Medikamente geben oder geben lassen: Psychotherapie und Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen und ihre Wechselwirkungen [1 ed.] 9783666406010, 9783525406014


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Medikamente geben oder geben lassen: Psychotherapie und Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen und ihre Wechselwirkungen [1 ed.]
 9783666406010, 9783525406014

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Benno G. Schimmelmann

Medikamente geben oder geben lassen

V

Herausgegeben von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Benno G. Schimmelmann

Medikamente geben oder geben lassen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie bei Kindern und Jugendlichen und ihre Wechselwirkungen

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen und 2 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40601-0 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Paul Klee, Harmony of Nordic Flora, 1927/ akg-images/DeAgostini Picture Library © 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort zum Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Vorbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Psychopharmakotherapie – von den ersten Überlegungen bis zur Langzeitbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 2.1 Mögliche Indikationen und Überweisung an den Arzt . . . 13 2.2 Die Zweitsicht und Indikationsstellung für Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 2.3­ Aufklärung und Off-Label-Use . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.4 Reflexion der Therapieziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.5 Aufdosierung und Monitoring der Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3 Wechselwirkungen zwischen Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 3.1 Mögliche positive Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3.2 Mögliche negative Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 3.3 Umgang mit möglichen positiven und negativen Wechselwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3.4 Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeut und dem für die Psychopharmakotherapie zuständigen Arzt . . . . . . 32 3.5 Was kann man tun, wenn Kinder, Jugendliche oder Eltern Psychopharmakotherapie ablehnen? . . . . . . . . . . . . . 33 3.6 Was kann man tun, wenn Kinder, Jugendliche oder Eltern eine Richtlinienpsychotherapie ablehnen? . . . . . . . . 34 5

4 Einführung in ausgewählte relevante Psychopharmaka . . . . . . 38 4.1 Antidepressiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 4.2 Stimulanzien und Nichtstimulanzien zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung . . . . 41 4.3 Antipsychotika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 5 Psychopharmaka und Adhärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 6 Abschlussgedanken zur Integration von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

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Inhalt

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrund­lagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich. Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 60 bis 70 Seiten je Band kann sich der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen. Themenschwerpunkte sind unter anderem: ȤȤ Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung. ȤȤ Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internet7

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basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen. Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen. Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Soziale Arbeit, Arbeit mit Geflüchteten und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Familien, Gruppen, Eltern-SäuglingsKleinkind-Psychotherapie. Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

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Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

Es gibt schwere psychische Krisen und kinder- und jugendpsychiatrische Störungen, die die Betroffenen so beeinträchtigen, dass sie nur von einer multimodalen Behandlung profitieren können. In diesem Rahmen kann die Gabe eines Medikaments notwendig und sinnvoll sein. Die potenziellen Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie müssen reflektiert werden, bevor eine Entscheidung dafür oder dagegen getroffen werden kann. Das vorliegende Buch bietet dafür eine Handlungs- und Reflexionsgrundlage, indem es sowohl Grundwissen über Psychopharmaka vermittelt als auch positive und negative Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Therapieformen verdeutlicht. Fallbeispiele bereichern den Text und machen den Entscheidungsprozess für ein Medikament im Therapieverlauf anschaulich. Das Buch beginnt mit den möglichen Indikationen für eine Pharmakotherapie und zeichnet den Entscheidungsweg von den ersten Überlegungen bis zu einer möglichen längerfristigen Therapie nach. Die ärztliche Zweitsicht wird als notwendiger Baustein einer Indikationsstellung hervorgehoben. Neben der Aufklärung über Wirkungen und Nebenwirkungen ist eine Reflexion der Therapieziele unumgänglich. Aufdosierung und Monitoring stellen die Verträglichkeit sicher. Die Patienten und ihre Eltern müssen in dieser Phase gut begleitet werden. Benno Schimmelmann bietet in einem eigenen Kapitel ein Repertoire an Wechselwirkungen positiver oder negativer Art zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie an, das dem eigenen Reflexionsprozess der Leserin und des Lesers zugrunde gelegt werden kann. Der 9

Autor schöpft dabei aus seiner langjährigen Erfahrung in der Therapie von Kindern und Jugendlichen, die sich vom Klinikkontext bis in eigene Praxiserfahrungen erstreckt. Auch das Problem wird angesprochen, was zu tun sei, wenn Kinder, Eltern oder Jugendliche eine Pharmakagabe ablehnen. Pragmatische Lösungen, Vorschläge zum abwartenden Handeln, Überzeugungshilfen werden dem Leser und der Leserin an die Hand gegeben. Nach einer Einführung in ausgewählte relevante Psychopharmaka wird auch noch das wichtige Thema der Adhärenz angesprochen. Die fallbezogene Reflexion und die offene Kooperation zwischen Ärzten und Psychotherapeuten bleiben die Grundlage für jede Form einer multimodalen Behandlung. Das Buch ist spannend geschrieben, inhaltsreich und praxisorientiert. Es bietet eine gute Voraussetzung für eigene Reflexionen zum Thema des Zusammenspiels von Psychotherapie und Pharmakotherapie. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

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Vorwort zum Band

1 Vorbemerkungen

Kinder und Jugendliche in schweren psychischen Krisen oder mit bestimmten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen benötigen in manchen Fällen Psychopharmaka als einen möglichen Baustein einer multimodalen Behandlung. Diese simple Aussage ist relativ unumstritten. Dennoch haben Eltern und auch Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten häufig erhebliche Bedenken, einem Kind ein Psychopharmakon verabreichen zu lassen. Psychopharmaka werden für zu kurz gegriffen, biologistisch, »als eine Krücke«, Abhängigkeit erzeugend oder mittelfristig für schädlich gehalten. Ein zurückhaltender Einsatz von Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen ist angemessen und wünschenswert, solange er auf dem entsprechenden Grundlagenwissen basiert. So sollten Psychotherapeuten und verschreibende Kinder- und Jugendpsychiater nicht nur allgemein über Indikationen, Kontraindikationen, Wirkungen und Nebenwirkungen von Medikamenten informiert sein, sondern auch im Einzelfall über die individuellen, nicht störungsspezifischen Therapieziele und die potenziellen Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie reflektieren, bevor ein Medikament empfohlen oder dagegengesprochen wird. Für diese Reflexion soll das vorliegende Büchlein eine Hilfe sein. Im ersten Kapitel wird der Prozess von der ersten Überlegung in der Psychotherapie, ein Medikament zu empfehlen, bis zum langfristigen Monitoring der Pharmakotherapie dargestellt. Im zweiten Kapitel werden mögliche positive und negative Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie und ein möglicher Umgang damit reflektiert. Im dritten Kapitel werden die wichtigsten 11

Stoffgruppen thematisiert (Stimulanzien und Nichtstimulanzien zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung – ADHS –, Antidepressiva und Antipsychotika). Sowohl Grundlagenwissen zu Wirkungen und Nebenwirkungen wird vermittelt als auch typische Wechselwirkungen mit einer parallelen Psychotherapie diskutiert. Mit einem kurzen Kapitel über Adhährenz (die Bereitschaft von Kindern und Jugendlichen, regelmäßig Psychopharmaka zu nehmen, wenn diese empfohlen werden) und einigen Abschlussgedanken endet das Buch. Vielleicht ist es wichtig, zu sagen, dass es sich bei diesem Büchlein nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung handeln kann, obwohl Studien gelegentlich zitiert werden, sondern um ein Büchlein aus der Praxis für die Praxis. Auch handelt es sich nicht um ein umfassendes Psychopharmakologie-Lehrbuch. Dafür sei ein jeweils aktuelles, wie beispielsweise dasjenige von Gerlach, Mehler-Wex, Walitza, Warnke und Wewetzer (2016), empfohlen. Ich würde mich freuen, wenn Ärzte und Psychologen nach der Lektüre dieses Büchleins angeregt sind, die Psychotherapie und Psychopharmakotherapie – wenn sinnvoll und notwendig – ohne Angst zu kombinieren und gleichzeitig positive wie negative Wechselwirkungen zu reflektieren und zu kommunizieren. Wie bei vielem in unserer heutigen Gesellschaft ist es ein großer Luxus, sich in der Behandlung Zeit dafür zu nehmen; Zeit benötigen unsere Patientinnen und Patienten dringend.

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Vorbemerkungen

2 Psychopharmakotherapie – von den ersten Überlegungen bis zur Langzeitbehandlung

2.1 Mögliche Indikationen und Überweisung an den Arzt Die eigentliche Indikation für die Psychopharmakotherapie muss man als nichtärztlicher Psychotherapeut, als nichtärztliche Psychotherapeutin nicht stellen. Stattdessen entscheidet man sich gemeinsam mit den Eltern und dem Kind oder Jugendlichen für eine Prüfung der Indikation durch einen ärztlichen Kollegen. Entsprechend steht vor jedem medikamentösen Behandlungsbeginn eine Zweitsicht, die auch die Chance zur gemeinsamen Diskussion der Indikation von und vielleicht geeigneter Alternativen zu Psychopharmaka bietet. Grundsätzlich kann eine Entscheidung für eine Überweisung an einen Kinder- und Jugendpsychiater für eine Psychopharmakotherapie in jeder Phase der Psychotherapie getroffen werden. Beispielsweise mag es aus Sicht der Psychotherapeutin während der probatorischen Sitzungen unwahrscheinlich erscheinen, dass eine Psychotherapie ohne begleitende Psychopharmakotherapie überhaupt wirkt. Alternativ mag eine Psychopharmakotherapie im Verlauf als unterstützend und die Psychotherapie ergänzend wahrgenommen werden. Oder es stellt sich im Verlauf ein Problem als derart therapieresistent heraus, dass eine Psychopharmakotherapie in Erwägung gezogen werden sollte. Obwohl Medikamente bei gleichzeitiger Psychotherapie natürlich eine Bedeutung für die Therapiedynamik, die Familiendynamik und das Funktionsniveau des Patienten bekommen, die reflektiert werden sollten, werden Medikamente zunächst schlicht zur Behandlung 13

(entwicklungs)psychophathologischer Symptome oder Syndrome eingesetzt. Typische Symptome/Syndrome sind Ängste, ein depressives Syndrom, Zwangssymptome, Schlafstörungen, Impulsivität und Aggressivität, Konzentrationsstörungen und Hyperaktivität sowie psychotische Symptome. In Tabelle 1 sind den oben genannten Symptomen Stoffgruppen und einige typische Wirkstoffe zugeordnet. Man entscheidet sich meistens für eine Überweisung zur Mitbeurteilung und zur möglichen Mitbehandlung mit Psychopharmaka, wenn die behandelbaren Symptome mittelschwer bis schwer sind, die Patienten und/ oder Familien dadurch deutlich leiden oder in ihrem Alltag (Schule, Familie, Freunde, Hobbys) beeinträchtigt sind. Gleichzeitig sollte absehbar sein, dass in angemessener Zeit durch Psychotherapie allein kein Erfolg zu erwarten ist. Bei psychotischen Symptomen sollte immer eine Mitbeurteilung durch einen Kinder- und Jugendpsychiater erfolgen. In keinem Fall bedeutet die Überweisung zur Mitbehandlung an eine Kinder- und Jugendpsychiaterin notwendigerweise den Beginn einer Psychopharmakotherapie; doch die Option sollte – möglichst in enger Abstimmung mit dem Psychotherapeuten – geprüft werden. In manchen psychotherapeutischen Prozessen fallen das Denken und auch das gemeinsame Gespräch mit dem Patienten in psychopathologischen Kategorien nicht leicht. Es liegt dennoch nahe, dass die Überweisung an einen Arzt zur möglichen Pharmakotherapie mit dem Patienten und den Eltern vorbesprochen werden muss. Es wird empfohlen, den Eltern und dem Kind nicht direkt die Behandlung mit Psychopharmaka anzukündigen, sondern die Prüfung einer Mitbehandlung mit Psychopharmaka. Entsprechend reicht es in der Psychotherapie gelegentlich, sich mit Kind und Familie auf einige vorläufige Zielsymptome und Therapieziele zu einigen, die im Verlauf der Indikationsstellung beim Kinder- und Jugendpsychiater präzisiert und verändert werden können. Bereits in diesem Stadium sollte man selbst bereits über mögliche Interaktionen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie (siehe Kapitel 3) und 14

Psychopharmakotherapie

über die Haltungen Medikamenten gegenüber (eigene und diejenigen der Familie) reflektieren. Diese Reflexion muss aber nicht in jeder Situation ausführlich bereits mit der Familie oder dem Kind/ Jugendlichen geteilt werden. Dies benötigt Zeit und kann in verkürzter Form vor der Überweisung an eine Kinder- und Jugendpsychiaterin eine Überforderung darstellen. Diese Zeit sollte man haben, da eher selten im Erstkontakt beim Arzt ein Medikament verschrieben wird. Tabelle 1: Behandelbare Symptome/Syndrome, geeignete Stoffgruppen zu deren Behandlung und Medikamente Behandelbare Symptome/Syndrome

Stoffgruppen

Medikamente (Beispiele*)

Angst (Angst- und Panikstörungen)

Antidepressiva

Fluoxetin, Fluvoxamin, Sertralin … Lorazepam (nur kurz­fristig, z.  B. bei Flug­angst) …

Benzodiazepine

Zwangssymptome (Gedanken/ Handlungen)

Antidepressiva, vor allem SSRI Als dritte Wahl auch Trizyklika

Fluvoxamin, Sertralin … Clomipramin …

Depressives Syndrom

Antidepressiva (vor allem SSRI)

Fluoxetin, Citalopram, Esciatalopram, Sertralin … Venlafaxin, Mirtazerpin …

Oder andere Antidepressiva Schlaf

Melatonin Benzodiazepine Sedierende Antipsychotika Ggf. Antihistaminika

Circadine Zolpidem … Quetiapin, Melperon, Pipamperon …

Impulsivität/ Aggressivität

Antipsychotika

Risperidon, Aripiprazol …

Hyperaktivität/Impulsivität und Konzentrationsstörungen

Stimulanzien bei ADHS Nichtstimulanzien bei ADHS

Methylphenidat, Amphetamine Atomoxetin, Guanfacin

Mögliche Indikationen und Überweisung an den Arzt

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Behandelbare Symptome/Syndrome

Stoffgruppen

Medikamente (Beispiele*)

Psychotische Symptome

Antipsychotika

Aripiprazol, Risperidon, Palliperidon, Quetiapin, Olanzapin … Clozapin (dritte Wahl), (Haloperidol …)

Einnässen

Antipsychotika Antidepressiva

Manische Syndrome

Antipsychotika Stimmungsstabilisatoren

Tics

Antipsychotika

Clomipramin, Imipramin Aripiprazol, Olanzapin, Quetiapin … Valproat, Lithium … Tiaprid, (Haloperidol)

* Viele dieser Medikamente sind nicht zugelassen, werden aber als »Off-LabelUse« regelmäßig eingesetzt. ADHS = Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung SSRI = selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

2.2 Die Zweitsicht und Indikationsstellung für Psychopharmakotherapie Im Erstgespräch wird der Kinder- und Jugendpsychiater mit den Informationen der überweisenden Psychotherapeutin noch einmal versuchen, die Symptomatik zu verstehen. Dazu gehören ein psychopathologischer Befund, die Entwicklungsgeschichte der Symptomatik, anamnestische Daten und die somatische Vorgeschichte, also auch Daten über körperliche Erkrankungen und andere Medikamente, die eingenommen werden oder wurden. Wichtig und häufig sind Fragen zum Herz-Kreislauf-System sowie zu Leber und Niere, da Psychopharmaka bei vorgeschädigtem Herzen gelegentlich Rhythmusstörungen auslösen können und über die Leber oder Niere abgebaut werden, sodass die Dosis gegebenenfalls angepasst werden muss. 16

Psychopharmakotherapie

Bei bestimmten Störungsbildern muss auch bei schon länger andauernder Symptomatik die somatische und psychiatrische Differenzialdiagnose noch einmal überprüft werden. Beispiele für eine somatische Differenzialdiagnose sind Schilddrüsenfunktionsstörungen oder Eisenmangel bei Depressionen. Obwohl die Zielsymptome für ein Medikament entscheidend sind, muss die Kinder- und Jugendpsychiaterin in den meisten Fällen nochmals prüfen, wie die Zielsymptomatik für ein Medikament differenzialdiagnostisch, ursächlich oder psycho-/familiendynamisch zu verstehen ist. Schlafstörungen können beispielsweise Ausdruck einer Depression oder Angststörung sein oder Folge fehlender Schlafhygiene (z. B. intensiver Medienkonsum oder koffeinhaltige Getränke vor dem Zubettgehen) oder aber Folge von Hyperaktivität und Impulsivität bei ADHS oder auch Folge einer psychotischen Störung. Die Behandlung folgt diesen differenzialdiagnostischen Überlegungen. Häufig werden schlafanstoßende Medikamente daher nicht verschrieben. Stattdessen mag das Thema Schlafhygiene an die Psychotherapie zurückgegeben oder nach Rücksprache mit dem Psychotherapeuten durch den Arzt parallel bearbeitet werden. Bei anderen Differenzialdiagnosen kommt eine Behandlung der zugrunde liegenden Störung infrage mit Antidepressiva, Stimulanzien oder Antipsychotika. Ein ähnlich kompliziertes Beispiel sind akustische Halluzinationen (Stimmenhören), die Anlass zur Überweisung waren. Diese sind nicht immer Ausdruck einer mit Antipsychotika zu behandelnden Psychose, sondern kommen auch bei sich entwickelnden emotional instabilen Persönlichkeitsstörungen oder bei posttraumatischen und dissoziativen Störungen vor, deren Behandlung mit Antipsychotika häufig nicht sinnvoll und wirksam ist. Ein spezielles und in der Praxis recht relevantes Thema sind übersehene Autismus-Spektrum-Störungen, die zu den verschiedensten Symptomen führen können, gerade wenn autistisches Denken und Wahrnehmen übersehen wurde. Hierzu ein Fallbeispiel: Vor einer Weile wurde mir von einer psychotherapeutisch tätigen Kollegin eine Jugendliche zur Mitbehandlung einer recht stark ausgeDie Zweitsicht und Indikationsstellung für Psychopharmakotherapie

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prägten und akuten Zwangssymptomatik mit einem Antidepressivum geschickt. Kurz zuvor war sie aufgrund einer dissoziativen Lähmung der Beine kurzzeitig stationär kinder- und jugendpsychiatrisch behandelt worden. Sowohl dissoziative als auch zwanghafte Symptome waren ungewöhnlicherweise in der Vorgeschichte nicht aufgetreten, also neu – und im Fall der dissoziativen Lähmung – in nur zwei Wochen stationärer Behandlung verschwunden, was auf der Station als Heilung aufgrund einer gelungenen tiefenpsychologischen Deutung verstanden wurde. In der Vorgeschichte war eine soziale Phobie diagnostiziert worden, die insbesondere in der Schule zu minimaler mündlicher Mitarbeit und teilweise zu Schulverweigerung geführt hatte. Die sprachlich weit überdurchschnittlich begabte Jugendliche beschwerte sich in meinem Erstgespräch zunächst über die Diagnose »soziale Phobie«, über die sie alles Relevante gelesen hatte und zu dem Schluss gekommen war, dass diese Diagnose nicht zu ihr passe. Sie habe manchmal Angst, aber nicht davor, peinlich zu sein oder gefunden zu werden. Auch fand sie »Schüchternheit« die falsche Beschreibung ihrer Probleme. Auf die Frage, wie zufrieden sie mit ihren Freundschaften sei, antwortete sie: »Zufrieden.« Ich frage grundsätzlich auch, wie wichtig einem Patienten Freundschaften sind, und ergänze, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die Freundschaften sehr wichtig finden, und andere, die Freundschaften nicht so wichtig finden oder auch eigentlich keine Freunde zum Wohlfühlen benötigen. Darauf äußerte die Jugendliche, dass sie sich wohler allein und ohne Freunde fühle. Nach und nach kamen diverse autistische Denk- und Wahrnehmungsweisen zur Sprache, die eindeutig auf ein 16 Jahre unbemerktes Asperger-Syndrom schließen ließen. Beeindruckend waren vor allem die Anpassungsleistungen, die die Jugendliche mit ungeheurem Kraftaufwand und hoher Intelligenz hatte aufrechterhalten können, bis vor dem Stationsaufenthalt der dauernde Stresslevel sie doch überforderte: Blickkontakt hatte sie sich zunächst auf Aufforderung der Eltern angeeignet und nach viel Beobachtung von menschlichen Interaktionen auch vor dem Spiegel perfektioniert, obwohl sie in 18

Psychopharmakotherapie

Mimik und Augen wenig ablesen konnte. Auf dem Schulhof hatte sie sich zunächst versteckt, dann aber schnell davon abgesehen und sich geschickt immer möglichst großen Gruppen angeschlossen, die miteinander und möglichst wenig mit ihr zu tun hatten, sodass ihr unbeteiligtes Danebenstehen nicht auffiel. Sobald sie lesen konnte, hatte sie sich zu Romanen mit sozialen Interaktionen (also typische Kinder- und Jugendbücher) gezwungen, obwohl sie lieber Sachbücher hätte lesen wollen, um nicht anders zu sein und sich zu »trainieren«. Sie habe extrem lang für ein Buch benötigt, da sie alle sozialen Interaktionen mehrfach habe lesen müssen, um die ihr fremden Interaktionen der Menschen zu verstehen. Sie lachte bei Witzen, wenn andere lachten, um nicht aufzufallen. Den enormen Sozialstress des Schulalltags kompensierte sie mit einem ausgeklügelten Listensystem am Nachmittag und Abend über Inhalte in ihrem Zimmer oder mit Buchlisten, die zu lesen sie sich vornahm. Diese Listen versteckte sie vor ihren Eltern, um Ärger zu vermeiden. Die für Jungen mit Asperger-Syndrom eher typischen Fettnäpfchen in der Interaktion durch ihre Direktheit und ihr Missverständnis symbolischer Sprache vermied sie, indem sie sich insgesamt Zurückhaltung auferlegte. Je mehr sie Verständnis für ihr Denken und ihre Wahrnehmung beim Gegenüber wahrnehmen konnte, desto mehr Details über ihre Anpassungsleistungen gab sie preis. In diesem Fall war eine antidepressive Behandlung der zwanghaften Symptomatik zwar möglich, aber schließlich nicht mehr notwendig, je mehr sich die Jugendliche und ihre Eltern mit autistischen Besonderheiten und Bedürfnissen auseinandersetzten.

Die Beispiele verdeutlichen, dass eine Überweisung zur medikamentösen Mitbehandlung zunächst sinnvoll für eine Zweitsicht durch den Kinder- und Jugendpsychiater genutzt werden kann. Sie verdeutlichen aber auch, dass für die Zweitsicht und Mitbehandlung genug wechselseitiger Respekt und Vertrauen zwischen Therapeutin und Arzt und viel kommunikatives Feingefühl im Umgang mit dem Patienten notwendig sind, da andernfalls Patient oder Eltern verunsichert werden Die Zweitsicht und Indikationsstellung für Psychopharmakotherapie

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und eine Psychotherapie entwertet werden könnte. In vielen Fällen und mit der entsprechenden Sorgfalt ist die zwischen Überweisung und Medikamentenbeginn durchgeführte Zweitsicht dann von hohem Wert für die Gesamtbehandlung.

2.3­  Aufklärung und Off-Label-Use Vor Beginn einer Psychopharmakotherapie müssen die Patientinnen und Patienten altersgerecht und bei Minderjährigen auch beide sorgeberechtigte Elternteile sorgfältig über Wirkungen und Verträglichkeit eines Medikaments sowie Alternativen zur Pharmakotherapie aufgeklärt werden. Viele Psychopharmaka sind für Kinder und Jugendliche für die Behandlung bestimmter Störungsbilder nicht zugelassen, obwohl in Studien ihre Wirksamkeit und Verträglichkeit belegt wurden und Leitlinien diese als Behandlungsoption empfehlen. Gründe hierfür liegen unter anderem in den teuren und aufwendigen Zulassungsverfahren oder der Tatsache, dass noch nicht genug Daten für eine Zulassung vorliegen. Einige gebräuchliche Psychopharmaka sind in den USA zugelassen, in Deutschland aber nicht. Der Arzt wird in diesen Fällen die Eltern über den sogenannten »Off-Label-Use« aufklären müssen. Beim Off-Label-Use wird ein Medikament im Rahmen eines »individuellen Heilversuchs« verschrieben. Für Probleme mit der Verträglichkeit haften beim Off-­ Label-Use nicht die Pharmafirmen, sondern ausschließlich die Eltern und die verschreibenden Ärzte, wenn sie nicht ausreichend über OffLabel-Use aufgeklärt haben. Dieses Vorgehen ist häufig und sollte einen nicht abschrecken, denn es ist in der Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie notwendig, zumal manche zugelassenen Alternativen (z. B. Haloperidol bei Schizophrenie) viel nebenwirkungsreicher sind als manche nicht zugelassenen Medikamente.

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Psychopharmakotherapie

2.4  Reflexion der Therapieziele Vor Beginn einer Psychopharmakotherapie muss die Kinder- und Jugendpsychiaterin die individuellen Therapieziele des Kindes und der Eltern erarbeiten. Diese können sehr unterschiedlich sein und sind wichtig für eine erfolgreiche Therapie. Mit dem Kind (auch im Gespräch ohne die Eltern!) und den Eltern sollten Erwartungen und Sorgen gegenüber dem Medikament besprochen werden. Es müssen innere Haltungen, Krankheitskonzepte, Ätiologievorstellungen und Vorstellungen von Wirkungen und Nebenwirkungen des Medikaments reflektiert werden. Dabei findet sich die verschreibende Ärztin gelegentlich in einem ethischen Dilemma, wenn Therapieziele und die formal sinnvollen Indikationen für ein Medikament nicht recht zusammenpassen. Sehr deutlich wird das bei der Stimulanzientherapie der ADHS: Gelegentlich stehen Schulen, aber auch Eltern unter Druck, dass Kinder bessere Schulleistungen erreichen und weniger Ärger in der Schule haben sollen. Das Kind erlebt sich als böse und ist bereit, beispielsweise Stimulanzien einzunehmen, damit es wieder »lieb« und in der Schule erfolgreicher wird und nicht, um mehr Konzentration und adäquate Selbststeuerung zu erreichen. Diese leistungsorientierten oder konformistischen Therapieziele sind nachvollziehbar, wenn ADHS wirklich vorliegt, sollten aber erweitert und kritisch reflektiert werden, damit das Kind Stimulanzien nicht als Strafe erlebt und jede Opposition und Äußerung des eigenen Willens des Kindes als ADHS und damit als »böse« verarbeitet wird. Der Aufwand der Reflexion, was ADHS für alle Lebensbereiche und für die langfristige Entwicklung des Kindes bedeutet (also nicht allein für die Schule, sondern auch für die Beziehungsfähigkeit und das Selbstwertgefühl), ist groß und muss vor Therapiebeginn getrieben werden. Entsprechend darf ADHS-Pharmakotherapie nicht als Notfallmedikation zur Verfügung stehen, obwohl manche Familien erst zu Medikamenten bereit sind, wenn der Ärger im Umfeld massiv geworden ist. Diese Reflexion und Sorgfalt sind nicht nur wichtig, um die Bereitschaft des Kindes zu steiReflexion der Therapieziele

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gern, das Medikament mittel- oder langfristig einzunehmen, sondern auch, um die Entwicklung des Selbstkonzepts, der Selbstwirksamkeit und des Selbstwerts nicht zu beschädigen. Es ist nicht ganz einfach, eine eindeutige Empfehlung abzugeben, ob diese Erarbeitung von Krankheitskonzept und Therapiezielen vor Beginn der Pharmakotherapie Aufgabe des Psychotherapeuten oder des Kindes- und Jugendpsychiaters ist. Beides ist möglich und vermutlich auch parallel sinnvoll. Der verschreibende Arzt jedoch ist verpflichtet, sich persönlich ein Bild von der Angemessenheit der Therapieziele zu machen, sie im Verlauf zu reflektieren und sie gegebenenfalls abzuwandeln.

2.5 Aufdosierung und Monitoring der Psychopharmakotherapie Die meisten Psychopharmaka erfordern eine Aufdosierung über mehrere Wochen mit wöchentlichen bis dreiwöchentlichen Terminen bei der Kinder- und Jugendpsychiaterin. Aufdosieren bezeichnet dabei den Beginn der Therapie mit einer niedrigen Testdosis und die schrittweise Erhöhung dieser Dosis über mehrere Tage bis Wochen auf die sogenannte Zieldosis. Die Zieldosis ist wiederum diejenige Dosis, die eine ausreichende Wirksamkeit bei minimalen Nebenwirkungen erzielt. Sie ist also so niedrig wie möglich und so hoch wie nötig unter Berücksichtigung von Wirksamkeit und Verträglichkeit. Therapieziele und Symptome sollten gemeinsam im Verlauf beobachtet werden. Dazu eignen sich Fragebögen für Kinder (z. B. Angstund Depressionsfragebögen), Eltern und Lehrer (z. B. für Symptome der ADHS) oder simple Bewertungen im Verlauf (»Wie gut kannst du dich bei den Hausaufgaben konzentrieren von 0–10?«, »Wie ist deine Energie morgens beim Aufstehen im Vergleich zu früher von 0–100 Prozent?«). Bei jedem Termin während der Aufdosierung und beim Monitoring im Verlauf muss neben der Wirksamkeit auch die Verträglichkeit erfragt werden. 22

Psychopharmakotherapie

Hierbei kann man zunächst offen nach unerwünschten Wirkungen des Medikaments fragen. Man hört häufig Sorgen (z. B. Rückenschmerzen), die für den Arzt offensichtlich nichts mit dem Medikament zu tun haben, aber vom Kind/Jugendlichen oder den Eltern so wahrgenommen werden. Daher hilft diese offen formulierte Frage, die Einordnung von Nebenwirkungen und ihren Zusammenhang mit der Medikation zu reflektieren. Die meisten relevanten Nebenwirkungen sollten jedoch auch systematisch abgefragt werden. Relevant – je nach Stoffgruppe – sind etwa Kopf- und Bauchschmerzen, Schwindel, Schwitzen, allergische Symptome, neu aufgetretene Schlafstörungen, Appetitmangel oder Appetitsteigerung, sexuelle Dysfunktionen, Konzentrationsstörungen oder Müdigkeit; die typischen Nebenwirkungen des jeweiligen Psychopharmakons müssen vor Behandlungsbeginn bereits einmal erfragt (Schlafstörungen) oder gemessen (Herzfrequenz, Blutdruck, Gewicht) werden, da sich ansonsten Nebenwirkungen nicht von vorbestehenden Problemen unterscheiden lassen. Bestimmte Nebenwirkungen müssen im Vier-Augen-Gespräch mit dem Kind oder Jugendlichen erörtert werden, insbesondere wenn es sexuelle Funktionsstörungen betrifft. Nach der Aufdosierung erfolgt das langfristige Monitoring der Pharmakotherapie, indem Therapieziele, andere Wirkungen und Nebenwirkungen und insgesamt der Sinn der Psychopharmakotherapie fortlaufend überprüft und Therapieziele auch angepasst werden. Bei diesem Monitoring tauchen immer wieder andere relevante Themen auf. Hierbei muss die Ärztin reflektieren, inwieweit bei diesen Themen eher auf die Psychotherapie verwiesen werden sollte oder diese auch ohne Störung der Psychotherapie bei der Kinder- und Jugendpsychiaterin besprochen werden können.

Aufdosierung und Monitoring der Psychopharmakotherapie

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3 Wechselwirkungen zwischen Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

Psychotherapie, und speziell Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen, ist bereits ohne Psychopharmakotherapie komplex, da Menschen in verschiedene Bezugs- und Beziehungskontexte eingebettet sind. Bei der Psychopharmakotherapie spielt also nicht nur das Beziehungsdreieck Psychotherapeut-Kind-Arzt eine Rolle, sondern es kommen Verständnis und Haltung gegenüber Psychopharmakotherapie von Eltern, Freunden und von Lehrpersonal/Erziehern dazu. Die systemische Perspektive sollte in unserem Denken also auch bei der Betrachtung der Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie immer präsent sein. In den Abbildungen 1a und 1b ist illustriert, wie stark der Komplexitätsgrad der zu berücksichtigenden Bezüge und Beziehungen bei Einführung einer Psychopharmakotherapie zunimmt.

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Abbildung 1a, 1b: Komplexe Wechselbeziehungen, die es in der Behandlung eines Kindes oder Jugendlichen zu berücksichtigen gilt (a), und die Zunahme an Komplexität, wenn parallel zur Psychotherapie eine Psychopharmakotherapie durchgeführt wird (b). – PT = Psychotherapeut

Uns wird in diesem Kapitel die Frage beschäftigen, auf welche Weise Psychopharmakotherapie und Psychotherapie sich positiv und negativ beeinflussen können. In Tabelle 2 sind mögliche positive und negative Wechselwirkungen dargestellt. Einige dieser möglichen Wechselwirkungen aus erwachsenenpsychotherapeutischer Perspektive sind im »Handbook of psychotherapy and behaviour change« (Garfield u. Bergin, 1986) nachzulesen. In kürzerer Form habe ich diese Wechselwirkungen in einem Kapitel des Buches »Psychotherapeutische Fertigkeiten« (Schimmelmann, 2013) bereits dargestellt. Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

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Tabelle 2: Potenzielle positive und negative Wechselwirkungen zwischen Psychopharmakotherapie (PPT) und Psychotherapie (PT) Positive Wechselwirkungen

Negative Wechselwirkungen

PPT ermöglicht erst den PT-Zugang

PPT verstärkt eine passive oder negative Grundhaltung der PT oder der Erkrankung gegenüber

PPT fördert Optimismus und das Vertrauen in PT

PPT reduziert die Motivation zur PT

PT ermöglicht oder konsolidiert die PPT-Wirkung

PPT entwertet die PT

PT stärkt die PPT-Adhärenz

PT unterminiert die PPT-Adhärenz PT mindert die PPT-Wirkung

3.1  Mögliche positive Wechselwirkungen Psychopharmakotherapie ermöglicht erst den Zugang zur Psychotherapie: Diese Wechselwirkung erhofft man sich in der Regel für Kinder und Jugendliche mit schwereren Ausprägungsgraden kinder- und jugendpsychiatrischer Störungen, wie etwa Depressionen, Zwangsstörung, ADHS oder Schizophrenie. So hat es beispielsweise im Einzelfall wenig Sinn, in eine länger dauernde Therapie depressiver Kognitionen, Stressverarbeitung, Konfliktbewältigung oder Familiendynamik einzusteigen, wenn ein Jugendlicher derart schwer depressiv ist, dass sein Denken und Antrieb massiv eingeschränkt sind oder Suizidalität stark im Vordergrund steht. Gut nachvollziehbar ist diese positive Wechselwirkung auch bei der Behandlung einer akuten Psychose, wenn ein Gespräch aufgrund der Massivität von Denkstörungen noch gar nicht möglich ist. Psychopharmakotherapie fördert den Optimismus und das Vertrauen in die Psychotherapie: Laufende Psychotherapien, deren positive Wirkung lange ausbleibt, können durch eine ergänzende Psychopharmakotherapie wieder als wirksam bewertet werden. Bei schweren Depressionen mit Negativismus können Antidepressiva beispielsweise zu mehr Hoffnung in die Wirksamkeit der Therapie und damit auch 26

Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

zur besseren Mitarbeit führen. Das Gleiche gilt typischerweise für psychotherapieresistente Zwangssymptome. Psychotherapie ermöglicht oder konsolidiert eine psychopharmakologische Wirkung: Diese auf den ersten Blick ungewöhnlich anmutende Wechselwirkung zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie hielt ich in zwei Fällen meiner klinischen Tätigkeit für entscheidend: Im ersten Fall haben wir einen 16-jährigen Jugendlichen mit einer schweren psychotischen Episode behandelt, der auf drei Behandlungsversuche mit Antipsychotika über sechs Monate nur eine mäßige Symptomverbesserung zeigte. Vor allem Antriebsmangel, Hoffnungslosigkeit, ein subdepressiver Affekt und eine unter Stress schnell wieder aufflackernde Wahnsymptomatik blieben über viele Monate hartnäckig bestehen. Seine Mutter war an einer Schizophrenie erkrankt, hatte wenig Krankheitseinsicht und einen sehr ungünstigen Krankheitsverlauf, lebte in einer geschützten Wohneinrichtung, arbeitete nicht und war für den Jugendlichen ein wichtiges, aber eben leider negatives Modell dafür, welchen Lebensweg man als Psychose-­ Betroffener vor sich hatte. Erst die ausführliche psychotherapeutische Bearbeitung dieser Thematik ermöglichte eine deutliche Symptomverbesserung unter Antipsychotika, zunächst von Affekt und Antrieb, wenig später auch der Wahnsymptomatik und der Denkorganisation. Sie führte bei dem Jugendlichen zu der Erkenntnis, dass bei jedem Menschen eine Psychose anders verläuft und dass man durch eine Auseinandersetzung mit der Krankheit deren Verlauf beeinflussen kann. Er konnte in der psychotherapeutischen Arbeit die Vorstellung nutzen, dass er noch einen gesunden Vater hatte und dessen protektive Gene ebenfalls in sich trug. Im zweiten Fall wurde mir eine Patientin mit massiver Zwangssymptomatik vorgestellt, die bereits mit mehreren Antidepressiva hochdosiert und mit Verhaltenstherapie ohne ausreichenden Erfolg behandelt worden war. Wir begannen eine intensive Familientherapie, in der es Mögliche positive Wechselwirkungen

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um intrafamiliäre Grenzen über mehrere Generationen hinweg, die stark vermeidenden Konfliktlösungsstrategien sowie um die schwere Angststörung der Mutter ging. Mit zunehmendem Zutagetreten der familiären und transgenerationalen Konflikte und deren Bearbeitung konnte die Tochter sich besser von ihrer Familie abgrenzen und aktivere Konfliktlösestrategien entwickeln. Mit zunehmender Autonomie konnte sie die Zwangs- und Angstsymptomatik unter Antidepressiva deutlich abbauen.

In beiden Fällen kann man argumentieren, dass gegebenenfalls nur die Psychotherapie den gewünschten Effekt hervorgerufen hätte – oder allein das Psychopharmakon, unabhängig von der Psychotherapie, nach längerer Zeit seine Wirkung getan hätte. Eine abschließende Beweisführung wird hier nicht gelingen. Es ist jedoch sehr hilfreich, bei nicht wirksamer Pharmakotherapie die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Medikamentenwirkung so lange geblockt sein könnte, bis bestimmte familiäre oder intrapsychische Konfliktkonstellationen bearbeitet sind. Denkt man an diese Möglichkeit nicht, besteht die Gefahr von unnötigen Medikamentenumstellungen oder zu hohen Dosierungen mit den entsprechenden Nebenwirkungen oder eines vollständigen Ausbleibens einer Wirkung. Psychotherapie stärkt die Psychopharmakotherapie-Adhärenz: Hier ist zum einen der unspezifische Aspekt der Psychotherapie gemeint, indem man Therapieziele, Bedenken und Hoffnungen gegenüber einem Medikament in der Psychotherapie verbalisieren und reflektieren kann. Zum anderen kommen spezifische Psychotherapieverfahren infrage, beispielsweise die gezielte Adhärenz-Therapie oder Psychoedukation bei psychotischen Störungen (Barkhof, Meijer, de Sonneville, Linszen u. de Haan, 2012). Es gibt standardisierte Adhärenz-Therapien und Psychoedukation in einzel- und gruppentherapeutischen Settings. In vielen Fällen ist deren Wirksamkeit jedoch besser, wenn Therapieziele und Krankheits- und Behandlungskonzepte individuell und eingebettet in die laufende Psychotherapie oder psychopharmakologische Behandlung mit Betroffenen und deren Familien erarbeitet werden. 28

Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

3.2  Mögliche negative Wechselwirkungen Psychopharmakotherapie verstärkt eine passive oder negative Grundhaltung der Psychotherapie oder der Erkrankung gegenüber: Psychopharmaka können unabhängig von ihrer biologischen Wirkung Haltungen und Vorstellungen bei Patienten hervorrufen oder verstärken, die ungünstig sind. So kann ein Medikament eine passive oder resignativ-pessimistische Position einer psychischen Störung gegenüber verstärken: »Gebt mir ein Medikament, das mich gesund und glücklich macht, ich selbst kann sowieso nichts und möchte daher auch nichts dazu beitragen.« Diese passive, die Verantwortung abgebende Haltung kann prinzipiell bei jeder Therapie auftreten, sei es Psychotherapie oder Pharmakotherapie. Bei der Psychopharmakotherapie ist es zusätzlich problematisch, dass im ungünstigen Fall ein verschreibender Arzt eine pessimistische Haltung des Patienten Psychotherapie gegenüber teilt und damit verstärkt. Diese Verstärkung kann schon durch recht übliche ärztliche Bemerkungen entstehen wie: »Sie müssen jetzt vier bis sechs Wochen abwarten, bis die Antidepressiva wirken.« Entsprechend sollte beim Verschreiben eines Psychopharmakons sorgfältig kommuniziert werden, dass beides, Psychotherapie und Pharmakotherapie, für die Heilung eines Betroffenen notwendig ist. Psychopharmakotherapie reduziert die Motivation zur Psychotherapie insgesamt: Gerade bei sehr positiver anfänglicher Wirkung eines Medikaments kann es zum Abbruch von Psychotherapien kommen. Dies beobachtet man immer wieder bei der Stimulanzientherapie der ADHS, die häufig schnell zu sichtbaren Verbesserungen der Symptomatik führt. Es sei an dieser Stelle betont, dass es einige Kinder gibt, deren psychopharmakologische ADHS-Behandlung schlicht ausreicht, um emotionale Probleme zu mindern und die vormals konfliktreichen Familienbeziehungen auf einen guten Weg zu bringen. Im besten Sinne löst das Psychopharmakon eine Entwicklungsblockade beim Kind und hilft, die eigentlichen Entwicklungsschritte nun auch ohne Psychotherapie selbst zu bewältigen. Es gibt aber einige Kinder mit ADHS und schwereren emotionalen Beeinträchtigungen, TraumatiMögliche negative Wechselwirkungen

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sierungen oder konfliktreichen Familienbeziehungen, die zusätzlicher der Psychotherapie bedürfen. Wenn Kinder und/oder Eltern aufgrund der anfänglich guten Stimulanzienwirkung dann eine Psychotherapie und/oder ein Elterntraining ablehnen, ist dies bedauerlich. In Einzelfällen, wenn man eine Fehlentwicklung ohne Elterntraining oder Einzelpsychotherapie des Kindes befürchtet, sollte man rechtschaffenerweise die Stimulanzientherapie an die Bedingung einer begleitenden Psychotherapie knüpfen. Psychopharmakotherapie entwertet die Psychotherapie: Dieser Aspekt negativer Wechselwirkungen ist bereits in den beiden vorgenannten potenziell enthalten. Im schwerwiegendsten Fall entwertet der verschreibende Arzt explizit die Psychotherapie. Aber selbst, wenn Psychopharmaka in bester Absicht und Grundhaltung und unter Betonung der Notwendigkeit einer Fortsetzung der Psychotherapie verschrieben werden, kommt es gelegentlich dazu, dass die klare, Wirkungen und Nebenwirkungen evaluierende ärztliche Art von Patientinnen und Patienten als stark, helfend und optimistisch erlebt wird, während eine weniger direktive psychotherapeutische Umgangsweise entwertet wird. Hier sind Reflexion und Absprache zwischen dem Arzt und dem Psychotherapeuten dringend erforderlich, und gelegentlich sind gemeinsame Gespräche mit den Eltern oder der Familie notwendig. Psychotherapie unterminiert die Psychopharmakotherapie-Adhärenz: Umgekehrt kommt es vor, dass eine Psychotherapeutin durch Ablehnung, fortbestehende Skepsis oder Unwissenheit die Psychopharmakotherapie entwertet und damit deren Adhärenz unterminiert. Dieses Phänomen kommt aber auch vor, wenn eine Psychotherapeutin vollumfänglich hinter einer zusätzlichen Psychopharmakotherapie steht. Es ist häufig hilfreich und notwendig, dass eine Psychotherapeutin mit dem Betroffenen die Bedeutung von Medikamenteneinnahme im Behandlungsprozess aufgreift, auch wenn sie nicht die verschreibende Ärztin ist. Dazu sollte man Grundwissen zu Indikation, Wirkungsweise und Nebenwirkungen von Psychopharmaka haben und/oder sich im Einzelfall beim Verschreibenden darüber erkun30

Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

digen. Ansonsten kommt es vor, dass sich die Unsicherheit der Psychotherapeutin auf den Patienten überträgt, der dann die Medikamente absetzt. Psychotherapie mindert die Psychopharmakotherapiewirkung: Jede nicht indizierte oder nicht lege artis durchgeführte Psychotherapie kann selbstverständlich die Psychopharmakotherapiewirkung mindern. Als Angst- oder Zwangssymptomatik missverstandene Wahnsymptomatik mit Expositionstherapie zu behandeln, könnte ein solches Beispiel sein.

3.3 Umgang mit möglichen positiven und negativen Wechselwirkungen Grundsätzlich sollte man als Psychotherapeutin, als Psychotherapeut seine Haltung gegenüber Psychopharmaka allgemein und für bestimmte Problemkonstellationen und Störungen reflektieren. Auch können Fortbildungen zum Thema Psychopharmakologie für Psychotherapeuten mit der Möglichkeit zur Diskussion und Reflexion, also nicht nur Vorträge, sehr empfohlen werden. In der Psychotherapieausbildung sollte das Grundlagenwissen über Psychopharmakologie vermittelt werden und in die Supervisionen von Ausbildungsfällen die Reflexion über Wechselwirkungen integriert werden. Im Einzelfall hilft ein Blick auf die verschiedenen Wechselwirkungsmöglichkeiten, die Reflexion der eigenen Haltung zur Psychopharmakotherapie im individuellen Fall und die sorgfältige Mitgestaltung der Erarbeitung der Therapieziele. Wenn eine Psychopharmakotherapie begonnen hat, sollte auch im Verlauf über mögliche aktuell wirksame Wechselwirkungen und über Anpassungen der Therapieziele mit dem Kind/ Jugendlichen und seinen Eltern reflektiert werden.

Umgang mit möglichen positiven und negativen Wechselwirkungen

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3.4 Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeut und dem für die Psychopharmakotherapie zuständigen Arzt Dem eigentlichen Beginn einer Psychopharmakotherapie ist die Vorstellung bei einem Kinder- und Jugendpsychiater oder, in seltenen Fällen, einem Kinderarzt vorgeschaltet. Das hat den Vorteil, dass man bei der Überweisung an den betreffenden Arzt seine Ideen zur Indikation und gegebenenfalls auch seine Sorgen bezüglich Neben- und Wechselwirkungen mitteilen kann. Diese Chance wird meiner Erfahrung nach im praktischen Alltag – auch aus Zeitgründen – relativ selten genutzt. Trotz erheblicher Zeitnot in vielen Arztpraxen durch den Budgetdruck des Versicherungssystems lohnt sich das Vorhalten kurzer Telefontermine zur Reflexion für Psychotherapeuten und andere Netzwerkplayer, auch wenn Telefontermine für Patienten aus Kostengründen heute kaum noch angeboten werden können. Der regelmäßige Austausch zwischen Arzt und Psychotherapeut im Verlauf bleibt meist gemeinsamen Patienten mit komplizierten Wechselwirkungen oder solchen mit hoher Behandlungsambivalenz dem einen oder anderen gegenüber vorbehalten. Auch Qualitätszirkel für bestimmte Störungsbilder, beispielsweise ADHS oder Psychosen, lohnen sich sehr, um Vertrauen aufzubauen und um sich über einzelne Patientinnen und Patienten auszutauschen. Manchmal entscheidet die Geschwindigkeit, in der ein Telefontermin im Notfall zustande kommt, über einen gelungenen Verlauf. Angesichts der Bedeutung dieser Netzwerkarbeit ist die bessere Vergütung von Telefonterminen oder E-Mail-Verkehr im Zeitalter der Kommunikation eine relevante Frage der Gesundheitspolitik. Vor einer intensiven Kommunikation zwischen den Behandelnden steht die transparente Aufklärung von Kindern/Jugendlichen und ihren Eltern über die Art der Kommunikation zwischen dem Psychotherapeuten und dem Arzt sowie deren schriftliche Schweigepflichtentbindung. Themen in Telefonaten zwischen Psychotherapeut und Arzt können die folgenden sein: die Indikation für Medikamente, gemeinsame 32

Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

und unterschiedliche Therapieziele von Psychotherapeut und Arzt sowie im Verlauf notwendige Änderungen der Therapieziele, Nebenwirkungen, ungünstige Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie sowie ein gemeinsames Abwägen, ob und wann ein Medikament entbehrlich sein könnte.

3.5 Was kann man tun, wenn Kinder, Jugendliche oder Eltern Psychopharmakotherapie ablehnen? Viele Betroffene, vor allem aber auch ihre Eltern, lehnen Medikamente zur Behandlung psychischer Störungen und damit bereits den Arztbesuch zunächst ab. In dieser Situation kann mit der Familie reflektiert werden, dass zunächst die ärztliche Miteinschätzung und Beratung im Vordergrund stehen und dass es sich lohnt, über medikamentöse Möglichkeiten Bescheid zu wissen, ohne dass man gleich verpflichtet ist, sich für ein Medikament zu entscheiden. Dies gelingt in der Praxis häufig gut. Psychopharmaka sind in den seltensten Fällen Notfallbehandlungen, daher kann auch die Ärztin darauf vertrauen, dass viele Patienten im Behandlungsverlauf sich auf der Basis aller Reflexionen für oder gegen eine medikamentöse Mitbehandlung entscheiden, wenn sie über einige Zeit das »Für und Wider« abgewogen haben. In einigen wenigen Fällen kann die Ablehnung von Psychopharmaka einem Arzt deutliches Unbehagen bereiten oder sogar zur Zwangseinweisung führen (etwa bei derart starken psychotischen Symptomen, dass eine kurzfristige Selbst- oder Fremdgefährdung nicht mehr ausgeschlossen werden kann). Insgesamt kann man aber vor allem bei Depression und ADHS sagen, dass die sorgfältige Mitbehandlung durch eine Kinder- und Jugendpsychiaterin ohne Druck bei vielen Eltern und Kindern zu einer nachvollziehbaren Entscheidung für oder gegen ein Medikament führt. Vor allem eine dogmatische Haltung für oder gegen Medikamente im System, beispielsweise von Lehrkräften oder dem mitbePsychopharmakotherapie ablehnen

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handelnden Psychotherapeuten, blockiert nicht selten die Möglichkeit der Eltern und Betroffenen, sich im Verlauf aus guten Gründen für oder gegen ein Medikament zu entscheiden. Diese Blockaden sollten dann Inhalt des Austausches zwischen Ärztin und Psychotherapeut oder anderen Beteiligten im System (Lehrkräfte, Jugendhilfemitarbeitende, Verwandte) sein.

3.6 Was kann man tun, wenn Kinder, Jugendliche oder Eltern eine Richtlinienpsychotherapie ablehnen? Mit und ohne Indikation einer Psychopharmakotherapie sehen wir in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis häufig Kinder und Jugendliche, die eine Richtlinienpsychotherapie ablehnen. Hier greifen dann jedoch häufig die Möglichkeiten einer sozialpsychiatrischen Praxis, in der man zunächst die Indikation und Therapieziele einer Psychotherapie sorgfältig vorbereiten kann. Einige Kinder bedürfen auch eher der fundierten Beratung und einiger Krisengespräche oder spezifischer Gruppentherapien oder aber ergänzender, eher nonverbaler therapeutischer Angebote wie Kunst-/Bewegungs- oder Musiktherapie oder einer eher langfristigen kinder- und jugendpsychiatrischen Hausarztfunktion, die es über Jahre ermöglicht, Kinder und Jugendliche durch ihre Entwicklung hinweg in etwaigen Krisen zu begleiten. Sozialpsychiatrische Praxen und Psychotherapeuten ergänzen sich hier sehr gut, um in allen Lebenslagen über die Entwicklung vom Kindes- bis zum jungen Erwachsenenalter unter Wahrung von Behandlungskontinuität das passende Angebot zur Verfügung zu stellen. Einige Kinder, vor allem solche mit ADHS, benötigen neben Medikamenten keine Richtlinienpsychotherapie. Hier bewährt es sich, wenn der Arzt psychotherapeutisch ausgebildet ist, wie dies bei Kinder- und Jugendpsychiatern der Fall ist, damit die innerpsychische Lage des Kindes, die psychosoziale Entwicklung unter Medikamenten, 34

Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

die Wirkungen/Nebenwirkungen und die individuellen Therapieziele fundiert reflektiert werden können. Dies wäre eine psychotherapeutisch orientierte Psychopharmakologie, die sich in der Praxis als sehr hilfreich erwiesen hat. In einigen Fällen werden nach einer Diagnostik zunächst sowohl die Psychotherapie als auch die Pharmakotherapie abgelehnt. Ein Fallbeispiel: Der knapp achtjährige Marko wurde zur Diagnostik vorgestellt, da er auch in der zweiten Schulklasse im Vergleich zu anderen Kindern weiterhin deutlich durch motorische Unruhe und Konzentrationsprobleme auffiel. Er stand im Unterricht auf, rief seine Antworten in die Klasse hinein, während sich praktisch alle anderen Kinder an das Melden und Abwarten gewöhnt hatten. Er war häufig in Streitigkeiten mit Gleichaltrigen auf dem Schulhof verwickelt und bekam in der Schule, aber auch zu Hause sehr viel Ärger, weil er sich nicht an Regeln halten konnte und in seiner Wut auch mal etwas von anderen Kindern kaputt machte. Vor dem Schlafengehen war Marko gelegentlich traurig und sagte seiner Mutter, er sei sowieso blöd und tauge nichts. Sein niedriges Selbstwertgefühl zeigte sich auch darin, dass er sich trotz Fußballbegeisterung kaum traute, in einen Fußballverein einzutreten, da Mitschüler ihm gesagt hatten, er sei zu langsam und würde das Tor ohnehin nie treffen, wenn er so langsam reagiere. Auch einige Freunde hatten sich schon abgewandt, weil er so dominant das Spiel bestimmen und auch andauernd etwas anderes spielen wollte. Die Diagnostik in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis, bestehend aus einer emotionalen Diagnostik, einem Leistungstest, einem Konzentrationstest, diversen Fragebögen sowie einem systematischen ADHS-Interview mit beiden Eltern und einem ausführlichen Telefonat mit der Klassenlehrerin ergab eine bestätigte ADHS. Aufgrund der schon deutlichen Beeinträchtigung des Kindes mit Folgen für die Beziehungen zu Gleichaltrigen und zur Familie und für das Selbstwertgefühl wäre eine medikamentöse Mitbehandlung zu rechtfertigen und auch wünschenswert gewesen. Die Eltern und auch die Lehrerin lehnten Medikamente jedoch kategorisch ab. In Richtlinienpsychotherapie ablehnen

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dieser Situation war es angezeigt, mit den Eltern über Behandlungsalternativen nachzudenken. Zu einem Elterntraining waren die Eltern aus Zeitgründen nicht bereit, und es war auch nicht wahrscheinlich, dass die zum Elterntraining gehörigen Techniken ohne Hilfe zu Hause erfolgreich durchgeführt worden wären. Einen Kontakt zum Jugendamt lehnte die Familie strikt ab, da sie die Einmischung zu Hause fürchtete. Auch eine Verhaltenstherapie oder tiefenpsychologische Therapie war nicht gewünscht. In dieser im praktischen Alltag nicht ganz seltenen Situation wurde die Familie zunächst durch unser Praxisteam begleitet. Der Junge liebte unsere Kunsttherapie in einer Gruppe von nur drei Kindern. Mit den Eltern und der Schule wurde in mehreren Gesprächen überlegt, wie dem Jungen mit praktischen Tipps in der Schule geholfen werden könnte. Die leitliniengemäßen Behandlungsoptionen wurden dabei ohne Druck und mit viel Respekt immer wieder erklärt und gemeinsam abgewogen. Während alle Beteiligten durch diese niedrigschwellige Begleitung über viele Monate Vertrauen aufbauten, konnten die Eltern und die Lehrerin im Gespräch immer mehr wahrnehmen, dass Marko eigentlich eine andere Hilfe benötigte. Nach sechs Monaten begann Marko ein Konzentrationstraining, und die Eltern nahmen schließlich motiviert zunächst an einem Einzel- und später auch an einem Gruppenelterntraining teil. Im Gruppenelterntraining konnten die Eltern ihre Beobachtungen, was Markos Probleme eigentlich sind, schärfen und sich mit allen Behandlungsoptionen wertfreier auseinandersetzen. Nach einem Jahr konnte dann eine immer noch dringend notwendige Stimulanzienbehandlung begonnen werden, die dann sehr erfolgreich verlief. Das Elterntraining wurde abgeschlossen und die Eltern wurden bei der Umsetzung der dort gelernten Techniken längerfristig weiter unterstützt. Nach ca. zwei Jahren begann Marko zusätzlich eine tiefenpsychologische Therapie, da seine Selbstwertprobleme noch beeinträchtigend blieben.

In diesem Beispiel wird deutlich, dass man sich in Fällen von großer elterlicher Ablehnung gegenüber Medikamenten und einer leitliniengemäßen psychotherapeutischen Behandlung Zeit lassen 36

Psycho­pharmakotherapie und Psychotherapie

sollte und auch kann. Das sozialpsychiatrische Setting kinder- und jugendpsychiatrischer Praxen ermöglicht hier einen zeitintensiven und gewissermaßen niedrigschwelligen Vertrauensaufbau, der schließlich zu einer Behandlungsmotivation für eine Richtlinientherapie und/oder eine Psychopharmakologie führen kann. Ich möchte betonen, dass es in dieser Situation fachlich integer war, der Familie ein niedrigschwelliges Hilfs- und Begleitangebot zu machen, aber gleichzeitig auch dabei zu bleiben, dass von den leitliniengemäßen therapeutischen Behandlungsoptionen der ADHS noch keine begonnen worden war.

Richtlinienpsychotherapie ablehnen

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4 Einführung in ausgewählte relevante Psychopharmaka

Dieses Kapitel gibt eine Einführung in die drei relevantesten Stoffgruppen. Für Details empfehle ich ein aktuelles Psychopharma­ kologie-Lehrbuch (z. B. Gerlach et al., 2016) und gegebenenfalls die relevanten aktuellen kinder- und jugendpsychiatrischen Leitlinien.

4.1 Antidepressiva Antidepressiva können bei Angst, Depression und Zwangsstörung zum Einsatz kommen. Für Depressionen sind sie nach derzeitiger Studienlage nur bei mittlerer und schwerer depressiver Episode wirksam. Antidepressiva wirken am besten bei Angst, am zweitbesten bei Zwang und erst in dritter Linie bei Depression und hier am besten zur Rückfallprophylaxe. Bei Ängsten kommt man mit eher niedrigen Dosierungen und bei Depressionen mit mittleren bis hohen Dosierungen aus. Bei Zwängen benötigt man häufig eher höhere Dosierungen. Ohne begleitende oder vorgeschaltete Psychotherapie sind Antidepressiva generell nicht sinnvoll. Zielsymptome sind Ängste, Zwangsgedanken und -handlungen, zwanghaftes Grübeln bei Autismus, Depressivität, Schlafstörungen bei Depressionen, Antriebs- und Energiemangel, Stimmungstiefs bei Stimmungsschwankungen und Suizidalität, obwohl Letztere durch Antidepressiva in einzelnen Fällen auch zunehmen kann und daher sorgfältig überwacht werden muss. Typische Nebenwirkungen sind Kopf- und Bauchschmerzen, Schwindel und Schwitzen und gelegentlich Unruhezustände oder 38

sogar eine Verschlechterung der Stimmung. Außerdem kann es zu sexuellen Funktionsstörungen (Ejakulations- und Potenzstörungen) und zu gastrointestinalen Beschwerden, insbesondere Durchfällen bei Einnahme auf nüchternen Magen, kommen. Häufig treten Nebenwirkungen vorübergehend auf mit Ausnahme von vermehrtem Schwitzen, Schwindel und sexuellen Funktionsstörungen, die auch längerfristig fortbestehen können. Sehr selten ist ein Serotonin-Syndrom. Hierbei kommt es zu einer serotonergen Überaktivität im Gehirn, die potenziell auch lebensbedrohlich sein kann. Symptome sind neben Übelkeit, Erbrechen, Herzrasen und Schwindel auch Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle und komatöse Zustände. Der Verdacht eines Serotonin-Syndroms sollte immer zu einer Notfallvorstellung führen. In diesem Fall wird das Antidepressivum sofort abgesetzt und der Jugendliche medizinisch, gegebenenfalls intensivmedizinisch versorgt. Ein Wirkungseintritt der Behandlung ist innerhalb von zwei bis vier Wochen zu erwarten. Häufig beschreiben Jugendliche jedoch nach vielen Wochen, dass die Zielsymptome besser geworden sind, sie aber nicht einschätzen können, ob ihre Therapieziele durch die Psychotherapie, durch die Medikamente oder aus anderen Gründen erreicht wurden. Eine Behandlung wird üblicherweise ein halbes Jahr lang durchgeführt. Von einem akuten Absetzen des Antidepressivums wird dringend abgeraten, da es zu Absetzsymptomen führen und außerdem einen Rückfall der Zielsymptome zur Folge haben kann. Um dieses bei Jugendlichen nicht seltene abrupte Absetzen zu verhindern, bleibt man als Arzt auch nach der Eindosierung in relativ engem Kontakt mit ca. vier- bis achtwöchentlichen Terminen und bietet an, bei dringendem Wunsch, das Antidepressivum abzusetzen, auch zwischendurch einen Termin zu vereinbaren, damit das Medikament lege artis ausgeschlichen werden kann; dies bedeutet, dass das Antidepressivum langsam bis zum endgültigen Absetzen herunterdosiert wird. Wird ein Antidepressivum abrupt abgesetzt, kann es zum Absetzsyndrom kommen mit grippeähnlichen Beschwerden, Unruhe, Schlaflosigkeit, Antidepressiva

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Gefühlsstörungen inklusive Kribbeln oder Schmerzen und MagenDarm-Beschwerden sowie einem Rückfall der depressiven Symptomatik. Im Therapieverlauf ist es wichtig, als Arzt oder Ärztin dem Kind/Jugendlichen gegenüber zur grundsätzlichen Freiwilligkeit der Antidepressiva-Einnahme zu stehen und den Sinn der Medikation zu reflektieren. Ansonsten ist ein abruptes und vor allem nicht abgesprochenes Absetzen von Antidepressiva häufiger. Die parallele Durchführung von Psychotherapie und Antidepressiva-Therapie funktioniert zumeist gut. In der Psychotherapie fragen sich viele Patienten, ob das Medikament eigentlich gewirkt hat, selbst wenn eine medikamenteninduzierte Besserung objektivierbar ist. Entsprechend wird die Psychotherapie erfahrungsgemäß von den Patientinnen und Patienten häufig als Hauptwirkfaktor angesehen und nach Medikationsbeginn eher selten als nicht mehr nötig entwertet. Das Medikament kann allerdings als Schutz erlebt werden, sodass dessen Absetzen Angst macht. Diese Angst sollte in der Psychotherapie besprochen werden. Üblicherweise setzt man das Medikament ab, wenn auch die Lebensumstände überwiegend stabil sind, also nicht ein Schulwechsel, ein Auszug aus dem Elternhaus oder ein ansonsten relevanter Lebensabschnittswechsel ansteht. Medikamente sollten nicht ausgerechnet bei gleichzeitigem Ende der Psychotherapie abgesetzt werden. Sollte die Psychotherapie lange beendet worden sein, ist es Aufgabe der Ärztin, den Jugendlichen in der Absetzphase zu begleiten und Ängste zu bearbeiten. Sollten bereits im Jugendalter rezidivierende depressive Episoden jeweils nach Absetzen eines Antidepressivums auftreten, ist in der Psychotherapie gelegentlich viel Arbeit zu leisten, um die Kränkung des langfristigen Medikamentenbedarfs zu verarbeiten und mit der Erkrankung konstruktiv umzugehen. Gemäß der »Kindling«-Hypothese (Kendler, Thornton u. Gardner, 2000) entstehen depressive Episoden zunächst überwiegend kontextabhängig, beispielsweise im Rahmen von Stress (Schule, Familie, Beziehungen etc.). Mit weiteren Episoden allerdings nimmt die Kontextabhängigkeit im Verlauf ab. Es hat eine Art Sensibilisierung stattgefunden, die 40

Einführung in ausgewählte relevante Psychopharmaka

zum Ausbruch von depressiven Episoden auch ohne nachvollziehbaren Stress führt. Entsprechend wird ein Betroffener sein Krankheitsmodell verändern und neu verarbeiten müssen.

4.2 Stimulanzien und Nichtstimulanzien zur Behandlung einer Aufmerksamkeitsdefizitund Hyperaktivitätsstörung Stimulanzien (Methylphenidat und Amphetamine) werden in verschiedenen Darreichungsformen (kurz, mittel und lang wirksam) bei einer ADHS zur Behandlung von Konzentrationsproblemen, motorischer Unruhe und Impulsivität erfolgreich eingesetzt. Es gibt kaum ein umstritteneres Medikament für Kinder und Jugendliche. Probleme der Stimulanzien sind, dass sie grundsätzlich bei den meisten Kindern und Jugendlichen, auch ohne ADHS, die Schulleistungsfähigkeit erhöhen, dass sie durch die Leistungssteigerung eine gewisse Missbrauchsgefahr in sich bergen und entsprechend nach Betäubungsmittelgesetz verschrieben werden müssen. Da Stimulanzien auch leichtfertig eingesetzt werden können, muss der Kinder- und Jugendpsychiater vor Beginn einer Stimulanzientherapie in jedem Fall von der Diagnose einer ADHS überzeugt sein, die entsprechenden diagnostischen Verfahren vorliegen haben und gegebenenfalls aktuell wiederholen. Da es keinen spezifischen Test für ADHS gibt (weder EEG noch neuropsychologische Tests), ist die Ärztin auf möglichst genaue Informationen aus mehreren Informationsquellen zu den Kernsymptomen angewiesen, die schließlich zur Diagnose ADHS führen, wenn nicht differenzialdiagnostische Überlegungen dagegensprechen. Unkonzentriertheit und Unruhe kommen häufig auch bei anderen Problemen und Störungen vor. Dazu zählen Überforderung und (seltener) Unterforderung im schulischen Kontext, Reaktionen des Kindes auf Belastungen, wie Trennung der Eltern oder körperliche und psychische Erkrankungen der Eltern, soziale Ausgrenzung in der Schule, posttraumatische Belastungs­störungen Stimulanzien und Nichtstimulanzien

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und Depressionen, aber auch Autismus-Spektrum-Störungen und Psychosen. Einen ADHS-Verdacht wahrzunehmen ist also leicht, die Diagnose und damit die Rechtfertigung für eine etwaige Stimulanzientherapie richtig zu stellen, erfordert viel Wissen und Sorgfalt. Vor Beginn einer Stimulanzientherapie müssen neben den oben beschriebenen Zielsymptomen in den verschiedenen Settings (zu Hause, in der Schule, in der Freizeit) auch komorbide Symptome und Störungen dokumentiert werden. Verhaltensstörungen und emotionale Störungen wie Angst und Depressivität, aber auch Ticstörungen und Schlafstörungen sind häufig. Diese komorbiden Symptome können unter Stimulanzientherapie sowohl besser als auch schlechter werden, sodass das Monitoring neben den Zielsymptomen und Nebenwirkungen auch die komorbiden Symptome umfassen muss. Im Gegensatz zu Antidepressiva wirken Stimulanzien häufig sofort, also am Tag eins der Therapie. Diese Wirkung ist zunächst meistens nur dadurch begrenzt, dass die Dosis anfangs noch zu niedrig ist und die Wirkung nur wenige Stunden anhält. Die sogenannte Response-Rate (Anteil der Kinder, die eine Wirkung zeigen) liegt bei etwa 80 Prozent. Stimulanzien sind also äußerst wirksam. Dennoch sind das Finden der richtigen Dosierung und das Monitoring in vielen Fällen deutlich aufwendiger als beispielsweise bei Antidepressiva. Man sagt mit Recht, dass ADHS mit Stimulanzien einfach, aber schwer gut zu behandeln ist. Dadurch, dass das Medikament nur in bestimmten Zeiten des Tages wirkt, muss genau abgewogen werden, welches Medikament mit welcher Wirkdauer das geeignete für das jeweilige Kind ist. Außerdem ist ein Methylphenidat-Präparat gleicher Wirklänge nicht unbedingt gleich wirksam wie ein anderes Methylphenidat-Präparat, da die Blutspiegelverläufe und damit die Wirkungsverläufe über den Tag unterschiedlich sind. Ein optimales Langzeitpräparat kann häufig nicht vorhergesagt werden, da jedes Kind anders reagiert. Entsprechend müssen die Langzeitpräparate teilweise durchprobiert werden. Ziel der Therapie ist eine optimale Abdeckung in wichtigen von ADHS betroffenen Situationen. Bei ADHS kann bei einem Kind nur 42

Einführung in ausgewählte relevante Psychopharmaka

der Schulalltag betroffen sein, bei anderen Kindern (und dies ist häufig) der ganze Tag. Es ist entscheidend, sorgfältig alle Lebensbereiche des Kindes zu beachten. Viele Eltern wollen ein Medikament nur für die Schulzeit, weil sie zu Hause »schon damit klarkommen«. Diese Sichtweise kann durchaus übersehen, wie relevant Konzentration und Selbststeuerung von Impulsivität auch im Gleichaltrigenkontext sind, etwa im Verein oder im gemeinsamen Spiel mit Freunden, und wie entscheidend es für ein Kind ist, auch im Familienkontext nicht täglich wegen Impulsivität und Unorganisiertheit kritisiert zu werden. Bei der Frage der angestrebten Wirkdauer der Stimulanzien müssen Wirkungen und Nebenwirkungen abgewogen werden. Typische Nebenwirkungen von Stimulanzien sind Appetitmangel mit (leichter) Wachstumshemmung, Schlafstörungen, im Einzelfall relevante Pulsfrequenz- und Blutdruckerhöhung, Tics, Kopf- und Bauchschmerzen sowie Gereiztheit, Ängste und Stimmungsschwankungen bis hin zur Depressivität bei zu hoher Dosierung. Die optimale Dosierung ist je nach Kind sehr unterschiedlich und kann nicht vorhergesagt werden. Entsprechend sind eine niedrige Einstiegsdosis und ein vorsichtiges Aufdosieren der Stimulanzien erforderlich. Stimulanzien wirken, solange man sie gibt, und werden häufig über mehrere Jahre eingesetzt. Bei Stimulanzien ist zu beachten, dass manche Komorbiditäten, wie Schlafstörungen, Tics und Stimmungsprobleme, vor Beginn der Therapie durch Stimulanzien tatsächlich sogar besser werden können, obwohl diese Probleme gleichzeitig von Stimulanzien verstärkt werden können. Außerdem können manche ADHS-Symptome wie impulsive Wutanfälle auch ein Zeichen einer zu hohen Dosierung von Stimulanzien sein. Man kann sich hier einen U-förmigen Verlauf vorstellen: Mit zu niedriger Dosierung ist die impulsive Wut noch vorhanden, mit richtiger Dosierung reduzieren sich die mit Impulsivität assoziierten Wutanfälle, mit einer Überdosierung steigen Gereiztheit und auch Wutanfälle allerdings wieder an. Einige Kinder mit ADHS benötigen Stimulanzien nicht langfristig, weil sie entweder entwicklungsbedingt oder durch psychotherapeutische Maßnahmen oder aufgrund reduzierter Anforderungen zum Stimulanzien und Nichtstimulanzien

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Beispiel in der Schule auch ohne Stimulanzien auskommen. Gespräche mit den Kindern und Jugendlichen über das Für und Wider der Stimulanzientherapie sind immens wichtig, da ansonsten erfahrungsgemäß auch bei Stimulanzien die Bereitschaft, diese langfristig einzunehmen, niedrig ist. Auch die Therapieziele wechseln über die Jahre. Einerseits steigen die schulischen Anforderungen, andererseits kann das Verhalten in der Gleichaltrigengruppe für Jugendliche relevanter werden. Die Wechselwirkung zwischen Stimulanzientherapie und Psychotherapie ist komplex, da die Veränderungen beim Kind, im Familienund im Schulleben, subjektiv und objektiv, immens sind. Elterntrainings und Psychotherapie werden gelegentlich abgebrochen, weil der Bedarf nicht mehr gesehen wird. Während eine Kombination aus Psychotherapie und Stimulanzientherapie in einigen Fällen gar nicht notwendig ist, brechen leider auch Eltern oder Kinder die Psychotherapie ab, die wichtige Themen zu bearbeiten hätten, wie Ängste, Familienkonflikte, Selbstwertprobleme oder Traumatisierungen. Aus meiner Sicht sollte bei Stimulanzientherapie die Indikation für eine parallele Psychotherapie streng gestellt werden. Der Effekt der Stimulanzientherapie kann auch abgewartet werden, damit die Themen für eine Psychotherapie sich neu zeigen können. Ansonsten ist ein Therapieabbruch häufig. Manche Themen, wie Verhaltensstörungen und Familienkonflikte, können dann nicht mehr relevant sein, andere Themen, zum Beispiel die Beziehungsfähigkeit zu Gleichaltrigen oder Ängste, können relevanter und dann Thema einer Psychotherapie werden. Bei paralleler Psychotherapie und Stimulanzientherapie ist unbedingt eine regelmäßige Absprache zwischen Arzt und Psychotherapeut zu empfehlen. Alternative Medikamente zur Behandlung einer ADHS sind Atomoxetin und Guanfacin. Diese Medikamente werden häufig eingesetzt, wenn Stimulanzien nicht vertragen werden oder nicht ausreichend wirksam sind, wenn komorbide Angst (dann vor allem Atomoxetin), Tics oder die Gefahr des Missbrauchs von Stimulanzien (z. B. bei einer schweren Suchtstörung) vorliegen. Außerdem können ganz44

Einführung in ausgewählte relevante Psychopharmaka

tägige Probleme durch ADHS-Symptome (z. B. beim Aufstehen und Zubettgehen, die mit den nicht ganztägig wirkenden Stimulanzien im Einzelfall nicht in den Griff zu bekommen sind) eine Indikation für Atomoxetin oder Guanfacin sein. Atomoxetin verursacht keine Tics und bessert in gewissem Umfang komorbide Ängste; Guanfacin eignet sich bei komorbiden Schlafstörungen, da es – vor allem anfangs – eher müde macht. Diese Müdigkeit verschwindet üblicherweise nach ca. drei Wochen, Schlafstörungen können aber langfristig besser werden. Die Wirkung von Atomoxetin und Guanfacin stellt sich meist schleichend innerhalb von mehreren Wochen ein. Die Wirkstärke ist außerdem weniger hoch als bei Stimulanzien, sodass Wechselwirkungen mit einer laufenden Psychotherapie subtiler ausfallen können als bei einer Stimulanzientherapie.

4.3 Antipsychotika Antipsychotika kommen primär zum Einsatz zur Behandlung produktiver psychotischer Symptome (Wahn, Halluzinationen oder desorganisiertes Denken und Verhalten), außerdem von Negativsymptomen einer Psychose (sozialer Rückzug, Freudlosigkeit/Anhedonie, Sprachoder Denkverarmung). Auch die kognitiven Störungen einer Psychose (vor allem Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme) können durch Antipsychotika gebessert, aber leider dosisabhängig auch verschlechtert werden (hier gibt es wiederum eine U-förmige Wirkungskurve). In der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden Antipsychotika häufiger zur kurzfristigen Behandlung von Impulsivität und Aggressivität sowie selbstverletzendem Verhalten bei tief greifenden Entwicklungsstörungen und geistiger Behinderung verwendet. Eine weitere wichtige Indikation ist die Manie. Darüber hinaus gibt es eine breite Palette von Einsatzmöglichkeiten, die jedoch allesamt Off-LabelUse sind. Dazu zählen die Behandlung von anders nicht steuerbarer Impulsivität und Aggressivität bei ADHS und Verhaltensstörungen, die Behandlung schwerer und chronischer Schlafstörungen, die Antipsychotika

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Sedierung bei starken Spannungszuständen und Selbstverletzung im Rahmen einer emotional instabilen Persönlichkeits(entwicklungs-) Störung oder die Behandlung der Enuresis (Einnässen) und von Tics. Auch bei Symptomen des sogenannten Psychose-Risikosyndroms (also psychosenahen Symptomen, die noch nicht die Kriterien einer Psychosediagnose erfüllen) können Antipsychotika eingesetzt werden. Hierbei ist aber zu beachten, dass das Antipsychotikum nicht (!) zur Verhinderung des Ausbruchs einer Psychose eingesetzt werden darf, weil viele Betroffene ohne Antipsychotika nie eine echte Psychose entwickeln würden. Stattdessen sollte die behandelnde Kinder- und Jugendpsychiaterin das Antipsychotikum spätestens nach drei Monaten erfolgreicher Antipsychotikabehandlung von Risikosymptomen (z. B. wahnähnlichen Symptomen) wieder ausschleichen. Die Hauptindikation von Antipsychotika sind Psychosen und die Manie. Bei beiden Erkrankungen ist die gemeinsame Erarbeitung von Therapiezielen mit Jugendlichen in der akuten Situation häufig schwierig, da die Kohärenz des Denkens und die Einsichtsfähigkeit in die Notwendigkeit einer Behandlung stark beeinträchtigt sein können. Wenn Jugendliche aber nicht vollkommen denkgestört sind oder wegen Gefährdung eine Behandlung sofort beginnen müssen, empfiehlt es sich, auch hier Zeit in die Erarbeitung gemeinsamer Therapieziele zu investieren. Die Therapieziele der Betroffenen können zunächst andere sein als die vom Therapeuten angedachten: Betroffene wollen sich beispielsweise in der Schule wieder konzentrieren oder wieder Freude mit Freunden empfinden können, während die Behandlung der Psychose selbst, etwa des Wahns, gar nicht im Vordergrund steht. Hier empfiehlt sich die Identifikation des Behandlers mit dem Leid des Betroffenen. Eine falsch verstandene Psychoedukation (»Sie haben eine Schizophrenie, die wir mit Antipsychotika behandeln müssen«) ohne besondere Berücksichtigung des individuellen Leidens der Betroffenen hat langfristig negative Folgen für deren Bereitschaft, Medikamente zu nehmen. Es hat aber auch negative Folgen für die Verarbeitung der Erkrankung selbst und damit für die Selbstwirk46

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samkeit und den Selbstwert. Auch bei sehr denkgestörten Patienten muss die Erarbeitung der Therapieziele nachgeholt werden, sobald das wieder möglich ist. Psychotische Patienten durchlaufen unterschiedliche Phasen, sowohl symptomatisch als auch in der Krankheitsverarbeitung, die auch im Langzeitverlauf immer wieder Gespräche über Sinn und Zweck von Medikamenten und veränderte Therapieziele notwendig machen. Patienten sind nach Abklingen der akuten Psychose häufig noch von der oben beschriebenen Negativsymptomatik betroffen und können daher weniger Freude an ursprünglichen Aktivitäten (z. B. Kontakt mit Gleichaltrigen) empfinden oder überhaupt die Energie für Aktivitäten aufbringen. Kognitive Einschränkungen können erhebliche Mühen bei der Bewältigung des Schul- oder Ausbildungsalltags mit sich bringen. Außerdem müssen der Schock des psychischen Zusammenbruchs mit vorübergehendem Realitätsverlust durch die akute Psychose und die Tatsache verarbeitet werden, dass eine Psychose wiederkommen kann. All das zu unterstützen ist die Aufgabe einer langfristigen psychotherapeutischen und/oder sozialpsychiatrischen Begleitung. Antipsychotika werden kurz nach Abklingen der akuten Symptome anfangs häufig noch als sinnvoll erlebt. Ein wichtiges Therapieziel der Antipsychotika ist jedoch die langfristige Rückfallprophylaxe. Für Betroffene wird die tägliche Einnahme des Medikaments manchmal zum Symbol der eigenen Erkrankung, gegen die gekämpft wird, und zum Symbol der weiter bestehenden Einschränkungen im Alltag und des Risikos, erneut an einer Psychose zu erkranken. Es ist die Aufgabe der Behandelnden, sorgsam mit der oder dem Betroffenen zu erarbeiten, inwieweit das Medikament als Schutz vor Rückfällen erlebt werden kann, ohne das Erlebnis von Selbstwirksamkeit zu beeinträchtigen. Nicht nur die Erkrankung selbst, sondern auch die Notwendigkeit der Medikamenteneinnahme können grundsätzlich positiv in das Selbstkonzept integriert werden. Dafür ist jedoch viel Aufwand erforderlich. Obwohl natürlich nicht jeder Jugendlicher, der an einer Antipsychotika

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Psychose erkrankt, intensive psychotherapeutische Hilfe kombiniert mit einer antipsychotischen Langzeitbehandlung benötigt, sollte diese intensive Hilfe überhaupt zur Verfügung stehen, falls sie gebraucht wird (»need adapted care«). Psychotherapeuten sind herzlich eingeladen, sich auch mit diesen Patienten intensiv zu beschäftigen, wenn auch der therapeutische Auftrag hierbei nicht allumfassend sein und die Therapie nur in Zusammenarbeit mit anderen Behandelnden erfolgen kann. Es ist aus meiner Sicht politisch nicht nachvollziehbar, warum Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten für die intensive Netzwerkarbeit bei schwer kranken Patienten nicht besser alimentiert werden sollten. Neben der psychotherapeutischen Begleitung psychotischer Patienten können auch sehr gezielte psychotherapeutische Interventionen mit reduzierten Therapiezielen indiziert sein, wie zum Beispiel Programme zur Behandlung von sozialen Ängsten, die bei psychotischen Jugendlichen häufig sind, oder Techniken der Stressbewältigung. Ein besonderes Problem der Antipsychotika sind ihre Nebenwirkungen. Müdigkeit beeinträchtigt den Alltag und verschärft gegebenenfalls das Problem der Negativsymptomatik. Manche Anti­ psychotika, vor allem solche der ersten Generation wie Haloperidol, verstärken kognitive Einschränkungen durch Beeinträchtigung der Konzentration und Einengung des Denkens und Fühlens. Sexuelle Funktionsstörungen und Gewichtszunahme können subjektiv akut beeinträchtigend sein. Gewichtszunahme ist aber häufig auch ein Langzeitproblem mit den üblichen Folgen von Übergewicht, nämlich ein schlechteres Selbstwertgefühl und ein höheres Risiko für Diabetes und Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Andere dosis­ abhängige Nebenwirkungen vor allem der Antipsychotika der ersten Generation sind die sogenannten extrapyramidalmotorischen und neurologischen Nebenwirkungen. Dazu zählen die Akathisie (Sitzunruhe und innere Unruhe, die auch mit psychotischer Unruhe verwechselt werden kann!), Rigor (Muskelsteifigkeit), Tremor (Zittern) und Akinese (Reduktion etwa der Mimik mit negativen Folgen für 48

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die soziale Kommunikation), Dystonie (krampfartige Muskelanspannung, z. B. Blickkrämpfe oder Schlundkrämpfe, die als extrem unangenehm erlebt werden), und die Früh- und Spätdyskinesien (unwillkürliche grimassierende Bewegungen im Gesicht oder Bewegungen der Arme und Beine). Ein Teil dieser Nebenwirkungen kann auch durch die Psychose selbst verursacht sein, beispielsweise Muskelsteifigkeit, Müdigkeit, sexuelle Funktionsstörungen, innere Unruhe, Einengung des Denkens, Konzentrationsstörungen und sogar Gewichtszunahme. Daher muss die Frage, ob etwas psychosebedingt oder medikamenten­ induziert ist, sorgfältig abgewogen werden. Auch bei Antipsychotika klingen viele Nebenwirkungen im Verlauf wieder ab (extrapyramidalmotorische Nebenwirkungen), andere Nebenwirkungen können aber fortbestehen (gelegentlich Müdigkeit) oder gar schlimmer werden (Gewichtszunahme, Spätdyskinesien). In Kenntnis dieser häufigen Nebenwirkungen ist es also gut nachvollziehbar, dass die Differenzierung von Erkrankung und Nebenwirkungen schwierig und die Bereitschaft von Psychose-Betroffenen zu einer Langzeittherapie mit Antipsychotika eher niedrig ist. Außerdem lässt sich aus dem Risiko dieser dosisabhängigen Nebenwirkungen die Grundregel ableiten, dass man mit möglichst geringen antipsychotischen Dosen auskommen möchte. Für eine Psychosebehandlung und Rückfallprophylaxe muss diese Dosis allerdings auch langfristig auf oder über einer antipsychotischen Dosierungsempfehlung liegen (siehe einschlägige Psychopharmakologie-Lehrbücher). Eine Psychose klingt auch unter Antipsychotika in der Regel langsam und nicht immer vollumfänglich ab. Es ist also Geduld erforderlich, und dies vor allem in der Behandlung von Negativsymptomen. Häufig müssen auch unterschiedliche Antipsychotika ausprobiert werden, bevor das richtige Langzeitpräparat gefunden ist, das in wirksamer Dosis gut genug verträglich ist. Auch bei Psychosen wird die Langzeitbehandlung von vielen Jugendlichen nicht akzeptiert. Daher sollten wie bei Antidepressiva auch die Antipsychotika langsam ausgeschlichen werden, da bei abruptem Absetzen die Rückfallgefahr Antipsychotika

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deutlich höher ist. Parallel zur Behandlung mit Antipsychotika werden anfangs häufig Benzodiazepine zur Behandlung von extremen Ängsten, von Erregung oder von manischen Symptomen eingesetzt. Dies ist häufig sinnvoll, notwendig und auch unproblematisch, sollte im mittelfristigen Verlauf aber wieder beendet werden. Mittel- und langfristig kommen Antidepressiva zum Einsatz, die gemeinsam mit Antipsychotika gegen Antriebsmangel, Energielosigkeit, Freudlosigkeit und depressive Stimmung helfen können. Die Wechselwirkungen von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie bei der Behandlung von Psychosen sind vielfältig. Wie oben erwähnt, spielen Medikamente auch bei der Verarbeitung einer Psychose eine große Rolle. Reflexionen zur Notwendigkeit von Medikamenten, die Abwägung ihrer Wirkungen und Nebenwirkungen und die Reflexion ihrer symbolischen Bedeutung für die Tatsache, krank zu sein und ein Medikament zu brauchen, finden sowohl beim Arzt als auch beim Psychotherapeuten statt. Daher ist eine enge Absprache beider Behandler wichtig. Antipsychotika werden im Off-Label-Use immer wieder auch bei schwerer Impulsivität und Aggressivität bei Verhaltensstörungen oder ADHS ohne Intelligenzminderung oder einer Autismus-SpektrumStörung verschrieben. Man wird nicht umhinkommen, anzuerkennen, dass dies in Einzelfällen notwendig ist. Es ist aber Folgendes zu beachten: Bei ADHS sollte immer in Erwägung gezogen werden, dass die Notwendigkeit von Antipsychotika zur Kontrolle von Aggressivität/Impulsivität Folge der nicht optimalen Einstellung auf ADHS-­ Medikamente sein kann. Es sollte also immer eine optimierte ADHS-­ Behandlung versucht werden, vor oder zumindest direkt nach akuter Antipsychotikabehandlung von extremer Impulsivität. Dabei spielt auch der oben erwähnte dosisabhängige U-förmige Verlauf der Impulsivität bei der Behandlung mit Stimulanzien eine Rolle. Entsprechend kann unkontrollierbare Wut auch Zeichen einer Überdosierung von Stimulanzien sein. Bei der antipsychotischen Behandlung von Verhaltensstörungen mit Wut ist zu beachten, dass psychotherapeutische Maßnahmen mit dem Kind, der Familie und 50

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Maßnahmen in einer Wohngruppe oder der Schule zum Umgang mit Wut nicht vernachlässigt werden, nur weil ein Antipsychotikum wie beispielsweise Risperidon die Impulsivität so optimal kontrolliert. Die praktische Erfahrung lehrt, dass man Antipsychotika dann wegen ausbleibender anderer Maßnahmen schlecht wieder loswird. Die Dosierung von Antipsychotika (üblicherweise Risperidon oder wegen geringerer Nebenwirkungsrate Aripiprazol) sollte niedrig und zunächst deutlich unter der antipsychotisch wirksamen Dosierung liegen. Im Fall der Behandlung von Impulsivität und Wut mit Antipsychotika ist die Wechselwirkung mit Psychotherapie wie oben beschrieben besonders zu beachten. Antipsychotika können für Kinder hilfreich sein, wieder mehr Selbstkontrolle zu erlangen und dann die Wut auch ohne Medikamente kontrollieren zu lernen oder Ursachen der Wut zu bearbeiten. Antipsychotika können aber durch ihre starke Wirksamkeit auch die psychotherapeutischen Bemühungen aushebeln. Langfristige Behandlungen mit den entsprechenden Nebenwirkungen sind dann die Folge.

Antipsychotika

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5  Psychopharmaka und Adhärenz

Nachvollziehbarerweise kommen die meisten Eltern zunächst mit einer skeptischen und kritischen Haltung Psychopharmaka gegenüber in die Praxis der behandelnden Ärztin. Nach einer Studie von McLeod, Pescosolido, Takeuchi und White (2004) sind Eltern am ehesten bereit, ihrem Kind ein Psychopharmakon verschreiben zu lassen, wenn es suizidal (57 Prozent) ist, eine Verhaltensstörung (34 Prozent) oder ADHS (30 Prozent) hat. In den USA (gemäß Gau et al., 2008; Faraone, Biederman u. Zimmerman, 2007) ist bei ADHS und nach Zusage eines Medikamentenversuchs durch die Eltern die Bereitschaft zur regelmäßigen Medikamenteneinnahme kurzfristig hoch (ca. 85 Prozent), aber im Langzeitverlauf sehr niedrig (­15– 25 Prozent; Perwien, Hall, Swensen u. Swindle, 2004). Eine niedrige Adhärenz mit Stimulanzientherapie bei ADHS ist beispielsweise auch in der großen bekannten Langzeitstudie zur Stimulanzientherapie, der MTA-Studie (Pappadopulos et  al., 2009), bereits in den ersten 14 Monaten beobachtet worden. Ca. 25 Prozent aller Kinder nahmen nur 50 Prozent oder seltener an den Studienterminen die Stimulanzien wirklich ein, und ca. 46 Prozent hatten zumindest bei einem der Studientermine kein Medikament eingenommen. Bemerkenswerter-, aber auch nachvollziehbarerweise war die Bereitschaft, Stimulanzien zu nehmen, höher, wenn Medikamente parallel zu einer Verhaltenstherapie gegeben wurden. Die Verhaltenstherapie war in der MTA-Studie allerdings extrem aufwendig und meiner Einschätzung nach im Alltag in keinem Land der Welt realistisch durchführbar. 52

Eine besser in den Alltag umsetzbare Studie von Coghill und Seth (2015, The Dundee ADHD Clinical Care Pathway) konnte zeigen, dass bereits ein sorgfältiges und regelmäßiges Monitoring der Stimulanzientherapie die Adhärenz und damit auch die Wirksamkeit von Stimulanzien im Langzeitverlauf deutlich erhöht. Zur Erhöhung der Adhärenz eignet sich die folgende Vorgehensweise des verschreibenden Arztes: Zunächst müssen die individuellen Therapieziele für das Kind und die Eltern sorgfältig geklärt werden. Dabei kommen die zu erwartenden Wirkungen, das Wirktempo, aber auch alternative Möglichkeiten, die Therapieziele zu erreichen, zur Sprache. Hier kann und sollte auch mit den Familien diskutiert werden, wie Medikamentenwirkung, Psychotherapie und Selbsthilfe sich ergänzen, damit die Medikamentengabe nicht Passivität bewirkt und die Selbstwirksamkeit reduziert. Es sollte sorgfältig über Nebenwirkungen aufgeklärt werden. Erfahrungsgemäß sind Eltern nach dem Lesen eines Beipackzettels über die Menge und Art der möglichen Nebenwirkungen erschrocken. Hier sollte man häufige und nicht häufige Nebenwirkungen erklären und auch den Umgang mit diesen Nebenwirkungen. Es sollte erklärt werden, dass – wie es häufig der Fall ist – Nebenwirkungen nach Absetzen reversibel sind und nach einigen Wochen meistens abklingen oder dass sie durch Dosisanpassung oder andere Maßnahmen (z. B. ausreichend trinken bei Kopfschmerzen durch Stimulanzien) behandelbar sind. Im Verlauf sollten Therapieziele jeweils besprochen und gegebenenfalls verändert werden. Wirkungen und Nebenwirkungen sollten erfragt und Bedenken ernst genommen werden. Hilfreich ist es, bei Vorliegen mehrerer Nebenwirkungen die Patientinnen und Patienten eine subjektive Beeinträchtigungshierarchie darstellen zu lassen. Nicht selten sind die dem Behandler relevant erscheinenden Nebenwirkungen gar nicht unbedingt diejenigen, die das Kind am meisten beeinträchtigen (Schimmelmann et al., 2005). Häufig hilft auch die regelmäßige Frage, warum ein Kind oder Jugendlicher das Medikament weiter nehmen möchte. Insgesamt erhöht dieses interessierte Psychopharmaka und Adhärenz

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Dranbleiben die Adhärenz. Wichtig ist aber auch die offene Haltung des Arztes, der Ärztin gegenüber Absetzwünschen, selbst wenn man den Rat zur Weiterbehandlung geben möchte. Nur so teilen die Jugendlichen oder die Familie zumindest mit, wenn sie die Medikamente unregelmäßig nehmen oder absetzen wollen.

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Psychopharmaka und Adhärenz

6 Abschlussgedanken zur Integration von Psychotherapie und Psychopharmakotherapie

Ich möchte zur Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen ermuntern, die parallel eine Psychopharmakotherapie benötigen. Es ist nicht leicht, für diese häufig schwer kranken Patientinnen und Patienten Therapieplätze zu finden, unter anderem aufgrund der gelegentlichen Scheu von Psychotherapeuten bestimmten Diagnosen und Psychopharmaka gegenüber sowie möglicherweise auch der Netzwerkarbeit mit den verschreibenden Ärzten gegenüber. Als Kinderund Jugendlichenpsychotherapeuten sind wir jedoch unabhängig von der Therapieausbildung systemisches Denken und Arbeiten gewohnt. Psychopharmaka und ihre verschreibende Ärztin sind in diesem Kontext weitere »Mitspieler« im vernetzten Leben eines Kindes. Therapieziele, Hoffnungen und Zweifel gegenüber einem Medikament oder sogar Angaben zur Einnahmeregelmäßigkeit werden häufig in der Psychotherapie berichtet. Je nach Fall und Therapieform kann man sich als ärztliche Psychotherapeutin, als ärztlicher Psychotherapeut entscheiden, Psychotherapie und Psychopharmakotherapie zu integrieren. Alternativ können Psychotherapie und Psychopharmakotherapie getrennt werden. Mit beiden Möglichkeiten habe ich persönlich sehr gute Erfahrungen gemacht. In beiden Fällen sollte man den Aufwand betreiben, die möglichen Wechselwirkungen zu reflektieren. Verschreibende Ärzte (u. a. Kinder- und Jugendpsychiater) sind aufgefordert, die Kommunikation mit psychologischen Psychotherapeuten in ihrer Region zu pflegen. Dies kann mittels Qualitätszirkeln oder aber mit kurzen Telefonzeiten für »Profis« geschehen. Erfahrungsgemäß ist ein hoher zeitlicher Kommunikationsaufwand nur in schwierigen Situationen notwendig, und diese sind eher selten. 55

Basiswissen bezüglich Psychopharmakotherapie für Psychotherapeuten ist wichtig. Dieses sollte in den Psychotherapieausbildungen so vermittelt werden, dass auch die Schnittstelle zur und die Wechselwirkungen mit der Psychotherapie plausibel werden. Dies ist mit einem einmaligen »Weiterbildungsblock« über Medikamente nicht zu leisten und auch nicht didaktisch sinnvoll. Hierfür sind mehrere, aufeinander aufbauende Weiterbildungseinheiten notwendig. Es sollte unser übergeordnetes Anliegen sein, denjenigen Patienten Psychotherapie anzubieten, die es wirklich nötig haben, und das sind zumindest auch solche, die zusätzliche Psychopharmakotherapie benötigen. Entsprechend sind hier aus meiner Sicht Anreizsysteme für die Zusammenarbeit zwischen Psychotherapeuten und psychopharmakologisch tätigen Ärzten und Vorgaben für die Ausbildung notwendig, letztlich auch eine bessere Vergütung der Zeit für aufwendigere interdisziplinäre Zusammenarbeit am Telefon oder per E-Mail. Über die Ausbildungs- und wirtschaftlichen Fragen hinaus bleibt die fallbezogene Reflexion vor und im Verlauf einer Doppelbehandlung über Wechselwirkungen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie jedoch die wichtigste Voraussetzung für eine gelungene Behandlung unserer Kinder und Jugendlichen.

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Abschlussgedanken

Literatur

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Literatur