politischer Sicht zu befürchten, dass die Geschäftsregierung sich in politischem Stillstand üben muss. Der Einwand, die Geschäftsregierung und die Minderheitsregierung seien vergleichbar politisch und verfassungsrechtlich instabil vermag daher nicht zu überzeugen. Ein nicht unwesentlicher Faktor bei der Bewertung muss auch sein, dass die Geschäftsregierung bei veränderten Kräfteverhältnissen im Parlament ebenfalls gleichzeitig eine materielle Minderheitsregierung sein kann. Der Legitimationszusammenhang zwischen Parlament und Regierung ist aufgehoben. Die Geschäftsregierung ist damit ein Fremdkörper für das parlamentarische Regierungssystem. Für den Fall des Amtierens einer Geschäftsregierung hält das Grundgesetz als Krisenbeseitigungsmechanismus ausschließlich die Wahl des Bundeskanzlers nach Art. 63 GG bereit. Die Gesamtschau der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zur Minderheitsregierungen, insbesondere das konstruktive Misstrauensvotum aus Art. 67 GG zeigen deutlich, dass eine Geschäftsregierung vermieden werden soll. Sowohl in Art. 67 GG als auch Art. 68 Abs. 1 S. 2 GG hat das Parlament nur die Möglichkeit einer Abwahl der Regierung, indem sie einen neuen Bundeskanzler wählt, der seinerseits eine neue Regierung nach Art. 64 GG im formellen Zusammenwirken mit dem Bundespräsidenten veranlasst. Es hat aber nicht die Möglichkeit, eine Regierung abzubestellen, die dann weiter als Geschäftsregierung amtiert. Es wird deutlich: Alle verfassungsrechtlichen Normen des parlamentarischen Regierungssystems sollen die langfristig amtierende geschäftsführende Regierung vermeiden. Die Geschäftsregierung aus Art. 69 Abs. 3 GG erfüllt nur eine Funktion im Staatsgefüge der Bundesrepublik Deutschland: Sie verhindert den regierungslosen Zustand. Darin ist sicherlich auch ein insgesamt stabilisierender Faktor zu sehen; der Staat soll nicht „unregiert“ sein und sich jederzeit einer Bundesregierung versehen. Eine politische oder verfassungspolitische Stabilität kann eine Geschäftsregierung aber nicht leisten. Dies gilt erst recht, wenn die Geschäftsregierung durch Beendigung der Regierungsämter nach Art. 39 Abs. 2, 69 Abs. 2 GG wegen des Endes der Legislaturperiode in ihr Amt gelangt ist. Regelmäßig herrscht dann auch in der Bevölkerung der Eindruck, die Regierung sei überholt, sie sei „abgewählt“. Eine Geschäftsregierung ist zuletzt im Gegensatz zu einer nach Art. 63 Abs. 4 GG gewählten Minderheitsregierung jedenfalls nicht als parlamentarische
B. Die Kompetenzen von Geschäfts- und Minderheitsregierung im Vergleich
257
Regierung anzusehen. Hermes bezeichnet die Geschäftsregierung als die „Durchbrechung der im parlamentarischen System eigenen Vertrauensabhängigkeit der Regierung“.33
33
Dreier / Hermes, GG Art. 69 Rn. 18.
Fazit Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist. (Angela Merkel)
Zu Beginn dieser Arbeit wurde erläutert, dass das Mehrheitsprinzip eine konstitutive Funktion in demokratischen Systemen übernimmt. Es handelt sich dabei um eine Entscheidungsregel, die es zulässt, auch im Bereich hochkomplexer Sachmaterien und Meinungsvielfalt dennoch Entscheidungen zu treffen. In einer demokratischen Herrschaft ist dabei auf einen Richtigkeitsanspruch dieser Entscheidungen zu verzichten. Mehrheitsentscheidungen wurden von der „Mehrheit“ getroffen. Gleichwohl ist systemnotwendig, dass Sachentscheidungen entwicklungs- sowie fehleroffen und damit auch umkehrbar sind. Das Mehrheitsprinzip offenbart sich in dem parlamentarischen System, wie es in der Bundesrepublik Deutschland vorzufinden ist, auch und insbesondere bei der Regierungsbildung. Bis zur 19. Legislaturperiode lief dieser Prozess im deutschen Bundestag nahezu reibungslos ab. Nunmehr stellten sich aufgrund unterschiedlicher Ursachen neue Herausforderungen für die Regierungsbildung und die Regierungsstabilität. Die Mehrheitsregierungen, häufig große Koalitionen, hatten sich in der Regel schnell formiert, der Gesetzgebungsprozess kann als ein „Durchwinken“ bezeichnet werden, das in einer exekutiven Dominanz des Gesetzgebungsprozesses mündete. Das bedeutet, dass Gesetzesinitiativen der Bundesregierung aufgrund der im Parlament herrschenden Kräfteverhältnisse unproblematisch per Beschluss aus Art. 77, 42 Abs. 2 GG angenommen wurden. Auf Bundesebene ist eine formelle Minderheitsregierung noch nicht praktisch geworden, dennoch zeigt die Bearbeitung, dass es sich aus wissenschaftlicher wie auch aus verfassungspolitischer Sicht lohnt, eine Minderheitsregierung und ihre Regierungsfähigkeit zu erforschen. Die aufgeworfenen Untersuchungsfragen betreffen im Kern die Problematik, ob eine Minderheitsregierung in das Regierungsamt gelangen kann und ob sie darüber hinaus auch fähig ist, zu regieren. Es stellt sich sowohl die Frage, warum sie überhaupt in das Amt gelangen könnte, also welche rechtlichen und gesellschaftlichen Aspekte eine solche Bildung begünstigen und inwieweit sie vor dem Hintergrund der Regierungsstabilität auch erfolgreich zu amtieren vermag. Im ersten Kapitel wurde festgestellt, dass das Grundgesetz jenseits der formellen und / oder materiellen Mehrheitsregierung noch weitere Regierungstypen zulässt und sich die Bildungsmodalitäten unterscheiden, wobei sich die Einordnung in einen bestimmten Regierungstyp zur „Kanzlerfrage verdichtet hat“. Sowohl
Fazit
259
die Bestellung einer formellen (und gleichzeitig auch materiellen) Minderheits regierung nach Art. 63 Abs. 4 GG als auch das Amtieren einer Geschäftsregierung nach Maßgabe des Art. 69 Abs. 3 GG sind zulässig. Daneben entsteht eine Minderheitsregierung auch dadurch, dass eine zunächst als formelle Mehrheitsregierung in das Amt bestellte Regierung das mehrheitliche Vertrauen nachträglich verliert und so zu einer materiellen Minderheitsregierung wird. Mit Ausnahme der Geschäftsregierung handelt es sich bei sämtlichen Regierungstypen um parlamentarische Regierungen. Im zweiten Kapitel wurden diejenigen Faktoren und systemimmanenten Phänomene erörtert, welche die Wahrscheinlichkeit der Bestellung einer (formellen) Minderheitsregierung auch auf Bundesebene erhöhen bzw. die Bildung einer (formellen) Mehrheitsregierung erschweren. Diese Annahme ist auf einen verfassungspolitischen sowie einen gesellschaftlichen Wandel zurückzuführen. Der Wandel führte zu einer Abnahme von Koalitionsbereitschaft und Koalitionsfähigkeit als maßgebliche Faktoren der erfolgreichen Bildung einer minimalen Gewinnkoalition. Unter einer Koalition ist der Zusammenschluss von mindestens zwei Fraktionen zu verstehen, die sich regelmäßig im Rahmen eines Koalitionsvertrages für die Dauer der Legislaturperiode zu einer Kooperation verpflichten. Ob eine politische Partei bzw. eine Fraktion sich an einer Regierung beteiligt oder stattdessen eine Oppositionsrolle übernimmt, kann anhand des Office- und Policy-Nutzens zu abgeschätzt werden. Evident ist, dass die Große Koalition aus Sicht der CDU / CSU die lukrativste Option darstellte. Die personalisierte Verhältniswahl führt bereits aufgrund ihrer Rechtsnatur als Verhältniswahl zur Pluralisierung des Parlaments, sodass ohne die Bildung einer Koalition unter der Beteiligung von mindestens zwei Fraktionen keine Mehrheitsregierung denkbar ist. Dies belegt die bisherige Regierungsbildung in der Bundesrepublik Deutschland, denn es kam bislang noch nie zu dem Amtieren einer Mehrheitsregierung, an der nur eine Fraktion beteiligt war. Hinzu kommt der Umstand, dass die individuelle Ausgestaltung des Wahlrechts zur Einhaltung der Wahlgrundsätze hochkomplexer Ausgleichsvorgänge bedarf, die letztlich zur quantitativen Erhöhung der Abgeordneten führt. Für sich genommen stellt die Pluralisierung eines Parlaments keine Gefahr für die Demokratie dar. In dem berücksichtigten und erforschten Zeitraum führt diese jedoch zur Verminderung der Koalitionsfähigkeit und tritt in Kombination mit einer insgesamt verminderten Koalitionsbereitschaft auf. Maßgeblich ist hier der Umstand, dass sich zunächst die „Effective Number of Parties“ im Parlament in der 19. Legislaturperiode deutlich erhöhte, wodurch für minimale Gewinnkoalitionen, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland bis zum Jahr 2021 üblich waren, sich aus empirischer Sicht mehr Fraktionen an der Koalition beteiligen müssen, um eine Mehrheitsregierung zu bilden. Gravierend ist in diesem Zusammenhang aber insbesondere, dass die Möglichkeiten minimaler Gewinnkoalitionen dadurch geschmälert werden, dass bereits im Vorfeld der Wahlen parteipolitische Unvereinbarkeitsbeschlüsse für mögliche Koalitionen getroffen werden müssen. Mit dem Einzug einer stimmgewichtigen, aber infolge der rechtspopulistischen Ausrichtung
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Fazit
koalitionsunfähigen Fraktion in Form der AfD erfolgte die Koalitionsbildung in der 19. Legislaturperiode schleppend. Darüber hinaus ist der Einzug populistischer Parteien wegen ihrer antidemokratischen bzw. antipluralistischen und antiparlamentarischen Ausrichtung sowie der Vereinfachung und Degradierung von komplexen Fragen als demokratiegefährdend einzustufen. Populismus ist zwar durch seine Anti-Beziehung zu demokratischer Herrschaft und zum parlamentarischen Regierungssystem gekennzeichnet, gleichwohl gelangen Populisten durch kompetitive Wahlen überhaupt erst in das Parlament. Die durch die Verhältniswahl bewirkte verminderte Koalitionsbereitschaft in Kombination mit der durch die Erhöhung der „Effective Number of Parties“ und der rechtspopulistischen Ausrichtung der AfD bewirken somit insgesamt die eingangs bereits angenommene Erschwerung der Regierungsbildung; die Bildung einer Minderheitsregierung ist damit wahrscheinlicher geworden. Steht fest, dass systemimmanente Faktoren die Mehrheitsfindung und damit die Regierungsbildung letztlich erschweren, ist weiter zu ergründen, ob und wie etwa Regierungen, die als formelle und gleichzeitig auch materielle Minderheitsregierungen nach Art. 63 Abs. 4 GG in das Amt gelangt sind, den Regierungsauftrag erfüllen können. Anhand der Frage, ob eine Regierung den Regierungsauftrag insoweit erfüllen kann, ist auch die Regierungsstabilität zu messen. Der Regierungsauftrag beinhaltet in einem parlamentarischen Regierungssystem auch und vor allem solche Aufgaben, die eine parlamentarische Mitwirkung erfordern. Daher muss Regierungsstabilität vor allem auch daran gemessen werden, inwieweit die Regierung fähig ist, parlamentarische Mehrheiten zu generieren (Handlungsfähigkeit). Bevor aber die Frage der parlamentarischen Unterstützung einer durch die Regierung initiierten Gesetzesvorlage relevant wird, ist zunächst erforderlich, dass eine Regierung auch ohne parlamentarische Mehrheit überhaupt in das Amt zu gelangen vermag (Bestellung) und schließlich in dem Amt verbleiben kann (Regierungskontinuität). Hieraus ergeben sich also drei Kriterien, anhand derer die Regierungsstabilität umfassend zu analysieren ist. Dabei ist keines der genannten Kriterien für sich genommen als hinreichend anzusehen. Vielmehr ist die Kumulation aller drei Kriterien für die Erfüllung des Regierungsauftrages durch bestehende Regierungsstabilität erforderlich. Im Kontext der Regierungsbestellung wurde zunächst Art. 63 GG erörtert. Die Vorschrift der Bundeskanzlerwahl ist als Ausgangspunkt bzw. als die das parlamentarische Regierungssystem etablierende Vorschrift anzusehen: Allein das Parlament entscheidet über die Wahl eines Bundeskanzlers. Die Rolle des Bundespräsidenten bzw. seine Kompetenzen, Befugnisse und sein Ermessen sind ausschließlich daran zu messen, ob die im Bundestag vertretenen politischen Parteien sich auf einen Mehrheitskanzler durch Koalitionsbildung zu einigen vermögen oder eine derartige Einigung sich nicht abzeichnet. Wegen der generellen Auflösungsfeindlichkeit des Grundgesetzes ist die Bundestagsauflösung nach Art. 63 Abs. 4 S. 3 GG durch den Bundespräsidenten nur subsidiär statthaft. Dies wird auch durch die historische und teleologische Auslegung deutlich. Vor diesem Hintergrund ist
Fazit
261
die Einordnung des Art. 63 GG differenziert vorzunehmen: Während die ersten beiden Wahlphasen nach Art. 63 Abs. 1–3 GG als Unterfall der rechtlichen Normallage und als Krisenverhinderungsrecht anzusehen sind, ist die Minderheitsregierung nach dem von A. Kaiser entwickelten heuristischen Rechtssystem als einfaches Krisenbeseitigungsrecht einzuordnen. Dies verdeutlicht nicht zuletzt auch die in der Vorschrift angelegte Mehrheitssystematik und die konkrete Ausgestaltung der Wahlphasen: Nur in demjenigen Falle, in welchem der Bundestag keinen Mehrheitskanzler nach Maßgabe des Art. 121 GG wählt, wird von diesem Mehrheitserfordernis abgesehen, sodass eine formelle Minderheitsregierung nach Art. 63 Abs. 4 GG bestellt wird. Art. 63 GG ermöglicht insgesamt das in das Amt Berufen einer formellen Minderheitsregierung als abweichender Fall zur formellen Mehrheitsregierung. Es ist auch hinsichtlich seiner Parlamentarisierung der Regierungsbildung als relevant für die Regierungskontinuität im Sinne der Regierungsstabilität anzusehen und muss daher auch bei der Analyse des Art. 67 GG berücksichtigt werden. Weiter war das konstruktive Misstrauensvotum Gegenstand der Analyse als Faktor der Regierungskontinuität, also der Fähigkeit der Regierung in ihrem Amt zu verbleiben. Das konstruktive Misstrauensvotum ist in der Literatur zum Teil Gegenstand scharfer Kritik. Der Parlamentarische Rat habe die Wirkung überschätzt und die Abkehr von den Vorschriften zum destruktiven Misstrauensvotum aus der Weimarer Zeit zu sehr in den Vordergrund der Debatten gestellt. Begründet wird diese Auffassung mit der fehlenden Anwendung der Vorschrift auf Bundesebene. Problematisch erscheint, dass die Kritik insbesondere auf der Annahme beruht, aufgrund der vom Parlamentarischen Rat hervorgehobenen Stellung des Art. 67 GG müsse diese Vorschrift allein die Stabilität herstellen und gewährleisten. Zu Recht wird darauf verwiesen, dass in demokratischen Systemen politische Stabilität nicht durch den Verbleib einer Regierung sichergestellt werden kann. Dies gilt aber nicht nur für das konstruktive Misstrauensvotum: Politische Fragen und die Ausgestaltung einer Parteienlandschaft lassen sich normativ, insbesondere auch verfassungsrechtlich, nicht hinreichend steuern. Das konstruktive Misstrauensvotum sollte in Diskursen daher eher hinsichtlich seiner verfassungsrechtlichen Rolle beurteilt werden. Diese Perspektive lässt jedenfalls den Schluss zu, dass das konstruktive Misstrauensvotum durch das dort normierte Mehrheitserfordernis und die Gleichzeitigkeit der Neuwahl zum Sturze des bisherigen Kanzlers und seiner Regierung eine Verlängerung des in Art. 63 GG angelegten und ausgestalteten parlamentarischen Regierungssystems darstellt. Gegenüber der Weimarer Reichsverfassung hebt das Grundgesetz insoweit Widersprüche auf: Während in der Weimarer Republik sich eine parlamentarische Bestellung der Regierung nicht etablieren konnte und der Reichspräsident die Regierungsbildung dominierte, war das Parlament dazu berechtigt, die Regierung durch einfachen Misstrauensantrag zu stürzen, wobei auch einzelne Regierungsmitglieder einseitig abgewählt werden konnten. Das Grundgesetz hat in Art. 63 GG eine rein parlamentarische Regierungsbestellung gezeichnet, die sich in Art. 67 GG mit dem ausschließlich dem Parlament zukommenden Recht zum Regierungssturz fortsetzt. An diesen Sturz
262
Fazit
sind dieselben hohen Anforderungen für eine mehrheitliche Einigung gestellt wie dies in den ersten beiden Wahlphasen des Art. 63 GG der Fall ist. Auch verbietet Art. 67 GG den Sturz einzelner Regierungsmitglieder, was letztlich auch zu einer inneren Stabilität der Regierung als Kollegialorgan führen kann, weil das Kreationsrecht zur Regierungsbildung damit formell ausschließlich dem Bundeskanzler unterstellt ist. Der Berufung von Regierungsmitgliedern liegen in der Praxis regelmäßig Koalitionsabsprachen zugrunde. Gemeinsam mit Art. 63 GG sichert das konstruktive Misstrauensvotum im Ergebnis die Bestellung der Regierung ohne Mehrheit und ihren Verbleib im Amt. Ein rein im Negativen geeintes Parlament ist nicht in der Lage, die Regierung zu beseitigen. Bei dem konstruktiven Misstrauensvotum handelt es sich, wie auch bei Art. 63 Abs. 4 GG um einfaches Krisenrecht. Es besteht ein unmittelbarer Bezug zu einer „Krise“, die durch das fehlende mehrheitliche Vertrauen der Abgeordneten gegenüber der Regierung gekennzeichnet ist. Dennoch verbietet sich hier die pauschale Einordnung als „Ausnahmezustand“. Stattdessen handelt es sich bei Art. 63 GG um materielles Reserverecht. Weiter wurde die Handlungsfähigkeit der Minderheitsregierung im Bereich der Gesetzgebung erläutert. Hierzu wurde zunächst dargestellt, dass in Mehrheitsregierungen die Mehrheitsfindung institutionell durch Koalitionsvertrag und Fraktionsdisziplin sicherten. Jenseits von Mehrheitsregierungen stehen mehrere, demgegenüber flexiblere Modelle zur Verfügung. Diese wurden bereits auf Landesebene in Nordrhein-Westfalen sowie in Sachsen-Anhalt, aber auch im europäischen und außer-europäischen Ausland erprobt. Die Erfahrungen aus Sachsen-Anhalt legen nahe, dass das Tolerierungsmodell als grundsätzlich weniger flexibel und gleichzeitig aber koalitionsähnlich anzusehen ist. Nach dem Magdeburger Modell wurde eine Regierung der SPD über zwei Legislaturperioden als Minderheitsregierung ermöglicht. Das Modell wechselnder Mehrheiten kam in Nordrhein-Westfalen unter Hannelore Kraft zur Anwendung. Evident ist, dass die hohe Flexibilität dieses Modells insbesondere auch dazu führte, dass bisweilen als unwahrscheinlich geltende Kooperationen verschiedener Fraktionen, der Linkspartei und der FDP, möglich waren. Abstimmungsniederlagen der Regierung waren in dieser Zeit nicht zu verzeichnen. In Dänemark ist die Minderheitsregierung der Regelfall der Regierungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Dort hat sich eine Institution etabliert, die forlig, in welcher der Einigungsprozess im Vorfeld der parlamentarischen Abstimmung erfolgt. Insgesamt erfordert das Modell wechselnder Mehrheiten ein hohes Maß politischer Zugeständnisse unter den Fraktionen. Es hat im Vergleich zu den anderen dargestellten Formen der Mehrheitsfindung aber das größte Potential einer Parlamentarisierung des Gesetzgebungsprozesses, indem es am stärksten die in Zeiten der Mehrheitsregierung vorzufindende exekutive Dominanz zu beseitigen vermag. Die pauschalen Ablehnungen aus der rechtswissenschaftlichen Literatur finden auch sonst keine empirische Stütze. Zunächst sind Minderheitsregierungen in einigen Staaten der Regelfall, in denen ein parlamentarisches Regierungssystem besteht. Außerdem werden auch in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur durch Mehrheitskoalitionen Entscheidungen getroffen. Im Bereich sogenannter Schlüsselentscheidungen, die insbesondere Verfassungsänderungen sind, wurden
Fazit
263
in den vergangenen Jahrzehnten auch überparteiliche Einigungen erzielt, sofern ein besonderes Interesse an der jeweiligen politischen Entscheidung bestand. Evident ist, dass in Israel, Großbritannien und Portugal zwar nur wenige Minderheitsregierungen amtierten. Dennoch versieht insbesondere Israel sich trotz faktischer Mehrheitsregierung einer gravierenden Form verfassungspolitischer Instabilität.1 Die europäischen Erfahrungen verbieten die pauschalisierte Annahme, Minderheitsregierungen seien als instabil, Mehrheitsregierungen dagegen als stabil anzusehen.2 Die Vertrauensfrage aus Art. 68 GG sowie der Gesetzgebungsnotstand aus Art. 81 GG sind schließlich Instrumente, welche der Regierung zukommen. Während Art. 68 GG als einfaches Krisenrecht einzuordnen ist, ist der Gesetzgebungsnotstand Teil der dritten Rechtsschicht. Der unmittelbare Krisenbezug besteht bei Art. 68 GG in dem fehlenden mehrheitlichen Vertrauen des Parlaments gegenüber der Regierung. Die verfassungsrechtliche Ausnahme besteht bei Art. 81 GG in der Durchbrechung der Gewaltenteilung. Insgesamt ist die Bundestagsauflösung angesichts der in der Verfassung angelegten Auflösungsfeindlichkeit restriktiv anzuwenden. Auch der Gesetzgebungsnotstand sollte aufgrund der Durchbrechung der Gewaltenteilung nur ultima ratio zur Anwendung kommen. Nichtsdestoweniger erfüllen sowohl Art. 68 GG als auch Art. 81 GG grundsätzlich stabilisierende Funktionen. Von der Vertrauensfrage geht angesichts seiner Stellung als Einfallstor für die Anwendung des Art. 81 GG eine präventive Wirkung hervor, die das Parlament dazu anhält, die Vertrauensfrage nicht zu verneinen, ohne jedenfalls sich dem inhaltlichen und politischen Diskurs etwa in Form von wechselnden Mehrheiten zu stellen. Der Gesetzgebungsnotstand hat grundsätzlich das Potential, der Regierung die Gesetzgebung ohne parlamentarische Zustimmung zu ermöglichen. Dennoch ist die Vorschrift aufgrund der eindeutigen Unterschiede von Art. 48 WRV abzugrenzen; insbesondere handelt es sich nicht um ein Notverordnungsrecht. Ferner werden keine Grundrechte suspendiert und Verfassungsänderungen sind bereits tatbestandlich ausgeschlossen. Nach Art. 81 GG kann die Bundesregierung als Kollegialorgan nach der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands durch den Bundespräsidenten mit der Zustimmung des Bundesrates Gesetze erlassen, ohne dass der Bundestag dem zugestimmt hat. Als problematisch könnte sich erweisen, dass die Bundesregierung keine Unterstützung durch den Bundesrat und / oder den Bundespräsidenten erhält. Empirische Erkenntnisse vermögen bislang nicht zu belegen, dass der Bundesrat schlechthin jede Unterstützung verweigern würde. Dennoch erbringt Art. 81 GG keinen Nutzen für eine Regierung für ihre Handlungsfähigkeit, soweit der Bundesrat – möglicherweise auch infolge der vorherrschenden Kräfteverhältnisse auf Länderebene – die Bundesregierung nicht zu unterstützen 1 Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391. 2 Renzsch / Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl 1997, S. 391 (394).
264
Fazit
vermag. Daher ist der Gesetzgebungsnotstand dahingehend anzupassen, dass dem Parlament ein Selbstauflösungsrecht zukommt, wenn der Bundesrat dem Gesetzgebungsnotstand von vorneherein nicht zustimmt oder wenn er im Laufe der sechs Monate die Zustimmung zu weiteren Gesetzesvorlagen der Bundesregierung schließlich verweigert. Dem Gesetzgebungsnotstand, der wie bereits angeführt, zuletzt zur Anwendung kommen sollte, fehlt jede Regelung zur Beseitigung der Mehrheitskrise. Er vermag weder fehlende Mehrheiten herzustellen noch die Legislaturperiode bis zu ihrem regulären Ende nach Art. 39 Abs. 2 GG zu sichern, da dieser einer zeitlichen Einschränkung von maximal sechs Monaten unterliegt. Ist ein pauschales, nur an Mehrheitsquoren gebundenes Selbstauflösungsrecht des Parlaments aufgrund möglicher Kettenauflösungen wie in Israel nicht zu befürworten, könnte eine Parlamentsauflösung nach Ende des Gesetzgebungsnotstands möglich werden. Sollte der Bundesrat die Bundesregierung insoweit unterstützen, hätte die Regierung die Möglichkeit, über einen Zeitraum von einem halben Jahr Gesetzgebung zu betreiben. Der Wähler kann anhand dieser Gesetzgebung schließlich befinden, ob er mit seiner Wahl die Regierung unterstützt. Damit könnte das Überbrückungspotential des Gesetzgebungsnotstands vollständig ausgeschöpft werden. Zuletzt ist die Geschäftsregierung als aus verfassungspolitischer Sicht schlechtere Option gegenüber der Minderheitsregierung anzusehen. Der Geschäftsregierung fehlen jegliche Kompetenzen, die einer Minderheitsregierung zustehen. Dies ist vor allem deshalb prekär, weil eine Geschäftsregierung gleichzeitig auch eine Minderheitsregierung sein kann. Der einzige verfassungsrechtliche Ausweg ist dann aber die Wahl eines Kanzlers nach Art. 63 GG. Daran wird deutlich: Die Verfassung möchte die Geschäftsregierung vermeiden. Ihre Existenz rechtfertigt sich allein aus dem Umstand, dass regierungslose Zeiten vermieden werden. Die so ergründete Regierungsstabilität kann nur die verfassungsrechtliche Stabilität abbilden. Politische Stabilität, etwa durch ein demokratisches Parteienwesen, eine demokratiebewusste Bevölkerung und verfassungstreue politische Akteure lassen sich normativ nicht oder nur bedingt erzwingen. Dies ist in dieser Arbeit aber nicht der Maßstab. Es wird deutlich: Das Amtieren von Minderheitsregierungen steht nicht im Widerspruch zum Mehrheitsprinzip als in der Demokratie konstitutive und funktionssichernde politische Entscheidungsregel. Es steht auch nicht im Widerspruch zum Demokratieprinzip. So lässt das Grundgesetz die Minderheitsregierung nicht nur zu, sondern hat für den Fall ihres Amtierens wichtige Vorkehrungen getroffen und das Amtieren sowohl hinsichtlich der Regierungskontinuität als auch der Handlungsfähigkeit abgesichert. Es enthält weitreichende Vorkehrungen und ermöglicht das erfolgreiche Amtieren der Minderheitsregierung. Angesichts des dargestellten politischen und gesellschaftlichen Wandels ist nicht ausgeschlossen, dass die Minderheitsregierung auf Bundesebene in näherer Zukunft zur Anwendung kommt. In diesem Falle könnte die Mehrheitsfindung im Bereich der Gesetzgebung eine Chance für die Parlamentarisierung des Verfahrens darstellen und eine dynami-
Fazit
265
schere Debattenkultur auslösen. Die Minderheitsregierung als solche ist nicht von vorneherein als instabile Regierungsform, sondern als verfassungsrechtliches Konstrukt mit der Chance einer Regierungszeit mit lebendiger parlamentarischer Beteiligung an der Gesetzgebung zu sehen. Die Stunde der parlamentarischen Krise ist in keinem Falle nur die „Stunde der Exekutive“. In der parlamentarischen Demokratie, die die Mütter und Väter im Grundgesetz konstruiert haben, ist die Antwort auf erschwerte Mehrheitsfindung eindeutig: Parlamentarisierung. Die Stunde der Not ist die Stunde der Exekutive – und vor allem die des Parlaments. Die Verfassung jedenfalls steht einem erfolgreichen Regieren innerhalb des parlamentarischen Regierungsgefüges in diesem Falle nicht nur entgegen, sondern bietet Sicherungsmechanismen, die ein solches schützen und ermöglichen. Das Grundgesetz für sich genommen ist mehrheitskrisentauglich.
Anlagen Anhang zu Kapitel 2 1949–1953 (Adenauer)
CDU / CSU • FDP • DP
3 Fraktionen
1953–1955 (Adenauer)
CDU / CSU • FDP • DP • GB / BHE
4 Fraktionen
1955–1956 (Adenauer)
CDU / CSU • FDP • DP
3 Fraktionen
1956–1957 (Adenauer)
CDU / CSU • FVP • DP
3 Fraktionen
1957–1960 (Adenauer)
CDU / CSU • DP
2 Fraktionen
1960–1961 (Adenauer)
CDU / CSU
Alleinregierung
1961–1963 (Adenauer)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1963–1965 (Erhard)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1965–1966 (Erhard)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1966–1969 (Kiesinger)
CDU / CSU • SPD
2 Fraktionen
1969–1972 (Brandt)
SPD • FDP
2 Fraktionen
1972–1974 (Brandt)
SPD • FDP
2 Fraktionen
1974–1976 (Schmidt)
SPD • FDP
2 Fraktionen
1976–1980 (Schmidt)
SPD • FDP
2 Fraktionen
1980–1982 (Schmidt)
SPD • FDP
2 Fraktionen
1982–1983 (Kohl)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1983–1987 (Kohl)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1987–1990 (Kohl)
CDU / CSU • FDP [• Erweiterung um einen Bundes minister aus der DSU]
2 Fraktionen
1990–1994 (Kohl)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1994–1998 (Kohl)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
1998–2002 (Schröder)
SPD • Grüne
2 Fraktionen
2002–2005 (Schröder)
SPD • Grüne
2 Fraktionen
2005–2009 (Merkel)
CDU / CSU • SPD
2 Fraktionen
2009–2013 (Merkel)
CDU / CSU • FDP
2 Fraktionen
2013–2017 (Merkel)
CDU / CSU • SPD
2 Fraktionen
2017–2021 (Merkel)
CDU / CSU • SPD
2 Fraktionen
Abbildung 1: Regierungen in der Bundesrepublik Deutschland ab 19491 1 Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_deutschen_Bundes regierungen.
267
Anhang zu Kapitel 2 CDU / CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
Sonstige
32,9 %
20,5 %
12,6 %
10,7 %
9,2 %
8,9 %
5,0 %
246
153
94
80
69
67
0
Abbildung 2: Wahlergebnis und Sitzverteilung im Deutschen Bundestag in der 19. Legislaturperiode (2017)2 Partei
Sitze im Unterhaus
Errungener Prozentsatz
Labour Party
301
37,2 %
Conservative
297
37,9 %
Liberal Democrats
14
19,3 %
Andere
23
5,6 %
Insgesamt
635
100 %
3
Wahlergebnisse in Großbritannien im Jahr 2010 – Wahl des Unterhauses4 Partei
Sitze im Unterhaus
Errungener Prozentsatz
Conservative
306
36,1 %
Labour Party
258
29,0 %
Liberal Democrats
57
23,0 %
Andere
29
5,9 %
Insgesamt
650
100 %
5
Wahlergebnisse in Großbritannien im Februar 1974 – Wahl des Unterhauses6 Abbildung 3: Wahlergebnisse zur Wahl des Unterhauses in Großbritannien – 1974 und 2010
2 Darstellung auf Basis von https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/2017/ ergebnisse.html, zuletzt aufgerufen am 12. 09. 2020. Etwaige spätere Fraktionsaustritte bleiben bei der Darstellung hier unberücksichtigt; die Darstellung bezieht sich ausschließlich auf das amtliche Wahlergebnis, das aus dem Wahlen vom 24. September 2017 hervorgingen. 3 Die Darstellung ist hier aus Gründen der Veranschaulichung insoweit vereinfacht, als sämtliche andere gewählte Parteien hier zusammengefasst wurden. 4 Eigene Darstellung auf Basis von http://www.ukpolitical.info/2010.htm. 5 Die Darstellung ist hier aus Gründen der Veranschaulichung insoweit vereinfacht, als sämtliche andere gewählte Parteien hier zusammengefasst wurden. 6 Eigene Darstellung auf Basis von http://www.ukpolitical.info/1974Feb.htm.
268 Koalitionsoptionen Minimale Gewinnkoalitionen
Anlagen Sitzumfang der Koalition
Beteiligte Parteien
Mandate über absoluter Mehrheit
CDU / CSU • SPD
399
2
44
CDU / CSU • Linke • Grüne
382
3
27
CDU / CSU • FDP • Grüne
393
3
38
CDU / CSU • FDP • Linke
395
3
40
CDU / CSU • AfD • Grüne
407
3
52
CDU / CSU • AfD • Linke
409
3
54
CDU / CSU • AfD • FDP
420
3
65
SPD • FDP • Linke • Grüne
369
4
14
SPD • AfD • Linke • Grüne
383
4
28
SPD • AfD • FDP • Grüne
394
4
39
SPD • AfD • FDP • Linke
396
4
41
Abbildung 4a: Mögliche minimale Gewinnkoalitionen in der 19. Legislaturperiode (2017)7 Koalitionsoptionen Minimale Gewinnkoalitionen
Sitzumfang der Koalition
Beteiligte Parteien
Mandate über absoluter Mehrheit
CDU / CSU • SPD
385
2
74
CDU / CSU • FDP
332
2
21
CDU / CSU • Grüne • Linke
383
3
72
SPD • Grüne • Linke • FDP
383
4
72
Abbildung 4b: Mögliche minimale Gewinnkoalitionen in der 17. Legislaturperiode (2009)8 Koalitionsoptionen minimale Gewinnkoalitionen
Sitzumfang der Koalition
Beteiligte Parteien
Mandate über absoluter Mehrheit
CDU / CSU • SPD
4789
2
219
CSU / CSU • FDP
294
2
25
SPD • FDP
264
2
5
Abbildung 4c: Mögliche minimale Gewinnkoalitionen in der 8. Legislaturperiode (1976)10 7
Quelle der Darstellung und Berechnung: Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (239 f.). Eigene Darstellung auf Basis von https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/ 2009.html. 9 Hierin ist bereits eine übergroße Koalition zu sehen, da die Koalition mehr als 80 Prozent der Mandate innehat. 10 Eigene Darstellung auf Basis von https://www.bundeswahlleiter.de/bundestagswahlen/ 1976.html. 8
269
Anhang zu Kapitel 2 Spanne der N
Relative Häufigkeit betroffener Staaten
1–1,99
7
99,6
0,3
0,07
0,04
0
2,00–2,49
6
72,6
8,9
8,8
0,3
9,3
2,50–2,99
5
31,2
26,3
19,9
2,8
19,7
3,00–3,49
7
31,3
26,6
23,3
3,8
17,1
3,50–4,49
5
16,6
50,5
8,2
9,6
15,2
4,50–4,99
4
0,02
25,2
13,3
19,8
41,7
5,00–5,99
3
0
22,9
3,6
3,1
70,3
MW1 = minimal winning one-party cabinets MWm = minimal winning multiparty cabinets m1 = one-party minority cabinet mm = multiparty minority cabinets OS = oversized cabinets Die „Effective“ number of parties (N)11 wird anhand der nachfolgenden Formel errechnet: N2 = 1 ∑ni=1 p2i Abbildung 5a: Die „Effective“ Number of Parties12
11
Die „Effective“ number of parties ist zurückzuführen auf Laakso / Taagepera, „Effective“ Number of Parties: A Measure with Application to West Europe“, in: Comparative Political Studies 12 (1), S. 3–27. 12 Die Darstellung 5a basiert auf Taagera, Implications oft he effective number of parties for cabinet formation, in: Party Politics 8 (2), S. 227 (230). Taagera stellt die Werte auf Basis derjenigen Werte dar, die ihm Lijphart in privater Kommunikation mitgeteilt hat.
270
Anlagen
Jahr
CDU/ CSU
SPD
FDP
Bündnis 90/Grüne
Linke
AfD
Effective Number
Anzahl der Regierungsfraktionen
2017
34,5
21,4
11,2
9,4
9,73
12,2
4,64
2
2013
49
30,6
–
2009
38,2
23,5
2005
36,8
36,1
9,9
8,3
8,8
2002
41,1
41,6
7,7
9,1
1998
36,6
44,5
6,4
7
1994
43,7
37,5
6,9
1990
51,2
38,4
12,7
1987
45,1
37,1
9,2
1983
49
38,8
6,7
1980
45,6
43,9
10,4
1976
49
43,2
7,7
1972
45,1
46,7
8,1
1969
48,2
45,7
1965
48,4
41,8
1961
48,2
1957
53,3
10
10,1
–
2,8
2
10,9
12
–
3,97
2
–
3,44
2
0,3
–
2,80
2
5,3
–
2,91
2
7,3
4,4
–
2,91
2
1,2
2,7
–
2,65
2
8,4
–
–
2,80
2
5,3
–
–
2,51
2
–
–
–
2,44
2
–
–
–
2,31
2
–
–
–
2,34
2
5,9
–
–
–
2,24
2
9,6
–
–
–
2,38
2
38,9
12,8
–
–
–
2,51
1 bzw. 2
34,8
8,2
–
–
–
2,39
2
15
Abbildung 5b: „Effective“ Number of Parties in der BRD im Zusammenhang mit der Anzahl der Regierungsfraktionen ab 1957 Koalitionsoptionen
CDU / CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
CDU / CSU • SPD
*0,243*
*0,243*
0,612
0,500
0,623
0,493
CDU / CSU • FDP • Grüne
0,295
0,364
0,638
0,555
*0,339*
*0,245*
SPD • FDP • Linke • Grüne
0,477
0,310
0,618
0,477
0,359
0,282
CDU / CSU • AfD • FDP13
0,312
0,522
*0,355*
*0,290*
0,698
0,627
Die errechneten Werte stellen die parteispezifische Policy-Distanz zur erwartbaren Koalitionspolitik über alle Politikdimensionen bei gleichem Politikeinfluss aller beteiligten Parteien in minimalen Gewinnkoalitionen dar. Abbildung 6: Größter Policy-Nutzen für einzelne Parteien in denkbaren Koalitionsoptionen der 19. Legislaturperiode14
271
Anhang zu Kapitel 2 13 14
Koalitionsoptionen
CDU / CSU
SPD
AfD
FDP
Linke
Grüne
CDU / CSU • SPD
0,617
0,383
0
0
0
0
CDU / CSU • FDP • Grüne
0,626
0
0
0,204
0
0,170
SPD • FDP • Linke • Grüne
0
*0,415*
0
*0,217*
*0,187*
*0,182*
SPD • AfD • Linke • Grüne15
0
0,399
*0,245*
0
0,180
0,175
CDU / CSU • Linke • Grüne16
*0,644*
0
0
0
0,181
0,175
Die errechneten Werte stellen den parteispezifischen Office-Nutzen aller Parteien in minimalen Gewinnkoalitionen dar. Abbildung 7: Größter Office-Nutzen für einzelne Parteien in denkbaren Koalitionsoptionen der 19. Legislaturperiode17
13
Die kursive Hervorhebung ist in der Originaldarstellung Graichens nicht enthalten. Für AfD und FDP wäre jeweils die Koalition aus CDU / CSU, FDP und AfD hinsichtlich des Office- Nutzens am günstigsten. Daher wird die Koalitionsoption trotz faktischem Ausschluss einer Koalition mit der AfD von CDU / CSU und FDP der Vollständigkeit halber und zu Vergleichszwecken ebenfalls dargestellt. 14 Auszug aus der Darstellung Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (244). Für die Berechnungsgrundlagen siehe ebd. Dargestellt werden nur noch die ideologisch denkbaren Regierungskoalitionen aus der 19. Legislaturperiode. Eingesternt sind diejenigen Konstellationen, die für die jeweilige Partei hinsichtlich ihres Policy-Nutzens am günstigsten erscheint. Die Koalitionsoptionen wurden anhand der Übereinstimmung der Aussagen aus dem WahlO-Maten berechnet. 15 Die kursive Hervorhebung fehlt in der Darstellung Graichens. Die Koalitionsoption zwischen SPD, AfD, Linke und Grüne ist aus Gründen der Vollständigkeit und Vergleichbarkeit aufgelistet, da der Office-Nutzen der AfD in dieser Koalition am höchsten wäre. Eine Koalition mit der AfD haben sowohl SPD als auch Linke und Grüne ausgeschlossen. 16 Die kursive Hervorhebung fehlt in der Darstellung Graichens. Die Koalitionsoption zwischen CDU / CSU, Linke und Grüne ist zwar durch den Unvereinbarkeitsbeschluss der CDU / CSU bezüglich einer Koalition der Linken ausgeschlossen, wird aber hier aus Gründen der Vollständigkeit und Vergleichbarkeit aufgeführt, weil der Office-Nutzen der CDU / CSU in dieser Koalition am höchsten wäre. 17 Auszug aus der Darstellung Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (243). Für die Berechnungsgrundlagen siehe ebd. Eingesternt sind diejenigen Konstellationen, die für die jeweilige Partei hinsichtlich ihres Office-Nutzens am günstigsten erscheint.
272
Anlagen
Partei
CDU / CSU
SPD
FDP
Linke Grüne
Meistpräferierte Koalition CDU / CSU • SPD CDU / CSU • FDP • Grüne CDU / CSU • SPD SPD • FDP • Linke • Grüne CDU / CSU • FDP • Grüne SPD • FDP • Linke • Grüne SPD • FDP • Linke • Grüne SPD • FDP • Linke • Grüne
Hinreichendes Office- Gewichtungsfaktor-Intervall ab 0,29 bis max. 0,85 ab 0,86 bis max. 0,89
Erwarteter Gesamtnutzen mind. 0,001 mind. 0,497
ab 0,39 bis max. 0,67 ab 0,68 bis max. 1,00
mind. 0,001 mind. 0,183
ab 0,80 bis max. 0,91
mind. 0,095
ab 0,92 bis max. 1,00
mind. 0,161
ab 0,77 bis max. 1,00
mind. 0,061
ab 0,84 bis max. 1,00
mind. 0,112
Je stärker sich der Wert der Office-Orientierung an den Maximalwert 1 nähert, um insgesamt einen positiven Gesamtnutzen aus der Koalition zu ziehen, umso stärker tritt die Policy-Orientierung zurück. In der Berechnung wird davon ausgegangen, dass eine hohe Office-Priorisierung zum Zurücktreten der Policy-Orientierung führt; eine stark Ämter orientierte Partei wird im Ergebnis ihre politischen Inhalte vernachlässigen. Abbildung 8: Meistpräferierte minimale Gewinnkoalitionen in Abhängigkeit gewichtet-kombinierter Office- und Policy-Motivationen18
18
Auszug aus der Darstellung Graichens, siehe Jesse / Mannewitz / Panreck / Graichen, S. 233 (249). Für die Berechnungsgrundlagen und nähere Erläuterung siehe ebd.
273
Anhang zu Kapitel 3
Anhang zu Kapitel 3 Grundgesetz
Weimarer Reichsverfassung
Art. 63 GG: in jedem Falle ausschließlich parlamentari sche Regierungsbildung anhand eines grundsätzlich qualifizierten (Art. 121 GG) Mehrheitsvotums, subsidiär eines einfachen (Art. 42 Abs. 2 GG) Mehrheitsvotums
Art. 53 WRV: Offenes Konzept, ausgefüllt durch die Regierungspraxis letztlich keine parlamentarische, sondern präsidentielle Regierungsbildung
Art. 67 GG: parlamentarische Neuwahl mit qualifiziertem Mehrheitserfordernis
Art. 54 WRV: parlamentarischer Regierungssturz ohne qualifiziertes Mehrheitsvotum bei fehlender parlamentarische Neuwahl des Bundeskanzlers
Abbildung 9: Darstellung der Unterschiede von dem Zusammenhang aus Regierungsbestellung und Regierungsabstellung im GG und in der WRV
Abbildung 10: Die vorzeitige Beendigung der Legislaturperioden in den Bundesländern 1. Freie und Hansestadt Hamburg a) 07/1982 – 12/1982 (insg. 5 Monate)19 05/1982
Gewinn / Verlust gegenüber 12/1982
51,3
38,6
6,8
2,6
0,7
SPD
CDU
GAL
FDP
sonstige
+8,6
−4,6
−0,9
−2,3
−0,8
Der Grund für die vorzeitige Auflösung waren gescheiterte Koalitionsverhandlungen. b) 1986–1987 (insg. 7 Monate)20 1986
Gewinn / Verlust gegenüber 1986
45,0
40,5
7,0
6,5
1,0
SPD
CDU
GAL
FDP
sonstige
+3,3
−1,4
−3,4
+1,7
−0,2
Grund für die vorzeitige Auflösung: gescheiterte Koalitionsverhandlungen
19
Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerschaftswahl_in_ Hamburg_1982_(Dezember). 20 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerschaftswahl_in_ Hamburg_1986.
274
Anlagen c) 1991–1993 (insg. 2 Jahre und 3 Monate)21
1993 Gewinn / Verlust gegenüber 1993
40,4
21,5
13,5
5,6
4,8
4,2
2,8
1,6
SPD
CDU
GAL
Statt
REP
FDP
DVU
GRAUE
−7,6
−10,0
+6,3
+5,6
+3,6
−1,2
+2,8
+0,7
Grund für die vorzeitige Auflösung war die Anzweiflung von ca. 20 CDU-Abgeordneten der Wahl der Bürgerschaftswahl und der Bezirksversammlungswahlen. d) 2001–2004 (insg. 2 Jahre und 6 Monate)22 2004
Gewinn / Verlust gegenüber 2001
47,2
30,5
12,3
3,1
2,8
1,1
1,1
0,4
CDU
SPD
GAL
ProDM
FDP
Regenbogen
GRAUE
SCHILL
+21,0
−6,0
+3,7
+2,9
−2,3
−0,6
+0,9
−19,0
Grund für die vorzeitige Auflösung war der Koalitionsbruch zwischen CDU und SPD. e) 2008–2011 (insg. 3 Jahre)23 2011 Gewinn / Verlust gegenüber 2011
48,4
21,9
11,2
6,7
6,4
2,1
3,4
SPD
CDU
GAL
FDP
Linke
Piraten
sonstige
+14,3
−20,7
+1,6
+1,9
±0,0
+1,9
+1,1
Grund für die vorzeitige Auflösung war das Zerbrechen der schwarz-grünen Koalition; die Senatoren der GAL erklärten ihren Rücktritt.
21 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerschaftswahl_in_ Hamburg_1991. 22 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerschaftswahl_in_ Hamburg_2001. 23 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Bürgerschaftswahl_in_ Hamburg_2008.
275
Anhang zu Kapitel 3 2. Groß-Berlin (Westsektoren) a) 1946–1948 (insg.)24 1948 Gewinn / Verlust gegenüber 1946
64,5
19,4
16,1
n.k.
SPD
CDU
LPD
SED
+12,8
−4,9
+5,9
−13,7
Grund für die vorzeitige Auflösung waren die außergewöhnlichen politischen Umstände aufgrund der plötzlichen Spaltung Berlins in Ost und West. b) 1948–1950 (insg.)25 1950 Gewinn / Verlust gegenüber 1948
44,7
24,7
23,1
3,7
2,2
1,7
SPD
CDU
FDP
DP^d
BHE^e
sonstige
−19,8
+5,3
+7,0
+3,7
+2,2
+1,7
Grund für die vorzeitige Auflösung war das vorzeitige Abebben der politischen Spannungen in Berlin. 3. Hessen: 2008–2009 (insg.)26 2009
37,2
Gewinn / Verlust gegenüber 2009
23,7
16,2
13,7
5,4
1,6
2,2
CDU
SPD
FDP
Grüne
+0,4
−13,0
+6,8
+6,2
Linke
FW
sonstige
+0,3
+0,7
−1,4
Grund für die vorzeitige Auflösung waren gescheiterte Koalitionsverhandlungen. 4. Niedersachsen: 2013–2017 (insg.)27 2017
Gewinn / Verlust gegenüber 2013
36,9
33,6
8,7
7,5
6,2
4,6
2,5
SPD
CDU
Grüne
+4,3
−2,4
−5,0
FDP
AfD
Linke
sonstige
−2,4
+6,2
+1,5
−2,2
Grund für die vorzeitige Auflösung war der Verlust der Einstimmenmehrheit der Koalition aus SPD und Grüne durch den Fraktionsaustritt der Grünen-Abgeordneten Elke Twesten. 24 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Wahl_zur_Stadtver ordnetenversammlung_von_Groß-Berlin_1946. 25 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Wahl_zur_Stadtver ordnetenversammlung_von_Groß-Berlin_1948. 26 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_ Hessen_2008. 27 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_Nieder sachsen_2013.
276
Anlagen 5. Schleswig-Holstein a) 09/1987 – 05/1988 (insg. 9 Monate)28
05/1988 Gewinn / Verlust gegenüber 09/1987
54,8
33,3
4,4
2,9
1,7
1,2
1,7
SPD
CDU
FDP
Grüne
SSW
UWSH
sonstige
+9,6
−9,3
−0,8
−1,0
+0,2
+1,2
+0,1
Grund für die vorzeitige Auflösung war der zuvor entstandene Patt sowie die Barschel-Affäre. b) 02/2005 – 09/2009 (insg. 4 Jahre und 7 Monate)29 09/2009
Gewinn / Verlust gegenüber 02/2005
31,5
25,4
14,9
12,4
6,0
4,3
1,8
1,0
2,6
CDU
SPD
FDP
Grüne
Linke
SSW
Piraten
FW
sonstige
−8,7
−13,3
+8,3
+6,2
+5,2
+0,7
+1,8
+1,0
−1,3
Grund für die vorzeitige Auflösung war der Koalitionsbruch zwischen CDU und SPD; die Vertrauensfrage des CDU-Ministerpräsidenten wurde im Parlament abgelehnt. c) 09/2009 – 05/2012 (insg. 2 Jahre und 9 Monate)30 09/2009
Gewinn / Verlust gegenüber 09/2009
30,8
30,4
13,2
8,2
8,2
4,6
2,3
2,3
CDU
SPD
Grüne
FDP
Piraten
SSW
Linke
sonstige
−0,7
+5,0
+0,8
−6,7
+6,4
+0,3
−3,7
−1,3
Grund für die vorzeitige Auflösung war ein Urteil vom Landesverfassungsgerichtshof (Landesverfassungsgerichtshof, Urteil vom 30. 08. 2010 – 3/09). Die Auflösung war wegen ungenauen Regelungen in der Landeswahlordnung von Ausgleichsmandaten für Überhangmandate erforderlich geworden.
28
Eigene Darstellung Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_SchleswigHolstein_1987. 29 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_SchleswigHolstein_2005. 30 Eigene Darstellung auf Basis von https://de.wikipedia.org/wiki/Landtagswahl_in_SchleswigHolstein_2009.
277
Anhang zu Kapitel 3 Abbildung 11: Die vorzeitige Beendigung der Legislaturperioden in Israel in der Zeit von 04/2019 bis 04/2020 1. Vorgezogene Neuwahl vom 04/201931 04/2019
26,46
26,13
11,77
7,82
4,43
4,01
3,70
3,63
3,54
8,54
Likud Kachol Lavan
Ultra orthodox
Arabische Partei
Awoda
Jisra’el Beitenu
URP
Meretz
Kulanu
sonstige
Gewinn/ +3,06 +17,32 Verlust gegenüber 2015
+1,01
−2,72
−14,24
−1,10
−6,01
−0,30
−9,95
+6,96
2. Neuwahl vom 09/2019 infolge einer Parlamentsauflösung32 09/2019
25,95
25,10
10,60
7,44
6,99
6,06
5,87
4,80
4,34
2,85
Kachol Lavan
Likud
VL
Schas
Jisra’el Beitenu
VTJ
Jamina
Awoda Gescher
DU^i
sonstige
−0,18
−4,91
+2,78
+1,45
+2,98
+0,28
−1,05
−1,36
+0,71
−0,71
Gewinn/ Verlust gegenüber 04/2019
3. Neuwahl vom 03/2020 infolge einer Parlamentsauflösung33 03/2020
Gewinn/ Verlust gegenüber 09/2019
31
29,46
26,59
12,67
7,69
5,98
5,83
5,74
5,24
0,01
Likud
Kachol Lavan
VL
Schas
VTJ
Awoda Gescher Meretz
Jisra’el Beitenu
Jamina
sonstige
+4,36
+0,64
+2,07
+0,25
−0,08
−3,30
−1,25
−0,63
−0,24
Eigene Darstellung auf Basis von https://votes21.bechirot.gov.il/. Eigene Darstellung auf Basis von https://votes22.bechirot.gov.il/nationalresults. 33 Eigene Darstellung auf Basis von https://votes23.bechirot.gov.il/nationalresults. 32
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Online-Quellen Diermeier, Daniel / Eraslan, Hülya / Merlo, Antonio: Bicameralism and Government Formation 2004, Abrufbar unter: http://ssrn.com/abstract=312149. Heffer, Jeffrey: Israel’s Netanyahu gets two-week extension to form government, abrufbar unter: https://www.reuters.com/article/uk-israel-politics-idUKKCN1SJ18E. Lehmbruch, Gerhard: Verhandlungsdemokratie, Entscheidungsblockaden und Arenenverflechtung, abrufbar unter: http://www.researchgate.net/publication/255786362_Verhandlungs demokratie_Entscheidungsblockaden_und_Arenenverflechtung. Wootliff, Raoul: 20th Knesset officially dissolves, sets elections for 9th April, 2019, in: Times of Israel. 26. Dezember 2018, abrufbar unter: https://www.timesofisrael.com/20th-knessetofficially-dissolves-sets-elections-for-april-9-2019/.
Sachwortverzeichnis Abgeordnete 28 ff., 33 ff., 57 ff., 62 ff., 70 ff., 91 ff., 140 ff., 170 ff. Abstimmung 27 ff., 45 ff., 95, 105 ff., 119 ff., 135 ff., 170 ff., 201 ff. Abstimmungsniederlage 50, 186, 215, 219 Ausnahme 39 ff., 49 ff., 53 ff. Ausnahmezustand 39 ff. Bundeskanzler 26 ff., 47 ff., 110 ff., 118 ff., 145 ff., 162 ff., 188 ff., 194 ff., 251 ff. Bundeskanzlerwahl 26 ff., 36 ff., 44 f., 118 ff., 145 ff. Bundespräsident 119 ff., 137 ff., 162 ff., 212 ff. Bundesrat 235 ff. Bundesregierung 26 ff., 110 ff. Bundestag 26 ff., 41 ff., 56 ff., 91 ff., 119 ff., 145 ff., 167 ff., 187 ff., 227 ff. Demokratie, parlamentarische 113 ff. Effective Number of Parties 77 ff., 270 Exekutive 111 ff., 168 ff., 196 ff.
Koalitionsbereitschaft 91 ff. Koalitionsbildung siehe Koalition Koalitionsfähigkeit 57 ff. Koalitionsvertrag 74 ff. Krise 38 ff. Legitimation, demokratische 26 ff., 88 ff., 113 ff. Magdeburger Modell 175 ff. Mehrheitsfindung 68 ff., 170 ff., 182 ff. Mehrheitsprinzip 42 ff. Mehrheitsregierung – Begriff 27 ff. – Bildung 27 ff. Mehrheitswahl 60 ff. Minderheitskanzler 50 ff., 161 ff. Minderheitsregierung – Begriff 30 ff. – Bildung 31 ff. Misstrauensvotum – Destruktiv 149 ff. – Konstruktiv 145 ff.
Fraktion 76 ff., 92 ff., 167 ff. Freiheitlich demokratische Grundordnung Nordrhein-Westfalen 34 ff., 177 ff. 99 Normalfall 41 ff. Fünfprozent-Hürde 84 ff. Parlament siehe Bundestag Geschäftsregierung 35 ff., 248 ff. Parlamentarisierung 145 ff., 166 ff., 183 ff., 256 ff. Gesetzgebung 168 ff. Partei 56 ff., 64 ff. Gesetzgebungsnotstand 194 ff. Parteienlandschaft 64 ff. Pluralisierung 69 f., 91 Handlungsfähigkeit 115 ff., 187 ff. Populismus 96 ff. Jamaika-Koalition 95 ff. Regierung 25 ff., 109 ff. Regierungsbildung 26 ff. Kanzlerwahl siehe Bundeskanzlerwahl Regierungsfunktion 109 ff. Kettenauflösung 228 ff. Regierungskontinuität 118 ff. Koalition Regierungsstabilität 109 ff., 115 ff. – Begriff 74 ff. Reserverecht 135 – Große Koalition 34 ff., 81 ff., 92 ff.
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Sachwortverzeichnis
Sachsen-Anhalt 34, 175 ff. Selbstauflösungsrecht 226 ff. Sondierung/Sondierungsgespräch 27, 63 Thüringen 34, 104 ff., 126 f., 148 ff., 240 ff. Tolerierungsmodell 174 ff. Unvereinbarkeitsbeschluss 57, 93 ff.
Verhältniswahl – Allgemein 65 ff. – Personalisierte Verhältniswahl 69 ff. Vertrauensfrage 187 ff., 197 ff. Wahlen 58 ff. Wahlfunktion 58 Wahlphasen 26 ff., 119 ff., 134, 135 ff. Wahlrecht 57 ff. Wahlsystem 59 ff. Wechselnde Mehrheiten 176 ff.