Kultursensible Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen [1 ed.] 9783666405983, 9783525405987


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Kultursensible Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen [1 ed.]
 9783666405983, 9783525405987

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Renate Schepker

Kultursensible Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

V

Herausgegeben von Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

Renate Schepker

Kultursensible Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-40598-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Paul Klee, Park landscape, 1920/Private Collection/ Photo © Christie’s Images/Bridgeman Images © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Vorwort zum Band . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem . . . . . . . . 11 Der Therapeut als Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Die »Fremdenrepräsentanz« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Zur »Eigenübertragung« der Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2 Diagnostische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Somatisierung und somatoforme Störungen . . . . . . . . . . . . . . . 24 Symbolgehalt: Kulturelle Ausdrucksformen für Stress . . . . . . . 27 Scham- und Schuldkonflikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3 Therapietechnische Besonderheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Setting und Frequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Einzel- oder Gruppentherapie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 Abstinenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Timing . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Technisches Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Symbolgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Ansprechen »kulturimmanenter Abwehr« . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Erweiterung durch systemische Techniken . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Arbeit mit Sprach- und Kulturmittlern, Dolmetschern, Mediatoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 5

4 Die Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin . . . . . . . . . . . . 61 Bikulturelle Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 »Andere« = einheimische Therapeuten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 »Andere« = immigrierte Therapeuten und Beziehungen in der Zweitsprache des Therapeuten, aber Erstsprache des Patienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 »Andere« = immigrierte Therapeuten und Beziehungen in der Zweitsprache beider . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 5 Abschließende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

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Inhalt

Vorwort zur Reihe

Zielsetzung von PSYCHODYNAMIK KOMPAKT ist es, alle psychotherapeutisch Interessierten, die in verschiedenen Settings mit unterschiedlichen Klientengruppen arbeiten, zu aktuellen und wichtigen Fragestellungen anzusprechen. Die Reihe soll Diskussionsgrundlagen liefern, den Forschungsstand aufarbeiten, Therapieerfahrungen vermitteln und neue Konzepte vorstellen: theoretisch fundiert, kurz, bündig und praxistauglich. Die Psychoanalyse hat nicht nur historisch beeindruckende Modellvorstellungen für das Verständnis und die psychotherapeutische Behandlung von Patienten hervorgebracht. In den letzten Jahren sind neue Entwicklungen hinzugekommen, die klassische Konzepte erweitern, ergänzen und für den therapeutischen Alltag fruchtbar machen. Psychodynamisch denken und handeln ist mehr und mehr in verschiedensten Berufsfeldern gefordert, nicht nur in den klassischen psychotherapeutischen Angeboten. Mit einer schlanken Handreichung von 60 bis 70 Seiten je Band kann sich der Leser schnell und kompetent zu den unterschiedlichen Themen auf den Stand bringen. ȤȤ Themenschwerpunkte sind unter anderem: ȤȤ Kernbegriffe und Konzepte wie zum Beispiel therapeutische Haltung und therapeutische Beziehung, Widerstand und Abwehr, Interventionsformen, Arbeitsbündnis, Übertragung und Gegenübertragung, Trauma, Mitgefühl und Achtsamkeit, Autonomie und Selbstbestimmung, Bindung. ȤȤ Neuere und integrative Konzepte und Behandlungsansätze wie zum Beispiel Übertragungsfokussierte Psychotherapie, ­Schematherapie, Mentalisierungsbasierte Therapie, Traumatherapie, internet­ 7

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basierte Therapie, Psychotherapie und Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und psychodynamische Ansätze. Störungsbezogene Behandlungsansätze wie zum Beispiel Dissoziation und Traumatisierung, Persönlichkeitsstörungen, Essstörungen, Borderline-Störungen bei Männern, autistische Störungen, ADHS bei Frauen. Lösungen für Problemsituationen in Behandlungen wie zum Beispiel bei Beginn und Ende der Therapie, suizidalen Gefährdungen, Schweigen, Verweigern, Agieren, Therapieabbrüchen; Kunst als therapeutisches Medium, Symbolisierung und Kreativität, Umgang mit Grenzen. Arbeitsfelder jenseits klassischer Settings wie zum Beispiel Supervision, psychodynamische Beratung, Arbeit mit Flüchtlingen und Migranten, Psychotherapie im Alter, die Arbeit mit Angehörigen, Eltern, Gruppen, Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie. Berufsbild, Effektivität, Evaluation wie zum Beispiel zentrale Wirkprinzipien psychodynamischer Therapie, psychotherapeutische Identität, Psychotherapieforschung.

Alle Themen werden von ausgewiesenen Expertinnen und Experten bearbeitet. Die Bände enthalten Fallbeispiele und konkrete Umsetzungen für psychodynamisches Arbeiten. Ziel ist es, auch jenseits des therapeutischen Schulendenkens psychodynamische Konzepte verstehbar zu machen, deren Wirkprinzipien und Praxisfelder aufzuzeigen und damit für alle Therapeutinnen und Therapeuten eine gemeinsame Verständnisgrundlage zu schaffen, die den Dialog befördern kann. Franz Resch und Inge Seiffge-Krenke

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Vorwort zur Reihe

Vorwort zum Band

Kultursensibel zu sein angesichts des öffentlichen Diskurses zum Thema »Flüchtlingswelle« und eine Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erfolgreich durchzuführen bedarf einer Auseinandersetzung mit dem Phänomen des »Fremden«, wobei das antizipierte Fremde in der Psychoanalyse mehr ist als das Unbekannte. In ihrer Einleitung führt Renate Schepker uns gleich in unsere eigenen Betroffenheiten, wenn sie Mario Erdheim mit den Worten zitiert: »Oft wird am Fremden das erkannt, was man am Eigenen nicht wahrzunehmen wagt.« Erhellende Ausführungen über die Fremdenrepräsentanz machen eine psychohygienische Funktion und eine imperialistische Funktion deutlich. So wird verständlich, wie es zu einer Idealisierung des Fremden kommen kann, die bei unreflektiertem therapeutischem Ausagieren zu Adoptionsphantasien beim Therapeuten und zu überlangen therapeutischen Abhängigkeiten von Kindern und Jugendlichen im Behandlungsverlauf Anlass gibt. Die »Eigenübertragung« der Therapeuten nach Heuft durchsetzt mit ihren ungelösten seelischen Konflikten die Gegenübertragung und erschwert so die therapeutische Arbeit. Auf diagnostische Besonderheiten wird von der Autorin verwiesen, welche insbesondere somatoforme Störungen betreffen: Eine individuelle und unvoreingenommene Diagnostik ist der »stereotypen Diagnostik« vorzuziehen. Auf den Symbolgehalt unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen für Stress ist zu achten. Therapietechnische Besonderheiten werden hervorgehoben und zeigen den breiten Erfahrungshintergrund der Autorin in diesem Bereich. Empfohlen wird bei den Patientinnen und Patienten, bei 9

denen eine Schuld-Scham-Dynamik vorherrscht, zunächst auf IchStärkung und Über-Ich-Entlastung zu setzen und nicht vorschnell deutend vorzugehen. Spieltherapeutische Ansätze bei Kindern müssen berücksichtigen, dass Formen des kindlichen Spiels vor einem anderen Kulturhintergrund durchaus andere sein können. Daher sollte nicht vorschnell pathologisiert werden, wenn Kinder beispielsweise eine schüchterne Unfähigkeit an den Tag legen, sich Spielmaterialien auszusuchen. Auf die Arbeit mit Sprach- und Kulturmittlern, Dolmetschern und Mediatoren wird in einem Kapitelabschnitt eigens eingegangen. Auch die Wahl des Therapeuten wird in unterschiedlichen Facetten zum Thema gemacht. Ein kenntnisreiches, warmherziges und unmittelbar für Therapeutinnen und Therapeuten praxisrelevantes Buch, das Informationen und Reflexionshilfen für den Alltag bereitstellt. Franz Resch und Inge-Seiffge-Krenke

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Vorwort zum Band

1 Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

Der Therapeut als Subjekt Die Beschäftigung mit Zuwanderern (zu »Menschen mit Migrationshintergrund« gehören nach der Definition des Mikrozensus seit 2005 nicht nur Migranten, »selbst Gewanderte« und Flüchtlinge, sondern auch deren Kinder und Enkel) ist spätestens seit der Flüchtlingswelle 2015 in der Mitte der Gesellschaft angekommen, auch in der Mitte der psychotherapeutischen Communitys. Nur so sind der Zuwachs an Literatur und die beobachtbare Vorrangstellung an Vorträgen auf psychotherapeutischen Kongressen und Tagungen erklärbar. Psychotherapeuten müssen sich vor dem aktuellen politischen Hintergrund fragen, ob sie per se zu den »Gutmenschen« gehören, ob sie als »engagierte Bürger«, den »besorgten Bürgern entgegengestellt«, dem Identifizierungsangebot eines »heroischen Ich-Ideals« folgen wollen, wie es Kratz und Schott-Leser (2016) mit Verweis auf Freuds »Selbstdarstellung« (1925) ausdrücken. Als Protagonisten einer guten gesundheitlichen Versorgung, als Sachwalter des Humanen, eventuell mit revolutionärem Gestus, als für Opfer Engagierte und eventuell mit Interesse für Gegenwelten – das heißt als Vertreter all dessen, wofür Psychotherapeuten nach Rudolf (2016) wertemäßig einstehen – ­wollen Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten keinesfalls mehr zurückstehen. Sollte somit der Effekt vorbei sein, »Patienten mit Migrationshintergrund zu Kollegen des gleichen oder ähnlichen Kulturkreises zu überweisen«, wie es noch 2015 Özdaglar als übliche Praxis beschrieben hat? Özdaglar hält diese Praxis für eine oberflächliche 11

Abwehr der Psychotherapeuten und merkt an: »der sogenannte Migrationshintergrund schien also […] – unabhängig von der sprachlichen Kompetenz des Patienten – zum Migrationsvordergrund zu mutieren« (S. 206). Aber auch Belz und Özkan (2017) verweisen auf diese Praxis. Sie leiten sie ab aus einer Überbetonung des Anderen, Trennenden: »Die Fokussierung auf Unterschiede führt zu einer Überzeichnung dieser und einer Ausblendung von Gemeinsamkeiten. In der Folge entsteht eigene Unsicherheit im Umgang mit dem antizipierten Fremden.« Höna, Grön und Tumani (2016) haben in einer kleinen Studie an Studierenden der Psychologie gezeigt, dass durch einen Kurs in Kultursensibilität die zunächst überwiegend abwehrende Haltung gegenüber Patienten mit Migrationshintergrund hochsignifikant abnahm. Wenig thematisiert wurde im Diskurs der Einheimischen, wie viele der frühen Patientinnen und Patienten Sigmund Freuds einen Migrationshintergrund hatten, dass letztlich auch Freud selbst migrieren musste und wie viele der unsere Literatur prägenden Theoretiker erst im Exil ihre Werke – oft nicht in der sogenannten Muttersprache – veröffentlichten. Bereits vor 25  Jahren formulierte der Ethnopsychoanalytiker Mario Erdheim (1993) seine wegweisenden Gedanken zum Thema des »Fremden« in der Psychoanalyse. Freud habe die Psychoanalyse als Beschäftigung mit dem »inneren Ausland« beschrieben. Das Unbewusste, wie das Fremde, sei mehr als das Unbekannte. »Ebenso wenig wie das Unbewußte bloß das Nichtgewußte ist, ist nämlich das Fremde nur das Unbekannte« (S. 167). Das Unbekannte kann uns egal sein, weil wir nichts über seine Existenz und Gestalt wissen. Das Unbewusste und die Fremdenrepräsentanz sind nach Erdheim dynamisch angelegt. Auch Übertragung und Gegenübertragung, weil unbewusst ablaufend, sind insofern etwas Fremdes. Fremdes löst immer, sagt Erdheim 1993, eine positive oder negative Betroffenheit aus, denn: »Oft wird am Fremden das erkannt, was man am Eigenen nicht wahrzunehmen wagt. Im Gegensatz zum anderen, das mir gleichgültig sein kann, löst die Kategorie des Fremden immer eine 12

Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

positive oder negative Betroffenheit aus […] – weckt im Subjekt Angst und Faszination zugleich« (Erdheim, 1993, S. 168). Die hohe Affektivität, die auch heute in Seminaren zu Patienten mit Migrationshintergrund entstehen kann (Özdaglar, 2015a), mag sich daraus erklären.

Die »Fremdenrepräsentanz« Theoretisch findet sich das »Fremde« als Begriff in der psychodynamischen Theorie an diversen Stellen wieder. Nach Stern (2003) ist das Bewusstsein des Fremden sehr früh angelegt, vom zweiten bis zum siebten Monat mit der Entwicklung des Kern-Selbst. Das Selbst als Kohärenz von Handlungsfähigkeit, Körperlichkeit, Affekten und zeitlichem Bezug grenzt sich gegen ein Nicht-Selbst ab, etwas potenziell Fremdes, und auch die Mutter wird zu einem solchen Nicht-Selbst. Wenn Repräsentanzen weiter differenziert werden, unterscheiden sich dann als das Selbst und Objektrepräsentanzen: Mutter, Vater, G ­ eschwister und eine Fremdenrepräsentanz, die weiter außerhalb liegt – markiert eventuell durch das »Fremdeln«, auch als Acht-Monats-Angst bekannt. Nun entwickelt nicht jedes Kind eine ausgeprägte Fremdelreaktion, was zeigen mag, dass diese Fremdenrepräsentanz durchaus ambivalent besetzt ist. Özdaglar (2015a) beschreibt mit Hinweis auf Davids (2011), dass die Fremdenangst zwischen zwölf und 15 Monaten integriert werde, aber eine noch nicht bewusste Unterscheidung zwischen »Ich« und »Wir« einerseits und »den anderen« andererseits etwa anhand der Hautfarbe bereits zu diesem Zeitpunkt einsetze. Erst im Vorschulalter geschehe dann eine bewusste ethnische oder nationale Identifizierung. Volkan (2015) weist in diesem Zusammenhang auf »Externali­ sierungsziele« hin (das, was als »Außen« im Gegensatz zum »Innen« innerhalb der Großgruppe erlebt wird, also als fremd oder anders ausgegrenzt wird), vermittelt durch die erwachsene Umgebung, die das Kind durch Erfahrung mit Sprache, Riten, Nahrungszubereitung etc. lehre, was zur eigenen Großgruppe gehöre und was nicht. Basale Die »Fremdenrepräsentanz«

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kindliche Identifizierungen und – oft an Gegenstände, nicht Ideologien oder Inhalte gebundene – libidinöse Besetzungen der eigenen Großgruppenidentität wirken nach Volkan derart stark, dass Kinder von Eltern, die zwei verschiedenen ethnischen oder religiösen Gruppierungen angehören, als Erwachsene gravierende psychische Probleme entwickeln können, wenn ein internationaler Konflikt zwischen diesen beiden Gruppen ausbreche. Das Fremde ist auf der anderen Seite faszinierend, bietet es doch nach Erdheim (1996) die Möglichkeit, sich dort alles zu holen, was Mutter, Vater, Geschwister nicht bieten. Daneben besteht eine psychohygienische Funktion der Fremdenrepräsentanz: Sie dient dazu, Spannungen in den Beziehungen zu den nächsten Mitmenschen und zu sich selbst zu neutralisieren. Auf die Fremdenrepräsentanz kann alles projiziert werden, was in der Kernfamilie und an sich selbst bedrohlich wirkt und die Beziehungen ernstlich gefährden könnte. Dann wird das Fremde ärgerlich, versagend, bedrohlich und damit ängstigend, nicht die Mutter, der Vater oder die Geschwister. »Der Gewinn ist beachtlich, denn das Eigene wird dadurch zum Guten und das Fremde zum Bösen« (Erdheim, 1996). Nachteilig ist, dass das Eigene als «Nur-Gutes« langweilig wird und keine Entwicklungsmöglichkeiten mehr bietet, sodass sich Kinder dann anschicken, das interessant gebliebene, wenn auch ängstlich betrachtete Fremde zu explorieren. Mit Erdheim (1996) auf die Frage der Übertragung angewendet, entstehen zwei verschiedene theoretische Funktionen der Fremdenrepräsentanz: 1. Die psychohygienische Funktion der Fremdenrepräsentanz. Das Fremde ist die Projektionsfläche von allem, was im Eigenen konflikthaft ist. Die Beschäftigung mit dem Fremden dient der Selbst-Entlastung, aber nicht dem Verstehen des Fremden. Die Übertragung ist eine entwertende, denn die eigene, konfliktbeladene Fremdenrepräsentanz erschwert dann eine Beziehung, in der neue und korrigierende Erfahrungen gemacht werden können. Therapeuten oder Ehrenamtliche, deren Fremden14

Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

repräsentanz eine psychohygienische Funktion erfüllt, können zum Beispiel, einem intellektuellen »Modernitätsparadigma« folgend, sehr überzeugt mit ihren Patienten emanzipatorische Ziele verfolgen, was etwa die Ablösung von patriarchalen Strukturen angeht, oder sie können ebenso überzeugt Kopftuch- oder Burkiniträgerinnen abwerten. Auch der neue Begriff der »Silvesternacht«, fast zum Wort des Jahres 2016 erhoben, mit allen Projektionen sexueller Wildheit und Rohheit, erfüllt im öffentlichen Diskurs eine solche Funktion. 2. Die imperialistische Funktion der Fremdenrepräsentanz. Diese lässt im Fremden immer nur das erkennen, was im Eigenen fehlt. Dies löst die Bestrebung aus, das Fremde zu erobern, um es auszubeuten. Die dazugehörigen Übertragungen sind positive bis idealisierende. Jedoch ist wegen der Idealisierung der Zugang zu den Befindlichkeiten, insbesondere den negativen, erschwert. Kratz und Schott-Leser (2016) beschreiben anhand ihrer Interviews mit ehrenamtlichen Helfern eindrucksvoll, wie schnell sich aus dieser Konstellation ein Mitagieren ergeben kann, das den Blick auf das eigentliche Thema verstellt. Therapeuten oder Ehrenamtlichen, die sich auf der Seite der Idealisierung des Fremden befinden, kann es somit geschehen, dass aufgrund der Eroberung – das Fremde wird ja dann ein Teil des Selbst – die Wahrnehmung der Unterschiede und damit auch des Leidens verloren geht. Multipel entstehende Koch- und ­Tanzbegegnungen mit Flüchtlingen können heute ebensolche Aspekte annehmen wie früher etwa die Trommel- oder Bauchtanzkurse mittelständischer Therapeutinnen mit dem unbewussten Ziel der Aneignung einer exotisch-überidealisierten Weiblichkeit. Im therapeutischen Umgang mit Kindern, vor allem unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, bietet die psychohygienische Funktion diverse Fallen im Sinne einer Übersteuerung, des »Hinführens zum richtigen Weg« und des übertriebenen »Mitleids«, was zum Aufoktroyieren von unrealistisch »emanzipatorischen« Therapiezielen führen kann. Die Kompromissbildungen, Die »Fremdenrepräsentanz«

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die real in der Innenwelt von Individuen und auch innerhalb von Familien und deren Subsystemen möglich sind, werden dann leicht übersehen. So strich ich als aufmerksame Chefärztin einen Passus in einem Entlassbrief zu einer Jugendlichen aus einer strenggläubigen muslimischen Familie, der nach den Klinikgepflogenheiten neben dem Hausarzt an die Eltern, das heißt namentlich den Vater, gerichtet war: »Der Suizidversuch, der zur Vorstellung geführt hatte, war nach Angaben der Patientin infolge der Trennung des ersten intimen Freundes des Mädchens von diesem erfolgt.« In der Nachbesprechung stellte sich heraus, dass der behandelnde Therapeut der Meinung war, dass der Jugendlichen in der Aufnahmegesellschaft das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zustehe, und dass er das Ziel favorisierte, sie möge sich von ihrem patriarchalischen Vater emanzipieren. Der Therapeut hatte dem attraktiven und intelligenten Mädchen in der Behandlung alle Möglichkeiten einer Inobhutnahme durch das Jugendamt eröffnet und zeigte sich enttäuscht, dass sie trotz eingeräumter Schläge durch den Vater keinen hinreichenden Leidensdruck entwickelt hatte (was er einer Depression und nicht der Familienloyalität zuschrieb), sich zu verselbstständigen. Übersehen hatte er, dass die Jugendliche sich durch ihre Schwester in der Familie hinreichend getragen fühlte und zufrieden war, dass sie ihre Bildungsoptionen mit Besuch einer weiterführenden Schule verfolgen konnte. Die informationelle Selbstbestimmung bezüglich der Inhalte der Einzeltherapie drohte damit durch die unbewusste zufriedene Teilhabe des Therapeuten an der »Emanzipation« des Mädchens gegenüber der sexuellen Selbstbestimmung hintanzustehen.

Bei unreflektiertem therapeutischem Ausagieren einer imperialistischen Fremdenrepräsentanz im Umgang mit Kindern und Jugendlichen kann es zu Wünschen, in deren Familien aufgenommen zu werden, kommen, zu Adoptionsphantasien oder auch zum Generieren übermäßig langer therapeutischer Abhängigkeiten. 16

Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

So berichtete eine Therapeutin in Ausbildung in der Supervision recht begeistert von den neuen Erfahrungen mit einer kurdischen Familie. Die Tochter war als Patientin wegen extremer Stimmungsschwankungen und selbstverletzenden Verhaltens vorgestellt worden. Die eher junge Mutter war dem expansiven und teils ausfallenden Verhalten der Tochter gegenüber hilflos und erwartete, unterstrichen durch den Ausdruck »Schwägerin«, von der Therapeutin Hilfe und Rückendeckung. Als »Tante« gegenüber der Patientin fühlte sich die Therapeutin von deren Lebendigkeit angezogen, die sie unbewusst bei sich selbst nach einer Trennung vermisste, attribuierte deren Lebendigkeit ihrem »südöstlichen Temperament«. Erst ein Durcharbeiten der »unangemessenen« Begeisterung und des »Aufsaugens« der gefühlten Vitalität in der Supervision ermöglichte der Therapeutin, das Leiden der Patientin an sich selbst zu sehen, Traumatisierungen zu erahnen und den Respekt gegenüber der Mutter wieder zu etablieren.

Yilmaz (2006) hat den wichtigen Hinweis geliefert, dass als Grundhaltung in einem interkulturellen Setting Toleranz gegenüber einer anderen Kultur nicht ausreiche. Vielmehr sei Respekt gegenüber der Kultur des anderen notwendig. »Ohne diesen Respekt wird nicht nur die Chance einer gelungenen therapeutischen Beziehung, sondern auch die Chance zur Nutzung der Kultur als Ressource verpasst« (S. 280).

Zur »Eigenübertragung« der Therapeuten Eigenübertragung bezeichnet nach Heuft (1990) die ungelösten seelischen Konflikte des Therapeuten selbst, welche die Arbeit an der Gegenübertragung im therapeutischen Prozess behindern. Im Umgang mit Patientinnen und Patienten, die einen Migrationshintergrund aufweisen, insbesondere aber mit Flüchtlingen, werden solche Konflikte als Globalisierungsschuld, als Schuldgefühle in der Dominanzkultur (Erim, 2009a), auch als nationale Schuld besonders deutlich. Bereits Bianchi-Scheffer (1996) beschrieb anZur »Eigenübertragung« der Therapeuten

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hand ihrer eigenen Migrationserfahrung die Affizierbarkeit von Psychotherapeutinnen und -therapeuten durch (reale oder unbewusst erlebte) Vorwürfe seitens der Patienten hinsichtlich der nationalsozialistischen Vergangenheit der Deutschen. Aufseiten der Zuwanderer werde das Aufnahmeland zunächst idealisiert – als die aufnehmende, spendende, Sicherheit gebende Mutter nach Entbehrung oder Verfolgung oder nur geringen Entwicklungsmöglichkeiten im Herkunftsland. Sofern die Aufnahmegesellschaft und die darin vertretenen Menschen dieser Idealisierung nicht standhalten, könne sich dies in Entwertung verkehren – schließlich habe man doch gewusst, dass die Deutschen alle Nazis sind. Angenehmer ist selbstverständlich das Annehmen der initial idealisierenden Übertragung. Ein Gegenübertragungsagieren im Ausfluss der Eigenübertragung nach Heuft (1990) dient nach Bianchi-Scheffer (1996) dazu, Wiedergutmachungstendenzen der deutschen Therapeuten unterzubringen und das kollektive Schuldgefühl zu entlasten. Etwa sei eine beobachtbare Tendenz, einen besonderen Schonraum für Zuwanderer herzustellen. Dies hindere an einer gleichberechtigten Auseinandersetzung mit sich und der Realität im Aufnahmeland. Hat der Therapeut seine eigene Haltung zur Täter- oder Opferseite seiner Eltern und Großeltern sowie seine eigene nationale Zugehörigkeit nur ungenügend durchgearbeitet, entstehen hieraus möglicherweise Probleme hinsichtlich der therapeutischen Neutralität und Arbeitsfähigkeit. Eine Auseinandersetzung mit der eigenen Ethnizität, wie sie von Erim (2009a) in diesem Zusammenhang angemahnt wird, zu ergänzen durch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Nationalität, scheint sich in der psychodynamischen Aus- und Weiterbildung erst langsam zum Thema zu entwickeln. Özdaglar (2015a) weist darauf hin, dass im Kontakt mit Zuwanderern sehr häufig eigene Zugehörigkeiten dadurch infrage gestellt werden, dass Ausgrenzungserfahrungen mobilisiert werden, sei es »Entbehrung aufgrund von Flucht und Vertreibung der Eltern, Ausschlussgefühle aufgrund eigener Herkunft aus sozial schwachen Familienverhältnissen oder Aufwachsen in ländlicher, bildungsferner 18

Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

Umgebung« (S. 205). Diese Lebenserfahrungen würden den Therapeutinnen und Therapeuten ermöglichen, »sich mit etwas Bekanntem im Fremden zu identifizieren«, hätten aber auch Phantasien beflügelt, »selbst kein vollwertiges Mitglied der psychoanalytischen Gemeinschaft zu sein«. Özdaglar mahnt an, wie wichtig das Durcharbeiten der eigenen depressiven Position in der Selbsterfahrung der Therapeuten sei mit den eigenen realen Erfahrungen von Ausschließen und Ausgeschlossenwerden in der äußeren sozialen Realität. »Dabei kann es neben den Gegenübertragungsgefühlen auch um die Übertragung des Analytikers auf den Patienten gehen.« Die Heftigkeit der Affekte in Supervision und Therapie erklärt Özdaglar in ihrem nächsten Satz: »Ausgeschlossen werden ist hier nicht zu verwechseln mit dem ödipalen Gefühl des Sich-ausgeschlossen-Fühlens. Hier geht es um narzißtische Kränkung, um ein basales Gefühl von nicht akzeptiert werden als der, der man ist« (S. 207). Gerlach (2003) weist darauf hin, dass der Therapeut oder die Therapeutin für eine gelingende interkulturelle Therapie eine eigene narzisstische Kränkung überwinden müsse, die bereits durch die Konfrontation mit einer anderen Kultur entstehe: »Denn unsere eigenen Einstellungen werden von unserem Enkulturationsprozess in einer Sprache und in einer Kultur bestimmt, der für uns alle mit der universalen narzisstischen Phantasie verknüpft ist, dass der Wahrheitsgehalt der eigenen Kultur der beste, ja sogar der einzig mögliche ist, um die Komplexität des Lebens zu erfassen und zu verstehen« (S. 333). Volkans (2015) Ausführungen zur Großgruppenidentität (hiermit meint er eine ethnische, nationale und religiöse, vgl. Abschnitt: »Die ›Fremdenrepräsentanz‹«, S. 13 ff.) sollten in diesem Zusammenhang als Teil der eigenen Identität von therapeutisch Tätigen deutlich intensiver rezipiert werden. Volkan schreibt, dass seine Konzepte wie »Identifizierung und Deponierung, vor allem aber das theoretische Konstrukt der geeigneten Externalisierungsziele das menschliche Bedürfnis nach Feinden und Verbündeten in einem politisch-sozialen Sinn« erklären (S. 118). Sorge, aus der Gemeinschaft der Therapeuten herauszufallen, aber auch das Bedürfnis, Teil der Großgruppe der Zur »Eigenübertragung« der Therapeuten

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Menschen einer »Willkommenskultur« zu sein, können Tendenzen, den einen oder anderen Patienten mit Zuwanderungshintergrund in Behandlung zu nehmen, entgegenstehen oder sie verstärken. Das gilt auch dann, wenn innerhalb der Psychoanalyse andere Stimmen einer postmodernen »situationstranszendenten« Haltung des Wort reden, die allein es ermögliche, »sich als Immigrant in die inneren Welten seiner Patienten hineinzuwagen« (Schneider, 2015, S. 86). In Zeiten verstärkter Migrationsbewegungen entwickelte dazu die Arbeitsgruppe um den Soziologen Paul Mecheril, der den Begriff der »Anderen Deutschen« geprägt hat, eine neue Sicht auf die Adoleszenz. Die Behauptung, es gebe »universelle Entwicklungsschritte«, die in der ganzen Welt identisch seien, müsse aufgegeben werden. So solle man Adoleszenz künftig »nicht identitätstheoretisch, sondern zugehörigkeitstheoretisch« fassen. »Zugehörigkeitsordnungen sind Zusammenhänge und Räume der Produktion von Subjekten. Die Zugehörigkeitsordnung kann man als strukturierten und strukturierenden Zusammenhang beschreiben. Zugehörigkeitskontexte sind empirische Annäherungen an idealtypische Zusammenhänge, in denen sich Individuen als Gleiche unter Gleichen erfahren (Dimension Mitgliedschaft), in denen sie Handlungsmächtigkeit entwickeln (Dimension Wirksamkeit) und denen sie schließlich verbunden sein können (Dimension Verbundenheit)« (Mecheril u. Hoffahrt, 2009, S. 235). Mecheril führt weiter aus, dass die natio-ethno-kulturelle Mitgliedschaft des Einheimischen in der Regel unhinterfragt bleibe, während die der Menschen mit Migrationshintergrund stets ihre Positionierung in der »Zugehörigkeitsordnung« mit ihrer »exklusiven Logik« suche. Die Selbstverständlichkeits-Annahme einer monolingualistischen Gesellschaft zementiere Unterschiede hinsichtlich einer impliziten Dominanz weiterhin. Zuwanderer, die mehrere natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten haben (»Hybride« – Doppel-Mitglied und Doppel-Nichtmitglied; doppelt-wirksam und doppelt-nichtwirksam), würden in dieser Theorie aus Sicht der Einheimischen eine »promiske Grundstruktur« haben, mit allen dazugehörigen Zuschreibungen. Auch seien Hybride 20

Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

geeignet, Ängste auszulösen, da sie sich aus der gemeinsamen Zugehörigkeit jederzeit lösen könnten. »Exklusiv einwertige Verständnisse von Zugehörigkeit werden durch hybride Zugehörigkeiten problematisiert […] durch diejenigen, die sich […] der Eindeutigkeit entziehen.« Ein Wahrnehmen der viel größeren Möglichkeitsräume zugewanderter Patienten ist nach diesen Ausführungen geeignet, im Therapeuten gesellschaftlich (durch die politisch eindeutigen Zuschreibungen von Ethnizität, Sprachwelt, Nationalität) grundgelegte Ängste auszulösen: »Deutschland, so könnte man sagen, ist ein Land mit Migrationshintergrund, das Identitätsprobleme hat« (Mecheril u. Hoffahrt, 2009, S. 238). Aus eigenen Erfahrungen in Supervisions- und Intervisionskontexten liegt es nahe, einen Eigenübertragungsaspekt darin zu erkennen, dass in Zeiten der Vereinzelung in der Postmoderne, die ja durchaus auch Therapeutinnen und Therapeuten erfasst, durch die Behandlung von Migranten und ihrer Familien unbewusste Wünsche nach »Mehrfachzugehörigkeiten« befriedigt werden können. Durch nähere Umgangsformen und »Adoptionsangebote« (Benennung als Familienangehörige als Ausdruck der Wertschätzung, also eine Therapeutin als »Schwägerin« oder als »Tante«, auch als »große Schwester«) werden latente Wünsche befriedigt, die der »imperialistischen Fremdenrepräsentanz« nach Erdheim nahekommen. In der Frühzeit meiner Beschäftigung mit Zuwandererfamilien hatte ich mir angewöhnt, eine 13-Jährige aus einer kosovarischen Asylbewerberfamilie nach der spätnachmittaglichen Sitzung nach Hause zu fahren – es lag ohnehin auf meinem Heimweg und sparte der Familie Geld und die Begleitperson, zumal die Bezahlung der Fahrten zur Therapie durch das Sozialamt, mühsam beantragt, immer nur nachträglich erfolgte. Dieses Arrangement war praktisch und wurde von mir als sozial notwendige Modifikation des Settings angesehen. In der Titulierung als »große Schwester« seitens der gut Deutsch sprechenden Patientin sah ich eine kulturelle Höflichkeitsbezeugung für dieses Entgegenkommen, nahm sie gern an und fand eine positive Zur »Eigenübertragung« der Therapeuten

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Übertragung bestätigt. Ich sah in der Patientin eine Seelenverwandte: ehrgeizig, leistungsorientiert, nett zu den jüngeren Geschwistern, insbesondere einem behinderten Kind, und in der Aufnahmegesellschaft angekommen. Eines Tages rief die Klassenlehrerin an und wies mich auf eine Gewichtsabnahme des Mädchens hin. Alle Wesenszüge der Patientin passten zu einer Anorexia nervosa, und beschämt über mein diagnostisches Versäumnis adressierte ich in den folgenden Stunden das Essverhalten. Die Bemerkung der Patientin, sie gönne den jüngeren Geschwistern das Essen, nahm ich als Beweis für eine typisch anorektische Bedürfnisabtretung. Erst nach drei weiteren Sitzungen wurde mir klar, dass die Familie jeweils eine Woche vor Monatsende kein Geld für Lebensmittel mehr hatte und dass ich der Patientin mit meiner Sichtweise über eine Essstörungsdynamik nicht gerecht wurde.

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Theoretische Einführung zu Eigenem und Fremdem

2 Diagnostische Besonderheiten

In einer großen epidemiologischen Untersuchung mit der CBCL (Child Behavior Checklist) an einer Migranten- und Einheimischenpopulation in Holland (Vollebergh et al., 2005) stellte sich keine höhere Prävalenz von Verhaltensauffälligkeiten bei Zuwandererkindern dar. Es wurde eine, verglichen mit der Allgemeinbevölkerung, repräsentative Anzahl zugewanderter Kinder eingeschlossen, und die Instrumente wurden auch muttersprachlich angeboten. Die holländischen Autoren wiesen zur Interpretation auf die Kontextabhängigkeit von Verhalten und dessen Bewertung hin: Während die Eltern mehr internalisierende Probleme bei ihren Töchtern sahen, fanden die Lehrer mehr externalisierende Probleme bei Söhnen und bei Töchtern. Hinsichtlich der Delinquenzbelastung jugendlicher Zuwanderer kann der »Elendsdiskurs« (Migrationsstatus – Leben in beengten Verhältnissen – delinquenzfördernde Stadtteile – Schulabbrecherquoten – Jugendarbeitslosigkeit – Bandendelinquenz) als beendet gelten, da es zu viele Konfundierungen mit dem sozialen Status gibt, die sämtlich auch auf einheimische Jugendliche zutreffen. Nachweislich und nachvollziehbar leiden jugendliche Flüchtlinge, unbegleitete noch häufiger als begleitete, häufiger an Depressionen, Angst- und Traumafolgestörungen (Witt, Rassenhofer, Fegert u. Plener, 2015; Romer, 2016). Diese Gruppe weist einen erhöhten Therapiebedarf, aber auch besondere Therapiehindernisse auf. Nur für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist hinreichend geklärt, dass eine längere Psychotherapie über Krisenintervention hinaus finanzierbar ist.

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Somatisierung und somatoforme Störungen Transkulturelle Untersuchungen zur Epidemiologie kranken an diversen methodischen Problemen, wie der Übersetzbarkeit von Inventaren, der geringen Vergleichbarkeit der Normstichproben, der unterschiedlichen Verteilung sozioökonomischer Benachteiligung und Bildung in den verschiedenen Ländern. Erim (2009b) schlussfolgert aus ihren Untersuchungen der internationalen Literatur, dass die Prävalenz von somatoformen Beschwerden in lateinamerikanischen Ländern besonders häufig sei, jedoch auch in westlichen Ländern erstaunlich hoch (gefunden in jeweils über 50 Prozent der Stichprobe für idiopathische somatische Symptome; ISCS = idopathic somatic complaints and syndromes). Kulturelle Einflüsse seien nicht allein für die gefundenen Unterschiede verantwortlich, denn hohe Schwankungen der Symptomprävalenz im Längsschnitt seien zusätzlich einzubeziehen. Nachgewiesen ist eine häufige Manifestation depressiver Störungen bei Patientinnen und Patienten mit Zuwanderungshintergrund in Form von Ganzkörperschmerzen oder brennenden Missempfindungen (Gün, 2007; Erim, 2009b). Sie kann durch Migrationsstress oder durch lebensphasentypische Belastungen verstärkt werden. Die häufigen somatischen Manifestationen fordern nach Kraus (2006) dazu auf, den typisch westlichen Leib-SeeleDualismus in der Diagnostik hintanzustellen, der sich im Übrigen für Kinder erst nach der Pubertät vollends einstellt. Für Kinder und Jugendliche haben Schepker und Toker (2009) auf das statistisch häufigere Vorkommen von Enuresis bei Jungen türkischer Herkunft hingewiesen und dafür in der verfügbaren Literatur sehr unterschiedliche Erklärungen ausfindig gemacht: vor allem eine spätere systematische Sauberkeitserziehung (»Kinder werden von allein sauber und trocken«) bei längerer Stillphase als in Europa, wie sie im Übrigen in vielen ländlichen Regionen, neben der Türkei beispielsweise des Kosovos oder Afrikas, vorherrscht. In vielen Kulturen mit männlicher Beschneidung bestehe die Erwartung, das Einnässen höre mit der Beschneidung auf (als Mannbarkeitsritual verstanden, 24

Diagnostische Besonderheiten

aber auch im Sinne eines Biofeedback-Prozesses zu verstehen). Des Weiteren tritt ein elektiver Mutismus bei Kindern mit Zuwanderungshintergrund weltweit häufiger auf. Das kann auf eine Störung der Familie im Kontakt mit dem »fremden« Kontext hinweisen, etwa auf eine enge Bindung des Kindes an eine depressive oder einfach in der neuen Umgebung einsame Mutter. Eine Fehlversorgung vor allem von Migranten mit somatoformen Störungen in Allgemeinarzt- und Kinderarztpraxen ist vielfach unter der Überschrift »Einverständnis im Missverständnis« thematisiert worden (Eberding, 1994). Andererseits weist Kahraman (2008) mit Verweis auf Arbeiten des Orthopäden Dambacher zu Recht darauf hin, dass auch das umgekehrte Phänomen möglich ist: So könnten Ganzkörperschmerzen auch auf eine Osteomalazie infolge von Vitamin-DMangel unter Deprivation von südlicher Sonne hinweisen und dürften nicht vorschnell als psychogen deklariert werden. »Damit macht der Autor auf die Schwierigkeit aufmerksam, trotz Hypothesen über die angebliche Somatisierungsneigung ausländischer PatientInnen eine unvoreingenommene und individuelle statt stereotype Diagnostik zu gewährleisten« (S. 74). Ähnlich argumentiert Erim (2009d), dass Somatisierungen zwar häufig mit Abwehrcharakter eingesetzt werden und dass Schmerzen als »Beziehungsregulator« dienen; die zugrunde liegende Dynamik sei jedoch ebenso wie die bei einheimischen Patientinnen und Patienten. Ein 16-jähriger Jugendlicher irakischer Herkunft klagt nach drei Jahren Aufenthalt in Deutschland über stets wiederkehrende Brustschmerzen und »Herzunruhe« und verlangt nach einer wirksamen Medikation, während die Psychotherapie bei seinem Psychotherapeuten prinzipiell gute Fortschritte macht. Er verlangt immer wieder nach EKG-Untersuchungen, da er ein krankes Herz vermutet. Diese fallen unauffällig aus. Verschiedene Versuche mit Antidepressiva bleiben erfolglos, er variiert die Dosierung oder setzt die Medikation ab; nach erfolglosen Wochen liest er in einer Apothekenzeitschrift von Ginkgo-Zubereitungen und verlangt ultimativ, diese verschrieben zu bekommen, da Somatisierung und somatoforme Störungen

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er sie sich nicht leisten könne. Die Ärztin der Ambulanz gerät in eine zunehmende Dynamik von eigenen Insuffizienz- und Schuldgefühlen. Parallel bittet er in dieser Zeit um eine Bescheinigung, die ihm, seinen Eltern und seinen drei Geschwistern ermöglichen solle, aus der Enge der Zweizimmerwohnung auszuziehen. Ohne Zutun der Therapeuten wird der Familie eine neue Wohnung zugewiesen. Die Schmerzen sistieren nur vorübergehend. Sie lösen sich erst auf, als in der Einzeltherapie die Problematik bearbeitet worden ist, dass er glaubte, mit dem Üben seines Instruments (er ist überaus erfolgreich und wird an einem überregionalen Jugendmusikorchester aufgenommen) der depressiven Mutter Kopfschmerzen zu bereiten, und er sie offen um Erlaubnis zum Üben und für seinen musikalischen Erfolg bitten kann.

Anorexia nervosa wiederum ist eine Störung, die in ihrer Häufigkeit nur gemeinsam mit Binge Eating und Bulimie betrachtet werden kann. Nach einer steilen Zunahme in den euroamerikanischen Ländern im letzten Jahrhundert und der Titulierung als westliches kulturgebundenes Syndrom mit Oberschichtlastigkeit kann nach einer neueren Übersicht von Pike und Dunne (2015) nicht mehr behauptet werden, dass es sich hier um eine kulturtypische westliche Störung handele. Möglicherweise sei die Störung in ihrem Anstieg in Schwellenländern eher als ein Effekt von Globalisierung, Medialisierung, Industrialisierung und Urbanisierung zu verstehen denn als negativer Effekt einer »Westernisierung«. Der Zusammenhang von Körperschemastörungen mit kulturell determinierten Schönheitsund Weiblichkeitsidealen vor dem Hintergrund eines ausreichenden Nahrungsaufkommens wird dennoch unterstützt. Nicht aus kulturellen, sondern aus physiologischen Gründen weisen etliche Ethnizitäten – vor allem asiatische Gruppen aufgrund des unterschiedlichen Vorhandenseins von Alkoholdehydrogenase – einen Schutz vor alkoholbezogenen Suchterkrankungen auf. Angehörige muslimischer Gruppierungen sind aufgrund traditionell restriktiver Trinkgewohnheiten zunächst geschützt, bringen aber dadurch auch weniger Erfahrungen im Umgang mit Alkoholika mit. 26

Diagnostische Besonderheiten

Symbolgehalt: Kulturelle Ausdrucksformen für Stress Störungsspezifische Konzepte und das subjektive Krankheitsverständnis bei Zuwanderern können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Interessanterweise wurde im DSM-5 das Konzept »Kulturgebundene Syndrome« aufgegeben und durch »cultural concepts of distress« ersetzt. Dieses Konzept beschreibt nun etwas offener Syndrome, Kommunikationsweisen für Stress oder kulturelle Erklärungen und Attribuierungen. Ventriglio, Ayonrinde und Bhugra (2016) interpretieren das neue Konzept als Ausdruck der Anerkennung globalisierter Kommunikation und einer Veränderung von »kulturgebunden« zu »kulturell beeinflusst«. Mit den Konzepten würden sich auch die Wege der Heilung und des Hilfesuchens verändern. Nachgewiesen ist, dass einige der sogenannten »kulturgebundenen Syndrome« sich auch in ganz anderen Kulturen ähnlich wiederfanden. Konsequenterweise listet das DSM-5 nur noch neun als kulturell erklärbar dargestellte Bilder auf (gegenüber 25 im DSM-IV-TR). Ein gewichtiger Faktor für das Weiterbestehen kulturgebundener Ausdrucksformen und Erklärungen sind Stadt-Land-Differenzen. Gün (2007) erwähnt, dass auch gegenüber als aufgeklärt und intellektuell eingeordneten Untersuchern aus der eigenen Ethnizität kulturspezifische Erklärungen und magische Heilungsversuche oft nicht spontan und erst nach dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses eingeräumt werden. Eine Würdigung der Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland und des Kontakts zur Herkunftskultur sollte vor einer solchen »Diagnosestellung« erfolgen. Flüchtlinge oder Heiratsmigrantinnen können durchaus auch heute weiterhin solche Manifestationen zeigen; etwa werden nach Gün (2007) psychische Befindlichkeitsstörungen im Sinne einer Gleichgewichtsstörung im Körper oft als »gefallene, geschwollene oder verrutschte Organe« metaphorisch beschrieben. Einheimischen Untersuchern sind kulturtypische Erklärungen in der Regel nur wenig bekannt, sodass hier die Symbolgehalt: Kulturelle Ausdrucksformen für Stress

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bei ­Schepker und Toker (vgl. 2009, S. 98 f.)1 veröffentlichten nochmals wiedergegeben werden: ȤȤ Syndrom des Nabelfalls (verrutschter Bauchnabel, verrutschte Mitte) als Befindlichkeitsstörung mit Missempfindungen um den Nabel herum – ausgelöst durch multiple Ursachen, wie Überarbeitung, zu viel aufgedrängte Sexualität, wenig Schlaf, Sorgen und Kummer, durch roborierende Maßnahmen behandelt; Anwendungen im Bauchbereich wie Schröpfen, Vakuumgläser, Massagen, Verbände (mit Stockhebel wird versucht, den Bauchnabel wieder an die alte Stelle zurückzudrehen) (türk.: Göbek düşmesi). ȤȤ Brennende Missempfindungen in Brustkorb und Lunge als depressive Symptomatik oder Ausdruck von Trauer, auch in Erregungszustände mündend – Behandlung durch Zuwendung, nicht allein lassen; Gespräche und Zuhören, Schonung, Entlastung von alltäglichen Aufgaben, Angebote von Unterstützung (türk.: Bağrım yanıyor/yüreğim/ciğerim; dt.: mein Herz/Brustkorb/Lunge brennt; auch: türk.: İçim yandı; dt.: mein Inneres brennt)  – Achtung: Wird der Begriff für Leber/Lunge (ciger) interaktiv dyadisch verwendet, drückt dies eine innige emotionale Beziehung aus. ȤȤ Ameisenlaufen als depressive Symptomatik im Sinne larvierter Depression, Unwohlsein und ungelöster/nicht bewältigter Konflikte; Behandlung durch Schonung und Entlastung, Interesse an der betroffenen Person und Bemühen um sie, Vermeidung des eigentlichen Problems (türk.: Her tarafım karıncalanıyor; dt.: überall auf dem Körper laufen Ameisen). ȤȤ Heißblütigkeit junger Männer von der Pubertät bis zum dritten Lebensjahrzehnt; äußert sich in Impulsivität, Regelübertretungen und Erregbarkeit; wird auf unerfüllte Sexualität zurückgeführt und kann durch Verheiratung gelöst werden (türk.: Delikanlı; dt.: heißes Blut, heißblütiger junger Mann, Hitzkopf). 1 Mit freundlicher Genehmigung der Medizinisch Wissenschaftlichen Verlagsgesellschaft. 28

Diagnostische Besonderheiten

ȤȤ Den Kopf erkältet haben oder drastischer, mit Hinweis auf eine schwerwiegende Störung: den Kopf gegessen haben: durchgedreht, verrückt geworden sein (türk.: üşuttüm, kafayı yedi/yedim). ȤȤ Geisterkommen (ich drehe bald durch, bin total aufgebracht, sehe Geister); Warnung an die Umgebung, Verständnis zu haben, Wunsch nach Ruhe; Hilferuf zur Entlastung und keine psychotische Symptomatik (türk.: Cinlerim geliyor; dt.: meine Geister kommen). ȤȤ Geplatzte Gallenblase (türk.: ödüm patladı): Man hat sich erschrocken, große Angst, ist gegebenenfalls traumatisiert. ȤȤ Böser Blick (Symptomatik: Unfälle, geschäftliche Probleme aufgrund von Blicken neidischer und feindseliger, eher hellhäutiger und blauäugiger Menschen) – Schutz durch ein »blaues Auge« (türk.: Mavi boncuk) in Form eines Steines oder Einlage in einem Schmuckstück sowie Bescheidenheitsformeln nach Komplimenten (türk./arab.: Nazar; dt.: böser Blick, Basiliskenblick; ital.: malocchio, occhio cattivo; engl.: evil eye, bad eye). ȤȤ Geisterbeschwörung als »Verdammtsein«, »Verhextsein« (ohne Wissen und in Abwesenheit des Betroffenen) – erklärt sexuelle Störungen, geschäftlichen Misserfolg, Unfall, Suizidalität, Tod (je nach dem erfolgten Zauber) – Schutz durch Amulette mit »Gegenmitteln«, die am Körper getragen werden müssen, um wirksam zu sein (das Entfernen von Amuletten bei stationärer Aufnahme ist zu unterlassen!) (türk.: Büyü; dt.: Geisterbeschwörung). »Die Auflistung entspricht dem 2009 unter Zuwanderern aus der Türkei und mediterranen Ländern im Ruhrgebiet üblichen Repertoire und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Denkfigur des ›Bösen Blicks‹ findet sich in Süditalien ebenso wie in anderen Mittelmeerländern; die ›Geisterbeschwörung‹ (d. h. Opfer eines Zaubers oder Verhextseins zu sein) ebenso. Die Syndrome haben sämtlich einen alten, schamanistischen Ursprung und verlieren überwiegend dann ihre Funktion, wenn gesellschaftlich Urlaubs- und Feiertage möglich sind und Kranken- und Rentenversicherungen die familiäre und nachbarschaftliche Zuwendung teilweise ersetzen. Symbolgehalt: Kulturelle Ausdrucksformen für Stress

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Neben den kulturgebundenen Syndromen sind sprachliche Besonderheiten einer eher bildhaften, metaphorischen Sprachwelt zu beachten, die wörtlich übersetzt als psychotisch missverstanden werden könnten. Gün (2007) erwähnt in diesem Zusammenhang, dass starke, beißende Schmerzen im Türkischen als ›kalter Wind, der in den Knochen weht‹ ausgedrückt werden können« (Schepker u. Toker, 2009, S. 98 f.).

Scham- und Schuldkonflikte Güç (2006) weist in seiner Konzeptualisierung einer transkulturellen Psychoanalyse auf die dominante Rolle des Schamaffektes bei Zuwanderern mit muslimischem und gesellschaftlich-kollektivistischem Hintergrund hin. Er leitet aus über Jahrhunderte weitergegebenen Narrativen und Suren des Korans eine Dialektik und Interdependenz von Schuld und Scham ab, während in der traditionellen Psychoanalyse Schuld und Scham als sequenziell, das heißt unterschiedlichen Entwicklungsstufen zugehörig, angesehen werden. Scham werde in der westlichen Theorie als ein früher Affekt angesehen, demgegenüber setze Schuld Strukturen voraus und eine gewisse psychische Reife des Individuums: Das Über-Ich als Erbe des Ödipuskomplexes beinhalte die verinnerlichten elterlichen Gebote, und ein Schuldgefühl entstehe aus einem Konflikt zwischen Über-Ich und Ich. Vor dem Hintergrund einer kollektivistischen Kultur entstehe Schuld aber im Gegensatz dazu bereits aus Autonomiebestrebungen heraus: »Ich gehe konzeptionell davon aus, dass sich jeder Mensch mit jeder Handlung, die im Sinne einer Selbstrealisierung geschieht, schuldig macht, weil ich jede Handlung zunächst im Sinne einer trennenden Tätigkeit verstehe. Mit dieser schuldigen Trennung entsteht unmittelbar auch die Scham. Diese Affekte Schuld und Scham treten von Anfang an als ein Affektpaar auf, bilden eine Einheit und verhalten sich in dieser Einheit dialektisch zueinander. Sie verhalten sich zueinander sowohl begrenzend als auch sich gegenseitig bedingend« (Güç, 2006, S. 267). 30

Diagnostische Besonderheiten

Nach Güç werden Schuldgefühle mit Schamaffekten abgewehrt. Güç sieht als »Hauptkonflikt« den »Individualitäts-KollektivitätsKonflikt« und fügt damit den von Erikson beschriebenen und auch in die OPS-Entwicklung eingegangenen Grundkonflikten der Entwicklungsphasen einen weiteren hinzu. Hebt sich ein Individuum von der Gruppe ab, lädt es sofort (Trennungs-)Schuld auf sich. Komme nun ein Migrant von »einer mehr an Kollektivität orientierten SchamKultur« in eine »mehr an Individualität orientierte Schuld-Kultur«, potenziere sich sein Hauptkonflikt. Dabei könnten Schuld und Scham nicht gleichzeitig erlebt werden. Worauf sich ein Zuwanderer konzentriere, hänge von seiner kulturellen Umgebung ab. Güç unterstellt damit eine Adaptation dieses Affekterlebens an die Aufnahmekultur, je mehr Kulturkontakt in der Aufnahmekultur besteht. Erziehungspraktiken, in denen wenig erklärt, aber viel auch öffentlich reguliert wird (d. h. im dörflichen Kollektivismus), scheinen Scham als dominanten Affekt zu befördern, während Erziehungspraktiken, die auf Internalisierung von Normen setzen (d. h. im Sinne von Güç auf Individualisierung), eher Schuldgefühle als Reaktion auf tabuisierte Bestrebungen auslösen. Ein vierjähriger afrikanischer Junge mit einer mutistischen Symptomatik erhält von der Mutter häufig nonverbale Begrenzungen und Schläge auf die Finger; die Mutter ist depressiv und spricht selbst kaum, verhält sich aber auch wenig einfühlsam und macht Versprechungen, die sie kurz darauf wieder zurücknimmt. Es wird anamnestisch bekannt, dass die Mutter glaubt, durch ihre Beschneidung dem Vater sexuell nicht gerecht zu werden, was sie selbst zutiefst beschämt. Im Spiel zeigt der Junge viel Verbergendes, ist sehr zurückhaltend und gehemmt, scheint auf eine Reaktion der Therapeutin auf seine Ungeschicklichkeit zu warten. In der Gegenübertragung wächst ein Gefühl der Ungeduld, und der Gedanke erscheint, er stelle sich absichtlich dumm an. Misslingt ihm etwas beim Konstruktionsspiel, dem er sich mit viel Ermutigung zuwendet, wirkt er existenziell verunsichert und reagiert mit Zerstörung des Materials. Sein SprachverständScham- und Schuldkonflikte

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nis ist deutlich besser als seine Sprachproduktion. Es stellt sich nach mehreren Sitzungen heraus, dass er aus großer Beschämungsangst heraus und Sorge, verlacht zu werden, nur mit Personen spricht, bei denen er vorher ihre Geduld mit seinen vermeintlichen Schwächen hinreichend überprüft hat.

Scham ist uns aus der japanischen Kultur als ein derart unerträglicher Affekt bekannt, dass Suizide im Zusammenhang mit Versagen und Flucht vor öffentlicher Kritik erklärt werden. Gleiches könnte hinsichtlich der häufigen Suizidversuche von jungen Frauen mit türkischem Migrationshintergrund postuliert werden, wie von der Berliner Arbeitsgruppe geschildert (Aichberger et al., 2015; Heredia Montesinos et al., 2009). Vor allem in der jüngeren Altersgruppe waren positive Effekte einer Intervention zu verzeichnen, die eine Öffnung für Kommunikation und Hilfe im Gegensatz zu schamhaftem Verstecken zum Ziel hatte. Auch aus Kroatien wird die Überwindung von Schamgefühlen als entscheidend für den Einstieg in eine psychodynamische Behandlung beschrieben (Urlić, Strkalj-Ivezić u. John, 2009). Suizidalität ist ansonsten in den Ländern der Welt, die darüber Statistiken führen, sehr unterschiedlich verteilt, wobei Deutschland im unteren Drittel der Häufigkeiten für vollendete Suizide anzusetzen ist. Nach der Migration können die Raten an vollendeten Suiziden durchaus steigen – so beschrieben von Kyobutungi, Ronellenfitsch, Razum und Becher (2006) für junge Russlanddeutsche –, etwa zehn Jahre nach der Migration gleichen sie sich den Raten der Aufnahmekultur an. Interessanterweise war die Sterberate der hier untersuchten Russlanddeutschen durchweg niedriger als in der Vergleichspopulation im Herkunftsland und abhängig von der Häufigkeit von Umzügen. Scham ist ebenso ein Affekt, den Männer aus kollektivistischen Kulturen bei Misserfolgen erleiden oder dann, wenn sie subjektiv in ihrer Beschützerfunktion der Familienehre kompromittiert worden sind. Zum Verständnis des Kontextes und der großen Bedeutung kollektivistischer Grundorientierungen hilft die Erklärung der ur32

Diagnostische Besonderheiten

sprünglich arabischen Begriffe »namuz« und »şeref« sowie »saygı« bei Schepker und Toker (vgl. 2009, S. 183 f.)2: ȤȤ Şeref bedeutet Ehre, Ansehen, das jemand genießt, Anerkennung in der Community. Şeref ist ein gradueller Wert, der steigen und sinken kann. Er wird durch Leistungen für die Gemeinschaft aufrechterhalten. Er kann durch Übergriffe Dritter beschädigt werden. ȤȤ Namus bezeichnet die Ehre bezogen auf den Innenraum der Familie. Für Männer bedeutet er, die Frauen der Familie vor äußerer Aggression zu schützen. Für Frauen bedeutet er das Aufrechterhalten der sexuellen Integrität. Namus kann nur verloren und nicht zurückgewonnen werden, es ist ein absoluter Wert. Namus hängt mehr von der öffentlichen Meinung ab als von realen Fakten. ȤȤ Saygı bezeichnet den Respekt und die Ehrerbietung, die sozial Höhergestellten geschuldet ist. Der Begriff bezieht sich auf Höflichkeitsregeln, und wenn jemand von niedrigerem sozialen Rang gegen diese verstößt, büßt derjenige an Reputation ein. Beispielsweise: Man erwähne nie sexuelle Themen gegenüber einem Höhergestellten (Vater, Onkel), man rauche nie offen vor diesem etc. Öffentliche Reaktionen und Abläufe der Konfliktklärung: ȤȤ Ein Verhalten der »Unehrenhaftigkeit« muss demnach öffentlich bekannt sein, um als solches zu gelten. ȤȤ Erst wenn die öffentliche Meinung ein Verhalten als unehrenhaft eingestuft hat, wird eine öffentlichkeitswirksame Reaktion vom Haushaltsvorstand erwartet, in der Regel ist dies der Vater oder das in der Familie lebende älteste männliche Familienmitglied. ȤȤ Wenn ein Ereignis als unehrenhaft definiert wurde, werden zu­ nächst friedliche Wege der Klärung gesucht, z. B. Verheiratung eines Mädchens, das seine Jungfräulichkeit verloren oder ihren Ruf anderweitig beschädigt hat. ȤȤ Falls keine akzeptierten Lösungen gefunden werden, kann Tod der einzige Ausweg sein, um jemandes Ehre wiederherzustellen. 2

Mit freundlicher Genehmigung des MWV-Verlages. Scham- und Schuldkonflikte

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ȤȤ Die einzige Ehrbeschädigung, die unabweisbar nur durch eine Tötung beantwortet werden kann, ist der Verlust eines Familienmitgliedes durch Mord. Die einengenden Umgangsformen eines 14-jährigen türkischstämmigen Jungen seiner jüngeren Schwester gegenüber, wobei er überdeutlich auf deren »Ehrenhaftigkeit« achtet, ihr autoritär »verbietet«, das Jugendzentrum aufzusuchen oder Schminke zu tragen, bis hin zur Kritik daran, dass die Mutter kein Kopftuch trage, können als Einübung der männlichen Schutzfunktion im Sinne von Namus interpretiert werden. Er selbst leidet an einer Zwangssymptomatik. Dabei wirken diese Aktionen im Sinne von Pubertätsaskese und abgewehrter Sexualität stark übertrieben. Eine kulturtypische Intervention des Therapeuten richtet sich an den Begriff von Saygı: Es sei immer noch Sache des Vaters, der Mutter auch ohne Kopftuch zu vertrauen oder der Schwester zu erlauben, das Jugendzentrum mit den dort anwesenden Sozialarbeiterinnen zu besuchen.

Das Öffentlichwerden einer Verletzung der sexuellen Integrität im Sinne einer Mitteilung an den Vater wird von einem 17-jährigen Mädchen mit traditionellem Hintergrund, das Opfer einer Vergewaltigung wurde, nicht nur aus Schamgründen angstvoll vermieden, sondern auch aus der Vorstellung heraus, damit Vater oder Bruder zum Handeln zu zwingen und ins Gefängnis zu bringen. Eine Hilfsvorstellung für das Schweigen ist die Vorstellung, dann nicht mehr »verheiratbar« zu sein. Sie hat sich einer Tante anvertraut, und die Angelegenheit wurde im weiblichen Subsystem der Familie geregelt, einschließlich der gynäkologischen Versorgung. Eine Anzeigeerstattung ist schier unmöglich, würde das doch die Einbeziehung des Vaters erfordern. Es sei darauf hingewiesen, dass diese »alten« Begrifflichkeiten in der Migration nicht mehr die Umgangsformen durchgängig bestimmen, dass aber Schamaffekte durch diese internalisierten Konzepte unterhalten werden können. Ängste vor allem von Mädchen, die als ir34

Diagnostische Besonderheiten

rational imponieren können (mein Vater/Bruder bringt mich um, wenn ich einen Freund habe), mögen jedoch hier ihre Wurzeln haben, und sogenannte »Heimatfilme«, die vor allem unter türkischen Zuwandererfamilien nach wie vor sehr beliebt sind, verstärken solche Ängste und anflutenden Schamaffekte unbewusst weiter. Wichtig ist, dass Psychotherapeuten sich nicht von exhibitionistisch-kontraphobischen Haltungen als Abwehr von Schamaffekten irreführen lassen, die vor allem bei Mädchen aus Zuwandererfamilien gelegentlich beobachtbar sind. Sie machen die darunterliegenden Schamaffekte aber nicht unwirksam, sondern können sie im Gegenteil verstärken. Odag-Wieacker (2016) beschreibt dazu eine Dynamik des »Pseudo-Rebellierens gegenüber den Primärobjekten«, durch die eine »Auseinandersetzung mit schambesetzten Selbst-Empfindungen unterbleibt« (S. 88 f.). Die 16-jährige M., in der zweiten Generation aus einer arabischen Familie, imponiert durch lautes, flirtendes, promiskuitives Verhalten gegenüber den männlichen Jugendlichen auf der Station, sitzt breitbeinig auf dem Stuhl. Sie schminkt sich stark und wechselt bis zu sechsmal täglich die Kleidung. Dabei achtet sie peinlich auf deren Fleckenlosigkeit und ihre Körperhygiene. Zurechtweisungen der Mitarbeiter hinsichtlich ihrer Nähe-Distanz-Regulierung beantwortet sie einerseits mit oppositionellen Bemerkungen, andererseits mit Rückzug. Die Mitarbeitenden reagieren mit Abneigung und Verachtung ihres »nuttigen« Auftretens. Die Eltern schwanken zwischen Hilflosigkeit und Ablehnung. Zum Hintergrund wird während der Therapie erfahren, dass die Mutter nach vielen Fehlgeburten (kein Junge wurde lebend geboren, M. und eine Schwester haben überlebt) große Probleme mit der eigenen Weiblichkeit hat. Der Vater hat einen Überfall auf den kleinen Eigenbetrieb als schweren Einbruch seines Ehrgefühls (Seref) erlebt und ist seither ein gebrochener Mann, überdies hat er für die Umgebung keinen sichtbaren Nachfolger gezeugt. In der Familie wurde über all diese subjektiv dramatischen Ereignisse nicht gesprochen, sondern stets versucht, die damit verbundenen Affekte Scham- und Schuldkonflikte

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zu kontrollieren. Gemeinsam ist der Familie der überwiegende Affekt der Scham. M. fühlt sich, wie in der Einzeltherapie deutlich wird, mit ihrem Dasein als Mädchen überaus unwohl, vor allem in Phasen der Menstruation. Sie leidet subjektiv unter der ablehnenden Gegenübertragung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die ihre Schamgefühle verstärkt, und kann zunächst kaum wahrnehmen, wie sie mit eigenen Aktionen dazu beiträgt.

Therapietechnische Hinweise finden sich im nächsten Kapitel. Yilmaz (2006) fasst zusammen, dass die traditionell-westlichen therapeutischen Ansätze auf »Individuation, Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung basieren«, während den »nicht westlichen Psychotherapien Interdependenz und Selbstkontrolle grundlegend« seien (S. 280) – so wie es das Scham-Schuld-Konstrukt vorgibt.

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Diagnostische Besonderheiten

3 Therapietechnische Besonderheiten

Setting und Frequenz Von großer Besonderheit ist die Feinfühligkeit und Empathie der Therapeutin oder des Therapeuten hinsichtlich der Höflichkeitsformen und der Mann-Frau-Differenzen im Erstkontakt. Bei aller Sensibilität für szenisches Verstehen durch die psychodynamische Ausbildung wird es wichtig sein, angesichts einer Scheu der Patienten oder der Eltern, das Gegenüber per Handschlag zu begrüßen, nicht zurückzuzucken (ein eben migrierter Mann pakistanischer Herkunft kann Probleme haben, einer Frau die Hand zu geben, da sich das aus seiner Sicht nicht schickt – eine eben migrierte Frau aus der Türkei kann ebenso Schwierigkeiten haben, einem männlichen Therapeuten die Hand zu geben, und wird vielleicht die Sprechstunde nur in Begleitung aufsuchen). Ähnliche Schwierigkeiten können im Hinblick auf den Blickkontakt entstehen, der sich je nach kultureller Gepflogenheit zwischen Andersgeschlechtlichen nicht schickt. Hier würde es einen Bruch des Abstinenzgebotes darstellen, Blickkontakt aktiv und invasiv zu suchen oder auch das Ausweichen und Niederschlagen der Augen als Widerstand zu deuten – ob als innere Deutung des Therapeuten oder gleich in der Interaktion. So berichtete ein wenig kultursensibler einheimischer Therapeut mit blauen Augen, der den Blickkontakt zur Großmutter einer Familie nicht bekam, aber stets suchte, dass diese ihm ein »Mavi boncuk« (ein künstlerisch eingefasstes »blaues Auge« zur Abwehr des »bösen Blicks«, s. S. 29) geschenkt habe. Er war erfreut über diese Geste einer doch erfolgten Zuwendung, doch bedurfte es der kulturellen Vermitt37

lung im Team, ihm die Bedeutung dieses Geschenks klarzumachen und ihm zu einem sensibleren Umgang zu verhelfen.

Bei Kindertherapien wird es entscheidend sein, zunächst das Vertrauen der Eltern zu gewinnen und mit diesen vor dem Erstkontakt mit dem Kind ins Gespräch zu kommen, so wie es Odag-Wieacker (2016, S. 75) vorschlägt; gelingen der Kontakt und die Interaktion mit den Eltern, wird das Kind zur stets »fremden« (außerhalb der Familie befindlichen, selbst wenn dem gleichen Kulturkreis angehörigen) Therapeutin unbefangener gehen. Die siebenjährige Patientin Ö. klammerte sich bei der ersten Therapiesitzung an die Mutter vor Betreten des Spieltherapiezimmers und schaute unsicher zu ihr hoch. Die Therapeutin bemerkte, dass sie sich mit der Mutter bereits bei einem Besuch »unter Damen« unterhalten habe und dass Ö. genau so aussehe, wie die Mutter sie beschrieben habe. Nur dass Ö. ja heute eine rote Schleife trage. Die Therapeutin fuhr fort, dass die Mutter schon erfahren habe, was im Therapiezimmer gemacht werden könne. Ö. blieb skeptisch. Die Mutter ermunterte Ö. nun in der Familiensprache mit »Geh zu meiner Lehrerin!«, und Ö. folgte nach dieser Respektbezeugung der Mutter problemlos.

Die Interaktion ändert sich in triadischen oder Gruppensituationen: So empfehlen Belz und Özkan (2017), in Situationen mit Sprachmittlereinsatz den Blickkontakt zum Patienten selbst zu suchen, um diesem zu vermitteln, dass es um ihn geht und dass eine therapeutische Beziehung trotz Sprachmittler gesucht wird. In dyadischen Situationen kann es bei Patienten mit Migrationshintergrund sinnvoll sein, das zunächst von Hoffmann empfohlene Über-Eck-Sitzen für psychodynamische Therapien zu praktizieren, das einen Blickkontakt noch möglich macht, aber nicht erzwingt, und den Patientinnen und Patienten dadurch mehr Freiheiten lässt, die nonverbale Interaktion zu gestalten (Beutel, Doering, Leichsenring u. Reich, 2010). 38

Therapietechnische Besonderheiten

So war es im Kontakt mit dem afghanisch-paschtunischen 16-jährigen Flüchtling Y. und seinem Dolmetscher nach der initialen Begrüßung und dem Austausch der üblichen Höflichkeiten zunächst gut und sinnvoll, ihm als weibliche und ältere Therapeutin am Tisch gegenüberzusitzen, mit dem Sprachmittler seitlich, und auch während des Übersetzens gelegentlich Blickkontakt zu ihm zu suchen. Als er später zu Einzelstunden kam, zeigte er sich nach der Einnahme seines »alten« Sitzes irritiert und zeigte Impulse, die Körperhaltung abzuwenden. Ein Herstellen des Über-Eck-Sitzens entspannte ihn deutlich und ließ die Geschlechts- und Altersdifferenz weniger bedeutsam erscheinen.

Ein Aufnehmen der szenischen Information über den Ersteindruck von Kleidung und Habitus kann irreführend sein – so lässt ein »traditioneller« Habitus bei kürzlich migrierten Menschen, insbesondere bei Frauen, nicht gleich auf Bildungsferne oder eine patriarchale Familienstruktur schließen; auch nicht ein Wechsel während der Behandlung, wenn nicht geklärt ist, ob aktuell Besuch aus der Heimat zu Gast ist oder ob am selben Tag ein Fest bevorsteht. Allerdings kann andererseits ein Wiederaufgreifen »traditioneller Kleidung«, wie das Tragen eines Kopftuchs, die Suche nach Sicherheit und Zugehörigkeit, aber auch die Flucht vor ödipal-sexuellen Phantasien bedeuten. Wenig bekannt sind einheimischen Therapeutinnen und Therapeuten die Bedeutungen, die Kopftücher und die Arten der Spangen und zusätzlichen Befestigungen haben können, bis hin zum Symbolisieren der aktuellen Menstruation. Auch kann das neue Tragen eines Kopftuchs bei Mädchen eine Verlobung markieren – ein sensibles und »unwissendes« Nachfragen ist nicht schädlich. Hinsichtlich der Dauer und Frequenz der Behandlung ist anzuraten, zunächst eine Kurzzeittherapie anzustreben. Viele Berichte über erfolgreiche Langzeittherapien sprechen keinesfalls gegen eine spätere Umwandlung. Oft aber muss eine ambulante Behandlung bei Zuwandererkindern, vor allem bei Flüchtlingen, mehrschrittig angelegt werden: von einer initialen Krisensituation über ein Abwarten einer Lebenssituation, die eine »Therapie mit warmen Füßen« erlaubt, bis Setting und Frequenz

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zum Wiederkommen nach einer erneuten Umstellung in den Lebensverhältnissen und mit neuen Herausforderungen. Die Möglichkeiten der neuen Psychotherapie-Richtlinie kommen der Arbeit mit Zuwanderern somit stark entgegen. Die bestehende Schweigepflicht gegenüber Angehörigen und Eltern für Einzelsitzungen muss zu Beginn einer Behandlung von Jugendlichen häufig erläutert und betont werden, ebenso die gegenüber Betreuern aus der Jugendhilfe. Es kann durchaus geschehen, dass Patienten mit Selbstverständlichkeit, bezogen auf die bei nahezu allen Zuwandererethnizitäten höhere Familienkohäsion, annehmen, dass dem nicht so sei. Bei Jugendlichen bietet sich auch deswegen das klassische »bifokale« Setting, also getrennte Sitzungen mit Jugendlichen und Eltern, weniger an als gemeinsame Familiensitzungen neben der Einzeltherapie. Noch empfehlenswerter ist je nach Problematik und vorfindlichen Bindungen die Arbeit mit familiären Subsystemen (Mutter-Tochter, bei Kindern auch Mutter-Sohn; Patientin-Schwester; Patient-Onkel oder Patient-Cousin, Vater-Patient u. a. m.). Die 16-jährige Z., Tochter eines Imams in einer Zuwanderergemeinde, Lehrling in einem Mode-Einzelhandelsgeschäft und modisch gekleidet, setzt ihre Eleganz ein, um sich von den Jungen des Viertels abzusetzen. Der Vater entzieht sich Einladungen seitens der Therapeutin, respektiert aber die Besuche, die infolge eines Suizidversuchs erforderlich geworden sind. Z. hat das reale Dilemma eigener Optionen an Ausbildung, Zukunft und des »Versprochenseins« an einen Cousin aus dem Herkunftsort der Eltern zu lösen und sucht nach Kompromissen. Hilfreich wird hierbei eine ebenfalls beruflich erfolgreiche Cousine, die in die Behandlung einbezogen werden kann, nachdem die Mutter der Patientin dem zugestimmt hat – eine Lösung für das Setting im weiblichen Subsystem der Familie, die später auch eine Lösung in der Realität ermöglicht: Letztlich konnte eine Heirat mit Verweis auf die deutschen Regularien (ein Familiengericht hätte der Eheschließung mit einem bisher Unbekannten in Deutschland zustimmen müssen) 40

Therapietechnische Besonderheiten

abgewendet werden, da der Cousin nicht bis zur Volljährigkeit der Patienten abwarten wollte. Der 15-jährige A. ist eines sexuellen Übergriffs angeklagt, der von der Herkunftsfamilie gegenüber der Verwandtschaft und Nachbarschaft geheim gehalten wird. Er kommt im Rahmen einer gerichtlichen Auflage zur Behandlung, in der es um Aufklärung und sexuelle Orientierung geht. Dazu müssen diverse Schamgrenzen überschritten werden. Für den Therapeuten ist schnell klar, dass das nur mithilfe eines Kulturmittlers erfolgreich sein kann, da A. zwischen der Welt der deutschsprachigen Straßen, in denen vermeintlich alles erlaubt sei, und der Welt der erstsprachlichen Straßen spaltet. Es gelingt, einen jüngeren Onkel in die Behandlung zu integrieren, mit dem eine große Offenheit, humorvolle Gespräche über Sexualität und eine »Erlaubnis« zu homo- und heterosexuellen Phantasien hergestellt werden können.

Nicht mehr als umstritten gilt die Frage, ob sich – vor allem afrikanische – Familien an das zeitliche Setting und die zeitliche Begrenzung der Sitzungen halten müssen oder ob ein kulturspezifisches »Entgegenkommen« möglich sei. Hier kann einerseits erwartet werden, dass in gegenseitigem Respekt die zeitliche Einbindung und dadurch Begrenztheit des Therapeuten akzeptiert wird, wie andererseits ein Zuspätkommen bei eher neu migrierten Zuwanderern aus Afrika nicht vom Therapeuten als Widerstandsphänomen interpretiert werden kann.

Einzel- oder Gruppentherapie? Einzeltherapie mit Zuwanderern stößt an Grenzen, insofern als auch hinreichend bearbeitete Traumata und Konflikte sich weiterhin als »interpersonelle Schemata« äußern können, die sich in einer Gruppentherapie offener reinszenieren und zielführender bearbeitet werden können. Einzel- oder Gruppentherapie?

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So berichten Joksimovic, Schröder und Kunzke (2014) über gute Erfahrungen mit niederfrequenten, geschlechtsspezifischen und halboffenen Gruppentherapie-Angeboten für traumatisierte Flüchtlinge und zunehmende Evidenznachweise. Geschlechtsspezifische Gruppen bieten sich auch deswegen an, da sie auf die Erfahrung kollektivistischer, aber geschlechtssegregierter Gesellschaften zurückgreifen, insbesondere mit Jugendlichen, bei denen in der Pubertät noch erhöhte Schamschwellen zu erwarten sind. So herrscht im Alltag etwa an einem ostanatolischen Backhaus in der Frauengruppe eine für Europäer erstaunlich offene Gesprächskultur über Probleme der Sexualität und Partnerschaft. Erim (2009d) erklärt die Tradition türkischer »Frauennachmittage« und beobachtet, dass in ihrer psychotherapeutischen monokulturellen Frauengruppe zu Beginn die gleichen Rituale ablaufen: das Fragen nach der Befindlichkeit und das Einführen traditioneller Anreden, das Klagen über Alltagsschwierigkeiten im Sinne einer Leidensgemeinschaft und deren Aufheben durch lustvolle gemeinsame kathartische Aktivität zur Verdrängung und Bewältigung. So entstehe eine besondere emotionale Dichte in der Gruppe. Sexualität sei schnell Thema geworden. Laut der ethnografischen Studie von Petersen (1988) findet Aufklärung für Kinder (auch für Jungen vor der Beschneidung) während deren »beiläufigen« Aufenthalts in der Nähe der Frauen wie selbstverständlich statt – ein Möglichkeitsraum, der mit der Migration zumeist verloren geht und nicht ersetzt wird. Analog ist für uns nur kognitiv nachvollziehbar, wie üblich es unter afrikanischen Frauen ist, Kinder im Rahmen der Frauengemeinschaft zur Welt zu bringen, und wie negativ sich die »Vereinzelung« in Klinikatmosphäre mit einer unbekannten Hebamme auf Geburtskomplikationen auswirken kann, sodass ein notfallmäßiger Kaiserschnitt bei Frauen mit Migrationshintergrund überproportional häufig vorkommt (Robertson, 2015; Merry et al., 2016). Auch Jugendliche mit Migrationshintergrund halten sich im Lebensalltag gern in geschlechtshomogenen Gruppen auf und haben in gemischten Gruppen sehr viel größere Schwierigkeiten, 42

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sich offen zu artikulieren, ob sie nun Rollenstereotype subjektiv befürworten oder nicht. Hier bietet sich allerdings bei den Jugendlichen, die eine Schule in Deutschland besuchen, stark die Überlegung an, ­gemischtethnische Gruppen durchzuführen. Erfolgreich hat sich eine gemischtethnische Jungengruppe von 14bis17-Jährigen mit russlanddeutschen, türkeistämmigen und afghanischen Jungen unterschiedlichen Bildungsgrades u. a. mit Männlichkeitsstereotypen beschäftigt. Es kam initial zu einem wahrhaft interkulturellen Austausch über »die Deutschen« und deren aufreizende, aber nicht ernsthaft interessierte Mädchen (mit gemeinsamer Bearbeitung von Beschämung und gefühlter Erniedrigung, zunächst dem Ausländerstatus attribuiert). Es folgten die Bearbeitung von Enttäuschungen und Zukunftsängsten und ein Austausch über die verschiedenen Lösungsstrategien – proaktiv-kontraphobisch oder vorsichtig-vermittelnd. Erst nach vielen Sitzungen war das Erarbeiten einer »empathischen« Sichtweise für das andere Geschlecht einschließlich damit verbundener Sexualaufklärung bei etlichen Wissenslücken möglich. Allerdings krankte diese spezifische Gruppe zunächst an häufigem Nichterscheinen, wobei es wenig half, das als Widerstand zu adressieren. Erst als die Gruppe sich darauf einigte, dass die Teilnahme zum Gruppenethos gehörte, und – unter eher skeptischer Wahrnehmung der Gruppenleiter – sich eine informelle Gruppenhierarchie herausgebildet hatte, war die Teilnahme stabil.

Neben der interessanten Beobachtung verschiedener Lösungsstrategien mit durchaus eigenem kulturellem Bezug (vgl. Haid et al., 2010) und ubiquitären Zukunftsängsten von Jugendlichen ist hierbei wichtig, den Realbezug der Ängste angesichts der höheren Jugendarbeitslosigkeit von Migranten nicht aus dem Auge zu verlieren und ggf. für konkrete sozialpädagogische Unterstützung zu sorgen. Somit kann es erforderlich werden, für bestimmte Fragen neben einer Gruppentherapie weiterhin Interventionen im Einzelsetting durchzuführen (Medikation, sozialarbeiterische Interventionen u. a.; Einzel- oder Gruppentherapie?

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Joksimovic et al., 2014). Bei Erim (2009d) und auch bei Münch und Rohner (2011) findet sich so wie in Kinder- und Jugendpsychiatrien im stationären Setting eine regelhafte Kombination aus Einzel- und spezifischer Gruppentherapie. Interessant ist dabei ein monoethnisches Erstsprachsetting (ich bevorzuge den Begriff Erstsprache, analog zu den Sprachwissenschaftlern, gegenüber dem Begriff »Muttersprache«) in den Gruppentherapien hinsichtlich psychodynamischer und psychoedukativer Inhalte, ein deutschsprachiges Setting bei sozialtherapeutischen Gruppen und ebenfalls ein deutschsprachiges bei Bewegungs- und Fachtherapien, was nur in überregional arbeitenden Rehabilitationseinrichtungen machbar erscheint.

Abstinenz Die ursprünglich triebtheoretisch begründete Annahme Freuds (in »Zur Einleitung der Behandlung«, 1913), man müsse durch Abstinenz Frustrationen in der Behandlung setzen, um den therapeutischen Prozess in Gang zu bringen, trifft auch auf Patienten ohne Zuwanderungshintergrund aus heutiger Sicht nicht mehr unverbrüchlich zu (Neudert-Dreyer, Hohage u. Thomä, 2006). Vielmehr zielt das Neutralitätsgebot auf verschiedene methodische Anforderungen an eine psychodynamische Therapie aufseiten des Therapeuten, nämlich im Sinne von Thomä und Kächele (1985, S. 228): »die Verarbeitung des vom Patienten angebotenen Materials (Verzicht auf die Verfolgung eigener Vorurteile), auf den therapeutischen Ehrgeiz (Verzicht auf suggestive Techniken), auf das Problem der Zielvorstellungen (Verzicht auf die Verfolgung eigener Werte) und schließlich auf die Probleme der Gegenübertragung (Verzicht auf die heimliche Durchsetzung eigener Triebwünsche)«. Bei Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund kann es sehr bedeutsam sein, nach einem modernen und modifizierten Abstinenzkonzept zu arbeiten, das heißt, nicht nur an den Raum zu denken, der den Phantasien und Möglichkeiten des Patienten zu las44

Therapietechnische Besonderheiten

sen ist und der durch eigene Aktivität nicht begrenzt werden soll, sondern auch, Nähe-Angebote der Patienten vor allem zu Beginn der Therapie anzunehmen und wirken zu lassen. So schildert Gerlach (2003), dass ein Therapeut im interkulturellen Kontext Schuldgefühle entwickeln könne, wenn er »auf in der eigenen Gesellschaft tabuisierte Verhaltensweisen mit offener oder geheimer Sympathie« reagiere: »Bei einem psychotherapeutischen Gespräch in China stellte mir die Klientin zu Beginn ganz selbstverständlich einen Becher hin, den sie mit einigen Blättern grünen Tees und heißem Wasser füllte. Ich genoss diese Aufmerksamkeit, die in China jedes Gespräch begleitet, hatte aber zunächst Mühe, über diesen Aspekt der Begegnung mit meinen analytischen Kollegen zu sprechen, da ich ihn als Verletzung des üblichen Abstinenzgebotes erlebte, derer ich mich nicht erwehrt hatte« (S. 329).

Geschenke für den Therapeuten oder die Therapeutin mitzubringen ist ebenfalls in vielen Kulturen ein wichtiges Zeichen von Annäherung und Wertschätzung  – sie abzulehnen kann das Entstehen einer Arbeitsbeziehung behindern. Erhellend ist im Beispiel von Utari-Witt (2015a) die Ablehnung der im Erstkontakt angebotenen kulturtypischen initialen Umarmung einer brasilianischen Patientin aus der eigenen authentischen kulturellen Zurückhaltung der Therapeutin heraus, aber das Einführen einer Umarmung an anderen Stellen der Therapie, als es sich für die Therapeutin »stimmig anfühlte« oder als »ich selbst das Bedürfnis hatte«. Utari-Witt sieht hierin keinen Bruch des Abstinenzgebotes, sondern Ausdruck einer »intersubjektiven Abgestimmtheit«. Analog zu sehen ist im Kontakt mit Patienten mit Migrationshintergrund das initiale Fragen nach Erfahrungen mit der Kultur oder dem Herkunftsland des Patienten, nach Sprachkenntnissen, Reisen oder nach der Bedeutung des Namens des Therapeuten oder der Therapeutin (in vielen Herkunftssprachen erschließt sich die Bedeutung des Vornamens sehr viel offener als im Deutschen). Dies dient oft einem üblichen Kennenlernprozess, und eine Ablehnung würde als rüde Abstinenz

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wahrgenommen. Ähnlich zu gewichten ist es, wenn die Therapeutin mit dem Begriff »Schwägerin« oder »große Schwester« angesprochen wird – als Mitglied der Familie angesprochen und quasi »adoptiert« zu werden öffnet einen Raum der Kommunikation, in dem Offenheit besser möglich ist und Schamaffekte (vgl. Abschnitt »Scham- und Schuldkonflikte«, S. 30 ff.) eingegrenzt sind. Auch hier würde eine Zurückweisung eines solchen »Verwandtschaftstitels« als das empfunden, was sie darstellt: ein Sich-nicht-Einlassen auf die Werte des Patienten und eben nichtabstinentes Durchsetzen der eigenen. Relevanter als das Annehmen kulturell üblicher Zuwendungsgesten und Höflichkeiten wäre das Befriedigen eigener Triebwünsche – etwa in Form narzisstischen Gewinns durch die Bestätigung eigenen Gutmenschentums –, was viel schwerer im Sinne eines Bruchs der Abstinenzregeln wiegen würde. Das kann sich etwa als Neigung äußern, eine Therapie nicht zu beenden, auch wenn das vom sonstigen Ablauf her geboten und möglich wäre. Wenig weit davon entfernt ist die mit dem Begriff der »Dominanzkultur« gut beschriebene überhebliche »freie« Wertewelt in Interaktion mit dem jeweiligen Patienten. Ein nichtabstinentes Durchsetzen eigener Werte wäre beispielsweise die Unterstellung der westlichen Notion der romantischen Liebesheirat und damit die Abwertung »vermittelter«, wenngleich freiwilliger Eheschließungen, welche die geringen Möglichkeiten des Sichkennenlernens außerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen in manchen Kulturkontexten ignoriert, oder auch das Aufoktroyieren eigener Männlichkeits- oder Weiblichkeitsbilder. So beschreibt Gün (2007) nach seinen Untersuchungen, dass in seinen Interviews sowohl Therapeuten als auch Patienten ihre Grundannahmen nicht infrage stellen, was eine gemeinsame Arbeit im psychodynamischen Sinne enorm erschweren kann. Oft diskutiert wird die Abstinenzregel im Hinblick auf das Ausstellen von Bescheinigungen für Behörden. Abstinenz hier so zu verstehen, dass äußere Realitäten nicht in der therapeutischen Situation berücksichtigt und beantwortet werden dürften, würde an die Grenzen des ethischen Selbstverständnisses stoßen. Allerdings ist auch 46

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immer wieder auf die Gefahr überengagierter und im Sinne der Anforderungen nicht professioneller Stellungnahmen für Ausländerbehörden aufmerksam gemacht worden, die letztlich dem Patienten nicht nutzen, da sie die Kriterien für Gutachten im Asylrecht nicht erfüllen. Romer (2016) formuliert das besondere Dilemma von Kindern in Asylbewerberfamilien so: »Patienten werden mitunter im Zuge der unsicheren Bleibeperspektive ihrer Eltern depressiv oder suizidal. Behandler werden von den Anwälten der Eltern nicht selten ersucht, die psychiatrische Behandlungsbedürftigkeit der Kinder als humanitären Bleibegrund zu bescheinigen. Die Gratwanderung besteht darin, sich als Behandlungsinstitution an der politischen Auseinandersetzung angemessen zu beteiligen, ohne dass die psychische Krankheit eines Kindes als ›einzig rettender‹ Bleibegrund einer Familie durch ärztliche Atteste ›zementiert‹ werden muss, was einer Chronifizierung einer Traumafolgestörung Vorschub leisten kann.« Technisch denkt Erim (2009c) darüber nach, ob der Einsatz von Märchen in der Psychotherapie in Form eines aktiven Erzählens seitens der Therapeutin einen Bruch der Abstinenzregel darstelle, die Patientin »versorge« und damit in Passivität fixieren könne. In Kindertherapien sind das gemeinsame Handeln, das Erzählen und die Aktivität der Therapeutin oder des Therapeuten per se gegeben, in der psychodynamischen Therapie im Sinne eines Sich-leiten-Lassens von den Phantasien des Kindes oder Jugendlichen. Märchen, Lieder, Geschichten aus der Heimat sind Kindern in der Migration nicht regelhaft überliefert worden; ebenso wenig kann eine Kenntnis der einheimischen, deutschen vorausgesetzt werden. Sehr oft eröffnet das gemeinsame Erzählen, Vorlesen, Singen hier wertvolle Erkenntnisse, inwieweit die Herkunftskultur bzw. die Herkunftskulturen der jungen Patienten diesen zugänglich sind. Das erfordert aus sich heraus eine stärkere Aktivität der Therapeutin und stellt keinen Bruch der Abstinenzregel dar, solange das »Versorgen« des Patienten im Blick des Übertragungs-Gegenübertragungs-Geschehens unter Einbezug der realen Generationendifferenz und des Erfahrungsabstands bleibt. Abstinenz

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Grenzen der Abstinenz in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen entstehen selbstverständlich dann, wenn eine Kindeswohlgefährdung besteht. Dabei muss einbezogen werden, dass das in Deutschland gültige elterliche Züchtigungsverbot in den einheimischen Gesetzen der meisten Herkunftsländer nicht etabliert ist und dass Familien zunächst oft zu rigideren Regulationsmechanismen wie verstärkter Kontrolle greifen als vor der Migration. Demgegenüber wird innerfamiliärer sexueller Missbrauch meist stark abgelehnt und bei Vorkommen tabuisiert. In solchen Fällen ist ein Heraustreten aus der therapeutischen Abstinenz zumindest insofern erforderlich, als der Schritt in die Konfrontation mit den Eltern gegangen und bei Unveränderbarkeit die Beratung mit dem zuständigen Jugendamt gesucht wird.

Timing Oft können Zuwanderer mit langen Schweigephasen der Therapeutin oder des Therapeuten in den Therapiesitzungen nicht gut umgehen. Es sei daran erinnert, dass das »Timing« der Interaktion zu einem sehr frühen Zeitpunkt, vor dem Spracherwerb, bereits eingeübt wird und dass unterschiedliche Kulturen unterschiedliche Schnelligkeiten in der nonverbalen und auch der verbalen Kommunikation aufweisen. Das trifft auch auf im Aufnahmeland geborene Kinder in Zuwandererfamilien zu. Langes Schweigen kann vor dem Hintergrund einer »schnell getakteten« und beziehungsintensiven Kultur, auch vor dem Hintergrund der Zugehörigkeitsbedürfnisse des Patienten, sehr schnell als komplette Ablehnung missverstanden werden und den Zugang initial sehr erschweren. Interessant ist hierbei der Hinweis von Beutel et al. (2010), dass dieses Erleben vor allem auf Patienten mit Schuld-Scham-Konflikten zutrifft (was bei Patienten mit Zuwanderungshintergrund häufig der Fall ist, vgl. Abschnitt »Scham- und Schuldkonflikte«, S. 30 ff.). Die offene Klärung des Erlebens der Interaktion beim Patienten kann hier befreiend wirken 48

Therapietechnische Besonderheiten

und einen wichtigen Fortschritt im gegenseitigen Verständnis markieren. Ein Kontakt haltendes »Hm-hm« therapeutischerseits schafft dann oft erst die Möglichkeit zu einer – im tiefenpsychologisch fundierten Vorgehen nur mäßiggradigen – Regression. Um mit ­Kächele und Mergenthaler (2006) zu sprechen: »So viel alltäglicher Diskurs als notwendig, um den Patienten genügend Sicherheit zu geben [Hervorhebung R. S.], und so viel analytischer Diskurs als möglich, um den Patienten in die neue analytische Welt einzuführen« (S. 284).

Technisches Vorgehen Therapietechnisch bietet es sich u. a. wegen der vorherrschenden Schuld-Scham-Dynamik an, wie in jeder psychodynamischen Therapie »von der Oberfläche in die Tiefe« zu arbeiten, zunächst auf IchStärkung und Über-Ich-Entlastung zu setzen und nicht deutend vorzugehen (vgl. Beutel et al., 2010). Auch ist darauf hinzuweisen, dass übertriebene Freundlichkeit verunsichern und Schamaffekte beim Patienten verstärken kann – hier ist seitens des Therapeuten besonders auf die Eigenübertragung zu achten. Der Umgang mit Übertragung in der Nähe zur Realbeziehung wird von vielen Autoren aus dem Feld betont. Therapeutinnen und Therapeuten in der interkulturellen Begegnung können sich der interpersonellen Dynamik schlechter entziehen und werden sich damit eher als teilnehmende Beobachter denn als objektive, neutrale Beobachter verhalten. »Übertragung wird dann weniger als ›einseitige Verzerrung‹ der zwischenmenschlichen Realität durch Patienten aufgrund der Reinszenierung kindlicher Konflikte gedeutet, sondern vielmehr als Inszenierung und ›Fehlinterpretation‹ einer Abfolge interpersoneller Ereignisse, zu denen Patient und Therapeut beigetragen haben« (Beutel et al., 2010, pos. 586). Die Verfasserin selbst hat mit bindungs- und mentalisierungsorientierten Vorgehensweisen positive Erfahrungen gemacht, die sehr gut zu den oben wiedergegebenen zugehörigkeitstheoretischen Technisches Vorgehen

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Konzepten und kollektivistischen Kulturhintergründen passen, ebenso zur Übertragungsfokussierung. »Die zentrale Philosophie ist, dass die therapeutische Beziehung einer Bindungsbeziehung gleicht, in deren Rahmen nicht mentalisierte Emotionen und ihre psychischen Repräsentationen erkundet werden können« (vgl. Taubner u. Volkert, 2017). Besonders bedeutsam ist die Erfordernis, zu Patienten mit Migrationshintergrund in Respekt ihrer Fremdheit und kultureller Differenzen eine Basis epistemischen Vertrauens herzustellen (Taubner u. Volkert, 2017, S. 17), stellt die »Integration von prozeduralen (Gebrauch) und semantischen Informationen (Symbolisierung)« doch ein zentrales Element dar, das in der Migration bewältigt werden muss, »um Teil der kulturellen Gemeinschaft zu werden und zu bleiben«. Dadurch wird die therapeutische Begegnung zu einem Ort, in dem ein Mikrokosmos an Vertrauensbildung in die »fremde« Umwelt entsteht. Dabei dürfen die Therapeuten eine eher aktive Rolle einnehmen – zunächst durch transparentes Mitteilen des erreichten Verständnisses, dann durch eher ostensive (klare und hinweisende) Kommunikationsformen und nicht zuletzt durch ein Achten darauf, wie mit der Wahrnehmung der sozialen Realität jenseits der Therapiebeziehung umgegangen wird. Die therapeutische Beziehung zu einem traumatisierten christlichen Flüchtling eritreischer Herkunft mithilfe einer einfühlsamen Sprachmittlerin war zunächst von Verwunderung durch dessen extrem wirkende kirchliche Orientierung geprägt. So umgab der 16-Jährige sich mit kirchlichen Symbolen und Heiligendarstellungen und gestaltete sein Zimmer wie einen Altar. Einmal verließ er in Panik die Kirche in seiner Gemeinde, als Flashbacks auftraten. Er fühlte sich schuldig, dass diese den heiligen Gottesdienst störten, und wähnte, er würde die kirchliche Umgebung damit zerstören. Solche impulsiven Weglaufhandlungen traten immer wieder auf, und der Jugendliche brachte sich dadurch stets in Gefahr (er fuhr »im Tunnel« kilometerweise mit dem Fahrrad, oder er kämpfte mit ihn auffindenden Beamten, vergaß 50

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die Ernährung etc.). Oft beschuldigte er Mitbewohner ungerechtfertigterweise des Mobbings, beklagte sich ebenfalls ungerechtfertigt über mangelnde Versorgung und war zu Differenzierungen nicht in der Lage (psychische Äquivalenz), was zu Gegenreaktionen der Umgebung führte. Versorgende und beschützende Elternfiguren waren ihm mental nicht verfügbar, vielmehr schien er voll von feindlichen Introjekten. Dahinter standen reale Mangelerlebnisse mit seinen Eltern, die ihn zunächst auf die Straße und dann auf die Flucht durch die Wüste mit erneuten Mangelerlebnissen und Todesnähe gebracht hatten. Die Therapeutin erinnerte sich an eine eigene »religiöse Phase« in der Pubertät und konnte ihm die fassadäre Religiosität als den Wunsch nach Containing und Fürsorge positiv spiegeln. Es wurde ein Rahmen mit »Vorrang von Sicherheit«, also stationärer Krisenaufnahme im Bereich der Therapeutin als Chefärztin, nach den Weglaufsituationen vereinbart. Das Erleben in realen Interaktionen mit der Umgebung konnte mithilfe der Sprachmittlerin und der Therapeutin, die jeweils abgestimmt unterschiedliche Aspekte einbrachten, zunehmend von verschiedenen Seiten beleuchtet und mit unterschiedlichen Gefühlen und Bewertungen belegt werden. Das Weglaufen nahm an Frequenz ab, und der Jugendliche erinnerte sich von Sitzung zu Sitzung besser an die vorherigen Inhalte. Zuletzt war ein humorvoller Austausch über verschiedene mimische und gestische Ausdrücke möglich, die in ihrer interkulturellen Übertreibung an die frühen Mutter-Säuglings-Interaktionen erinnerten.

Technisch bedeutsam ist für Patientinnen und Patienten mit Zuwanderungshintergrund vor allem die Affektfokussierung und die psychische Befindlichkeit des Patienten (sowie deren Ausdruck) in Bezug auf Alltagsfragen. Nachfragen des Therapeuten mit »anderem« Kulturhintergrund, wie genau die Abläufe waren, wie die innere Befindlichkeit des Patienten zu welchem Zeitpunkt war, dienen innerhalb dieser Therapietechnik der »empathischen Validierung«. Sie sind in einer interkulturellen Therapiebeziehung sowieso geboten und helfen dem Mentalisierungsprozess generell weiter. Technisches Vorgehen

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Im therapeutischen Vorgehen ist darüber hinaus die »Haltung der Neugierde« eingebettet, die sich ebenfalls als Prinzip für ­Zuwanderer anbietet. Bateman und Fonagy (2008) geben eine Reihe weiterer technischer Empfehlungen, wobei explizit darauf hingewiesen werden muss, dass dabei nicht unterstellt werden darf, Patienten mit Migrationshintergrund seien häufiger von Persönlichkeitsstörungen betroffen, wenn die an diesem Störungsbild entwickelten technischen Modifikationen empfohlen werden.

Symbolgebrauch Es kann nicht genug betont werden – jenseits der oben angeführten kulturellen Ausdrucksformen für Stress –, wie bedeutsam sprachliche und symbolische Repräsentationen in der Erstsprache sind. So ließ sich die Symptomatik eines elektiven Mutismus und einer Lernblockade in der Sprache des Aufnahmelandes von einem Jungen, dessen Vater sich nicht mit dem Großvater vor dessen Tod ausgesöhnt hatte, was die spirituelle Erbfolge störte, nach Nadig (2006) folgendermaßen klären: »Eine traditionelle Erklärung [in der Sprache des Herkunftslandes der Eltern, R. S.], sagt, dass ein Kind, das ein ›volles Gedächtnis‹ hat, das Gedächtnis der Ahnen in sich trägt (›enfant ancêtre‹). Das Bild des ›enfant ancêtre‹ ließ Issams Probleme plötzlich in einem neuen Sinn und bedeutungsvollen Licht erscheinen. Ein solches Kind muss respektvoll behandelt werden, weil es die Familienlinie, also auch die Linie zum Großvater, aufrechterhält. Ein solches Kind wird aber auch krank, weil Konflikte da sind, die der Vater mit seinem verstorbenen Vater und seiner Familie in Mali und die Mutter mit ihrer Vergangenheit lösen müssten. Das Schulwissen und das Französisch hätten Issam vom Großvater entfernt, doch er musste die gestörte Beziehung zu den Ahnen stellvertretend halten« (S. 76).

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Therapietechnische Besonderheiten

Bedeutungszuschreibungen, insbesondere Symptombeschreibungen in der Herkunftssprache der Patienten sollten regelhaft erfragt werden. Technisch kann es sinnvoll sein, über eigene bildhafte Sprache Schilderungen und Assoziationen des Patienten oder der Patientin anzuregen. Sehr häufig wird darüber berichtet, wie sehr durch diese therapeutische Arbeit auch die Phantasie des Therapeuten selbst angeregt wird, sodass die Behandlung als bereichernd erlebt wird, was sich auch auf die Behandlung von Patienten mit gleichem Kulturhintergrund auswirkt. Der Gebrauch von Märchen in der Therapie knüpft nach Erim (2009c) an die Tradition im Nahen Osten an, dass aufgesuchte Weise oder Ältere den Hilfesuchenden durch Märchen oder eine Geschichte helfen, die Lebenssituation zu verstehen und Lösungen zu finden. An aus der Heimat bekannten Märchen und Symbolfiguren sei es möglich, typische Konfliktkonstellationen zu erhellen (Erim, 2009c). Vor allem in Familien ländlicher Herkunft wird mehr mit Narrationen und Überlieferungen denn mit Büchern gearbeitet. Erim konnte starke Ähnlichkeiten in den Märchen feststellen, welche die typischen Grundkonflikte von ödipalen Konstellationen, Individuation und Loslösung, Trennungsschuld und sexuellem Begehren u. a. m. symbolisieren. Für Kinder, die aus einer diesen Erzählkulturen noch nahen Sozialisation stammen, ist es sehr gut möglich, über Bilderbücher oder große, altmodische Märchenbücher – durchaus auch mit einheimischen europäischen Märchen – in die Erzähl- und Phantasiewelten einzusteigen. Der einheimische Therapeut, die einheimische Therapeutin tut allerdings gut daran, sich, sofern möglich, über Erzählungen und Märchen aus dem Herkunftsland der Patienten zu informieren, um deren Einfälle zu verstehen. Bei vielen Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist bereits eine Patchworkwelt aus verschiedensten Symbolisierungen der Film-, Trickfilm-, Spielfiguren-, Videospiel- und Musikvideo-Welt entstanden (v. a. vor dem Hintergrund des in Zuwandererfamilien oft sehr stark ausgeprägten Mediengebrauchs), die zu erkunden für einen eher konservativen einheimischen Therapeuten verwirrend erscheinen mag. Symbolgebrauch

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Spieltherapie mit Kindern eines fremden kulturellen Hintergrundes, Kindertherapeutinnen und -therapeuten sehr geläufig, muss berücksichtigen, dass die Formen des kindlichen Spiels vor einem anderen Kulturhintergrund durchaus andere sein können. So erläutern Borke und Keller (2014, S. 112 f.), dass das Symbolspiel in ländlichen und kohäsiven Kulturen mit Verbundenheitsorientierung weniger bedeutsam hinsichtlich der Entfaltung von Phantasien sei als hinsichtlich der Aneignung der Erwachsenenwelt. Daher werde das Spiel von den Erwachsenen weniger gefördert und auch deutlich mehr dominiert, »da es eben mehr um Wissensvermittlung als um Selbstentfaltung geht«. Eine »Unfähigkeit zum Spiel« sollte daher nicht pathologisiert werden, sondern die schüchterne Unfähigkeit, sich Spielmaterialien auszusuchen, oder ausagierend-expansives Verhalten im Spielzimmer erklären sich aus den bisherigen Erfahrungen enger Anleitung. Eigenentscheidungskompetenz, so die Autoren weiter, müsse auch als Entwicklungsziel mit den Eltern vereinbart werden, und es sei wichtig, dass Eltern Freispielzeit nicht als »verlorene Zeit« auffassen. Spiel-Inszenierungen in der Traumatherapie können dennoch, da realitätsnah, stets eingesetzt werden. Bei Flüchtlingskindern sind Erfahrungen mit Spielzeug nicht regelhaft vorauszusetzen, sofern diese einem Hintergrund entstammen, in dem einerseits aus Gründen der Armut, andererseits aus den gesellschaftlichen Einstellungen zum Spiel heraus die Welt mit Gegenständen des Alltags erschlossen wird.

Ansprechen »kulturimmanenter Abwehr« Utari-Witt (2015a) macht mit Verweis auf Akhtar (2007) auf das Phänomen der »kulturimmanenten Abwehr« aufmerksam. So kann zum Beispiel bei nicht aushaltbaren Affekten das Verhalten des Therapeuten vom Patienten in der Übertragung als kulturspezifische Haltung des Therapeuten interpretiert werden (in ihrem Beispiel war es »deutsche Kälte«, gedoppelt mit der Herkunft der Therapeutin 54

Therapietechnische Besonderheiten

als »deutsche und asiatische Kälte«), was einer Einsicht entgegenstehe. Akhtar beschreibt, »dass Patienten oft versuchen, sich durch die Beschwörung kultureller Probleme von den psychischen Tiefen der Übertragung und den dabei entstehenden Wünschen zu distanzieren«, und benennt das Phänomen auch als »kulturelle Rationalisierung intrapsychischer Konflikte« (S. 138). Dabei brauche es allerdings Taktgefühl und die Wahrung optimaler Distanz. Sehr differenziert schildert Utari-Witt (2015a) die eigene Gegenübertragung auf das von ihr als »manische Abwehr« interpretierte überlebendige und affektualisierte Auftreten der brasilianischen Patientin. Dabei geht es auch um von Utari-Witt als »destruktives Lachen« empfundene Entäußerungen der Patientin im Gegensatz zu einem humorvoll-gesunden Belustigtsein. Mit dem Lachen wurden empfindliche und ernsthafte Situationen in ihrem affektiven Bedeutungsgehalt abgewehrt. Interessant ist hier technisch das geduldige, auch zeitversetzte und mehrfache Ansprechen dieses Phänomens durch die Therapeutin (S. 84). Machleidt und Gün (2011, S. 411) beschreiben die »kulturelle Abwehr als Camouflage ethnischer Benachteiligung«. Hartnäckige Klagen über ethnische Benachteiligung seien zunächst »in ihrem Kern als Realität anzuerkennen, um den Weg für die Analyse des darunterliegenden innerpsychischen Konfliktes frei zu machen«. Die Autoren berichten über ein Beispiel eines jungen Mannes, der seinen Versorgungs-Autarkie-Konflikt in den angeblich unabweisbaren gesellschaftlichen Widersprüchen externalisiert hatte. Eine weitere migrationstypische Abwehrformation beschreiben Machleidt und Gün (2011) in Form einer Idealisierung von Objekten in der Herkunftskultur der Vergangenheit (Nostalgie) oder auf die Zukunft gerichtet (Remigrationsphantasie). Bei Flüchtlingen und Exilanten könne sich diese auch als »vergiftete Nostalgie« oder als Verbitterung äußern: »Der Exilant muss die Liebe zur Heimat so verweigern, wie der Migrant sie in seinem nostalgischen Sehnen übertreiben muss« (S. 414). Dabei sei eine Verbindung der »bitteren« und »süßen« Erinnerungen therapeutisch anzustreben zur Aufhebung der Ansprechen »kulturimmanenter Abwehr«

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Spaltung. »Eine Wiederentdeckung der Zuneigung zum Herkunftsland führt erst zu einer echten Bindung an das Aufnahmeland«, und erst diese Integration öffne den Weg zu einer positiv erlebbaren Gegenwart. Auch Romer (2016) weist bei Flüchtlingsfamilien darauf hin, dass das ganze Möglichkeitsspektrum – des Bleibens oder der Remigration – dem Therapeuten präsent bleiben müsse, und fordert insofern ein »prozesshaftes Biografieverständnis«.

Erweiterung durch systemische Techniken Yilmaz (2006) weist darauf hin, dass in der Einzeltherapie schnell Loyalitätskonflikte der Patienten gegenüber Familienmitgliedern auftreten können, allein durch das Aufsuchen einer außerfamiliären Hilfe. Auch im Einzelsetting sei daher der Gebrauch von Techniken hilfreich wie der des zirkulären Fragens. Ebenso bedeutsam sei das Erfragen der internalisierten Familienhierarchien (»Ohne wen läuft nichts?«). In diesem Zusammenhang ist auch an weitere Techniken wie Genogrammarbeit oder die Symbolisierung von Beziehungen in ihrer Nähe und Distanz durch das Familienbrett (oder einfache andere Gegenstände, z. B. Büroklammern) zu denken. Konkret bietet es sich im klinischen Alltag an, für die Therapeutin unüberschaubare Großfamilienstrukturen mit systemischen Techniken darzustellen. So kann ein aus einem entfernten Land »hineinregierender« Großvater auf dem Familienbrett dargestellt werden, es können Familienhierarchien mit Erhöhungssteinen plastisch gemacht werden, und nebenbei erzählt sich eine Familiengeschichte en passant auch unter Gesichtspunkten der transgenerationalen Transmission ganz anders als »abstrakt«. Dadurch sind unsichtbare Bindungen, Loyalitäten und auch Tabuzonen sichtbar zu machen, was den Erkenntnisfortschritt sowohl für Therapeuten als auch Patienten enorm verkürzen kann. In der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen bekannt geworden ist die Lifeline-Technik, die sich insbesondere bei Afrikanern an die 56

Therapietechnische Besonderheiten

Notion der Kontinuität zwischen Vergangenheit und Zukunft anlehnt und es ermöglicht, besondere Situationen in der Biografie zu symbolisieren und darüber zu Narrationen zu gelangen. Letztlich dienen Anleihen an diese Techniken der Verbesserung der Symbolisierungsfähigkeit im interkulturellen Kontext und haben im psychodynamischen Zusammenhang dann Sinn, wenn sie den Aufbau einer therapeutischen Beziehung fördern, das heißt seitens des Therapeuten nicht eine »Verschiebung auf ein Drittes« in Unsicherheitssituationen als ein Gegenübertragungsagieren darstellen, sondern dem aktiven, tieferen Verständnisinteresse Ausdruck verleihen. Wird Familientherapie anstelle von Elterngesprächen im bifokalen Setting bei Kindern und Jugendlichen durchgeführt, kann es wichtig sein, alle in Deutschland anwesenden bzw. alle für die Gesundheit von Kindern bedeutsamen Mitglieder der Familie einzubeziehen. Es bieten sich dann systemische Techniken per se an. Dabei ist die Familienhierarchie, die sich durch das Einbeziehen etwa der Großelterngeneration oder eines älteren Onkels nochmals gänzlich anders darstellen kann, im Adressieren zu beachten, um eine Beschämung des Familienoberhauptes in dessen Außenvertretungsfunktion zu vermeiden.

Arbeit mit Sprach- und Kulturmittlern, Dolmetschern, Mediatoren Die Wortwahl ist je nach Literaturstelle unterschiedlich. Am ehesten weist der Begriff »Mediator« darauf hin, dass demjenigen, dem die Sprachübermittlerrolle zukommt, gleichzeitig die Vermittlung zwischen Therapeut und Patient auf Augenhöhe zufällt. Der Begriff »Dolmetscher« ist belastet durch stereotype Vorannahmen wie die des »wörtlichen Übersetzens«, was im interkulturellen therapeutischen Kontext nicht möglich und auch nicht erwünscht ist, da für das Gelingen von therapeutischem Verstehen mit dem gesprochenen Text oft Einbettungen in kulturelle Bedeutungen erforderlich sind. Darüber Arbeit mit Sprach- und Kulturmittlern, Dolmetschern, Mediatoren

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hinaus sorgt ein Mediator oft für eine Aufklärung des Therapeuten über wesentliche Gegebenheiten des Herkunftskontextes, die diesem nicht geläufig sein können. Vor allem für diese Modifikation im Behandlungssetting kommt eine Variante der psychodynamischen Therapie zum Tragen, wie sie bei Beutel et al. (2010) mit dem Begriff »Therapie als teilnehmender Beobachter« beschrieben worden ist. Unter idealtypischen Bedingungen ist der Mediator oder die Mediatorin ein kontinuierlich in der Behandlung anwesender, akademisch gebildeter, reflexions- und introspektionsfähiger Mensch, der eine Behandlung positiv trianguliert und sich als Identifikationsfigur für die Patienten anbietet. »Professionelle Dolmetscher sind idealerweise akademisch gebildete Menschen mit eigener Migrationserfahrung und bikultureller Kompetenz sowie interkultureller Identifizierung, die auch ein abstrakt verfügbares kulturelles Wissen haben. Nur diese Gruppe ist cotherapeutisch einsetzbar« (Schepker u. Toker, 2009, S. 54). Die Sitzordnung im gleichschenkligen Dreieck sollte dieses cotherapeutische Potenzial widerspiegeln. So schildert Bakhit (2015) die gemeinsame Arbeit mit Sprachmittlern in der Gruppe positiv: »Beim Sprechen fungierte das Übersetzen so ähnlich wie ein Puffer, der die intensiven, durch das Gespräch ausgelösten Affekte erst einmal abfing und den Erzählern und mir eine langsame Einstellung auf den Gesprächsinhalt ermöglichte. Während der Zeitverzögerung des Übersetzens wurden alle Beteiligten vor einer möglichen Reizüberflutung und Retraumatisierung geschützt. Ermöglicht durch die jeweiligen Pausen konnte man den anderen beobachten, was nonverbale Identifizierungsprozesse erleichterte. Andere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem beginnenden Mentalisierungsund Integrationsprozess« (S. 137). Kluge (2011) vergleicht die Situation einer psychodynamischen »Arbeit zu dritt« mit der frühkindlichen Triangulierung. Das bedeutet letztendlich eine hohe Bedeutung auch der Beziehung von Therapeut und Sprachmittler untereinander für die Entwicklung des Patienten, vor allem wenn dieser zwei Erwachsenen im Einzelsetting gegen58

Therapietechnische Besonderheiten

übersitzt. Dabei wird eine Situation des »transkulturellen Übergangsraums« geschaffen, die analog zum »Übergangsraum« nach Winnicott gefasst werden kann. Letztlich können sich alle triadischen Konflikte hier widerspiegeln – ob sie nun eine Trennungsangst des Patienten oder der Patientin darstellen, Beziehungswünsche oder auch Widerstände, sich auf neue kulturelle Deutungsmuster einzustellen. Bei jüngeren Mediatoren und Jugendlichen als Patienten – das ist häufiger der Fall bei Ethnizitäten afrikanischer oder fernöstlicher Herkunft – kann sich zwischen Sprachmittler und Patient eine »Geschwistersolidarität« entwickeln, die einerseits identifikatorisch förderlich ist, andererseits auch Widerstände befördern kann, vor allem dann, wenn ein Dolmetscher unbewusst die Rolle des großen Bruders übernimmt und der Patient in Passivität verharren kann. Belz und Özkan (2017) sowie auch Kluge (2011) geben darüber hinaus einen sehr umfassenden Überblick über die Probleme der Arbeit mit Dolmetschern bzw. Sprachmittlern. Sie betonen, dass geachtet werden müsse auf deren Neutralität gegenüber dem Patienten, die Fähigkeit zur Selbstreflexion, die Sorgfalt im Sinne des Übersetzens auch seltsamer oder nicht sinngebender Inhalte. Auch auf Abstinenz im Sinne des Abstandnehmens von eigenen Interventionen und Wertäußerungen sei Wert zu legen, und die psychischen Belastungsgrenzen des psychiatrischen Laien, je nach eigener Migrationsgeschichte des Sprachmittlers, seien stets im Blick zu halten. Daher empfehlen die Autoren, nach jeder Therapiesitzung ein Nachgespräch mit dem Sprachmittler zu führen. Nicht oft genug kann auch darauf hingewiesen werden, dass sich Familienmitglieder für diese Rolle nicht eignen, da sie die wichtige Eigenschaft einer Neutralität gegenüber dem Patienten nicht erfüllen können und zugunsten des weiteren Zusammenlebens Höflichkeitsund Schamgrenzen besonders klar einhalten müssen. Letztlich hat sich für eine psychodynamische Therapie Kontinuität und Integrität des Mediators, der Mediatorin als unabdingbar erwiesen. Um eine Finanzierbarkeit der Sprachmittlung wird nach wie vor noch gerungen; für die ambulante Richtlinientherapie wurden mehArbeit mit Sprach- und Kulturmittlern, Dolmetschern, Mediatoren

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rere ablehnende höchstrichterliche Urteile gesprochen. Lediglich für die Behandlung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen hat sich mittlerweile eine Finanzierung über die Jugendämter durchgesetzt. Passend zu ersten Forschungsergebnissen über die Wirksamkeit von Psychotherapie mit Sprachmittlern (Brune, Eiroá-Orosa, Fischer-Ortman, Delijaj u. Haasen, 2011; D’Ardenne, Ruaro, Cestari, Fakhoury u. Priebe, 2007) lassen sich erfahrungsbasiert vor allem in Krisensituationen etliche Problemstellungen mithilfe einer soliden Mediation schneller und besser – und damit auch ökonomischer – bewältigen (Schepker, 2017).

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Therapietechnische Besonderheiten

4 Die Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin

Viel ist darüber geschrieben worden, welche bewussten und unbewussten Motivationen mit der Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin verbunden werden, aber wenig darüber, welche Dynamiken und auch welche therapietechnischen Möglichkeiten durch die Wahl der einen oder der anderen Konstellation entstehen. Utari-Witt (2015b) leitet ab, dass die Auffassung, eine psychodynamische Therapie solle am besten in der Erstsprache stattfinden, heute extrem anachronistisch sei. Auf den Anachronismus der, verglichen mit vielen Regionen der Welt, überkommenen Haltung: »Eine Sprache, eine Nation« sei in diesem Zusammenhang hingewiesen – weltweit ist Mehrsprachigkeit die Regel –, aber auch darauf, dass »der Elite-Mehrsprachigkeit […] die ArmutsMehrsprachigkeit mit den weniger gelernten Sprachen der Flüchtlinge und Migranten Afrikas und Asiens gegenüber [steht]« (Krumm, 2017). Umso mehr verstört eine »monolinguale Haltung«, als Kinder und Jugendliche eine Zweit- oder Drittsprache in der Regel schneller erwerben als Erwachsene. Auch werden weniger kortikale Assoziationsfelder aktiviert, je früher eine weitere Sprache erworben wird, so dass die funktionelle Repräsentanz der Erstsprache im Gehirn sich von derjenigen der zweiten und dritten kaum noch unterscheiden muss (Hoffmann, 2017).

Bikulturelle Therapeuten Als bikulturell können Therapeutinnen und Therapeuten bezeichnet werden, die sich souverän in der Sprache und Kultur eines Herkunftslandes bewegen und ebenso in der Sprache und Kultur des Aufnahme61

landes. Hierzu gehören die selbst migrierten Therapeuten, aber auch die »Postmigranten«, eine Bezeichnung Charliers (2016) für die sogenannte zweite Generation, die nicht selbst migriert ist und nach dem Mikrozensus als »mit Migrationshintergrund« eingruppiert wird. Dabei sind nicht alle dieser Therapeuten genuin bikulturell, denn je nach Familienkonstellation und politischer Situation wird die Sprache des Herkunftslandes der Eltern mehr oder weniger gut beherrscht und sind Kulturkontakt und -wissen mehr oder weniger gut vorhanden. »Bikulturell zu sein bedeutet, sich mit Produkten zweier Kulturen zu identifizieren und mit der Identifikation zwischen zwei Kulturen hin- und herzupendeln« (Hettlage-Vargas, 1992). Haid et al. (2010) verweisen auf ein etwas moderneres Konzept, in dem an die Stelle einer zweiten Kultur die der westlichen Globalisierung gesetzt wird. Eine »freie Sprachwahl« in der Therapie mit dem damit verbundenen »Code Switching« der Postmigranten ist für Zuwanderer nur bei Therapeuten möglich, die beide Sprachwelten kennen. Das konstituiert für die Patienten, die selbst migriert sind, eine Vertrautheit hinsichtlich der Herkunft, für Patienten, die »Postmigranten« sind, eine Nähe hinsichtlich der von beiden geteilten Erfahrungswelten. So beschreibt Odag-Wieacker (2016) aus einer Kindertherapie eines Jungen, dessen Eltern beide die Heimat idealisierende türkeistämmige Migranten sind: »Es fällt mir auf, dass er emotionale Inhalte und Verbote auf Türkisch formuliert, während er sachbezogene Dinge auf Deutsch äußert. Ich spiegele ihm auf Türkisch Formuliertes in der deutschen Sprache wider. Damit scheint sich zum einen eine regressive Seite aufzulösen, und zum anderen erfährt er die Entschärfung archaischer Vorstellungen und Verbote« (S. 83 f.).

Einer einheimischen Therapeutin wäre diese Intervention nicht möglich gewesen, und es hätte in der Therapie anderer Wege bedurft, dem Jungen das Betreten des Aufnahmelandes auch emotional zu ­ermöglichen. 62

Die Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin

Utari-Witt (2015b) verweist darauf, dass das Benutzen der Zweitsprache häufig in den Dienst der Abwehr infantiler Phantasien und Wünsche gestellt werden kann, und unterstreicht die Notwendigkeit einer schrittweisen Integration mit der Erstsprache, indem Sprachwechsel und erstsprachliche Assoziationen zugelassen werden, sofern der Gebrauch der Erstsprache von den Patienten nicht gewünscht ist. Analog eine Intervention, die nur ein bikultureller Therapeut machen kann: Die stationäre Aufnahme eines an sozialphobischen Ängsten leidenden 17-Jährigen aus einer Zuwandererfamilie in Großfamilienstruktur scheitert an dessen Verweigerung. Der bikulturelle Therapeut macht einen Hausbesuch, wo der Jugendliche, umsorgt von den Frauen in der Familie, im Bett liegt. Vater und Onkel geben sich hilflos, berichten kompensatorisch von ökonomischem Erfolg und Rückkehroptionen in die Türkei. Der Therapeut interveniert mit »So kann der Junge nicht zum Militär!« und lädt den Patienten und die Familie in den Rahmen »seiner Klinik« ein. Diese Intervention führt zur baldigen, durch Vater und Onkel begleiteten Behandlung (Toker, persönliche Mitteilung).

Darüber hinaus sind Therapeutinnen und Therapeuten mit bikulturellem Hintergrund diejenigen, die »angekommen« sind im Aufnahmeland, sodass mit ihnen besonders viel Sicherheit assoziiert wird, da sie sich auskennen. Das gilt vor allem für Migranten mit nur geringer Sprachkompetenz in der Sprache des Aufnahmelandes, die auf erstsprachliche Therapeuten angewiesen sind. Özdaglar (2015a) weist auf die damit verbundene erhöhte Übertragungsbereitschaft hin: »Der Beitrag des Analytikers zur Übertragung« müsse auch insbesondere dann beachtet werden, »wenn sie [Therapeut und Patient, R. S.] sich, aus der gleichen Kultur stammend, in einem anderen Land begegnen. In einem anderen Land in der Muttersprache kommunizieren zu können, ruft häufig eine viel stärkere Übertragungsbereitschaft hervor, die nur richtig verstanden werden kann, wenn diese äußere Realität mitbedacht wird« (S. 95). Bikulturelle Therapeuten

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Bikulturalität als »zwei kulturelle Identitäten« wird weiterhin als der Idealfall angesehen (Charlier, 2016). Kritische Anmerkungen, das stehe eher nur Intellektuellen der höheren Sozialschichten offen, verkennen, dass diese Auffassung ebenfalls geeignet ist, soziale Differenzen zu zementieren.

»Andere« = einheimische Therapeuten Das »Andere« beschreibt hier, dass der meist monokulturell deutsch sozialisierte Therapeut Patienten mit Migrationshintergrund behandelt, für die Patienten dann in deren Zweit- oder Drittsprache. Nicht unerheblich ist es – hierauf weisen auch Machleidt und Gün (2011) hin –, zu welchem Zeitpunkt die Zweitsprache erworben wurde und wie leicht Konnotationen und Assoziationen in der Zweitsprache fallen. »Lockerungen in der Zweitsprache« sind vielfach beschrieben. So wird es einigen Patientinnen und Patienten besonders leichtfallen, schambesetzte Inhalte in einer anderen als der Familiensprache zu besprechen, häufig vorkommend beim Thema Sexualität. Auch kann die klare Ausweisung des Therapeuten als »ganz anders« als die Familie durch den anderen Kulturhintergrund die Übertragungsbereitschaft des Patienten fördern. Allerdings wird es technisch wichtig sein, die therapeutischen Erfahrungen so zu integrieren, dass neue Lösungen nicht im Herkunftskontext blockiert bleiben. Darüber hinaus ist es für einen kulturfremden Therapeuten besonders leicht, Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen. Dazu gehören vordergründig naive, dumme, aber der Klärung sehr hilfreiche Fragen, die dem Patienten »fremd« vorkommen und durch das Entstehen eines expliziten Verstehensprozesses die Mentalisierungsfähigkeiten sehr fördern. Gegenüber der Dynamik bezogen auf die Herkunftsfamilie kann das Aufsuchen einer Therapeutin oder eines Therapeuten der Majoritätskultur besonders schwerfallen und Misstrauen und Trennungsängste erzeugen – es können aber auch primäre Idealisierungen der 64

Die Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin

»westlichen Medizin« entstehen, die Trennungsängste abwehren. Andererseits kann eine Sehnsucht nach Akzeptanz in der Außenwelt durch das Angenommensein bei einem ihrer Vertreter befriedigt werden. Dadurch, dass dieser Therapeut »ganz anders« als das Herkunftsmilieu ist, das heißt, im Binnenverhältnis nicht als bedrohlich phantasiert wird, müssen Loyalitätskonflikte nicht befürchtet werden.

»Andere« = immigrierte Therapeuten und Beziehungen in der Zweitsprache des Therapeuten, aber Erstsprache des Patienten Die Situation des »immigrierten Therapeuten« wurde zuerst von Akhtar (2007) beschrieben. Dieser teile nicht die gleichen kulturellen blinden Flecken mit seinen Patienten und sei nicht geneigt, Dinge als selbstverständlich zu betrachten. Oft zeichneten sich diese Therapeutinnen und Therapeuten durch eine besonders große Empathiefähigkeit aus. Akhtar betont, wie sehr seine indische Herkunft ihn achten lasse auf nonverbale Kommunikation, da Worte »nur einen kleinen Teil des großen Speichers an Zeichen und Semiotik bilden« (S. 165). Die Tatsache, dass die Konstellation des eingewanderten Analytikers sich in der Literatur bisher kaum niedergeschlagen habe, führt Akhtar auf den Flüchtlingsstatus der meisten in die USA eingewanderten Analytiker zurück, die aus Gründen eigener Abwehr das Thema lange beiseitegelassen hätten. Technisch sei zu beachten, dass eingewanderte Therapeutinnen und Therapeuten öfter Fragen stellen müssten, aufgrund fehlender idiomatischer Gewandtheit, und dass die Spannung zwischen dem moralischen Diktat der eigenen und der Aufnahmekultur tendenziell größer sei als bei Einheimischen und ausgehalten werden müsse. Auch müsse der Impuls, in der eigenen Muttersprache zu intervenieren, im Rahmen der Gegenübertragung analysiert werden. Eigenübertragungsaspekte (vgl. Abschnitt »Zur ›Eigenübertragung‹ der Therapeuten«, S. 17 ff.) gelten selbstverständlich auch für »Andere« = immigrierte Therapeuten

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­migrierte Thera­peuten; in der Behandlung von Kindern und Jugendlichen können hier besonders unreflektierte Haltungen zur Kindererziehung und zur Familienbindung bedeutsam werden. Akhtar (2007, S. 48) berichtet über einen nach Japan migrierten westlichen Therapeuten, der sich verwundert habe, dass sein Ansprechen der »feindseligen Abhängigkeit von Elternfiguren« die Patienten jeweils in tiefe Depression gestürzt habe. Eigenübertragungen können sich aber auch auf eigene strengere Über-Ich-Haltungen in Hinsicht auf Ehrgeiz und Bildungsziele beziehen, die unbewusste Neidgefühle aufgrund der Entbehrungen der eigenen Migration überdecken mögen. Seitens der immigrierten Therapeuten wird oft betont, wie wichtig die selbstverständliche Behandlung von Patienten der Mehrheitskultur dafür ist, nicht mit den Patienten der eigenen Herkunftskultur institutionell marginalisiert zu werden (Schepker u. Toker, 2009, S. 155 f.), das heißt, der andere Kulturhintergrund ist als Zusatzqualifikation, nicht als Defizit anzusehen. Die Praxis mancher Kassenärztlichen Vereinigungen, in Regionen mit hohem Migrantenanteil Zulassungen im Rahmen von Sonderbedarf anzuerkennen, eine Zulassung aber nur für die Behandlungen von Angehörigen der Herkunfts-Ethnizität zu vergeben, ist daher abzulehnen.

»Andere« = immigrierte Therapeuten und Beziehungen in der Zweitsprache beider Treffen zugewanderte Patienten des einen Herkunftslandes auf eine Therapeutin oder einen Therapeuten eines anderen Herkunftslandes im gemeinsamen neuen Aufnahmeland, schafft die Gemeinsamkeit des Migrationshintergrundes eine Verstehensbasis. Da beide sich in einer Zweitsprache treffen, kann ein »von Scham weitgehend freier Kontext« entstehen (Utari-Witt, 2015b). »Nach Utari-Witt müsse man in der Arbeit mit Migrationspatienten […] gewahr bleiben, wie tief und breit die gemeinsame Zweitsprache (in meinem Fall Deutsch) in das Affekt-, Denk- und Assoziationssystem meiner Patientinnen ein66

Die Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin

gedrungen ist« (S. 305), aber die erlernte Sprache biete einen gewissen Schutz vor dem Überflutetwerden mit Affekten, was angstreduzierend wie der Vorhang im Beichtstuhl erlebt werde und gegebenenfalls den Zugang zu unbewusstem Material erleichtere. Sie führt aus, dass nach der Theorie unbewusste Inhalte nicht an Sprache gebunden sind. Die Zweitsprache oder Drittsprache führe somit jeweils »zu einer Erweiterung des repräsentationalen Systems«. In einer psychodynamischen Therapie werden möglicherweise beim Bewegen in einer Zweitsprache der Stimmklang, die Intonation und Prosodie besonders bedeutsam und ermöglichen das Aufkommen kindlicher Wünsche und Beziehungserfahrungen, dann auch korrigierender emotionaler Erfahrungen in besonderer Weise (vgl. auch Kächele u. Mergenthaler, 2006). Dieses alles technisch überschreitend schildert Bakhit (2015), wie sie im Kontakt mit jugendlichen Flüchtlingen sich Begriffe in der Erstsprache erklären lasse und versuche, diese laut zu wiederholen, um Begegnungen im interkulturellen Raum zu vertiefen. Sie beobachtete eine Veränderung ihrer eigenen Intonation im Umgang mit Zuwanderern.

Ein Arbeitsbündnis mit migrierten Jugendlichen kann schneller entstehen, wenn diese phantasieren können, dass ihre negativen und Ausgrenzungserfahrungen ebenso geteilt werden können wie ihre Hoffnungen in der Aufnahmekultur. So machte eine immigrierte Therapeutin einem Jugendlichen ein meines Erachtens durchaus zulässiges, weil die Beziehung klärendes Übertragungsangebot in der ersten Sitzung: »Wir beiden sind die einzigen Migranten auf dieser Station.« Die Behandlung verlief erfolgreich.

Charlier (2016) sieht besondere Chancen in interkulturellen Begegnungen migrierter Therapeuten und migrierter Patienten eines ähnlichen, aber anderen Hintergrundes. Dieses sei der Zwischenraum, der sogenannte Dritte Raum, welcher sich zwischen der Kul»Andere« = immigrierte Therapeuten

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tur des Therapeuten und der des Patienten öffnen müsse. Das wird möglicherweise durch die gemeinsame andere Aufnahmekultur besonders evident. »Erst die Akzeptanz und Anerkennung der kulturellen Verschiedenheit erlauben das Gelingen einer affektiven Bindung […] an die neue Kultur. Die offene Tür psychotherapeutischer Praxen, Beispiel einer symbolischen Tür für Migranten, eröffnet den triangulären Raum, vermeidet die Spaltung der Kulturen und übernimmt eine gesellschaftlich integrative Funktion« (S. 186).

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Die Wahl des Therapeuten oder der Therapeutin

5 Abschließende Bemerkungen

Dieser kleine Band soll dazu beitragen, die wahrscheinlich in den nächsten Jahren stark ansteigenden Therapiebedarfe von Patientinnen und Patienten mit Migrationshintergrund zu bewältigen und zu belegen, dass das psychodynamische Vorgehen bei sorgfältigem Einsatz des bewährten Handwerkszeugs kultursensibel weiterentwickelt werden kann. Wenn allein die verfügbaren Daten über die 2015 nach Deutschland eingewanderten Kinder und Jugendlichen hochgerechnet werden, kommen auf jeden Kinderpsychiater und jede Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in den nächsten Jahren zehn Patienten mit Migrationshintergrund zu. Für ein »Wir schaffen das« braucht es selbstverständlich mehr als den Inhalt dieses Buches und menschliche Bereitschaft: Es braucht auch gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen. Wie diese zu schaffen sind, ist hier ausgelassen worden, die Notwendigkeit ist jedoch augenscheinlich und unbestreitbar. Von daher verbleibt dieser Band im Bereich des Subjektiven und des Fachlichen der Therapeutinnen und Therapeuten. Mir persönlich hat die Beschäftigung mit den »anderen« Patienten in etlichen Jahren viele neue Denkanstöße, praktische Erfahrungen und Reflexionen meines therapeutischen Selbst geschenkt. Letztlich ist psychodynamische Therapie mit Zuwanderern für alle, auch und insbesondere für die einheimische Gruppe der Therapeutinnen und Therapeuten kulturbildend. Wenig reflektiert wird, dass sich unsere eigene Kultur mitentwickelt und verändert und dass auch unsere Entwicklungstheorien sich vor dem Hintergrund des Kontaktes mit »Fremdem« weiterentwickeln müssen: 69

»Statt Kultur mit dem Bekannten, Vertrauten, seit jeher Familiären gleichzusetzen, sollte man sie einmal auf das Fremde beziehen: Kultur ist nämlich das, was in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht; sie ist gewissermaßen das Produkt der Veränderung des Eigenen durch die Aufnahme des Fremden. […] Während der Adoleszenz muss das Individuum den Übergang von der Familie zur Kultur vollziehen, in dieser Phase konstelliert sich auch der antagonistische Konflikt zwischen Familie und Kultur, der für die Strukturierung der Psyche von ebenso großer Relevanz ist wie der ödipale Konflikt in der Kindheit.« (Erdheim, 1993, S. 279)

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Abschließende Bemerkungen

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