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German Pages 458 Year 2015
Kay Kirchmann, Jens Ruchatz (Hg.) Medienreflexion im Film
Film
Medienreflexion im Film. Ein Handbuch Herausgegeben von Kay Kirchmann und Jens Ruchatz Unter Mitarbeit von Boris Goesl und Peter Podrez
Gefördert durch die Dr. German Schweiger-Stiftung an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg und den Universitätsbund Erlangen-Nürnberg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung: Wie Filme Medien beobachten. Zur kinematografischen Konstruktion von Medialität KAY KIRCHMANN/JENS RUCHATZ
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FILMISCHE (RE-)KONSTRUKTIONEN EINER VORGESCHICHTE DES FILMS
Der Anfang des Films zeigt den Anfang des Films. Licht und Schatten in filmischer Reflexion NICOLE WIEDENMANN
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Projektionen der Vorläufer. Laterna magica und Camera obscura im Film JENS RUCHATZ
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Grenzgänge des Sichtbaren. Optische Instrumente im Film: Mikroskop, Teleskop, Fernglas, Brille OLIVER FAHLE
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FILMISCHE KONSTRUKTIONEN VON VERWANDTSCHAFTS- UND KONKURRENZVERHÄLTNISSEN — DIE ›NACHBARMEDIEN‹ IM SPIEGEL DES SPIELFILMS
Der andere Schauplatz. Zur Theaterdarstellung im Kino STEFANIE DIEKMANN
Bilder in Zelluloid. Die Thematisierung der Malerei im fiktionalen Spielfilm als Selbstreflexion des Films am Beispiel der Künstlerbiografie NORBERT M. SCHMITZ
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Bilder zwischen Raum und Zeit. Der Comic im/als Film ARNO METELING
123
Der Tod, das Leben, die Moral. Zur Fotografie im Film JÖRN GLASENAPP
135
Nahsicht und Fernblick. Fernsehen im Film LISA GOTTO
153
»Ich bin nackt.« Wie Video im Film Unmittelbarkeit erzeugt und Geständnisse provoziert ROLF F. NOHR
Portable Medien. Mobiles Aufzeichnen im Film MATTHIAS THIELE
173
187
FILMISCHE KONSTRUKTIONEN VON DIFFERENZVERHÄLTNISSEN — MEDIENREFLEXION IM FILM ANHAND DER LEITDIFFERENZEN ›SCHRIFT/BILD‹ UND ›ANALOG/DIGITAL‹
Intermedialität und Medienreflexion zwischen Konvention und Paradoxie. Schrift und Blindenschrift im Film ANDREAS BÖHN/DOMINIK SCHREY
199
Schreibwerkzeuge im Film. Pinsel, Feder und Schreibmaschine SVEN GRAMPP
213
Lesen und Schreiben sehen. Dichtung als Motiv im Film CHRISTINE MIELKE
225
Antwortlos. Brief, Postkarte und E-Mail in filmischer Reflexion CHRISTINA BARTZ
243
Zeitungs-Journalisten und populäre Konzeptionen des Zeitungswesens. Die Zeitung im Film HANS J. WULFF
257
Die Wahrhaftigkeit einer Illusion. Film und Tätowierung ANDRÉ GRZESZYK
Diagrammatische Ikonizität. Diagramme, Karten und ihre Reflexion im Film CHRISTOPH ERNST
Zelluloidmaschinen. Computer im Film STEFAN HÖLTGEN
269
279
293
WEITERE MEDIALE FUNKTIONEN IN FILMISCHER REFLEXION — HÖREN, SPRECHEN, TÖNE SPEICHERN
Die Welt für das Ohr sichtbar machen. Radio als Performativ im US-amerikanischen Film PETRA MARIA MEYER
Belebung im Raum oder: »Das ist er, das ist seine Stimme!« Grammophon, Schallplatte und CD im Film fragen nach der Wirklichkeit des Tons JAN DISTELMEYER
»You can get anything you want.« Telefonie im Film BJÖRN BOHNENKAMP
»Leave your conscious after the beep.« Der Anrufbeantworter im Film HEDWIG WAGNER
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335
349
367
WEITERE MEDIALE FUNKTIONEN IN FILMISCHER REFLEXION — ÜBERMITTELN, KOPIEREN, TAUSCHEN
»… da siehst nur Punkterl und Stricherl.« Telegrafie und Telefaksimile im Film THOMAS NACHREINER
385
Wuchernde Wiederholungen und die Kreativität des Kinematografen. Reproduktionsmedien im Film LARS NOWAK/PETER PODREZ
»It’s not about money, it’s about sending a message.« Geld und seine Äquivalente im Film RALF ADELMANN/JAN-OTMAR HESSE/JUDITH KEILBACH/ MARKUS STAUFF
399
413
FIKTIONALE MEDIENREFLEXION
Futurische Medien im Kino. Die Darstellung nicht-existenter Medien als Medialitätsreflexion THOMAS WEBER
427
Auswahlbibliographie zur Medienreflexion im Film JENS RUCHATZ
439
AUTORINNEN UND AUTOREN
449
Einleitung: Wie Filme Medien beobachten. Zur kinematografischen Konstruktion von Medialität KAY KIRCHMANN/JENS RUCHATZ
Ausgangsüberlegung des vorliegenden Bandes ist die These, dass Filme die Medialität von (anderen) Medien beobachten und darüber reflexive Potentiale generieren können, die in doppelter Hinsicht wirksam werden: als Reflexionen der eigenen (filmischen) Medialität wie der beobachteten ›fremden‹ Medialität, also als Vermessungen von Abstand und Nähe zwischen den dergestalt relationierten Medien, als Behauptungen von Affinität/Identität und Differenz, mithin als Selbst- und Fremdkonstruktionen. Einem einschlägigen Lexikoneintrag zufolge kann Reflektieren allgemein als »das prüfende und vergleichende Nachdenken über etwas« verstanden werden und bezeichnet »im engeren Sinne die ›Zurückbeugung‹ des Geistes nach Vollzug eines Erkenntnisaktes auf das Ich […] und dessen Mikrokosmos, wodurch die Aneignung des Erkannten möglich wird. Eine speziellere Form der R[eflexion] ist das ›Zurückbeugen‹ des Denkens, das Denken des Gedachten, bzw. die Kritik des Denkens 1 am Denken, die man als die philosophische R[eflexion] auffassen kann.«
Reflexion bezeichnet also – befreit man die Definition von ihrem anthropound logozentrischen Reduktionismus – eine auf das Eigene (und zugleich auf das Andere) bezogene, prüfend-fragende Vergleichspraxis zum Zwecke der Selbsterkenntnis. Den Film als Instrument und Medium der Reflexion oder allgemeiner des Denkens konzeptualisiert zu haben, zählt fraglos zu den zentralen Errungenschaften der Filmtheorien der letzten rund 30 Jahre. Die von Thomas Elsaesser und Malte Hagener verfasste Einführung in die Filmtheorie hat daher auch den schönen Einfall verwirklicht, nicht nur wissenschaftliche Positionen zu referieren, sondern durch die Schilderung ›emblematischer‹ Filmszenen auch Filme selbst als filmtheoretische Niederlegungen zu integrieren. Die Filme sollen demnach ausdrücklich nicht als Illustration fungieren, »sondern eher als Möglichkeit, mit dem Film nachzudenken (statt lediglich über ihn), wie dies Gilles Deleuze so nachdrücklich in seinen Kinobüchern vorgeschla-
1
Artikel »Reflexion«, in: Georgi Schischkoff: Philosophisches Wörterbuch, 22. Aufl., Stuttgart 1991, S. 606.
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KAY KIRCHMANN/JENS RUCHATZ
gen und erprobt hat.«2 Dass Filme Reflexionsleistungen erbringen, wird heute also kaum noch bezweifelt werden, doch ist es eine andere Frage, ob es sich dabei auch um Medienreflexion handeln kann. Eine solche Operation rückt den Fragehorizont der folgenden Einzelstudien folgerichtig ein in die medienwissenschaftliche Basiserkenntnis, dass jegliches Wissen über Medien selbst wiederum medial bedingt und artikuliert ist. Dass damit jedoch (implizit) in der Regel die schriftliche Form der Diskursivierung gemeint ist, wurde bereits anderenorts mehrfach thematisiert: »Schreiben über Medien wirft die Frage auf, woher die Schrift die Anmaßung nimmt, für andere Medien sprechen zu können«,3 problematisierten schon 1993 die Medientheoretiker der Agentur Bilwet die Leitfunktion, die das Medium Schrift für die Beobachtung jedweden Mediums einnimmt – und dennoch schreiben sie weiter, anstatt Filme zu drehen, Comics zu zeichnen oder zu schweigen. Der kecke Hinweis auf die Unzulänglichkeit schriftlicher Medienbeobachtung ist mittlerweile genauso gängig wie die fehlende Konsequenz aus dieser Erkenntnis. In diesem Sinn hat auch Jochen Hörisch das Schriftmonopol der Medienwissenschaft moniert und vermerkt, dass, »[w]er sich im alten Druckmedium über das Jenseits der Gutenberg-Galaxis« äußere, »etwas strukturell Unseriöses« tue, sei »er doch seinem Thema medial und genauer: medientechnologisch nicht gewachsen«.4 Dass er selbst sich auch nicht der Sinnlichkeit der audiovisuellen Medien, sondern dem Sinn der Schrift verschreibt, rechtfertigt Hörisch freilich gerade durch die konstruktive Kraft des Medienwechsels, durch jene Leistung der Sinnstiftung, die »eben nur Buchstabenkombinationen versprechen können: Komplexität dadurch entschieden zu reduzieren, dass sie auf die einsinnige Schnur von Buchstabenfolgen gebracht wird; sinnige Thesen vorzustellen, statt sinnliches Material aus5 zubreiten; Disparates auf Einheitsgesichtspunkte zu bringen«.
Das Vertrauen in das Leistungsvermögen der Schrift ist fraglos statthaft, wäre da nicht der implizierte Exklusivitätsanspruch, nur in Schriftform sinnhafte Komplexitätsreduktion leisten zu können. Eine Alternative erprobt Hörisch selbst, wenn er anhand von Walter Salles Film CENTRAL STATION (BR/F 1998) darlegt, wie »verschiedene Etappen der Mediengeschichte übereinander[ge]blendet« werden und dabei eine Unterscheidung zwischen teilnahmepflichtigen und nicht teilnahmepflichtigen Medien etabliert wird.6
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5 6
Thomas Elsaesser/Malte Hagener: Filmtheorie. Zur Einführung, Hamburg 2007, S. 20. Agentur Bilwet: »Schreiben in den Medien«, in: Dies., Medien-Archiv, Bensheim, Düsseldorf 1993, S. 13-19, hier S. 13. Jochen Hörisch: »Vom Sinn zu den Sinnen. Eine Kurz-Geschichte der Medien«, in: Archiv für Mediengeschichte 1 (2001), S. 101-114, hier S. 102. Zur Unangemessenheit schriftlicher Geschichtsschreibung beispielsweise für die Geschichte des Fernsehens vgl. auch Lorenz Engell: »Schwierigkeiten der Fernsehgeschichte«, in: Ders., Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar 2000, S. 89-107, hier S. 90f. J. Hörisch: Vom Sinn zu den Sinnen, S. 103. Ebd., S. 106-108.
EINLEITUNG
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Die offenkundige Sehnsucht, das Nachdenken über Medien aus dem alleinigen Geltungsanspruch des Sprachlich-Diskursiven zu befreien, kann sich – zumindest für den engeren Bereich der filmhistoriographischen Reflexion – natürlich auf berühmte Vorarbeiten berufen. Etwa in Gestalt von Jean-Luc Godards Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos,7 der Verschriftlichung von Tonbandprotokollen, die im Kontext einiger von Godard 1978 in Montreal gehaltenen Filmkurse entstanden und ursprünglich in einen Videofilm münden sollten – ein Projekt, das dann erst sehr viel später in modifizierter Form unter dem Titel HISTOIRE(S) DU CINÉMA (F/CH 1988-1998) realisiert wurde. Über weitere einschlägige Filmautoren wie z.B. Harun Farocki, Chris Marker oder Martin Scorsese führt eine solche Genealogie filmischer Selbstreflexion in Gestalt von Bewegtbildern bis hinein in gegenwärtige Internetportale wie z.B. Kunst der Vermittlung und die dort projektierten Archive des Filmvermittelnden Films.8 Es mangelt also wahrlich nicht an Versuchen, zumindest die Beobachtung des Mediums Film dem Primat des Schriftlichen zu entwinden – auch wenn logischerweise keiner dieser Versuche auf Schrift und/oder Sprache zur Gänze verzichten kann. Nicht von ungefähr ist derartigen Projekten in der Regel schnell die Kategorie des ›filmischen Essays‹ zuerkannt worden, gleichsam als strukturelle Fortschreibung des traditionellen Hangs der schriftlichen Medienreflexion zum Essay.9 Damit wird eine solche audiovisuelle Selbstbefragung aber auch automatisch der klassischen Scharnierfunktion des Essays zwischen ästhetischer und wissenschaftlicher Artikulationsform zugeschrieben, mithin ein Tertium etabliert, auf dem die latente Dichotomie zwischen Schrift/Sinn und Filmbild/Sinnlichkeit wenigstens temporär befriedet scheint. Das hierzulande vor allem am Forschungsstandort Weimar betriebene Projekt einer ›Medialen Historiographie‹ akzentuiert demgegenüber sehr viel klarer eine dezidierte »Eigenbewegung des medialen Denkens«10 und konturiert darüber die Umrisse eines Forschungsfelds, auf dem mediale Selbst- und Fremdreferenz als Filiationen ein- und desselben Erkenntnisvorgangs beobachtbar werden, dergestalt dass »ein Medium im Lichte eines anderen historisch beschreibbar wird oder sogar selbst die Mittel bereitstellt, derer es zu seiner Historisierung bedarf«.11 Einer solchen Programmatik strukturell verwandt – ihren Geltungsanspruch jedoch auch auf die Bereiche der Medientheorie und -analyse ausdehnend –, liegt Sinn und Zweck des hier vorzustellenden Vorhabens eben darin, diesen Vertrauensvorschuss in die Erkenntniskraft nicht sprachbasierter Medien zu forcieren und im Folgenden den Film – stellvertretend – als Ort substantieller Medienreflexion zu beleuchten. Dass wir dabei selbst wiederum auf Schrift rekurrieren, ist evident, folgt den wissenschaftlichen Gepflogenheiten und gängiger Diskurspraxis. Der Unterschied zu den eingangs skiz7
Vgl. Jean-Luc Godard: Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, München, Wien 1981. 8 Vgl. http://www.kunst-der-vermittlung.de [letzter Zugriff am 09.06.2013]. 9 Vgl. Christoph Ernst: Essayistische Medienreflexion. Die Idee des Essayismus und die Frage nach den Medien, Bielefeld 2005. 10 Lorenz Engell/Bernhard Siegert: »Editorial«, in: Archiv für Mediengeschichte 1 (2001), S. 5-8, hier S. 8. 11 Ebd., S. 7.
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zierten Beiträgen liegt freilich darin, dass dabei Schrift zuvorderst als Instrument der Übersetzung einer bereits anderenorts gegebenen Reflexionstätigkeit verstanden wird. Diese könnte insofern auch sehr gut für sich selbst bestehen (bleiben) – der Mehrwert der hier anzubietenden Verschriftlichung einer vorgängigen audiovisuellen Konstruktion des Medialen liegt indes in der synoptischen Auffächerung und Zusammenstellung der filmischen Beobachtungsperspektiven auf andere Medien. Dies kann und soll geschehen, ohne darüber eine Grundsatzdiskussion über Leistungspotentiale verschiedener epistemischer Systeme oder basale Differenzen zwischen ästhetischen und szientifischen Praktiken führen zu müssen. Der zugrundeliegende Erkenntnisanspruch ist tatsächlich viel bescheidener: Wir beobachten, wie das Medium Film mit den ihm eigenen Operationslogiken andere Medien beobachtet, darüber eine immanente Reflexion der fraglichen Medienverhältnisse etabliert, und übersetzen diese Operationen zurück in das Medium Sprache. Dabei gehen wir davon aus, dass die Eigenlogik des beobachtenden Mediums (hier: des Films) Beobachtungshinsichten und -möglichkeiten generiert, die mit denen des schriftsprachlichen Diskurses nicht zwangsläufig kongruent sind, dass hierbei also Sinndifferenzen, vielleicht sogar Sinnüberschüsse entstehen können, die unabhängig vom etablierten Diskursniveau wissenschaftlicher Medienreflexion ihre Eigenwertigkeit besitzen. Damit soll nicht gesagt sein, dass sich die filmische Medienreflexion nun in einem Bereich abspiele, der gänzlich unberührt von der populären oder der wissenschaftlichen Rede über Medien sei. Etwaige Analogien zu allgemeinen Diskursen werden in den einzelnen Beiträgen entsprechend herausgearbeitet. Damit soll nur gesagt sein, dass die Passgenauigkeit zum (medien-)wissenschaftlichen Forschungsstand aus der hier veranschlagten Perspektive kein Qualitätsmerkmal der filmischen Reflexionsleistungen darstellen soll und darf, weil sich diese eben einer medial und diskursiv anderen Logik verdanken. Diese Logik wiederum – und auch die Anerkennung dieser Tatsache gehört zu den programmatischen Grundsatzentscheidungen dieses Bandes – liegt quer zu dem (ohnehin obsolet gewordenen) Schisma zwischen dem ästhetisch relevanten arthouse movie und den populären Produktionen des Hollywood-Paradigmas. Mag auch das Projekt der Selbst- und Fremdreflexion ehedem exklusiv auf dem Feld der Avantgarden angesiedelt gewesen sein, so hat es dieses längst verlassen und seinen Einzugsbereich erheblich erweitert. Pointiert formuliert: Medienreflexion kann inzwischen – und vermutlich von jeher – auch in Filmen jenseits des etablierten Kunstfilmkanons beobachtet werden oder anders gewendet, die Medienreflexion hört nicht bei Godard, Marker und den anderen Pionieren der 1960er und 1970er Jahre auf.12 Analog gilt auch auf der Ebene der filmischen Gattungen: Filmische Medienreflexion ist nicht beschränkt auf dokumentarische und/oder essayistische Praktiken, sondern ist auch und gerade im fiktionalen Bereich anzutreffen, weswegen eine Konzentration auf den Spielfilm diesen Band leitet. Die Textsortenzuschreibung als ›Handbuch‹ impliziert dabei logischerweise keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern prononciert vielmehr noch einmal den zuvor erwähnten Versuch einer (fortzuschreibenden) Synopsis im Hinblick auf die Vielzahl und Breite der faktisch beobachtbaren medienreflexiven 12 Vgl. Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006, S. 18.
EINLEITUNG
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Operationen im (Spiel-)Film, die bei weitem nicht auf die klassischen Figurationen à la ›Theater im Film‹, ›Fernsehen im Film‹ etc. beschränkt ist. Im günstigsten Falle könnten die in diesem Sammelband zusammengetragenen Überlegungen einen kleinen Baustein beitragen zu ›Prolegomena zu einer Mediengeschichte des Wissens von den Medien‹, die sich nicht auf die schriftliche Wissensgeschichte beschränkt, sondern eine Oszillation zwischen dem Audiovisuellen und dem Literalen unternimmt. Was auf den nachfolgenden Seiten dieser Einleitung nun versucht werden soll, sind erste Lektüren denkbarer Prolegomena zu solchen Prolegonema und damit zugleich erste Annäherungen an methodisch-theoretische Vorarbeiten zu einem solchen Forschungsfeld.
Wann und zu welchem Zwecke beobachtet der Film andere Medien? Eine kritische Sichtung jüngerer Forschungsbeiträge Neben beachtenswerten Einzelanalysen liegen für den Film immerhin jüngere englischsprachige Studien vor, welche Ansätze zu einer Diskurs- und Wissensgeschichte der Medien aufzeigen, die das Primat der Schrift hinter sich lässt. An ihnen lassen sich die Prämissen eines solchen Vorhabens deklinieren und korrigieren: so z.B. anhand der Studie On Screen Rivals, in der sich die britische Kommunikationswissenschaftlerin Jane Stokes die Aufgabe stellt, die historisch variable Bedeutung des Fernsehens, d.h. »images of, and ideas about televison« herauszuarbeiten, indem sie den Blick des Konkurrenzmediums Film rekonstruiert.13 Stokes gebraucht nicht den Begriff ›Medien‹, sondern schreibt von ›cultural technologies‹, die sie als die verschiedenen Technologien fasst, welche aus kultureller Sinnzirkulation ökonomisches Kapital schlagen. In einem diskursiven Prozess, den Stokes »technogenesis« nennt, weisen diese Technologien einander wechselseitig Bedeutung zu. Ihre Untersuchung der filmischen Konstruktion des Fernsehens versteht sich in diesem Rahmen auch als Pilotstudie, die solche Technogenese als Feld der Technikforschung etablieren möchte.14 Die Prämisse, »the meaning of television« sei »socially constructed, not innate, and […] the product of multiple constructions«,15 dürfte heute nur noch hartnäckigste Technikdeterministen irritieren. Weniger selbstverständlich ist indes, solchen Konstruktionsprozessen nicht nur in der Schrift nachzugehen, sondern die Multiplizität der »different representations and discourses«16 ernst zu nehmen, um den Film, »erstwhile rival and latter-day ally«, als einen der »most powerful contributors« in diesem Prozess herauszustellen.17 Gerade die enge Verbindung beider Medien wäre demnach ein Grund, sie als 13 Jane Stokes: On Screen Rivals. Cinema and Television in the United States and Britain, New York 2000, S. 1. 14 Vgl. ebd., S. xii, S. 4, S. 10 u. S. 187. 15 Ebd., S. 191. 16 Ebd., S. 200. Vgl. auch ebd.: »Television is not only technogenetically constructed by filmmakers, but by novelists, playwrights, song writers and yes, academics.« 17 Ebd., S. 2.
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Orte der wechselseitigen sozialen Konstruktion wichtig zu nehmen.18 Der Titel des Bandes, On Screen Rivals, bezieht sich damit nicht allein auf die Situation der Medienkonkurrenz von Film und Fernsehen, sondern auch auf einen spezifischen Ort, an dem diese Rivalität diskursiv ausgetragen wird: on screen, auf dem Terrain eines der Konkurrenten. In der Art und Weise, wie Film dabei als beobachtendes Medium perspektiviert wird, zeigen sich allerdings auch einige Kurzschlüsse, die belegen, dass nicht nur in Deutschland Konflikte zwischen sozialwissenschaftlich operierender und ästhetisch interessierter Medienforschung bestehen. Um sich vom akademischen Fokus auf ästhetische oder formale Gesichtspunkte abzugrenzen, votiert Stokes dezidiert für eine inhaltsanalytische Vorgehensweise.19 Wenn es gilt, die filmische Konstruktion des Fernsehens zu rekonstruieren, sollte sich der Korpus zweifellos nicht auf den Höhenkamm des filmästhetischen Kanons reduzieren. Wer diese angeblich vernachlässigten Filme durch das Kriterium des Inhalts retten zu müssen glaubt, spricht ihnen allerdings jegliche formale Qualitäten ab und macht sich so ungewollt selbst den Maßstab ästhetischer Exzellenz zu eigen. Mit dem gleichen antiformalistischen Furor unterscheidet Stokes den selbstreflexiven Film von der fremdreferentiellen Thematisierung anderer Medien.20 Während Stokes davon ausgeht, dass der technogenetisch angelegte, fremdreferenzielle Film, der andere Medien auf der Inhaltsebene – quasi im Klartext – thematisiert, breit in der Produktion populärer Genres verankert sei und so der sozialen Funktion der wechselseitigen Definition der ›cultural technologies‹ diene, kann sie im selbstreferenziellen Film nur ein Minderheitenphänomen erkennen, das Medienwissen bereits voraussetzt und den ästhetisch gebildeten Zuschauern nur ihre eigene Klugheit und Kompetenz bestätigt, »first to recognize the conventions, and second to apprehend that they are being subverted«.21 Jenseits solch problematischer Zweiteilung medialer Praxen macht Stokes – für unsere Überlegungen durchaus anschlussfähig – darauf aufmerksam, dass Medien nicht so sehr durch Selbstthematisierung als vielmehr durch Fremdbeschreibung in anderen Medien konstruiert und gesellschaftlich relevant werden. Der blinde Fleck dieser sozialkonstruktivistischen Position besteht darin, im Akt der Medienbeobachtung die Medialität des beobachtenden Mediums auszublenden. So lässt sich die filmspezifische Form der Medienkonstruktion von der anderer Medien nicht unterscheiden und damit auch nicht verstehen, wie sich im Akt des Beobachtens eines anderen Mediums das beobachtende Medium zugleich selbst konfiguriert. Als Beobachter sieht Stokes nur die Filmindustrie mit ihren mühelos identifizierbaren ökonomischen Interessen vor.22 Das Medium Film kommt als Mitspieler so gar nicht zum Zuge, sondern nur als der Einsatz, den es entweder durch Herabsetzung oder Umgarnen des Konkurrenten Fernsehen zu bewahren gilt, um künftige 18 Vgl. ebd., S. 3: »Film and television are two cultural technologies that are closely related and that are fecund sources of information about one another.« 19 Vgl. ebd., S. 198. 20 Vgl. ebd., S. 3f. 21 Ebd., S. 3. 22 Vgl. z.B. ebd., S. 2: »[T]he cinema industry has an interest in portraying television in a particular way.«
EINLEITUNG
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Gewinnschöpfung zu ermöglichen. Medien wären in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung folglich durch Konstruktionen anderer Medien geprägt, ohne solche Konstruktionen ihrerseits zu prägen. Dass das Erscheinungsbild des Films so massiv durch die Produktionsökonomie Hollywoods geprägt wird, plausibilisiert solche Zurechnungen der filmischen Darstellung auf einen ökonomischen Akteur so sehr, dass sie – unabhängig von Stokes – für die vorliegenden Historiographien filmischer Medienreflexion insgesamt als typisch gelten können. Dies lässt sich etwa an der Studie Cinema Dreams its Rivals des amerikanischen Filmwissenschaftlers Paul Young festmachen. Young rekonstruiert, wie Telegrafie, Radio, Fernsehen und Internet spekulativ, da größtenteils noch vor ihrer gesellschaftlichen Implementierung, durch den Film entworfen werden. Auch Young bringt einen Medienbegriff in Anschlag, der den konstruktiven Anteil von Diskursen und Praktiken an der Herausbildung von Medienidentität einbezieht.23 Diese sei also nicht technisch fixiert, sondern werde laufend hergestellt, sei insofern auch wandelbar und nur jeweils durch institutionelle Stützung stabilisiert.24 Neu auftretende Medien bedrohen mit ihren Versprechen neuer Erlebnisqualitäten, aber auch durch Wildern in erfolgreichen Mustern des alten Mediums diese mühsam hergestellte Identität. Filmischer Medienreflexion geht es daher nicht nur um ökonomische, sondern gleichermaßen um dispositive und ästhetische Konkurrenz.25 Wenn Young nun das Auftreten neuer Medien im 20. Jahrhundert aus der Perspektive Hollywoods beobachtet, dann richtet er sein Interesse darauf, wie diese das von Hollywood als ›Film schlechthin‹ institutionalisierte classical system zu affizieren drohen. Die Grundannahme besteht darin, dass das Modell der institutionalisierten Fassung des Films insbesondere gegenüber der von den anderen Medien angebotenen Rezeptionsposition stabil gehalten werden soll, indem die neuen medialen Dispositive, die bequemer oder interaktiver erscheinen könnten, in Frage gestellt werden: »[M]edia fantasy films function within Hollywood’s output as rhetorical defenses of classicality against those newer media rivals that offer very different, more deliberately social [Herv. i. O.] forms of reception to their users. [...] I consider media fantasy films as the film industry’s tactical responses to reception para26 digms that differ from Hollywood’s own.«
Die angesprochenen ›Medienfantasien‹ fungieren damit im Sinne Brian Winstons als ›Bremse‹,27 um das etablierte System des Erzählkinos, seine Er23 Vgl. Paul Young: The Cinema Dreams its Rivals. Media Fantasy Films from Radio to the Internet, Minneapolis, London 2006, S. xiv-xvii. 24 Vgl. ebd., S. xiii: »Too often we treat media poetics as an end in itself. That is, we forget to treat a poetics for what it really is: not a definitive analysis of the limits of a medium’s capabilities but rather a description of what is done [Herv. i. O.] with a medium at a specific time and within a specific culture.« 25 Vgl. ebd., S. xii u. S. xxii. 26 Ebd., S. xxvii. 27 Vgl. Brian Winston: Technologies of Seeing. Photography, Cinematography and Television, London 1996, S. 1-3.
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lebnis- und Distributionsweisen vor Ansprüchen zu bewahren, die Nutzer anderer Medien an den Film herantragen könnten. Anders als Stokes stellt Young die konstitutive Funktion der Fremdbeobachtung für das beobachtende System heraus, um dessen einmal etablierte Identität zu wahren. Zugleich hebt auch er hervor, wie einflussreich die filmischen Medienfantasien für die weitere Entwicklung der selbst institutionell noch nicht stabilisierten Medien gewesen seien. Anders als kalkulierte Kampagnen, wie sie Hollywood beispielsweise mit Sidney Lumets NETWORK (USA 1976) gegen die nun etablierte Konkurrenz des Fernsehens führte, seien solche frühen Entwürfe der Medienzukunft »a speculation on equal terms with other speculations […] – a debate about which technological capabilites and social functions would best serve the interests of users, and indeed what those interests were in the first place.«28 In Youngs Analysen fällt jedoch weiterhin unter den Tisch, wie die Filme in der Darstellung der Konkurrenzmedien ihre eigene Qualität mit formulieren. Stattdessen konzentriert er sich auf den inhaltlichen Aspekt der Visionen, die für die neuen Medien entworfen werden. Die entscheidende Frage ist bei ihm nämlich, wie sich der Film – angesichts der medialen Qualitäten der Konkurrenten – selbst als Instanz konfiguriert, die deren Darstellung formal gewachsen ist. Weiterhin wird auffällig wenig Augenmerk auf die spezifisch formalen Realisierungen gelegt, in denen die beanspruchte Spezifik des Mediums Film in den Filmen konkret fassbar werden könnte. Im Blick auf die anderen Medien taucht der Film auch bei Young nur als Konstrukt auf. Was lässt sich also aus den vorliegenden Monographien zur filmischen Medienbeobachtung gewinnen? Erstens impliziert allein schon deren Fragestellung einen Medienbegriff, der diskursive Konstruktion als zumindest wichtigen Aspekt der Herausbildung von Medien begreift. Die Identität von Medien ist dadurch – zweitens – anders als in technikzentrierter Perspektive nicht mehr eindeutig und stabil, sondern wandelbar und dies – drittens – in Abhängigkeit auch von neu auftretenden Medien. Viertens – und auch dies ist geteilte Prämisse der vorgestellten Untersuchungen – findet die Konstruktion medialer Identität nicht ausschließlich schriftsprachlich und/oder in der Wissenschaft statt, sondern auf diversen diskursiven und medialen Feldern. Und dies vollzieht sich schließlich – fünftens – potenziell unabhängig von den schriftsprachlichen Diskursen und ist mehr als deren bloße Illustration oder Popularisierung.29 Film wäre demzufolge also für alle neueren Medien ein Ort, der deren gesellschaftliche Identität und Stellung wesentlich hervorbringt. Diese Einsicht fußt auf der Annahme, dass der Film und seine Fiktionen grundsätzlich – und nicht nur in Bezug auf Medien – als zentrale Instrumente gesellschaftlicher Selbstbeschreibung fungieren. Zu ergänzen bliebe nun vor allem, dass sich die Reflexionspraxis des Films nicht auf die je neuesten Konkurrenzmedien reduziert, sondern sich unverändert und kontinuierlich auch an den 28 P. Young: The Cinema Dreams its Rivals, S. xxxiii. 29 Vgl. Jon Nelson Wagner/Tracy Biga MacLean: Television at the Movies. Cinematic and Critical Responses to American Broadcasting, New York, London 2008, S. 1. Wagner und MacLean kehren das Bedingungsverhältnis sogar um, wenn sie sich vornehmen, »to trace how cinematic attitudes and critical models are duplicated in television scholarship and criticism« (ebd.).
EINLEITUNG
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›klassischen‹ älteren Medien wie Schrift, Buch, Theater, Malerei etc. abarbeitet. Seine Identität fände der Film somit nicht nur in Auseinandersetzung mit den jüngeren, sondern ebenso mit älteren, mit zeitgenössisch wichtigen, lange fest etablierten, aber auch schon verschwundenen Medien. Aus der Perspektive einer Theoriegeschichte der Medien, wie sie Rainer Leschke in seiner Einführung in die Medientheorie vorgelegt hat, ist der Vergleich die Wurzel des Nachdenkens über Medien überhaupt, wie auch über jedes Einzelmedium: »Medientheorie begann also zunächst einmal von der Sache her motiviert als intermediale Reflexion, nämlich als eine Art Gedenken der Differenz von Medien. Die Differenz – und vor allem die problematische Differenz – ist also die Voraussetzung des Einsetzens von Reflexion und damit auch die einer Theorie der Wissenschaft der Medien. [...] Auf dem Niveau der primären Intermedialität, das als Anfangsstadium medienwissenschaftlicher Reflexion und erste Stufe medienwissenschaftlicher Paradigmenbildung zu betrachten ist, wird ein neues Medium und seine Leistungen bzw. seine sozialen Folgen mit bereits bestehenden Medi30 en verglichen.«
In dieser Frühphase einer ›primären Intermedialität‹ lässt die Medienbeobachtung nur Ansätze zu einer Systematisierung erkennen. Dennoch werden gerade in dieser Phase wesentliche Koordinaten festgelegt, die die spätere Karriere eines Mediums präformieren.31 So überzeugend Leschkes Einsicht ist, dass der Vergleich die Entwicklung der Medientheorie fundiert, so unverständlich bleibt es, dass derartige Vergleiche auf den nachfolgenden Komplexitätsstufen der Medientheorieentwicklung angeblich in den Hintergrund treten. Wie sollte etwa Siegfried Kracauers ›Einzelmedienontologie‹ des Films die Kennzeichen des Films herausarbeiten, wenn nicht in Gegenüberstellung zu Fotografie, bildender Kunst und Sprache? Und wieso fokussiert die ›generelle Medienontologie‹ Marshall McLuhans Medienumbrüche, an denen neues und altes (Leit-)Medium aufeinandertreffen? In der Tat scheint der Medienvergleich nicht auf die Initialphase der Theoriebildung beschränkt, sondern als unhintergehbarer modus operandi jedweder Komplexitätsstufe der Theorieentwicklung eingeschrieben zu sein. Nämliches gilt für die Selbstbefragung des Medialen jenseits der Wissenschaft. Auch bei der Reflexion medialer Binnenrelationen in den medialen Texten und Artefakten selbst lässt sich eine infinite Bewegung beobachten, die nicht allein auf temporäre Destabilisierungen durch neu aufkommende Konkurrenten zurückgeführt werden kann. Vielmehr ergibt sich die Motivation der fortschreitenden Selbst- und Fremdbefragung, eben jenes ›prüfende und vergleichende Nachdenken‹, das Reflexion ausmacht, bereits aus der simplen Tatsache, dass alle Medien eben nicht qua technischem Apriori einer stabilen Funktionalität verschrieben sind, die transhistorisch fixiert werden könnte, sondern immer nur in wandelbaren und mannigfaltigen Konstellationen, in vielfältigen diskursiven und dispositiven Konstruktionen überhaupt zugänglich sind. Der Bedarf an reflektierender Selbstvergewisserung oder Re-Stabilisierung kann insofern exogen (Veränderungen im System der Me30 Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München 2003, S. 33. 31 Vgl. ebd., S. 71.
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dien insgesamt, neue soziale Gebrauchsweisen etc.), aber eben auch endogen (Veränderungen des fraglichen Mediums selbst, seiner sozialen Relevanz, der daran gerichteten Fremd- und Selbstbeschreibungen etc.) gegründet sein, wobei beide Dimensionen überdies ineinandergreifen können. Wenn, um nur ein Beispiel anzuführen, der Film seiner klassischen Verankerung im Dispositiv des Kinos verlustig geht und inzwischen in vielfältigen Distributionsformen vorliegt, entsteht fraglos neuer Reflexionsbedarf (z.B. entlang der klassischen Demarkationslinien zwischen privat/öffentlich oder transitorisch/repetitiv), der erstens im angesprochenen Sinne primär endogen motiviert ist und der zweitens nunmehr neue Vergleichshinsichten, die vorherigen Relationierungsbemühungen zu anderen Medien nicht zentral aufgegeben waren, nahelegt. Mit den vorgestellten Studien teilt dieser Sammelband also die Perspektivierung von Medien und Medienrelationen als historisch höchst variable, diskursiv und dispositiv stets neu zu verhandelnde Entitäten, begreift aber gerade deshalb den fraglichen Reflexionsbedarf eben nicht auf den ›cultural struggle‹ jeweils neuer Medienkonkurrenzen beschränkt, sondern als einen permanenten und infiniten Prozess. Die ›Identität‹ eines Mediums wird unentwegt neu ausgehandelt, innerhalb des jeweiligen Mediums wie außerhalb, als wissenschaftliche, als journalistische oder als ästhetische Praxis – aber immer wiederum innerhalb des medialen Feldes. Und für diese diskursiven Operationen ist die Vergleichsfolie anderer Medien und ihrer Operationslogiken die unabdingbare Ermöglichungsbedingung schlechthin.
Was kann der Film beobachten? Zur systematischen Problematik filmischer Selbst- und Fremdreferenz im Zeichen von Intermedialität Die anhand der Studien von Stokes und Young beschriebene diskurshistorische Ausprägung der aktuellen Forschung scheint uns in zweifacher Hinsicht ergänzungsbedürftig: zum einen durch die Frage, wie jenseits der dort favorisierten inhaltlichen Diskursivierung anderer Medien im Film sich nun die spezifische formale Ebene des beobachtenden Mediums selbst in diese Bewertung einschreibt. Und zum anderen stellt sich die Frage, wann und wie wir das beobachtete Medium im beobachtenden Medium überhaupt als Medium erkennen können – es geht mithin um die Schärfung der epistemologischen Problematik. Heuristisch soll dafür die vorgängige Sicherheit, dass Filme Medien zu beobachten vermögen, erst einmal zurückgestellt werden, um die Frage zu stellen, ob und wie Filme überhaupt Medien beobachten können. Dass der Film z.B. Fernsehen darstellen kann, wissen wir: Er zeigt Fernsehapparate, Fernsehzuschauer, Fernsehstudios, Fernsehkameras etc. Die Frage wäre jedoch, ob er dies in der Kategorie des Medialen unternimmt, anders gewendet, ob der Film über Formen verfügt, die einem Konzept des Medialen genügen. Oder noch einmal positiver reformuliert: Es wären die Bedingungen anzugeben, unter denen etwas im Film als Medium auftritt und somit einer Medienreflexion überhaupt erst zugänglich gemacht wird. Es wäre nun eigentlich folgerichtig, diese Konzeption des Medialen dem Film selbst zu entnehmen. Um den drohenden Zirkel zu durchschneiden,
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müssen wir bei solchen Rückprojektionen allerdings zuvor geklärt haben, unter welchen Bedingungen von Medien gesprochen worden darf. Es bietet sich an, hierfür auf die Medium/Form-Unterscheidung von Niklas Luhmann zurückzugreifen32 – nicht nur, weil sie mittlerweile schon fast zum guten Ton jeder Medientheorie gehört, sondern auch weil sie ein epistemologisches Niveau formuliert, das man nicht mehr unterschreiten sollte, und weil sie desweiteren so allgemein gefasst ist, dass sie stets spezifiziert werden muss, um analytisch produktiv zu sein, dafür aber auch nicht allzu vieles präjudiziert. Die zentralen Erkenntnisse von Luhmanns Text seien angesichts ihrer Prominenz hier nur noch einmal paraphrasiert: 1. Das Medium stellt einen Vorrat an Elementen dar, die als Form aktualisiert werden können, wobei 2. diese Formen nicht verbraucht werden, sondern ihr Gebrauch vielmehr strukturierend auf das Medium zurückwirkt, insofern 3. die Unterscheidung von Form und Medium homolog zur Unterscheidung von Aktualität (Form) und Potentialität/Virtualität (Medium) ist, deren Wahrscheinlichkeitsgefüge mit jedem Gebrauch variiert, so dass ein Medium 4. nicht ein für allemal fixiert und auf ein festes Set benennbarer Elemente zu reduzieren wäre. Medien existieren nicht material konkret, selbst wenn ihre Elemente auf Materialisierung festgeschrieben sein sollten.33 5. gibt es Medien auch nicht für sich, sondern die jeweiligen sozialen Systeme definieren, was als Medium – als Möglichkeitshorizont, als akzeptables Spektrum an alternativen Formen – für sie in Frage kommt. 6. sind Medien – und das ist fraglos eine unangenehme, epistemologisch aber notwendige Folgerung –, weil sie pure, wenn auch nicht ungerichtete Potentialität sind, als solche nicht beobachtbar, sondern nur, wenn sie zur Form transformiert werden, was wiederum in einem anderen Medium geschehen kann, als dessen Form das Medium dann erscheinen kann. Medien zu beobachten hieße demnach, Formen auf ihre Ermöglichungsbedingungen hin zu befragen – und hierbei den Horizont alternativer Möglichkeiten von Sinnbildung zu umreißen. Als praktikable Wege, Medien unter diesen epistemologischen Voraussetzungen zur Erscheinung zu bringen, sind Selbstreflexion einerseits, intermediales Ausgreifen auf differenzielle Medienbestimmung andererseits vorgeschlagen worden. So denkt Jürgen Fohrmann den von Luhmann vorgezeichneten Weg weiter und spitzt ihn auf das Argument zu, dass der Vergleich unhintergehbare Basisoperation der Medienbeobachtung schlechthin sei. Denn wenn der Weg von der Form zurück zum Medium erkenntnistheoretisch verbaut ist, dann 32 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1995, S. 165-173; Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1998, S. 190-202; sowie aus medienwissenschaftlicher Perspektive Jörg Brauns (Hg.): Form und Medium, Weimar 2002. 33 Diese Immaterialität lässt sich am klarsten daran aufzeigen, dass für Luhmann »Sinn«, die Verweisungsstruktur des Selektierten auf das alternativ Mögliche, das »allgemeinste Medium« ist, das den Bauplan für alle weiteren Medien vorgibt; vgl. N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 173-179.
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kann es überhaupt keinen anderen Weg geben, als Formen verschiedener Medien zu vergleichen: »Alles mithin«, so Fohrmann, »was sich über ein Medium sagen lässt, ergibt sich erst aus einem Medienvergleich«.34 Ein solcher Vergleich setze sich aus fünf Komponenten zusammen: »Ein Medium a läßt sich bestimmen in Bezug auf ein Medium b, wobei man eine gemeinsame Bezugsgröße c benötigt. Der Vergleich findet ebenfalls in einem Medium (d) statt, das intrikaterweise in der Regel mit einem der verglichenen Medien identisch ist. Und der Vergleich vollzieht sich in einer Form (einem Text, 35 einem Bild o.ä.) (e).«
Auch wenn Fohrmann für Medienvergleiche jenseits der Schriftmedien Platz reserviert, muss seine Systematik für die Analyse filmischer Medienbeobachtung noch aufgeschlossen werden, denn dass der Film in der Lage sein soll, Vergleiche, zumal Medienvergleiche anzustellen, liegt nicht auf der Hand. Sobald ich das System der Sprache verlasse, stehe ich zunächst vor der Schwierigkeit, Medienreflexion – und d.h. nach den hier vorgeführten Prämissen: einen Medienvergleich – auch als solche kenntlich zu machen. Es dürfte kaum einen Film geben, in dem nicht der Gebrauch oder Formen anderer Medien als des Films zu sehen sind – Medien hier zunächst verstanden als jene Dinge, die gemeinhin als Medien aufgefasst werden: Es wird telefoniert und geschrieben, Fotos werden angesehen, Computerrecherchen durchgeführt usw. Will man Filmen das Vermögen zuschreiben, ›Medialität‹ zu denken, dann wird man jedoch Markierungen vorweisen müssen, die das Auftreten von Formen auch als Auftritt des Mediums inszenieren, die also auf die – als Medium zu verstehenden – Voraussetzungen der Formbildung hinweisen. Es ist freilich immer wieder – gerade für die moderne Kunst – die Möglichkeit beansprucht worden, ohne Referenz auf ein Vergleichsmedium, sondern rein selbstreferentiell die Medialität eines einzelnen Mediums zu zeigen. Luhmann jedenfalls hat für die (moderne) Kunst die Möglichkeit vorgesehen – vielmehr noch: als Kennzeichen künstlerischer Formbildung herausgestellt –, dass das Material selbst als Form mit kommuniziert wird: »Anders als bei Naturdingen wird das Material, aus dem das Kunstwerk besteht, zur Mitwirkung am Formenspiel aufgerufen und so selbst als Form anerkannt. Es darf selbst erscheinen, ist also nicht nur Widerstand beim Aufprägen der Form. Was immer als Medium dient, wird Form, sobald es einen Unterschied macht, sobald es einen Informationswert gewinnt, den es nur dem Kunstwerk ver36 dankt.«
Nicht als Material selbst, sondern wiederum nur als vom jeweiligen Kunstwerk mit transportierte und ausgestellte Form kann es in den Blick geraten und somit auf den Prozess der Bildgenese verweisen. Hier finden sich deutliche Referenzen auf den künstlerischen Modernismus, der es als Bestimmung 34 Jürgen Fohrmann: »Der Unterschied der Medien«, in: Ders./Erhard Schüttpelz (Hg.), Die Kommunikation der Medien, Tübingen 2004, S. 5-19, hier S. 7. 35 Ebd. 36 N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 176.
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von Kunst propagiert, sich jenseits jeglichen Bezugs auf ein gegenständliches oder kunstmediales Außen mit den Darstellungsmöglichkeiten des gewählten Kunstmediums zu beschäftigen.37 Es gälte dann, um eine andere Formulierung zu wählen, die Register der Wahrnehmung umzustellen und die Bilder nicht mehr als Spuren realer, optisch erfassbarer Ereignisse, sondern als Spur des Mediums selbst zu betrachten.38 Dass eine Umschaltung vom Außenbezug auf das binnenmediale Selbst für Aufzeichnungsmedien, die technisch gerade auf die Erfassung der gegebenen äußeren Wirklichkeit gepolt scheinen, Paradoxien aufwirft, dürfte auf der Hand liegen. Da der Form selbst nunmehr die Aufgabe auferlegt wird, nicht mehr auf ›Außermediales‹, sondern auf die binnenmedialen Voraussetzungen ihres Erscheinens zu verweisen, bleibt eine solche Akzentuierung des Medialen äußerst voraussetzungsvoll. Zur Markierung kommen daher in aller Regel Formen zum Einsatz, die ihren Verweis setzen, indem sie gerade vom üblichen Mediengebrauch abweichen, so dass sich die Vorzeichen verkehren und das Normale als uneigentlicher, wenn nicht gar verfehlter Gebrauch ausgesondert wird.39 Für binnenmedial angelegte Medienreflexion sind die Thematisierungsoptionen somit massiv eingeschränkt. Also führt unsere Frage nach Optionen zur medialen Selbstthematisierung unweigerlich zurück ins Feld der Intermedialität, selbst wenn man Jürgen Fohrmanns oben angeführter Apodiktik nicht ganz folgt, dass »[a]lles [...], was sich über ein Medium sagen lässt, [...] sich erst aus einem Medienvergleich« ergibt bzw. dass »die je spezifischen Eigenschaften von Medien nur im Medienvergleich zu rekonstruieren sind [Herv. KK/JR]«.40 Intermediale Strategien bürden den Verweis auf das Medium nicht mehr einer einzelnen Form auf, sondern gewinnen ihn aus der Konfrontation zweier Formen, die unterschiedlichen Medien zugeordnet werden, was natürlich wiederum nur in Gestalt einer Festlegung von Selbst- und Fremdreferenz überhaupt vonstattengehen kann. Solche Vergleichsoperationen erstrecken sich freilich nicht nur auf medial differente Formen, denn das beobachtende Medium kann ebenso Infrastrukturen, Nutzungspraktiken oder Effekte verschiedener Medien aufzeigen und gegenüberstellen, um mediale Differenz zu konstruie-
37 Vgl. paradigmatisch Clement Greenberg: Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hg. v. Karlheinz Lüdeking, Amsterdam, Dresden 1997. Es sollte freilich klar sein, dass eine solche ›Purifizierung‹ nicht einen gegebenen Kern des Mediums freilegen kann, sondern ein solches Wesen überhaupt erst spezifiziert, aktiv erzeugt und in die Form einschreibt. 38 Zur Medienbeobachtung als Spurenanalyse vgl. Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.), Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/Main 1998, S. 7394. 39 Zu denken wäre hier etwa an das filmische Œuvre von Jean-Luc Godard, das selbstreflexiv wird, indem es sich von den Konventionen des klassischen narrativen Films absetzt. Damit wird zugleich die Traditionslinie der Klassischen Avantgarde der 1920er Jahre reaktualisiert, die sich ja auch primär als Absetzbewegung zum narrativen – und hier v.a. zum literarisch geprägten – Film verstand. 40 J. Fohrmann: Der Unterschied der Medien, S. 6f.
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ren.41 Diesbezüglich kann mutmaßlich nur im Einzelfall entschieden werden, ob von hier aus ein Reflexionsweg zu den Formen gebahnt wird, oder ob das beobachtende Medium sich mit der Aufrufung der genannten Kategorien begnügt. Im Folgenden gilt es allerdings zuvorderst die intermediale Epistemologie herauszuarbeiten, die zum Zuge kommt, wenn ein Medium die Formen eines anderen zur Erscheinung zu bringen beabsichtigt. Angesichts des anhaltenden Siegeszuges der Intermedialitätsforschung in den letzten Jahrzehnten42 könnte jedoch leicht der Blick darauf verstellt werden, dass jede Intermedialitätsforschung »grundsätzlich paradoxal verfasst [ist], denn jeder intermedialen Synthese von Medien geht deren vormalige Trennung voraus. Ist eine Synthese gelungen, dann dürfen sich diese Einzelmedien eigentlich nicht mehr unterscheiden las43 sen.«
Und damit wäre die Anwesenheit der Formen eines Mediums in denen eines anderen Mediums schlicht nicht mehr beobachtbar. Nun ist die synthetische Intermedialität nur eine der von Jens Schröter in seiner wegweisenden Typologie44 klassifizierten Optionen der Intermedialität, doch muss das von Torsten Scheid in obigem Zitat angesprochene paradoxe Moment weitaus umfassender als axiomatische Basisoperation des Intermedialen verstanden werden. Denn jeglicher Identifikation einer intermedialen Vergleichsoperation liegt eine in sich epistemologisch brisante Auftrennung des Eigenen und des Anderen zugrunde, die die Formen des beobachteten Mediums aus dem Formenrepertoire des beobachtenden Mediums zunächst einmal kategorisch exkludiert – ungeachtet der evidenten Tatsache, dass die beobachteten Formen immer schon in die Materialität des beobachtenden Mediums überführt worden sind. »Wenn der Film also fotografisch wird, verwirklicht er sich in Form einer Fotografie, obschon er natürlich, technisch betrachtet, Film bleibt«.45 Entscheidender jedoch ist die axiomatische Festlegung eines exklusiven Formenrepertoires (hier) des Films, zu dem (hier) die Formen der Fotografie als nicht zugehörig operationalisiert werden. Damit wird eine potentiell ontologisierende, jedenfalls aber purifizierende Perspektive auf die Formen des beobachtenden Mediums etabliert, die v.a. bei einem derart eklektischen, selbst andere Medienformen unentwegt synthetisierenden Medium wie dem 41 Nicht selten geschieht dies im Film nicht nur visuell, sondern auch in den Dialogen, also sprachlich-diskursiv. 42 Als erste Bilanz vgl. Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.): Intermedialität analog/digital. Theorien, Methoden, Analysen, München 2008. 43 Torsten Scheid: Fotografie als Metapher. Zur Konzeption des Fotografischen im Film, Hildesheim u.a. 2005, S. 19. 44 Vgl. Jens Schröter: »Das ur-intermediale Netzwerk und die (Neu-)Erfindung des Mediums im (digitalen) Modernismus. Ein Versuch«, in: Paech/Schröter (Hg.), Intermedialität analog/digital, S. 579-601. Für eine erste Formulierung der Typologie vgl. Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 7/2 (1998), S. 129-154. 45 T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 20.
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Film sofort in Aporien einmündet, wie sie auf dem Feld des Ästhetischen ja bereits die Bemühungen um ein cinéma pur im Zeichen des klassischen Avantgardefilms konterkariert haben.46 Auch wenn diese Zuordnung zum je Eigenen also epistemologisch heikel bleibt, so bietet der implizite Aneignungs- oder Abweisungsgestus im Duktus eines deklarativen Sprechaktes – »Seht, das hier ist es, was ich, der Film, als (nicht) zugehörig zu mir selbst anerkenne« – zugleich aber auch einen ersten Hinweis auf jene systematisch zwingenden immanenten Markierungen, auf denen alle (inter-)medialen Vergleichsoperationen aufgebaut sind. Es sind dies zunächst eben Markierungsoperationen, die das beobachtende Medium selbst vornimmt, bevor sie der intermedialen Analyse als einer Beobachtung zweiter Ordnung überhaupt zugänglich werden. Auch Jens Schröter macht in seiner Auseinandersetzung mit den von ihm so benannten ontologischen und transformationalen Figuren der Intermedialität darauf aufmerksam, dass jegliche Wahrnehmung von Mediendifferenzen bereits ein Wissen darüber impliziert, »was das repräsentierte Medium (angeblich) normalerweise ist [Herv. i. O.]«.47 Ontologische Intermedialität würde in diesem Sinne jedes Einzelmedium per se mit anderen Medien relationieren, um ihm überhaupt so etwas wie eine abgrenzbare Identität zu verleihen. Umgekehrt würde aber auch die durch Transformation erzielte intermediale Beziehung – der realisierte Medienvergleich – eingehen in die Relationierung der Medien: »Die Transformationen erzeugen ein Wissen über das repräsentierte und ein reflexives Wissen über das repräsentierende Medium, statt es vorauszusetzen.«48 Mediendifferenz wird mithin in intermedialen Beziehungen zugleich erzeugt und vorausgesetzt. Intermedialität verändert also die konventionellen Bestimmungen eines Mediums und somit die Wissensbestände über die relationierten Medien – wobei besagtes ›Wissen‹ eben sowohl extern generiert (in Gestalt von Vorannahmen über das jeweilige ›Wesen‹ der relationierten Medien) als auch intern erst produziert sein kann (im Sinne der angesprochenen Inklusions- und Exklusionsoperationen, die das beobachtende Medium selbst formuliert) oder gar zwischen diesen beiden Polen oszilliert. Erneut ist das hier zu verhandelnde Feld damit in den Bereich der diskursiven Konstruktionen überstellt, die natürlich in der filmischen Medienbeobachtung gleichfalls vorliegen, wie dies auch in der bemerkenswerten Stu46 So verweist Joachim Paech darauf, dass dem Film per se eine relationale Struktur gegeben sei, was die Rede von einem ›reinen Kino‹, die ja konstitutiv für die Avantgarden der 1920er war, obsolet mache; vgl. Paech/ Schröter (Hg.), Intermedialität analog/digital, S. 1. Nicht von ungefähr nahmen die damaligen Manifeste ja auch unentwegte Anleihen bei der Musik, die filmischen Produkte zunächst vor allem bei der Malerei. 47 J. Schröter: Das ur-intermediale Netzwerk, S. 590. Der Terminus ›Ontologie‹ scheint allerdings fehl am Platz, wenn man davon ausgeht, dass jegliche Medienspezifik Ergebnis von Konstruktionsprozessen ist; vgl. auch Jens Ruchatz: »Konkurrenzen – Vergleiche. Die diskursive Konstruktion des Felds der Medien«, in: Irmela Schneider/Peter Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Bd. 1, Wiesbaden 2002, S. 137-154, hier S. 139f. 48 J. Schröter: Das ur-intermediale Netzwerk, S. 590.
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die über die filmische ›Konzeption des Fotografischen‹ von Torsten Scheid immer wieder betont wird: Scheid schreibt darin Schröters Grundgedanken fort und betont, dass Intermedialität per se diskursiv verfasst ist und somit jede ontologisierende Betrachtung der fraglichen Phänomene die Dynamik des Prozesses fundamental verfehlt. »Es geht also auch in der filmischen Darstellung der Fotografie nicht um technische, faktisch beschreibbare Mediendifferenzen, sondern um die Behauptung von Mediendifferenz.«49 Wenn in jeder intermedialen Konstellation »ein Medium […] im Horizont eines anderen Mediums konzeptualisiert«50 wird, so geschieht das notwendigerweise hochgradig selektiv, schon allein deshalb, weil die Formbildungen des repräsentierten Mediums ja nach Luhmann infinit sind. Die Beobachtung operiert somit wie ein Filter, der nur bestimmte Formen des Beobachteten in den Blick nimmt, andere hingegen weglässt. Geschult an den Metapherntheorien von Black und Lakoff/Johnson analogisiert Scheid ebendiese Filterungsfunktion mit der der Metaphernbildung und spricht fortan von einer metaphorischen Intermedialität.51 Indem er seine Begrifflichkeit dem Bereich der rhetorischen Figuren entlehnt, betont Scheid noch einmal den Charakter des reinen Sprechaktes, der diskursiven Zurichtung (mithin: der Uneigentlichkeit), die jeder Identifizierung eines Mediums zugrundeliegt. In den Fokus gerät so erneut der dezidiert generative Charakter eines (metaphorischen) Medienvergleichs, da die dergestalt behauptete (Teil-)Ähnlichkeit den relationierten Entitäten ja nicht wesenhaft eingeschrieben, sondern über die metaphorische Überblendung – auch und gerade in der Reduktion auf vergleichbare Teilaspekte – überhaupt erst hergestellt wird. »Metaphorische Intermedialität also impliziert den Verzicht auf Einzelmedienontologien und betont demgegenüber, dass sich in intermedialen Konstellationen Medien immer nur bildhaft [im Sinne von metaphorisch und visuell; KK/JR], 52 nie aber materiell konkretisieren«.
Zwar kommt auch die Medienmetapher selbst in ihrem strukturellen Reduktionismus nicht über jene zentrierende Kategorie hinaus, die Rainer Leschke als modus operandi aller Einzelmedienontologien identifiziert hat,53 ebendieser Reduktionismus kann aber auf der Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung – also z.B. in diesem Band – wieder als operativer Mechanismus beobachtet werden. Und auch wenn am Anfang jedes Medienvergleichs besagte Apriori der Selbst- und Fremdklassifikation stehen, so bewirkt gerade der Akt der metaphorischen Relationierung eine dynamische Überbrückung ebendieser Gegensätze, »denn die Metapher wirkt immer beidseitig«54. Diese Dynamisierung wirkt auch auf der Zeitachse, sowohl dergestalt, dass die metaphorische Relationierung selbst auf die Historizität der Medien, die Wandlungen ihrer Formen, dispositiven Strukturen oder diskursiven Aushandlungen reagieren kann, als auch im Hinblick auf die Freisetzung potentiell be49 50 51 52 53 54
T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 22. Ebd., S. 32. Vgl. ebd., S. 22-25. Ebd., S. 24. Vgl. R. Leschke: Einführung in die Medientheorie, S. 73-80. T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 24.
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reits verhärteter Zuschreibungen an die jeweiligen Medien, die wieder in den diskursiven Raum rücküberstellt werden können: »Auch Neubildungen von Metaphern bedürfen der Anschlussfähigkeit, ihre Konventionalisierung der Wiederholung im Diskurs, also der Zustimmung seiner Teilnehmer.«55 Diese kursorische Lektüre ausgewählter Positionen aus dem Feld der medialen Selbstreferentialitäts- und Intermedialitätsforschung verdeutlicht bereits, dass die Herausgeber keinesfalls den Anspruch erheben wollen, dieses gut bestellte Terrain grundsätzlich neu zu vermessen. Auch dieser Band steht selbstverständlich auf den Schultern der bisherigen Forschung. Er versteht sich entsprechend eher als Versuch, dieses nach wie vor in viele Einzelbefunde zerfallende Forschungsfeld zu systematisieren, um die spezifischen Potentiale einer filmischen Reflexion von Medien und Medialität zusammenhängend auszuloten. Die entscheidenden systematisch-theoretischen Grundannahmen unseres Vorhabens lassen sich dabei wie folgt in den Kontext der skizzierten vorgängigen Beiträge ein:
Medialität und, damit verbunden, die systematische Artikulation von Mediendifferenz, wird durch diskursiv-rhetorische Operationen hervorgebracht, die nicht nur in der wissenschaftlichen Beobachtung, sondern auch auf künstlerischen und populären Feldern, die alle selbstredend ihrerseits an ein bestimmtes Medium gebunden sind, unentwegt praktiziert werden; dabei werden die generativen Formbildungsprozesse dieser Operationen vom jeweils beobachtenden Medium bereitgestellt (und differieren dadurch); diesen Operationen wohnt reflexives Potential im Sinne unserer Eingangsdefinition insofern inne, als die historisch wie systematisch gegründete Instabilität von Medienspezifika eben nicht in technischen Apriori aufgehoben ist, sondern als kulturelle Formation eines infiniten ›prüfenden Vergleichs‹ bedarf; die reflexive Operation fungiert stets beidseitig, als Aushandlung sowohl des beobachteten wie des beobachtenden Mediums; Medienvergleich ist somit struktur- und funktionshomonym mit der Herauskristallisierung von Medien (im Sinne diskursiv verfertigter Entitäten) generell; Medien sind nur indirekt, eben auf der Ebene von Formen, vergleichbar und auf diesem Wege zu erschließen: Dies geschieht über die Formen der jeweiligen Medien, aber darüber hinaus auch mittels des zu Formen geronnenen Vergleichs von Infrastrukturen, Ökonomien, Nutzungspraktiken oder psychischen wie sozialen Effekten; Medienrelationierungen operieren im Sinne einer Selektionsnotwendigkeit als Filter und verfahren insofern metaphorisch; der Beobachtung zweiter Ordnung sind diese reflexiven Operationen logischerweise nur auf der Ebene des immanenten Formenvergleichs im beobachtenden Medium zugänglich, hier also: im Film und dessen Formen; filmimmanente Markierungen von ›eigenen‹ und ›fremden‹ Formen können und müssen aus den zuvor angeführten systematischen Gründen als
55 T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 26.
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in jeder filmischen Medienreflexion notwendig erzeugt vorausgesetzt werden; gefragt ist also die analytische Identifizierung ebendieser filmischen Formbildungen, gesucht werden muss nach Markierungen, die das Auftreten von Formen auch als Auftritt des (›eigenen‹ oder ›fremden‹) Mediums inszenieren, also auf die Voraussetzungen der Formbildung hinweisen und insofern reflektierend operieren.
Es ist dabei den BeiträgerInnen dieses Sammelbandes überlassen geblieben, ein entsprechendes heuristisches Instrumentarium hierfür herauszubilden, auch und gerade um die mögliche Vielfalt analytischer Zugangsweisen zu dem vorliegenden Komplex aufzuspannen. Desungeachtet möchten die Herausgeber den hierüber generierten Korpus von Beobachtungshinsichten im Folgenden durch einige beispielhafte Fallstudien programmatisch eröffnen.
Wie der Film eigene und fremde Medialität denkbar machen kann – Analytische Etüden Die Frage nach den identifizierbaren Markierungen (behaupteter) Medieneigenschaften, -analogien und -differenzen, so hatten wir gesagt, liegt auf dem Grund jedweder intermedialen Relationierung. Was gibt uns nun heuristische Instrumentarien an die Hand, um im angesprochenen Sinne das Auftreten von Formen auch als Auftritt des Mediums zu lesen? Jens Schröter verweist für den Geltungsbereich der transformationalen Intermedialität auf die Notwendigkeit einer Transformation der konventionellen Bestimmung des Mediums, z.B. in Gestalt einer Aufhebung der immanenten An-Ästhetisierung in jedem medialen Akt: »Zwar kann z.B. die filmische Darstellung einer oder vieler Fotografien zeigen, wie eine Fotografie alltäglich benutzt wird. Aber die alltäglichen Verwendungen von Medien – und das scheint von McLuhan bis zu phänomenologischen Medientheorien Konsens zu sein – sind in der Regel eben gerade dadurch ausgezeichnet, dass die Medialität des Mediums sich verbirgt, um Inhalte zu kommunizieren. Nur durch irgendeine Art von Verfremdung – oder eben Störung – kann die 56 Medialität des repräsentierten Mediums eigens ausgestellt werden [...].«
Angesichts der Prominenz des Störungsparadigmas in der Medientheorie ist es verlockend, im Auftreten medialer Dysfunktionalitäten die via regia zu sehen, die die medialen Bedingungen von Formbildungen zu akzentuieren erlaubt, das Medium mithin im Abweichen vom angeblich bis zur Unsichtbarkeit habitualisierten Gebrauch zu entdecken.57 Der Fokus auf das Dysfunktionale birgt allerdings nicht nur die Gefahr von Verzerrungen, sondern auch die, andere Optionen der reflexiven Thematisierung von Medien zu vernachlässigen. Scheid hingegen entwirft einen etwas breiteren Horizont fotografischer Metaphern im Film, der u.a. die filmische Darstellung fotografischer 56 J. Schröter: Das ur-intermediale Netzwerk, S. 589. 57 Vgl. exemplarisch auch Thomas Weber: Medialität als Grenzerfahrung. Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre, Bielefeld 2008, S. 65-112.
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Akte und Akteure, die dinghafte Ausstellung der Bildobjekte, fotografische Gattungen und Typen sowie filmische Zitate bekannter Fotografien beinhaltet.58 Diese Thematisierungen verbleiben insgesamt zunächst einmal auf der Ebene der direkten Repräsentation (und sind somit relativ leichter Identifizierung zugänglich), insofern hier als ›fotografisch‹ konnotierte Akte (Knipsen, Entwickeln etc.), Akteure (Fotograf, Fotolaborant, Fotomodell etc.), materielle Präsentationsformen der Fotografie (Papierabzug, Dia, Poster etc.) oder Gattungen (Passfoto, Familienfoto, Fahndungsfoto etc.) oder schlicht bekannte Fotografien aufgerufen werden. Reflexives Potential kommt diesen Darstellungsoptionen mutmaßlich überhaupt erst dann zu, wenn sie mit den als Entsprechung postulierten Elementen des beobachtenden Mediums kontrastiert werden, was jedoch immer noch nicht automatisch zu einer Sichtbarmachung der ›Voraussetzung der Formbildung‹ führen muss (wenngleich kann). Hingegen wird das strukturell komplexere Moment der reflexiven Sichtbarmachung fotografischer Formen (und Formzitate im Sinne von Andreas Böhn59) im Film von Scheid mit der Kategorie der strukturalen Figuren des Fotografischen im Film belegt: »Dabei wird das Fotografische zur Beschreibung filmischer Stilmittel eingesetzt. Die Fotografie tritt also ihrerseits als Metaphernspender auf. Bestimmte Formen filmischer Auflösung: Lange Einstellungen, innere Kadrierungen des Filmbildes oder direkte Kamerablicke handelnder Figuren werden als fotografisch klassifiziert. […] Solche darstellerischen Figuren, die sich mit fotografischen Metaphern durchaus treffend beschreiben lassen, sind noch keine filmischen Metaphern der Fotografie, da die eigentliche Bezugnahme auf der Ebene der Beschreibung sie60 delt, aber nicht in der beschriebenen Darstellung als solcher.«
Auch Scheid fragt also – wie wir – nach den spezifisch filmischen Formen der Reflexion und kombiniert diese Fragestellung mit der nach den formalen Differenzierungsoptionen, die der Film selbst artikuliert, um (metaphorisch) Mediendifferenzen zu behaupten oder eben zu negieren. Wenngleich in andere Termini gekleidet, rückt auch bei Scheid die Frage nach den immanenten Deklarationsakten in den Blick und diese wird von ihm sehr einleuchtend an der Figur des freeze frame exemplifiziert. Der freeze frame ist deswegen ein so interessantes Beispiel, weil in seiner Arretierung filmischer Kontinuität und Mobilität eine diskursive Differenzbildung zur Fotografie entlang der zentrierenden Kategorie ›+/– bewegt‹ besonders nahezuliegen scheint. Dass dies jedoch eine Zuweisung ist, die ihrerseits über andere Markierungen zusätzlich als fremdreferentiell ausgestellt sein muss, erhellt sich schon aus dem Umstand, dass das Anhalten der filmischen Bewegung nicht unmittelbar auf einen medialen Horizont jenseits des Filmbildes verweisen muss, sondern genauso gut dem eigenen, genuin filmischen Formenrepertoire einverleibt werden könnte. Scheid betont: »Hinzu treten muss die unmittelbare Zuweisung von Bedeutung an die Fotografie. Ob im konkreten Einzelfall eine Medienmetapher vorliegt, lässt sich aber
58 Vgl. T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 34-39. 59 Vgl. Andreas Böhn (Hg.): Formzitat und Intermedialität, St. Ingbert 2003. 60 T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 31f.
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letztlich nur eingedenk des filmischen Kontextes beurteilen. […] Zur Fotometapher gerät das angehaltene Bild erst dann, wenn es als Fotografie motiviert 61 ist«.
Und dies kann geschehen durch Hinzufügung weiterer als ›fotografisch‹ konnotierter Formen, wie z.B. das Klicken des Auslösers (wie in UNDER FIRE, R. Spottiswoode, USA 1983), eine s/w- oder Sepiafärbung des stillgestellten Bildes (wie in UNDER FIRE oder in BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID, G. R. Hill, USA 1969), die Abblendung des Tons etc. (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Der freeze frame als Fotometapher: die letzte Einstellung aus BUTCH CASSIDY AND THE SUNDANCE KID
Signifikant oft ist das filmimmanente Durchspielen der Zuweisung des freeze frame zum filmischen oder fotografischen Formenrepertoire gleich mehrfach konnotiert, indem der Film den Gebrauch eines freeze frame in ostentative Opposition stellt zum zeitlich benachbarten Einsatz materieller Fotografien: So endet die Verfolgungsjagd im Labyrinth von THE SHINING (S. Kubrick, GB/USA 1980) mit einem freeze frame des erfrorenen Protagonisten Jack Torrance, während die unmittelbar folgende Schlusssequenz mit einer langen Kamerafahrt auf die Fotowand in der Hotellobby operiert, an deren Ende eine s/w-Fotografie von Jack Torrance kaderfüllend abgebildet wird, die ihn dank Inschrift als einen Wiedergänger decouvriert (vgl. Abb. 2 & 3).
Abb. 2 & 3: Die filmische Reflexion der Differenz von freeze frame und fotografischem Abzug am Ende von THE SHINING
61 T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 32.
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Ähnlich das Verfahren in THELMA & LOUISE (R. Scott, USA/F 1991). Auch hier steht der Vergleich nicht nur am Ende des Films, sondern markiert zugleich wieder den Tod der Protagonistinnen. Deren suizidale Autofahrt in die Schluchten des Grand Canyon hinein wird auf dem Kipppunkt der Flugbewegung des Autos arretiert und in Weiß überblendet. Die Markierung dieses freeze frame als filmische Form wird flankiert durch die signifikatorischen Umstände, dass der Wind während der Fahrt auf die Klippe zu ein Polaroidfoto der beiden Frauen vom Rücksitz des Cabriolets weht und dem anschließenden Abspann eine Serie von Polaroids unterlegt ist (vgl. Abb. 4 & 5).62 Die fotografische Arretierung wird zudem schon vorweggenommen, als zum Auftakt der Reise der Frauen das Bild ein einziges Mal angehalten wird, während Thelma – mit lautem Klick – ein Bild von Louise schießt.
Abb. 4 & 5: Filmisches Standbild versus Polaroidfoto: Tod und Bewegungsarretierung in THELMA & LOUISE
Am Beispiel des zunächst einmal nicht eindeutig zu klassifizierenden freeze frame sind also einige Optionen der filmischen Thematisierung medial differenter Formen schon deutlich geworden. Den genannten Filmbeispielen ist gemein, dass sie die strukturelle Indifferenz zwischen dem Standbild als filmischer Form oder als fotografischem Formzitat im Film durch begleitende Zusatzmarkierungen aufzuheben trachten. Entweder, indem dem angehaltenen Bildkader weitere Zeichen für das ›Fotografische‹ beigefügt werden (Auslösergeräusch, Farbveränderung), oder, indem die Betonung einer Differenz zu einem materiell repräsentierten Foto in großer zeitlicher Nähe zum freeze frame erfolgt. Der Film zeigt hierdurch zugleich seine eigene Befähigung zur Arretierung von Bewegung auf, akzentuiert aber gerade deshalb auch noch einmal die Andersartigkeit seiner Form zu jener der fotografischen Stasis. Vergleichbares lässt sich selbst noch in Filmen beobachten, die scheinbar Mediengrenzen dezidiert unterlaufen, wie etwa dem Fotofilm63 und seinem berühmtesten Vertreter LA JETÉE (C. Marker, F 1962). Auch hier wird mit dem Motiv des Augenaufschlags der erwachenden Frau – der, wie Thomas Tode postuliert, »einzigen richtig bewegten Filmaufnahme«64 – noch 62 Vgl. hierzu auch Lorenz Engell: »›Are you in pictures?‹ Ruhende Bilder am Ende bewegter Bilder, besonders in Ethan und Joel Coens Barton Fink«, in: Stefanie Diekmann/Winfried Gerling (Hg.), Freeze Frames. Zum Verhältnis von Fotografie und Film, Bielefeld 2010, S. 173-191. 63 Vgl. Guzstáv Hámos/Katja Pratschke/Thomas Tode (Hg.): Viva Fotofilm – bewegt/unbewegt, Marburg 2010. 64 Thomas Tode: »Filme aus Fotografien: Plädoyer für die Bastardisierung«, in: Hámos/Pratschke/Tode (Hg.), Viva Fotofilm, S. 21-38, hier S. 31. Auch diese
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einmal eine dezidiert als ›filmisch‹ markierte Binnendifferenz innerhalb des Fotofilms operationalisiert, die zudem durch eine ganze Reihe von Überblendungen und Zeitlupen kontextuell vorbereitet wird. Leicht übersieht man dabei, dass – wie zur Stärkung dieses ›filmischen‹ Einschubs – das nämliche Motiv bereits früher im Film schon einmal präsentiert wurde, diesmal jedoch, ohne dass Bewegung hinzugefügt würde, sondern als reine Wahrnehmungsdifferenz zwischen zwei Fotokadern.65 Derartige Operationen verdeutlichen noch einmal die Binnendifferenz zu den anderen Thematisierungsoptionen des Fotografischen im Film, indem hier eine Form, die beide relationierte Medien teilen (nämlich – ungeachtet der populären Basisdifferenz ›+/– bewegt‹ – die Befähigung zum Standbild), in ihrer Ähnlichkeit und in ihrer Differenz wahrhaft durchgespielt wird. Dies verdeutlicht zugleich auch noch einmal die Differenz zwischen Filmen mit medienreflexivem Potential und der Mehrheit derjenigen Filme, welche die Nutzung einer Form wie dem freeze frame eben nicht in einen derartigen umfassenderen Vergleich mit den Formen anderer Medien einbinden. Ein freeze frame steht auch am Anfang von MEMENTO (C. Nolan, USA 2000). Aus dem schwarzen Hintergrund der Filmtitel wird das Filmbild aufgeblendet, als hätte es sich im Schnelltempo entwickelt. Die ersten Sekunden ist das Bild einer Hand, die ein Polaroidfoto hält, eingefroren, bevor mit dem leichten Zittern der Hand kaum merklich Bewegung und Zeitlichkeit ins Filmbild treten. Allmählich erschließt man, dass die Zeit rückwärts laufen muss, denn das Polaroid verblasst langsam, bis nur noch eine leere, weiße Bildfläche übrig bleibt, die schließlich in der Kamera verschwindet (vgl. Abb. 6-8).
Feststellung ist jedoch ihrerseits wieder Resultat einer Bestimmung von Fremd- und Selbstreferenz, die problematisch bleibt. Ist denn der Zoom innerhalb der ersten Einstellung dieses Films keine ›richtig‹ bewegte Filmaufnahme, lies: keine filmische Form? 65 Überhaupt kommt dem Motiv des Augenaufschlags in diesem Kontext offenbar eine gewisse Prominenz zu. Auch im Prolog von Ingmar Bergmans PERSONA (S 1966) wird die kritische Differenz von Bewegt- und Standbild hierüber entwickelt: Eine unbewegte Großaufnahme einer scheinbar verstorbenen Frau wird qua Stopp-Trick plötzlich animiert (die ›Tote‹ öffnet die Augen), hierin zugleich die vorgängige Unentscheidbarkeit zwischen Fotografie einer schlafenden oder Filmaufnahme einer toten Frau reflektiert. Vgl. speziell zu diesem Zusammenhang auch den Beitrag von Jörn Glasenapp in diesem Band.
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Abb. 6-8: Die Entstehung der – umgekehrt – ablaufenden Bewegung aus dem Stillstand von Fotografie und Film in MEMENTO
Auf mehreren Ebenen lässt sich diese kurze Sequenz emblematisch auf den Film beziehen. Man kann in der Verkehrung der Zeit, wie es David Bordwell getan hat,66 schlicht die Vorwegnahme des Erzählprinzips sehen, das in einer Reihe von Rücksprüngen immer weiter in die Vergangenheit zurückgreift, also eigentlich rückwärts erzählt. Das Verbleichen des Polaroids, das die bildliche Fixierung eines realen Ereignisses auslöscht, lässt sich als mediale Chiffre für die anterograde Amnesie des Protagonisten Leonard deuten, die permanent die neuesten Gedächtnisinhalte auslöscht. Das Polaroid bringt dabei zugleich das Instrument ins Spiel, mit dem Leonard den Verlust des Kurzzeitgedächtnisses zu kompensieren versucht. Schließlich lässt sich behaupten, dass das beobachtende Medium seine Überlegenheit gegenüber dem beobachteten Medium demonstriert, besitzt der Film doch die konstitutive Fähigkeit, den Zeitpfeil zu manipulieren und sogar rückwärts laufen zu lassen. Nur so verfügt er über das Vermögen, den Entstehungsprozess einer Fotografie zu rekonstruieren und das Bild auf seinen technischen Ursprung zurückzuführen. Er vollzieht auf diesem Weg gewissermaßen den indexikalischen Gebrauch einer Fotografie nach, der vom Bild als Spur zurückführt zu dem Akt, der diese Spur hervorgebracht hat. Schließlich akzentuiert der Film, indem er das statische Bild zu Anfang kurz realisiert, um es dann hinter sich zu lassen, nicht nur die mediale Basisunterscheidung bewegt/unbewegt, sondern lässt Bewegung aus Stillstellung hervorgehen. Am Beginn des Films steht die Herstellung eines Bewegungsbilds. MEMENTO unterscheidet mithin die Zeitlichkeit des Films von derjenigen der Fotografie, zeigt aber zugleich, dass der Film die Zeitlichkeit der Fotografie enthält, selbst wenn er dazu – technisch gesehen – eine Reihe bewegter Bilder abspulen muss. Hier ist es zunächst eine Irritation in Bezug auf das beobachtete Medium, die filmisch erzeugte Umkehrung des Entwicklungsprozesses, durch die die Fotografie als spezifische Form der Bilderzeugung in den Fokus rückt. Zugleich realisiert das beobachtende Medium jedoch eine Abweichung von den eigenen Gepflogenheiten, denn die Verkehrung der Bewegung ist zwar von 66 Vgl. David Bordwell: The Way Hollywood Tells It. Story and Style in Modern Movies, Berkeley u.a. 2006, S. 80.
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jeher eine dem Film mögliche Form, wird aber im klassischen Erzählkino so gut wie nie eingesetzt. Auf diesem Weg ruft MEMENTO also alternative Möglichkeiten des beobachtenden Mediums auf. Wenn der Film sich von der beobachteten Fotografie abgrenzt, dann richtet er sein Interesse nicht nur auf sich selbst, sondern konfiguriert sich auf diesem Weg als Medium neu. Eine besondere Leistung von MEMENTO besteht allerdings darin, dass er Medienbeobachtung nicht auf einzelne Stellen und auf ein Medium beschränkt, sondern durch und durch auf die Reflexion und Bestimmung medialer Eigenschaften angelegt ist – und zwar vornehmlich in Bezug auf das Tertium des Gedächtnisses. Indem er seine Geschichte in Rücksprüngen erzählt, setzt er die Zuschauer, zumindest was die erzählerische Vergangenheit betrifft, auf den Wissensstand des Amnestikers zurück. MEMENTO schafft damit so etwas wie eine fiktionale Experimentalsituation,67 anhand der nachvollzogen werden soll, welche Folgen es zeitigt, ausschließlich auf mediale Gedächtnisse angewiesen zu sein. In diesem Rahmen eröffnet der Film zwei Vergleichsachsen. Die erste unterscheidet medienbasiertes Speichern von menschlichem Erinnern, das als Kontrastfolie allerdings nur impliziert ist. Zuweilen wird Leonard von seinen Gegenübern aufgefordert, sich für sein Vertrauen in den Mediengebrauch in Gestalt von Polaroids, schriftlichen Notizen oder Tätowierungen zu rechtfertigen. Wenn er dann vertritt, durch sein materialisiertes Gedächtnis objektiver erinnern zu können, da vor den Verzerrungen des Gedächtnisses gefeit zu sein, so expliziert er das ansonsten narrativ konfigurierte Vergleichsverhältnis.68 Die Narration konterkariert indes den verbal erhobenen Anspruch, indem sie zeigt, wie die Stabilität entkontextualisierter Daten folgerichtig zum tödlichen Verhängnis für eine Figur wird. Die diversen von Leonard gespeicherten Informationen fügen sich zu einer Kette von ›Agenten‹, die ihm als Aufschrift auf einem Polaroid schließlich befehlen: »Kill him!« Eingespeicherte Information gewinnt in der Experimentalsituation eine Eigendynamik, weil der Kontext der Einspeicherung – und damit die ursprüngliche Bedeutung – nicht mitgespeichert wird,69 denn sonst müsste Leonard wissen, dass 67 Vgl. Jens Ruchatz: »Externalisierungen. Gedächtnisforschung als mediale Anthropologie«, in: Handlung Kultur Interpretation 12/1 (2003), S. 94-118, hier S. 94f. 68 Teddy: »You can’t trust a man’s life to your little notes and pictures, because your notes could be unreliable.« – Leonard: »Memory’s unreliable. Ask the police. Eyewitness testimony’s unreliable. Cops don’t catch killers by sitting around remembering stuff. They collect facts, they make notes and they draw conclusions. Facts, not memories, that’s how you investigate. […] Memory can distort the shape of a room, it can change the colour of a car. And memories can be distorted, they are just an interpretation, they’re not a record. And they’re irrelevant if you have the facts.« 69 Die De-Kontextualisierung des reinen Speichergedächtnisses wird auch als Unterscheidung im unterschiedlichen Gebrauch von Fotografien greifbar: Natalie, eine Frau, der Leonard auf der Suche nach dem Mörder seiner Frau begegnet, verwendet eine private Fotografie als Auslöser von Erinnerung an ihren getöteten Geliebten, wohingegen es für Leonard hinter seinen Polaroids nichts weiter gibt, an das er sich von ihnen ausgehend erinnern könnte.
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er den ersten Hinweis selbst mutwillig gelegt hatte. MEMENTO unterscheidet so mediatisiertes und ›natürliches‹ Erinnern. In zweiter Linie differenziert MEMENTO sowohl diese Erkenntnis als auch vergleichend verschiedene Medien. Dass fotografische Bilder der Kontextualisierung bedürfen, macht der Film sichtbar, indem Leonard sie immer durch Beschriftung ergänzt70 oder sie gar auf einer Karte mit den abgebildeten Orten identifiziert. Unauslöschliche Tätowierungen formulieren im Gegensatz zu Papierdokumenten die wesentlichen Lebensprinzipien, gewissermaßen Leonards Identitätswissen.71 Andererseits fordert Leonard immer wieder zum Vergleich zwischen Face-to-Face-Kommunikation und Telefonaten auf, die er vermeidet, weil er dem Gesprächspartner nicht ins Gesicht sehen kann. Im Gegensatz zu anderen hier thematisierten Filmen nutzt MEMENTO den Film stärker als Terrain, auf dem der Vergleich möglich wird, als selbst in die Vergleichsrelation einzurücken: Er ist dann nicht primär reflektiertes, sondern reflektierendes Medium, das in der Lage ist, die Grenzen menschlicher und mediengestützter Erinnerung dar- und einander gegenüberzustellen. MEMENTO zeigt folglich, wie ein narrativer Spielfilm zentral auf Medienvergleich hin angelegt sein kann, dabei einerseits mit seinen Mitteln andere Medien in ihren Leistungen kontrastiert wie auch Medialität und ›Natürlichkeit‹ unterscheidet, andererseits auch sich selbst mit mindestens einem der thematisierten Medien vergleicht, indem er seine eigene zeitliche und sinnkonstruierende Komplexität akzentuiert.72 Einen weiteren Typus filmischer Medienreflexion bietet der Film THE MODERNS (A. Rudolph, USA 1988), indem er eine technik- und ideengeschichtliche Verortung der relevanten Medien der klassischen Moderne vornimmt. Die Handlung des Films ist im Pariser Bohème-Milieu des Jahres 1926 angesiedelt und greift Ernest Hemingways autobiographische Darstellung der Lost Generation in A Moveable Feast lose auf, verkoppelt sie aber mit der fiktiven Geschichte eines Kunstfälschers, der sich schließlich von der Avantgarde lossagt und nach Hollywood geht, »dorthin, wo die Bilder sich bewegen«. Neben seiner ironischen Zeichnung klassischer Vertreter dieser Epoche wie Hemingway, Stein, Toklas oder der Surrealisten und Dadaisten perspektiviert THE MODERNS die zentralen ästhetischen und medientechnologischen Zäsuren jener Jahre, die sich über die Differenzen Original/Reproduktion, Kunst/Gebrauchsmedien und Avantgarde/Kunstmarkt voranschreiben, und feiert den Film schließlich als medienhistorischen Kulminationspunkt, der diese Antagonismen, die den Kulturbetrieb der 1920er Jahre ja entscheidend prägten, überwindet. Den Protagonisten der zeitgenössischen Avantgarden und deren Programm einer autonomen Kunst und eines autonomen Künstlersubjekts stellt 70 Vgl. hierzu Martin Hermann: »›Something to remember you by‹. Fotografie und Schrift als Erinnerungsmedien in Christopher Nolans Spielfilm Memento«, in: Sabrina Becker/Barbara Korte (Hg.), Visuelle Evidenz. Photographie im Reflex von Literatur und Film, Berlin, New York 2011, S. 164-179. 71 Leonard: »If a piece of information is vital, write it on your body instead of a piece of paper, it’s a permanent way of giving yourself a note«. 72 Ein ähnliches Beispiel stellt die romantic comedy SLEEPLESS IN SEATTLE (N. Ephron, USA 1993) in Bezug auf die Medien der Liebe dar, oder BLOW UP (M. Antonioni, GB/USA 1966) in Bezug auf die Referentialität von Bildern.
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Rudolphs Film ostentativ nicht nur einen exemplarischen Kunstsammler gegenüber, der Kunstbesitz als reine Kapitalanlage und als Instrument des sozialen Aufstiegs versteht, sondern eben auch immer wieder Berufsvertreter der aufkommenden Massenkultur: Klatschkolumnisten, Karikaturisten, Plakatdesigner, Werbegrafiker. Entsprechend zerfällt die diegetische Welt hier in die hermetischen Orte der Kunstpraxis (Salons, Museen, Ateliers) und jene des öffentlichen Raumes, der Straßen und Hauswände, die längst von den Erzeugnissen der technisch reproduzierbaren Medien beherrscht werden. Wenn die Vertreter der klassischen Moderne wie Hemingway, Stein & Co. diesem Siegeszug einer industriell geprägten Gebrauchskunst unbeirrt das romantische Ideal einer genieorientierten Kunstpraxis entgegenstellen, verkennen sie den zäsuralen Charakter des mediengeschichtlichen Wandels, den Walter Benjamin ja hellsichtig zugleich als Ende der autonomen Kunst überhaupt begriffen hat: »Indem das Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer der Schein ihrer Autonomie.«73 Gleichsam als letztes Aufbäumen eines vortechnischen Zeitalters kündigt sich mit den Dadaisten in der Filmhandlung bereits eine Strömung an, die das ›Ende der Kunst‹ lauthals proklamiert und deswegen vom Pariser Kunstestablishment argwöhnisch beäugt wird. Wenn dann der neureiche und ästhetisch ungebildete Kunstsammler dank einer gezielten Intrige ›Originale‹ von Cézanne, Matisse und Modigliani für ›Fälschungen‹ hält und diese wutentbrannt zerschneidet und ins Feuer wirft, können die anwesenden Kunstkritiker dahinter nur eine »dadaistische Provokation« vermuten, die zwar an den Rändern, aber immerhin noch innerhalb des etablierten Kunstsystems operiert. Der wahre Modernismus jedoch wird in THE MODERNS mit ebenjenen technisch basierten Medien assoziiert, die sowohl den Kultstatus des Bildes als auch den des handwerklich privilegierten Künstlers hinter sich lassen werden und stattdessen der »Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion [Herv. i. O.]«74 Rechnung tragen, wie dies in THE MODERNS durch die Miniaturreplika des Eiffelturms exemplifiziert wird, von denen eine gleich zu Beginn des Films (unmittelbar nach einer s/w-Totalen des Turms) dem Protagonisten für seine persönliche Sammlung auf dem sprichwörtlichen Silbertablett serviert wird (vgl. Abb. 9 & 10).
73 Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1966, S. 22. 74 Ebd., S. 15.
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Abb. 9 & 10: Das architektonische Insignium der Moderne und seine kunsthandwerklichen Reproduktionen: Variationen des Eiffelturms in THE MODERNS
Zwischen die Pole der technischen Reproduktion und des handwerklich verfertigten Unikats setzt THE MODERNS konsequenterweise die Figur des Gelegenheits-Kunstfälschers Hart, der zur Durchführung eines Versicherungsbetrugs mit der Anfertigung von Kopien dreier kanonischer Gemälde von Cézanne, Matisse und Modigliani beauftragt wird. Besteht einerseits der »Sonderstatus des modernen Kunstwerkes in seinem nichtreproduzierbaren Unikatcharakter hinsichtlich seines Ursprungs, seiner formalen, materialen und inhaltlichen Komplexität«,75 so bedarf die Kopie, um zur Fälschung zu werden, andererseits v.a. der illegitimen Signatur, denn, so wiederum Benjamin: »Der Fetisch des Kunstmarktes ist der Meistername.«76 Beiden Fälschungsakten, dem des Nachmalens der Originale wie dem Auftrag der Signatur, widmet der Film seine Beobachtung und macht darin die Formwerdungsprozesse der Malerei wie der (Unter-)Schrift am Sonderfall der Fälschung einsichtig. Gilt der versierte Kunstfälscher, wenn schon nicht moralisch oder juristisch, so doch zumindest ästhetisch als kongenialer Nachschöpfer, indem er die maniera des ursprünglichen Meisters nicht nur perfekt imitiert, sondern vielleicht sogar übertrifft,77 so verweigert die Figur Harts selbst noch diesen letzten Triumph handwerklicher Könnerschaft über die technische Reproduktion. Selbst nur ein bestenfalls mittelmäßiger Maler, lässt sich Hart nur widerwillig auf das unmoralische Angebot der Fälschung ein, vollzieht seinen Auftrag dann aber letztlich auch unter Zuhilfenahme technischer Hilfsmittel wie Fotografie und Projektion. Der Film beobachtet also die langsame Transformation eines Malaktes in den der technisch gesteuerten Nachzeichnung – auch diesbezüglich steht Hart somit exakt zwischen den antagonistischen Kräften der Moderne (vgl. Abb. 11).
75 Stefan Römer: »Zwischen Kunstwissenschaft und Populismus. Die Rede vom Original und seiner Fälschung«, in: Ann-Kathrin Reulecke (Hg.), Fälschungen – Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaften und Künsten, Frankfurt/Main 2006, S. 347-363, hier S. 353. 76 Walter Benjamin: »Eduard Fuchs, der Sammler und der Historiker«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, S. 65107, hier S. 105. 77 Vgl. S. Römer: Zwischen Kunstwissenschaft und Populismus, S. 349-351.
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Abb. 11: Der Kunstfälscher im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit: Hart zeichnet die Konturen anhand einer Lichtbildprojektion nach
Fällt er hierdurch als Verkörperung des kongenialen Fälschers aus, so gewinnt er dennoch in einem Kontext, der noch von zahlreichen anderen Dimensionen des Falschen (vorgetäuschten Biographien, vorgetäuschten Todesfällen, vorgetäuschtem Kunstsachverstand etc.) geprägt ist, an paradigmatischem Status als Personifikation eines dezidiert modernen, weil reflexiven Films, der nach Gilles Deleuze immer schon den ›Mächten des Falschen‹ verschrieben ist: »Zusammenfassend könnte man sagen, dass der Fälscher zur Personalisierung des Films schlechthin wird […]. Früher konnte er in einer bestimmten Form existieren, als Lügner oder Verräter, nun aber nimmt er eine unbegrenzte Gestalt an, die den ganzen Film prägt.«78
Dem Film selbst wächst innerhalb des mediengenealogischen Schismas zwischen Malerei und technischen Bildmedien, das THE MODERNS entfaltet, nun das Potential zu, die paradigmatische Loslösung des Gemäldes von seinem Urgrund, die Entkoppelung von materieller Basis und malerischem Zeichen, visuell durchzuexerzieren. In der Heckscheibe eines Taxis wird mit einem Mal ein gemalter Stadtprospekt ansichtig und aus den Fenstern eines Salons blicken die Figuren auf den Eiffelturm – jedoch nicht etwa als realfotografisches Abbild, sondern in Gestalt der berühmten simultaneistischen Gemälde Robert Delaunays (vgl. Abb. 12 & 13).
Abb. 12 & 13: Dislozierung als Reflexionsfigur: Die Gemälde Delaunays ersetzen die filmische Indexikalität
78 Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt/Main 1991, S. 176.
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Die Wahl gerade dieses Motives geschieht sicher nicht zufällig, sondern agiert als weitere medienreflexive Ebene, waren es doch gerade Delaunays polyperspektivische Darstellungen des Eiffelturms, die Sergei Eisenstein als filmanaloges Montageverfahren klassifiziert hat und die ihn für seine eigene Konzeptualisierung des Films inspirierten.79 Diese Dislozierung der Gemälde durch das Filmbild durchbricht den diegetischen Antagonismus zwischen öffentlichem und Kunstraum, zwischen der Indexikalität der technischphotochemisch operierenden Bildmedien und der Abstraktion der modernen Malerei, und initiiert hierdurch eine umfassende Mobilisierung des Bildes, des Blickes und des Betrachters,80 die im Medium Film schließlich idealtypisch eingelöst erscheint. THE MODERNS zeigt intradiegetisch sein eigenes Dispositiv zwar ausdrücklich nicht vor,81 sondern belässt es bei Anspielungen auf der Dialogebene. Seine eigenen filmischen Operationen jedoch thematisieren unentwegt die Optionen des filmischen Bildes, das Schisma zwischen Avantgarde- und Gebrauchskunst, Schöpfertum und Kommerzialisierung, Autorenschaft und Kollektiv, Original und Fälschung dialektisch aufzuheben – eben als wahre Vollendung der Moderne. Die medienreflexive Spezifik von THE MODERNS besteht also darin, dass der Film über die reine Beobachtung von je anders gegründeten medialen Formwerdungsprozessen hinausgeht, sie vielmehr einlässt in eine Reflexion der kunstsoziologischen und der technikgeschichtlichen Ermöglichungsbedingungen unterschiedlicher Medien. Ähnlich wie schon bei MEMENTO, so dient auch hier der prüfende Vergleich einer Neukonfiguration des Beobachtungsmediums selbst, das sich in historisierender Perspektive teleologisch als Konsequenz und Überwindung der kunst-, technik- und medienhistorischen Zäsuren des 19. und 20. Jahrhunderts installiert.
Medienreflexion im Film – Zur Struktur des Bandes und seiner Sektionen Nach allem zuvor Ausgeführten versteht es sich von selbst, dass die Unterteilung und Rubrizierung des Bandes in insgesamt 6 Sektionen unsererseits lediglich eine kontingente Zurichtung des gesamten Untersuchungsfeldes darstellt. Andere Zusammenstellungen der Einzelbeiträge wären selbstredend ebenso denkbar und sinnvoll gewesen. Gleiches gilt für die letztendliche Auswahl der vom und im Film reflektierten Medien, wobei die von den Fil79 Vgl. Joachim Paech: »Bilder von Bewegung – Bewegte Bilder«, in: Monika Wagner (Hg.), Moderne Kunst 1. Das Funkkolleg zum Verständnis der Gegenwartskunst, Reinbek 1991, S. 237-264, hier S. 244. 80 Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel 1996, v.a. S. 103-140. 81 Vielmehr spielt die letzte Sequenz im Museum of Modern Art, wo die nach Amerika übergesiedelte Gruppe um Hart ironisch-genüsslich der Lobpreisung eines Kunstkritikers über die »unverwechselbare Handschrift« von Matisse und Co. lauscht, die sich nun gerade an den von Hart ›gefälschten‹ Gemälden vollzieht. Demonstrativ kehrt die Gruppe hiernach dem Museum – und der modernen Kunst allgemein – den Rücken, um nach Hollywood weiterzureisen.
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men selbst vorgenommenen Zuweisungen die primäre Orientierungsfolie darstellen sollten: Als Objekt filmischer Medienreflexion sollte gelten, was Filme im oben explizierten Sinn als Medium thematisieren. Obwohl sich dabei durchaus zahlreiche Überschneidungen zu den klassischen Medienkanones ergeben, zeichnen sich auch andere Ordnungslogiken ab, die mit ersteren nicht identisch sein müssen. Hierdurch rücken auch Beiträge zur Tätowierung, zum Geld oder zu Licht und Schatten als Medien in den Fokus. Evident ist auch, dass die Auswahl der Filmbespiele in jedem Einzelbeitrag nur paradigmatischen Charakter haben kann, wobei Umfang und Zusammenstellung des jeweiligen Korpus den BeiträgerInnen überlassen geblieben ist. Dem Handbuch-Charakter des Bandes entsprechend, ging es uns auf allen strukturellen Ebenen lediglich darum, perspektivische Fallstudien zu entwickeln, die im Idealfall ein möglichst breitgefächertes Feld kinematografischer Reflexion von Medialität aufspannen sollten, an das andere und vertiefende Studien dann ggf. anknüpfen könnten. Die erste Sektion beschäftigt sich mit FILMISCHEN (RE-)KONSTRUKTIONEN EINER VORGESCHICHTE DES FILMS und verdeutlicht damit den Umstand, dass der Film nicht nur seine gegenwärtigen und gewachsenen Relationen zu anderen Medien vergleichend reflektieren, sondern in der Beobachtung anderer Medien und ihrer Formen zugleich eine Autogenealogie schreiben kann, die Perspektiven auf die eigenen Ursprünge und Filiationen formuliert. In den Beiträgen von NICOLE WIEDENMANN, JENS RUCHATZ und OLIVER FAHLE stehen einige besonders prominente derartige Vorgeschichtsschreibungen im Mittelpunkt, die nicht von ungefähr primär der metaphorischen Ableitung des Films aus anderen visuellen Dispositiven verschrieben sind: Licht/Schatten bzw. Schattenspiel, Projektionsapparaturen oder optischen Instrumenten allgemein. Auch dies wird darüber als eine spezifische Reflexionsleistung des Films einsichtig, nämlich seine dispositive und soziokulturelle Genese medienvergleichend selbst zu verorten – und sei es in Gestalt von Ursprungsmythen. Unter der Rubrik FILMISCHE KONSTRUKTIONEN VON VERWANDTSCHAFTS- UND KONKURRENZVERHÄLTNISSEN – DIE ›NACHBARMEDIEN‹ IM SPIEGEL DES SPIELFILMS sind jene kinematografischen Reflexionen gelistet, die sich auf Medien beziehen, denen im Diskurs eine besondere Nähe und potentielle Rivalität zum Film attestiert wird – sei es, dass die Codes des Films partielle Schnittmengen mit denjenigen des ›Nachbarmediums‹ aufweisen (etwa in Gestalt des Schauspiels, der fotochemischen Repräsentation, der visuellen Komposition auf der Fläche etc.), sei es, dass eine spezifische Form von Konkurrenz aufgrund einer hohen Codeüberschneidung vermutet wird (was cum grano salis für alle anderen audiovisuellen Dispositive gilt). Dass dies wiederum rein diskursive Setzungen sind, denen keine in der Sache selbst gegründete Faktizität eignet, ist evident, es erklärt aber zugleich den persistierenden Aushandlungsbedarf der fraglichen Relationen im Film selbst. Während die Beiträge von STEFANIE DIEKMANN und NORBERT M. SCHMITZ mit dem Theater bzw. der Malerei zwei tradierte Künste behandeln, denen auch in der medientheoretischen Abgrenzung des Films besondere Wirkmächtigkeit zukam, beleuchten ARNO METELING und JÖRN GLASENAPP mit dem Comic und der Fotografie zwei historisch jüngere Bildmedien, die in je eigener Zurechnung häufig als Vorläufer der Kinematografie diskutiert worden sind. Mit den elektronisch basierten AV-Medien Fernsehen, Video
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und den portablen Medien greifen die Analysen von LISA GOTTO, ROLF F. NOHR und MATTHIAS THIELE auf drei diskursiv notorisch als Konkurrenten oder gar Überwinder des Films etikettierte ›Nachbarmedien‹ aus. War die Zuordnungslogik der letzten Sektion noch stark auf die unmittelbaren Vergleichsoperationen zwischen zwei Einzelmedien fokussiert, so erweitert die dritte Sektion unter dem Titel FILMISCHE KONSTRUKTIONEN VON DIFFERENZVERHÄLTNISSEN – MEDIENREFLEXION IM FILM ANHAND DER LEITDIFFERENZEN ›SCHRIFT/BILD‹ UND ›ANALOG/DIGITAL‹ den Beobachtungshorizont nun auf medienüberspannende Differenzbehauptungen, denen besonders in medienhistoriographischen Systematisierungsversuchen eine gewisse Prominenz zukommt: nämlich die Schismatisierungen zwischen Schrift- und Bildmedien einerseits, analog und digital fundierten Medientechnologien andererseits. Hier gilt das Beobachtungsinteresse entsprechend v.a. der Frage, wie sich der Film selbst innerhalb oder außerhalb dieser Dichotomien positioniert. Signifikant häufig beschäftigt sich der Film mit verschiedenen Konstellationen von Schriftlichkeit, die in den Beiträgen von ANDREAS BÖHN/DOMINIK SCHREY, SVEN GRAMPP und CHRISTINE MIELKE einzeln beleuchtet werden: der Schrift, den Schreibwerkzeugen und dem Akt des Lesens und Schreibens selbst. Mit der Zeitung und der Postkarte stehen zwei besonders wirksame Formen der literalen Distribution und daran geknüpft der raumüberwindenden Kommunikation im Zentrum der Aufsätze von CHRISTINA BARTZ und HANS J. WULFF, wobei hier die zweite Differenzlinie ›analog/digital‹ in der historischen Modifikation der fraglichen Kommunikationsformen bereits integriert wird. Mit einer Sonderform der ›EinSchreibung‹, nämlich der Tätowierung, sowie der Haut als medienkomparatistischem Tertium beschäftigt sich ANDRÉ GRZESZYK, während mit der Kartographie und allgemeiner der diagrammatischen Ikonizität im Beitrag von CHRISTOPH ERNST eine mediale Konstellation aufgerufen wird, die beide Dichotomien (Schrift/Bild, analog/digital) notorisch unterläuft. Mit dem Masterdispositiv des digitalen Zeitalters, dem Computer, und den zahlreichen filmischen Fantasien, die dieser schon seit Jahrzehnten freisetzt, ist dann der abschließende Text von STEFAN HÖLTGEN befasst. Die Sektionen 4 und 5 organisieren sich dann wiederum über eine andere Perspektivierung, die zusammenfassend mit WEITERE MEDIALE FUNKTIONEN IN FILMISCHER REFLEXION überschrieben ist. Nunmehr stehen basale mediale Funktionen im Mittelpunkt, die nicht zwangsläufig mit einem Einzelmedium kurzgeschlossen werden können. Die dabei zugrundegelegte Binnendifferenzierung zwischen den Funktionsbereichen HÖREN, SPRECHEN, TÖNE SPEICHERN und ÜBERMITTELN, KOPIEREN, TAUSCHEN (über-)akzentuiert natürlich letztlich jeweils einen medialen Funktionsbereich zugunsten anderer (so wäre das Telefon ebenso gut der Funktion ›Übermitteln‹ zuzuschreiben gewesen). Als insofern rein heuristisches Moment subsumiert die Überschrift der vierten Sektion in den Beiträgen von PETRA MARIA MEYER, JAN DISTELMEYER, BJÖRN BOHNENKAMP und HEDWIG WAGNER filmische Reflexionen der auditiven Klangerzeugung, -übermittlung und -speicherung in Gestalt der Basisdispositive Radio, Schallplatte, Telefon und Anrufbeantworter und deren jeweiligen medientechnologischen Ablegern und Entwicklungsstufen. Die in Sektion 5 aufgerufenen Basisfunktionen werden dann jeweils exemplarisch in einem dispositiven Konnex verhandelt: So erscheint die Telegrafie im Beitrag von THOMAS NACHREINER als Paradigma des
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Übermittelns; Reproduktionsmedien wie der Fotokopierer stehen im Mittelpunkt des Aufsatzes von LARS NOWAK/PETER PODREZ und mit dem klassischen Tauschmedium schlechthin, dem Geld, beschäftigen sich die Beobachtungen von RALF ADELMANN/JAN-OTMAR HESSE/JUDITH KEILBACH/MARKUS STAUFF. Die letzte Sektion schließt dann gewissermaßen den zeitlichen Bogen, der mit der Konstruktion von Vorgeschichten des Films begonnen hatte. Unter dem Stichwort FIKTIONALE MEDIENREFLEXION beschäftigt sich der Beitrag von THOMAS WEBER mit ›futurischen Medien‹ und zeigt auf, dass die ›prüfende Vergleichstätigkeit‹ des Films auch auf ›Medien‹ ausgreifen kann, die (noch) gar nicht existieren, dass die Medienreflexion Medien also hervorbringt und nicht einfach nur abbildet. Auch an einer solchen Autohistoriographie des Films wird das Medium fraglos künftig noch weiterschreiben…
Danksagungen Viele der BeiträgerInnen dieses Bandes entstammen dem Umfeld des Erlanger Instituts für Theater- und Medienwissenschaft, an dem die beiden Herausgeber bis vor kurzem gemeinsam gelehrt und geforscht haben. Dass die methodische Ausrichtung dieses Bandes jedoch beileibe kein Privileg einer ›Erlanger Schule‹ darstellt, davon zeugt allein schon ihre hohe Anschlussfähigkeit an die Arbeit zahlreicher Forscherinnen und Forscher anderer Standorte, mit denen uns eine z.T. langjährige kollegiale Wertschätzung und Zusammenarbeit verbindet und über deren Mitarbeit wir uns entsprechend gefreut haben. Umso mehr sind wir allen unseren BeiträgerInnen zu großem Dank verpflichtet, insbesondere für die unendliche Langmut, mit der sie das mehrjährige Warten auf das Erscheinen ihrer Aufsätze (fast) klaglos akzeptiert haben. Gleiches gilt für den transcript-Verlag und seine MitarbeiterInnen, deren periodische Nachfragen von uns leider immer wieder mit neuen Bitten um Aufschub beantwortet werden mussten. Ohne die großartige Zusammenarbeit mit Boris Goesl bei der Projektvorbereitung und der Initialphase der Materialsammlung sowie mit Peter Podrez bei der Fertigstellung und minutiösen redaktionellen Betreuung des Bandes wären wir fraglos noch mehr in Verzug geraten bzw. wäre die Veröffentlichung schlicht unmöglich gewesen. Beiden gilt daher unser unendlicher Dank! Schließlich bedanken sich die Herausgeber noch sehr herzlich bei den Förderinstitutionen der Friedrich Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die unsere Arbeit finanziell unterstützt und mit Druckkostenzuschüssen die Veröffentlichung des Bandes erst ermöglicht haben – namentlich der Dr. German Schweiger-Stiftung und dem Universitätsbund Erlangen-Nürnberg.
EINLEITUNG
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FILMISCHE (RE-)KONSTRUKTIONEN EINER VORGESCHICHTE DES FILMS
Der Anfang des Films zeigt den Anfang des Films. Licht und Schatten in filmischer Reflexion NICOLE WIEDENMANN
In ihrem Roman Sechzig Lichter zeichnet Gail Jones eine Archäologie der Fotografie nach, deren systematischer Ausgangspunkt das Licht- und Schattenbild ist. Die aufgerufenen Licht- und Schattendispositive reichen dabei vom Silhouettieren eines Profils über die Laterna magica und die Stereoskopie bis hin zur frühen Porträtfotografie. Von diesen gerade im 18. und 19. Jahrhundert so populären Artefakten beeindruckt, prophezeit die Romanheldin eine Apparatur des Lichts, die in ihrer Welt noch nicht erfunden wurde: »Thomas ist ebenso wie ich überzeugt, dass es eines Tages Vorführungen mit bewegten Bildern geben wird, in denen Geschichten nicht vermittels gestellter Szenen erzählt werden [wie bei der Laterna magica; N.W.], sondern durch die Simulation des Lebens selbst in all seiner Unruhe und seinem bunten Durcheinander. Die Zuschauer werden die Vorführungen besuchen, als beträten sie einen Traum, und sie werden Erscheinungen in einem Königreich des Lichts se1 hen.«
Jones’ Roman ist also auch eine Archäologie des Films, der prägnanterweise als »Königreich des Lichts« beschrieben wird. Prägnant deshalb, da hier eine berühmte Formulierung aus der Zeit unmittelbar nach der Geburt des Films anzitiert wird – nur fiel sie damals aus einer weniger euphorischen, ja diametral entgegengesetzten Perspektive. Bereits 1896 bezeichnet Maxim Gorki die neue visuelle Attraktion – nicht ganz ohne Enttäuschung – als »Königreich der Schatten«: »Last night I was in the kingdom of shadows. If you only knew how strange it is to be there. It is a world without sound, without colour. Everything there – the earth, the trees, the people, the water and the air – is dipped in monotonous grey. […] It is not life but its shadow, it is not motion but its soundless spec2 tre.«
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Gail Jones: Sechzig Lichter, München 2009, S. 177. Zit. n. Colin Harding/Simon Popple: In the Kingdom of Shadows. A Companion to Early Cinema, London 1996, S. 5.
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Beide Aussagen beschreiben unabhängig von ihrem Fiktionsgrad den Film mit einer jeweils anderen Pointierung und beleuchten dabei quasi nur eine Seite der Medaille, ist doch das Eine ohne das Andere nicht nur nicht zu denken, sondern schlichtweg nicht existent: Der Film ist demnach – wenn überhaupt – eine Licht- und Schattenkunst. Versteht man im Sinne einer zentrierenden Kategorie,3 wie sie allen ontologischen Medienbestimmungen zu eigen ist, den Film allein als ein Lichtund Schattenmedium und weist – wie Gorki – damit zugleich andere denkbare zentrierende Kategorien ab – hier: Bewegung –, so schlägt sich diese systematische Zuweisung strukturanalog auch in der Konstruktion einer Genealogie des Films nieder. Als Ausgangspunkt einer solchen Vorgeschichte des Films wird dann entsprechend häufig das Schattenspiel gewählt. »Beide – Schattenspiel und Kinematographie – leben vom Licht«,4 daher attestiert Friedrich von Zglinicki ihnen eine besonders enge Verwandtschaft, die in Lotte Reinigers Scherenschnittfilmen symbolhaft zum Ausdruck kommt. Die alte Schattenbühne als Ursprungsort und das moderne Medium Film wachsen hier zusammen, der Silhouettenfilm zeugt somit von der Genese des Films an sich.5 Ähnlich sieht Werner Nekes das Schattentheater als einen »wesentlichen Strang in der komplexen Entwicklungsgeschichte des Films«.6 Und weiter: »Für mich beginnen die optischen Medien mit dem Schattentheater, mit dem Schattenspiel. Wir haben dort schon alle Elemente beieinander, die auch im Film gültig sind: das Licht, also die Projektion, die Abbildung und die Narration.«7 Es zeigt sich also, dass diese Form der Vorgeschichtsschreibung recht prominent und auch persistent ist – womöglich auch deshalb, weil die historische Referenz auf das Schattenspiel ermöglicht, einen großen geschichtlichen Bogen zu spannen,8 als dessen Telos der Film figuriert. Indem man Licht und Schatten als die konstitutiven Bestandteile des Films versteht, wird zugleich eine genealogische Reihung gesetzt, die unterschiedlichste optische Apparaturen und Medien mit einbeziehen kann, neben dem Schattenspiel u.a. auch die Camera obscura, das Diorama oder – wie schon angesprochen – die Laterna magica und schließlich die Fotografie. Zu weitgespannten Vorgeschichten dieser Art sind freilich auch Alternativentwürfe geschrieben worden, die ihrerseits den Film als dezidiertes Kind der Moderne begreifen und in der Industrialisierung verorten: »Es gibt 3 4 5 6 7
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Vgl. Rainer Leschke: Einführung in die Medientheorie, München 2003, S. 77. Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films, Hildesheim, New York 1979, S. 23. Vgl. ebd. Werner Nekes: »Die große Kunst des Lichtes und der Schatten«, in: Schnitt. Das Filmmagazin 34 (2004), S. 12-15, hier S. 13. Ebd. Allerdings bleiben – wie Norbert M. Schmitz bemängelt – die »häufig angeführten Gemeinsamkeiten zwischen den Medien Film und Schattenspiel im Sinne der technisch apparativen Analogien, z.B. die weiße Leinwand in sonstiger Dunkelheit, die Beweglichkeit der Figuren etc. […] recht oberflächlich«; Norbert M. Schmitz: »Über die Mythologie der Zeit«, in: Schnitt. Das Filmmagazin 34 (2004), S. 16-19, hier S. 16. Große geschichtliche Spannbreiten sind insofern attraktiv, als sie der Legitimierung eines Mediums dienen können, wenn sie es in Kontinuität zu den Anfängen der Kultur setzen.
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Filmhistoriker, die tatsächlich die Ursprünge des Films im ›Nebel vorgeschichtlicher Zeit‹ gesucht haben, dennoch dürfte feststehen, dass der Film ein ›Kind der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts‹ ist.«9 Entsprechend akzentuieren andere Vorgeschichtsschreibungen des Films – wie etwa die von Joachim Paech oder Lorenz Engell – eben die Bewegungs-, Wahrnehmungsund Sinnmodifikationen des industriellen Zeitalters als Ausgangspunkt der Film(vor)geschichte.10 Die Tatsache, dass die Licht-/Schattenkategorie durch andere zentrierende Kategorien ersetzt werden kann, verdeutlicht die vielleicht nicht gerade beliebigen, aber jedenfalls variablen retrospektiven Ursprungsbestimmungen des Mediums. Grund hierfür sind, wie es Jörn Rüsen bezüglich der Geschichtsschreibung allgemein formuliert, die »Strategien historischen Denkens«: »Am Anfang jeder Geschichte steht (genetisch gesehen) nicht ihr Anfang, sondern ihr Ende: Einem Resultat vergangenen menschlichen Handelns wird eine solche Bedeutung beigemessen, dass seine Genese (wie es eigentlich geworden ist) zu kennen wichtig ist. Die Genese ist dann gegeben, wenn eine zu diesem Resultat führende empirische Handlungsfolge gefunden worden ist, deren Sinn die in Frage stehende Bedeutung aufklärt (Der Anfang der Handlungsfolge ergibt sich daraus, dass nur soweit zeitlich zurückgegangen werden braucht, bis sich 11 der gesuchte Sinn ergibt).«
Die Herleitung der Spezifik eines Mediums aus seiner Vorgeschichte ist in diesem Sinne ein Konstruktionseffekt des jeweiligen Medienhistorikers: Die konstitutiven Merkmale des Films werden als Fluchtpunkt einer Vorgeschichte beschrieben, nachdem der Fluchtpunkt – hier: Film ist eine Lichtund Schattenkunst – vorgegeben worden ist. Jens Ruchatz spricht daher von dem »Problem der Offenheit der Vorgeschichte«.12 Ist der Beginn der Kinogeschichte mit der ersten öffentlichen Vorführung 1895 noch recht klar markiert, so »kennt die Vorgeschichte des Kinos keinen vergleichbar eindeutigen Punkt: die Bandbreite an vorgeschlagenen Ursprüngen reicht vom 19. Jahrhundert bis in wahrlich vorgeschichtliche Zeit«.13
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Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart, Weimar 1997, S. 1; vgl. hierzu auch Lorenz Engell: Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt/Main 1992, S. 9-40. Vgl. hierzu Joachim Paech: »Die Ankunft des Zuges«, in: epd/Film 6 (1984), S. 16-23; Joachim Paech: »Unbewegt bewegt. Das Kino, die Eisenbahn und die Geschichte des filmischen Sehens«, in: Ulfilas Meyer (Hg.), Kino-Express. Die Eisenbahn in der Welt des Films, München, Luzern 1985, S. 40-49; L. Engell: Sinn und Industrie, S. 9-40. Jörn Rüsen: »Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft«, in: Ders.: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt/ Main 1990, S. 106-134, hier S. 132. Jens Ruchatz: Zur Kritik der Archäologie des Kinos, Siegen 1996, S. 23. Ebd.
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Das Dispositiv filmen – Zur Eigenlogik filmischer Mediengenealogien Ungeachtet der unterschiedlichen Ansätze zur Bestimmung einer filmischen Spezifik und der daraus resultierenden differenten Archäologien konstruiert der Film selbst noch einmal seine eigenen Genealogien, die den Licht-/Schattenaspekt als Konstituenten behaupten. Und dies gelingt dem Film, indem er (selbst-)reflexiv auf Licht und Schatten verweist. Als einschlägiges Beispiel lässt sich IM LAUF DER ZEIT (W. Wenders, D 1976) anführen. Auch wenn der Film in erster Linie »den Tod des Kinos«15 thematisiert, verhandelt er in einer zentralen Sequenz gleichzeitig die Geburt des Films aus seiner Vorgeschichte: Der Protagonist Bruno wird zu einem Provinzkino gerufen, um kurz vor einer Filmvorführung den defekten Lautsprecher zu reparieren. Hinter der Leinwand begibt er sich mit seinem Kompagnon Robert an die Arbeit, während im Zuschauerraum Kinder auf den Beginn der Vorführung warten. Angesichts der anhaltenden Reparaturprobleme mutiert der Einsatz der Protagonisten hinter der Leinwand aber rasch zu einer Reminiszenz an den Stummfilm: Robert spielt anfangs auf einem Klavier, dann rufen Bruno und er sukzessive das komplette Bewegungsarsenal des Slapsticks ab – zur großen Freude des kindlichen Publikums, dem das Agieren der beiden dank einer Lichtquelle hinter der Leinwand zu einem zweidimensionalen Schattenspiel gerät (vgl. Abb. 1).16 Im Gesamtkontext einer fiktionalen Verfallsgeschichte des Kinos, die den zukünftigen Tod des Kinos verhandelt – in der Gegenwart blickt man dem Kino beim Sterben zu –, wächst dieser Sequenz die Funktion zu, auf der anderen Richtung des Zeitpfeils die Stationen der Entstehung des Films von der Frühgeschichte (Stummfilm) bis zum Nullpunkt seiner Vorgeschichte (Schattenspiel) zu durchlaufen.
14 Vgl. Christian Metz: »Das Dispositiv zeigen«, in: Ders.: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster 1997, S. 69-76. 15 Peter Buchka: Augen kann man nicht kaufen. Wim Wenders und seine Filme, Frankfurt/Main 1985, S. 41, S. 143. 16 Eben diese explizite Referenz auf die Kinoleinwand als Ort eines Schattenspiels formuliert die fragliche Archäologie erst aus; zudem unterscheidet sie Wenders’ autoreferenzielle Figur von anderen filmischen Schattenspiel-Reminiszenzen, die sich zwar ebenfalls auf einer lichtdurchlässigen weißen Fläche (Gaze, Paravent etc.) zutragen, nicht aber auf einer Kinoleinwand – zu denken ist an die einschlägigen Sequenzen aus THE ELEPHANT MAN (D. Lynch, USA 1980) oder ED WOOD (T. Burton, USA 1994).
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Abb. 1: IM LAUF DER ZEIT – Die Kinoleinwand gerät zum Ort eines menschlichen Schattenspiels
Auch in THE YEAR OF LIVING DANGEROUSLY (P. Weir, AUS 1982) wird der Konnex zwischen dem Schattenspiel und dem Film permanent inszeniert. Noch während des Vorspanns zeigt uns die Kamera ein Wayang Kulit, ein javanisches Schattenspiel. Der Anfang dieses Spielfilms thematisiert also viel grundsätzlicher den Anfang des Films bzw. seine Vorgeschichte, indem die historischen Wurzeln des modernen westlichen Mediums Film im traditionellen asiatischen Schattenspiel verortet werden. Geradezu programmatisch fährt die Kamera von der extremen Großaufnahme der Schattenspielfiguren auf eine Totale zurück und die von hinten gefilmten Zuschauer geraten – vor dem Schattentheater sitzend – in den Bildraum. Das Dispositiv des Kinosaals verlängert sich somit in das auf der Kinoleinwand abgebildete Dispositiv des Schattentheaters. Immer wieder reflektiert der Film sein Verhältnis zum Schattenspiel und darüber hinaus auch das Verhältnis von Fotografie und Schattenspiel: Körper werden als Silhouetten hinter Milchglas sichtbar, javanische Schattenspielfiguren werfen hinter semitransparentem Material in einer Hotelbar in Jakarta ihre Schatten (vgl. Abb. 2); die Beziehungen zwischen den Protagonisten werden in den mythischen Geschichten des Wayang Kulit gespiegelt; in einer durchblätterten Archivmappe befinden sich sowohl Fotografien des Protagonisten als auch gezeichnete Schattenspielfiguren, ferner wiederum Fotografien, die nachträglich zu Silhouetten geschnitten wurden etc. Auf der Dialogebene heißt es über das Schattentheater: »Die Schatten der Figuren sind Seelen. […] Die Mächte des Lichts und der Finsternis halten einander die Waage.« Dass ein solcher Animismus ebenso für die Fotografie mit ihrem – wie es im Film heißt – »magischen Entwicklerbad«17 und entsprechend auch für den Film gelten soll, macht Peter Weirs Melodrama anhand seiner komplexen, hier nur angerissenen Verweise immer wieder deutlich. Wenn also die historische Genealogie in THE YEAR OF LIVING DANGEROUSLY als Linie vom traditionellen indonesischen Schattenspiel über die Fotografie bis hin zum Film nachgezeichnet wird, so erinnert dies an die analoge Abstammungslinie, die von Zglinicki in seiner (Vor-)Geschichtsschrei17 Im Film versucht der Fotograf Billy Kwan durch die Fotografie, das moderne Abschatten, die Seele der Menschen zu erfassen. Daher spielen auch die Augen in seinen Bildern eine entscheidende Rolle.
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bung Der Weg des Films formuliert: »Das Licht wurde zum wesentlichen Formmittel der gestaltenden Photographie bzw. des Films und der schöpferischen Schattenspielkunst.«18 Wie von Zglinicki betonen auch die angeführten Filme vor allem die Kontinuitäten zwischen den einzelnen Medien: Licht und Schatten werden als Basiskategorien aller jeweils aufgerufenen und ins Bild gesetzten Medien verstanden. Allerdings werden in der filmischen Reflexion Differenzen zwischen den einzelnen Dispositiven nicht gänzlich ausgeblendet, sondern zwangsläufig immer gleich mitreflektiert oder zumindest artikuliert.19 Dadurch, dass die Filme ihre Vorgängermedien nicht einfach nur benennen – wie es die Filmgeschichtsschreibung tut –, sondern auch zeigen, geraten die Unterschiede – ob intendiert oder nicht – automatisch in den Blick. Die Konstruktion einer Film(vor)geschichte im Film ist somit insofern differenzierter als die Filmgeschichtsschreibung, als sich neben der zentrierenden Kategorie immer auch Abweichendes ins Bild einschreibt.
Abb. 2: THE YEAR OF LIVING DANGEROUSLY – Die Allgegenwart des javanischen Schattenspiels Wayang Kulit in den Interieurs
Die indexikalische Komponente – Der Ursprungsmythos und seine Überschreitung Die Thematisierung des eigenen Dispositivs im Kanon anderer (älterer) Dispositive ist indes nur eine der vielen Formen filmischer Selbst- und Fremdreflexion, mittels derer der Film die Positionen der klassischen Moderne in den Künsten aufgreift. Sehr viel allgemeiner zeigt sich der Film schon recht früh in seiner Geschichte als durch und durch modernes Medium, indem er die Grundlagen seiner eigenen Materialität reflektiert und damit an jene u.a. von
18 F. von Zglinicki: Der Weg des Films, S. 23. 19 Bei der Verdoppelung der Dispositivstruktur am Anfang von THE YEAR OF LIVING DANGEROUSLY – der Film zeigt uns die Zuschauer des Wayang Kulit – wird sofort auch eine Differenz zwischen beiden Dispositiven erkennbar. Während bei der Vorstellung im Kino normalerweise relative Stille herrscht, hört man bei der Vorführung des Schattenspiels permanentes Stimmengewirr der Zuschauer.
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Clement Greenberg und später Michel Foucault20 nachgewiesene Selbstreflexion der ästhetischen Moderne durch die Ausstellung der eigenen materiellen Verfasstheit anschließt. Natürlich liegt auch diesem Verfahren ein Moment der medialen Selbstdefinition zugrunde, legt doch jeder autoreferenzielle Film dergestalt vorab schon seine von ihm als essentiell erachteten Konstituenten fest. Dass Licht und Schatten hierbei eine prominente Rolle zukommt, liegt in der Logik des zuvor Entwickelten. Entsprechend ist in vielen Filmen auf der formalästhetischen Ebene eine Aushandlung der Licht- und Schattenwerte, also die Thematisierung der eigenen Beschaffenheit als fotochemisches und lichtempfindliches Medium, zu beobachten. Traditionell ein genuines Reflexionsmoment des klassischen Avantgardefilms, wie etwa in EIN LICHTSPIEL SCHWARZ-WEIß-GRAU (L. Moholy-Nagy, D/SU 1930), ist diese Figuration aber auch und vor allem den Chiaroscuro-Effekten des expressionistischen Films und später dann auch des Film Noir eingeschrieben. Diese binnenästhetische Selbstbeschreibung des Films als Spiel mit (und von) Licht und Schatten birgt jedoch nur in wenigen Fällen zugleich ein genealogisches Moment in sich, das die systematische Selbstreflexion auf eine historischgenetische Fremd- und Eigenreflexion hin erweitert. Nur dort, wo sich die ästhetische Materialität in die Reflexion des Zeichenstatus transformiert, rückt zugleich eine Konstruktion der filmischen Vorgeschichte mit in den Fokus. Denn mit dem Schatten beginnt auch eine Vorgeschichte des Films, die weniger eine (potentiell) belegbare historische Genese nachzeichnet, sondern vielmehr einen mythischen Ursprung des Licht- und Schattenbildes aufruft. Gemeint ist der Mythos von Butades, den Plinius der Ältere in seiner Historia Naturalis erzählt: Die Tochter des korinthischen Töpfers Butades zeichnet die Silhouette ihres in den Krieg ziehenden Geliebten, die sich auf der Wand abzeichnet, mit Kohle nach, um »die bevorstehende Abwesenheit ihres Geliebten zu bannen und eine physische Spur seiner Anwesenheit zu bewahren«.21 Der Mythos steht aber nicht nur für die Erfindung der Malerei,22 sondern auch für die Beziehung des Bildes zur Zeichenklasse der Indizes und damit auch für den Ursprung der Fotografie,23 insofern die Voraussetzung für den Schattenriss die Licht-Projektion ist, die den Umriss des Körpers an die Wand wirft, damit er dort fixiert werden kann. So entsteht ein doppelter Index: Der Schattenriss verweist auf den Schatten, der auf den Körper verweist. Ebenso wie in den Schattenriss schreibt sich auch in die Fotografie die ehemalige Anwesenheit eines Referenten ein, vereint doch beide in ihrer Essenz die Indexikalität, die Beglaubigung des Es-ist-da-gewesen.24 20 Vgl. hierzu Clement Greenberg: »Modernistische Malerei (1960)«, in: Karlheinz Lüdeking (Hg.), Die Essenz der Moderne, Amsterdam, Dresden 1997, S. 265-278; Michel Foucault: Die Malerei von Manet, Berlin 1999. 21 Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998, S. 118. 22 Vgl. ebd. 23 Vgl. ebd., S. 116-128; vgl. auch Martin Schulz: »Photographie und Schattenbild«, in: Marion Ackermann/Helmut Friedel (Hg.), SchattenRisse: Silhouetten und Cutouts, Ostfildern-Ruit 2001, S. 141-145. 24 Vgl. P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 120; zur ausführlichen Erörterung der Identitäten und Differenzen von Schattenriss und Fotografie vgl. ebd., S. 118-121.
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Für den Film als fotochemisches Medium gilt jene Form der Indexikalität nicht minder: Auch das filmische Bewegungsbild bezeugt die einstige Existenz des Referenten bei seiner gleichzeitigen Abwesenheit und »ist diesem Verständnis nach nicht die Repräsentation eines Objekts, sondern die Spur von etwas Abwesendem. […] Das heißt mit dem Referenten des Bildes, also mit dem, was das Bild zeigt und was in ihm anwesend ist, wird gleichzeitig und implizit auch seine Abwesenheit wahrgenommen.«25 Genau dieser Umstand wird in NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (F. W. Murnau, D 1922) besonders reflektiert, auch wenn das Spiel mit Licht und Schatten hier vielfältigen narrativen, symbolischen und ästhetischen, aber eben auch medienreflexiven Momenten geschuldet ist. So zeigt Friedrich Wilhelm Murnau die geheimen Affinitäten der ›Lichtgestalten‹ Hutter und Ellen zur Schattenwelt des Vampirs immer wieder durch den nuancierten Umgang mit den Schatten seiner Protagonisten auf, etwa wenn Hutters Aufwachszene in Nosferatus Schloss ausdrücklich als Schattenspiel inszeniert wird, Hutter einen großen Schlagschatten auf die monochrome Fläche eines Kamins wirft und seine Handlungen eine Verdoppelung in Gestalt seiner Schattenfigur erfahren. Noch deutlicher auf die Indexikalität des Schattens abgestellt ist die Mise-en-scène beim Versuch des Vampirs, das Blut Hutters zu saugen, wenn allein Nosferatus riesiger, verzerrter Schatten auf sein Opfer fällt, während der Blutsauger selbst im Off bleibt: »Der Schatten zeigt, dass durch ihn etwas Abwesendes doch anwesend ist.«26 Seine Kulmination erreicht das Motiv des Schattens als Index in der finalen Szene: Als grotesker, in die Länge gezogener Schatten steigt Nosferatu die Treppe zu Ellens Zimmer hoch und beugt sich – erneut nur als Schatten sichtbar – über sein Opfer. In dem Moment, in dem nur der Schatten seiner Hand die Brust Ellens ›berührt‹, antwortet ihr Körper mit einem exaltierten Ausdruck ekstatischen Genusses. Es ist also der Schatten, der Ellens Reaktion hervorbringt, nicht der Körper des Vampirs: »Der Index wird teilweise autonom.«27 Nosferatus Körper ist nicht nur nicht im Bildraum platziert – also visuell absent –, sondern seine ganze Materialität und deren haptische Dimension scheinen hier auf den Schatten übertragen zu sein. Der Schatten hat sich vom Körper gelöst, führt ein Eigenleben und betont damit die Abwesenheit des Körpers, während diese gleichzeitig in Ellens Reaktion wieder negiert wird. Das Phantasma der Ersetzung körperlicher Präsenz durch ein visuelles Relikt (Umriss an der Wand im Butades-Mythos) oder ein Surrogat (Artefakt, Fetisch) erfährt in solchen Szenen seine filmische und paradoxe Zuspitzung: Zwar ist intradiegetisch der Körper im On absent, zugleich aber virtuell im Off präsent, aus dem er – anders als im statischen Bild – jederzeit ins On überwechseln kann. Zugleich aber ist der Film – wie jedes indexikalische Bildmedium – dem systematischen Paradoxon überantwortet, dass die durch ihn beglau25 Christina Scherer: »Zeit/Räume der Melancholie. Reflexionen des melancholischen Zeitbewusstseins im Film«, in: Margrit Frölich u.a. (Hg.), Kunst der Schatten. Zur melancholischen Grundstimmung des Kinos. Arnoldshainer Filmgespräche Bd. 23, Marburg 2006, S. 65-79, hier S. 68f. 26 Sabine Flach/Christine Blättler: »Im Licht des Schattens. Der Schatten als eigentliches Wissen in Philosophie und Kunst«, in: M. Frölich u.a. (Hg.), Kunst der Schatten, S. 41-63, hier S. 41. 27 P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 121.
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bigte gewesene Präsenz der abgelichteten Objekte immer schon als Spur eines Gewesenen (und inzwischen Absenten) fungiert. Indem NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS diese Grundbedingung der Indexikalität konkret auf den Schatten eines nicht (noch nicht/nicht mehr) präsenten Körpers projiziert, greift er medienarchäologisch die phantasmatischen Elemente des Butades-Mythos auf, wie er überhaupt im sehnsuchtsvollen Warten Ellens auf die Ankunft/Rückkehr des (un-)heimlichen Geliebten Nosferatu die Motorik des Begehrens nach dem Absenten permanent durchspielt.28 Zugleich aber triumphiert NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (intradiegetisch) über die medialen Limitationen des mythischen Schattenbildes, wenn der Vampir hiernach ins On tritt, selbst präsent wird – wenn auch nur, um sich kurz darauf in der finalen Lichtapotheose unwiderruflich aufzulösen. Der Film selbst artikuliert unmissverständlich die genealogische Komponente dieser Sequenz, indem die Wände des Interieurs, in dem sich diese Licht- und Schattenspiele zutragen, von gerahmten Schattenrissen geschmückt sind – von gezeichneten Indizes, die indes bleiben, was sie sind, nämlich Abschattungen gewesener Präsenz, während das Medium Film die Indexikalität des Schattens triumphal im Licht aufzulösen imstande ist (vgl. Abb. 3). Indem also Murnau die systematische Selbstreflexion – Film als ein indexikalisches Medium – auf eine historische Perspektivierung ausweitet – Film als Vollendung und Überschreitung aller indexikalischen Vorläufermedien –, integriert er die filmische Selbstreflexion in eine Genealogie der Indizes.
Abb. 3: NOSFERATU – EINE SYMPHONIE DES GRAUENS – Der Vampir gerahmt von zwei Scherenschnitten, kurz bevor er sich in der finalen Lichtapotheose auflöst
28 Entsprechend schreibt Dubois zum Begehren im Butades-Mythos: »Es liegt auf der Hand, dass sie [die Geschichte; N.W.] auf eine offenkundige Kongruenz zwischen Begehren und Index hinweist. Die Erzählung sagt uns letztlich, dass aus der Sicht des Begehrens die Darstellung vor allem dann zählt, wenn sie Spur ist, und weniger, weil sie ähnlich ist.« (P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 121)
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Von der Einschreibung zur Projektion – Das filmische Licht und sein Double Die Fokussierung auf den Prozess der Einschreibung einer Lichtspur in fotosensibles Material markiert indes nur eine – die produktionsästhetische – Seite des filmischen Aktes. Seine Vollendung findet dieser, worauf gerade Gilles Deleuze insistiert,29 erst in der (Re-)Transformation des fixierten Lichts ins Projektionslicht der Kinoapparatur. Die Thematisierung des Films als Projektionsmedium30 gehört entsprechend zu den festen Topoi filmischer Selbstreflexion, als avanciertestes Beispiel hierfür darf der berühmte Prolog von PERSONA (I. Bergman, S 1966) gelten: Der Filmanfang zeigt zunächst nur ein abstraktes Spiel von Licht und Schatten, Weiß und Schwarz. Dann sieht man eine Filmspule beim Durchlauf durch den Projektor, danach Ausschnitte aus unterschiedlichen Filmen. Stillgestellte Bilder, Fotografien ähnlich, zeigen verschiedenste Orte und Themen (eine Waldlandschaft, ein Zaungitter, eine schwarze Hand auf weißem Grund, in Licht und Schatten gespaltene Totengesichter etc.), deren Gemeinsamkeit in den forciert harten Schwarz-WeißKontrasten liegt. Ihren Modus Operandi finden derartige Licht- und Schattendivergenzen indes in der Projektion: Eine Jungenhand wird vor ineinander überblendeten Diaprojektionen von Frauengesichtern zur Schattenhand (vgl. Abb. 4), Projektionsfehler, die den Bildstrich verschieben bzw. das arretierte Negativ in Brand setzen und unscharfe Projektionen reduzieren zum einen die Vielfalt filmischer Gestalten auf Licht- und Schatteneffekte, lösen zum anderen aber die harten Schwarz-Weiß-Kontraste immer wieder auf und lassen Hell und Dunkel ineinanderfließen. Der technische Vorgang und seine Störungen korrespondieren dabei mit den intradiegetisch verhandelten seelischen Projektionen zwischen den beiden Protagonistinnen und mit der Auflösung der Grenze zwischen Ego und Alter, die in der berühmten Einstellung kulminiert, welche mittels extrem geringer Kontraste die Konturen der beiden Frauengesichter ineinander übergehen lässt.
Abb. 4: PERSONA – Die Jungenhand wird vor der hellen Lichtprojektion der Frauengesichter zur Silhouette 29 Vgl. Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/Main 1989, S. 84ff. 30 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Jens Ruchatz in diesem Band. Zum genealogischen Vorgänger, der fotografischen Projektion, vgl. Jens Ruchatz: Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion, München 2003.
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Die technische Projektion der seelischen Projektion und ihre analoge Auflösung in der Doppel-Belichtung gliedern Ingmar Bergmans Film in eine Mediengeschichte der Psycho-Techniken im Sinne Friedrich A. Kittlers ein,31 deren Ursprung von ihm in der romantischen Literatur und ihrem Faible für Doppelgänger und Schattenfiguren verortet wird. Im exaltierten Figurenarsenal des frühen Stummfilms, so Kittler, kommen dann Technikgeschichte und Phantasmatik endgültig überein: »Jeder einzelne von ihnen ist der Schatten des Körpers des Gefilmten, kürzer gesagt: sein Doppelgänger.«32 Und: »All jene Schatten und Spiegel des Subjekts – die Psychoanalyse hat sie klinisch verifiziert, das Kino technisch implementiert«,33 indem es in seinem Projektionslicht – hier greift Kittler eine Formulierung Otto Ranks auf – all »die schattenhaft flüchtigen Bilder« von Spiegelfiguren und Doppelgängern zeigt, die Literatur und Psychoanalyse nur beschreiben konnten, und damit die strukturelle Allianz von okkulten und technischen Medien zu einem (vorläufigen) historischen Abschluss bringt.34 Auch wenn in der Moderne die wortwörtliche Identifikation des Schattens mit dem intrapsychisch Nicht-Integrierten durch Carl Gustav Jung prominent wurde,35 lässt sich diesbezüglich auf eine deutlich längere kulturgeschichtliche Tradition zurückblicken. Victor I. Stoichita führt in Eine kurze Geschichte des Schattens Antoine Furetières Dictionnaire Universel aus dem 17. Jahrhundert an: »SCHATTEN, ein chimärischer Feind. Sollen wir auch mit unseren Schatten kämpfen? Will sagen, mit unseren Verdächtigungen und Gedanken [Herv. i. O.].«36 Und er fährt fort: »Diese Definition lässt an eine Verinnerlichung des Schattens als persönliche Projektion, als ›dunkle‹ Seelenzone denken, in der innere Negativität Gestalt annimmt.«37 Und diese »innere Negativität« wird laut Kittler dann vor allem im (deutschen) Stummfilm in »technischer Positivität«38 implementiert. Exakt in diesem Sinne wird auch in SCHATTEN (A. Robison, D 1923) die Lichtbild-Projektion als Spiegelbild innerseelischer Vorgänge eingesetzt. Hier bringt die intradiegetische Lichtprojektion im Film die triebhaften Seelenanteile als konkrete Schattenbilder wortwörtlich zum Vorschein, indem genau diese ›dunklen Seelenzonen‹ eines Ehepaares wie Eifersucht, Untreue und Rache externalisiert und mittels Licht- und Projektionstechniken materialisiert werden: Ein Gaukler hypnotisiert die Eheleute und die Teilnehmer an einer Festgesellschaft, indem er ihnen mit Hilfe einer Kerze die Schatten entzieht, die fortan zu körperlichen Doubles werden und die negativen Seelenanteile ausagieren. Viele dieser nur im Hypnosetraum stattfindenden Aktionen 31 Vgl. Friedrich A. Kittler: »Romantik – Psychoanalyse – Film: Eine Doppelgängergeschichte«, in: Jochen Hörisch/Georg Christoph Tholen (Hg.), Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 118-135. 32 Ebd., S. 126. 33 Ebd., S. 130. 34 Vgl. ebd., S. 129. 35 Vgl. Carl Gustav Jung: Archetypen, München 1990. 36 Zit. n. Victor I. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, München 1999, S. 137. 37 Ebd. 38 F. A. Kittler: Romantik – Psychoanalyse – Film, S. 125.
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wie Untreue und Mord werden dabei dezidiert als Schattenspiele inszeniert. Eine entscheidende Rolle spielt dabei aber auch noch einmal der indexikalische Status des Schattens. Denn während der Hypnose werden die Schattenwürfe der Personen erst größer und entfernen sich dabei zunehmend vom schattenwerfenden Objekt, bis der Gaukler sie scheinbar vollständig von den Körpern löst und die Schatten verschwinden, um eigenständig die ›dunklen Seiten‹ ausleben zu können. Der Schatten als Abbild wird hier also von seinem Urbild geschieden, bleibt aber trotzdem semantisch dem jeweiligen Körper verhaftet, da die Figuren hiernach teils als körperliche Personen, teils als Schatten agieren. Am Ende der Séance kehren die Schatten zu ihren Urbildern zurück und die Gesellschaft erwacht aus ihrem gemeinsamen Albtraum. Dass sich auch diese Assoziation von technischer und seelischer Projektion – neben den von Kittler geltend gemachten gemeinsamen Abstammungslinien aus der Literatur – zu einer Vorgeschichte des Films erweitern lässt, macht wiederum der Prolog von SCHATTEN deutlich, der das Zusammenspiel von Körper und Schatten in eine Mediengenealogie integriert. Angelehnt an den klassischen Bühnenaufbau einer Guckkastenbühne werden die dramatis personae zuerst nur als Schattenriss, dann als Körper bzw. Urbild, dann auch vice versa einzeln vorgestellt, bis eine große Schattenhand die Personen als Schatten jeweils wieder von der Bühne wischt. Dezidiert an die Tradition der Silhouettierkunst angelehnt, wird hier die Ehefrau als filmische Silhouette im Profil gezeigt, wobei diese Profilansicht mit ihrer sich deutlich abzeichnenden ziselierten Frisur die Darstellungskonventionen in Schattenrissen des 18. Jahrhunderts aufruft (vgl. Abb. 5). Weiterhin baut der Gaukler eine chinesische Schattenbühne auf und bietet zur Unterhaltung für die Gesellschaft ein Schattenspiel dar (vgl. Abb. 6). Dabei wird auch hier die Festgesellschaft wieder von hinten gezeigt, so dass sich das intradiegetische Schattenspiel extradiegetisch im Vorführraum des Kinos verdoppelt.
Abb. 5 & 6: SCHATTEN – Vorstellung der dramatis personae als Schattenrisse und Schattenspiel auf chinesischer Schattenbühne
Gerade SCHATTEN reflektiert also alle hier angesprochenen unterschiedlichen Bezugnahmen des Spielfilms auf Licht und Schatten – und damit auf sich selbst; der Titel des Films ist somit durchaus programmatisch zu verstehen: Die genealogische Dimension wird anhand des Schattenrisses und des chinesischen Schattenspiels aufgegriffen, während das indexikalische Moment, die
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Ablösung des Schattens vom Urbild und sein eigenständiges Agieren als Abbild, in der Séance-Sequenz facettenreich durchgespielt wird und der Projektionskomplex in der konstitutiven Doppelung als Psycho-Technik sogar durchgehendes Thema ist. Genau das ist derartigen Selbstreflexionen zufolge Film: ein an eine lange Tradition anschließendes, aber eben modernes Medium des Abschattens, das es vermag, seine Urbilder dauerhaft als Abbilder zu fixieren und diese mit Hilfe der Lichtprojektion in Bewegung zu versetzen. So betrachtet ist der Film dann wohl doch – wie auch Gorki letztlich einräumen musste – zu gleichen Teilen ein Licht- und Schattenmedium und ein Medium der Bewegung: »It is terrifying to see, but it is the movement of shadows, only of shadows.«39
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39 Zit. n. C. Harding/S. Popple: In the Kingdom of Shadows, S. 5.
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Projektionen der Vorläufer. Laterna magica und Camera obscura im Film JENS RUCHATZ
1903 bringt Georges Meliès in Frankreich den Kurzfilm LA LANTERNE MAGIQUE auf den Markt. Der aus einer durchgehenden Einstellung bestehende Film gliedert sich in zwei Nummern. In einem als Kinderzimmer markierten Bühnenraum bauen die Figuren Pierrot und Harlekin zunächst eine mannshohe Laterna magica auf und erleuchten diese mit einem Öllicht, so dass an der Wand die typische kreisrunde Projektionsfläche erscheint. Die Laterna magica projiziert jedoch nicht die erwartbaren Bilderwelten, sondern erstaunlicherweise ein bewegtes Filmbild, das zunächst eine leere Landschaft zeigt, in der alsbald ein junges Liebespaar erscheint, das sich zunächst in ein älteres Paar, dann in Pierrot und Harlekin verwandelt. Zu ihrer Verblüffung sehen diese sich im projizierten Bild verdoppelt. In der nahtlos ohne Schnitt und Szenenwechsel anschließenden zweiten Nummer fungiert die Laterna magica nun als veritable Zauberkiste. Sie erweist sich als Raum, der zunächst unzählige Tänzerinnen beherbergt, die beim Aufklappen der Laterna magica auf die Bühne treten, und später Pierrot und Harlekin als Versteck dient, das sie in Riesen verwandelt. In LA LANTERNE MAGIQUE legt Meliès das Kinderzimmer als Inspirationsquelle seines Kinos offen. Als Bindeglied der Spielwelt zum Film fungiert vornehmlich der Projektionsapparat. Indem die Projektion ein bewegtes Bild erzeugt, wird das Wunder der Kinematografie schon der Laterna magica zugesprochen. Diese Kontinuität erstreckt sich auch auf die im projizierten Bild in Szene gesetzten Verwandlungstricks, die sich als kinematografischer Reflex auf die Überblendprojektionen des 19. Jahrhunderts verstehen lassen, die sogenannten dissolving views oder Nebelbilder. Die technische Differenz tritt in LA LANTERNE MAGIQUE hinter die Kontinuität des Effekts zurück, ein zeitdurchwirktes Lichtbild zu projizieren. Dieses Bild bringt zunächst NichtAnwesendes ins Kinderzimmer, um anschließend die Wirklichkeit zu verdoppeln, wenn sich die beiden Bühnenfiguren in ihrem filmischen Bild erkennen. Die Trennung des materiellen Projektionsbilds vom immateriellen projizierten Bild wird umgeschrieben in die Unterscheidung von tatsächlicher und bildlich vermittelter Anwesenheit, so dass die Projektion als Maschinerie zur artifiziellen Herstellung von Präsenz auftritt. LA LANTERNE MAGIQUE setzt ein kinogeschichtliches Argument in Szene, wenn der Film das kinematografische Bild vordatiert und mit einer Apparatur verbindet, die gemeinhin lediglich als Vorläufer des Kinos auftritt. Meliès’ Film ist außergewöhnlich, da die Laterna magica nur in sehr wenigen Filmen überhaupt auftaucht. Insofern die frühe Filmpraxis an durch die
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Geschichte der Projektionspraxis etablierte Präsentations- und Erzähltraditionen anknüpft, hat diese jedoch deutliche Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen.1 Eine werkbiographische Volte hat Ingmar Bergman solcher Kontinuität verliehen, indem er seine filmische Arbeit wiederholt unter den Leitstern der Laterna magica gestellt hat, nicht zuletzt im Titel seiner Memoiren.2 Einen Spielzeugprojektor, den sein Bruder zu Weihnachten geschenkt bekam und den Bergman gegen eine Menge Zinnsoldaten eintauschte, schildert er in seinen Kindheitserinnerungen als Auftakt seiner Inszenierungstätigkeit.3 In FANNY OCH ALEXANDER (S 1982), der von autobiographisch fundierten Elementen durchzogen ist,4 stellt er diese Szene nicht exakt nach, lässt aber Alexander zu Weihnachten einen Spielzeugprojektor als Geschenk erhalten, den der Junge noch am selben Abend seinen Geschwistern im dunklen Kinderzimmer vorführt. Die Laterna magica tritt an die Seite eines Papiertheaters, mit dem Alexander in der Eingangssequenz des Films spielt und das kurz darauf in der Bühnenaufführung des Weihnachtsspiels gespiegelt wird, das sich durch eine analoge Kadrierung dem Spielzeug annähert. Ein solches Pendant, das dem Spielzeug als ›ausgewachsene‹ Realisierung gegenübertritt, fehlt der Laterna magica innerhalb der Diegese, doch lässt sich der Film FANNY OCH ALEXANDER selbst, den die Zuschauer sehen, an diese Stelle rücken. Einen Fingerzeig in diese Richtung liefert jedenfalls die Geschichte, die Alexander mit seiner Laterna magica erzählt. Erscheint dort einem einsamen Mädchen seine verstorbene Mutter als Gespenst, wird Alexander immer wieder der Vater, der im Laufe des Films verstirbt, als weiß gekleidete Gestalt erscheinen. Während also auch Bergman die Verbindung des Films zum Kinderzimmer und dessen Phantasiewelten stark macht, misst er – anders als Meliès – zugleich die Differenz der verfeinerten filmischen Erzählform zu den groben Darbietungen des kindlichen Spielzeugs aus. Wenn der Film sich als Erbe älterer Bildkulturen verortet, dann handelt es sich noch nicht eigentlich um Medienreflexion, zumal ja gerade die transmediale Operationalität von Formen fokussiert wird. Medialität steht jedoch auf dem Spiel, wenn der Bildstatus der verschiedenen Formen der Projektion kontrastiert wird. Aus technikhistorischer Perspektive wird die Vorgeschichte des Kinos vielfach in drei Stränge gegliedert: Die Kinematografie ergibt sich
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Für konstruktive Beiträge zum Filmkorpus danke ich Gereon Blaseio. Zu den Kontinuitäten von Laterna magica und Kino vgl. Jens Ruchatz: Licht und Wahrheit. Eine Mediumgeschichte der fotografischen Projektion, München 2003, v.a. S. 309-333. Vgl. Ingmar Bergman: Laterna magica, Stockholm 1987. Den Obertitel ›Laterna magica‹ übernahm nur die jüngste deutsche Ausgabe: Laterna magica. Mein Leben. Autobiographie, Berlin 2003. Vgl. Stig Björkman/Torsten Manns/Jonas Sima: Bergman über Bergman. Interviews über das Filmemachen. Von Die Hörige bis Szenen einer Ehe, Frankfurt/Main 1987, S. 11-13; s.a. Hauke Lange-Fuchs: »Ingmar Bergman and the World of Childhood. Magic Lantern in a Film Director’s Life and Films«, in: The New Magic Lantern Journal 6/2 (1991), S. 1-4. Vgl. unter anderem Ingmar Bergman: Bilder, Köln 1991, S. 321-327, sowie Hauke Lange-Fuchs: Ingmar Bergman. Seine Filme – sein Leben, München 1988, S. 254-260.
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demnach aus der Verbindung von Bewegungsillusion und Fotografie, zu der sich als drittes Element die Projektion gesellt.5 Am Anfang der Geschichte der Projektionsvorstellung steht allerdings nicht die Laterna magica, ihr voraus geht die Camera obscura. Mitte des 16. Jahrhunderts, gut 100 Jahre vor dem mutmaßlich ersten Auftreten der Laterna magica, schlug der italienische Universalgelehrte Giovanni Battista della Porta vor, die Camera obscura für Projektionsschaustellungen zu verwenden. Ein im Freien veranstaltetes Schauspiel sollte in einen benachbarten dunklen Innenraum ›übertragen‹ werden, um ein technisch unkundiges Publikum durch die rätselhaften Lichterscheinungen zu verblüffen.6 Die Camera obscura taucht somit in zwei Strängen der technischen Genealogie des Kinos auf: zum einen als Apparatur der Bilderzeugung, die in die fotografische und somit auch in die kinematografische Kamera eingebaut ist,7 und zum anderen als historisch erstes Dispositiv der Projektion.8 In der Begrifflichkeit der darstellenden Geometrie lassen sich beide Erscheinungsformen zusammenführen, insofern sie sich projektiver Verfahren bedienen, also Anwendungen des Prinzips der Zentralprojektion darstellen. Bei diesem Abbildungsverfahren werden die Punkte eines gegebenen – in der Regel räumlichen – Objekts allesamt durch Geraden, die Projektionsstrahlen, mit ein- und demselben Punkt, dem sogenannten Projektionszentrum, verbunden und erhalten ihre jeweiligen Bildpunkte als Durchstich dieser Strahlen durch eine Bildebene. Mit geometrischen Begriffen lassen sich die Bilderzeugung in der Kamera und die Lichtbildprojektion der Laterna magica als komplementäre Prozesse beschreiben, bei denen einmal die von einer – in der Regel räumlichen – Situation hervorgebrachte Lichtkonstellation in ein kleines Bild umgesetzt wird, das die Fotografie zu materialisieren vermag, das andere Mal ein transparentes, aber materielles Bild vergrößert und in eine immaterielle, aber illusionistische Lichterscheinung verwandelt wird.9 Hier wie dort sind lichtbasierte Transportprozesse am Werk,10 die selbstverständlich auch bei der bewegten Fotografie des Kinos zusammenwirken. 5
Vgl. z.B. Friedrich von Zglinicki: Der Weg des Films, Hildesheim, New York 1979, S. 193. 6 Vgl. Laurent Mannoni: Le grand art de la lumière et de l’ombre. Archéologie du cinéma, Paris 1994, S. 19-22; J. Ruchatz: Licht und Wahrheit, S. 112-116. 7 Seit die Fototheorie den Spurcharakter fotografischer Bilder betont, ist die Camera obscura jedoch als fotografisches Bestimmungsstück hinter die fotochemischen Prozesse zurückgetreten; vgl. exemplarisch Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998, S. 54; Hubert Damisch: »Fünf Anmerkungen zu einer Phänomenologie des photographischen Bildes«, in: Ders.: Fixe Dynamik, Berlin 2004, S. 7-12. 8 Vermutlich noch ältere Verfahren zur Projektion mit Hohlspiegeln konnten schon einzelne Bilder oder Worte projizieren, erreichten aber nicht die für ein Medium erforderliche Varianz und Komplexität der Formbildung. 9 Vgl. Jens Ruchatz: »Fotografie und Projektion. Ein perfektes Paar«, in: Fotogeschichte 19/74 (1999), S. 3-12. 10 Vgl. Dominique Païni: »Pour une petite historie de la projection«, in: Projections, les transports de l’image, Paris 1997, S. 11-14, hier S. 11: »le phénomène lumineux du transport d’une image d’un lieu à un autre, en tant
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Als optisches Prinzip der Bildgenese ist die Projektion zwar immer anwesend, wenn eine Kamera gebraucht wird, doch tritt die lichtbasierte Transformation von Wirklichkeit in ein Bild, die dabei stattfindet, in der filmischen Darstellung kaum als selbständiges Prinzip hervor, sondern bleibt als Element fotografischer Bilderzeugung verdeckt. Behindert wird die Sichtbarkeit zudem, weil das beobachtende Medium sich eben dieses Verfahrens bedient. So ermöglicht augenscheinlich erst ein Umweg, nämlich die Abkehr von der Fotografie, die projektive Herstellung von Bildern in den Blick zu bekommen. GIRL WITH A PEARL EARRING (P. Webber, GB/L 2003) würdigt das Prinzip des lichtförmigen Transports von Wirklichkeit indes als wesentlichen Bestandteil piktoraler Bilderzeugung, wenn der Film deren einzelne Stufen, wie das Bereiten der Farben, sinnlich fassbar macht. Als ersten Schritt dieses Prozesses präsentiert der Film die Camera obscura, als der Maler Vermeer seinem Modell, dem Hausmädchen Griet, den in seinem Atelier aufgestellten Apparat demonstriert. Auf die erstaunte Frage, wie das Gemälde denn in die Kiste gekommen sei, erklärt der Maler knapp das optische Prinzip und betont, dass es sich nicht um die Wirklichkeit selbst, sondern um ein vom Licht erzeugtes Bild handle. Die Genese eines perspektivischen Gemäldes wird also – auch11 – als lichtförmiger Transport der dreidimensionalen Atelierwirklichkeit in die Camera obscura dargestellt. Die Filmkamera inszeniert sich als legitimer Erbe dieser Tradition, denn kurz zuvor hat sie bereits das gleiche geleistet, indem sie in einer Fahrt, ausgehend von der Nahaufnahme einiger Requisiten, die selbe Szene in ein Tableau verwandelte, das Vermeers Gemälde Junge Frau mit Wasserkanne am Fenster entspricht. Dieses Bild bleibt aber nicht stehen, sondern weicht umgehend dem ›Gegenschuss‹ auf den Maler an der Staffelei, den eigentlichen Akteur der Bilderzeugung. Dass es eines Dritten als Vermittler bedarf, legt jedoch der unmittelbar anschließende top shot nahe, der zeigt, wie eben jene Camera obscura durchs Treppenhaus gewuchtet wird, um im Atelier an die zuvor vom Maler eingenommene Position zu treten. Damit schiebt der Film zwischen Modell und Bild nicht nur eine apparative Vermittlung, sondern positioniert die Filmkamera, die eben jenes Bild längst erzeugt hatte, als beweglichere Fortführung der Camera obscura – und damit einer würdigen, kunstfähigen piktoralen Tradition.12 Anhand der Malerei führt GIRL WITH A PEARL EARRING vor, wie die technisierte Linearprojektion als Vorstufe der eigentlichen Bilderzeugung fungiert, um die ungleich zentralere Rolle der Camera obscura für das technische Bild des Films zu akzentuieren. Häufiger macht der Film die Camera que tel […]: le jet de l’image, son parcours dans l’éspace, sa ›dématerialisation‹ dans la lumiére et son apparation sur l’écran qui intercepte le faisceau.« 11 Auf Griets Frage, ob der Apparat sage, was man malen solle, relativiert Vermeer, er helfe einem dabei. Damit wird die Malerei von der Fotografie unterschieden, deren Genese apparativ determiniert ist. 12 Eine ganz entgegengesetzte Rolle wird der Diaprojektion in THE MODERNS (A. Rudolph, USA 1988) verliehen. Anders als die Camera obscura, die durch die Informationsaufnahme aus einem Außen ein neues Bild schafft, fungiert das projizierte Dia lediglich als Hilfsmittel, um ein existierendes Gemälde zu kopieren und zu fälschen.
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obscura jedoch als optische Schauattraktion eigenen Rechts sichtbar. Weil das projizierte Bild dann selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, sind die Parallelen zum Dispositiv des Kinosaals offensichtlicher.13 Dass Camera obscura wie Laterna magica insgesamt recht selten vom Film aufgegriffen werden, mag erstaunen, bildet die Projektion doch das Kernelement des für die Filmrezeption charakteristischen Kinodispositivs. Um seine Rezeptionssituation zu reflektieren, hat der Film jedoch nicht den Umweg über den Vergleich zu seinen Vorläufermedien beschritten, sondern in einer kaum überschaubaren Zahl von Fällen den Kinoraum selbst zu einem Handlungsort gemacht.14 Wenn Vorläufer-Projektionsmedien in einen Film Eingang finden, dann geht es daher vermutlich nicht um die Projektionssituation schlechthin, sondern vielmehr um die Differenz zum Kinodispositiv, deren Spezifik sich wiederum gerade dadurch herausarbeiten lässt. In den Filmen A MATTER OF LIFE AND DEATH (M. Powell/E. Pressburger, GB 1946), THE MUSIC LOVERS (K. Russell, GB 1970) und ADDICTED TO LOVE (G. Dunne, USA 1997), die ich exemplarisch untersuchen möchte, werden dabei in der Regel hervorgehoben: das Verhältnis von innen/außen und von Distanz/Nähe, die Gerichtetheit des Beobachtungsverhältnisses sowie der ›Live‹-Charakter des Projektionsbildes. Im Gegensatz zur portablen Camera obscura, die in GIRL WITH A PEARL EARRING ein Interieur innerhalb desselben Raumes bildförmig dupliziert, referieren die fixen Camerae obscurae der genannten Filme jeweils auf ein benachbartes Außen, das als Projektion im Innenraum verfügbar gemacht wird. In diesem Sinne stand die Camera obscura der frühneuzeitlichen Philosophie als Chiffre dafür ein, dass es sich bei Wahrnehmung um die objektive Abbildung einer Außenwelt in der Innenwelt handeln kann.15 In A MATTER OF LIFE AND DEATH hat ein Arzt in seiner Dachkammer eine Camera obscura mit schwenkbarem Objektiv eingerichtet, mit der er – quasi gottgleich16 – das gesamte Geschehen auf der Dorfstraße verfolgen kann. In THE MUSIC LOVERS besucht das Ehepaar Tschaikowski während der Hochzeitsreise eine Camera obscura, die in einem Park als kommerzielle Attraktion eingerichtet und mit 13 Laura M. Sager Eidt: Writing and Filming the Painting. Ekphrasis in Literature and Film, Amsterdam, New York 2008, S. 210, erkennt bei GIRL WITH A PEARL EARRING schon im Blick in die Camera obscura »a mise en abyme for the movie theater«. Die filmische Kontextualisierung der Szene legt meiner Ansicht nach jedoch gerade den instrumentellen, bilderzeugenden statt den bildpräsentierenden Status des Camera-Bildes frei. 14 Vgl. z.B. Anne Paech/Joachim Paech: Menschen im Kino. Film und Literatur erzählen, Stuttgart, Weimar 2000. 15 Vgl. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Amsterdam 1996, S. 39-63; Ulrike Hick: »Die optische Apparatur als Wirklichkeitsgarant«, in: Montage/av 3/1 (1994), S. 83-96. Die Camera obscura in A MATTER OF LIFE AND DEATH wird entsprechend als Analogon zur Außenwahrnehmung analysiert; vgl. Damian Sutton: »Rediagnosing A Matter of Life and Death«, in: Screen 46/1 (2005), S. 51-61, hier S. 54. 16 Wenn seine Besucherin fragt: »Surveilling your kingdom?«, wird freilich eine andere Semantik aufgerufen. Der religiöse Bezug steht jedoch auch im Einklang damit, dass im Film die Beobachtung menschlicher Schicksale vom Himmel aus verhandelt wird.
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einem schwenkbaren Objektiv ausgestattet ist, das Szenen aus der Umgebung einfangen kann. In ADDICTED TO LOVE schließlich beobachten der Astronom Sam und die Fotografin Maggie, was sich in einer auf der gegenüberliegenden Seite einer New Yorker Straße gelegenen Wohnung abspielt, in der sich ihre jeweiligen Ex-Partner als Paar zusammengefunden haben. Hier wird das Bild nicht wie in den beiden anderen Fällen auf einen Tisch projiziert, sondern durch eine letztlich nur noch verbal als Camera obscura identifizierbare optische Apparatur an die Wand geworfen. Das Projektionsbild nähert das Außen einerseits an, insofern es optisch ins Innen hineingeholt wird. Andererseits hebt es die Trennung hervor, weil die Außenwelt von der Innenwelt aus dennoch entfernt bleibt. In ADDICTED TO LOVE wird die Diskrepanz ironisch angezeigt, wenn Sam sich mit dem verschwommenen Projektionsbild seiner Ex-Freundin Linda so unterhält, als befänden sie sich tatsächlich im selben Raum, und die Montage sekundiert, indem sie – der filmischen Konvention der Dialogauflösung entsprechend – den Gegenschuss auf die notwendig stumme und nur virtuell anwesende Ex-Freundin ergänzt. Das Verhältnis von Innen und Außen wird dadurch spezifiziert, dass die Beobachtungsverhältnisse eine Überwachung der Außenwelt implizieren. In THE MUSIC LOVERS verharrt das Objektiv lange Zeit auf einem Mann, der seine Begleiterin zu erotischen Spielen im Park verführen möchte, aber zurückgewiesen wird. Inmitten eines johlenden Publikums wird Tschaikowski und seiner Frau ein regelrechter erotischer Kurzfilm dargeboten, der die Probleme ihrer eigenen Ehe – in umgekehrter Besetzung der Geschlechterrollen – spiegelt. Die Camera obscura zeigt sich hier als Ort, bei dem ein Publikumskollektiv voyeuristisch seiner Schaulust frönen kann. In ADDICTED TO LOVE verfolgt Sam gar pausenlos das Alltagsleben in der gegenüberliegenden Wohnung, gibt der obsessiven Überwachung allerdings einen wissenschaftlichen Anstrich, indem er statistische Aufzeichnungen führt, aus denen er die erhoffte Trennung des Liebespaars zu prognostizieren erwartet.17
Abb. 1: Fernsehen mit der Camera obscura in ADDICTED TO LOVE
17 Dass es sich um Überwachung handelt, macht ADDICTED TO LOVE durch Binnendifferenz klar. Anfangs sehen wir Sam nämlich bei einem täglichen Ritual, wie er eine ähnliche Beobachtungssituation herstellt und zur Mittagszeit ein riesiges Weltraumteleskop auf seine Freundin richtet, die hier aber – im Wissen um die Beobachtung – Kontakt aufnimmt und Sam winkt.
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Schließlich wird verdeutlicht, dass sich die lichtbasierte Überbrückung des Raums in Gleichzeitigkeit vollzieht. Der Arzt in A MATTER OF LIFE AND DEATH sieht etwa eine Besucherin auf dem Fahrrad eintreffen. In ADDICTED TO LOVE wird die Synchronie durch die fingierten Kommunikationen und Sams Beobachtungsrhythmen überdeutlich. Während das projizierte Bild hier optisch dem Kinodispositiv angeglichen ist, verweist seine Zeitlichkeit eher auf das Fernsehen. Diese Ambivalenz wird in ADDICTED TO LOVE auf den Punkt gebracht, wenn sich Sam und Maggie wie zum Fernsehabend nebeneinander aufs Sofa setzen,18 dabei aber ein riesiges Projektionsbild betrachten, auf dem sich sogar ihre Schatten abzeichnen – an sich ein typisches Motiv der selbstreferentiellen Thematisierung des Kinos (vgl. Abb. 1).19 Die Ambivalenz des Bezugs auf die Camera obscura wird auf die Spitze getrieben, als Maggie die Überwachung durch ein Abhörgerät komplettieren möchte, Sam diesen Schritt aber als »invasion of privacy« ablehnt, um seine ›unschuldige‹ Technik zu verteidigen: »It’s a camera obscura, it’s pure light. I’m not spying.« Die Camera obscura, so die Argumentation, greift nur Licht auf, das sowieso nach außen dringt. Es siegt aber die Neugier und das lichtbasierte optische Beobachtungsverfahren wird schließlich ergänzt durch ein auf elektromagnetischen Wellen fundiertes. Damit weist die Camera obscura in zwei Richtungen: Das Kino ist ihr optisch und als jüngeres Projektionsmedium verpflichtet, das Fernsehen greift hingegen die synchron zum Geschehen sich vollziehende optische Übertragung auf. So dient die filmische Reflexion der Camera obscura dazu, die medienhistorische Verzweigung der bewegten Bilder in Film und Fernsehen darzustellen. Primär war die Camera obscura in den bisher angesehenen Fällen als verlässliches, geradezu objektives optisches Instrument konnotiert, das von Ärzten und Wissenschaftlern gebraucht wird. Das irritierende Moment der Camera obscura, die Wirklichkeit in der Abbildung auf den Kopf zu stellen,20 tauchte hingegen nur am Rande auf. In THE MUSIC LOVERS etwa ist die Umkehrung allenfalls metaphorisch wirksam, wenn das von der Camera obscura erfasste Paar die Krise der Tschaikowskis mit getauschten Geschlechterrollen spiegelt. In ADDICTED TO LOVE wird beim Aufbau der Apparatur direkt eine Linse eingebaut, die das Bild aufrichtet. Zum Happy end der romantic comedy wird dieser Kunstgriff noch einmal emblematisch aufgegriffen: Dreht die Linse, durch die Sam und Maggie gezeigt werden, das Paar erst auf den Kopf, so korrigiert sie dies wieder, nachdem die Filmkamera eine Fahrt durch die diversen, in Sams Camera obscura eingebauten Linsen unternommen hat. Die ›verkehrte Welt‹ der Zentralprojektion wird so aufgerufen, aber als mühelos korrigierbar relativiert. In THE FALL (T. Singh, USA/IND 2006) wird die Camera obscura hingegen, gerade weil sie die Wirklichkeit verschiebt, zur den ganzen Film struktu18 Als Maggie und Sam später in die Wohnung des überwachten Liebespaars eindringen, formuliert er entsprechend: »It’s so much smaller than it looks on TV.« 19 Vgl. z.B. A. Paech/J. Paech: Menschen im Kino, S. 214-217. 20 Zur Camera obscura als Metapher der verkehrten Welt vgl. Alexander Böhnke: »Verkehrte Welt: Ideologie – Camera Obscura – Medien«, in: Jens Schröter/Gregor Schwering/Urs Stäheli (Hg.), Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld 2006, S. 177-191.
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rierenden Chiffre. Der Film spielt »long, long ago«, jedenfalls zur Zeit des frühen Stummfilms, in einem Krankenhaus in Los Angeles. Das Herzstück des Plots bildet eine phantastische Geschichte, die der verunglückte Stuntman Roy dem kleinen Mädchen Alexandria erzählt. Die Erzählung wird nicht schlicht visualisiert, sondern so, wie sie in der Vorstellung des Mädchens erscheint. So nehmen die Figuren die Gestalt von Personen an, die Alexandria im Krankenhaus gesehen hat. Am klarsten kommt die subjektive Transformation zum Ausdruck, wenn Roy von einem »indian« erzählt und offensichtlich einen Indianer meint, das Bild jedoch einen Inder zeigt, wie ihn Alexandria von der Arbeit auf einer Orangenplantage kennt. Das Motiv der Camera obscura wird etabliert, als Roy zu erzählen beginnt. An der Wand eines dunklen Ganges sieht Alexandria auf dem Kopf stehende Bilder eines laufenden Menschen und eines Pferdes, die, wie der Gegenschuss entlang des Lichtstrahls zeigt, durch das Schlüsselloch einer Tür hervorgerufen werden. Die sich öffnende Tür macht schließlich den direkten Blick ins Außen frei, auf die im Gegenlicht beleuchtete Szene, die sich innen an der Wand abbildete (vgl. Abb. 2-4). Alexandria schließt die Augen und der Film zeigt nun die mentalen Bilder, in denen sie sich Alexander den Großen, den Roy eben erwähnte, als Reiter vorstellt. Die wie durch ein Wunder entstandene Camera obscuraSituation und Alexandrias Imagination werden somit als analoge Prozesse verknüpft, die ihre bildschaffende Kraft aus dem Ausschluss des Lichts beziehen.
Abb. 2-4: THE FALL: Das Schlüsselloch als Projektionszentrum – Das projizierte Bild an der Wand – Der Blick ins Außen
Die für die Camera obscura fundamentale Unterscheidung innen/außen verändert so ihren Sinn. In THE FALL steht sie nicht mehr für die passive, objektive Erfassung des Außen, sondern für die Arbeit von Alexandrias Phantasie, die das Außen – die Wahrnehmungseindrücke aus der Klinik ebenso wie die von Roy erzählte Geschichte – in eine eigenartige Bildwelt umsetzt. Wenn THE FALL die Camera obscura als Metapher für solche Prozesse einführt, dann ist sie kein passives, rein rezeptives Instrument mehr, sondern eine Maschine der Verwandlung. THE FALL schließt, indem er dieses Prinzip auf den Film selbst bezieht. Zunächst sehen wir, noch im Krankenhaus, die Projektion des Films, während dessen Dreharbeiten Roy seine Verletzung erlitt. Analog zum vorherigen Blick ins grelle, vom Schlüsselloch durchgelassene Licht, kadriert die Kamera mehrfach die optische Quelle des Bildes: den Lichtstrahl des Projektors. Die motivische Gleichsetzung billigt dem Film dasselbe Vermögen zu, Wirklichkeit zu transformieren. Dieser Akzent dominiert auch die Schlusssequenz, die eine Reihe von Stunts des Stummfilms zitiert, in denen Alexandria, wie sie im Voice-over verrät, Roy zu erkennen glaubt. THE FALL wertet somit nicht nur die Camera obscura anders, sondern
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erklärt überdies das mit ihr neu verbundene Prinzip, die Wirklichkeit in der Abbildung zu bezaubern, zum Fluchtpunkt des Films, als dessen eigentlicher Held der Stuntman auftritt.21 Die filmische Medienreflexion der Camera obscura strebt somit in entgegengesetzte Richtungen: Überantwortet die Camera obscura meist passiv ein gegebenes Außen einer im Innenraum vollzogenen Beobachtung, so fungiert sie in THE FALL als zwar auf die Wirklichkeit referierende, diese aber aktiv transformierende Optik, die dem Potential des Films zur Inszenierung des Phantastischen nahe kommt. In dieser zweiten Nuancierung ähnelt die Darstellung der Camera obscura derjenigen der Laterna magica. ANSIKTET (S 1958), ein weiterer Bergman-Film, verrät sein vertieftes Interesse an der Laterna magica bereits im Vorspann, indem er die Titel als kreisrunde Projektionsbilder gestaltet, die einander wie im geschobenen Diastreifen ablösen.22 Innerdiegetisch fungiert der Projektor als eines der Instrumente, mit denen eine Truppe von Scharlatanen als Dr. Voglers magnetisches Heiltheater durch Europa zieht. Das einleitende Voice-over versetzt die Handlung in das Jahr 1846 – »Die Menschen glaubten noch an Dämonen und Gespenster, an Liebestränke und Zauberformeln« – und stellt die Frage, ob es solch übernatürliche Phänomene nicht doch gebe. Der Plot setzt diese Leitfrage in eine Prüfung um, die eine Gruppe Stockholmer Honoratioren der Truppe auferlegt, um die Wette zu entscheiden, ob magische Kräfte existieren oder nicht. Der Film verweigert eine Entscheidung. Einerseits leugnen die Schausteller nicht, dass sie sich Tricks bedienen – Dr. Voglers Stummheit ist nur vorgespielt, sein Schnurrbart nur angeklebt, als Liebestrank wird jede beliebige Flüssigkeit verkauft. Andererseits sind die Mitglieder von Voglers Theater unsicher, ob magische Kräfte nicht doch existieren, zumal durchaus Wunder vollbracht werden: Echte Liebesbeziehungen werden gestiftet, ein Hausbediensteter fühlt sich von imaginären Ketten tatsächlich gefesselt, ein – nur vermeintlich? – Toter wird vorübergehend noch einmal lebendig. Diese Ambivalenz verdichtet sich in der Laterna magica, die einen Bildeffekt produziert, den die Filmkamera bezeugt, ohne dass er mit dem Aberglauben der Anwesenden abgetan werden kann. Der von den Toten auferstandene Schauspieler wedelt mit seiner Hand vor dem Objektiv und das auf die Leinwand projizierte Gesicht wandelt sich in einen Totenkopf. Im Moment dieser Transformation steuert jedoch niemand den Projektor, so dass sich der Bildwandel von Geisterhand zu vollziehen scheint und die Ankunft des Todes anzeigt. Die Apparatur, die das optische Wunder eigentlich bewirkt, ist aber, wie schon bei Meliès, die Kinematografie, die über das Vermögen verfügt, für ihr Publikum Dinge zu verwandeln. Mit dem Vorspann beginnend, setzt ANSIKTET den Film als Erbe der Laterna magica ein. In Woody Allens A MIDSUMMER NIGHT’S SEX COMEDY (USA 1982), der im Titel mehr als auf Shakespeare auf Bergmans SOMMARNATTENS LEENDE 21 Die Story eröffnet diesen Konflikt, indem sie dem verletzten Stuntman eine Geliebte gegenüberstellt, die ihn als weiblicher Star des Films für ihr männliches Pendant verlässt. Damit zitiert THE FALL den filmhistorischen Wandel an, der in den 1910er Jahren das Interesse an der physischen Attraktion durch das Interesse am Star verdrängt. 22 Noch in einem weiteren Film Bergmans, VISKNINGAR OCH ROP (S 1972), taucht als Teil einer Kindheitserinnerung kurz eine Laterna magica auf.
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(S 1955) referiert, dessen Kameramann Sven Nykvist beschäftigt sowie Anhänger von wissenschaftlicher Rationalität und Metaphysik konfrontiert, um sich unzweideutig auf das Œuvre des schwedischen Regisseurs zu beziehen, kommt auch eine ›Laterna magica‹ vor. Als Metallkugel ähnelt diese aber äußerlich überhaupt nicht mehr den bekannten Projektionsapparaten, sondern wird nur noch verbal identifizierbar: »That was my spirit box«, erklärt der Erfinder Andrew. »It’s a kind of magic lantern that penetrates the unseen world«, ein Apparat, der jenseits der sinnlichen Wahrnehmung Vergangenheit und Zukunft zur Erscheinung bringen soll. Beim ersten Einsatz des Apparats sehen wir nur das Publikum, das Geistererscheinungen in der Natur beschreibt; beim zweiten Mal projiziert diese magische Laterne das Schattenbild eines tatsächlich zeitgleich stattfindenden Geschehens; schließlich bringt die Laterna magica den Geist eines soeben Verstorbenen zum Sprechen.23 Auch wenn die Zauberkugel nur im Dunkeln funktioniert, innen erleuchtet ist und über eine Lichtöffnung verfügt, bezeichnet ›Laterna magica‹ keine bestimmte Apparatur mehr, sondern das mediale Vermögen, an sich magisch Unsichtbares zur Erscheinung zu bringen.24 Insofern die Laterna magica als historisierter, in die Vorzeit des Kinos zurückreichender Projektionsapparat auftritt, steht sie für eine Art der visuellen Erfahrung, die den Maßstab des Rationalen sprengt. Der Film lässt sich dann selbst als Weiterführung dieser Form der Visualität reflektieren. Findet sich die historische Laterna magica schon selten in Filmen wieder, so gilt dies umso mehr für die zeitgenössische Projektionspraxis. Wenn dies doch der Fall ist, dann steht nicht mehr die Magie im Zentrum, die das Kino mit der älteren Projektionskunst verbindet, sondern die Medienkonkurrenz verteilt die Positionen.25 Ironisch überspitzt A CANTERBURY TALE (M. Powell/ E. Pressburger, GB 1944) die kulturellen Zuschreibungen an Kino und Diaprojektion. Kritische Auffassungen des Kinos greift der Film auf, wenn der örtliche Friedensrichter Colpepper einem in der Region stationierten Soldaten 23 Viel deutlicher als ANSIKTET optiert Allens Film für das Magische: Der rationalistische Philosoph glaubt schließlich nicht nur den Bildern der Laterna magica, sondern verwandelt sich selbst in einen Geist. 24 Auch Tim Burtons SLEEPY HOLLOW (USA/D 1999), am Umbruch zur Moderne im Jahr 1799 spielend, situiert optische Instrumente im Widerstreit von Rationalität und Irrationalität. In dem Film taucht eine einfache Projektionslampe auf, die sich im Kreis bewegende Schattenbilder an die Wand wirft. Die zentrale optische Chiffre liefert indes das Thaumatrop, ein optisches Spielzeug, das sich der Trägheit der Netzhaut bedient, um zwei getrennte Bilder zu verschmelzen: »It is truth, but truth is not always appearance«, führt der Verfechter der Rationalität anhand dieses Anschauungsbeispiels aus. Die selbstreferentielle Volte zur ›Magie‹ der kinematografischen Bewegungsillusion liegt auf der Hand. 25 Die lange verbreitete Praxis der Amateurprojektion hat der Film fast vollständig ignoriert. Eine Ausnahme stellt HALBE TREPPE (A. Dresen, D 2002) dar, der einen gemeinsamen Diaabend als soziales Ritual vorführt. Wenn es um private Bilderwelten geht, präferiert – entgegen der tatsächlichen Verbreitung der Praxis – die filmische Darstellung den Amateurfilm, vgl. die zahlreichen Beispiele in Marie-Thérèse Journot: Films amateur dans le cinéma de fiction, Paris 2011.
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vorhält, in seiner Freizeit ins Kino zu gehen, statt sich der geschichtsträchtigen Umgebung in Kent zu widmen, oder wenn sich ein Organist dafür rechtfertigen muss, sich mit einer Anstellung im Kino zufrieden zu geben. Als Colpepper einen Lichtbildvortrag über die alte Pilgerroute nach Canterbury veranstaltet, wird diese Kritik allerdings ins Lächerliche gezogen. Zwar gelingt es dem Vortragenden zunächst, vor der noch leeren Leinwand das Publikum durch verbal gezeichnete Bilder zu fesseln. Als aber die Projektionsbilder folgen sollen, kappt der Vortragende aus Versehen die Stromverbindung und ist ausgerechnet auf die Hilfe eines Soldaten angewiesen, der vom Projektorlicht profitieren möchte, um den Trivialroman Miss Blandish zu lesen (vgl. Abb. 5).26 A CANTERBURY TALE ironisiert auf diesem Weg kinokritische Diskurse, die seichter Unterhaltung durch den Spielfilm die Bildung durch fotografisch illustrierte Vorträge vorziehen.27 Die Diaprojektion ist in diesem Zusammenhang nicht mehr die Wurzel der Magie des Kinos, sondern fungiert ganz im Gegenteil als dessen kultureller Antipode, der den rationalen verbalen Diskurs unterstützt. Der filmischen Reflexion der Diaprojektion haften also ähnliche Ambivalenzen an wie im Fall der Camera obscura, wenngleich in umgekehrter Gewichtung.
Abb. 5: Lesen im Lichte der Projektionslampe in A CANTERBURY TALE
Gemeinsam in einem Film tauchen die beiden alten Projektionsmedien Camera obscura und Laterna magica lediglich in COMRADES (B. Douglas, GB 1986) auf. Der Film erzählt die historisch verbürgte Geschichte der sogenannten Tolpuddle Martyrs, einer Gruppe englischer Tagelöhner aus Dorset, die sich in den 1830ern gewerkschaftlich gegen den lokalen Großgrundbesitzer zusammenschlossen und als Strafe dafür nach Australien verbannt wurden. In diesen Erzählrahmen werden zahlreiche Schauattraktionen integriert, die gemeinhin zum pre-cinema gezählt werden: Guckkasten, Diorama, Thaumatrop, Zauneffekt, Kipp- und Vexierbilder, Schattenspiele, das moving pa-
26 Vgl. Hans Schmid: »Miss Blandish in der Unterwelt, oder: Ein Roman wie Giftgas«, in: Telepolis, 17.07.2010, online: http://www.heise.de/tp/artikel/ 32/32881/1.html [letzter Zugriff am 25.04.2013]. 27 Vgl. für den deutschen Kontext J. Ruchatz: Licht und Wahrheit, S. 397-402.
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norama und andere mehr, anachronistisch sogar die Fotografie, die erst im Jahr 1839 öffentlich wurde.28 Organisiert wird diese kinoarchäologische Strategie durch die im Untertitel formulierte Erzählposition: »A lanternist’s account«. Diese Erzählperspektive äußert sich, indem es der wandernde Laternist ist, der uns zuerst ins Dorf Tolpuddle führt. Zudem wird er am Ende des Films, als die Deportierten befreit und nach England zurückgekehrt sind, als der Erzähler gewürdigt, der einem zeitgenössischen, in einem Vortragssaal versammelten Publikum – und den Kinozuschauern – die Geschichte überbracht habe. Als erstes Bild zeigt COMRADES eine helle Scheibe auf schwarzem Grund, vor die sich langsam eine schwarze Scheibe schiebt, bis das Bild dem bewölkten Himmel von Dorset weicht – das Objektiv der Laterna magica wird so gleichgesetzt mit der Sonne, welche die diegetische Welt nur dürftig erhellt. Vor dem Abspann erscheinen als runde Projektionsbilder gestaltete Porträts der Hauptfiguren, die – wie in der Projektion üblich – durch Verschiebung einander folgen, bis schließlich der weiße, leere Lichtkreis auf schwarzem Grund stehen bleibt, so dass erstes und letztes Bild mehr oder minder identisch ausfallen. Abgesehen von diesen Rahmungen hat sich die Medialität der Laterna magica allerdings nicht in die Logik der Erzählung eingeschrieben. Die vorgeführten Vertreter des pre-cinema werden weder durch die Reihenfolge ihres Erscheinens noch durch ihre narrative Verknüpfung zu einer Vorgeschichte des Kinos geordnet. Sie sind vielmehr als ein sehr differenziertes Inventar, gleichsam als Gedächtnis der Vorläufer des Kinos, in den Film eingelagert. Zur Einheit verbunden werden sie allerdings durch das gemeinsame Motiv der Verwandlung, das sich bei den vielen zeitlich organisierten optischen Attraktionen anbietet, aber selbst auf die Fotografie ausgedehnt wird, deren Bilder durch ihre versehentliche Beleuchtung in der Dunkelkammer verschwinden. Eine narrative Verbindung erfolgt darüber hinaus durch die Figur des Laternisten, dessen Darsteller in gleich vierzehn verschiedene Rollen schlüpft, die jeweils im Umfeld der protokinematografischen Artefakte agieren. Damit verkörpert sogar diese Figur das Prinzip der Verwandlung – als Konstante der Kinovorgeschichte. Während die einzelnen optischen Attraktionen innerhalb der Diegese an sich nicht hierarchisiert sind, positioniert die Rahmung die Laterna magica jedoch an zentraler Stelle. Laterna magica und Camera obscura tauchen so selten in filmischer Reflexion auf, dass sich keine Darstellungstraditionen herausbilden, die sich anhand exemplarischer Analysen erschließen lassen. Stattdessen standen hier Einzellektüren, die trotz allem eine zentrale Thematik freizulegen vermochten. Wenn Camera obscura und Laterna magica im Film vorkommen, wird ihr Verhältnis zum beobachtenden Medium zumeist dadurch hergestellt, dass die projizierten Bilder im Hinblick auf ihre Magie oder Rationalität gewertet werden. Aushandeln lässt sich durch die Orientierung des Films an den Projektionsmedien, die oft, aber nicht immer als Vorläufer historisiert sind, das
28 COMRADES greift sogar noch weiter vor, indem Fotografie auf Glas praktiziert wird, wie sie sich erst um 1850 durchsetzt. Insofern die Kamera – als »steam heliotype« – auf unsinnige Weise mit einer Dampfmaschine kombiniert ist, wird das Auftreten der Fotografie im Gegensatz zu den anderen optischen Apparaten verfremdet.
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Wesen des Films – als die Wirklichkeit abbildendes oder transformierendes und bezauberndes Medium. Die hier besprochenen Thematisierungen von Camera obscura und Laterna magica verbindet untereinander und mit der selbstreferentiellen Thematisierung des Kinos als Projektionsmedium, dass sie an irgendeinem Punkt den lichtförmigen Bildtransport darstellen, indem sie per Umschnitt das projizierte Leinwandbild zurückbinden an den Lichtstrahl des Projektors. Dabei wird sichtbar, dass sich jedes Bild an zwei Orten gleichzeitig befindet, auf der Projektionswand und dort, wo der magische Lichtstrahl hinführt – sei es im Projektor auf dem transparenten Bildträger oder im Außen der Camera obscura. COMRADES wendet diesen Blick auf beide Projektionsmedien an: im Lichtstrahl einer in einem Holzschuppen – wie in THE FALL – zufällig entstandenen Camera obscura (vgl. Abb. 6) wie auch im Blick zurück auf eine Projektionslaterne (vgl. Abb. 7). Die Verbindung zum Kino erfolgt hier nicht unmittelbar, sondern dadurch, dass dieses Motiv schon aus der selbstreferentiellen Darstellung des Kinoraums geläufig ist. Projektion, so lässt sich lernen, ist stets geheimnisvoller, lichtförmiger Bildtransport.
Abb. 6 & 7: Blick ins Projektionszentrum der ›Camera obscura‹ und Blick ins Objektiv des phantasmagorischen Projektors in COMRADES
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Grenzgänge des Sichtbaren. Optische Instrumente im Film: Mikroskop, Teleskop, Fernglas, Brille OLIVER FAHLE
Die Erweiterung des Sehens Schon frühe Filme operieren mit Mediendifferenzen. Hinsichtlich der optischen Instrumente sind zwei Filme von George Albert Smith – GRANDMA’S READING GLASS und AS SEEN THROUGH A TELESCOPE (beide GB 1900) – auffällig. Auf den ersten Blick geht es in beiden Filmen nur um die Zurschaustellung der Möglichkeiten des Sehens, die durch die jeweiligen Medien – zunächst Lupe, dann Fernrohr – eröffnet werden. In GRANDMA’S READING GLASS befindet sich ein Junge offenbar mit seiner Großmutter, deren Gesicht aber nicht zu erkennen ist, an einem Tisch und probiert eine überdimensionale Lupe aus. Durch diese sieht er Detailaufnahmen einer Zeitung, den Vogel im Käfig, ein mechanisches Uhrwerk, eine Katze im Korb sowie zuletzt das Auge der vermeintlichen Großmutter selbst, dessen Pupille fröhlich umherspringt. In AS SEEN THROUGH A TELESCOPE beobachtet ein Voyeur die andere Straßenseite, wo ein Mann einer Frau mit ganz leicht hochgezogenem Rock die Schuhe bindet, was auf offener Straße offenbar als anzüglich gelten könnte. Während der Voyeur sich über seine vermeintlich heimlichen Beobachtungen freut, überqueren die beiden anderen die Straße und der Mann versetzt dem Voyeur einen kräftigen Schlag, so dass dieser vom Stuhl fällt. In diesen Filmen geht es offensichtlich um nicht viel anderes als um die Attraktion des Sehens.1 Aufschlussreich ist dabei, wie die optischen Instrumente innerhalb des Films als Beobachtungsmedien eingesetzt werden. Alle Aufnahmen, die den Blick durch Lupe und Fernrohr zeigen, sind als runde Ausschnitte aus einem Gesamtbild zu sehen. Um diesen Ausschnitt herum ist es einfach schwarz. Mag dies beim Fernrohr noch nachvollziehbar sein, weil dort die Fokussierung auf ein Auge und ein Loch dominiert, ist es bei der Lupe eher merkwürdig. Denn weder ist es jenseits der Lupe dunkel, noch liefert diese ein gleichmäßig fokussiertes Bild. Schließlich ist sie auch gar nicht als Vergrößerung zu sehen, sondern als schlichte Detailaufnahme der beobachteten Objekte. Es geht hier eigentlich nur um einfache Fokussierungen auf Details unter Ausblendung der Umgebung. Im Mittelpunkt steht also 1
Zum Begriff der Attraktion vgl. Tom Gunning: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«, in: Meteor 4 (1996), S. 25-34.
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nicht die Lupe, sondern der Film mit seinen der Lupe analogen Möglichkeiten. Auch der Film kann vergrößern, Details ansteuern und Blicke konkret ausrichten. Warum braucht er aber den Umweg über die Lupe, um das zu zeigen? Wahrscheinlich benötigt der Film in dieser frühen Phase die herkömmlichen Bildmedien (nicht nur das vielzitierte Theater), um seine Vorgehensweisen zu verstehen, um das Unverständliche durch Analogisierung mit dem Verständlichen begreifbar zu machen. Zugleich dient die Lupe der Einführung der bis dahin unüblichen filmischen Artikulationsform der Großaufnahme. Die Lupe wird als Erweiterung des Sehens eingesetzt. Und doch ist sie mehr als bloße Ausdehnung. Die Umgebung des Blicks, die völlig in Schwarz getaucht ist, verweist auch auf buchstäbliche Weise auf ein neues Verhältnis des Sichtbaren zum Unsichtbaren (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Sichtbarmachung und Sichtbarwerden durch optische Instrumente in GRANDMA’S READING GLASS
Zwischen diesen beiden Polen – Erweiterung der ohnehin sichtbaren Welt einerseits, Neukonfiguration des Sichtbaren andererseits – scheint sich der Einsatz der optischen Instrumente im Film abzuspielen. Es geht daher immer auch um die Frage, inwiefern das Sehen noch in der vorhandenen Welt stattfindet oder den Sprung in eine andere Welt bedeutet. So scheint die berühmte Madenszene in BRONENOSETS POTYOMKIN (S. M. Eisenstein, SU 1925) lediglich auf eine Vergrößerung der bestehenden Welt hinzuweisen. Folgt man jedoch dem Einsatz des Vergrößerungsglases in MR. ARKADIN (O. Welles, F/CH/E 1955), ergibt sich ein anderes Bild. Dort sieht der Zuschauer nicht den Blick auf das vergrößerte Objekt, sondern die Lupe wirkt gleichsam rückwärts. Das Auge erscheint vergrößert und verweist damit auf die mediale Formung des Sehenden durch die Lupe. Die Deformation des Auges zeigt, dass die Lupe nicht nur Erweiterung des gesehenen Gegenstands ist, sondern die Ausrichtung des Sehenden überhaupt erst bestimmt. Die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten der optischen Instrumente stellen die Frage nach ihrem medialen Status, der zunächst – auch über den Film hinaus – befragt werden soll.
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Was sind Beobachtungsmedien? Medienhistorisch betrachtet sind die hier in Frage stehenden Instrumente vor dem Film anzusiedeln. Die Brille wurde im 13. Jahrhundert in der Toskana erfunden, das Mikroskop und das Fernrohr wurden im 16. Jahrhundert einsatzfähig.2 Das Teleskop baut auf dem Fernrohr auf, wird jedoch ab dem 20. Jahrhundert von ihm unterschieden, da es elektromagnetische Wellen sammelt und bündelt. Das Prinzip, die Beobachtung weit entfernter Objekte, bleibt freilich das gleiche – allerdings ist die Beobachtungsfähigkeit des Teleskops um ein Vielfaches höher als die des Fernrohrs. Als Reflexionsfiguren im Film begegnen diese Apparate aber nicht als Vorgeschichten des Films, sondern, wie gesehen, als Instrumente, die mit dem Film eine elementare Eigenschaft teilen, nämlich die Sichtbarmachung des Nicht-Sichtbaren. Damit klingen zwei Probleme an, die einer kurzen Klärung bedürfen. Das erste betrifft den hier mit Bedacht gewählten Begriff des Nicht-Sichtbaren, der vom Unsichtbaren zu unterscheiden ist. Das zweite handelt von der in der Überschrift vorgenommenen Einteilung. Während in Bezug auf Theater, Fotografie, Malerei, Fernsehen, Comic und Video wie selbstverständlich von Medien bzw. ›Schwestermedien‹ des Films die Rede ist, handelt es sich bei den hier thematisierten Geräten zunächst ›nur‹ um optische Instrumente. Daher muss auf die Frage eingegangen werden, in welchem Sinne Brille, Mikroskop, Fernglas und Teleskop auch Medien sind oder werden können. Die Klärung dieser beiden Problemzonen ist kein Selbstzweck, sondern wird vom Film als Medienreflexion selbst nahegelegt; die Medienreflexion kann ja ihrerseits nicht von schon vollständig konstituierten Medienbegriffen ausgehen, sondern nur davon, dass die Möglichkeiten und Potentiale der Medien erst durch Medienbeobachtung – in diesem Fall durch den Film – sichtbar werden. Die Frage nach der Sichtbarmachung des Nicht-Sichtbaren und die Frage nach dem medialen Status der hier thematisierten Instrumente hängen zusammen. Denn wenn jene nur bereits vorhandene visuelle Ensembles sichtbar machen und sich keine bildgebende Apparatur zwischen den Referenten und das Bild, das von diesem gewonnen werden kann, schiebt, dann kann man kaum von Medien sprechen. Medien sind nicht neutral, sondern produzieren ein Bild der Welt, das ohne sie nicht entstehen könnte. Ein Blick in einschlägige Handbücher und Chroniken zeigt, dass Brille, Mikroskop, Fernrohr und Teleskop offenbar nicht als Medien betrachtet werden.3 Hans H. Hiebel u.a. legen die Definition zugrunde, dass Medien entweder Speicher-, Übertragungs- oder Verarbeitungsfunktionen ausfüllen müssen.4 Die Einordnung der hier genannten Instrumente im Rahmen der Übertragungsmedien bleibt jedoch aus. Andere Definitionen, wie sie etwa im Anschluss an Niklas Luhmann entwickelt werden, fassen den Medienbegriff 2 3
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Vgl. Richard Panek: Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit, Stuttgart 2001, S. 29f. Vgl. zum Beispiel die renommierten Handbücher von Hans H. Hiebel, etwa Hans H. Hiebel: Kleine Medienchronik. Von den ersten Schriftzeichen bis zum Mikrochip, München 1997; Hans H. Hiebel u.a. (Hg.): Die Medien. Logik – Leistung – Geschichte, Stuttgart 1998. Vgl. H. H. Hiebel u.a.: Die Medien, S. 9.
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weiter.5 Hier wird zwischen Wahrnehmungs-, Verstehens-, Verbreitungs- und Erfolgsmedien unterschieden. Als Wahrnehmungsmedien gelten im Wesentlichen die Sinnesorgane, die als ›Lösungstechniken‹ menschlicher Orientierungsprobleme verstanden werden.6 Brille, Fernrohr, Teleskop und Mikroskop sind Hilfsmittel dieser Erfahrungen und können daher als Teil der Wahrnehmungsmedien verstanden werden, während Verstehensmedien bereits als Sprachsysteme begriffen werden (Morsealphabet, Nationalsprachen), denen sich die Verbreitungsmedien (Massenmedien wie Radio und Fernsehen) und die symbolisch generierten Medien (Wahrheit, Liebe, Macht, Geld als Erfolgsmedien) anschließen. Zwar hat diese Definition den Vorteil, die optischen Instrumente medial zu verorten, allerdings auch den Nachteil, sie bestenfalls als Verlängerung der Sinnesorgane – die man ohnehin als grenzwertige Medien bezeichnen müsste, da ihnen nichts Artefaktisches anhaftet – begreifbar zu machen. Ausgehend von diesen Definitionen lassen sich zwei Ansätze, welche die Medialität optischer Instrumente direkt in den Blick nehmen, miteinander konfrontieren. Den ersten formuliert Noël Carroll, dessen Analyse auf die Freilegung der Ontologie des filmischen Bildes zielt, die er vor allem in Abgrenzung zu Instrumenten wie dem Fernrohr oder dem Mikroskop gewinnt.7 In Anlehnung an die zuvor dargelegten Mediendefinitionen kann man mit Carroll zu dem Resultat gelangen, dass es sich bei Brille, Mikroskop und Fernrohr eher nicht um Medien handelt. Eine hierzu konträre Position lässt sich mit Joseph Vogl rekonstruieren, der anhand des Fernrohrs exemplarisch zeigt, wie sich ein Medium konstituiert.8 In der Behandlung der Frage nach der Besonderheit des Films argumentiert Caroll mehrstufig. Hier interessiert der erste Schritt seines Textes, in dem er Fotografie und Film von anderen visuellen Apparaten wie Mikroskop und Teleskop absetzt. Zunächst scheint es keine Unterschiede zu geben: Wie bei der Fotografie und beim Film sehen wir beim Fernrohr durch eine Linse auf Objekte. Beide Medienformen sind Prothesen, die den Blick erweitern und anders sehen lassen, als es mit bloßem Auge der Fall ist. Dennoch gibt es einen substanziellen Unterschied, der darin besteht, dass Film und Fotografie eine gleichsam entkörperlichte Blickstruktur entwerfen, d.h. die Beziehung von Bild und Betrachter beruht auf Trennung und nicht auf körperlicher Kopräsenz. Anders beim Fernrohr und beim Mikroskop: »Wenn ich durch ein Opernglas eine Ballerina oder ihren Partner anschaue, dann ist das optische Arrangement, das ich empfange, zwar vergrößert, aber dennoch weiterhin in einem bestimmten Sinne mit meinem Körper verbunden [Herv. i. O.]: Ich wüsste, wie ich an den fraglichen Ort gelangen könnte, wenn ich wollte. Ich kann meinen Körper räumlich auf die Ballerina und ihren Partner ausrichten.
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Vgl. Andreas Ziemann: Soziologie der Medien, Bielefeld 2006, S. 18ff. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Noel Carroll: »Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes«, in: Dimitri Liebsch (Hg.), Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn 2006, S. 155-175. Vgl. Joseph Vogl: »Medien-Werden. Galileis Fernrohr«, in: Lorenz Engell/ Ders. (Hg.), Mediale Historiographien. Archiv für Mediengeschichte 1, Weimar 2001, S. 115-123.
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Dasselbe lässt sich auch über Bakterien sagen, die ich durch ein Mikroskop sehe; 9 ich kann meinen Körper ungefähr in ihre Richtung drehen.«
Im Film dagegen besitzen der Raum, in dem sich der Gegenstand befindet, und der Raum, von dem aus er angesehen wird, keine körperliche Verbindung. Der Raum ist optisch erreichbar, so Carroll, aber phänomenologisch vom Lebensraum des Betrachters getrennt.10 Sehen kann man Objekte im wörtlichen Sinne daher nur, wenn sie auch irgendwie körperlich erreichbar sind oder sein könnten. Visuelle Medien hingegen stellen Objekte dar und gesehen werden diese Darbietungen, nicht die Objekte selbst. Carroll spricht hier von »Displays, deren virtueller Raum vom Raum meiner Erfahrungen abgetrennt ist«.11 Auch wenn es Carroll nicht um eine Mediendefinition geht, so kann seine Position doch dahingehend interpretiert werden, dass visuelle Medien über ein Display verfügen müssen, das entkörperlichte Blickwinkel präsentiert. Malerei, Fotografie, Film und Fernsehen sind dann Medien, während Brille, Fernrohr, Mikroskop und Teleskop sowie auch Spiegel eher optische Instrumente sind, denen aber kein medialer Status zukommt. Letztere machen nicht Unsichtbares sichtbar, sondern Nicht-Sichtbares zugänglich, erweitern nicht die Welt, sondern das Wissen über diese, wie es Panek formuliert.12 Eine differierende Position nimmt Vogl ein, der das Medien-Werden des Fernrohrs beschreibt und damit auch grundlegend anders argumentiert als Caroll. Vogl beschreibt Medien nicht systematisch, sondern als historisch gewachsene Ensembles. Medien sind nicht, sondern sie entstehen, sie werden. Das Fernrohr hat es bereits vor Galileo Galilei gegeben,13 aber erst durch Galilei hat es Daten eigener Art produziert und ist damit vom Instrument zum Medium geworden.14 Dies geschieht durch drei Schritte: Erstens durch die Denaturierung der Sinne. Galilei, so Vogl, hat den Blick zunächst auf die Apparatur selbst gerichtet, hat das Fernrohr einer theoretischen Prüfung unterzogen und dabei zugleich das Auge entnaturalisiert. Dieses ist dann selbst nur eine Blickmöglichkeit unter anderen, wie 1604 schon Johannes Kepler argumentiert hatte. Theoretisierung der Apparatur und Denaturierung der Sinne sind also Voraussetzungen für die Entstehung eines medialen Bewusstseins. Den zweiten Schritt bezeichnet Vogl als Herstellung einer grundlegenden Selbstreferenz. Galileis Beobachtung des Mondes führt zu einer fundamentalen Neuverortung des Beobachterstandpunktes auf der Erde. Galilei beschreibt eindringlich das Selbstverhältnis der Beobachtung, d.h. er entdeckt nicht nur den Mond, sondern eine neue Welt – und daraus entsteht der »Fernrohr-Effekt, der in der Relativierung, in der Hypothetisierung oder Konditio9 10 11 12 13
N. Carroll: Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes, S. 158f. Vgl. ebd. Ebd., S. 160. Vgl. R. Panek: Das Auge Gottes, S. 9. So hat der Physiker Giambattista della Porta das Fernrohr bereits 1589 in seinen Prinzipien korrekt beschrieben, aber seine Neuheit nicht erkannt und es als »lustiges Spielzeug« beiseitegelegt; vgl. R. Panek: Das Auge Gottes, S. 35. 14 Vgl. J. Vogl: Medien-Werden, S. 115.
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nalisierung des Standorts, das heißt des Aussagensubjekts besteht«.15 Anders gesagt: Jeder neue Blick erfindet zugleich einen neuen Beobachter (wie es filmisch bereits anhand von Mr. Arkadins umgekehrter Lupe deutlich wurde). Drittens schließlich generiert sich das Medien-Werden des Fernrohrs durch die Erzeugung eines ästhetischen Feldes. Dabei geht es weniger um die konkreten neuen Daten, die das Fernrohr liefert, sondern um die Schaffung neuer Differenzen, hier besonders derjenigen zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Jedes Sichtbare erzeugt ein Unsichtbares, das Fernrohr ist schon ein Sehen zweiter Ordnung: »Einerseits erhöht das Fernrohr die Sichtbarkeit, produziert es ein Mehr an empirischer Erfahrung, liefert es gewisse Evidenzen für das kopernikanische System; andererseits wird gerade diese Evidenz durch den Fernrohr-Effekt selbst angegriffen und bezweifelbar: Jede Sichtbarkeit ist nun mit einem Stigma der Vorläufigkeit geschlagen, jede Sichtbarkeit ist von einem Ozean des Unsichtbaren umgeben, alles Sichtbare ist noch zufällig, immer noch und immer mehr mit einem 16 Nicht-Wahrnehmbaren und Nicht-Gewussten umrahmt.«
Vogl räumt ein, dass das Medien-Werden hier für eine spezifische historische Situation beschrieben wird und dass für die Konstituierung als Medium weitere Faktoren ausschlaggebend sind: in diesem Fall neben den technologischen Voraussetzungen und physikalischen Erkenntnissen (Brillen- und Linsentechnik) auch neue Wissensordnungen (Kopernikanische Weltordnung) sowie experimentelle Praktiken der Beobachtung, neue Aufzeichnungsverhältnisse sowie die durch den Buchdruck neu geschaffene Beziehung von Texten und Bildern. Für Vogl führt dies dazu, dass es eigentlich keine Medien im substanziellen Sinne gibt, sondern nur historisch bestimmbare Orte, die sie »innerhalb kultureller und sozialer Praktiken einnehmen«.17 Dem kann man sicherlich insofern zustimmen, als sich Medienbegriffe als dynamisch erweisen und Medien selbst ständig im Wandel stehen. Allerdings darf dies nicht den Verzicht auf die systematische Bestimmung bedeuten, die immer eine andere Funktion hat als die historische. Systematische und historische Bestimmungen haben in der Medienwissenschaft, bei aller Interdependenz, eigenständige Funktionen und sind nicht aufeinander reduzierbar. Für die Fragen nach dem medialen Status und der Bedeutung der optischen Instrumente im Film können zunächst zwei Aspekte festgehalten werden. Zunächst möchte ich die Gruppe Brille, Fernrohr, Mikroskop und Teleskop in Abgrenzung zu den einfachen Wahrnehmungsmedien, d.h. den Sinnesorganen, aber auch in Distanz zu den ›Display‹-Bildmedien wie Fotografie, Film und Fernsehen als Beobachtungsmedien bezeichnen. Sie leisten mehr als die Sinnesorgane, denn sie führen diese über angeborene Fähigkeiten hinaus. Sie sind aber dennoch an die Sinne – besonders den Sehsinn – gebunden und funktionieren in Abhängigkeit vom körperlichen Bewegungsfeld, ganz gemäß Carroll. Es kommt ihnen also ein eigenartiger medialer Status zu, der im Film wiederum eine eigenständige Rolle spielt, wie der Blick auf
15 J. Vogl: Medien-Werden, S. 117. 16 Ebd., S. 120. 17 Ebd., S. 121.
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die frühen Filme von Smith, aber auch von Eisenstein und Welles bereits gezeigt hat. Zweitens vollziehen die Beobachtungsmedien verschiedene Mediatisierungsbewegungen, wie mit Vogl argumentiert werden kann, die durch andere Medien – etwa in Filmen – selbst wieder beobachtet werden. Dabei kommt auch ihre Wandelbarkeit, ihre Zuschneidung je nach Beobachtungs- oder Filmkontext ins Spiel. Wenn die Beobachtungsmedien also mehr bieten als bloße (vergrößerte oder verkleinerte) Repräsentationen von Gegenständen, die man aus der vorfilmischen Welt kennt, dann könnten Filme etwa auf folgende Aspekte hin gelesen werden: 1) Inwiefern ist in Filmen die Denaturierung der Sinne durch diese Medien ein Thema? Wird ihre Beobachtungsfähigkeit selbst thematisiert oder werden sie bloß verwendet? 2) Welche Rückwirkungen hat die Beobachtbarkeit der Dinge durch diese Medien auf die Welt des Films? Proklamiert dieser einen neuen Stand der Erkenntnis, verändert er gleichsam seine eigenen Koordinaten im Zusammenspiel mit den Beobachtungsmedien? Welche Ebenen der Interaktion bilden sich, die sowohl den Film als auch die anderen Medien affizieren? 3) Welches neue ästhetische Feld tritt unter Einsatz der Beobachtungsmedien zutage, wie wird das Wissen um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit neu konfiguriert? In diesem Zusammenhang muss die Aufmerksamkeit besonders auf das Verhältnis der Sichtbarkeit zur Nicht-Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit gerichtet werden. Vogl postuliert hinsichtlich des Fernrohrs die Konstituierung einer grundlegenden Differenz zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Anstatt des Unsichtbaren möchte ich jedoch vom Nicht-Sichtbaren sprechen. Vogl führt aus, dass das Fernrohr dadurch, dass es etwas ins Sichtbare bringt, von einer Zone des Unsichtbaren umgeben ist. Das trifft aber auf jedes Bildmedium zu, denn jede Sichtbarmachung beinhaltet konstitutiv eine vom Sichtbaren ausgeschlossene Unsichtbarkeit. Jedes Wissen ruht auf einem Feld des Nicht-Wissens auf. Für den spezifischen Fall der Beobachtungsmedien ist jedoch entscheidend, dass sie auch ein Verhältnis zum Nicht-Sichtbaren ausbilden, da ja, wie oben argumentiert, die durch das Fernrohr, das Mikroskop oder die Brille ins Bild gesetzten Dinge nicht prinzipiell unsichtbar sind, sondern nur mangels entsprechender Sinnesorgane nicht gesehen werden können. Sie werden nicht durch ein bestimmtes Display überhaupt als Sichtbares produziert, wie das die Fotografie und der Film tun, sondern sie sind schon da, nur für das Auge eben nicht zugänglich. Den Differenzpaaren Sichtbar/ Unsichtbar bzw. Sichtbar/Nicht-Sichtbar kommt in der Frage nach der Reflexion der Beobachtungsmedien im Film gerade auch in ihrer Unterscheidung eine besondere Rolle zu, wie die folgenden Analysen zeigen sollen. Eine umfassende systematische Beschreibung aller möglichen Filme im Filter der oben angeführten drei Fragen würde den Rahmen des Textes sprengen. Daher sollen hier nur einige herausragende Beispiele, die eine solche Beschreibung keinesfalls vergessen dürfte, erörtert werden. Dabei wird rasch deutlich, dass sich die drei Fragen, die auch eine zunehmende Komplexität des Medien-Werdens der Beobachtungsmedien darstellen, überkreuzen und
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selbst der Diskussion bedürfen. Anders gesagt: Beobachtungsmedien kommen in Filmen nicht vor, sondern bestenfalls ihre Dynamik, ihr Werden, das zugleich das des Films und der Filme ist.
Übergänge zwischen den Welten und die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren/Nicht-Sichtbaren Ich möchte zwei Formen von Filmen charakterisieren, die den Sprung zwischen den Welten auf jeweils unterschiedliche Weise thematisieren. Zum einen Werke, welche die Beobachtungsmedien mit einer wesentlichen Eigenschaft des Films in Verbindung setzen: der Narration. Zum anderen Filme, die optische Instrumente als mediale Funktion in einem größeren Funktionszusammenhang beschreiben, der der Film selbst ohnehin ist. Zur Narration wären zwei bekannte Beispiele anzuführen: REAR WINDOW (A. Hitchcock, USA 1954) und BLOW-UP (M. Antonioni, GB/I/USA 1966). In beiden Filmen geht es darum, wie Beobachtung, also Einzelbild, und Kontext, also Narration, zusammenkommen, wie also ein erzählerischer Zusammenhang ausgebildet wird. In REAR WINDOW geht es darum, einen Mord, der nicht gesehen worden ist, zugänglich zu machen. Zunächst bestehen nur Einzelbeobachtungen bzw. akustische Eindrücke. Ein Schrei, die Abwesenheit einer Frau, ein großes Messer. Jeffries, an den Rollstuhl und seinen Fensterblick gebunden, konstruiert sich seine Geschichte, übrigens präzise entlang der Unterscheidung von Sichtbarem und Nicht-Sichtbarem.18 REAR WINDOW spielt von Beginn an mit dieser Unterscheidung, etwa durch die Fotografien, die Jeffries’ Persönlichkeit und seinen Unfall kontextualisieren, durch den restringierten Blick durch das Fenster, dessen Rahmen hervorgehoben wird, durch die Vorstellung von ›Miss Lonely-Heart‹, die einen nur für sie, nicht aber für Jeffries sichtbaren Gast bedient. Dem von Jeffries behaupteten Zusammenhang der Beobachtungen steht nicht nur die Unwahrscheinlichkeit, sondern stehen zunächst auch seine Freundin Lisa und der Polizist Doyle gegenüber, die für alle Schlüsse von Jeffries triviale Alltagserklärungen haben – Messer hat jeder im Haus, meint Doyle. Der Sprung von der Einzelbeobachtung zur Kriminalerzählung wird aber vor allem durch das Fernrohr evident (bzw. durch das Objektiv der Fotokamera von Jeffries, das dieser wie ein Fernrohr einsetzt). Erst der Blick ins Detail macht aus den vagen Vermutungen eine handfeste Geschichte. Dies mündet sogar in die Beweisführung, denn nur durch den Fernrohrblick können Jeffries und Lisa bestätigen, dass der Nachbar etwas im Garten vergraben hat – die Pflanzen sind plötzlich umgekehrt gewachsen, was sich aus anderen Perspektiven nicht erschlossen hätte. In REAR WINDOW bereitet das Fernrohr also den Übergang vom Bild zur Erzählung und verweist dadurch auf deren Spannungsverhältnis, das im Film immer angelegt ist. In ähnlichem Sinne, aber bereits stärker in der medialen 18 Mehr als einmal ist darauf hingewiesen worden, dass Jeffries damit dem Zuschauer in seiner Rezeptionssituation im Kino ähnelt und der Film so auf sein Bauprinzip verweist; vgl. etwa Michael Diers: Fotografie – Film – Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg 2006, S. 140-173; David Bordwell: Narration in the Fiction Film, Wisconsin 1985, Einleitung.
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Moderne des Films verwurzelt, funktioniert auch BLOW-UP. Hier geht es zunächst um das Verhältnis von Fotografie und er- oder gefundener Erzählung, also auch um die Grenzen der beiden. Die Grenze der Fotografie besteht unter anderem darin, dass sich bei zunehmender Vergrößerung das Bild in seiner Körnigkeit zeigt und die Gegenstände verschwinden. Genau an der Grenze zwischen Erkennen und Verschwinden sucht der Fotograf Thomas das Verbrechen. Dabei nimmt er bezeichnenderweise eine Lupe zur Hand. Doch auch diese bringt keine genaueren Erkenntnisse, vor allem weil sie – ähnlich wie die Fotografie – neben der Vergrößerung und Sichtbarmachung den Gegenstand auch verschwimmen lässt (vgl. Abb. 2). Anhand der Lupe wird also deutlich, was zunächst schon an der Fotografie auffiel – die Medien machen sichtbar, indem sie ein jeweils neues Feld des Nicht-Sichtbaren eröffnen. Das gilt für Film und Fotografie, aber eben auch für die Lupe. In BLOW-UP führt dies dazu, dass der Zusammenhang zwischen Einzelbild und narrativem Kontext ein von vornherein zerrissener ist. Der Sprung in die Erzählung verweist immer nur wieder zurück auf die Einzelbeobachtung.
Abb. 2: Sichtbarmachen wird zum Unsichtbarmachen in BLOW-UP
Eine zweite Gruppe von Filmen, die eher das gegenwärtige Kino repräsentiert,19 eröffnet neue Formen der Medienreflexion. Während REAR WINDOW und BLOW-UP den Film als Kontrast zu anderen medialen Formaten begreifen, ist in diesen Werken der Film ein Medium unter anderen. Zwar ist die erzählende Form immer noch filmisch geprägt, doch ist das Filmische nur eine Ebene unter mehreren. In DISTURBIA (D. J. Caruso, USA 2007), einer offensichtlichen Referenz an REAR WINDOW, wird dies deutlich. Der Schüler Kale wird zu mehreren Wochen Hausarrest verurteilt, weil er seinen Lehrer geschlagen hat. Eine elektronische Fußfessel hindert ihn am Ausbruch. Kale verbringt seine Zeit mit Computerspielen und schließlich mit der Beobachtung seiner Umgebung. Er verwendet dafür ein Fernrohr. Aufgrund der Anlage seines Appartements kann er aus allen Fenstern sehen und hat seine Umgebung im 360°-Blick. Diese panoptische Perspektive ist für ihn wie Fernse-
19 Filme also, die durch die Postmoderne gegangen sind und damit ein hohes Medienbewusstsein aufweisen; vgl. Oliver Fahle: Bilder der Zweiten Moderne, Weimar 2005, S. 19ff.
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hen, denn er switcht gleichsam zwischen den Fenstern hin und her und stellt sogar fest, dass dies Reality ist, nur ohne TV. Es ist diese Überlagerung verschiedener medialer Formate (Film, Fernsehen, Fernrohr, Panoptik), die eine eigene Form der Mediendifferenz oder gar des Medienübergangs herstellt. So werden die Differenzen zwischen Filmkamera und Fernrohr weitgehend eliminiert. Der Blick ist lediglich näher dran, aber ein fernrohrspezifischer Ausschnitt ist filmisch nicht erkennbar. Die Medien werden also nicht mehr voneinander abgegrenzt, sondern bilden ein gemeinsames, transmediales20 und damit neues ästhetisches Feld. Der Film verändert nicht nur seine Wahrnehmungs- oder Darstellungskoordinaten – aus den Überlagerungen entstehen auch neue ästhetische Konfigurationen, die wiederum andere Konstellationen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit eröffnen. Meine These ist, dass die Verflechtung des Films mit anderen Medien zunehmend den Blick in das Außerhalb des Sichtbaren verschiebt, also eine konstitutive Unsichtbarkeit herstellt, die besonders dann auftaucht, wenn andere Medien in den Film eindringen. Das hors-champ, einstmals zur Bezeichnung des Nicht-Sichtbaren entworfen, und das hors-cadre,21 zur Beschreibung des Außerdiegetischen konzipiert (etwa Produktionsinstanzen wie Kamera oder Tongeräte), müssten demnach durch ein hors-visible ergänzt werden – eine Nicht-Sichtbarkeit, die gleichsam konstitutiv für den Film ist.22 DISTURBIA treibt dies weiter, etwa indem der Mörder auf dem Computerscreen erscheint, aber gerade deshalb nicht als abwesend bezeichnet werden kann. Anders als andere Bildformate, die stets von der Abwesenheit des Abgebildeten zeugen, kann das Gesicht von Mr. Turner auf dem Screen genauso bedeuten, dass er in der Nähe ist, im gleichen Zimmer. Hier werden Sichtbarkeit/Anwesenheit und Unsichtbarkeit/Abwesenheit aufeinander bezogen, ohne dass man vom Primat des Sichtbaren oder Anwesenden sprechen kann. Ein weiteres Beispiel, in dem der Film in ein Austauschverhältnis mit anderen Medien tritt und das ästhetische Feld von Sehen und Wissen neu ordnet, ist CONTACT (R. Zemeckis, USA 1997). Hier wird das prekäre Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem direkt thematisiert. Die Wissenschaftlerin Eleanor sucht nach außerirdischen Signalen und bedient sich dabei eines Radioteleskops. Schließlich empfängt sie Signale, die sich bei der Entschlüsselung als Hitlers Eröffnungsrede der Olympischen Spiele 1936 herausstellen. Zwischen den Bildsignalen befinden sich aber noch andere Informationen, die Baupläne für eine Maschine enthalten, welche eine Reise durch die Zeit ermöglichen soll. Unter dem skeptischen Blick anderer Wissenschaftler lässt 20 Transmedialität wird hier in Absetzung von Irina O. Rajewskis Begriffsbestimmung als Konvergenz verschiedener medialer Formate und Ästhetiken verstanden; vgl. Irina O. Rajewski: Intermedialität, Tübingen, Basel 2002, S. 13. 21 Zur Bildung von Abwesenheit und des hors-champ im Film vgl. Kayo AdachiRabe: Abwesenheit im Film. Zur Theorie und Geschichte des hors-champ, Münster 2005. 22 Das hors-visible kann, so meine Definition, anders als das hors-cadre auch durch Selbstreflexivität vom Typ ›Blick in die Kamera‹ o.Ä. nicht sichtbar gemacht werden, sondern bleibt immer außerhalb des (visuell) Zugänglichen.
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Eleanor die Maschine bauen und tritt diese Reise an. Bei ihrer Wiederkehr glaubt sie, 18 Stunden unterwegs gewesen zu sein, unter anderem auf dem Planeten Vega, während sie von der Erde aus gesehen nur kurze Zeit in der Maschine war. Eine Anhörung soll die Wahrheit enthüllen, kann jedoch keine Hinweise auf die Richtigkeit einer der beiden Versionen geben. Diese Unklarheit über das, was geschehen ist und was nicht, ist genau diejenige zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Dies beginnt schon mit dem Radioteleskop, das akustische Signale empfängt und damit auf eine Sichtbarkeit jenseits des Sichtbaren verweist. Die Filmbilder zeigen das Jenseits der eigenen medialen Beschaffenheit. CONTACT thematisiert seine Grenze, die genau zwischen dem Sichtbaren und dem Außersichtbaren (und Außerhörbaren), dem hors-visible, liegt. Eleanor erforscht den Grenzbereich zwischen beiden, der zweimal auffällig inszeniert wird. Zunächst zu Beginn, wenn sich verschiedene ineinander verschlungene Farbfelder mit Stimmen aus verschiedenen historischen Epochen der USA vermischen und schließlich im Auge der kleinen Eleanor landen. Schon als Kind erforscht sie das Unsichtbare mit teleskopischen Mitteln. Dann aber auch in der Zeitreise der Wissenschaftlerin Eleanor, die durch rasterartige Farbfelder führt, sogenannte Wurmlöcher, welche Zeitreisen möglich machen sollen, deren Existenz aber eben von anderen Wissenschaftlern bezweifelt wird. Die Auflösung des figürlichen Raums führt zu einer Reise, die offenbar das materiell gebundene Bewusstsein hinter sich lässt – und damit auch die Bilder, die sich in irgendeiner Weise materialisieren lassen. Auch wenn das Unsichtbare (filmisch) nicht erreichbar ist, so doch wenigstens der Grenzbereich, der ein Dahinter erahnen, wenn auch nie erblicken lässt (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Die Ahnung des Außersichtbaren durch die Grenzen des Sichtbaren in CONTACT
Schluss: Evidenz, Erzählung, Außen Die Beobachtungsmedien stehen in einem vielfach intermedialen Verhältnis zum Film. Sie werfen – wie in den ganz frühen Filmen zu erkennen – den Film auf den Prozess des Sehens zurück, den man als Aspekt der Evidenz bezeichnen kann. Sie reflektieren das Verhältnis von Beobachtung und narrativem Zusammenhang (REAR WINDOW) und spiegeln die epistemischen Konstellationen des Films wider (BLOW-UP). Dies ist der Aspekt der Erzählung. Schließlich definieren die Beobachtungsmedien das ästhetische Feld des Films auf neue Weise, da dieser unter Einfluss neuer Medien das Verhältnis von Sichtbarem/Unsichtbarem oder Nicht-Sichtbarem neu entwirft (DISTURBIA, CONTACT), was als Definition des Außen begriffen werden kann. Wenn
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man dies in eine Entwicklung der Beobachtung(smedien) im Film fassen will, dann bietet sich vorläufig folgende Stufung an: Die Beobachtungsmedien im Film thematisieren zunächst die Beobachtung des Beobachtbaren, dann die Beobachtung des Nicht-Beobachteten und schließlich die Beobachtung des Nicht-Beobachtbaren. Die Beobachtungsmedien, so kann man resümieren, führen den Film demnach zur Konstituierung seiner medialen Beschaffenheit, wenigstens dann, wenn man die Herstellungen des Sichtbaren, des Unsichtbaren und Nicht-Sichtbaren sowie des Außer-Sichtbaren als wesentliche Bestandteile des Films ansieht.
Literatur Adachi-Rabe, Kayo: Abwesenheit im Film. Zur Theorie und Geschichte des hors-champ, Münster 2005. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Madison 1985. Carroll, Noël: »Auf dem Weg zu einer Ontologie des bewegten Bildes«, in: Dimitri Liebsch (Hg.), Philosophie des Films. Grundlagentexte, Paderborn 2006, S. 155-175. Diers, Michael: Fotografie – Film – Video. Beiträge zu einer kritischen Theorie des Bildes, Hamburg 2006. Fahle, Oliver: Bilder der Zweiten Moderne, Weimar 2005. Gunning, Tom: »Das Kino der Attraktionen. Der frühe Film, seine Zuschauer und die Avantgarde«, in: Meteor 4 (1996), S. 25-34. Hiebel, Hans H.: Kleine Medienchronik. Von den ersten Schriftzeichen bis zum Mikrochip, München 1997. Hiebel, Hans H. u.a. (Hg.): Die Medien. Logik – Leistung – Geschichte, Stuttgart 1998. Panek, Richard: Das Auge Gottes. Das Teleskop und die lange Entdeckung der Unendlichkeit, Stuttgart 2001. Rajewski, Irina O.: Intermedialität, Tübingen, Basel 2002. Vogl, Joseph: »Medien-Werden. Galileis Fernrohr«, in: Lorenz Engell/Ders. (Hg.), Mediale Historiographien. Archiv für Mediengeschichte 1, Weimar 2001, S. 115-123. Ziemann, Andreas: Soziologie der Medien, Bielefeld 2006.
FILMISCHE KONSTRUKTIONEN VON VERWANDTSCHAFTS- UND KONKURRENZVERHÄLTNISSEN – DIE ›NACHBARMEDIEN‹ IM SPIEGEL DES SPIELFILMS
Der andere Schauplatz. Zur Theaterdarstellung im Kino STEFANIE DIEKMANN
Auftrittsformen von Theater im Film Um die auf den ersten Blick sehr vielfältigen Erscheinungsformen von Theater im Film provisorisch zu ordnen, kann man auf einige Unterscheidungen rekurrieren, die in dem Artikel Theater und Film in Reclams Sachlexikon des Films skizziert worden sind.1 Der Artikel differenziert zwischen vier wesentlichen Kategorien und obwohl damit gewiss nicht alle Konstellationen von Theater und Film erfasst sind, lassen sich auch die Ausnahmen und Hybridformen mit Verweis auf diese Kategorien beschreiben.
FILMADAPTIONEN VON THEATERSTÜCKEN Das Spektrum der Adaptionen reicht von der programmatisch textorientierten Umsetzung mit entsprechenden Sprachperformances der Schauspieler bis zu Verfilmungen, die aus den dramatischen Vorlagen nur einzelne Motive oder Konflikte beibehalten und diese in ein anderes Setting transponieren. Studieren lässt sich die Bandbreite des Spektrums an den zahlreichen Verfilmungen der Stücke William Shakespeares (in der Liste der meistadaptierten Dramatiker ohne Zweifel die Nummer 1),2 und unter diesen Stücken am besten an dem Drama Hamlet, das Kenneth Branagh (HAMLET, GB/USA 1996) in einer vier Stunden langen Adaption im Modus des Wort-für-Wort und Zeile-für-Zeile auf die Leinwand brachte und das in anderen Verfilmungen u.a. in das Deutschland der Nachkriegszeit (DER REST IST SCHWEIGEN, 1 2
Vgl. Susanne Marschall: »Theater und Film«, in: Thomas Koebner (Hg.), Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 610-612. Ähnlich umfangreich und vielgestaltig wie die Shakespeare-Adaptionszahl im Kino ist die darauf bezogene Sekundärliteratur. Zu den neueren Kompendien zählen Douglas Brode: Shakespeare in the Movies. From the Silent Era to Shakespeare in Love, Oxford 2000; Samuel Crowl (Hg.): Shakespeare and Film. A Norton Guide, New York 2008; Kathy Howlett (Hg.): Framing Shakespeare on Film, Athens 2000; Russell Jackson (Hg.): The Cambridge Companion to Shakespeare on Film, Cambridge 2007; ebenfalls interessant ist o.A.: »Shakespeare in the Cinema: A Film Directors’ Symposium (Panel Discussion)«, in: Robert Knopf (Hg.), Theater and Film. A Comparative Anthology, New Haven, London 2005, S. 267-291.
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H. Käutner, D 1959), in ein zeitlos-patiniertes Finnland des Spätkapitalismus (HAMLET LIIKEMAAILMASSA, A. Kaurismäki, FIN 1987), in das New York des neuen Jahrtausends (HAMLET, M. Almereyda, USA 2000) und in das Zeichentrick-Tierreich der Walt Disney Company (THE LION KING, R. Allers/ R. Minkoff, USA 1994) versetzt worden ist, mit mehr oder weniger auffälligen Modifikationen, aber selten so interessant wie im Fall des gender-bending in den frühen und sehr frühen Stummfilm-Variationen mit Asta Nielsen und Sarah Bernhardt in den Titelrollen (HAMLET, S. Gade/H. Schall, D 1921; LE DUEL D’HAMLET, C. Maurice, F 1900).3 Diskutiert werden Dramenverfilmungen häufig als Medium der Literaturvermittlung4 und dann meist mit Blick auf Fragen der Werktreue und der ›angemessenen‹ Umsetzung. Interessanter scheint es, die Verfilmungen von Bühnenklassikern mit André Bazin als performative Auseinandersetzungen darüber zu betrachten, was eigentlich als ›filmisch‹ zu gelten hat: die Bewegung der Kamera? Der häufige Wechsel der Blickposition? Die aufwändigen Dekors?5 Ein dritter Ansatz wäre der, gerade die Fälle serieller Verfilmung (Hamlet, King Lear, Romeo & Juliet) nicht nur als fortgesetzte Aushandlung der konstitutiven Elemente des jeweiligen Dramas/Dramenplots zu untersuchen, sondern vor allem als eine Geschichte der Herausbildung kinematischer Pathosformeln und einer medienspezifischen Ikonografie, die das Erscheinungsbild von Figuren dauerhaft modelliert.
FILMAUFZEICHNUNGEN VON THEATERAUFFÜHRUNGEN In diesen Aufzeichnungen ist die Adaption des Dramenstoffs Sache einer anderen, eben der Bühnen-Inszenierung, zu der die filmische Aufzeichnung ein eher dokumentarisches Verhältnis unterhält, mit dem sich indessen eigene Möglichkeiten der modifizierenden Wiedergabe verbinden. Die Modifikationen betreffen vor allem Eingriffe in das theatrale Blickregime, das darüber entscheidet, »wo die Dinge gesehen werden«; 6 gemeint sind hier die Um3
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Vgl. hierzu Tony Howard: Women as Hamlet. Performance and Interpretation in Theatre, Film and Fiction, Cambridge 2007; Bernice W. Kliman: Hamlet. Film, Television and Audio Performance, Rutherford 1988; Nives Sunara: Immer wieder »Hamlet«. Shakespeares Tragödie im Film – immer wieder anders, Trier 2004. Vgl. etwa Robert Hapgood: »Shakespeare on Film and Television«, in: Stanley Wells (Hg.), The Cambridge Companion to Shakespeare Studies, Cambridge 1986, S. 273-286. Vgl. André Bazin: »Theater und Film«, in: Ders.: Was ist Film?, Berlin 2006, S. 162-216, hier S. 171. Bazin schreibt hier von einer »Ansammlung aller möglichen Irrtümer, die sowohl das Kino als auch das Theater entstellen«. Sein Lob gilt im Übrigen denjenigen Adaptionen, denen es gelingt, »die dramatische Energie in einem [anderen; S.D.] Milieu zu erhalten«, was auch bedeutet, die spezifisch theatralen Parameter eines Dramentextes kenntlich zu machen bzw. sie in der Bearbeitung nicht zum Verschwinden zu bringen. Roland Barthes: »Diderot, Brecht, Eisenstein«, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt/Main 1989, S. 94-102, hier S. 94.
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schnitte sowie die Perspektiv- und Einstellungswechsel, mit denen die Blickposition der Filmzuschauer gegenüber dem Bühnengeschehen variiert wird. Die Modifikationen betreffen ferner die Montage des aufgezeichneten Materials, durch die sich nicht nur eine vier Stunden lange Aufführung auf einen ›Querschnitt‹ von einer Stunde verkürzen lässt, sondern auch einzelne Szenen oder Darsteller exponiert, die Aufführungssituation mit ins Bild gesetzt, die Zuschauerreaktionen in die Wiedergabe integriert werden können etc. Ihren ›Schauplatz‹, d.h. den institutionalisierten Ort ihrer Vorführung, haben Aufzeichnungen von Theateraufführungen im Allgemeinen weniger im Kino als vielmehr im Fernsehen.7 Allerdings gibt es Fälle, in denen einzelne Theaterdokumentationen sehr erfolgreich im Kino laufen, sich dort ›halten‹ oder immer wieder gezeigt werden, z.B. FAUST (P. Gorski, D 1960) nach der Inszenierung von und mit Gustaf Gründgens oder DER RING DES NIBELUNGEN (B. Large, D 1980), die vierteilige Dokumentation des Musikdramas, das Patrice Chéreau 1977 für die Bayreuther Festspiele inszenierte. Zu den ungewöhnlicheren Projekten zählt auch HAMLET (B. Colleran/J. Gielgud, USA 1964) mit Richard Burton in der Titelrolle, der in einem New Yorker Theater aufgezeichnet, in sehr kurzer Zeit geschnitten und dann für wenige Tage in ca. 1000 Kopien und entsprechend vielen Filmtheatern überall in den USA gezeigt wurde. Als eine approximative Übung in liveness, bei der die Filmvorführung nach ähnlichen Parametern wie die Theateraufführung eingerichtet wird,8 antizipiert dieses Projekt aktuelle Formate, vor allem The Met: Live in HD,9 das darin besteht, Aufführungen aus der New Yorker Metropolitan Opera in ausgewählte Kinos übertragen zu lassen, wo sie für den Preis einer Kino-Karte live verfolgt werden können.
FILME, DIE DAS THEATER ALS SUJET BEHANDELN Die Filme dieser Kategorie erzählen oft Geschichten, die im so genannten ›Theatermilieu‹ angesiedelt sind und/oder TheaterschauspielerInnen als ProtagonistInnen haben. Sie können aber auch die Theaterarbeit, Theaterproben oder Theaterprojekte von Laien behandeln und sind so nicht auf den Kontext des professionellen Theaterbetriebs festgelegt.10 Es ist diese Kategorie, die am häufigsten gemeint ist, wenn von ›Theaterfilmen‹ die Rede ist. Es bleibt anzumerken, dass der ›Theaterfilm‹ kaum als eigenes Genre bezeichnet werden kann, sondern diverse Genres kreuzt und durchquert: von der Komödie 7
›Theaterkanäle‹ in Deutschland sind etwa 3sat (wo die Aufführungen des Berliner Theatertreffens zu sehen sind), der ZDFtheaterkanal und arte, in Frankreich ebenfalls arte und in Großbritannien traditionell die BBC. 8 Zu diesen Parametern zählen die Ereignisqualität der – fast – simultanen Filmaufführungen sowie die Akzentuierung des transitorischen Charakters durch die kurze Laufzeit und die anschließende Vernichtung der Filmkopien. 9 Zum Projekt der Metropolitan Opera vgl. online: http://www.metoperafamily.org/metopera/broadcast/hd_events_current.aspx [letzter Zugriff am 17.10.2009]. 10 Beispiele für ›Laientheaterfilme‹ sind SIEBEN SOMMERSPROSSEN (H. Zschoche, DDR 1978), WAITING FOR GUFFMAN (C. Guest, USA 1996) oder L’ESQUIVE (A. Kechiche, F 2003).
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(TO BE OR NOT TO BE, E. Lubitsch, USA 1942) zur Tragödie (A DOUBLE LIFE, G. Cukor, USA 1947), vom Slapstick (THE PROPERTY MAN, C. Chaplin, USA 1914; A NIGHT AT THE OPERA, S. Wood, USA 1935) zum Melodram (APPLAUSE, R. Mamoulian, USA 1929; OPENING NIGHT, J. Cassavetes, USA 1977), zum Krimi (MURDER MOST FOUL, G. Pollock, GB 1964), zum Thriller (STAGE FRIGHT, A. Hitchcock, GB 1950), zum Horrorfilm (DELIRIA, M. Soavi, I 1987; OPERA, D. Argento, I 1987), zur romantischen Komödie (SCARAMOUCHE, G. Sidney, USA 1952; BEING JULIA, I. Szabó, CDN/USA/ H/GB 2004), zum Biopic (MOLIÈRE, A. Mnouchkine, F/I 1978), zum Historienpastiche (FARINELLI, G. Corbiau, B/F/I/USA 1994; THE LIBERTINE, L. Dunmore, GB/AUS 2004) usw.11 Wie viele Theaterszenen ein Film zu enthalten hätte, um als ›Theaterfilm‹ zu gelten, ist, als Frage der rein quantitativen Erfassung, kaum produktiv. Fest steht, dass es sehr interessante Theaterszenen in Filmen gibt, die sich keineswegs ausschließlich dem Theater widmen: Der Opernbesuch zu Beginn von SENSO (L. Visconti, I 1954) – ein Szenario der offenen und versteckten Handlungen – gehört ebenso dazu wie die Opernszene in CITIZEN KANE (O. Welles, USA 1941) – das Theater als Ort der unbarmherzigen Exposition – oder das Ende von THE GODFATHER: PART III (F. F. Coppola, USA 1990) – das Theater als Ort der Blickachsen, Sichtfelder und, auch hier, der offenen und versteckten Präparationen. Neben diesen Beispielen gibt es Filme, in denen zwar alles – die Dialoge, die Intrigen, alle Wünsche und Ambitionen der Figuren – auf das Theater ausgerichtet scheint. Indes besteht die Handlung gerade darin, den Übertritt der Protagonisten – häufiger noch: Protagonistinnen – in die Welt des Theaters zu suspendieren. In STAGE DOOR (G. La Cava, USA 1937) dauert dieser Zustand bis zur zweiten Hälfte des Films, in THE ACTRESS (G. Cukor, USA 1953) sogar noch über das Ende des Films hinaus. Wollte man die sehr verschiedenen Filme dieser Kategorie auf einen Nenner bringen, so wäre es der, dass sie, mehr oder weniger explizit, mehr oder weniger differenziert, Konzeptionen dazu entwickeln, was ›das Theater‹ ausmacht – als Kunst, als Gewerbe, als Praxis der Verstellung, auch als Schauplatz des Wissens und Nicht-Wissens um die Ordnung von Schein und Sein12 –, und dass diese Konzeptionen immer auch Implikationen für den Film selbst haben. Das Theater kann als ›das Andere‹ des Kinos imaginiert werden, als sein Konkurrent, als sein besseres oder schlechteres Gegenbild oder als seine Vergangenheit. Ganz gleich jedoch, welche Entwürfe des Theaters auf die Leinwand gebracht werden: Indem das Kino vom Theater handelt, handelt es immer auch von sich selbst.
11 Entsprechend der ›Streuung‹ von Theaterfilmen durch die Filmkulturen, Filmepochen und Genres existieren vor allem Publikationen zu einzelnen Filmen oder zu Aspekten der Darstellung des Theaters im Film. 12 Eine Publikation, die sich mit den Verschiebungen innerhalb der Beziehungen von Schein und Sein sowie Spiel und Ernst in kinematischen Theaterentwürfen befasst, ist Thomas Klein: Ernst und Spiel. Grenzgänge zwischen Bühne und Leben im Film, Mainz 2004.
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›THEATRAL‹ GESTALTETE FILME Offensichtlich ist dies die diffuseste Kategorie, da die Rede von der ›theatralen‹ Ästhetik eines Films sowohl auf Schauspielstile als auch auf Ausstattung, Kadrierung, Raum- und Blickordnungen etc. bezogen sein kann.13 Häufig wird der Begriff ›theatral‹ verwendet, um einen outrierten, stilisierten und/oder anti-naturalistischen Schauspielstil zu beschreiben, wie er sich zum Beispiel in Filmen aus dem Underground- und Avantgarde-Bereich – etwa von Jack Smith, Carmelo Bene, Ulrike Ottinger oder Werner Schroeter – findet. Dergestalt wandert das ›Theatrale‹ wieder in das Kino – und zwar gerade das experimentelle, innovative Kino – ein, nachdem die Schauspielkonzepte des frühen Films wesentlich von der Idee bestimmt waren, dass für den Auftritt auf der Leinwand andere Gesetze zu gelten haben als für den Auftritt auf der Bühne, mithin eine entsprechende Anpassung der Gestik, Mimik, Haltungen, Bewegungen und später auch Stimmen an das Faktum der apparativen Aufzeichnung notwendig ist.14 In Bezug auf die Ausstattung konnotiert die Rede vom Theatralen oft Opulenz und Verschwendung; ebenso kann sie aber auch auf die ausgestellte Kulissenhaftigkeit eines Filmsets bezogen sein – wie etwa in ELENA ET LES 15 HOMMES (J. Renoir, I/F 1956), 8 FEMMES (F. Ozon, F/I 2002) oder in den Filmen von Jacques Démy – oder darauf, dass dieses Set nur aus Markierungen und Versatzstücken besteht – z.B. in DOGVILLE (L. von Trier, DK/S/N/ FIN/GB/F/D/NL 2003). Als theater-affin wird oft die statische, zentralperspektivisch aufgebaute Einstellung betrachtet,16 in Bezug auf Kadrierungen vor allem die Betonung von Rahmungen und Einfassungen, die den Bildbzw. Bühnencharakter der Szene akzentuieren. 13 Vgl. das Spektrum der Filme und Beiträge in Michael Lommel/Isabel MaurerQueipo/Nanette Rissler-Pipka (Hg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004. 14 Vgl. Béla Balázs: Der Geist des Films, Frankfurt/Main 2001, S. 16-29; Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt/Main 2002, S. 351383, v.a. S. 364-372; Siegfried Kracauer: »Garbo«, in: Ders.: Kino, Frankfurt/ Main 1974, S. 39-43; Walter Turszinsky: »Kinodramen und Kinomimen«, in: Jörg Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium 1909-1914, Leipzig 1992, S. 21-26; Herbert Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, in: J. Schweinitz (Hg.), Prolog vor dem Film, S. 312-319. 15 Zur Theatralität in den Filmen Jean Renoirs vgl. Leo Braudy: Jean Renoir – The World of His Films, New York 1972; Michael Lommel/Volker Roloff: Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. 16 Man findet diese Einstellung in zahlreichen Stummfilm-Produktionen, aber auch im neueren Kino, etwa in den frühen Spielfilmen von Peter Greenaway. Zu Stummfilm, frühem Kino und theatraler Ästhetik vgl. Christian Maintz: »Theater und Film«, in: Ders./Oliver Möbert/Matthias Schumann (Hg.), Schaulust. Theater und Film – Geschichte und Intermedialität, Münster u.a. 2001, S. 3-36. Zu Theateraffinitäten bei Greenaway vgl. Alan Woods: »The Curtain«, in: Ders.: Being Naked, Playing Dead. The Art of Peter Greenaway, Manchester 1996, S. 72-74; Alan Woods: »Symmetry«, in: Ders.: Being Naked, Playing Dead, S. 75-77.
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Festzuhalten ist, dass die wiederholte Zuschreibung der Qualität ›theatral‹ an bestimmte Raum- und Blick-Ordnungen auch eine Festschreibung bedeutet: Im Diskurs der Filmtheorie seit 1920 figuriert das Theater oft genug als Ort des immobilisierten, frontal ausgerichteten Blicks, was es bereits in den ersten Jahrzehnten der filmbezogenen Theoriebildung nicht mehr (oder jedenfalls nicht durchweg) ist.17 In neueren Schriften dagegen konnotiert das Stichwort ›Theatralität‹ immer auch ein Wissen um die Inszenierungsaspekte des Dargestellten, mithin eine besondere Zuschauer- und Betrachterkompetenz.18
ANDERE SPIELARTEN Neben diesen vier Erscheinungsformen von Theater im Film existieren natürlich weitere, zum Beispiel Dokumentationen, die eher die Theaterarbeit als die Theateraufführung zum Gegenstand haben und entweder nach dem konventionellen Muster des Künstlerporträts gestaltet sein können19 oder aber den Blick von der Theateraufführung auf den Probenprozess oder das ›Training‹ der Beteiligten verschieben. Beispiele hierfür sind etwa die detaillierten Probendokumentationen von Nicolas Philibert in LA MOINDRE DES CHOSES (F 1997) und QUI SAIT? (F 1999) oder der sehr erfolgreiche RHYTHM IS IT! (T. Grube/E. S. Lansch, D 2004), der eine fragwürdige Begeisterung über die pädagogischen Werte der Probenarbeit – hier: Drill von nicht-professionellen Tänzern – kommuniziert. Zwischen Porträt und Prozess angesiedelt ist die Langzeit-Dokumentation DIE SPIELWÜTIGEN (A. Veiel, D 2004) über vier Studierende der Berliner Schauspielschule Ernst Busch, die der Regisseur von der Vorbereitung auf das Vorsprechen bis zu den ersten Jahren ihrer Schauspielerkarriere begleitet.20 Und eine Kategorie für sich bilden Frederick Wisemans Filme LA COMÉDIE-FRANÇAISE OU L’AMOUR JOUÉ (F/USA 1996) und LA DANSE – LE BALLET DE L’OPÉRA DE PARIS (F/USA 2009), die als vierbzw. knapp dreistündige Porträts einer Institution konzipiert sind.
17 Was als ›theatral‹ klassifiziert wird, sieht der Realität der Theaterpraxis immer nur bedingt ähnlich. Dies betrifft die aktuelle Theaterarbeit nicht weniger als die historischen Theateravantgarden. Mit den Theaterexperimenten eines Wsewolod Meyerhold hat das von Dziga Vertov beschriebene Schauspiel der Guckkästen und inerten Zuschauer wenig zu tun; vgl. Dziga Vertov: »Kinoki-Umsturz«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1999, S. 24-38, v.a. S. 30f., S. 36f. Ebenso existieren kaum Korrespondenzen zwischen den Theaterentwürfen deutscher Filmpublizisten der 1920er und 1930er Jahre und der Theaterarbeit der Dadaisten, des Bauhauses, der Volksbühne von Erwin Piscator etc. 18 Vgl. Juliane Rebentisch: »›Theatralisierung‹ und ästhetische Reflexion«, in: Dies.: Ästhetik der Installation, Frankfurt/Main 2003, S. 65-81. 19 Zwei neuere Beispiele sind A BREATH WITH PINA BAUSCH (H. Karabey, TR 2004) und ABSOLUTE WILSON (K. Otto-Bernstein, USA/D 2006). 20 Zu Schauspieleleven als ProtagonistInnen des Spiel- und Dokumentarfilms vgl. Hans-Friedrich Bormann: »Geschlossene Anstalt: Schauspielschüler im deutschen Film«, in: Henri Schoenmakers u.a. (Hg.), Theater und Medien. Grundlagen – Analysen – Perspektiven, Bielefeld 2009, S. 237-245.
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Im Folgenden interessiert vor allem die dritte Kategorie: jene Spielfilme, die in verschiedener Pointierung ihre Geschichten über das Theater erzählen und dabei auch Ideen davon entwickeln, was Theater ausmacht und worin und wie sehr es sich deshalb vom Kino unterscheidet. Eine Selbstverständigung, so könnte man die kinematische Tradition der Theaterentwürfe nennen, um zu ergänzen, dass diese Verständigung in der Filmgeschichte bemerkenswert früh eingesetzt hat – wenn nicht schon in ihrem ersten Jahrzehnt, dann nicht lange danach. In der Frühzeit des Stummfilms existieren mit A DRUNKARD’S REFORMATION (D. W. Griffith, USA 1909), THE PROPERTY MAN oder DAS PHANTOM DER OPER (E. Matray, D 1916) jedenfalls diverse Produktionen, die das Theater zum Gegenstand ihrer Erkundungen machen und es als pädagogische Anstalt (Griffith), extrem störungsanfälligen Betrieb (Chaplin) oder Ort der Wiedergänger und Gespenster (Matray) in Szene setzen.
Theaterepochen Gibt es eine Präferenz des Erzählkinos für ein bestimmtes Theater, d.h. für eine spezifische Theaterform, eine Sparte, eine Inszenierungspraxis, ein besonderes Setting oder eine Theaterepoche? Was die Epoche angeht, sieht es auf den ersten Blick nicht so aus. Eher könnte man sagen, dass im Kino, von jeher Schauplatz der Zeitreisen, die verschiedensten Zeitalter der Theatergeschichte dargestellt worden sind. Das Spektrum reicht von den Spielen in römischen Stadien und Amphitheatern in GLADIATOR (R. Scott, GB/USA 2000) oder BEN HUR (S. Olcott/F. O. Rose/H. Temple, USA 1907; W. Wyler, USA 1959) über das mittelalterliche Theater in THE RECKONING (P. McGuigan, GB/E 2003) bis zum Theater der Shakespeare-Zeit in HENRY V (L. Olivier, GB 1944), der Restauration in STAGE BEAUTY (R. Eyre, GB/USA/D 2004), des französischen Klassizismus in MOLIÈRE oder des Rokoko in SCARAMOUCHE, und weiter: von den Wandertruppen des 17. Jahrhunderts in LE CARROSSE D’OR (J. Renoir, F/I 1952), des 18. in IL VIAGGIO DI CAPITAN FRACASSA (E. Scola, F/I 1990) und des 19. in HELLER IN PINK TIGHTS (G. Cukor, USA 1960) bis zum Boulevard des 19. Jahrhunderts in LES ENFANTS DU PARADIS (M. Carné, F 1945), dem Vaudeville der Metropole Paris in FRENCH CANCAN (J. Renoir, F/I 1954) und dem Künstlertheater des Fin de Siècle in ESTHER KAHN (A. Desplechin, F/GB 2000). Ferner präsentiert das Erzählkino das Theater des 20. Jahrhunderts als veritables Kaleidoskop der Theaterformen und versammelt dabei, neben Restbeständen des Vaudeville in APPLAUSE, das Varieté (DER BLAUE ENGEL, J. von Sternberg, D 1930; CABARET, B. Fosse, USA 1972), die Broadway-Revue (TWENTIETH CENTURY, H. Hawks, USA 1934), die Oper (von A NIGHT AT THE OPERA bis MEETING VENUS, I. Szabó, GB/J/USA 1991), das Ballett (von THE RED SHOES, M. Powell/ E. Pressburger, GB 1948 bis THE COMPANY, R. Altman, D/USA 2003) und weitere Formen des Bühnentanzes (CARMEN, C. Saura, E 1983), das Musical (THE COUNTRY GIRL, G. Seaton, USA 1954), das Sprechtheater (STAGE DOOR; TO BE OR NOT TO BE; SHAKESPEARE-WALLAH, J. Ivory, USA 1965; LE DERNIER MÉTRO, F. Truffaut, F 1980; ACTRICES, V. Bruni-Tedeschi, F 2007), die Standup-Comedy (THE ENTERTAINER, T. Richardson, GB 1960) sowie die Arbeit freier Theatergruppen (PARIS NOUS APPARTIENT, J. Rivette, F 1961; IN THE BLEAK MIDWINTER, K. Branagh, GB 1995).
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Allem Anschein nach ist das Kino in seinen Theaterentwürfen nicht festgelegt, jedenfalls nicht in der historischen Orientierung. Allerdings ist kaum zu bezweifeln, dass in Filmen von NANA (J. Renoir, F 1926) bis FARINELLI, von LES ENFANTS DU PARADIS bis STAGE BEAUTY eine deutliche Vorliebe für das Theater der Vergangenheit dominiert, d.h. für jene Theaterepochen, die als Setting der entsprechenden Filme den Rekurs auf historische Theatermodelle plausibilisieren. Diese Vorliebe ist nicht auf eine bestimmte Filmkultur oder Sparte (›Mainstream‹, ›Arthouse‹) beschränkt, so wie sie sich auch filmgeschichtlich nicht eingrenzen lässt und in älteren Filmen ebenso anzutreffen ist wie in Produktionen aus den letzten Jahren. Um nur einige Beispiele zu nennen: TOPSY-TURVY (M. Leigh, GB 1999) versetzt seine Studie über kollektive Kreativität und geteilte Zuständigkeiten im Theaterbetrieb in das Viktorianische London, das auch den Hintergrund für das Porträt einer Schauspielerin in ESTHER KAHN abgibt; THE LIBERTINE und STAGE BEAUTY sind im England der Restauration angesiedelt, LE ROI DANSE (G. Corbiau, F/D/B 2000) und MARQUISE (V. Belmont, F/I/E/CH 1997) im Grand Siècle, BEING JULIA spielt in der Vorkriegs-Welt der 1930er Jahre, MRS HENDERSON PRESENTS (S. Frears, GB 2005) in den Kriegsjahren der 1940er. Als sei es mit dem Theater vorbei, aber noch nicht allzu lange. Oder: Als könnte Theater nur in seinen historischen Spielarten gezeigt werden, die dort, wo sie sich dem Theater von heute als ähnlich erweisen, dessen unzeitgemäßen Charakter offenbaren. Oder: Als ginge es darum, das Theater in der Vergangenheit zu situieren, in einer verdeckten Abgrenzungsbewegung, die das filmische Erzählen begleitet oder ihm sogar vorausgeht, denn im Prinzip ist die Abgrenzung vollzogen, sobald der Schauplatz des ›anderen Jahrhunderts‹ oder des ›anderen Jahrzehnts‹ etabliert ist. Noch wo es in der Gegenwart angesiedelt wird, erscheint das Theater im Kino meist als eines, das von den Theateravantgarden des 20. Jahrhunderts unberührt geblieben ist. Man spielt Anton Tschechow in SALTIMBANK (J.-C. Biette, F 2003), Henrik Ibsen in LE GOÛT DES AUTRES (A. Jaoui, F 2000), August Strindberg in MARSEILLE (A. Schanelec, D 2004); das Theater, das die Jugendlichen in L’ESQUIVE (A. Kechiche, F 2003) aufführen, ist eines der Krinolinen, Fächer und der ornamentalen Bühnendekoration, der Schauspielschüler aus KLEINE HAIE (S. Wortmann, D 1992) probt für sein Vorspiel Tennessee Williams, der ein paar Jahre später auch auf der Bühne von TODO SOBRE MI MADRE (P. Almodóvar, E/F 1999) aufgeführt wird. Nur selten trifft man auf einen Regisseur wie Jacques Rivette, dessen Filme seit den 1960ern immer wieder zum Theater zurückgekehrt sind und es von PARIS NOUS APPARTIENT bis zu VA SAVOIR (F/I/D 2001) immer als ein experimentelles Projekt porträtiert haben. Dass auch dieses Theater altern kann und die Theaterunternehmungen aus PARIS NOUS APPARTIENT, L’AMOUR FOU (F 1969), OUT 1 (F 1971, mit S. Schiffman), L’AMOUR PAR TERRE (F 1984) oder LA BANDE DES QUATRE (F/CH 1988) inzwischen eine gewisse Patina angesetzt haben, ändert daran nichts. Rivettes Theater wird historisch mit der jeweiligen Gegenwart, der es angehört und mit der es – als Experiment, Utopie, als scheiternder oder gelingender Versuch – unauflöslich verknüpft ist.21
21 Zu Rivette vgl. Hélène Frappat: Jacques Rivette, secret compris, Paris 2001; Hélène Deschamps: Jacques Rivette – Théâtre, amour, cinema, Paris 2003.
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Anachronismus Für den Umgang des Kinos mit dem Theater bedeutet Anachronismus nur in zweiter Linie die mehr oder weniger große Abweichung von den Idealen einer historisch akkuraten Theaterdarstellung, auf die es den meisten Filmen ohnehin so genau nicht ankommt.22 Vielmehr sieht es so aus, als bestünde die Arbeit an den kinematischen Theaterentwürfen immer wieder auch darin, das Theater selbst als einen Anachronismus zu markieren, als ›nicht von dieser Welt‹ und ›nicht aus dieser Zeit‹, und wenn doch ›in dieser Zeit‹ angesiedelt, dann zugleich mit dem Signum des Unzeitgemäßen versehen, das liebenswürdig oder lächerlich erscheinen kann (manchmal auch imposant, aber deshalb nicht weniger zum Aussterben verurteilt). Manche Filme transformieren die Idee des Anachronismus in einen Generationenkonflikt: Die Alten sind beim Theater, die Jüngeren drängen mit einiger Gewalt nach und gehen von da doch zum Film, was in ALL ABOUT EVE (J. L. Mankiewicz, USA 1950) ziemlich ausführlich thematisiert wird und in A LIFE IN THE THEATER (G. Mosher, USA 1993) in Andeutungen. Manche Produktionen machen aus dem Theater eine kleine Welt, in welche die große Welt des Films und der Filmindustrie einbricht, um dort geläutert zu werden (die TV-Serie SLINGS AND ARROWS, CDN 2003-2006), eine Überraschung zu erleben (IN THE BLEAK MIDWINTER) oder einfach um die Veranstaltung zu sprengen (SHAKESPEARE-WALLAH). Wer hingegen im Kino aus der Theaterwelt in die Welt der Filmindustrie fällt, kommt dort meist nicht besonders gut zurecht – siehe etwa den Titelhelden in BARTON FINK (J. Coen, USA/GB 1991). Sehr oft ist in diesen Filmen die Entscheidung zwischen Theater und Film als Loyalitätskonflikt konzipiert. Man kann nicht beides haben, auch nicht in beiden sein Glück finden oder beide lieben, was auch einige der Figuren in SLINGS AND ARROWS erfahren müssen. Wo das Theater als ›ärmer‹ (mittelloser, kärglicher) dargestellt wird als der Film, gilt es dafür meist als weniger korrupt. Und wenn Eve Herrington am Ende von ALL ABOUT EVE ihren Wechsel nach Hollywood ankündigt, zeigt das nur noch einmal, dass ihr von Anfang an nicht zu trauen war. Man kann darin eine freundliche Huldigung des Kinos an das Theater vermuten. Vor allem aber ist es eine, die zeigt, dass es sich das Kino längst leisten kann, nett gegenüber dem Theater zu sein. Die teils sehr sentimentalen Theaterentwürfe, die es auf die Leinwand bringt, haben nicht selten auch etwas von Herablassung: Theaterchen, kleine alte Welt, schön, dass du noch nicht ganz verschwunden bist. Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang der frühe Film, also jene Phase, in der das Theater noch nicht sehr weit in der Vergangenheit des Kinos liegt und die Konkurrenzkämpfe um Zuschauer, Schauspieler, Autoren, Regisseure, Standorte und Opulenz der Ausstattung gerade erst zuguns-
22 Das Verhältnis zur Theaterhistorie organisiert sich eher nach dem Muster des Pastiche, wie es von Frederic Jameson beschrieben worden ist; vgl. Frederic Jameson: Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991, v.a. S. 12-20.
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ten des Films entschieden sind.23 Es liegt nicht so fern zu fragen, ob etwa der bemerkenswerte Sadismus, mit dem Verfall und Sterben des alternden Bühnenstars in APPLAUSE gezeigt werden, nicht eigentlich metonymisch an die dazugehörige Sphäre, das Vaudeville, adressiert ist. Ebenso ist auffällig, dass zwar der Bühnenstar in DER BLAUE ENGEL sehr gut aussieht, umso schlechter aber die klapprige Illusionsmaschine, vor deren Kulissen seine Auftritte stattfinden. THE MATINEE IDOL (F. Capra, USA 1928) erzählt davon, dass man das Theater nur sich selbst überlassen muss, damit es sich letztendlich demontiert, A NIGHT AT THE OPERA hingegen, dass es dazu lediglich einiger gezielter Eingriffe in den Bühnenapparat bedarf. Daneben und dazwischen existieren jedoch Filme wie THE JAZZ SINGER (A. Crosland, USA 1927), in dem sich die glückliche Apotheose ganz in einem Blickwechsel zwischen Bühne und Zuschauerraum aufbaut, oder DIE BÜCHSE DER PANDORA (G. W. Pabst, D 1929), der in einer Episode das Theater aufsucht, um dort das Backstage als einen Schauplatz konkurrierender Spektakel zu etablieren. Zwischen Kuriosum und Faszinosum, zwischen einer Kunst, die sich eigentlich erledigt hat, und einer, die nur mit gewissem Staunen zu betrachten ist, situieren sich die Theaterdarstellungen in diesen Jahren und in gewissem Sinne hat sich an diesen beiden Optionen bis in die neuere Filmproduktion hinein nicht allzu viel verändert.24
Zeitordnungen Wo sich das Erzählkino in den Theaterbetrieb begibt, ist der Zeitrahmen der Filmerzählung häufig der einer fiktiven Theaterproduktion. Der Film beginnt mit dem Vorsprechen, dem Engagement und der Leseprobe und bewegt sich dann über Proben, Anproben und Voraufführungen bis zur Generalprobe und Premiere. Viele Theaterfilme sind an diesem linearen Muster orientiert, darunter OPENING NIGHT, LE DERNIER MÉTRO, MEETING VENUS, die Doku-Fiktion WAITING FOR GUFFMAN (C. Guest, USA 1996) oder ACTRICES. Oder sie richten sich an der Dramaturgie eines anderen theaterspezifischen Ablaufs aus, z.B. an der des Castings (A CHORUS LINE, R. Attenborough, USA 1985), der Theaterprobe (VANYA ON 42ND STREET, L. Malle, USA 1994), der Aufführung (A PRAIRIE HOME COMPANION, R. Altman, USA 2006) oder der Theatersaison (THE COMPANY). Neben diesen mehr oder weniger linear organisierten Theatererzählungen des Kinos gibt es auch diejenigen, die in ihrer Organisation eher die zirkuläre Zeitordnung betonen – unter wechselnden Vorzeichen und ebenfalls, indem sie verschiedene Abläufe der Theaterarbeit fokussieren. In THE DRESSER (P. Yates, GB 1983) geht es um die zermürbende Wiederholung im Modus des ›Abend für Abend‹ bzw. ›Auftritt für Auftritt‹ – von einer Vorstellung zur nächsten, wobei sich die eine Vorstellung zu Beginn des Films gerade im 23 Zu diesen Konkurrenzkämpfen vgl. J. Schweinitz (Hg.): Prolog vor dem Film, dort: Kapitel 4, »Konkurrenz für tradierte Künste«, S. 223-291. 24 Vgl. auch die Geschichte des französischen Theaterfilms, die der folgende Band in verschiedenen Einzelstudien nachzeichnet: Michael Lommel u.a. (Hg.): Französische Theaterfilme – zwischen Existenzialismus und Surrealismus, Bielefeld 2004.
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letzten Akt befindet und am Ende des Films die nächstfolgende schon angekündigt wird, bevor diese Erzählung vom Horror der theatralen Repetition ihr überraschendes Ende findet. Auch in A DOUBLE LIFE generiert die theatrale Wiederholung des en suite-Spiels ein klaustrophobisches Szenario, in dem zwar nicht alle Beteiligten gefangen sind, wohl aber der Hauptdarsteller. Für die Figuren in TOPSY-TURVY gilt hingegen: ›Nach dem Spiel ist vor dem Spiel‹, d.h. nach der einen Premiere befindet man sich bereits in Vorbereitung auf eine andere. Die Zirkularität ist die der Theaterproduktionen und Theatersaisons und so wie der Film damit beginnt, dass eine Aufführung zu ihrem Abschluss kommt, endet er damit, dass die nächste schon vorbereitet wird. Ebenfalls im Zeichen der Klaustrophobie, zugleich aber in ein größeres Szenario der Wiederholungen eingebettet, inszeniert MARSEILLE die theatrale Wiederholung als Binnenereignis, wenn in einer Episode der Auftritt einer Nebendarstellerin mehrfach geprobt werden muss. Aus der Profilierung der zyklischen Zeit als Zeit des Theaters entsteht ein latenter Konflikt zwischen zwei Zeitordnungen, die de facto keineswegs direkt auf ›das Theater‹ und ›das Kino‹ abzubilden sind, im Rahmen der filmischen Erzählung jedoch gegeneinander ausgespielt werden können, wenn ›das Theater‹ sich über die Grenzen der Filmerzählung fortsetzt (oder vor Einsetzen des Films bereits begonnen hat).
Raumordnungen Das Kino ist gegen die Schauwerte der Theaterarchitektur nicht immun. Zum einen hat es sie bei der Ausstattung seiner Filmpaläste in den 1920er und 1930er Jahren vielfach imitiert.25 Zum anderen setzt es sie im Film sehr gerne ins Bild, wie zum Beispiel in den 101 Remakes von THE PHANTOM OF THE OPERA (R. Julian, USA 1925; A. Lubin, USA 1943; T. Fisher, GB 1962 usw. bis vorläufig J. Schumacher, USA/GB 2004), die das Auditorium, gerne von oben oder frontal aufgenommen, als ein Spektakel aus vergoldetem Stuck, Kristalllüstern, Deckenmalereien und einem Meer von roten Polstern inszenieren. Weniger spektakulär, aber sehr akkurat rekonstruiert sind die Theatergebäude des Londoner West End und East End in TOPSY-TURVY und ESTHER KAHN. Und dass auch die Aura des halb verfallenen Theaterbaus eine gewisse Anziehungskraft auf die Vertreter des Kinos auszuüben vermag, dokumentiert VANYA ON 42ND STREET, der fast vollständig in einem solchen Gebäude angesiedelt ist. Dennoch ist die Ausstattung nicht der entscheidende Aspekt. Die Räumlichkeiten, in denen das Erzählkino ›Theater‹ stattfinden lässt, können sehr groß oder sehr klein sein, prachtvoll eingerichtet oder schäbig, nach dem Vorbild diverser Epochen modelliert, in einer Metropole oder in der Provinz gelegen. Was sie indes fast ohne Unterschied kennzeichnet, ist, dass sie als Theater erkennbar sein müssen, was für ihre Darstellung auf der Leinwand bedeutet: mit einer Bühne und einem Zuschauerraum ausgestattet (der Zuschauerraum wiederum häufig mit Logen und Rängen) sowie mit einer Hin25 Vgl. Jerome Charyn: »Vorprogramm: Das Loew’s Paradise«, in: Ders.: Movieland. Hollywood und die große amerikanische Traumkultur, Frankfurt/Main 1988, S. 7-14.
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terbühne. Rampen sind oft zu sehen, desgleichen Treppen, Vorhänge, Kulissen und Türen – Türen vor allem, die für die kinematischen Blick- und Figurenbewegungen innerhalb der theatralen Architektur Orte des Übertritts, aber auch der Grenzziehung markieren. Dies betrifft vor allem die Grenzen im Bereich des Backstage und vor den dort gelegenen Künstlergarderoben. Das Erzählkino liebt das Backstage. Man könnte so weit gehen zu sagen, dass seine Regisseure ohne das Backstage oft nicht wüssten, was sie mit dem Theater anfangen sollen, oder auch: dass die Fiktion des exklusiven Einblicks, die fast alle Theatererzählungen des Kinos grundiert, dieser Aufteilung des Blickfelds unbedingt bedarf – hinter der Bühne, die sich in Richtung des Theaterpublikums und seiner Blicke öffnet, liegt jene zweite Sphäre, die zum Theater gehört, für dessen zahlende Zuschauer aber weder betret- noch einsehbar ist. In seinen Exkursionen durch die Welt des Backstage zeigt das Kino folglich, was das Theater zu zeigen nicht bereit ist oder was es vor seinen Besuchern verborgen hält: Das ist das Grundmuster der investigativen Fantasien von APPLAUSE, DIE BÜCHSE DER PANDORA, DER BLAUE ENGEL oder STAGE BEAUTY aus den 1920er Jahren bis zu BEING JULIA, MRS HENDERSON PRESENTS und ACTRICES, Filmen, die fast acht Jahrzehnte später entstanden sind. Wie entscheidend für die Theaterentwürfe des Kinos die konventionelle Ordnung der Sphären, Grenzen, Abtrennungen und Raumteilungen ist, zeigt sich nicht zuletzt in jenen Filmen, in denen die Figuren theaterfremde Räumlichkeiten an dieses Grundmuster adaptieren. Dies geschieht in LE CARROSSE D’OR ebenso wie in O THIASOS (T. Angelopoulos, GR 1975) oder in IN THE BLEAK MIDWINTER – als gelte es, eine bestimmte Konfiguration unbedingt beizubehalten. Oder als sei vom Theater anders als unter der Voraussetzung einer spezifischen Raumaufteilung kaum zu erzählen. Es gibt Ausnahmen von dieser Regel, darunter einige Filme, die sich für ihre Erzählungen über das Theater möglichst weit von den Standardkulissen entfernen, wie etwa die Dogma-Produktion THE KING IS ALIVE (K. Levring, S/DK/USA 2000), die allerdings ungeachtet des veränderten Settings an einem sehr konventionellen Auftritts- und Schauspielkonzept festhält. Jacques Rivette hingegen hat in einigen seiner Theaterfilme – PARIS NOUS APPARTIENT, OUT 1, L’AMOUR PAR TERRE, LA BANDE DES QUATRE – die Fiktion des Einblicks sehr ironisch durch die betonte Aussicht auf ein Geheimnis oder ein ›verborgenes Geschehen‹ ersetzt. Und Ernst Lubitsch affirmiert zwar in TO BE OR NOT TO BE die Raumordnung des Davor/Dahinter ganz und gar, um sie allerdings im selben Zug zu subvertieren, da hier der Parcours durch die Türen zwar punktuell zu ›Einblicken‹ in die ›Geheimnisse‹ des Theaters führt, vor allem aber immer von einem Raum in den nächsten und damit von einer Situation in die nächste, bis die Auflösung der unaufhörlichen Verkettung nur durch eine Rettung ex machina zu bewerkstelligen ist.
Figuren/Gender Im Kino ist das Geschlecht des Theaters weiblich. Dies verwundert insofern nicht, als die metonymische Verbindung von Theater – Spektakel – Verführung – Weiblichkeit, verknüpft mit den Motiven von Maskerade – Täuschung – Verstellung – Unaufrichtigkeit in der Literatur über das Theater als Kunst
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und Institution eine sehr lange Geschichte hat, ebenso wie die gegenläufige Motivkette von Demaskierung – Aufklärung – Offenlegung – Abkehr vom Theater. Jean-Jacques Rousseaus Schrift von 1758 wider die Einrichtung eines Theaters ist vielleicht das berühmtestes Zeugnis dieser Tradition;26 andere sind die Theaterromane des 19. und des 20. Jahrhunderts wie Le Capitaine Fracasse von Théophile Gautier, La Faustin von Edmond de Goncourt, Theatre von William Somerset Maugham, Madame Thérèse von Blaise Cendrars etc., um nur einige zu nennen, ebenso Honoré de Balzacs berühmte Erzählung Sarrasine. Auch literarisch handelt es sich offensichtlich um eine Beziehung mit genderspezifischer Pointierung.27 Natürlich existieren Filme, deren Hauptfigur ein Theaterschauspieler ist: A DOUBLE LIFE, THE COUNTRY GIRL, A LIFE IN THE THEATER. Sie sind aber in der Minderzahl und fast immer ist darin der Schauspieler – ganz im Sinne des Rousseauschen Theaterentwurfs – als eine effeminierte, sexuell ambivalente Figur gezeichnet, wie etwa der Protagonist von MEPHISTO (I. Szabó, D/ H/A 1981) oder der Leiter der Laientheatergruppe in WAITING FOR GUFFMAN. Häufiger indes besteht die Rolle der männlichen Hauptfigur darin, ein Besucher ›von außen‹ zu sein – exemplarisch: der Vicomte in den verschiedenen Remakes von THE PHANTOM OF THE OPERA –, ein mehr oder weniger ahnungsloser Verehrer (FLEUR DE PARIS, A. Hugon, F 1916; DER BLAUE ENGEL; TO BE OR NOT TO BE; VICTOR/VICTORIA, M. Diamond/B. Edwards/ G. Kobayashi, USA/J 1995) oder, als Kontrastprogramm, ein skeptischer Ermittler (MURDER!, A. Hitchcock, GB 1930); bisweilen figuriert er auch als Träger des allwissenden, zynischen Blicks, der bereits ›alles gesehen hat‹ und dem nichts, was im Theater geschehen kann, fremd ist, wie der Theaterkritiker Addison de Witt in ALL ABOUT EVE. Dass das Theater im Kino weiblich ist, heißt nicht notwendig, dass die Theaterschauspielerin immer als Hauptfigur zu betrachten wäre. Vielmehr ließe sich ihre Rolle so definieren, dass sie, gewissermaßen stellvertretend für das Theater, unter Beobachtung steht und dass die entsprechende Beobachterinstanz entweder direkt im Kinosaal platziert oder innerhalb des Films durch einen Agenten vertreten ist, der meist – aber nicht immer – zu den männlichen Gestalten gehört. Die Theaterschauspielerin ist diejenige Figur, über die sich die Betrachter ›von außen‹ (im Saal, auf der Leinwand) zu der Sphäre des Theaters und den dort geltenden Regeln in Beziehung setzen: Dies geschieht in TO BE OR NOT TO BE, ALL ABOUT EVE, LE DERNIER MÉTRO und TODO SOBRE MI MADRE. Die Observation der Schauspielerin, so die implizite Prämisse der kinematischen Theatererzählung, macht die Spielregeln des Theaters kenntlich, auch wenn diese für andere unkenntlich bleiben mögen – was nicht selten als 26 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: »Brief an Herrn d’Alembert, über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten«, in: Ders.: Schriften. Band I, Frankfurt/Main 1981, S. 335-465. 27 Zur Diskursgeschichte der Schauspielerin vgl. u.a. Ruth B. Emde: Schauspielerinnen im Europa des 18. Jahrhunderts, Amsterdam 1997; Ursula Geitner (Hg.): Schauspielerinnen. Der theatralische Eintritt der Frau in die Moderne, Bielefeld 1988; Renate Möhrmann (Hg.): Die Schauspielerin – Eine Kulturgeschichte, Frankfurt/Main 2000.
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Differenz der Perspektiven von Filmzuschauern und -figuren ausgestaltet wird. Die Schauspielerin ist die Figur, auf welche die theaterskeptischen bis -feindlichen Energien des Kinos ausgerichtet werden; und gelegentlich ist ihre Demontage brutal wie in APPLAUSE und ILLUMINATA (J. Turturro, E/USA/ J 1998) oder ihre Passion dramatisch wie in OPENING NIGHT und ESTHER KAHN. In manchen Filmen sieht man vier männlichen Figuren dabei zu, wie sie um eine Bühnenkünstlerin rotieren, was in TO BE OR NOT TO BE ebenso der Fall ist wie in LES ENFANTS DU PARADIS und LE CARROSSE D’OR. In sehr vielen anderen Filmen wird das investigative Blickverhältnis auf zwei Figuren verengt, wobei auch Frauen als forschende Betrachterinnen figurieren können, wenn sie beispielsweise in der Rolle der Detektivin in die Welt des Theaters eintreten, wie z.B. die Schauspielelevin in STAGE FRIGHT oder Miss Marple in MURDER MOST FOUL. Eine besondere Pointierung der Aushandlungen um Maskerade und Gender-Rollen sind jene Filme, in denen sich mit dem anhaltenden Blick auf die weibliche oder männliche Bühnenerscheinung eine filmische Erzählung verbindet, an deren Ende die Fest- und Wiederherstellung – in Ausnahmen auch die endgültige, dann aber ebenfalls eindeutige Verkehrung – von heteronormativen Geschlechterrollen steht. Zu dieser Kategorie gehören VIKTOR UND VIKTORIA (R. Schünzel, D 1933) und sein Remake VICTOR VICTORIA (B. Edwards, GB/USA 1982), ferner M. BUTTERFLY (D. Cronenberg, USA 1993), SHAKESPEARE IN LOVE (J. Madden, USA/GB 1998) und STAGE BEAUTY. Noch eine Fußnote zur Frage des gendering im Verhältnis von Kinematografie und Theater: Es gibt bis heute nur sehr wenige Spielfilme über das Theater, die von Regisseurinnen gedreht worden sind. Ariane Mnouchkines MOLIÈRE ist einer, Valeria Bruni-Tedeschis ACTRICES ein anderer. Ansonsten gilt, dass man nach ihnen suchen muss, und dass die Konzeption der Geschlechterrollen im Verhältnis von Blickinstanz und Blickobjekt in diesen Filmen auffallend konservativ und ›stabil‹ erscheint,28 ungeachtet der Spielräume, die sich für eine begrenzte Dauer im Rahmen der Filmerzählung ergeben mögen.
Motive/Theaterformeln Gibt es wiederkehrende Motive des Theaterfilms? Offensichtlich. Zu den Standardmotiven von kinematischen Theaterentwürfen gehört die Mise-enscène von Korrespondenzbeziehungen zwischen Bühnenfigur und Schauspielerpersona, zwischen dem Geschehen on stage und off stage, zwischen dem Plot des Stücks und dem Plot des Films, zwischen den Konflikten, Krisen und Intrigen, die sich auf der Bühne und abseits davon abspielen. Immer wieder in Szene gesetzt wird auch das punktuelle oder anhaltende Unvermögen von Theaterschauspielern, zwischen dem, was als Theater gilt, und dem, was davon auszunehmen wäre – dem »Rahmen«, wie Erving Goffman schreiben würde29 –, klar zu unterscheiden. 28 Vgl. hierzu Laura Mulvey: »Visual Pleasure and Narrative Cinema«, in: Screen 16/3 (1975), S. 6-18. 29 Vgl. Erving Goffman: Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/Main 1996; Erving Goffman: Wir alle spie-
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Was dabei verhandelt wird, sind Konzepte des Theaterschauspiels, der Darstellungs- und Affektökonomie etc., vor allem jedoch die Frage nach der Validität der Begriffe ›Schein‹ und ›Sein‹ in der Kartierung von theatraler und außer-theatraler Sphäre. Kennzeichnend für Theaterfilme von DER BLAUE ENGEL bis L’ESQUIVE sind überdies die wiederholten Einblicke in die Eitelkeit, Unaufrichtigkeit und Uneigentlichkeit schauspielerischen Handelns, in das Theater als Ort der Täuschung und Verkennung – aber auch der punktuellen Epiphanien. Darüber hinaus narrativiert der Theaterfilm auch die Verständigung über Autorschaft, kollektive Kreativität, Singularität, Repetition und nicht zuletzt über intendierte Zuschauer und Zuschauerreaktionen. Interessanter als all diese Motive, die sich ebenso in der Belletristik – und immer wieder auch in der nicht-fiktionalen Literatur – über das Theater finden, sind für eine Untersuchung der Beziehung von Theater und Spielfilm diejenigen ›Theaterformeln‹, die genuin kinematisch erscheinen oder in denen die ›Rücksicht auf Darstellbarkeit‹ spezifische Konstellationen generiert. Neben den erwähnten Raum- und Zeitordnungen sind dies fast durchweg Blickkonstellationen: der investigative, explorative Blick in der Bewegung durch den Bereich des Backstage; der mal neugierige, mal forschende, mal entlarvende, mal wissende Blick, der sich an die allegorische Figur der Bühnenkünstlerin heftet; schließlich der Blick, der sich, durch die Kamera vermittelt, auf das Bühnengeschehen richtet und dort hin und wieder mit Ereignissen konfrontiert wird, durch die seine Überlegenheit über den Blick der im Film auftretenden Theaterzuschauer zur Disposition gestellt wird. Hin und wieder – tatsächlich geschieht dies nicht allzu oft und Filme wie TO BE OR NOT TO BE, OPENING NIGHT oder die Theaterfilme Rivettes sind eher die Ausnahme einer ungeschriebenen Regel, die besagt, dass der Blick des Erzählkinos auf theatrale Settings und Sujets als ein korrigierender Blick konstituiert ist, was auch bedeutet: als ein theaterskeptischer, und im Allgemeinen: als einer, der zuverlässiger ist als die Einsichten und Perspektiven, die das Theater von sich aus anbietet. Zweifellos übt das Kino gerade im Umgang mit dem Theater die Relativierung des Blicks ebenso wie die Revision, jedoch ist der relativierte, verwirrte, düpierte Blick in den meisten Fällen der andere, den anderen Zuschauern zugeordnet und denen des Films allenfalls befristet zugemutet.
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Online http://www.metoperafamily.org/metopera/broadcast/hd_events_current.aspx [letzter Zugriff am 17.10.2009].
Bilder in Zelluloid. Die Thematisierung der Malerei im fiktionalen Spielfilm als Selbstreflexion des Films am Beispiel der Künstlerbiografie NORBERT M. SCHMITZ
In der Filmhistoriografie wird die Übernahme von Formen und Inhalten aus älteren, vor allem kulturell arrivierten Medien durch die frühe Kinematografie in aller Regel leicht abwertend vermerkt, während sich ein gängiges Fortschrittsmodell an der Ausbildung eigenständiger, dem Medium spezifischer Formen orientiert. Dem sei nicht gänzlich widersprochen, wäre es doch eine allzu normative Beschränkung, in diesen intermedialen Konstellationen nicht auch eine produktive Herausforderung für beide Seiten, d.h. sowohl für das ältere als auch für das neue Medium, zu erkennen.1 Bis heute ist die Selbstreflexion jedes Mediums durch seine Konfrontation mit einem anderen Medium von hoher Signifikanz. Kein Medium findet seine eigene Spezifität in sich allein, sondern ausschließlich in Differenz zu anderen. Und dies gilt wechselseitig, wie hier am eher selten thematisierten Beispiel der Präsentation der Malerei im Film deutlich werden wird.2 Während die Rolle der Kinematografie für die bildenden Künste insgesamt zum festen Topos der Geschichte der Moderne geworden ist, wird umgekehrt für das Kino die Altlast der Malerei bestenfalls als Fundus für Ikonographien, Stilvorgaben etc. angesehen. Dagegen soll hier der Erkenntniswert der Thematisierung der Malerei als zentrales Moment für die Selbstreflexion des Films herausgestellt werden. Wegen der schier unübersehbaren Fülle des Materials und der facettenreichen Aspekte des Themas ist in der Auswahl und Perspektive eine radikale Beschneidung notwendig, die durch ihren heuristischen Wert gerechtfertigt wird.3 Zudem geht es in diesen Überlegungen um ein sehr spezifisches Ver1
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Zu den methodischen Voraussetzungen dieser interdisziplinären Überlegungen vgl. Norbert M. Schmitz: »Bewegung als symbolische Form. Die Ikonologie und der Kunstbegriff der Medienwissenschaften«, in: Heinz B. Heller u.a. (Hg.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der deutschen Medienwissenschaft, Marburg 2000, S. 79-95. Vgl. Jens Thiele: Das Kunstwerk im Film. Zur Problematik filmischer Präsentationsformen von Malerei und Graphik, Frankfurt/Main, München 1976. Zum Thema allgemein vgl. Richard Schönenbach: Bildende Kunst im Spielfilm. Zur Präsentation von Kunst in einem Massenmedium des 20. Jahrhunderts, München 2000; Heinz Peter Schwerfel: Kino und Kunst. Eine Liebesge-
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hältnis, nämlich um die Reflexion des Mediums Film durch die Thematisierung der Malerei innerhalb des fiktionalen Erzählkinos; die weiten Felder des experimentellen und dokumentarischen Kinos, aber auch die nur noch bedingt fiktionalen Kunstfilme in der Tradition der Nouvelle Vagues, etwa die Thematisierung von Bildraum und -tiefe zwischen dem statischen und dem dynamischen Bild in Jean-Luc Godards PASSION (F/CH 1982), werden hier ausgeklammert.4 Eine umfassende Darstellung der Beziehungen zwischen Malerei und Film, innerhalb der die wechselseitige Reflexion beider zu verorten wäre, ist bekanntlich – und das noch mehr als die zwischen anderen Medien und dem Film – ein Desiderat der Forschung, das nicht grundlegend angegangen werden kann. Selbst in dieser Eingrenzung wäre die Fülle des Materials kaum zu bändigen. Es gibt jedoch eine Art ›Subgenre‹ des Biopics, in dem die Malerei im Kino zum zentralen Thema wird, nämlich die fiktionale Künstlerbiographie, an der sich die Fragestellung exemplarisch behandeln lässt.5 Das Auftauchen von Malerei mit einer häufig dominanten dramaturgischen Funktion in Spielfilmen, beispielsweise zu sehen bei den Portraits von Madeleines Urgroßmutter Carlotta Valdes in VERTIGO (A. Hitchcock, USA 1958), sowie die eigentliche Künstler- und Kunstdokumentation sind hingegen nicht Gegenstand dieses Beitrags, denn sie bedingen ganz andere historische und ästhetische Fragestellungen.6 Zuletzt werden auch die weiten Felder der Anlehnung der
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schichte, Köln 2003; Thomas Hensel/Klaus Krüger/Tanja Michalsky (Hg.): Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2005. Vgl. Joachim Paech: Passion oder die Einbildungen des Jean-Luc Godard, Frankfurt/Main 1989. Peter Wollen spricht hier in Abgrenzung zum Experimentalfilm im engeren Sinne von einer zweiten Avantgarde; vgl. Peter Wollen: »Die zwei Avantgarden (1975)«, in: Gregor Stemmrich (Hg.), Kunst/Kino. Jahresring 48 – Jahrbuch für moderne Kunst, o.O., o.J., S. 164-176. Zum Künstlerfilm allgemein vgl. John A. Walker: Art and Artists on Screen, Manchester, New York 1993; Jürgen Felix (Hg.): Genie und Leidenschaft. Künstlerleben im Film, St. Augustin 2000; Hans Korte/Johannes Zahlten (Hg): Kunst und Künstler im Film, Hameln 1990. Wenn man nach der Reflexion des Films – zumal des fiktionalen Erzählfilms – mittels der Malerei fragt, dann gilt es eine Klärung bzw. Differenzierung des Begriffes vorzunehmen: Gemeint ist hier nicht der allgemeinste Begriff des Mediums Malerei in der Breite der Erscheinungsformen von den Höhlenmalereien von Lascaux bis hin zum Tachismus, von der holländischen Feinmalerei bis hin zur Kindermalerei – all dies zu untersuchen wäre freilich medienwissenschaftlich von großem Interesse. Es geht vielmehr einerseits um die Geschichte der neuzeitlichen Kunstmalerei als einer Konstellation verschiedener medientechnischer, kunstgeschichtlicher und gesellschaftlicher Faktoren, also einer historischen Kontinuität bildlicher Darstellung lange vor der Ausbildung eines autonomen Kunstbegriffes in der frühen Moderne, und in einem bestimmtem Konflikt hierzu um Malerei als Kunstpraxis der Moderne. Dabei fällt auf, dass Malerei, wo sie explizit zum Thema wird, im Kino fast immer schon im letzteren Sinne konnotiert ist, also synonym zu einem autonomen Kunstbegriff der Moderne verhandelt wird, der selbst als Norm für die ganze Malerei veranschlagt wird. So erscheinen selbst die Pro-
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Bildsprache des Films an malerische Formen und Stile sowie der ikonographischen Übernahmen aus der Geschichte der bildenden Kunst nicht berücksichtigt. In der filmischen Künstlerbiographie werden jedoch alle möglichen intermedialen Konstellationen, in denen das eine Medium im anderen repräsentiert und thematisiert wird, konzentriert vorgeführt. Mit der Thematisierung der medialen Differenzen – das heißt der Konfrontation zwischen der intradiegetisch präsentierten Malerei als konkretem künstlerischem Artefakt und einer fiktionalen Handlung, innerhalb derer die Malerei als filmfotografisch abgebildetes Objekt auftaucht – wird die Frage nach dem Verhältnis zwischen beiden Repräsentationsformen besonders virulent, denn beide Medien treten sich dabei nahezu unvermittelt gegenüber. Dies geschieht jedoch nicht in einem ahistorischen Raum, sondern ist durch zeitbedingte Diskurse um Elite und Massenmedium, um high und low culture geprägt. Letztlich konnte das Kino erst sehr spät seine eigene Autonomie gegenüber den etablierten Gattungen und Medien behaupten. Wenn wir den Fokus bewusst auf das fiktionale Erzählkino legen, dann auch um die – vor allem die frühe Filmtheorie prägende – Subsumption des Mediums Film unter die ästhetischen Paradigmen der klassischen Künste zu umgehen. Das Verhältnis von altem und neuem Medium ist dabei immer ambivalent zu denken. Einerseits erkennt der Film in der Thematisierung der Malerei sein Eigenes als Erbe und Fortführung des älteren Mediums, andererseits klärt er sich durch die Differenz über seine eigene spezifische mediale Verfasstheit auf. Für die Selbstreflexivität des fiktionalen Films durch die Thematisierung des Mediums Malerei seien hier anhand je eines Beispiels fünf zentrale Kriterien beschrieben, die auch die Gliederung der folgenden Überlegungen bestimmen: 1) Mediale Differenz und narrative Kontinuität; 2) Die spezifische Zeitlichkeit des Bewegungsbildes im Erzählkino; 3) Die antiillusionistische Zeit des Bewegtbildes als Programm moderner Filmkunst; 4) Künstlerische Autonomie des fiktionalen Erzählfilms; 5) Die Kontinuität neuzeitlicher Bildformen.
Mediale Differenz und narrative Kontinuität Mit den 1950er Jahren entstehen vermehrt Künstlerfilme, deren eigentlicher Inhalt immer wieder der autonome Künstler als paradigmatisches Subjekt der Moderne ist. Gerade die Malerei, sicherlich ›Leitmedium‹ der künstlerischen Avantgarde seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, galt wegen der ›Unmittelbarkeit‹, mit welcher der Künstler mittels des Pinsels seine Subjektivität in das Kunstwerk einbringen musste, als Medium dieses Individualismus schlechthin. Dies ist die historische Konstellation, in der die Malerei, die bis dahin – wie etwa im Film d’Art – eher als oft unglückliche Zitation schlicht der Nobilitierung des noch jungen Kinos diente oder auch nur als unerschöpftagonisten der Renaissance und des Barocks fast immer als heroische Vorkämpfer einer modernen Auffassung des Künstlers und des Werks.
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licher Fundus origineller Bildideen in der Art der symbolistischen Dekore in Fritz Lang-Filmen fungierte, eigentliches Thema wurde. Dieser Zeitpunkt der 1950er Jahre ist kein Zufall, denn seinerzeit wurde die Medialisierung des Kunstbetriebes in allen möglichen älteren Gattungen, so wie sie heute zur Selbstverständlichkeit geworden ist, endgültig für die Gesamtkultur prägend; eine Entwicklung, die wenig später durch die Verbreitung des Mediums Fernsehen trotz aller kulturpessimistischen Reaktionen unumkehrbar wurde.7 Signifikant für diesen Umbruch ist LUST FOR LIFE (V. Minnelli, USA 1956), in dem das Leben Vincent van Goghs mit nicht geringem Kulturpathos inszeniert wird. Obgleich voll und ganz als klassisches Hollywoodrama konzipiert, überrascht die Präzision, mit der versucht wird, die unterschiedlichen Ästhetiken der französischen Moderne im Spannungsfeld von Naturalismus, Impressionismus und Symbolismus in langen Dialogen zu beschreiben bzw. sich diesen durch die eigene Formensprache, insbesondere die Farbe, anzunähern.8 Wie kaum ein zweiter Film thematisiert LUST FOR LIFE zudem mit Ehrfurchtsgeste das Problem von Original und Reproduktion, wenn er die Gemälde van Goghs in unterschiedlichen Modi präsentiert: als ›nachgemalte‹ Bilder in der Mise-en-scène, d.h. als Bilder auf den Staffeleien der Ateliers und an den Wänden der Galerien, und als vermeintliche Originale, konkret durch in den unterschiedlichsten Sammlungen der Welt vor Ort aufgenommene Bilder, die im Film immer in den durch Schwarzblenden kenntlich gemachten Originalproportionen projiziert werden.9 Diese ›reproduzierten Originale‹ verstehen sich als ›Museum für die Massen‹. Es geht auch um die durch die Mediengrenze bestimmte Aufarbeitung bürgerlicher Kultur für breitere und bildungsferne Schichten der Bevölkerung, ohne dass das Paradoxon, dass die vielbeschworene Aura der Originale letztlich nur mittels Reproduktion erzeugt wird, aufzuheben ist.10 So versteht sich dieser Film zu7
Vgl. dazu Gundolf Winter/Martina Dobbe: Zwischen Erbauung und Experiment – Kunst im Fernsehen der fünfziger und sechziger Jahre. Arbeitshefte Bildschirmmedien, Siegen 1994. 8 Vgl. dazu Anonym. Rez.: »Lust for Life«, in: Filmkritik 6 (1957), S. 21; Christoph Hübner/Gabriele Voss: »Die Kunst und ihr Preis – Notizen zu zwei Filmen über den Maler Vincent van Gogh«, in: Schweizer Filmbulletin 2 (1990), S. 15-17. 9 Es erscheint denn auch skurril, wenn man seinerzeit damit warb, das geneigte Publikum würde selten die Möglichkeit haben, so viele Originale auf einmal zu sehen, denn die Kameraleute seien für die Aufnahmen derselben zu verschiedensten, fast über den ganzen Globus verteilten Museen gefahren. 10 Für das fiktionale Kino mit seinen industriellen Wurzeln stellt sich insbesondere die alte Frage nach dem Status von Original und Kopie. Diese ist weniger im Hinblick auf die Selbstverständigung der modernen Malerei, als vielmehr für das Kino selbst von Bedeutung, da der Kult um die Aura des Einmaligen überhaupt erst unter dem Druck industrieller Reproduzierbarkeit entstand. Die Fetischisierung der Originale, wie wir sie aus der Diskussion um den Verlust der Aura als Ursprungslegende der Medientheorie kennen, ist selbst eine ästhetische Strategie moderner Kunst als Differenzbestimmung zu den industriellen Medien und für das Dispositiv Kino, das hier als funktionale Praxis neuzeitlicher Kunst verstanden wird, von geringem Er-
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nächst immer noch als Vermittler des alten Mediums durch das neue innerhalb einer eindeutigen Hierarchie. Diese wird durch den technischen und formalen Aufwand der Betonung der Differenz zwischen der ›banalen‹ Ebene filmischer Illusion und dem ›Glanz‹ der letztlich nie ›einzuholenden‹ Originale noch unterstrichen. Kennzeichnet den Film hier noch ein zeittypischer kultureller Dünkel, so zeigt die Übereinstimmung der dramaturgischen Form der Hollywooderzählung mit dem symbolistisch-expressiven Pathos dieser Künstlerpassion, dass der fiktionale Erzählfilm sehr wohl in der Lage ist, mit seinen spezifischen Mitteln eine angemessene Form der Darstellung und eigenständige Neuinterpretation jenseits bloßer ›Popularisierung‹ zu erzeugen. Diese ist allerdings nicht mehr allein eine Sache der Bilder, sondern die zutreffende Beschreibung eines präexpressionistischen Subjektivismus, der den emphatisch-irrationalen Geniekult des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. Die filmische Erzählung mit ihrer eigenen Visualität ist nicht einfach eine Übersetzung ins Triviale, sondern bildet eine angemessene Formensprache visueller Selbstverständigung für das moderne Subjekt in der funktional ausdifferenzierten Massengesellschaft, in der die historisch gewordene Ästhetik van Goghs gewissermaßen kollektiv ›aufgehoben‹ ist.11 Nein, hier geht es nur bedingt um die Ästhetik des bewegten Bildes, vielmehr um die Selbstvergewisserung der Möglichkeiten einer eigenständigen Interpretation von Bedeutungstraditionen des Mediums Film von nicht geringer gesellschaftlicher Relevanz. Der Film als Medium übernimmt so die Funktion symbolischer Selbstverständigung der Gesellschaft mittels des Bildes, so wie insbesondere die neuzeitliche Malerei sie über Jahrhunderte als selbstverständliche Aufgabe innehatte. Während sich die Moderne in der Malerei gerade zum Zeitpunkt der Entstehung des classical style im Film um den Preis ihrer gesellschaftlichen Wirkungsmacht endgültig als autonom etablierte, übernahm das Kino neben anderen Formen der visuellen Massenkultur spätestens mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Funktionen der neuzeitlichen Malerei, von denen die angedeutete symbolische Selbstvergewisserung und Modulierung des neuzeitlichen Individuums vielleicht die wichtigsten darstellen. So sehr natürlich auf einer formalen Ebene die narrative Einfühlungsästhetik dieses Künstlerdramas den Paradigmen moderner Autonomieästhetik in der Malerei widerspricht und so sehr Minnelli gelegentlich zu allzu schlichten ›Übersetzungen‹ der Bildfindungen in unmittelbare Regieanweisungen für das Filmdekor neigt, so finden sich beide Systeme – die bildende Kunst und das Hollywoodkino – im Topos unbedingter Freiheit als Ort des Individuums wieder, einer Freiheit bis hin zur Selbstaufgabe, für welche die Biographie des holländischen Künstlers wie kaum eine zweite beispielhaft wurde. War dies zu Lebzeiten van Goghs noch eine extreme Außenseiterposition, so diffundierte und diffundiert dieses Leitbild des Individualismus bis heute in
kenntniswert. Der Film hat – einmal selbstbewusst geworden – zumindest in medial-technischer Hinsicht kein Problem mit Fälschung, Kopie und Reproduktion, da er nie ein materiales Original sein konnte und wollte; vgl. Wolfgang Ulrich: Raffinierte Kunst. Übungen vor Originalen, Frankfurt/Main 2000. 11 Vgl. Wolfgang Welsch: Grenzgänge der Ästhetik, Stuttgart 1996.
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immer breitere Kreise der Gesellschaft.12 Dies zeigt sich nicht zuletzt in der auffälligen Parallele des leidenschaftlichen Künstlertypus van Gogh zu einigen zeitgenössischen Stars des Hollywoodkinos wie Marlon Brando (vgl. Abb. 1).13
Abb. 1: LUST FOR LIFE – Der Jackson Pollock des 19. Jahrhunderts
Die Präsentation der Malerei als vielleicht avanciertester Gattung moderner Kunstpraxis verweist im Kino auf diese Weise immer auf dessen eigenes Verhältnis zum modernen Individualismus. Malen ist im Kino nur selten eine schlichte handwerkliche Praxis, vielmehr fast immer eine prominente Möglichkeit, dem Individuum Ausdruck zu verleihen. Und eben diese Praxis kann der Film wieder hinterfragen, wie Robert Altman dies in VINCENT & THEO (GB 1990) tut. Er stellt van Gogh seinem bürgerlichen Alter Ego gegenüber, dem Bruder, Mäzen und Kunsthändler Theo, dessen Existenz die materielle Voraussetzung des Genies ist. Während sich Vincent ein Ohr abschneidet, versucht Theo vor dem Spiegel sein bürgerliches Sein mit der Schminke seiner Frau zu übermalen – und dies mit einer anderen Form der Pinselführung als dem leidenschaftlichen Strich Vincents auf einem stürmischen Feld bei Arles, ein Gestus, welcher die hohen psychosozialen Kosten des gefeierten Subjektivismus sinnlich veranschlagt. Der Film entwickelt ein eigenständiges und zugleich gesellschaftlich dominantes Bild der Kunst, das zuletzt auch das gesellschaftliche Subsystem Kunst prägt und kritisch hinterfragt. So uneinholbar der Fluchtpunkt des Ori12 Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft: Kultur – Kunst – Utopien, Frankfurt/Main 2005. 13 Vgl. Wolfgang Brassat: »Irascibles and Fountainheads – Der Abstrakte Expressionismus und das Bild des Künstlers im Hollywood-Film der Nachkriegszeit«, in: Hensel/Krüger/Michalsky (Hg.), Das bewegte Bild, S. 131164.
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ginals ist, so bedeutsam wird die Dominanz des Films für das kollektive Verständnis dessen, was Malerei ist. Spätestens in den 1950er Jahren beginnt eine Entwicklung, in welcher der Film – später dann selbstverständlich auch das Fernsehen und die digitalen Medien – die Geschichte der traditionellen Gattungen neu begründet.
Die spezifische Zeitlichkeit des Bewegungsbildes im Erzählkino Eine herausragende Differenz zwischen Film und Malerei ist zweifellos die zwischen statischem und dynamischem Bild, wie sie immer wieder Gegenstand des experimentellen Kinos wurde. Doch ist die Konstitution filmischer Zeit weit mehr als die einfache Verzeitlichung eines Stillstandes; sie ist vielmehr Ergebnis einer Montage, die einen Zeit-Erlebnishorizont auch jenseits der Mechanik der technischen Aufnahmeapparatur erzeugt, denn die erzählte Zeit eines fiktionalen Filmes ist keineswegs die Summe der mechanisch messbaren Dauer der einzelnen Einstellungen.14 Darin – und nicht einfach in der schlichten Bewegungsanimation des Bildes – besteht auch die eigentliche für den Film signifikante Herausforderung durch die Malerei, deren Geschichte von unterschiedlichsten Verfahren der Darstellung zeitlicher Abläufe im statischen Bild geprägt ist.15 Kaum ein Film zeigt dies so prägnant wie VAN GOGH (A. Resnais, F 1948). Während Minnelli jenseits der intradiegetisch präsentierten Bilder und des musealen Raums der projizierten Originale aus aller Welt einen klar definierten Illusionsraum filmischer Erzählung beibehält, taucht diese filmische Biografie ganz in die Bildwelten des Künstlers ein. Der französische ›Spielfilm‹16 erzählt die Vita ausschließlich mit abfotografierten Bildern und einem Off-Kommentar nach den Briefen van Goghs. Die Bilder werden nicht als Bestandteil der, sondern als Mise-en-scène selbst verstanden. Mittels eines konsequent durchgeführten classical style entsteht das Leben van Goghs aus der Montage seiner eigenen Bilder. Sie sind der selbstverständliche Lebensraum dieses religiös inspirierten Symbolisten.17 14 Die folgenden Betrachtungen orientieren sich lose an der Unterscheidung zwischen Bewegungs- und Zeit-Bild bei Gilles Deleuze, allerdings weniger in einem medientheoretischen, sondern vielmehr in einem stilgeschichtlichen Sinn; vgl. Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/Main 1989; Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt/Main 1991. 15 Vgl. Anne Hollander: Moving Pictures, New York 1989. 16 ›Spielfilm‹ in Anführungszeichen, da dieser Film eigentlich als Dokumentarfilm produziert wurde, im Kontext meiner Argumentation allerdings eine eigenwillige Form des Spielfilms darstellt. 17 Akira Kurosawa sollte dies später in DREAMS (USA/J 1990) in der Tradition einschlägiger ostasiatischer Künstlerlegenden in Träumen wieder aufgreifen, wenn ein Kunststudent in einem imaginären Durchgang durch die Bilder des Meisters diesen dort selbst wiederfindet; vgl. Jens Schröter: Der (digitale) Film öffnet die Tür in den virtuellen Raum der Malerei. Ein medientheoretischer Versuch zur Krähen-Episode aus Akira Kurosawas DREAMS (YUME, 1990), o.J., online: http://www.theorie-der-medien.de/text_detail.php?nr=52 [letzter Zugriff am 26.05.2010].
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Auch dieser Film zeigt, wie sehr das kinematografische Drama dem Narrativ des modernen Künstlersubjekts entspricht und wie sehr die Konstruktion einer authentischen Welt reiner Kunst vor ihrer Medialisierung zu einem romantischen Phantasma geworden ist. Doch welchen Erkenntniswert hat dies für den Film? Gerade weil Resnais trotz der ästhetischen Radikalität der durchgehenden Beschränkung auf die Reproduktionen der Bilder van Goghs letztlich eine betont konventionelle Formensprache benutzt, wird die Konstruktion dieses Films, die normalerweise durch den filmfotografischen Realitätseindruck im herkömmlichen Spielfilm verschleiert wird, deutlich. Montage wird hier ›nackt‹ und jenseits des Versprechens von Illusionismus vorgeführt. Dadurch, dass die Dramaturgie dennoch funktioniert und den Betrachter mitreißt, wird deutlich, dass die Illusion auch des Bewegungsbildes eben nicht ontologische Substanz des Mediums ist, sondern von diesem produziert wird. Resnais übernimmt die Repräsentationskritik der Moderne, zu deren Wegbereitern auch van Gogh gehörte, um sie zugleich mit rein filmischen Mitteln zu generieren. VAN GOGH ist sozusagen vor allem ein Film über den Film und weniger über die Malerei. Wenn der Regisseur bewusst Schwarz-Weiß-Aufnahmen nach Reproduktionen bevorzugt und damit ein gutes Stück der spezifischen Medialität der Malerei eben nicht zum Thema macht, zeigt er auf diese Weise, dass es ihm um das filmische Bild und um dessen Potential für eine filmische Erzählung geht.18 In der paradoxen Spannung von filmischer Form im Sinne der découpage classique, deren Zeitillusion die gewöhnliche Rezeption im fiktionalen Kino als Unsichtbares immer begleitet, und der artifiziellen Oberfläche jedes auch noch so gegenständlich gemalten Bildes wird die gewöhnliche Illusion des Erzählkinos als ästhetische Konstruktion sichtbar.
Die antiillusionistische Zeit des Bewegtbildes als Programm moderner Filmkunst Nicht nur die klassische Erzählkonstruktion, sondern auch und vor allem die Zeitkonstruktion im Sinne der Bergsonschen durée – ein prominenter Bezugspunkt formästhetisch ambitionierter Kunstfilmer – verweist auf die Zeitlichkeit der Malerei. Hier geht es um ein ›Zeitbild‹, das sich gänzlich von dramaturgischen oder mechanischen Messbarkeiten entfernt. Dies wird deutlich in der berühmten Schlussikone in ANDREY RUBLYOV (A. Tarkowskij, SU 1966).19 Am Ende der letzten Episode dieses ›pseudodokumentarisch‹ gefilmten Passionswegs eines orthodoxen Ikonenmalers verwandelt sich die Schwarz-Weiß-Fotografie einer erlöschenden Feuerstelle in einen zunächst abstrakten Farbenrausch, der sich allmählich als gleitende Fahrt über glän18 Vgl. Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.): Alain Resnais, München 1990, S. 65. 19 Zur hier nur unzureichend berücksichtigten spätsymbolistischen Ästhetik Tarkowskijs vgl. Andrej Tarkowskij: Die versiegelte Zeit – Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt/Main, Berlin 1988; Peter W. Jansen/Wolfram Schütte (Hg.): Andrej Tarkowskij, München/Wien 1987.
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zende Ikonen entpuppt. Nicht weniger sprunghaft wechselt der realistische Erzählmodus – die epische Struktur der filmischen Chronik – augenblicklich in eine abstrakte Bildwelt über. Bewusst wird auf die sachliche Schilderung der einzelnen heute noch erhaltenen Ikonen verzichtet. Vielmehr wechselt die Ebene filmischer Wirklichkeit, d.h. das Filmbild verschmilzt mit der Ikone. So nimmt das Gemalte den ganzen Bildkader ein. Eine Unterscheidung zwischen der Kinoleinwand als flachem Grund der filmischen Projektion und dem ihr zugrundeliegenden Objekt, d.h. der Oberfläche der Malerei, dem Malgrund als dem ›Schrein der Ikone‹, ist kaum noch möglich.20 In erster Linie bedeutet das die Aufhebung des realistischen Kinoblicks, die Aufgabe jeder mimetischen Darstellung zugunsten der reinen Fläche. Wenn sich die Farbfelder in gegenstandslose Kompositionen verwandeln, tauchen plötzlich Figuren aus dem Neuen Testament auf, die auf dem abstrakten Grund eine neue Legende entwickeln. Auf diese Weise entsteht aus Motiven verschiedener Ikonen des historischen Rubljow eine eigenständige Erzählung. Die einzelnen Motive orthodoxer Ikonografie werden aus ihrem ursprünglichen semantischen Kontext gelöst. Sie erzählen assoziativ ein zweites Mal die Geschichte der Protagonisten – auf einer vergeistigten Ebene, die durch Schnitt und Kamerablick erst ermöglicht wird. Dabei arbeitet das Filmlicht den hölzernen Malgrund heraus; der Betrachter kann die Zeitlichkeit der materialen Vorlage am Abblättern der Farbe und am strukturalen Reiz der durch hartes Seitenlicht hervorgehobenen Grundierung der alten Holztafeln spüren. Tarkowskij behandelt Zeit und Raum als gestalterische Materialien des Filmkünstlers mit einem Blick, der offensichtlich durch die Reflexionen der Moderne gegangen ist. Deshalb werden die Ikonenfragmente wieder von der filmischen Realfotografie weidender Pferde überblendet. Filmbild und Ikone werden eins. Tarkowskij verwandelt die reale Zeitlichkeit des Filmbildes in eine antiillusionistische Dauer, indem er über die In-Eins-Setzung von Einstellung, materialem Filmkader und Ikone eine Malerei aus Zeit inszeniert, um eine Zeitikone zu schaffen, die ein rein filmisches Konstrukt ist. Die filmische Inszenierung von Malerei führt zur Entdeckung und Umdefinition des filmischen Bildes als Gestaltungsmittel, ein Konzept, das die formalen Spezifika des Films als ebenso autonome Kunstpraxis versteht wie die der Malerei.
Künstlerische Autonomie des fiktionalen Erzählfilms Wie angedeutet besteht zwischen der Malerei als Leitmedium für eine radikale Autonomieästhetik und dem Kino als angewandter, industriell produzierter Form der visuellen Kommunikation seit spätestens Mitte des 20. Jahrhunderts eine deutliche Schranke, die auch durch die zahlreichen Einsprüche des Kunstfilms, insbesondere des Experimentalfilms, nicht substanziell im gesellschaftlichen Diskurs überwunden wurde.21 Erst die Nachkriegsjahre 20 Zum Ikonenverständnis des russischen Symbolismus vgl. Pavel Florenskij: Die Ikonostase – Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland (1922), Stuttgart 1988. 21 Zum Begriff ›Leitmedium‹ vgl. Daniel Müller/Annemone Ligensa/Peter Gendolla: Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte, Bielefeld 2009, Bd. I, S. 349; Bd. II, S. 290.
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brachten mit dem Konzept des Autorenfilms eine Veränderung. In diesem Kontext war die Zitation von Malerei nicht mehr einfach der Versuch einer Selbstnobilitierung, wie sie noch Jaques Feyder in LA KERMESSE HÉROÏQUE (F 1935) durch die enge Anlehnung an die holländische Malerei anstrebte. Nun kehrte sich die Perspektive um. Die künstlerische Freiheit, die der Malerei zugestanden wurde, wurde nun zur Referenz für den Anspruch des Filmautoren, die Kamera als individuell-künstlerischen Ausdruck seiner Subjektivität zu gebrauchen. Die entsprechende Kritik eines schlichten einfühlungsästhetischen Illusionismus, wie man ihn beispielsweise im Hollywoodkino vorfindet, wurde durch die Konfrontation und Modulation des filmischen Bildes mit der Freiheit des malerischen Ausdrucks formuliert. In dieser Tradition wird in CARAVAGGIO (D. Jarman, GB 1986) die Biografie des frühbarocken Meisters nicht nur zur paradigmatischen Künstlervita schlechthin, sondern zum Medium der Selbstdarstellung des Filmkünstlers, der auf der formalen Ebene durch die vielfältig inszenierten Variationen der Kombination der überlieferten Gemälde mit filmischen Nachstellungen der Sujets auch die Möglichkeiten seines eigenen filmischen Mediums durchprobiert.22 Ähnlich komplexe Durchmischungen kennzeichnen diesen Film auch auf der Ebene der Repräsentation, wenn die Differenz der Medien zwischen dem auratisierten Original des Gemäldes und seiner filmischen Nach- und Darstellung aufgehoben und das filmische Narrativ mit dem der Malerei zusammengeführt wird (vgl. Abb. 2 & 3).
Abb. 2 & 3: Der Ursprung der Low-key-Ästhetik in Caravaggios Jüngling mit einem Fruchtkorb (1593) und die Übersetzung in barockes Filmlicht in CARAVAGGIO
Dies reicht von der direkten Nachstellung der Modellsituation im Atelier über die Entwicklung der Bildvorlagen aus der Handlung, die gelegentlich fast zum Stil des Filmes gefriert, bis zu der fotografisch genauen Reproduktion des Bildes als intradiegetischer Präsenz des realen Caravaggio und großen, im neoexpressiven Stil der 1980er Jahre gehaltenen, so pathetischen wie 22 Vgl. Klaus Krüger: »Bilder der Kunst, des Films, des Lebens. Derek Jarmans ›Caravaggio‹«, in: Hensel/Krüger/Michalsky (Hg.), Das bewegte Bild, S. 257279.
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freien Anverwandlungen der Bilder des Production Designers Christopher Hobbs. Das berühmte Caravaggio-Licht23 ist sowohl intradiegetisch anwesend, wenn die historischen Bedingungen der Produktion im seinerzeitigen Studio mittels Verstärkung des Kerzenlichts durch Reflektoren beschrieben werden, als auch in Gestalt der permanenten Stilisierung der kinematografisch generierten Welt durch den ausgebildeten Maler Derek Jarman. CARAVAGGIO ist ein postmoderner Film im besten Sinne des Wortes. Im Hinblick auf das von Hans Belting konstatierte »Ende der Kunstgeschichte«24 als hegelianisch-lineares Fortschrittsmodell wird nämlich die historische Erzählung durch vielfache Verweise und Zitate der Gegenwart – von zeitgenössischen Straßengeräuschen Roms bis zum Taschenrechner des Kardinals del Monte – gleichsam ›durchlöchert‹. Die Durchmischung historischer Epochen mittels der präzisen Verbindung analoger Problemstellungen findet ihre Entsprechung in den subtilen ›Durchlässen‹ durch die Ordnung der Zeit im stilisierten Bild der Vergangenheit. Jarman verzichtet auf die mimetische Rekonstruktion des historischen Geschehens, wie sie zum Beispiel von Agnès Merlet bei dem historisch und stilistisch vergleichbaren Sujet der berühmten Malerin Artemisia Gentileschi in ARTEMISIA (F/D/I 1997) angestrebt wird. Zwar schildert auch Jarman die gestalterischen Probleme des Erneuerers und Großmeisters der Affektdarstellung in allen historischen und politischen Ambivalenzen dieser Übergangsperiode zwischen einer ausklingenden heidnischen Renaissance und der beginnenden gegenreformatorischen Propagandamalerei mit fast kunstwissenschaftlicher Genauigkeit. Doch sind das zugleich die Probleme des Künstlers Derek Jarman Anfang der 1980er Jahre nach dem endgültigen Ende einer formalistischen Avantgarde und dem Neokonservativismus Margaret Thatchers. Jarman setzt dem seinen Widerstand bis hin in die Tiefen seiner homosexuellen Identität entgegen. Diese Kunst ist – um den Sprachduktus des Films aufzugreifen – »lebendiges Fleisch gesättigter Realität«, wie es der junge Caravaggio im Film seinem Verehrer und Mäzen, dem humanistisch überzüchteten Kardinal, entgegenhält. Während im üblichen Fall die Präsentation von Malerei im Film erstere eher als Ort des ganz Anderen, als Ort subjektiver Expression im Gegensatz zur sicheren Illusion des filmisch-etablierten Raumes versteht, kann in einem solchen avancierten Künstlerfilm die Öffnung gegenüber verschiedenen Repräsentationsordnungen des Bildes – vom als Original erscheinenden Filmrequisit über zeitgenössische Nachempfindungen großer Kompositionen des Meisters bis hin zu an Tableaux vivants erinnernden Nachstellungen im Film – zu einem Einfallstor für die Subjektivität des Filmautors werden. Die besondere Subtilität dieses Films liegt jedoch in der konkreten Wahl des Themas begründet, denn Jarman idealisiert Caravaggio nicht zu einem modernen Künstler vor der Zeit, sondern thematisiert dessen Gebundenheit an den 23 Es ist deutlich vom weichen und abgestuften Rembrandt-Licht zu unterscheiden. Zur Differenzierung verschiedener Lichtformen im Kino vgl. Norbert M. Schmitz: »An der Grenze zwischen den Medien – Das Licht im Film der klassischen Avantgarde«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Licht und Leitung. Archiv für Mediengeschichte 2, Weimar 2002, S. 157-168. 24 Hans Belting: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach 10 Jahren, München 1994, S. 5.
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historischen Auftraggeber, mit dem der Sinnenmensch Caravaggio auch innerlich auf vielfältigste Weise verbunden ist. Gerade hierin spiegelt sich das Problem des fiktionalen Spielfilms als Produkt eines groß angelegten, industriell arbeitsteiligen Produktionsprozesses, dessen Ökonomie nicht weniger wirtschaftliche und staatliche Geldgeber erfordert als einst die aufwändige Kirchenmalerei Caravaggios. Die Freiheit des Regisseurs ähnelt weniger der radikalen Autonomie des modernen Künstlers, sondern erinnert an die Produktionsbedingungen einer Auftragskunst, wie sie die neuzeitliche Malerei über Jahrhunderte prägte; eine Konstellation, aus der das Kino wesentliche Funktionen der neuzeitlichen Malerei übernommen und in eine industrielle Form gebracht hat.
Die Kontinuität neuzeitlicher Bildformen Was sagt uns die Thematisierung einer Malerei, die letztlich in der Tradition der um Wahrnehmungsillusionismus bemühten ›Augentäuscherei‹ der abendländischen Kunst steht? In GIRL WITH A PEARL EARRING (P. Webber, GB/L 2003) wird Jan Vermeers fast fotografische Malerei avant la lettre mit der filmischen Fotografie, den Dekors und dem Licht kurzgeschlossen und zuletzt durch die Dienstbotenperspektive um die sozialen Voraussetzungen der Malerei ergänzt (vgl. Abb. 4).25
Abb. 4: Die Arbeit am Licht in GIRL WITH A PEARL EARRING
Die eben noch in der Spielhandlung vom Meister gezeigte und erklärte Pigmentfarbe wird zur Farbe des Films. Die subtile Lichttechnik des Kameramanns Eduardo Serra ist fast so ›still‹ wie die Bilder des Delfter Malers selbst. Die Nuancen, mit denen die unterschiedlichen sozialen Räume des Atelierhauses beleuchtet werden, erinnern an die feinen Differenzen in den Bildern Vermeers. Dessen Arbeit war ein unermüdliches Erforschen der Wahrnehmung, der Gesetzlichkeiten der Optik, des Lichtes und der Farbe, 25 Vgl. dazu Karl Prümm: »Jan Vermeers Lichtbilder und das Kino. Skizze einer intermedialen Konfiguration«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, S. 433-447.
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ein nahezu wissenschaftliches Bemühen, das aber deshalb nichts von seinem künstlerischen Wert verliert. Der Wissenschaftler Antoni van Leeuwenhoek ist der intimste Gast des Hauses und leiht dem Maler auf geraume Zeit seine ›Sehmaschine‹. Die Camera obscura im Atelier des Künstlers bindet all dies in eine übergreifende Geschichte der Medialisierung ein; in eine Geschichte, in der die Entwicklung der neuzeitlichen Perspektivmalerei und des dazugehörigen Lichtes nahtlos in deren ›technischer Fortführung‹ in der (filmischen) Fotografie aufgeht. Vermeer stammte im Übrigen aus jenem Umfeld holländischer Feinmalerei der Delfter Schule, für welches optische Experimente und Instrumente selbstverständliche Bestandstandteile der künstlerischen Praxis waren. Das Vermeersche Licht ist ein Kinolicht vor der Erfindung des Films, und das nicht nur in dem Sinne, wie sich unterschiedliche Beleuchtungspraxen des Kinos auf verschiedene Malstile zwischen Rembrandt-Licht und Chiaroscuro-Effekten in der Tradition der Caravaggisten zurückführen lassen, sondern auch als der eigentliche Inhalt jeder Bildlichkeit, jeder Wahrnehmung, wie sie in bestimmter Hinsicht eines der Hauptanliegen neuzeitlicher Malerei seit der Renaissance war. In diesem Moment schließt sich das Kino gewissermaßen mit seiner visuellen Vorgeschichte kurz, d.h. die Thematisierung der Traditionen illusionistischer Malerei betont nicht mehr die materielle Differenz zwischen statischem Einzelbild, konkreter materieller Struktur etc. und dem Film, sondern versteht sich in der Kontinuität der Mimesis der Welt als immer neuer Anlass der Wahrnehmung. Man kann die Entwicklung der westlichen Moderne auch in Hinsicht auf das Streben nach Vollendung der Rekonstruktion menschlicher Wahrnehmung verstehen, gipfelnd in der Kunst des Impressionismus, dem es letztlich allein um das Licht als einzige Außenwelt, an der wir wirklich teilhaben, geht.26 Zweifellos ist diese analytische Vorgehensweise nur eine Seite neuzeitlicher Malerei, die das Kino prägte und die zuletzt durch den Symbolismus oder den Antiillusionismus der Abstraktion konterkariert wurde. Fotografie und Film als Abkömmlinge und Vollender solcher ›Augentäuscherei‹ bewahren jedoch jene ursprüngliche Faszination an der Entdeckung der Dingwelt und physischen Wirklichkeit, die der klassischen Moderne verlorengegangen zu sein scheint. Zugleich reflektiert der Film aber sein ›Illusionsvermögen‹ anhand eines Künstlers wie Vermeer in dem Wissen, dass eben auch dieses nicht per se gegeben, sondern Ergebnis einer hochartifiziellen Strategie ist. Die Kenntnisse der tradierten Malerei um die Gesetze der menschlichen Wahrnehmung, die so komplizierten wie verführerischen Techniken, die notwendig sind, der flüchtigen Natur habhaft zu werden, fließen wie der Standard der Komposition in die Arbeit des fotografischen und kinematografischen Apparates ein.27 26 Selbstverständlich neben den entsprechen neuronalen Rezeptoren der anderen Sinnesmodalitäten. 27 Jonathan Crary bestreitet bekanntlich diese Kontinuität; vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002, S. 13ff. Ohne hier seine Argumente systematisch widerlegen zu wollen, kann doch zumindest diskursgeschichtlich einer solchen ›Evolution‹ für das Selbstverständnis dieser Kunst im Sinne eines ›visuellen Rationalismus‹ kaum widersprochen werden.
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Dann ist die Illusion bereits auf der Ebene der reinen Bildlichkeit nicht nur ein Taschenspielertrick oder ein automatischer Effekt, sondern auch im Sinne von Ernst Gombrich eine »Kunst der Illusion«.28 Der Film positioniert sich hier in Identität und Abweichung seiner medialen Geschichte nicht als das Andere der Malerei schlechthin, sondern als Abkömmling einer bestimmten Form der Malerei, eben des neuzeitlichen Illusionismus. Zugleich zeigt sich, dass anstelle eines medienontologisch zu bestimmenden absoluten Bruches die Kontinuität visueller Erzählkunst als Teil neuzeitlicher Zivilisationsgeschichte für die konkrete Form des Films mindestens ebenso maßgeblich war. Heute emanzipiert sich der Film insofern zunehmend von normativen Kunstästhetiken der klassischen Moderne, als er noch mit der expliziten Übernahme und Transformation stilistischer Traditionen und ästhetischer Strategien der klassischen Kunst einen eigenständigen Zugriff auf die Rekonstruktion malerischer Traditionen moduliert und immer neue Formen einer ›Malerei jenseits der Malerei‹ hervorbringt.
Zusammenfassung Es zeigt sich, dass die Thematisierung der Malerei durch den fiktionalen Spielfilm nicht einfach eine Art ›filmischer Kunstgeschichte‹ darstellt, sondern dass die Auseinandersetzung mit dem älteren Medium den Film auf unterschiedlichen Ebenen mit seiner eigenen spezifischen Medialität konfrontiert. Deshalb seien zum Schluss noch einmal die fünf Hinsichten, die meine Überlegungen leiteten, zusammengefasst. 1) Mediale Differenz und narrative Kontinuität: Wenn der Film sich implizit oder explizit seit frühen Tagen einzelne Bildfindungen der Malerei aneignete oder auch nur allgemein stilistische Anleihen bei der Geschichte der Malerei machte, dann thematisiert die unmittelbare Präsentation von Malerei innerhalb einer ansonsten illusionistischen Filmerzählung die prinzipielle Uneinholbarkeit eines Originals in ein anderes Medium – jedoch wird zugleich Raum für eine eigenständige Interpretation desselben geöffnet. Der Film vergewissert sich seiner Fähigkeit, zum Leitmedium zumindest für die populäre Vorstellung von anderen Medien zu werden, d.h. konkret: Er erzählt die Geschichte der Malerei neu und eigenständig und diese wird wenigstens zum Teil ein Produkt filmischer Erzählung. Dieser sehr spezifische Aspekt verweist aber auf die grundlegende Kontinuität visueller Selbstverständigung in neuzeitlichen Gesellschaften, in welchen der Film die überkommenen Funktionen der klassischen Malerei übernommen hat. 2) Die spezifische Zeitlichkeit des Bewegungsbildes im Erzählkino: Die Präsentation von Malerei mittels der découpage classique innerhalb eines fiktionalen Filmes kann den konstruiert-artifiziellen Charakter der filmischen Narration selbst explizit machen bzw. in der Konfrontation von vermeintlich statischem und dynamischem Medium die Zeitkonstruktion
28 Vgl. Ernst Gombrich: Kunst und Illusion. Eine Studie über die Psychologie von Abbild und Wirklichkeit in der Malerei, München 1978.
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des classical style thematisieren, die alles andere ist als ein schlichter Effekt der Mechanik des Kinematografen. 3) Die antiillusionistische Zeit des Bewegtbildes als Programm moderner Filmkunst: Wenn durch die Verwendung experimenteller Montageverfahren bei der Präsentation von Gemälden dieselben dynamisiert werden, dann entsteht ein Zeitbild, das keine Referenz mehr auf die alltägliche Zeiterfahrung des Rezipienten hat, so dass die Konfrontation filmischer Montageverfahren mit der Malerei programmatisch eine Art anaturalistischer Zeit im Sinne postillusionistischer Filmästhetik generiert. 4) Künstlerische Autonomie des fiktionalen Erzählfilms: Die Zitation der Malerei und die Thematisierung ihrer Geschichte als anerkannter Form moderner autonomer Kunstpraxis werden zum Anlass der Thematisierung der Subjektivität und künstlerischen Freiheit des Regisseurs innerhalb eines industriell bestimmten Produktionssystems. Während das Avantgardekino hier unmittelbar die radikale Autonomieästhetik der klassischen Moderne einfordert, knüpfen Filmkünstler im fiktionalen Erzählkino eher an die Tradition angewandter Kunstpraxis an, wie sie für die neuzeitliche Malerei charakteristisch ist – im Sinne einer subtilen Verbindung von Publikumserwartung und ästhetischer Innovation. 5) Die Kontinuität neuzeitlicher Bildformen: Beruhten die vorangestellten ästhetischen Verfahren – auch konkret durch die Thematisierung von Formen der Malerei, die sich durch ihre jeweilige maniera nicht unmittelbar in die Ästhetik eines illusionistischen Filmbildes übersetzen lassen – vorwiegend auf der Thematisierung der Differenz, kommt es bei der Zitation von radikalen Vertretern der neuzeitlich-illusionistischen Malerei tendenziell zum Kurzschluss zwischen den Medien. Auch hier wird die Konstruiertheit des filmischen Illusionismus deutlich, wenn gezeigt wird, dass dessen Ursprungsort nicht einfach eine unmittelbare Anschauung der Natur, sondern in verschiedensten Aspekten – von den Regeln der Bildkomposition bis hin zu den technischen Bedingungen jedes Illusionismus – das Ergebnis einer historischen Entwicklung über materiale Mediendifferenzen hinweg ist.
Literatur Anonym. Rez.: »Lust for Life«, in: Filmkritik 6 (1957), S. 21. Belting, Hans: Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach 10 Jahren, München 1994. Brassat, Wolfgang: »Irascibles and Fountainheads – Der Abstrakte Expressionismus und das Bild des Künstlers im Hollywood-Film der Nachkriegszeit«, in: Hensel/Krüger/Michalsky (Hg.), Das bewegte Bild (2005), S. 131-164. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002. Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/Main 1989. Deleuze, Gilles: Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt/Main 1991. Felix, Jürgen (Hg.): Genie und Leidenschaft. Künstlerleben im Film, St. Augustin 2000.
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Florenskij, Pavel: Die Ikonostase – Urbild und Grenzerlebnis im revolutionären Rußland (1922), Stuttgart 1988. Gombrich, Ernst: Kunst und Illusion. Eine Studie über die Psychologie von Abbild und Wirklichkeit in der Malerei, München 1978. Hensel, Thomas/Krüger, Klaus/Michalsky, Tanja (Hg.): Das bewegte Bild. Film und Kunst, München 2005. Hollander, Anne: Moving Pictures, New York 1989. Hübner, Christoph/Voss, Gabriele: »Die Kunst und ihr Preis – Notizen zu zwei Filmen über den Maler Vincent van Gogh«, in: Schweizer Filmbulletin 2 (1990), S. 15-17. Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hg.): Andrej Tarkowskij, München, Wien 1987. Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hg.): Alain Resnais, München 1990. Korte, Hans/Zahlten, Johannes (Hg): Kunst und Künstler im Film, Hameln 1990. Krüger, Klaus: »Bilder der Kunst, des Films, des Lebens. Derek Jarmans ›Caravaggio‹«, in: Hensel/Krüger/Michalsky (Hg.), Das bewegte Bild (2005), S. 257-279. Müller, Daniel/Ligensa, Annemone/Gendolla, Peter: Leitmedien. Konzepte – Relevanz – Geschichte. Bd. I & II, Bielefeld 2009. Paech, Joachim: Passion oder die Einbildungen des Jean-Luc Godard, Frankfurt/Main 1989. Prümm, Karl: »Jan Vermeers Lichtbilder und das Kino. Skizze einer intermedialen Konfiguration«, in: Joachim Paech/Jens Schröter (Hg.), Intermedialität analog/digital. Theorien – Methoden – Analysen, München 2008, S. 433-447. Schmitz, Norbert M.: »Bewegung als symbolische Form. Die Ikonologie und der Kunstbegriff der Medienwissenschaften«, in: Heinz B. Heller u.a. (Hg.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der deutschen Medienwissenschaft, Marburg 2000, S. 79-95. Schmitz, Norbert M.: »An der Grenze zwischen den Medien – Das Licht im Film der klassischen Avantgarde«, in: Lorenz Engell/Bernhard Siegert/ Joseph Vogl (Hg.), Licht und Leitung. Archiv für Mediengeschichte 2, Weimar 2002, S. 157-168. Schönenbach, Richard: Bildende Kunst im Spielfilm. Zur Präsentation von Kunst in einem Massenmedium des 20. Jahrhunderts, München 2000. Schröter, Jens: Der (digitale) Film öffnet die Tür in den virtuellen Raum der Malerei. Ein medientheoretischer Versuch zur Krähen-Episode aus Akira Kurosawas DREAMS (YUME, 1990), o.J., online: http://www.theorie-dermedien.de/text_detail.php?nr=52 [letzter Zugriff am 26.05.2010]. Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultur – Kunst – Utopien, Frankfurt/Main 2005. Schwerfel, Heinz Peter: Kino und Kunst. Eine Liebesgeschichte, Köln 2003. Tarkowskij, Andrej: Die versiegelte Zeit – Gedanken zur Kunst, zur Ästhetik und Poetik des Films, Frankfurt/Main, Berlin 1988. Thiele, Jens: Das Kunstwerk im Film. Zur Problematik filmischer Präsentationsformen von Malerei und Graphik, Frankfurt/Main, München 1976. Ulrich, Wolfgang: Raffinierte Kunst. Übungen vor Originalen, Frankfurt/ Main 2000. Walker, John A.: Art and Artists on Screen, Manchester, New York 1993.
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Bilder zwischen Raum und Zeit. Der Comic im/als Film ARNO METELING
Als populäre Kunstformen, die das 20. Jahrhundert einleiten, gehören der Film, der Zeitungs-Cartoon und das seit den 1930er Jahren selbstständig erscheinende Comic-Heft zu den paradigmatischen Medien urbaner Massenkultur. Sie etablieren ein neues visuelles Regime, das als Komplement oder sogar als Ablöse der gesichtslosen Herrschaft der Schrift verstanden werden kann.1 1895 führen die Brüder Auguste und Louis Lumière ihre ersten Filme im Pariser Salon Indien du Grand Café vor, Max und Emil Skladanowsky im Berliner Varieté Wintergarten. Im selben Jahr erscheint auch Richard F. Outcaults Figur The Yellow Kid der ersten Cartoon-Serie Hogan’s Alley in der Sonntagsbeilage der New York World von Joseph Pulitzer. Seitdem gibt es eine kontinuierliche Geschichte wechselseitiger Beobachtung und Beeinflussung zwischen Comic und Film. Unzweifelhaft existieren strukturelle Gemeinsamkeiten. Aber während beide als sequenziell erzählende Bildmedien im Widerspruch zu Lessings Laokoon-Paradigma durchaus vergleichbar sind, liegen auch die Differenzen auf der Hand.2 Der Comic ist dem Medium Buch und den Erfordernissen der Gutenberg-Galaxis verhaftet. Er wird gelesen, betrachtet und damit handgesteuert rezipiert. Der Film hingegen befindet sich nach Marshall McLuhan schon im »elektronischen Zeitalter« einer neuen Wahrnehmung.3 In einem Comic kann man blättern, man kann auf einer Seite oder einem Bild verweilen und auch wieder zurückblättern. Die Geschichte wird allein vom Raum, genauer: vom Seitenspiegel, vorgegeben. Der Film als narratives Medium der Zeit hingegen läuft erstens vom Filmprojektor maschinengesteuert weiter und wird zweitens, wie Walter Benjamin ausführt, anders wahrgenommen: Denn während die Lektüre eines Comics ein isolierter und kontemplativer Akt sein
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Vgl. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt/Main 2001, S. 16. Vgl. Fritz Breithaupt: »Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.), Ästhetik des Comic, Berlin 2002, S. 37-49. Vgl. Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters (1962), Bonn u.a. 1995.
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kann, ist der Film ein Medium der Öffentlichkeit, für eine Masse mit unter Umständen zerstreuter Aufmerksamkeit.4 Der Zeichentrick- oder Animationsfilm, der die Bildkästchen des Comics, die panels, in Filmkader transformiert und die räumliche Sequenz des Comics durch die Temporalität der Montage ersetzt, ist die offensichtlichste Form der Übertragung von einem Medium zum anderen.5 Da der Zeichentrickfilm keine Schauspieler und realen Hintergründe benötigt, sondern wie der Comic aus gezeichneten Bildern montiert ist, stellt er auch ein Betätigungsfeld für Comic-Zeichner dar. Winsor McCay erstellt beispielsweise mit GERTIE THE DINOSAUR (USA 1914) einen der ersten Zeichentrickfilme und der Filmproduzent Walt Disney setzt früh auch auf die Auswertung seiner Figuren in Cartoons und Comic-Heften.6 So ist Disneys Leitfigur Mickey Mouse aus den Filmen PLANE CRAZY (W. Disney/U. Iwerks, USA 1928), THE GALLOPIN’ GAUCHO und STEAMBOAT WILLIE (beide U. Iwerks, USA 1928) schon 1930 auch in fortlaufenden Zeitungs-Cartoons zu sehen.7 Der Zeichentrickfilmer Ralph Bakshi macht mit Filmen wie WIZARDS (USA 1977), J. R. R. TOLKIEN’S THE LORD OF THE RINGS (USA 1978) (vgl. Abb. 1) und FIRE AND ICE (USA 1983) eine Variation des Zeichentrickfilms populär, die sogenannte Rotoskopie-Technik. Dabei werden seit 1914 Projektionen der Schauspieler auf dem Filmmaterial übermalt, so dass die Körper sich in realistisch proportionierte Comic-Figuren verwandeln. In Bakshis 4
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Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1977, S. 7-44. Vgl. hierzu Leonard Maltin: Of Mice and Magic – A History of American Animated Cartoons, New York 1980; Rudolf Zumstein: Der Zeichentrickfilm, Solothurn 1981; Donald Crafton: Before Mickey – The Animated Film 18981928, Cambridge/Massachusetts 1982; Charles Solomon: The History of Animation, New York 1989; James Clark: Animated Films, London 2007. Vgl. Frank Thomas/Ollie Johnston: Disney Animation – The Illusion of Life, New York 1981; Leonard Maltin: The Disney Films. 3. Aufl., New York 1995; Andreas Platthaus: Von Mann & Maus. Die Welt des Walt Disney, Berlin 2001. Vertrieben wurde der Cartoon vom King Features Syndicate, das 1915 von William Randolph Hearst und Moses Koenigsberg gegründet wurde. Prominente Künstler, die sowohl als Comic-Zeichner tätig als auch für das Production Design von Filmen verantwortlich sind oder diese selbst produzieren, sind: Enki Bilal (BUNKER PALACE HÔTEL, E. Bilal, F 1989; TYKHO MOON, E. Bilal, F/D/GB 1996; IMMORTEL (AD VITAM), E. Bilal, F/I/GB 2004), Jean »Moebius« Giraud (ALIEN, R. Scott, USA/GB 1979; LES MAÎTRES DU TEMPS, R. Laloux, F/CH/ D/GB/H 1982; TRON, S. Lisberger, USA/RC 1982; WILLOW, R. Howard, USA 1988; THE ABYSS, J. Cameron, USA 1989; LE CINQUIÈME ÉLÉMENT, L. Besson, F 1997), Jean-Claude Mézières (ES IST NICHT LEICHT EIN GOTT ZU SEIN, P. Fleischmann, D/F/SU 1989; LE CINQUIÈME ÉLÉMENT), Philippe Druillet (O SIDARTA, P. Druillet/M. Jakar, B 1974; NOSFERATU, P. Druillet, F 2002), Mike Mignola (BRAM STOKER’S DRACULA, F. F. Coppola, USA 1992; HELLBOY, G. del Toro, USA 2004; HELLBOY II: THE GOLDEN ARMY, G. del Toro, USA/D 2008), Hayao Miyazaki (KAZE NO TANI NO NAUSHIKA, H. Miyazaki, J 1984; MONONOKE-HIME, H. Miyazaki, J 1997; SEN TO CHIHIRO NO KAMIKAKUSHI, H. Miyazaki, J 2001; u.a.) und Marjane Satrapi (PERSEPOLIS, V. Paronnaud/M. Satrapi, F/USA 2007).
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Filmen werden die aufgezeichneten Menschen dadurch vor allem von den gezeichneten Nichtmenschen wie den Elfen, Zwergen oder Hobbits unterschieden. Jüngst wurde dieses – angesichts eines Standes der Technik, der es erlaubt, Figuren wie Hintergründe komplett mit dem Computer zu generieren,8 – anachronistische Verfahren in Richard Linklaters Filmen WAKING LIFE (USA 2001) und A SCANNER DARKLY (USA 2006) (vgl. Abb. 2) eingesetzt, um deren surrealistischen bis psychedelischen Inhalt angemessen zu visualisieren.
Abb. 1 & 2: Rotoskopie 1978 (J. R. R. TOLKIEN’S THE LORD OF THE RINGS) und 2006 (A SCANNER DARKLY)
Neben den Zeichentrickfilmen gibt es Realfilme, die auch gezeichnete Sequenzen enthalten, meist um den Einsatz von Schauspielern und Realfilmanteilen zu konterkarieren und eine verfremdete Perspektive von Figuren und Erzählwelt zu erzielen. Max Fleischer (der Erfinder der Rotoskopie) hat mit den Filmserien um Koko/Ko-Ko/KoKo the Clown – z.B. OUT OF THE INKWELL (USA 1919-1927); INKWELL IMPS (USA 1927-1929) – wahrscheinlich die ersten Mischungen aus Live-Action und Animation produziert. Diese Annäherung des Realfilms an den Comic findet sich prominent in DisneyProduktionen wie der ALICE COMEDIES-Serie (W. Disney, USA 1923-1927), MARY POPPINS (R. Stevenson, USA 1964), BEDKNOBS AND BROOMSTICKS (R. Stevenson, USA 1971) oder PETE’S DRAGON (D. Chaffey, USA 1977) wieder. Die gezeichneten Anteile sind dabei häufig als fokalisiertes Ergebnis kindlicher Einbildungskraft zu verstehen. Bekannte Realfilme mit Zeichentricksequenzen von Warner Bros. sind beispielsweise YOU OUGHT TO BE IN PICTURES (F. Freleng, USA 1940) und ANCHORS AWEIGH (G. Sidney, USA 1945), in dem unter anderem eine Tanznummer von Gene Kelly mit Jerry Mouse aus den Tom and Jerry-Cartoons inszeniert wird. Jüngere Projekte sind WHO FRAMED ROGER RABBIT (R. Zemeckis, USA 1988), COOL WORLD (R. Bakshi, USA 1992) und SPACE JAM (J. Pytka, USA 1996).
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Die ersten Filme, vor deren vollständig computergenerierten Welten Schauspieler agieren, sind die Comic-Verfilmung IMMORTEL (AD VITAM), SKY CAPTAIN AND THE WORLD OF TOMORROW (K. Conran, USA/GB/I 2004) sowie die Comic-Verfilmungen CASSHERN (K. Kiriya, J 2004) und SIN CITY (F. Miller/R. Rodriguez/ Q. Tarantino, USA 2005).
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Der Effekt dieser Kombination ist ein Authentizitätsgewinn der Realfilmanteile, während die Comic-Sequenzen das Register des Irrealen/Wunderbaren repräsentieren. Sie zeigen what if-Sequenzen, Tag- oder Wunschträume sowie den Möglichkeitssinn der Figuren. LOLA RENNT (T. Tykwer, D 1998) benutzt dieses Verfahren, um die Artifizialität der Geschichte zu betonen. Unterstrichen werden so der Pop-Comic-Tenor des Films sowie seine intermediale Registratur, die auf der Dramaturgie der mehreren ›Leben‹ der Hauptfigur und damit letztlich auf einem Konzept aus Video- und Computerspiel basiert.9 KILL BILL: VOL. 1 (Q. Tarantino, USA 2003) zeigt als Teil seines panasiatischen Referenzrahmens die Hintergrundgeschichte der Figur O-Ren Ishii vollständig im Stil eines japanischen Animes. Erweitert wird dabei auch das visuelle Spektrum der hyperbolischen Gewaltästhetik im Film. In der Tradition des japanischen Chambara-Films10 führen die Verwundungen, die die Figuren in der Anime-Sequenz erleiden, zu meterhohen Blutfontänen, welche die Gewalt einem realistischen Register entziehen und in eine Pathosformel des verletzten Körpers überführen. Häufiger als die meist nur beiläufig gezeigte Comic-Lektüre tauchen in Filmen Zeichentrickfilme innerhalb der dispositiven Rahmung eines Fernsehbildschirms auf, beispielsweise im Epilog von KILL BILL: VOL. 2 (Q. Tarantino, USA 2004).11 Während B. B., die vierjährige Tochter der Killer-Heldin Beatrix Kiddo, zuvor den R-Rated SHOGUN ASSASSIN (R. Houston, J/USA 1980) als Gute-Nacht-Video gesehen hat,12 zeigt der Schluss durch die ›kindgerechtere‹ Zeichentrickfilmrezeption, dass die Figuren der Gewaltspirale des Films vielleicht endgültig entstiegen sind. Da amerikanische Zeichentrickserien selbst häufig Gewalt zeigen und deshalb auch immer wieder in die Diskussion geraten, wird als Fazit der beiden KILL BILL-Filme durch diese Gegenüberstellung kindlichen Medienkonsums der Mediengewaltdiskurs noch einmal in den Film eingespielt (vgl. Abb. 3).
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Auffällig kopiert werden die Zeichentrickelemente des in Berlin spielenden Films LOLA RENNT in der ARD-Fernsehserie BERLIN, BERLIN (D 2002-2005), in der diese Sequenzen sinnfällig die mentalen Wunschbilder der Heldin Lolle [sic!] in eine groteske Cartoon-Ästhetik überführen. 10 Der Schwertkampf-Film, eine Untergattung des japanischen Historienfilms (jidai-geki). 11 Allgemein lässt sich sagen, dass Zeichentrickfilme – wie auch jede andere Fernsehsendung, die in einem Film auftaucht – zumeist der Authentifizierung des Geschehens dienen. Populäre Inhalte – wie eben Zeichentrickfilme – werden in eine Geschichte eingespielt, um zu zeigen, dass diese in einer spezifischen chronotopischen Realität spielt. Die poetologische Funktion ist häufig auch die eines Kommentars zu bestimmten Figuren oder Szenen. 12 Der Film ist ein Zusammenschnitt der sechsteiligen japanischen Filmreihe KOZURE ÔKAMI (K. Misumi/B. Saito/Y. Kuroda, J 1972-1974). Ein R-RestrictedRating der Motion Picture Association of America bedeutet, dass der Film von Jugendlichen unter 17 nur in Begleitung der Eltern gesehen werden darf.
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Abb. 3: Kindlicher Medienkonsum - KILL BILL: VOL. 2
Leitmotivisch tauchen Zeichentrickfilme in GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI (J. Jarmusch, F/D/USA/J 1999) auf (vgl. Abb. 4). Hier funktionieren die Zeichentrickfilme (Betty Boop, Felix the Cat, Woody Woodpecker, Itchy and Scratchy) zum einen als Prolepse (foreshadowing) und nehmen kommentierend die Aktionen der Figuren vorweg. Sie offenbaren dadurch unter anderem deren Schicksalshaftigkeit, da sie sich strikt an bestimmte Verhaltenscodices halten, etwa an denjenigen der Mafia oder an den Samurai-Codex Hagakure, dem der Titelheld folgt. Zum anderen sind die Zeichentrickfilme eine kontinuierliche Beschäftigung von Louise, der Tochter des Mafiabosses Ray Vargo, die so ihre kindliche Seite offenbart, obgleich ihr Verhältnis mit Handsome Frank, einem der Gangster, der Auslöser der Gewalt im Film ist.
Abb. 4: Zeichentrickfilm als Parallelspur – GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI
Eine weitere filmische Übertragung des Comics ist die Realfilmadaption der Geschichte eines Comics oder die filmische Aufbereitung einer Comic-Figur. Sichtbar ist dies vor allem in den zahlreichen Verfilmungen von Superhelden-Comics im Blockbuster-Format Hollywoods, aber auch in der Verfilmung sogenannter Independent Comics.13 Eine transmediale Auswertung be-
13 Nicht-Superheldenstoffe und -figuren sowie Superhelden aus kleineren Verlagen sind die ASTERIX-Filme ASTÉRIX ET OBÉLIX CONTRE CÉSAR (C. Zidi, F/D/I
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sonders von Superheldennarrativen, ob im Film, als Fernsehserie, in anderen Medien oder als Merchandising-Produkt, funktioniert dabei über die Etablierung der als Markennamen geschützten Figuren.14 Nicht die Autoren oder Zeichner, nicht die Handlungsverläufe oder Hintergrundwelten, sondern die Figuren stellen dabei das eigentliche Franchising-Kapital des jeweiligen Verlags dar. Angesichts des beispiellosen Erfolges in der Verfilmung von Superheldenstoffen um die Jahrtausendwende werden auch die historischen Ungleichzeitigkeiten zwischen Comic und Film sichtbar. Denn lange Zeit war es nicht 1999), ASTÉRIX & OBÉLIX: MISSION CLÉOPÂTRE (A. Chabat, F/D 2002) und ASTÉRIX (F. Forestier/T. Langmann, F/D/E/I/B 2008), GHOST WORLD (T. Zwigoff, USA/GB/D 2001), FROM HELL (A. Hughes/A. Hughes, USA 2001), ROAD TO PERDITION (S. Mendes, USA 2002), AMERICAN SPLENDOR (S. S. Berman/ R. Pulcini, USA 2003), BLUEBERRY (J. Kounen, F/MEX/GB 2004), HELLBOY und HELLBOY II: THE GOLDEN ARMY, CONSTANTINE (F. Lawrence, USA/D 2005), A HISTORY OF VIOLENCE (D. Cronenberg, USA/D 2005), V FOR VENDETTA (J. McTeigue, USA/GB/D 2005), WANTED (T. Bekmambetov, USA/D 2008) und THE SPIRIT (F. Miller, USA 2008). Die erfolgreichsten Comic-Verfilmungen übernehmen Figuren und Storylines der beiden größten Comic-Verlage DC Comics (Warner Bros.) und Marvel Comics (The Walt Disney Company). Superheldenfilme und -filmreihen seit der Jahrtausendwende sind THE LEAGUE OF EXTRAORDINARY GENTLEMEN (S. Norrington, USA/D/CZ/GB 2003), CATWOMAN (Pitof, USA/AUS 2004), BATMAN BEGINS (C. Nolan, USA/GB 2005), SUPERMAN RETURNS (B. Singer, AUS/USA 2006), THE DARK KNIGHT (C. Nolan, USA/GB 2008) und WATCHMEN (Z. Snyder, USA 2009) von DC Comics sowie die BLADE-Trilogie (S. Norrington/G. del Toro/D. S. Goyer, USA/D 1998-2004), die X-MEN-Trilogie (B. Singer/B. Ratner, USA/CDN/GB 2000-2006), die SPIDER-MAN-Trilogie (S. Raimi, USA 2002-2007), DAREDEVIL (M. S. Johnson, USA 2003), die beiden HULK-Verfilmungen HULK (A. Lee, USA 2003) und THE INCREDIBLE HULK (L. Leterrier, USA 2008), die beiden PUNISHER-Filme THE PUNISHER (J. Hensleigh, USA/D 2004) und PUNISHER: WAR ZONE (L. Alexander, USA/CDN/D 2008), ELEKTRA (R. Bowman, CDN/USA 2005), die beiden FANTASTIC FOUR-Filme FANTASTIC FOUR (T. Story, USA/D 2005) und 4: RISE OF THE SILVER SURFER (T. Story, USA/D/GB/CDN 2007), GHOST RIDER (M. S. Johnson, USA/AUS 2007) sowie IRON MAN (J. Favreau, USA 2008) von Marvel Comics. Zu Comic-Verfilmungen allgemein vgl. Umberto Eco: »Der Mythos von Superman (1964)«, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt/Main 1986, S. 187222; Richard Reynolds: Superheroes – A Modern Mythology, Jackson/Massachusetts 1994; Gerard Jones/Will Jacobs: The Comic Book Heroes – The First History of Modern Comic Books from the Silver Age to the Present, Roclin 1997; Geoff Klock: How to Read Superhero Comics and Why, New York, London 2002; Robert Blanchet: Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywood-Kinos, Marburg 2003; Jules Feiffer: The Great Comic Book Heroes (1965), Seattle 2003; Peter Coogan: Superhero – The Secret Origin of a Genre, Austin/Texas 2006; Thomas Koebner u.a. (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film, München 2007; Roz Kaveney: Superheroes! Capes and Crusaders in Comics and Films, New York 2007. 14 Vgl. Henry Jenkins: Convergence Culture – Where Old and New Media Collide, New York 2006, S. 93-130. AUX JEUX OLYMPIQUES
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möglich, Comic-Superkräfte überzeugend in dem realistischen Visualisierungsregister eines Spielfilms darzustellen. Zwar gab es schon früh Versuche, die populären Superheldenstoffe auf die Leinwand zu übertragen, doch erst SUPERMAN (R. Donner, CDN/GB/USA 1978) inszenierte glaubhaft einen fliegenden Übermenschen.15 Danach brauchte es ein Niveau filmischer Tricktechnik mit fliegenden Kameras, Hongkong-Wirework und Computer Generated Images (CGI), das erst in den 1990er Jahren erreicht wurde, um die Superheldengeschichte als den entscheidenden Stofflieferanten des Actionfilms um 2000 zu etablieren. Diese Special Effects betreffen vor allem Kämpfe und Verfolgungsjagden und erfassen damit die Essenz des frühen Superhelden-Comics. Die action set pieces sind dabei überwältigende und erhabene Inszenierungen übermenschlicher Kräfte, Stellen, die mitunter eine Renaissance des »cinema of attractions«16 einläuten. Die parabatischen Momente,17 die das Attraktionskino zu Beginn des 20. Jahrhunderts ausgezeichnet haben, werden im Superheldenfilm dabei weitgehend durch in-jokes ersetzt, die das Vorwissen des Comic-Lesers ansprechen.18 Die Redefinierung des Actionfilms durch die neue Tricktechnik beschränkt sich aber nicht auf Konfrontationen zwischen nominellen Comic-Superhelden, sondern es existieren auch ausdifferenzierte Begründungskulturen, warum Filmfiguren übermenschliche Kräfte besitzen. Diese reichen von mythologischen Helden und Halbgöttern über Cyborgs in der TERMINATOR-Reihe (J. Cameron/J. Mostow/McG, GB/USA/F/D/I 19842009) und Kampfkunsthelden im Wuxia-Genre bis zu Kampfkünstlern in virtuellen Welten wie in der MATRIX-Trilogie (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 1999-2003). Diese Filme fallen gewöhnlich auch unter das – zumeist kritisch gesehene – Register des ›Comichaften‹. Dieses Etikett bekommt ein Film dann, wenn die Figuren und Ereignisse einer realitätsfernen, wunderbaren oder grotesken Cartoon-Logik folgen, wenn also die Körper der Figuren hypertroph, monströs oder auch unendlich und reversibel zu verletzen und zu deformieren sind oder auch, wenn für die dargestellte Welt das
15 Auch der Werbe-Claim dieses Films bezieht sich signifikant weder auf die Darsteller, den Regisseur noch auf die Geschichte des Films, sondern stellt ausschließlich die Überzeugungskraft der Tricktechnik ins Zentrum der Aussage: »You’ll believe a man can fly!« 16 Vgl. Tom Gunning: »The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser/Adam Barker (Hg.), Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56-63. 17 Parabase bedeutet die Unterbrechung der Handlung eines Theaterstücks, um den Chor das Publikum direkt ansprechen zu lassen. Seit der romantischen Komödie ist die Parabase auch ein diegetisch integriertes Element des Stücks zur Multiplizierung der Spielebenen; vgl. Uwe Japp: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick, Tübingen 1999. 18 Diese sprechen zwar den Comic-Leser direkt an, unterbrechen aber zu keinem Zeitpunkt die Illusion einer geschlossenen Erzählwelt. Beispiele für solche Referenzen sind die Benennung von Figuren und Orten nach bekannten Comic-Autoren und -Zeichnern oder auch die zahlreichen Cameo-Auftritte von Stan Lee, dem Erfinder vieler Marvel-Helden.
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Realitätsprinzip mit seinen Natur- und Wahrscheinlichkeitsgesetzen nicht gilt.19 Ein noch junges Verfahren der Comic-Verfilmung beziehungsweise der Comic-Werdung des Films ist der Versuch des Realfilms, eine völlig werktreue Angleichung der filmischen Mise-en-scène an die Comic-Vorlage zu erreichen. Stark abhängig ist diese Form der Adaption vom Einsatz von CGI, die nach den Filmaufnahmen des Schauspiels am Set vor Blue- oder Greenscreens eingefügt werden und damit die Welt nicht mehr filmisch aufzeichnen, sondern sie vollständig konstruieren. Das bekannteste Beispiel für einen umfassenden Einsatz von Computergrafik zur Schaffung eines ganzen Universums sind wohl die drei jüngeren Episoden der STAR WARS-Reihe (G. Lucas, USA 1999-2005). Sehr genau folgen in dieser Hinsicht beispielsweise Zack Snyders Verfilmungen von Frank Millers Comic-Serie 300 (USA 2006) sowie von Alan Moores und Dave Gibbons’ Comic-Serie WATCHMEN (USA 2009) ihren Comic-Vorbildern. Robert Rodriguez’ Verfilmung von SIN CITY (USA 2005), unter der Co-Regie von Quentin Tarantino und Frank Miller, dem Autor und Zeichner der Comic-Vorlage, reinszeniert über weite Strecken tatsächlich exakt Bild für Bild die Comic-Vorlagen The Customer Is Always Right, The Hard Goodbye, The Big Fat Kill und That Yellow Bastard der Sin City-Comic-Serie. Ein weiterer Aspekt, den man mit der Adaption von Superhelden-Comics verstärkt beobachten kann, ist die Serialität. So starten Superheldenfilme nicht nur als kurze Serials in den Kinos, sondern tragen seit der Initiierung des Blockbuster-Konzepts in den 1970er und 1980er Jahren zur Reihenbildung bei, beispielsweise etwa in den frühen SUPERMAN- (R. Donner/R. Lester/S. J. Furie, CDN/GB/USA 1978-1987) und BATMAN-Serien (T. Burton/ J. Schumacher, USA/GB 1989-1997) bis zu den aktuellen Serien der MarvelHelden wie den Trilogien von BLADE (S. Norrington/G. del Toro/D. S. Goyer, USA/D 1998-2004), X-MEN (B. Singer/B. Ratner, USA/CDN/GB 20002006) und SPIDER-MAN (S. Raimi, USA 2002-2007). Eine Tendenz, die die transmediale Auswertung dieser Stoffe begleitet, ist das worldbuilding, das wie in den Comic-Serien auf diegetisch kohärente Verbindungsfäden zwischen den Figuren und Geschichten und letztlich auf ein Treffen der Figuren in der Tradition der Superheldengruppen wie der Justice League of America von DC Comics oder den Avengers von Marvel Comics hinarbeitet. Befördert werden Serialisierung, worldbuilding und Transmedialität vom Genre dadurch, dass die Comic-Figuren häufig nur wenig komplex ausgeprägte Persönlichkeiten besitzen, da sie zum einen fast ausschließlich durch visuelle Merkmale wie ein Kostüm und zum anderen durch eine zwar kontinuierlich wiederholte, aber stets neu interpretierbare origin story identifiziert werden.
19 Paradigmatisch für diese Cartoon-Logik sind die Serials TOM AND JERRY (USA 1940-1957) und Warner Bros.’ LOONEY TUNES (USA 1930-1969) mit Figuren wie Bugs Bunny, Duffy Duck oder Road Runner.
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Abb. 5: Comic-Ästhetik im Film – HULK
Ein singuläres Projekt der Implementierung von Comic-Ästhetik ist schließlich HULK (A. Lee, USA 2003) – dieser wartet nicht allein mit der ernsthaften Erzählung eines traumatischen Familienromans mit dem Fokus auf patriarchalische Macht, ohnmächtige Frustration und die verschiedensten Schattierungen von Wut auf, sondern auch mit der Comic-Werdung des Films nicht nur auf der Ebene der Mise-en-scène, sondern auch der Montage. Durch das kaleidoskopische Spiel mit Farben, Texturen, unterschiedlichen Match Cuts, Freeze Frames und Split Screens sowie Auf-, Ab- und Überblendungen, die immer neue Übergänge zwischen den Sequenzen herstellen, bezieht der Film sich deutlich auf die räumliche Erzählweise des Comics (vgl. Abb. 5). Das titelgebende Monster selbst verkörpert dabei die Hybridität von Film und Comic: So erreicht der Hulk einerseits gestisch und mimisch durch die Technik des Motion Capturing (mit dem Regisseur als Akteur) einen hohen Grad an Realismus, wird aber andererseits durch seine Größe und vor allem durch die Verwendung eines leuchtenden Grüntons für seine Haut zu einem comichaften Fremdkörper in einem ansonsten realistischen Setting. Der Hulk ist deshalb als Verkörperung einer Superhelden-Comic-Ästhetik verstehbar, die gegen die realistische Welt des Hollywood-Erzählfilms ankämpft.20 In der inzwischen über hundertjährigen Zirkulation von Motiven, Figuren und Erzählweisen zwischen Comic und Film ist der Comic ein marginales Medium geblieben, während der Film zum Leitmedium des 20. Jahrhunderts avancierte. Comic-Lektüre findet in Filmen auch nur beiläufig statt, meist als Ornament einer jugendlichen oder popkulturellen Lebenswelt. Losgelöst vom Lesemedium des Comic-Hefts, das im Gegensatz zur Inszenierung von Büchern in Filmen keine Rolle spielt, sind es allerdings Comic-Ästhetiken sowie spezifische Comic-Figuren und -Narrative, die als essenzielle Bestandteile der jüngeren Filmgeschichte betrachtet werden können. Poetologisch gese20 Die Comic-Ästhetik von HULK weicht dabei nicht nur von der figuren- und handlungszentrierten Superheldenverfilmung ab, sondern wendet sich auch gegen die Hollywood-Tradition des ›unsichtbaren Schnitts‹, der möglichst reibungslos eine Geschichte zugunsten der Latenz filmischer Medialität erzählen soll. In HULK wird hingegen die Medialität des Filmischen manifest, und zwar durch das Supplement der Comic-Medialität.
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hen schlägt sich das Comichafte im Film dabei vor allem auf die Seite des Wunderbaren oder Phantastischen und stellt sich einer realistischen Vereinnahmung des Films entgegen. Es zeigt, dass dieser nicht als chemische Aufzeichnung von Welt zu betrachten ist. Der Film ist nicht die »Errettung der äußeren Wirklichkeit«,21 sondern eine visuelle Kunstform, die Gedankenexperimente, Möglichkeiten und Wünsche durchspielt. Die Referenz auf das Comichafte in Filmen ist deshalb immer auch als spezifisch selbstreferenzielles Moment zu verstehen. Wenn Comic-Figuren in Filmen auftauchen oder wenn Comic-Ästhetik zum Element des Filmischen wird, dann wird stets eine alternative Perspektive oder Realität etabliert, die dem realistischen Register des Erzählfilms die Welt des Imaginären gegenüberstellt.
Literatur Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt/Main 2001. Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1977, S. 7-44. Blanchet, Robert: Blockbuster. Ästhetik, Ökonomie und Geschichte des postklassischen Hollywoodkinos, Marburg 2003. Breithaupt, Fritz: »Das Indiz. Lessings und Goethes Laokoon-Texte und die Narrativität der Bilder«, in: Michael Hein/Michael Hüners/Torsten Michaelsen (Hg.), Ästhetik des Comic, Berlin 2002, S. 37-49. Clark, James: Animated Films, London 2007. Coogan, Peter: Superhero – The Secret Origin of a Genre, Austin/Texas 2006. Crafton, Donald: Before Mickey – The Animated Film 1898-1928, Cambridge/Massachusetts 1982. Eco, Umberto: »Der Mythos von Superman (1964)«, in: Ders.: Apokalyptiker und Integrierte. Zur kritischen Kritik der Massenkultur, Frankfurt/Main 1986, S. 187-222. Feiffer, Jules: The Great Comic Book Heroes (1965), Seattle 2003. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser/Adam Barker (Hg.), Early Cinema: Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56-63. Japp, Uwe: Die Komödie der Romantik. Typologie und Überblick, Tübingen 1999. Jenkins, Henry: Convergence Culture – Where Old and New Media Collide, New York 2006. Jones, Gerard/Jacobs, Will: The Comic Book Heroes – The First History of Modern Comic Books from the Silver Age to the Present, Rocklin 1997. Kaveney, Roz: Superheroes! Capes and Crusaders in Comics and Films, New York 2007. Klock, Geoff: How to Read Superhero Comics and Why, New York, London 2002. 21 Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), Frankfurt/Main 1985.
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Koebner, Thomas u.a. (Hg.): Superhelden zwischen Comic und Film, München 2007. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), Frankfurt/Main 1985. Maltin, Leonard: Of Mice and Magic – A History of American Animated Cartoons, New York 1980. Maltin, Leonard: The Disney Films. 3. Aufl., New York 1995. McLuhan, Marshall: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters (1962), Bonn u.a. 1995. Platthaus, Andreas: Von Mann & Maus. Die Welt des Walt Disney, Berlin 2001. Reynolds, Richard: Superheroes – A Modern Mythology, Jackson/Massachusetts 1994. Solomon, Charles: The History of Animation, New York 1989. Thomas, Frank/Johnston, Ollie: Disney Animation – The Illusion of Life, New York 1981. Zumstein, Rudolf: Der Zeichentrickfilm, Solothurn 1981.
Der Tod, das Leben, die Moral. Zur Fotografie im Film JÖRN GLASENAPP
»Noch nicht zu höherer Erkenntnis gelangt, hält die Menschheit sich noch immer in Platos Höhle auf und ergötzt sich – nach uralten Gewohnheiten – an bloßen Abbildern der Wahrheit.« (Susan Sontag)
Tod und Leben Marshall McLuhans zweitem ›Hauptsatz‹ zufolge ist der Inhalt eines Mediums stets ein anderes Medium,1 d.h. Medien stehen auf den Schultern ihrer Vorgänger, die sie gleichsam inkorporieren, wobei ein Anfang, ein Erstes, aus dem sich alles Weitere herleiten ließe, nicht auszumachen ist. Demnach gilt den im Fahrwasser McLuhans argumentierenden Jay David Bolter und Richard Grusin jedwede Form der Mediation zunächst einmal als Remediation, jedes Medium entsprechend als »that which remediates«.2 Stellt man nun in Rechnung, dass der mediale Einverleibungsprozess grundsätzlich mit dem Ziel der Erweiterung (im Sinne von Verbesserung) bestehender Medien erfolgt, versteht es sich von selbst, dass es sich bei Medien nicht nur um – wie es der Untertitel von McLuhans Hauptwerk, Understanding Media, behauptet – extensions of man handelt, sondern auch und vor allem um extensions of media. Anders gewendet: Medien sind Kompensationen sowohl menschlicher als auch medialer ›Mängel‹. »Each new medium«, so Bolter und Grusin, »is justified because it fills a lack or repairs a fault in its predecessor, because it fulfills the unkept promise of an older medium.«3 Der Film, der die lebendige Bewegung in physikalisch und chemisch erzeugte indexikalische Bilder zerlegt, um diese »mechanische Metzgerei«4 im trägen Auge des Zuschauers wieder rückgängig zu machen, wäre somit eine extension of photography, die
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Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel 1995, S. 22. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Massachusetts 1999, S. 65. Ebd., S. 60. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 228.
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deren Unvermögen, die Bewegung bzw. die sich in der Zeit entfaltende Realität darzustellen, behebt.5 Wie kaum ein anderer dürfte von einer solchen Sichtweise Siegfried Kracauer überzeugt gewesen sein, der in seiner Theorie des Films, die en passant auch eine – und zwar keineswegs unbedeutende – Theorie der Fotografie ist, den Film nicht nur als »Erweiterung der Fotografie«,6 sondern darüber hinaus als deren »Erfüllung«7 ausweist, wobei er aus diesem genealogischen Konnex das Fortleben des »Wesen[s]«8 der Fotografie im Film und damit die grundsätzliche Identität der Affinitäten der zwei Medien ableitet. Beide, so führt er aus, teilen eine ausgesprochene Vorliebe für die ungestellte Realität bzw. die »Natur im Rohzustand«,9 wodurch es zur Akzentuierung des Zufälligen einerseits und des Unbestimmbaren andererseits kommt, die wiederum jeder Vorstellung von Vollständigkeit zuwiderläuft. Allein die Affinität zum »Fluß des Lebens«10 ist dem Film eigentümlich, da sein Vorgängermedium, wie Kracauer schreibt, »Leben nicht in Bewegung zeigen kann«.11 Doch was wäre das für ein Leben, aus dem die Bewegung verbannt ist? Diese Frage stellt sich – zumindest implizit – Roland Barthes in seinem Essay Die helle Kammer, der insofern als direkter Gegenentwurf zu Kracauers Theorie des Films gelesen werden kann, als in ihm die von Kracauer konstatierte Nähe von Fotografie und Film konsequent in Abrede gestellt wird. Vor allem könne von einem Fortbestehen des Wesens bzw. Noemas der Fotografie, das Barthes bekanntlich in ihrem Spurcharakter bzw. im »Es-ist-so-gewesen«12 ausmacht, in ihrem medialen Nachfolger keine Rede sein. Vielmehr »verkümmert«13 es in ihm durch den Zusatz der Bewegung, dem Barthes – dies macht er von Vornherein klar, wenn er bereits auf der ersten Seite erklärt, dass er »das PHOTO gegen das Kino liebte [Herv. i. O.]«14 – nicht eben viel abzugewinnen vermag und in dem er auch weniger eine mediale ›Mängelbehebung‹ im Sinne Bolters und Grusins denn vielmehr einen Verlust von eminenter Tragweite erkennt. Dass er hierbei, wie in den meisten anderen Passagen in Die helle Kammer auch, konsequent wahrnehmungspsycholo-
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Vgl. hierzu auch Joachim Paech: »Intermedialität«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1998, S. 447-475, hier S. 456f.; Ralf Schnell: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart, Weimar 2000, S. 41-47; Jochen Hörisch: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt/ Main 2004, S. 296-299. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1985, S. 11. Ebd., S. 83. Ebd., S. 53. Ebd., S. 45. Ebd., S. 95. Ebd. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/ Main 1985, passim. Ebd., S. 88. Ebd., S. 11.
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gisch und aus Sicht des spectator argumentiert, verdeutlicht der folgende Auszug: »[Z]war gibt es im Film ohne Zweifel immer einen photographischen Referenten, doch dieser Referent ist gleitend, er erhebt keinen Anspruch auf seine Wirklichkeit, beruft sich nicht auf seine einstige Existenz; er hakt sich nicht an mir fest: er ist kein Gespenst. Wie die reale Welt wird auch die filmische Welt von der Annahme gestützt, daß die Erfahrung beständig im selben konstitutiven Stil fortlaufen wird; die PHOTOGRAPHIE hingegen sprengt den ›konstitutiven Stil‹ (darin liegt ihre Erstaunlichkeit); sie ist ohne Zukunft (darin liegt ihr Pathos, ihre Melancholie); sie besitzt nicht den geringsten Drang nach vorn, indes der Film weiterstrebt und somit nichts Melancholisches hat (was aber ist er letztendlich? – Nun, 15 er ist ganz einfach ›normal‹ wie das Leben auch) [alle Herv. i. O.].«
Was hier noch vergleichsweise vage anklingt, die ›wesensmäßige‹ Verbindung der die Zeit stilllegenden Fotografie mit dem Tod (in Kontrast zur Verbindung des Films mit dem Leben), wird von Barthes etwas später in unmissverständlicher Direktheit profiliert. So weist er Fotos als Hinterlassenschaften einer verlorenen, gleichsam in den Aorist verlegten Präsenz aus und beschreibt ihre Produzenten folgerichtig als »Agenten des TODES«.16 Als solche haben sie sich einer Form des Bildes verschrieben, dessen grundsätzlich paradoxe Natur ihren Ausdruck darin findet, dass das Foto kontraintentional »den TOD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will«17 – ein Gedanke, an den vor allem Philippe Dubois anknüpft, dem wir ohne Frage die bislang überzeugendste Deutung der Fotografie als Thanatografie verdanken. Ihr zufolge führt »[d]er Akt des Fotografierens […] durch den Schnitt auf die andere Seite: Von einer sich entfaltenden Zeit zu einer erstarrten Zeit, vom Augenblick zur Perpetuierung, von der Bewegung zur Immobilität, von der Welt der Lebenden in das Reich der Toten, vom Licht in die Finsternis, vom Fleisch zum Stein.«18 Angesichts der Wortwahl überrascht es nicht, dass Dubois eine der zentralen mythischen Präfigurationen der Fotografie in Medusa, der Wächterin des Eingangs zur Unterwelt, ausmacht, deren petrifizierender Blick seine mediale Entsprechung im Betätigen des Auslösers findet, durch welches es zu einem radikalen Abreißen der Kontinuität kommt bzw. durch welches das jeweilige Zeit- und Raumfragment aus dem, was Kracauer den Fluss des Lebens nennt, gewaltsam herausgeschnitten wird, um für immer seinen Platz in dem der Achronie des Todes überantworteten Jenseits des fotografischen Bildes zu finden.19
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R. Barthes: Die helle Kammer, S. 100. Ebd., S. 102. Ebd., S. 103. Philippe Dubois: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998, S. 164. 19 Vgl. P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 145-154, S. 164f. Im Gegensatz zu Dubois’ Medusa-Lesart steht jene von Georges Didi-Huberman, der – und mutatis mutandis argumentiert Kracauer mit Bezug auf den Film (vgl. S. Kracauer: Theorie des Films, S. 395f.) – die Fotografie nicht durch die Gorgo, sondern durch das zentrale Dispositiv ihrer Vernichtung, Perseus’ Schild,
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Dass hierbei eine eklatante Differenz zum Film besteht, bleibt bei Dubois unerwähnt, wird dafür aber umso deutlicher von Christian Metz in seinem extensiv auf Dubois rekurrierenden Aufsatz Foto, Fetisch herausgestellt, in welchem der Filmwissenschaftler Immobilität und Stille als jene Merkmale ausweist, die der Fotografie eine ›todesaffine‹ Anmutung verleihen. »[I]n ihrer äußeren Erscheinung [sind] alle Spuren des Lebens gelöscht«,20 so Metz, demzufolge das Medium zu seinem thanatografischen Selbst insbesondere im Schnappschuss findet, der »[w]ie der Tod […] eine Entführung, eine Grenzüberschreitung« darstellt, »die das Objekt der alltäglichen Welt entreißt, um es in eine andere Welt und in eine andere Art von Zeit zu versetzen«.21 Ganz anders dagegen der Film: Er »[fügt] das Objekt, nachdem er sich seiner bemächtigt hat, wieder in das Abrollen eines Ganzen ein und [evoziert] auf diese Weise um so stärker jenes des Lebens.«22 Der Bildfluss, der uns nicht mehr erkennen lässt, woraus er besteht – nämlich aus Fotografien –, führt demnach zu einer Tilgung ihrer mortifizierenden Kraft.23 Ja, er kann geradezu vivifikatorische Qualitäten entfalten, etwa wenn er verstorbene Angehörige zeigt, welchen er »eine Lebensähnlichkeit zurück[erstattet], die zwar schwankend, schattenhaft und vergänglich ist, zugleich aber durch das Begehren des liebenden Zuschauers und durch sein unabweisbares Verlangen nach Befriedigung verstärkt wird«.24 Selbiges vermag die Fotografie nicht. Unbewegt und still operiert sie gleichsam am entgegengesetzten Ende und würdigt »die Toten als Tote [Herv. i. O.]«.25 Fassen wir die Positionen von Barthes, Dubois und Metz zusammen, so ergibt sich hinsichtlich des Verhältnisses von Fotografie und Film folgendes Bild: Die Remediatisierung ersterer, d.h. ihre Erweiterung zum Film, bedeutet mitnichten ihre bloße Fortsetzung unter leicht modifizierten Vorzeichen.
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präfiguriert sieht; vgl. Georges Didi-Huberman: Bilder trotz allem, München 2007, S. 249-253. Christian Metz: »Foto, Fetisch (1985)«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt/Main 2003, S. 215-225, hier S. 220f. Ebd., S. 219. Ebd. Vgl. hierzu auch Garrett Stewart: »[T]he relation of photography as static image to film is not a perceptible one at all, but is rather masked by rapidity, ›screened‹ so to speak by the film’s own temporal dimension. Therefore, the ›death work‹ of photography stays in the main hidden, glimpsed only in local ruptures of a film’s duration.« (Garrett Stewart: »Photo-gravure. Death, Photography and Film Narrative«, in: Wide Angle 1 (1987), S. 11-31, hier S. 13) C. Metz: Foto, Fetisch, S. 220. Ebd. Es liegt auf der Hand, dass dies nicht für jene ›bewegte‹ Spielart der Fotografie gilt, die in der Magierwelt von Joanne K. Rowlings Harry PotterUniversum zum Einsatz kommt. Schließlich handelt es sich bei ihr letztlich um nichts anderes als um Film, was zur Folge hat, dass sie in jener Szene aus HARRY POTTER AND THE SORCERER’S STONE (C. Columbus, USA/GB 2001), in welcher der Titelheld im ›Fotoalbum‹ seiner ermordeten Eltern eine Aufnahme derselben betrachtet, aufs Eindringlichste bestätigt, was Metz über die filmische Vivifikationskraft behauptet.
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Vielmehr stellt sie einen radikalen Schnitt dar, der nichts weniger als einen Abschied vom Tod bzw. einen Eintritt ins Leben markiert. Auf eine prägnante Formel gebracht: Die Bilder lernen laufen und damit leben. Blickt der Film, indem er Fotos abbildet, auf seine mediale Vorgängerin und damit seine Vorgeschichte zurück,26 so lässt er uns demnach stets auch jenen Tod sehen, dem er entkam bzw. von dem er sich im wörtlichen Sinne fortbewegte – ein Aspekt, den wir, zumindest indirekt, auch in Kracauers Theorie des Films herausgestellt finden, und zwar in jener Passage, in welcher der Autor auf die Strandepisode aus MENSCHEN AM SONNTAG (K. Siodmak/R. Siodmak/E. G. Ulmer/F. Zinnemann, D 1930) bzw. auf die in diese Episode hineinmontierten Fotos von Badenden zu sprechen kommt. »[D]iese Bilder«, so Kracauer, »entreißen dem Fluß der Bewegung genau diejenigen Körperhaltungen, die grotesk und in gewissem Sinne unnatürlich wirken. Der Gegensatz zwischen den sich tummelnden Körpern und den Posen, die sie auf den eingeschnittenen Standfotos einnehmen, könnte nicht stärker sein. Beim Anblick dieser starren und lächerlichen Posen kann der Zuschauer nicht umhin, Reglosigkeit mit Leblo27 sigkeit und demgemäß Leben mit Bewegung zu identifizieren.«
Susan Sontag, die Kracauers Ausführungen zu MENSCHEN AM SONNTAG gekannt haben dürfte, deutet diese Standfotos ganz im Sinne des Deutschen und attestiert ihnen eine Schockwirkung, da sie »[v]on einem Moment zum andern […] Gegenwart in Vergangenheit, Leben in Tod [verwandeln]«.28 Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass wir bei Sontag die vielzitierte Charakterisierung der Fotografie als einer durch und durch »elegische[n] Kunst«29 finden, welche uns, indem sie die Zeit arretiert, deren unerbittliches Verfließen nur umso schmerzhafter spüren lässt – eine Charakterisierung, die sich nahtlos mit den vorangehenden Überlegungen verbindet und mit der meine tour d’horizon durch die zentralen fototheoretischen Positionen zur Foto-Film-Relation ihren Abschluss finden soll. Überprüfen wir nun, ob – und wenn ja, wie – der Film mit ihnen umgeht und fragen wir, was er uns über die Fotografie zu sagen hat, insbesondere dann, wenn es in ihm um ›Leben und Tod‹ geht. Wir begeben uns hierzu auf drei Streifzüge: Der erste wird fotografische Vivifikationen, der zweite fotografische Moralitäten und der dritte schließlich fotografische Versehrungen in den Fokus rücken.
26 Vgl. hierzu auch Volker Pantenburg: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006, S. 189. 27 S. Kracauer: Theorie des Films, S. 75. 28 Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt/Main 1999, S. 72. Man versteht vor diesem Hintergrund, warum Chris Markers Fotofilm LA JETÉE (F 1962) Sontag als »eine[r] der beunruhigendsten Filme, die jemals gedreht wurden«, gilt (ebd.). Zu Markers Fotofilmen vgl. auch Jan-Christopher Horak: »Die Jagd nach den Bildern. Fotofilme von Chris Marker«, in: Birgit Kämper/Thomas Tode (Hg.), Chris Marker. Filmessayist, München 1997, S. 73-86. 29 S. Sontag: Über Fotografie, S. 21.
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Fotografische Vivifikationen »I shoot the dead.« Harlen Maguire, der von Jude Law gespielte Charakter aus dem zu Beginn der 1930er Jahre spielenden Mafiafilm ROAD TO PERDITION (S. Mendes, USA 2002), beschreibt sein professionelles Tun durchaus treffend. Denn er ist ein Pressefotograf, der sich auf das Aufnehmen von Leichen, genauer: von Mordopfern, kapriziert hat – wie Arthur Fellig, genannt Weegee, der legendäre crime and news photographer, der zwischen 1935 und 1945 für die New Yorker tabloids auf Bildsuche ging und in mancherlei Hinsicht als realweltliches Vorbild Maguires durchgehen könnte.30 Bekanntermaßen verdiente auch Weegee sein Geld vor allem damit, dass er Fotos von Ermordeten machte, unter anderem jenes berühmt gewordene Foto mit dem Titel Murder in Hell’s Kitchen (vgl. Abb. 1), dessen selbstreflexive Qualität – man beachte den im Bildvordergrund liegenden Revolver, der genau auf die Leiche zielt, und zwar annähernd aus der Richtung, aus der der Fotograf sein Bild machte – sich dem Betrachter sogleich aufdrängt: Fotografie und Mordinstrument werden aufs Engste aufeinander bezogen und der fototheoretisch Bewanderte wird kaum umhin können, an Barthes und Sontag zu denken, denen der Fotograf als Agent des Todes bzw. das Fotografieren eines Menschen als »sublimierter Mord«31 gilt. Weegee spielte mit derlei Gleichsetzungen überaus bewusst und ausgesprochen oft – sei es, dass er seine erste Soloausstellung plakativ-zweideutig Murder Is My Business nannte, sei es, dass er einen Scheck über 35 Dollar abfotografierte, den er vom Life-Magazin als Gegenleistung für – so heißt es denkbar knapp und ambivalent – »two murders«32 erhalten hatte, oder sei es, dass er sich zu self promotion-Zwecken mit schussbereiter Kamera auf dem Fenstersims eines Waffengeschäfts ablichten ließ, über dessen Eingang ein riesiger Revolver drapiert war.
Abb. 1: Weegee oder: Die Fotografie als Waffe
30 In Howard Franklins Neo-Noir-Film THE PUBLIC EYE (USA 1992) ist der Fall klar: Sein Protagonist wurde eindeutig Weegee nachempfunden. 31 S. Sontag: Über Fotografie, S. 20. 32 Weegee: Naked City, New York 1945, S. 78.
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Bei Maguire freilich wird aus dem Spiel Ernst, denn er ist Leichenfotograf und Auftragskiller in Personalunion, wobei er beide Professionen höchst ökonomisch miteinander zu verzahnen weiß: Maguire schafft sich sein Sujet immer wieder selbst. Erst erfolgt der Schuss mit der Waffe, dann der mit der Kamera – zwei Tötungsakte, so könnte man meinen. Dem ist aber nicht so. Vielmehr büßt die auf den realen Mord aufsetzende Fotografie ihre thanatografische Qualität komplett ein, ja, sie nimmt den konkreten tödlichen Schuss im Bild in gewisser Weise zurück und entfaltet geradezu vivifikatorische Kraft. Sehen wir uns hierzu eine der Aufnahmen Maguires an, die dieser in seiner Wohnung aufgehängt hat (vgl. Abb. 2). Sie zeigt einen Mann, der in einem Treppenhaus liegt. Dass er tot ist, wissen wir, weil wir Maguire und sein Tun kennen, nicht aber, weil wir es auf dem Foto sehen können. Hierzu sind wir außerstande, da in der ›eingefrorenen‹ und ›toten‹ Welt des Fotos zumindest eines ganz sicher nicht festgehalten werden kann, so dass es identifizierbar bleibt: der ›bewegungslose‹ Tod selbst. Denn, wie Torsten Scheid treffend schreibt, die »im Tod erstarrte Bewegung nimmt ihr fotografisches Abbild gleichsam vorweg, d.h. die Transformation, die das Fotobild der Wirklichkeit zufügt, hat sich bereits im Voraus und im fotografischen Objekt selbst vollzogen«,33 so dass die Differenz von Tod und Leben aufgehoben wird. Entsprechend eröffnet uns die Aufnahme Maguires unzählige andere Lesarten als die zutreffende, darunter solche, die dem Ermordeten, indem sie ihn etwa als einen seinen Rausch ausschlafenden Betrunkenen deuten, das Leben zurückgeben, welches ihm der Killer zuvor nahm.34 Ebendies läge außerhalb der Reichweite eines jeden Films. Schließlich würde dieser offenbaren, dass der Mann nicht mehr atmet, sich sein Brustkorb nicht mehr hebt und senkt. Mit anderen Worten: Die Toten als Tote zu würdigen, dies könnte im vorliegenden Fall allein der Film und nicht, wie Metz glaubt, die Fotografie.
Abb. 2: ROAD TO PERDITION – Der Tod entzieht sich dem fotografischen Blick 33 Torsten Scheid: Fotografie als Metapher – Zur Konzeption des Fotografischen im Film. Ein intermedialer Beitrag zur kulturellen Biografie der Fotografie, Hildesheim u.a. 2005, S. 90. 34 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Weegee geradezu Ehrgeiz entwickelte, auf seinen Fotos Ermordete wie Schlafende, Schlafende indessen wie Ermordete aussehen zu lassen; vgl. hierzu Weegee: Weegee by Weegee. An Autobiography, New York 1961, S. 45; Jörn Glasenapp: »Der große Schlaf: FotoSchrift-Beziehungen bei Weegee«, in: Fotogeschichte 108 (2008), S. 19-28.
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Was in ROAD TO PERDITION nur gleichsam an der Handlungsperipherie aufscheint, rückt in einem anderen Film ins Zentrum, und zwar in UNDER FIRE (R. Spottiswoode, USA 1983), einem Hollywood-Thriller, dessen Protagonist, der US-amerikanische Fotojournalist Russel Price (gespielt von Nick Nolte), im nicaraguanischen Bürgerkrieg die Kämpfe zwischen den Truppen der Somoza-Diktatur und den Sandinisten dokumentiert und hierbei zusehends sein Neutralitätsethos aufgibt, um schließlich – als Zeichen seiner moralisch-ethischen Reifung, die sich auch darin äußert, dass er das Elend und die Gräuel, die seine Bilder zeigen, nun auch als solche wahrzunehmen imstande ist – für die Rebellen Partei zu ergreifen. UNDER FIRE darf sicher als die vielseitigste, wahrscheinlich aber auch als die originellste und komplexeste filmische Reflexion über die Fotografie gelten, deren Janusköpfigkeit der Film konsequent herausarbeitet, indem er ihr thanatografisches ebenso wie ihr vivifikatorisches Potential profiliert und zeigt, dass sie Lebende zu töten, (während des Aufnahmeprozesses bereits) Tote indes zu verlebendigen vermag. Letzteres geschieht in der Schlüsselszene des Films, in der Price nach einigem Zögern auf den Wunsch der Rebellen eingeht, ihren kurz zuvor während der Kämpfe erschossenen Anführer Rafael fotografisch wiederauferstehen zu lassen (vgl. Abb. 3). Denn nur ein Beweis, dass er noch am Leben ist, vermag eine kriegsentscheidende US-Waffenlieferung an Somoza zu verhindern. »Der Auftrag an den Fotografen«, so Scheid in seiner glänzenden Interpretation des Films, »besteht darin, die Endgültigkeit des Todes in die Endgültigkeit des fotografischen Bildes zu übersetzen und dadurch zum Verschwinden zu bringen«,35 d.h. der tödliche Gewehrschuss, der Rafael traf, soll durch den fotografischen Schuss aufgehoben werden. Das Kalkül der Regimegegner geht auf: Die Lieferung an Somoza wird storniert, das Ende seiner Herrschaft damit eingeläutet.
Abb. 3: UNDER FIRE – Eine fotografische Wiederauferstehung
Dies freilich erleben zahlreiche Rebellen nicht mehr. Schuld ist Price, der sie während seines Aufenthaltes im Sandinisten-Camp fotografierte. Vom Protagonisten nebenbei und aus Freude an der pittoresken Lageridylle gemacht, entfalten die Aufnahmen eine tödliche Wirkung, da sie entgegen der Intention des Produzenten verwendet werden: Nachdem sie in die Hände der Militärjunta gefallen sind, dienen sie dieser als beweisfähige Identifikationsvehikel, 35 T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 90.
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um die Gegner des Regimes auszumachen. Was nun folgt, stellt gleichsam eine Inversion der Schlüsselszene des Films dar: Auf den Kameraschuss folgt der Gewehrschuss des Exekutionskommandos, der das mediale Mortifizieren bzw. die fotografische Tilgung des Lebens in die Realität hinein verlängert.36 Price, der sich zuvor als Regimegegner und fotografischer ›Agent des Lebens‹ betätigte, wird so unfreiwillig zum Handlanger Somozas und – hier übersetzt der Film die metaphorische Rede von der mortifizierenden Fotografie gleichsam ins Konkret-Buchstäbliche – zum fotografischen ›Agenten des Todes‹. Die Rehabilitation des Helden erfolgt am Schluss, als er den Mord an einem prominenten US-amerikanischen Fernsehberichterstatter mit der Kamera festhält. Mittels der hierbei entstandenen Fotoserie kann bewiesen werden, dass dieser nicht etwa, wie die Junta-Regierung behauptet, von Sandinisten, sondern von Soldaten des Regimes getötet wurde. Letztlich sind es die Bilder der Ermordung, die Somoza zur Flucht aus dem Land zwingen und zum Sieg der Rebellen führen.37 Bevor sie jedoch ihre weitreichende Wirkung entfalten können, müssen sie erst einmal die westlichen Pressevertreter erreichen, was Price überaus schwer gemacht wird. Einmal mehr gilt: Wer schießt, auf den wird geschossen, auch wenn in diesem Fall den Kameraschüssen mit Gewehrschüssen geantwortet wird.38
Fotografische Moralitäten Die meisten der uns im fiktionalen Film begegnenden Berufsfotografen sind – eher mehr denn weniger ausgeprägt – Einzelgänger: Dies gilt für Maguire, Price, L. B. Jeffries aus REAR WINDOW (A. Hitchcock, USA 1954), Thomas aus BLOW-UP (M. Antonioni, GB/I/USA 1966), den Fotografen aus CALEN36 Das Schicksal der exekutierten Rebellen erinnert somit an jenes der Aufständischen der Pariser Kommune von 1871, die sich auf den Barrikaden fotografieren ließen, was zur Folge hatte, dass man sie später identifizieren konnte und daraufhin standrechtlich erschoss; vgl. hierzu Gisèle Freund: Photographie und Gesellschaft, Reinbek 1997, S. 119. 37 Vgl. in diesem Zusammenhang nochmals die Ausführungen Scheids: »Die Fotografien vom Mord an dem amerikanischen Journalisten bringen die Wahrheit ans Licht, das Foto des toten Rebellenführers hingegen setzt eine Lüge in die Welt. Die Fotografien aber verhelfen in beiden Fällen der Gerechtigkeit zum Sieg. Die Aufnahmen stehen im Dienst der gleichen ›guten Sache‹, sind auf höherer Ebene der gleichen ›Wahrheit‹ verpflichtet. Damit wirft der Film die Frage nach der Wahrheit fotografischer Bilder jenseits ihrer Abbildungstreue auf.« (T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 95f.) 38 Der Film rekurriert hier implizit auf die am 29.07.1973 erfolgte Ermordung des argentinischen Kameramanns Leonardo Henrichsen. Dieser wurde als Zeuge des ersten, missglückten Militärputsches gegen Chiles Präsidenten Salvador Allende auf den Straßen Santiagos von Soldaten erschossen, während er sie filmte; vgl. hierzu auch Andreas Elter: »Tod eines Kameramannes – Fotografen und Kameraleute zwischen den Fronten«, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 450457.
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DAR (A. Egoyan, AR/CDN/D 1993) OF MADISON COUNTY (C. Eastwood,
sowie Robert Kincaid aus THE BRIDGES USA 1995), aber auch für Finn (gespielt von Campino), den Starfotografen aus PALERMO SHOOTING (W. Wenders, D/F/I 2008). Bei dem letztgenannten Film handelt es sich um eine prätentiöse und reichlich grob gezimmerte Moralität mit Thrillerzügen, die jedoch, wie schnell deutlich wird, im hier verhandelten Kontext einige Aufmerksamkeit verdient. Der Protagonist des Films fungiert als eine Art moderner Jedermann, der, konfrontiert mit keinem Geringeren als Gevatter Tod, erkennen muss, dass er bislang ein durch und durch hohles und unauthentisches Leben geführt hat. Hierzu passt nur zu gut, dass seine fotografische Einstellung, geht man vom Standpunkt Kracauers oder André Bazins aus, als zur Gänze ›unfotografisch‹ zu beschreiben ist, dass er das ›Wesen‹ des Mediums komplett verfehlt, wenn er als Modefotograf futuristische Sets im Stile Peter Lindberghs aufbauen lässt oder als digital arbeitender Kunstfotograf im Stile Andreas Gurskys synthetische Bildwelten am Computer erstellt bzw. von seinen Mitarbeitern erstellen lässt.39 Dass die Fotografie der, wie es bei Bazin heißt, »Enthüllung des Wirklichen«40 dienen könnte, kommt Finn nicht in den Sinn – stattdessen rät er einer seiner Studentinnen, ihre Aufnahme nachzubearbeiten, um ihr im Anschluss daran die Fotografie als das nahezulegen, was unter anderem Christoph Türcke in ihr erkennt: eine »Meisterin der Oberfläche«.41 Denn, so Finn, »die Dinge sind nur Oberfläche«. Wie verfehlt diese Position ist, muss der Protagonist auf seiner Sinnsuche in Palermo erfahren, wo er, verfolgt vom Sensenmann, durch die Straßen der Altstadt flaniert und unter anderem auf Letizia Battaglia trifft, die – sich selbst spielende – berühmte Fotografin von Mafia-Opfern, deren schwarzweiße corpse photographs stark an die Aufnahmen Weegees erinnern. Natürlich passen Battaglias Sujets bestens zu einem Film, der so penetrant und zugleich platt wie wohl kein anderer Fotografie und Vergänglichkeit aufeinander bezieht und zu guter Letzt nicht davor zurückschreckt, in einem jede Grenze zum Kitsch bequem überschreitenden Finale den Tod als veritablen Fototheoretiker mit augenscheinlich großem Mitteilungsbedürfnis auftreten zu lassen. Nur allzu offenkundig an Barthes und Sontag geschult,42 bringt dieser Finn die thanatografischen Qualitäten des Mediums nahe und erklärt: »Nicht, dass du mich falsch verstehst. Ich hab’ nichts gegen Fotografie. Nein, im Gegenteil. Diese Erfindung schätze ich sogar besonders. Sie zeigt den Charakter meiner Arbeit deutlicher als nur irgendwas.« Dass er von der Digitalität rein gar nichts hält, dass er in ihr vielmehr einen medialen Sündenfall erkennt, durch den das ›Eigentliche‹ verloren geht, versteht sich von selbst, und die Triftigkeit seiner Klage wird schließlich 39 Es sei angemerkt, dass der Protagonist in vielerlei Hinsicht bewusst nach dem Vorbild von Gursky modelliert wurde und dass Lindbergh im Film einen Cameo-Auftritt hat: als Statist bei Finns Modeshooting. 40 André Bazin: »Ontologie des photographischen Bildes (1945)«, in: Ders.: Was ist Film?, Berlin 2004, S. 33-42, hier S. 39. 41 Christoph Türcke: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, München 2002, S. 194. 42 Beide werden von Wim Wenders im Audiokommentar der DVD von PALERMO SHOOTING ausdrücklich als fototheoretische Referenzgrößen genannt.
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auch Finn klar, der sich durch seine Einsicht in die Substanzlosigkeit seines bisherigen Lebens als bereit für sein wichtigstes Fotoshooting erweist, bei dem ihm sein fototheoretischer Lehrmeister Modell steht. Mit anderen Worten: Während andere, wie etwa Battaglia, Weegee, Maguire und Price, Tote fotografieren, fotografiert Finn den personalisierten Tod selbst und zeigt nicht zuletzt dadurch, so die zutiefst didaktische Finalvolte des Films, dass er gelernt hat, was es heißt, ›wirklich‹ zu leben. Wim Wenders widmete PALERMO SHOOTING den während der Dreharbeiten verstorbenen Regielegenden Ingmar Bergman und Michelangelo Antonioni, was auch insofern als konsequent bezeichnet werden kann, als PALERMO SHOOTING als Amalgam aus Bergmans DET SJUNDE INSEGLET (S 1957) und Antonionis BLOW-UP, Finn hingegen geradezu als Wiedergänger von Thomas, dem durch David Bailey inspirierten Protagonisten aus Antonionis Filmklassiker, durchgehen kann. Seit jeher gilt letzterer Film als locus classicus – um nicht zu sagen: als ›heiliger Gral‹ – kinematografischer Fotoreflexion; eine Einschätzung, die sich zu guten Teilen der grundsätzlichen Qualität des Films sowie dem Renommee seines Regisseurs verdanken dürfte, genau genommen aber nur schwer haltbar ist. Denn so unerhört tiefgründig und subtil, wie immerzu behauptet wird,43 ist das Nachdenken über die Fotografie in BLOW-UP nicht. Bereits in William Henry Fox Talbots Mitte der 1840er Jahre veröffentlichtem Pencil of Nature können wir lesen, dass der Fotograf bei der Betrachtung seiner Aufnahmen nicht selten »entdeckt, daß er viele Dinge aufgezeichnet hat, die ihm zur Zeit der Aufnahme entgangen waren«,44 bereits hier wird also auf die partielle Unvorhersehbarkeit und den ikonografischen Überschuss als Spezifika des fotografischen Bildes hingewiesen, an die unter anderem auch Kracauer erinnert, wenn er von der »Befriedigung« spricht, »die uns das Studium von Vergrößerungen gewährt, in denen nacheinander Dinge auftauchen, die wir im Original nicht vermutet hätten – und vielleicht noch weniger in der Wirklichkeit.«45 In BLOW-UP nun, dessen Protagonist nach der Entwicklung und zunehmenden Vergrößerung einer im Park gemachten Aufnahmeserie allmählich erkennt, dass er nicht etwa das heimliche Tête-à-tête zweier Liebender, sondern – wie typisch für einen Fotoreflexionsfilm! – eine Mordtat dokumentiert hat, wird dieser von Dubois mit dem Begriff »Blow-up-Effekt«46 versehene Sachverhalt – man verzeihe mir den Kalauer – zur Sensation ›aufgeblasen‹. Freilich gewinnt der Vergrößerungsprozess einen gewissen Reiz dadurch, dass jede Vergrößerung nur um den Preis einer zunehmenden Vergröberung
43 Vgl. hier stellvertretend Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 326-330. 44 William Henry Fox Talbot: »Der Stift der Natur (1844)«, gekürzt abgedruckt in: Wolfgang Kemp (Hg.), Theorie der Fotografie. Bd. 1. 1839-1912, München 1999, S. 60-63, hier S. 63; vgl. hierzu auch Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009, S. 67f. 45 S. Kracauer: Theorie des Films, S. 48. 46 In Dubois’ Worten bezeichnet dieser »die Tatsache, daß das Entwickeln etwas anderes offenbart, als die Latenz uns glauben machte, etwas, was wir nicht gesehen hatten und was zwangsläufig da gewesen ist« (P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 171; vgl. auch ebd., S. 95).
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zu haben ist,47 was dazu führt, dass der Held am Ende mit einem für die Aufklärung des Verbrechens komplett unbrauchbaren Abzug dasteht, in dem der »aleatorische Pointillismus tief unterhalb des Motivs«,48 d.h. die Körnung, derart an Prominenz gewonnen hat, dass letzteres – der Körper des Ermordeten – unkenntlich geworden ist (vgl. Abb. 4). »Looks like one of Bill’s paintings«, spricht denn auch Patricia, die Frau von Thomas’ abstrakt-expressionistisch malendem Freund, aus, was dem Gros der Zuschauer auch ohne diesen Hinweis kaum entgangen wäre.
Abb. 4: BLOW-UP – Unterhalb des fotografischen Motivs
Durchaus konsequent ist es, dass die Verunsicherung bzw. epistemologische Krise, in die Thomas zusehends hineingerät – am Ende zweifelt er nicht nur an der Existenz der Leiche, sondern an seiner Wahrnehmungsfähigkeit generell –, fotografiegeneriert ist, also eben jenem Dispositiv geschuldet, dem der blasierte Protagonist, wie Wenders’ Finn, bislang seine – selbstredend trügerische – Sicherheit in der Welt verdankt und mittels dessen er seine Macht über andere, zumal Frauen, auszuspielen pflegt.49 Komplikationsfrei geschieht dies freilich allein in seiner eigenen Welt, seinem Atelier und Studio, welches Antonioni als einen Ort der entwirklichenden Transformation in Szene setzt – einen Ort, an dem Frauen, um Bild werden zu können, zuvor in Puppen verwandelt werden, mit denen der als Puppenspieler agierende, ausgeprägt misogyne Hausherr seine gern auch mal sadistischen Spielchen treibt, wobei ihm die Kamera – dies zeigt die berühmte Veruschka-Szene nur allzu deutlich (vgl. Abb. 5) – zuweilen als Penisersatz dient.50 47 Vgl. hierzu auch Stefan Iglhaut: »Bilder über Bilder: Wege von der abbildenden zur (re-)konstruierenden Fotografie«, in: Thomas Weski (Hg.), Konstruktion Zitat. Kollektive Bilder in der Fotografie, Bonn 1993, S. 29-41, hier S. 30; T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 48f. 48 P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 104. 49 Vgl. hierzu auch Peter Bondanella: Italian Cinema. From Neorealism to the Present, New York 1997, S. 222; T. Scheid: Fotografie als Metapher, S. 56f. 50 Vgl. hierzu auch die instruktiven Einlassungen Sontags: »In ›Blow-Up‹ […] zeigt Antonioni, wie der Modefotograf sich, konvulsivisch zuckend, mit einer Kamera über Veruschkas Körper beugt. Unanständig – zweifellos! Tatsächlich aber ist das Hantieren mit einer Kamera kein sonderlich geeignetes Mittel, sich jemandem sexuell zu nähern. Der Abstand zwischen dem Fotogra-
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Abb. 5: BLOW-UP – Die Fotografie als Penisersatz
Wagt sich Thomas fotografisch heraus, um dort als der visuell habgierige Bildräuber tätig zu werden, der er ist, so bekommt er allerdings schnell Probleme, sei es im Obdachlosenheim, in das er sich einschleicht, um Aufnahmen im klassisch fotohumanistischen Stil zu machen (die selbstredend so ganz und gar nicht zu seinem kalt und uninvolviert wirkenden Gemüt passen wollen), oder sei es im Park, wo er die geheimnisvolle Fremde mit ihrem vermeintlichen Liebhaber fotografisch einfängt, sich dadurch aber unbeabsichtigt noch etwas anderes einfängt: den Keim seines Kontrollverlustes. Es geht also poetisch gerecht zu und man merkt: Nicht nur Wenders, sondern auch der von ihm so sehr verehrte Antonioni kann zuweilen recht moralistisch sein.
Fotografische Versehrungen Die Selbstverständlichkeit, dass nicht nur diejenigen, die Fotos machen, sondern auch diejenigen, die sie konsumieren, Einzelgänger sein können, profiliert kein Film mit mehr Nachdruck als ONE HOUR PHOTO (M. Romanek, USA 2002), ein mit zahlreichen Thrillerelementen ausgestattetes Psychodrama, welches in erheblich stärkerem Maße als die oben behandelten Filme seine fotoreflexiven Ambitionen explizit macht (und dabei stellenweise etwas dozierend daherkommt). Als diesbezügliches Sprachrohr dient dem Film sein Protagonist, der von Robin Williams gespielte Fotolaborant Seymour »Sy« Parrish, der – nomen est omen (Seymour = see more, Parrish = perish) – in Fotos mehr sieht als andere und dafür schließlich seine Negativ-Quittung erhält. Dass er einiges von der Fotografie versteht, lässt er uns von Anfang an wissen, etwa wenn er daran erinnert, dass wir auf Familienfotos stets Bilderbuchfamilien zu sehen bekommen. »Family photos«, so führt er aus,
fen und seinem Modell muß eingehalten werden. Die Kamera kann weder vergewaltigen noch in Besitz nehmen. Sie kann anzüglich sein, zudringlich werden, sich unbefugt Zutritt verschaffen, verzerrt darstellen, ausbeuten und, im weitesten Sinne des Wortes, morden – aber all dies sind Handlungen, die, anders als der Geschlechtsakt, aus der Entfernung und auch mit einer gewissen inneren Distanz ausgeübt werden können.« (S. Sontag: Über Fotografie, S. 19)
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»depict smiling faces. Births, weddings, holidays, children’s birthday parties. People take pictures of the happy moments in their lives. Someone looking through our photo album would conclude that we had led a joyous, leisurely existence free of tragedy. No one ever takes a photograph of something they want to forget.«
Ganz besonders dürfte er hierbei an die Aufnahmen der Yorkins denken, jener Familie also, die den Fluchtpunkt all seines Sehnens und Begehrens bildet und in die er, der notorisch Einsame und Übersehene, als gern gesehener »Onkel Sy« aufgenommen werden möchte. Ihre durch und durch konventionellen fotografischen Aktivitäten, deren Ergebnisse sich Seymour durch heimliches Kopieren beschafft, um sie zu Hause zu einer stetig wachsenden Wandtapete uneingeschränkten familiären Glücks zusammenzusetzen, belegen in mustergültiger Weise, was wir bei Sontag und Pierre Bourdieu zur integrativen Funktion von Familienfotos ausgeführt finden, nämlich, dass diese dem familiären Verband immer wieder aufs Neue seine Zusammengehörigkeit bestätigen – und zwar auch und vor allem dann, wenn jene ihre Selbstverständlichkeit verloren hat.51 Und ebendies ist bei den Yorkins der Fall: Heftige Streitigkeiten zwischen den Eheleuten sind an der Tagesordnung, der Mann hat eine Affäre, die Frau übertüncht ihren Frust beim ständigen Shoppen. Doch noch scheint nicht alles verloren zu sein, denn noch fotografieren sie – freilich nicht, um der Außenwelt ihr Glücklichsein vor Augen zu führen, sondern in einem aufs Familieninnere abzielenden, gleichsam apotropäischen Sinne, d.h. die Fotografie dient ihnen, wie Stefanie Diekmann treffend schreibt, »als eine Art Abwehrzauber«,52 um der familiären Desintegration entgegenzutreten. Seymour freilich bemerkt dies zunächst nicht. Er, der es von Berufs wegen eigentlich besser wissen sollte, ist den Aufnahmen der Yorkins und dem von ihnen ausgehenden Glücksversprechen verfallen, ist zum Bildjunkie geworden, der nicht genug bekommen kann von der fotografischen Kost, die ihn nun schon seit Jahren durch die – von Romanek mit reichlich grobem Strich gemalte – Tristesse seines isolierten Daseins trägt. Denn der Held taucht ein in die Bilder und erweitert imaginativ ihren Radius, um selbst in ihnen Platz zu finden, was der Film zuweilen sehr eindringlich deutlich werden lässt, etwa in jener Szene, in der Seymour in seiner Mittagspause ein Weihnachtsfoto der Yorkins betrachtet bzw. sich buchstäblich in diesem versenkt (vgl. Abb. 6 & 7). Die Kamera fährt, der Invasivität seiner Phantasie gemäß, an das Bild heran, bis es den gesamten Frame ausfüllt, wobei diese Bewegung von einer Vivifizierung der Aufnahme flankiert wird, die sich darin äußert, dass im Hintergrund der Schnee zu fallen beginnt und die Lichter des Weihnachtsbaums blinken. Auf die bildinterne Bewegung folgt die der 51 Vgl. Pierre Bourdieu: »Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede«, in: Ders. u.a. (Hg.), Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt/Main 1981, S. 25-84, hier S. 31; S. Sontag: Über Fotografie, S. 14f.; Stefanie Diekmann: »Postfotografie – Mark Romanek, ›One Hour Photo‹«, in: Nach dem Film 8 (2005), o.S., online: http://www.nachdemfilm.de/no8/die01dts.html [letzter Zugriff am 19.11.2009]; B. Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, S. 331f. 52 S. Diekmann: Postfotografie, o.S.
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Kamera. Sie schwenkt nach rechts, an einem heimelig brennenden Kamin vorbei, bis »Onkel Sy« in den Blick gerät, der reich beschenkt und mit Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf in die Kamera strahlt – ein ohne Frage bemerkenswerter filmischer Kunstgriff, der das ›Mehr-Sehen‹ Seymours und zugleich die unter anderem von Dubois betonte Differenz von filmischem und fotografischem Off prägnant herausstellt.53 Letzteres ist absolut, d.h. das durch den fotografischen Akt Exkludierte kann auf keinen Statuswandel hoffen, kann niemals ›ins Bild‹ treten, was beim filmischen, stets ›aktivierbaren‹ Off natürlich möglich ist. Der fotografische Bann, der Seymour trifft – »Dich haben wir nicht fotografiert, Du bist keiner von uns!« –, wird von diesem also imaginativ ›kinematografisiert‹ und dadurch zurückgenommen. Und siehe da: Der psychoparasitäre Protagonist gehört plötzlich mit dazu.54
Abb. 6 & 7: ONE HOUR PHOTO – Imaginative ›Kinematografisierung‹
Freilich wird der bildgenerierte Tagtraum schon bald schroff unterbrochen, und zwar vom Chef des Protagonisten, der diesen aufgrund seines Bilderdiebstahls entlässt und ihm somit den Bildhahn abdreht, worauf Seymour, auf dessen Stirn wir bereits von Anfang an die Worte ›Endstation: Amokläufer‹ tätowiert wähnen, außer Kontrolle gerät, zumal er wenig später etwas erkennen muss, worüber sich – sehr zu seinem Entsetzen – Mrs. Yorkin nicht halb so sehr echauffiert wie er selbst: nämlich, dass Mr. Yorkin fremdgeht. Den entscheidenden Hinweis hierauf findet er auf einem Foto, das Teil seiner Wandtapete ist und dem er sich – wie Antonionis Thomas den im Park gemachten Aufnahmen – mit einer Lupe nähert, um mehr zu sehen: to see more. Von nun an nimmt die Katastrophe, deren Ausmaße sich insgesamt freilich in recht eng gesteckten Grenzen halten, unaufhaltsam ihren Lauf. Der Protagonist verlässt seine Zuschauerposition, um sich schon bald als fotografisch bewehrter Racheengel zu gerieren, der den untreuen Familienvater und dessen Geliebte mit einem phallisch aufragenden Messer zwingt, Sexszenen für die Kamera nachzustellen. 53 Vgl. P. Dubois: Der fotografische Akt, S. 174ff. 54 An anderer Stelle unternimmt Seymour den Versuch, sich rein fotografisch in die Familie (bzw. ihr Fotoalbum) hineinzudrängeln, indem er die letzte, noch nicht verknipste Aufnahme eines Filmes der Yorkins für ein Selbstporträt nutzt. Freilich scheitert er, wird ihm der Einlass in den familiären Verbund, sei er auch nur symbolisch, nicht gewährt: Beim gemeinsamen Betrachten der Aufnahmen wird sein Bild sogleich aussortiert; vgl. hierzu auch S. Diekmann: Postfotografie.
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Dass ihn sein eigener Vater als Kind offenbar für pornographische Fotosessions missbrauchte (und es im Racheakt somit gleichsam zu einer nachträglichen Identifizierung mit dem einstigen Aggressor kommt55), erfahren wir am Ende. Nun erst erkennen wir die Unscheinbarkeit Seymours, seine Verschmelzung mit der kalt-sterilen Umgebung des Megastores, als das, was sie in ihrem Kern ist: das Symptom einer lange zurückliegenden, indes nie überwundenen fotografischen Traumatisierung bzw. die unbewusste Abwehrstrategie eines Menschen, sich dem transgressiven Blick (der Kamera), welcher ihn als Kind versehrte, mit aller Konsequenz zu entziehen.
Schluss Der Film rückt sein wichtigstes Prä-Medium, die Fotografie, mit großer Regelmäßigkeit prominent ins Bild und er tut dies nicht selten mit medienreflexivem Ehrgeiz. Man sollte denken, dass er hierbei die unter anderem am Anfang von Barthes’ Die helle Kammer stehende Frage, was die Fotografie »an sich« sei,56 höchst unterschiedlich beantwortet. Dem ist aber nicht so. Stattdessen dominiert, wie mir scheint, eine einigermaßen monolithische Sichtweise: Die Fotografie, die immerhin manchem nicht ohne Grund als »Ikone des Realen« gilt,57 ist genau dies eben nicht. Vielmehr handelt es sich bei ihr um ein höchst tückisches Dispositiv, da von ihm die Gefahr des Realitätsverlusts nachgerade ›wesensmäßig‹ ausgeht. Sich dieser Gefahr bewusst zu werden und sich ihr zu stellen, um sie zu bannen und dadurch – um es pathetischpompös und mit Sontag zu sagen58 – aus Platons Höhle herauszutreten, stellt denn auch eine der Hauptaufgaben derjenigen dar, die, wie Spottiswoodes Price, Wenders’ Finn, Antonionis Thomas oder Romaneks Seymour, mit der Fotografie zu tun haben. Man liegt sicherlich nicht falsch mit der Vermutung, dass es dieser verdachtsbesetzte Blick auf das Medium ist, dem die Filme ihren mal weniger, mal mehr ausgeprägten Hang zum Moralisieren verdanken.
Literatur Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/Main 1985. Bazin, André: »Ontologie des photographischen Bildes (1945)«, in: Ders.: Was ist Film?, Berlin 2004, S. 33-42. Berg, Ronald: Die Ikone des Realen – Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Massachusetts 1999. 55 Vgl. hierzu Anna Freud: »Das Ich und die Abwehrmechanismen (1936)«, in: Dies.: Schriften. Band 1. 1922-1936, München 1980, S. 191-355, hier S. 293-304. 56 Vgl. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 11. 57 Vgl. hierzu Ronald Berg: Die Ikone des Realen – Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes, München 2001. 58 Vgl. S. Sontag: Über Fotografie, S. 9, S. 171f.
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Bondanella, Peter: Italian Cinema. From Neorealism to the Present, New York 1997. Bourdieu, Pierre: »Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede«, in: Ders. u.a. (Hg.), Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie, Frankfurt/Main 1981, S. 25-84. Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem, München 2007. Diekmann, Stefanie: »Postfotografie – Mark Romanek, ›One Hour Photo‹«, in: Nach dem Film 8 (2005), o.S., online: http://www.nachdemfilm.de/ no8/die01dts.html [letzter Zugriff am 19.11.2009]. Dubois, Philippe: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv, Amsterdam, Dresden 1998. Elter, Andreas: »Tod eines Kameramannes – Fotografen und Kameraleute zwischen den Fronten«, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder. 1949 bis heute, Göttingen 2008, S. 450-457. Freud, Anna: »Das Ich und die Abwehrmechanismen (1936)«, in: Dies.: Schriften. Band 1. 1922-1936, München 1980, S. 191-355. Freund, Gisèle: Photographie und Gesellschaft, Reinbek 1997. Geimer, Peter: Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 2009. Glasenapp, Jörn: »Der große Schlaf: Foto-Schrift-Beziehungen bei Weegee«, in: Fotogeschichte 108 (2008), S. 19-28. Horak, Jan-Christopher: »Die Jagd nach den Bildern. Fotofilme von Chris Marker«, in: Birgit Kämper/Thomas Tode (Hg.), Chris Marker. Filmessayist, München 1997, S. 73-86. Hörisch, Jochen: Eine Geschichte der Medien. Vom Urknall zum Internet, Frankfurt/Main 2004. Iglhaut, Stefan: »Bilder über Bilder: Wege von der abbildenden zur (re-)konstruierenden Fotografie«, in: Thomas Weski (Hg.), Konstruktion Zitat. Kollektive Bilder in der Fotografie, Bonn 1993, S. 29-41. Kittler, Friedrich: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/Main 1985. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel 1995. Metz, Christian: »Foto, Fetisch (1985)«, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt/ Main 2003, S. 215-225. Paech, Joachim: »Intermedialität«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 1998, S. 447-475. Pantenburg, Volker: Film als Theorie. Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard, Bielefeld 2006. Scheid, Torsten: Fotografie als Metapher – Zur Konzeption des Fotografischen im Film. Ein intermedialer Beitrag zur kulturellen Biografie der Fotografie, Hildesheim u.a. 2005. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart, Weimar 2000. Sontag, Susan: Über Fotografie, Frankfurt/Main 1999. Stewart, Garrett: »Photo-gravure. Death, Photography and Film Narrative«, in: Wide Angle 1 (1987), S. 11-31. Stiegler, Bernd: Theoriegeschichte der Photographie, München 2006.
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Nahsicht und Fernblick. Fernsehen im Film LISA GOTTO
»Wenn das Ferne zu nahe tritt, entfernt oder verwischt sich das Nahe.« (Günther Anders)
Was weiß der Film über das Fernsehen? Zunächst einmal weiß er, dass es das Fernsehen gibt.1 Er kann überdies zeigen, was es ist und wie es funktioniert. Und er kann darüber nachdenken, was das für ihn selbst bedeutet. Mit diesem Nachdenken hat er, fallweise eher als die Theorie, schon früh begonnen.2 Der Film entwickelt eine Vorstellung vom Fernsehen – und bleibt dabei selbst nicht außen vor. Er reflektiert das Fernsehen in und über seine Bilder und produziert so ein spezifisch filmisches Fernsehwissen. Dieses Wissen dient dabei auch immer der Herausstellung seiner eigenen medialen Verfasstheit. Dabei scheint eines klar zu sein: Das Fernsehen ist ein Nahmedium, der Film ein Fernmedium. Das Fernsehen, so stellt der Film heraus, braucht und fordert Nähe: Es kommt dem Menschen entgegen, es rückt ihm auf den Leib, es strahlt auf ihn aus. Weiterhin ist das Prinzip der Nähe auch in seine Bilder eingelassen, die durch ein Neben- und Ineinanderfließen gekennzeichnet sind. Demgegenüber wahrt der Film Distanz: Ihm geht es um Unverrückbares, um die Unterscheidung von Innen und Außen, um die Trennung von Bildern über die planvoll arrangierte Montage, um Anfang und Ende. Der Blick, den der Film auf das Fernsehen wirft, ist tendenziell bitter: Er zeigt es als eine Vernichtungsmaschine, deren größte Gefahr in der Unterminierung der Differenz besteht. Diese Sorge scheint berechtigt, muss der Film doch befürchten, dass das Fernsehen auch ihm selbst bedrohlich nah kommen kann. Denn wann immer das Fernsehen einen Film zeigt, macht es ihn zu einem Teil seiner selbst: Es zergliedert ihn, es verformt ihn, es rückt ihn in die Nähe seines Bildumlaufs. Das Fernsehen verschlingt und verdaut den Film – und lässt nichts anderes als ein unappetitliches Ausscheidungsprodukt zurück. Der Film bemüht sich daher sehr deutlich um Abgrenzung. Er zeigt, was das
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Während sich die Theorie da bisweilen nicht so sicher ist; vgl. Stefan Münker: »Es gibt das Fernsehen nicht. Meditation über ein verschwindendes Medium«, in: Figurationen 2 (2007), S. 97-103. Beispielsweise in HIGH TREASON (M. Elvey, GB 1929), THE VAGABOND QUEEN (G. von Bolváry, GB 1929), MURDER BY TELEVISION (C. Sanforth, USA 1935), TRAPPED BY TELEVISION (D. Lord, USA 1936), TELEVISION TALENT (R. Edmunds, GB 1937) oder TELEVISION SPY (E. Dmytryk, USA 1939).
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Fernsehen kann, um umso deutlicher herauszustellen, was es nicht kann. Was der Film dem Fernsehen also abgewinnen kann, das ist die Versicherung seines eigenen Wesens – kein kleiner Gewinn.
Herein/Heraus Fernsehen und Film bilden und besetzen unterschiedliche Räume. Ihre dispositiven Anordnungen bedingen je spezifische Raum- und damit auch Rezeptionsverhältnisse. Für die Verortung des Fernsehens, das zeigt der Film deutlich, ist die Situierung im häuslichen Bereich entscheidend. Das Fernsehen hat Einzug ins Heim gehalten, wo es dem Zuschauer viel näher kommt als es das Kino je könnte. Der Film macht darauf aufmerksam, wenn er die Fernsehrezeption an intime Orte wie das Bade- oder Schlafzimmer verlagert: So verfolgt in THE TRUMAN SHOW (P. Weir, USA 1998) ein Zuschauer das Fernsehprogramm von der Badewanne aus,3 so wirbt der TV-Sender in VIDEODROME (D. Cronenberg, USA/CDN 1983) mit dem Slogan »Civic TV: The One You Take to Bed With You«.4 Während das Kino einen eigenen Ort gesucht und gefunden hat, ist das Fernsehen in einen bereits bestehenden eingetreten: »Im einen Fall – im Raum des Kinos – halten wir uns ausschließlich in einem Klangbildraum auf, im anderen Fall – beim Fernsehen – ist dieser eine Modifikation eines ganz anderen, eines Lebensraums, in dem wir uns befinden [Herv. i. O.].«5 Diese Modifikation ist umfassend. Das Fernsehen dringt in seine Umgebung ein, es verändert sie und gestaltet sie um: »Weil das am besten gelingt, wenn die Präsenz des Fernsehens zur alltäglichen Anordnung, zum Ritual des Alltags wird, tendiert der Wohnraum dazu, Fernsehraum zu werden«6 – und umgekehrt. Die Räume greifen ineinander, sie durchdringen sich wechselseitig. Es kommt zu einer »Einfaltung«7 der einen Sphäre in die andere, so dass eine klare Trennung beider nicht mehr auszumachen ist. Häufig verweist der Film auf diese Durchdringung, wenn er das Fernsehen als selbstverständlich gewordenes Möbelstück, als perfekt integrierten Teil der häuslichen Einrichtung zeigt. Der Apparat unterscheidet sich dann 3
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Auch Ed in EDTV (R. Howard, USA 1999) sieht im Badezimmer fern. Dort hat er einen Spiegel so installiert, dass er von der Toilette aus den (in einem anderen Raum befindlichen) Fernsehbildschirm sehen kann. Diese visuelle Konstruktion wird im weiteren Verlauf des Films verdoppelt: Ein begeisterter Fan baut Eds Seh-Anordnung nach, um auch während des Toilettengangs keine Sekunde der Reality-Show zu versäumen. Eben dort – im Bett – wird Fernsehen im Film häufig empfangen. Neben VIDEODROME zeigen beispielsweise auch NETWORK (S. Lumet, USA 1976) und NATURAL BORN KILLERS (O. Stone, USA 1994) Fernsehsituationen, die sich vom Wohn- ins Schlafzimmer verlagert haben. Angela Keppler: Mediale Gegenwart. Eine Theorie des Fernsehens am Beispiel der Darstellung von Gewalt, Frankfurt/Main 2006, S. 68. Joachim Paech: »Das Fernsehen als symbolische Form«, in: Ders./Wolfgang Coy (Hg.), Digitales Fernsehen – eine neue Medienwelt?, Mainz 1994, S. 8188, hier S. 84. Ebd., S. 85.
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kaum von seiner Umgebung, etwa wenn er in Wohnzimmerschränke eingefügt oder mit dekorativen Accessoires ausgestattet ist.8 Darüber hinaus ist das Fernsehen jedoch nicht nur als Teil der Wohnung, sondern auch als Mitbewohner zu sehen. So deutet ALL THAT HEAVEN ALLOWS (D. Sirk, USA 1955) auf das Eintreffen eines neuen Mediums hin, das nicht Ergänzung, sondern Ersetzung des Familienlebens sein will.9 »Look, Cary, you can’t sit around here with nothing to do. You should at least get a television set«, rät Sarah ihrer Freundin Cary, die nach dem Tod ihres Mannes zu vereinsamen droht. Der Einzug des neuen Freundes ist unaufhaltsam. Er soll kommen, um Leben in die Bude zu bringen – ein Leben, das so reich und vielgestaltig sein wird, dass es jenes außerhalb der Bude überstrahlen (und verzichtbar machen) kann. »All you have to do is turn that dial and you have all the company you want, right there on the screen«, erklärt Mr. Weeks bei der weihnachtlichen Ankunft des neuen Hausfreundes und vorgeblichen Heilsbringers. Dass es sich dabei um ein leeres Versprechen handelt, zeigt die filmische Inszenierung deutlich: Cary schaut in das Gerät hinein und sieht doch nichts anderes als die farblose Spiegelung ihres Gesichts auf dem blanken Bildschirmglas. Über den filmisch-distanzierten Blick, der nicht nur das Gerät, sondern auch seine räumliche Situiertheit und das mit ihm verbundene perzeptive Nahverhältnis zeigt, deutet der Film auf ein Bewusstsein seiner eigenen medialen Konditionen. Dabei stellt er klar: Beim Kino kommt der Zuschauer zum Medium – beim Fernsehen kommt das Medium zum Zuschauer. Der Film reflektiert diesen Zusammenhang weitergehend, wenn er zeigt, dass das Fernsehen nicht nur ins Innere des Heims zu gelangen, sondern sich dort auch dauerhaft einzurichten vermag. Das Fernsehen umgibt den Menschen, es umstellt ihn, während dieser sich von einer derartigen Nähe bereitwillig umfassen lässt. Auf die Frage ihres Mannes Montag, ob sie nicht gerne in ein größeres Haus ziehen wolle, erwidert Linda in FAHRENHEIT 451 (F. Truffaut, GB 1966): »I’d rather have a second wall set put in. They say, when you have your second wall screen, it’s like having your family grow all around you.« Die dystopische Zukunftsvision des Films zeigt ein Heim, das mit einem übergroßen Bildschirm bzw. einer raumbeherrschenden Bildwand ausgestattet ist. Die von Linda erwähnte Fernseh-Familie ist dabei mächtiger 8
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So etwa in THE TRUMAN SHOW: Auf dem Fernsehgerät, das sich im Wohnzimmer des Ehepaars Burbank befindet, stehen zwei gerahmte Familienfotos und eine Blumenvase. Diese Anordnung lässt nicht nur die fernsehspezifische Integration ins häusliche Terrain erkennen, sondern auch eine besondere Form der familiären Nähe erahnen: »Der Fernsehapparat ist ein weiterer Haushaltsgegenstand, oft auch der Ort, auf dem Familienfotos aufgestellt werden: der Blick auf die Bildschirmpersönlichkeiten wird durch die Anwesenheit ›unserer Lieben‹ unmittelbar ergänzt. Fernsehen ist ebenso intim wie alltäglich, eher Teil des häuslichen Lebens als besonderes Ereignis.« (John Ellis: »Fernsehen als kulturelle Form«, in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2001, S. 44-73, hier S. 46.) Zum Fernsehen als häusliches Objekt und Teil der Familie vgl. Lynn Spigel: »Fernsehen im Kreis der Familie. Der populäre Empfang eines neuen Mediums«, in: Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 214-252.
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als die in der Person des Ehemanns tatsächlich existierende: Lindas Aufmerksamkeit bleibt auf den Bildschirm und seine Rede gerichtet und ignoriert dabei Montags Begrüßungskuss sowie seine Versuche, sie direkt anzusprechen. Regungs- und reaktionslos bleibt sie auf dem Sofa liegen, umschlossen von einem »Bombardement von Lichtimpulsen, das uns die Anstrengung von Familiengesprächen gnädig erlassen hat«.10 Weiterhin zeigt der Film, dass das Fernsehen auch dann spürbar anwesend bleibt, wenn niemand zuschaut, dass es also nicht nur über visuelle, sondern auch über auditive Ausstrahlungskräfte verfügt. Während sich Montag und Linda in der Küche unterhalten, bleibt der TV-Ton hörbar, wodurch sich das Fernsehen immer wieder in das Gespräch einzuschalten vermag.11 Durch den Verweis auf die Spezifik der Fernseh-Anordnung gelingt es dem Film, sich als Medium vom Fernsehen abzugrenzen. Mehr noch: Er schiebt diese Abgrenzung in den Vordergrund, um sich über die Reflexion des Bildschirmwesens seiner eigenen medialen Spezifik zu versichern. Auf der narrativen Ebene befasst sich FAHRENHEIT 451 mit der Kritik einer schriftlosen, aufs Audiovisuelle reduzierten Bilderwelt. Diese Kritik kann der Film nun üben, ohne ihr am Ende selbst zu verfallen. Denn es ist weniger die beliebige Existenz irgendwelcher Bilder als vielmehr die besondere Präsenz der Bildschirmbilder, die der Film in den Blick nimmt – genauer: die allumfassende und eingreifende Präsenz einer Bildform, die über ihre Apparatur jede Möglichkeit zur Distanzierung ausschließt und den Rezipienten so in sich selbst einschließt. In FAHRENHEIT 451 adressiert das Fernsehen seine Zuschauer als Verwandte.12 Es lädt sie in seinen Unterhaltungsprogrammen ausdrücklich dazu ein, in die Familie aufgenommen zu werden und so in das Fernsehen einzugehen: »Come in, cousins«, lockt die Moderatorin der Spiel-Show Come Play with Us, »be one of the family!« 10 Norbert Bolz: »1953 – Auch eine Gnade der späten Geburt«, in: Jochen Hörisch (Hg.), Mediengenerationen, Frankfurt/Main 1997, S. 60-89, hier S. 81. 11 Dass der weitreichende Tonraum des Fernsehens ein wichtiges Unterscheidungskriterium zur Kino-Situation darstellt, betont nicht nur der Film, sondern auch die Theorie: »Der Fernseher kann im Hintergrund zu anderen häuslichen Tätigkeiten laufen, ohne dass jemand zusieht. […] Das Fernsehen nutzt stattdessen den Ton, um sein Publikum zu erreichen. Dabei setzt es über weite Strecken direkte Adressierung ein, um den Blick und die Aufmerksamkeit der Zuschauer auf sich zu lenken und aufrecht zu erhalten. Mit diesem Verfahren geht eine Trennung einher, die sich vom kinematographischen Voyeurismus unterscheidet.« (J. Ellis: Fernsehen als kulturelle Form, S. 67) 12 Und nicht nur dort. Filme wie HAPPY ANNIVERSARY (D. Miller, USA 1959) oder THE THRILL OF IT ALL (N. Jewison, USA 1963) zeigen, wie aufdringlich sich das Fernsehen als Quasi-Verwandter in die bürgerliche Familie drängt und sie zu zerstören droht. Diese Sorge treibt auch Günther Anders um, wenn er den Bildschirm als »negativen Familientisch« bezeichnet und erklärt, dass seine Funktion darin bestehe, »die Familie vollends aufzulösen, freilich so, dass diese Auflösung das Aussehen trauten Familienlebens beibehält oder gar annimmt«. (Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1985, S. 104f.)
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Lindas Beteiligung an der Sendung wird folgerichtig nicht als Auftritt, sondern als Eintritt gezeigt (vgl. Abb. 1). Die Zukunftsvision, die FAHRENHEIT 451 entwirft, kennt ein interaktives Fernsehen, das die Teilnahme an Sendungen ermöglicht, ohne dass der Zuschauer sein Zuhause verlassen muss. Linda beantwortet die ihr gestellten Fernsehfragen vom heimischen Wohnzimmerteppich aus: Das Fernsehen kann sie ebenso sehen, wie sie das Fernsehen sieht. Durch das dialogische Prinzip von Figuren im Fernsehen und Figuren vor dem Fernsehen wird die Familie komplett: Fernsehraum und Lebensraum sind eins geworden.13
Abb. 1: »Come in!« – FAHRENHEIT 451
Das Fernsehen, das weiß der Film, verfolgt den Menschen und macht sich in seinen Räumen breit. Der bevorzugte Ort der fernsehspezifischen Ausbreitung ist dabei das Wohnzimmer: »Das Gesehene drängt sich dann ins Interieur. Man kommt sich umstellt und umzingelt vor, oder auch umsorgt und bewacht.«14 Dass für das Fernsehen Be- und Überwachen zwei Seiten derselben Apparatur sind, stellt der Film besonders häufig heraus. Eine eigene Tradition hat er beispielsweise für Szenarien entwickelt, welche die Ubiquität des Fernsehens nicht auf das häusliche Terrain beschränken, sondern seine Präsenz darüber hinaus in den öffentlichen Raum verlängern. Bereits 1936 zeigt MODERN TIMES (C. Chaplin, USA) eine Bildschirmapparatur, mittels derer ein Fabrikchef sich selbst als Bild in den Raum einzuschalten und seine Arbeiter so zu überwachen vermag; ähnliches gilt für das komplexe, allumfassende 13 Die fehlende Abgrenzung von Hier und Dort sowie von Innen und Außen beschreibt auch Roland Barthes als ein fernsehspezifisches Kriterium, das sich vom Dispositiv des Kinos deutlich unterscheidet. Während sich das Extraordinäre der Kinosituation vor allem in der Dunkelheit und Abgeschlossenheit des Kinosaals manifestiert, macht das Fernsehen eine solche Loslösung von den Modalitäten der Alltagserfahrung unmöglich: »Beim Fernsehen, das ebenfalls Filme vorführt, keinerlei Faszination: hier ist das Schwarz gelöscht, die Anonymität verdrängt; der Raum ist familiär, artikuliert (durch die Möbel, die gewohnten Dinge), dressiert […] durch das Fernsehen sind wir zur Familie verdammt, deren Hausgerät es geworden ist.« (Roland Barthes: »Beim Verlassen des Kinos«, in: Filmkritik 235 (1976), S. 290-293, hier S. 291) 14 Claus-Dieter Rath: »Elektronische Körperschaft. Mitgliederversammlung im Wohnzimmer«, in: Tumult 5 (1983), S. 36-44, hier S. 39.
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Bildsystem in 1984 (M. Anderson, GB 1956). In THE RUNNING MAN (P. M. Glaser, USA 1987) hat das omnipräsente Fernsehen die Schulen aus dem öffentlichen Raum verdrängt und sich als übergroße Sendeanstalt an ihre Stelle gesetzt, in WALL-E (A. Stanton, USA 2008) ist die bildschirm-unabhängige Existenz des Menschen kaum mehr dar- und vorstellbar. Entwerfen diese Beispiele utopische Tele-Visionen, so zeigen andere, dass auch das uns bereits bekannte Fernsehen unsere Wege verfolgt und keinen Entzug duldet. So verdeutlicht etwa THE TRUMAN SHOW, dass jeder überall Fernsehen schaut – zu Hause, in der Bar oder bei der Arbeit. Mehr noch – das Fernsehen scheint selbst einen Blick auf seine Zuschauer zu werfen: »Die Television wird nicht nur überall wahrgenommen, sondern hat auch ein weitsehendes Auge, das manches kontrolliert, einiges bewirkt und vieles reguliert.«15 Der Film zeigt dies einerseits, wenn er die mächtige Schaltzentrale des Senders präsentiert, die nicht nur Truman überwacht, sondern auch die Reaktionen der Fernsehzuschauer genauestens registriert, um danach das Programm auszurichten. Andererseits verweist der Film über seine Mise-en-scène auf die besondere Nähe von Fernseh-Apparaten und Kontroll-Monitoren. So zeigt er etwa zwei Parkhauswächter, die die Truman Show von ihrem Arbeitsplatz aus verfolgen. Der Film wählt dafür eine Einstellung, welche die beiden Männer räumlich zwischen zwei visuell ähnlichen Bildschirmen situiert – die beiden Apparate gleichen sich sowohl in Bezug auf ihre Größe als auch in Bezug auf ihr bläulich flackerndes Bild. Damit kann der Film auf einen Wahrnehmungsmodus hinweisen, der sich von seinem eigenen grundlegend unterscheidet. In Stanley Cavells Formulierung handelt es sich dabei um die Differenzierung zwischen »viewing«, also filmischem Betrachten, und »monitoring«, also televisuellem Überwachen.16 Ganz im Gegensatz zu den ordnenden Techniken der Sichtbarmachung, derer sich der Film bedient, arbeitet das Fernsehen mit visuellen Verfahren, denen es eher um flüchtiges Registrieren geht. Dies wird auch in der Rezeptionshaltung der beiden Parkhauswächter deutlich: Bei ihren Monitor-Blicken handelt es sich eher um ein Ab- als ein Hinsehen. Davon wiederum distanziert sich der Film, wenn er sein eigenes Bildsystem als logisch-strukturiertes (und eben nicht beliebiges) vorstellt: als Ab- und Aufeinanderfolge, als Verkettung von Sinnzusammenhängen. Schließlich macht er darauf aufmerksam, dass er dem ›Herein‹ des Fernsehens ein ›Heraus‹ des Films entgegenstellen kann. Das Bild, das THE TRUMAN SHOW beendet, ist ein Schwarzbild. Sekundenlang bleibt der Kinosaal dunkel. Es folgt der Abspann, der den Zuschauer darauf vorbereitet, dass er das Kino gleich verlassen wird. Es gibt einen Ausgang. Das Fernsehen aber, dies erkennt der Film, wird nicht mehr abrücken von denjenigen, die es sehen und die es selbst sieht. Das Fernsehen ist gekommen, um zu bleiben.
Teile/Ganzes Fernsehen und Film verfügen über unterschiedliche Bildsysteme. Ihre Technik bedingt eine je spezifische Ästhetik. Zwar haben es beide mit bewegten 15 Karl Sierek: Aus der Bildhaft. Filmanalyse als Kinoästhetik, Wien 1993, S. 74. 16 Vgl. Stanley Cavell: »Die Tatsache des Fernsehens«, in: Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 125-164, hier S. 144.
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Bildern zu tun, jedoch ist deren Beschaffenheit verschieden. Oft und gerne streicht der Film diese Differenz heraus, wenn er das Fernsehbild in filmischer Großaufnahme präsentiert. Denn je mehr der Film sich dem Fernsehen visuell annähert, desto deutlicher kann er zeigen, dass das Bild des Fernsehens kein zusammenhängendes, sondern ein zergliedertes ist. In THE TRUMAN SHOW beispielsweise gibt es zahlreiche Einstellungen, die durch die Vergrößerung des Fernsehbildes auf dessen Zeilencharakter und Punktförmigkeit hinweisen. So kann das Gezeigte auch dann als Fernsehbild erkannt werden, wenn der Rahmen (in den meisten Fällen ist dies der Rahmen des TV-Geräts) fehlt. Und so kann der Film verdeutlichen, dass er sich ein ganz anderes Bild von Truman macht als das Fernsehen. Das fotografische Ganze steht dann dem elektronischen Gestreuten gegenüber. Es erinnert den Zuschauer daran, dass das Bild, das er im Fernsehen sieht, eigentlich kein Bild ist, sondern ein Haufen von Punkten: Das, was sich den Anschein von Geschlossenheit gibt, ist immer schon zusammengesetzt. Der Film macht so die Basis des Fernsehsystems kenntlich. Er verweist auf die technische Bedingtheit der Television, die seit der Bildabtastung mit Paul Nipkows Lochscheibe prinzipiell gleich geblieben ist: »Eine grundlegende Sache hat sich also seit 1884 nicht geändert: die Zerlegung des Bildes in Punkte. Auch unser Fernsehbild ist kein Bild, sondern eine Abfolge von Punkten, die der Zuschauer erst in seinem Kopf zu einem Bild zusammenfügt.«17 Der Film weiß jedoch nicht nur um die technische Verfasstheit des televisuellen Bildes – er weiß auch, dass die Bildform zugleich eine Denkform ist. Anders gesagt: Die mediale Beschaffenheit des Bildes erklärt über ihr Wesen Weiteres, sie verschaltet Wahrnehmung und Erkenntnis. Der Film reflektiert diesen Zusammenhang, wenn er auf die Korrespondenz von technischer Verfasstheit und rezeptiver Verfassung verweist. Dabei setzt er kinematografische Homogenität gegen televisuelle Heterogenität: »Dieser Apparat wirft nicht von vielen Punkten, von einer Fläche ausgehend, seine Strahlen oder Informationspartikelchen auf einen Punkt, er projiziert nicht ein zentralisiertes Subjekt, sondern sieht sich selbst inmitten einer Vielzahl zerstreuter und beweglicher Punkte. […] Er liefert die Welt, auf den Punkt gebracht. 18 Und: er liefert sie an ein bewegtes und zerstreutes ›Subjekt‹.«
Das Kino sammelt, das Fernsehen zerstreut. Das betrifft nicht nur die Bilder, sondern auch die Betrachter. Denn beim Fernsehen ist der Zuschauer einer andauernden Bestrahlung ausgesetzt: »Er wird mit Lichtimpulsen beschossen«19 und kann sich angesichts dieses Beschusses selbst nicht mehr als unteilbar Ganzes sehen. Anders als beim projizierten Leinwandbild im Kino reflektiert der Fernseher das Licht nicht, sondern leuchtet aus sich selbst heraus. Der Film verdeutlicht dies häufig, wenn er einen Blick aus dem Außen 17 Michaela Krützen: »Der Punkt/die Matrix. Paul Nipkows Scheibe, Vilém Flussers Universum und der Würfel der Borg«, in: Archiv für Mediengeschichte 2 (2002), S. 113-123, hier S. 115. Zu Punkt, Bild und Bildpunkt vgl. zudem: Lorenz Engell: »Auf den Punkt gebracht. Die Ästhetik des Bildpunktes nach Vilém Flusser und Gilles Deleuze«, in: Thesis 5 (1998), S. 22-31. 18 C.-D. Rath: Elektronische Körperschaft, S. 32. 19 Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Dresden 1994, S. 473.
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(z.B. von einer Straße) in das Innen (z.B. in ein Wohnzimmer) wirft, um das Lichtverhältnis der Fernsehrezeption vorzuführen. Zumeist wird der Bildschirm dabei als einzige Lichtquelle präsentiert, etwa in NETWORK (S. Lumet, USA 1976). Das Fernsehen erscheint als exklusives Leuchtmittel, das alle anderen um und neben sich auszuschalten vermag. Weiterhin verweist die so erkannte Licht-Logik erneut auf die Unterscheidung von Film-Bild und Fernseh-Bild. Denn das durch Abtastung »entstandene plastische Profil erscheint bei Durchlicht, nicht bei Auflicht, und ein solches Bild hat viel eher die Eigenschaft der Plastik oder des Bildsymbols als die der Abbildung«.20 Das Fernsehen strahlt aus und leuchtet ein. Sein Kathodenstrahl zerstreut und zerlegt nicht nur das Bild, sondern auch die davor Befindlichen.21 Der Film kann darauf hinweisen, wenn er das Fernsehen und seine Zuschauer als einander bedingendes Bruchverhältnis vorführt: Wer dem Fernsehen verfällt, droht selbst zu zerfallen. Zahlreich sind etwa die Beispiele, die das Innere des Fernsehbetriebs als Ansammlung von Monitoren präsentieren.22 Selbst schon eine Vielheit von Bildschirmen, zeigen auch die einzelnen Monitore nichts Ganzes, sondern immer nur Teile, Ausschnitte und Fragmente. Demgegenüber offenbart sich der Film als Möglichkeit der Gesamtschau. Häufig gewährt er mittels der gewählten Einstellungsgröße (etwa der Totalen) einen Überblick, der den am Fernsehen Beteiligten längst abhanden gekommen zu sein scheint. Diejenigen, die in den Bann des Fernsehens geraten, leben selbst nur noch als Bruchstücke und Teilelemente. Ihre Existenz hat sich der Logik des Fernsehens angeglichen, ihr Dasein gehorcht seinen Gesetzen und Strukturen – das Eine ist nicht mehr vom Anderen zu trennen.23 Dass dabei das eine System nicht vor dem anderen kommt, sondern dass beide bis zur Ununterscheidbarkeit zusammenfallen (und dabei gleichermaßen auseinanderfal20 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 473. 21 Karl Sierek geht davon aus, dass die von Walter Benjamin beschriebenen rezeptionsästhetischen Veränderungen des technisch reproduzierten Kunstwerks weniger im Hinblick auf das Kino als vielmehr im Hinblick auf das Fernsehen an Schärfe gewinnen. Das betrifft vor allem das Prinzip der Streuung: »Benjamins Term der zerstreuten Masse weicht vor dem Fernseher dem zerstreuten Individuum.« (Karl Sierek: »Einstellungswechsel. Vom kinematographischen zum televisuellen Dispositiv«, in: Blimp 15 (1990), S. 30-34, hier S. 33) 22 Häufig realisiert der Film diesen Einblick, indem er den Produktionsbetrieb des Fernsehens, etwa Studio und Bildregie, präsentiert. Eine besondere Vorliebe hat er dabei für das Zeigen von Monitorwänden, also Anordnungen von zahlreichen neben- und übereinander positionierten Bildschirmen, entwickelt. Beispiele finden sich in NETWORK, THE CHINA SYNDROME (J. Bridges, USA 1979), VIDEODROME, BROADCAST NEWS (J. L. Brooks, USA 1987), NATURAL BORN KILLERS, WAG THE DOG (B. Levinson, USA 1997), MAD CITY (Costa-Gavras, USA 1997), THE TRUMAN SHOW oder FREE RAINER – DEIN FERNSEHER LÜGT (H. Weingartner, A/D 2007). 23 Jean Baudrillard bezeichnet eine derartige Bild-Auflösung als »System der Dissuasion«, in dem das Eine nicht mehr aus dem Anderen herausdestilliert werden kann: »Auflösung des Fernsehens im Leben, Auflösung des Lebens im Fernsehen – eine nicht mehr zu unterscheidende, chemische Lösung.« (Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 49)
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len), das verdeutlicht z.B. der Film NETWORK durch die analogisierende Gegenüberstellung zweier Einstellungen, die im Grunde das Gleiche zeigen (vgl. Abb. 2 & 3).
Abb. 2 & 3: Fenster zur Welt – NETWORK
Im einen Fall handelt es sich um die Präsentation einer Monitorwand, im anderen um die einer Häuserwand. Beide Einstellungen ähneln einander in Bezug auf den Bildaufbau, der eine Zusammensetzung von Einzelstücken zeigt. Das Fernsehen erscheint hier nicht als das Fenster zur Welt, sondern als eine Vielzahl von Fenstern, die weder Aus- noch Durchblick gewähren. In sich schon dispers, stehen sie für eine Form der Vervielfältigung, die auf nichts anderes verweist als auf sich selbst. Die Bilder des Fernsehens sind weder ganz noch einzeln, sie stehen immer in Zusammenhang mit anderen Bildern bzw. Ausschnitten, auf die sie sich beziehen. Dabei geht es weniger um Abfolge als um Umlauf, um eine Form des Rekursiven, die eine hierarchisierende Unterscheidung von Oben und Unten oder von Anfang und Ende gar nicht mehr kennt. Die Television zeichnet sich durch fortdauernde Teilung aus und setzt selbst fortdauernde Teilung in Gang. Diese Teilung findet als televisuelle Übertragung tatsächlich auch auf und in den Körpern der Menschen statt, wie der Film zeigen kann. Einen scharfsichtigen Blick hat er etwa für eine fernsehspezifische Form der Vermehrung entwickelt, welche die bio-logische Reproduktion durch eine techno-logische ersetzt. Es ist auffällig, wie häufig sich der Film mit sexuell hoch aufgeladenen Fernsehsituationen befasst.24 Dabei geht es ihm weniger um eine allgemeine Kritik am Prinzip des sex sells (der er sich ja auch selbst kaum entziehen könnte), sondern vielmehr um ein Nachdenken über die Spezifik einer promiskuitiven Bildschirmkultur. »That turns me on«, erklärt Nicki in VIDEODROME beim Betrachten eines Pornos – wobei sich das ›Anmachen‹ gleichermaßen auf Körper und Gerät zu beziehen scheint. Nicki sitzt vor einem Bildschirm und ist selbst Bildschirm. Sie schaltet weniger einen Fernseher ein, als dieser sie selbst einschaltet. Im 24 Dies betrifft fernsehspezifische Formen der Produktion und Rezeption. In VIDEODROME ist der Fernseh-Sender Civic TV mit der Ausstrahlung von Soft-Pornos befasst. In KIKA (P. Almodóvar, E/F 1993) wird eine Vergewaltigung in das Programm einer TV-Reality-Show aufgenommen. In FREE RAINER – DEIN FERNSEHER LÜGT hat das pornographische Fernsehen das Kinderzimmer erreicht, wo es von einem kleinen Jungen konsumiert wird. In NETWORK, VIDEODROME und NATURAL BORN KILLERS werden sexuelle Aktivitäten vor dem laufenden Fernseher (also mit seiner Begleitung und Beteiligung) vollzogen.
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Bildschirmwesen Nicki ist die Unterscheidung von Mensch und Maschine hinfällig geworden – sie ist an sich selbst zerbrochen. Dies hatte der Film bereits über die Einführung der Figur deutlich gemacht. Das erste Bild, das der Zuschauer von Nicki erhält, ist ein Bruchstück. Sie erscheint zunächst auf dem Monitor eines Fernsehstudios – wobei nicht der ganze Körper zu sehen ist, sondern nur Teile davon. Erst danach schwenkt die Filmkamera zur Seite, um nicht nur den Monitor, sondern auch das davor Positionierte zu zeigen. Die Empfänglichkeit für den Bildschirm, so wird weiterhin deutlich, schließt andere Möglichkeiten der Empfängnis aus. »Da die Anderen als sexueller und sozialer Horizont praktisch verschwunden sind«, so Jean Baudrillard, beschränkt sich das »fraktale Subjekt« auf »den Umgang mit seinen Bildern und Bildschirmen«.25 Als zerstreutes Wesen der Vereinzelung kann Nicki sich und ihre Sexualität nur noch auf Bildschirmen suchen und finden. Diese Bildschirm-Sexualität ist wiederum selbst eine desintegrierte. Sie zeigt immer nur Teile und Ausschnitte – und insofern auch nicht mehr das Geschlecht des Menschen, sondern nur noch sein Geschlechtsteil. Nirgendwo wird dies deutlicher als in der Detailverliebtheit des Pornos, der nie aufs Ganze geht, sondern immer nur beim Einzelnen bleibt. Und nirgendwo, sagt der Film, kann die Pornographie sich heimischer fühlen als beim und im Fernsehen. Dies erklärt sich einerseits durch seine Tendenz, dem Menschen in Bezug auf Raum und Rezeption besonders nah auf den Leib zu rücken – und andererseits durch seinen Hang zur Zerteilung. Baudrillard bemerkt dazu: »Der Promiskuität des Details […] haftet eine sexuelle Prägung an. Die Übertriebenheit jedes einzelnen Details zieht uns ebenso an wie die […] serielle Vervielfältigung ein und desselben Details. Die Pornographie mit ihrer extremen Promiskuität zerlegt den Körper in seine kleinsten Teile.«26 Fragmentierung und Serialisierung sind die Merkmale einer elektronischen Vermehrung, die durchdringender sein kann als die biologische Fortpflanzung. Das Fernsehen ist anzüglich und anziehend zugleich – und der Zuschauer gibt sich dieser Annäherung bereitwillig hin, denn: »Unser Verlangen gilt gerade diesen […] fraktalen […] Bildern, weil sie alle weniger definiert sind.«27 Den definitionsarmen Bildern des Fernsehens stellt der Film seine ästhetische Dichte gegenüber. Er konfrontiert das Maschengefüge des Punktbilds mit der Konsistenz seiner fotografischen Geschlossenheit – um sich als Ganzes gegenüber der Teilung zu behaupten.
Show/Schau Fernsehen und Film machen anders sehen und geben Anderes zu sehen. Sie erfordern in dem, was sie zur Show machen und zur Schau stellen, unterschiedliche Anordnungen und Anleitungen. Um diese Differenz herauszustellen, bemüht sich der Film sehr darum, das Fernsehen über seine Sendungen und sein Programm zu definieren. Als bevorzugtes Anschauungsmaterial dienen ihm dazu Fernsehshows. Dabei kann er zeigen, dass das Fernsehen For25 Jean Baudrillard: »Videowelt und fraktales Subjekt«, in: Ders. u.a. (Hg.), Philosophien der neuen Technologien, Berlin 1989, S. 113-131, hier S. 114. 26 J. Baudrillard: Videowelt und fraktales Subjekt, S. 116. 27 Ebd.
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men entwickelt hat, die ihm, dem Film, vollkommen fern liegen. Televisuelle Shows bündeln televisuelle Charakteristika. Dazu gehören etwa die fernsehspezifischen Prinzipien der Segmentierung, Serialisierung und Kommerzialisierung. Weiterhin verweisen Fernsehshows auf Repetition, Expansion und Selektion. Dies alles wird in den Show-Formen des Fernsehens nicht nur bedient, sondern auch anschaulich gemacht. TV-Shows sind insofern exemplarisches Fernsehen, als sie dessen medialen Formcharakter sichtbar machen. Sie folgen damit nicht nur den sie konstituierenden Bedingungen, sondern sie machen sie bewusst und erkennbar. Eben dies kann sich der Film zunutze machen, um sich umso deutlicher vom Fernsehen zu distanzieren. Ein ausgeprägtes Interesse hat der Film beispielsweise für die Nähe des Fernsehens zur Werbung entwickelt. Dabei zeigt er die Werbung als televisuelles Element, das sich in das Programm des Fernsehens einschaltet und einblendet – und es so überhaupt erst definiert. Ein Beispiel dafür ist die Darstellung von Show-Aufzeichnungen, deren strukturelle Anbindung an die Werbung durch wiederholte Ankündigungen und Pausen kenntlich gemacht wird.28 Damit zeigt der Film, dass es im Fernsehen keine Show ohne Werbung gibt – und mehr noch: dass die Werbung die Show ist. John Ellis unterstreicht: »Der Werbespot stellt in mehrfacher Hinsicht die Quintessenz des Fernsehens dar. Er ist ein Segment.«29 Stellt der einzelne Werbespot bereits einen Verweis auf die Organisationsform des Fernsehens dar, vermag die Streuung und Wiederholung des Spots bzw. der Spots diesen Verweis in Richtung des Vervielfachungsprinzips des Fernsehens zu steigern. So »stehen Werbespots als Segment nie für sich allein. Die Erfahrung beim Betrachten von Werbung ist ein Sehen von Segmenten, die sich zusammenscharen und gegenseitig aufstacheln.«30 In der Werbung kommt das Fernsehen zu sich selbst. Hier ist es Segment, hier darf es Segment sein. Die Bindung des Fernsehens an die Werbung »kommt auch daher, dass sich das Medium hier gemäß seiner eigenen Regeln entfaltet und nicht von kulturellen Annahmen klein gehalten wird, die nicht seine eigenen sind«.31 Entsprechend können Werbespots als »die höchste Entwicklung der segmentierten Ware des Fernsehens«32 gelten. Der Film stellt dieses fernsehspezifische Element deutlich heraus, um sein eigenes Verhältnis zur Werbung als differentes kenntlich zu machen. Denn es ist ja keineswegs so, dass der Film nichts mit Ware, Werbung und Konsum zu tun hätte. Anders als das Fernsehen ist er jedoch darauf 28 Zu sehen etwa in KIKA, NATURAL BORN KILLERS oder BAMBOOZLED (S. Lee, USA 2000). Darüber hinaus kann der Film zeigen, dass die fehlende oder ausbleibende Werbeunterbrechung zur bedrohlichen Situation der Fernsehshow werden kann. In MAGNOLIA (P. T. Anderson, USA 1999) verlangt das Kandidatenkind Stanley in einer Quizshow eine Pause, die ihm das Fernsehen nicht zugesteht. Wenn aber das Fernsehen sich gegen seine eigenen Prinzipien wendet, wenn es seine Segmente dehnt, statt sie zu kürzen, dann kann das nur im Zusammenbruch enden. Die Entladung des angestauten Drucks, visualisiert durch das Einnässen des Kandidaten, führt zum Einbruch und Abbruch der Show. 29 J. Ellis: Fernsehen als kulturelle Form, S. 50. 30 Ebd., S. 51. 31 Ebd. 32 Ebd.
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bedacht, die Werbung als etwas ihm Äußeres zu markieren. Im Kino gibt es eine klare Trennung zwischen Werbung und Film (die häufig durch die zwischenzeitliche Erhellung des Saallichts noch einmal betont wird). Das Fernsehen verfährt anders: Es nimmt die Werbung in sich auf, es integriert sie als eigenes Strukturprinzip. Daher betrachtet es die Werbung nicht als von außen herangetragenen Störfaktor, sondern als Teil seiner selbst: »Die Werbeeinblendung ist nicht als Unterbrechung im traditionellen Sinne, nicht als zerstörter oder aufgeschobener, abgeschnittener Zusammenhang zu sehen. Denn wo die Unterbrechung zum Prinzip wird, hört sie auf, Unterbrechung zu sein. Die Werbeeinblendung ist folglich keine Störung im Programm, sie ist das 33 Programm.«
Im Fernsehen wird die Werbung nicht eingeschoben,34 sie ist in ihm schon immer virulent. Der Film kann das verdeutlichen, wenn er Werbung nicht als Nachtrag, sondern als konstitutive Bedingung des Fernsehens zeigt. So zeigen THE GLASS WEB (J. Arnold, USA 1953), A FACE IN THE CROWD (E. Kazan, USA 1957, THE THRILL OF IT ALL (N. Jewison, USA 1963) und QUIZ SHOW (R. Redford, USA 1994), dass die Werbung nicht neben dem Fernsehen steht, sondern das zu sendende Programm überhaupt erst möglich macht. Das Sponsoring ist insofern programmprägend, als es nicht nur die kommerzielle Voraussetzung für die Fernsehproduktion darstellt, sondern sich selbst auch immer wieder ins Programm einschaltet. Dabei geht es weniger um Unterbrechung als um Übergang. Das Fernsehen konzentriert sich hier, ganz anders als der Film, nicht auf Trennschärfe, sondern auf Übergangsunschärfe. So zeigen die genannten Beispiele, dass die Werbung für ein Produkt gar nicht mehr vom Programm unterschieden werden muss, sondern in ihm selbst wirken kann. Entsprechend gibt es in den Fernsehshows keine einzelne Werbeankündigung am Anfang oder am Ende (etwa als ›wird/wurde präsentiert von‹), sondern ein durchgängiges, geradezu schleichendes Werben. Unvermittelt werden Produktnamen genannt und auch die Produkte selbst gezeigt, ohne dass die Fernsehshows sich dabei unterbrechen müssten. Dass dieses Verfahren nicht nur die einzelnen Formate des Fernsehens, sondern auch seine Kanäle betrifft, zeigt das Beispiel HOLY MAN (S. Herek, USA 1998). Hier ist der Sender GBSN (Good Buy Shopping Network) mit nichts anderem als an- und fortdauernder Werbung befasst. Beim Shopping-Kanal ist jede Vorstellung der Trennmöglichkeit verschwunden, hier lässt sich das Fernsehen am deutlichsten als Werbefernsehen sehen. Dass diese dem Fernsehen inhärente Unmöglichkeit der Unterscheidung nicht nur seine Produktion, sondern auch seine Rezeption betrifft, zeigt der Film, wenn er den Fernsehzuschauer 33 Lorenz Engell: »Fernsehen mit Gilles Deleuze«, in: Oliver Fahle/Ders. (Hg.), Der Film bei Deleuze, Weimar 1999, S. 468-481, hier S. 479. 34 Auf die Unverträglichkeit des Fernsehens mit der Vorstellung des »Einschiebens« hat Oliver Fahle hingewiesen: »Denn das Konzept des Einschubs […] überzeugt im Fernsehen nicht mehr in gleicher Weise, weil der Einschub ja selbst noch ein funktionierendes Ganzes vorausgesetzt hat.« (Oliver Fahle: »Das Bild und das Sichtbare. Eine Bildtheorie des Fernsehens«, in: Ders./Lorenz Engell (Hg.), Philosophie des Fernsehens, München 2006, S. 77-90, hier S. 81)
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als warenförmiges Wesen präsentiert. Der vom Fernsehen Verstrahlte ist dem Konsum dergestalt ausgesetzt, dass er nicht nur dessen Subjekt, sondern zugleich auch sein Objekt ist.35 Er wird vom Konsumierenden zum zu Konsumierenden36 – erneut hat das Fernsehen die Trennung aufgehoben. Der Film reflektiert die Show-Tätigkeit des Fernsehens weitergehend, wenn er neben der Werbung (als Urgrund oder Basis) auch andere ihr inhärente Fernsehprinzipien ausstellt. Ein Beispiel, das ihm dafür besonders geeignet erscheint, ist die Spiel-Sendung bzw. die televisuelle Game-Show.37 Der Film erkennt darin nicht nur eine der langlebigsten Fernsehformen (also eine, die das Fernsehen von Anbeginn an kennt und nie aufgegeben hat), sondern auch eine, die besonders deutlich von filmischen Formen unterschieden werden kann. Ein aktuelles Beispiel liefert der oscarprämierte Kino-Erfolg SLUMDOG MILLIONAIRE (D. Boyle, GB 2008).
Abb. 4: Show schauen – SLUMDOG MILLIONAIRE
Hier wird die Quiz-Show als televisuelles Anschauungsbeispiel par excellence vorgeführt (vgl. Abb. 4). Der Film rekurriert dabei auf ein Format, das die medienspezifischen Charakteristika des Fernsehens nahezu mustergültig bündelt. Eine erste Beobachtung macht er in Bezug auf die Expansionsleistung des Fernsehens: WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE? (1998heute) kann als exemplarisches Welt-Fernsehen gelten, da es sich als weltweit sendefähig erwiesen hat und weltweit auf Sendung geblieben ist. Das liegt vielleicht daran, dass es sich selbst so deutlich als Fernsehen herausstellt. Dazu gehören beispielsweise die Bildschirme des Fernsehstudios. Diese Bildschirme werden nicht (wie es etwa beim Teleprompter der Fall ist) 35 Was sind Micky und Mallory Knox in NATURAL BORN KILLERS anderes als M&M, eine konsumierbare Ware (mit Nüssen und ohne)? Die Unterscheidung ist unmöglich geworden. 36 Denn, so Günther Anders: »Massenmenschen produziert man ja dadurch, dass man sie Massenware konsumieren lässt; was zugleich bedeutet, dass sich der Konsument der Massenware durch seinen Konsum zum Mitarbeiter bei der Produktion des Massenmenschen […] macht. Konsum und Produktion fallen hier also zusammen.« (G. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, S. 103) 37 Neben den bereits genannten Filmbeispielen lassen sich zahlreiche weitere anführen. Verwiesen sei hier auf IM HIMMEL IST DIE HÖLLE LOS (H. von Lützelburg, D 1984), MASQUES (C. Chabrol, F 1987), KEIN PARDON (H. Kerkeling, D 1993), REQUIEM FOR A DREAM (D. Aronofsky, USA 2000) und CONFESSIONS OF A DANGEROUS MIND (G. Clooney, USA 2002).
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verborgen, sondern im Gegenteil überdeutlich präsentiert und in die televisuelle Spielsituation einbezogen. Bereits in der Auswahlrunde (im äußeren Kreis der Show-Bühne) sind die Kandidaten vor Bildschirmen positioniert, um im zweiten Schritt erneut vor einen Bildschirm gesetzt zu werden, der wiederum selbst einem Bildschirm (dem des Moderators) gegenüber steht. Weiterhin ist zu bemerken, dass das Publikum Eingang in die Sendung gefunden hat. Es ist als Ansammlung von Zuschauern im Studio präsent, es hat sich als Teil des Fernsehens im Fernsehen sichtbar gemacht.38 Das Fernsehen vermag sein Publikum so in sich selbst aufzunehmen. Dabei bedient es sich zusätzlicher Strategien der Sichtbarmachung, die auf weitere fernsehspezifische Verfahren verweisen, etwa die Hochrechnung oder die Quotenmessung. In WHO WANTS TO BE A MILLIONAIRE? schaltet sich das Publikum insofern ein, als es durch die Umfragetechnik des ›Publikumsjokers‹ zur Teilnahme aufgerufen wird – eine Teilnahme, die nicht nur als Aktivität gezeigt, sondern durch Diagramme im Ergebnis eigens visualisiert wird.39 Weiterhin werden nicht nur die Zuschauer im Studio, sondern auch diejenigen außerhalb des Studios, also die eigentlichen Fern-Seher, in die Spielshow integriert (nämlich als Telefonjoker). Am allerdeutlichsten aber bezieht sich die Sendung wohl auf das Wählen und die Wählbarkeit. Sie vermag so »die Selektivität als Grundform und -funktion des Fernsehens«40 kenntlich zu machen, sie ganz entschieden ›zur Show‹ zu stellen. Dazu gehört etwa die Auswahl der Kandidaten, die wiederum als mehrmalige Selektion (vor der Sendung, in der Sendung) realisiert wird. Bereits hier handelt es sich um ein Verfahren des Multiple Choice, das durch den Fragemodus des eigentlichen Spiels natürlich noch einmal enorm gesteigert wird.41 Dies alles stellt der Film nun heraus, um zu verdeutlichen, dass er selbst ganz anders verfährt. Er zeigt die Show des Fernsehens, um sie mit seiner eigenen Schau zu konfrontieren. So de38 Darauf, dass das Fernsehen stets darum bemüht ist, sein Publikum nicht nur zu finden, sondern auch herzustellen, macht Ien Ang aufmerksam: »Die Voraussetzung dafür, dass die Institutionen des Fernsehens die Eroberung der ZuschauerInnen zu ihrer Aufgabe machen können, besteht in erster Linie darin, das Fernsehpublikum im institutionellen Wissen als benennbares und manifestes Objekt zu konstituieren.« (Ien Ang: »Zuschauer, verzweifelt gesucht«, in: Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft, S. 454-483, hier S. 473) 39 Zu Möglichkeiten und Entwicklungen von fernsehspezifischen Visualisierungsverfahren vgl. Ralf Adelmann/Markus Stauff: »Ästhetiken der Re-Visualisierung. Zur Selbststilisierung des Fernsehens«, in: Fahle/Engell (Hg.), Philosophie des Fernsehens, S. 55-76. 40 Lorenz Engell: »Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/ Main 2003, S. 53-77, hier S. 60. 41 Lorenz Engell erläutert: »Es werden vier Antwortmöglichkeiten zur Kenntnis genommen (Information, scharf vorselegiert); es wird eine davon ausgewählt und macht dadurch die Antwort des Kandidaten aus (Mitteilungsselektion); und schließlich wird eine Übereinstimmung/Nichtübereinstimmung, nach möglichst lang gezogener Wartezeit, präsentiert (Verstehensselektion).« (L. Engell: Tasten, Wählen, Denken, S. 68)
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monstriert der Film etwa, dass er mit der fernsehspezifischen Form der Kontingenz nichts zu tun hat. Er kennt keinen Kandidaten, sondern inszeniert einen Protagonisten. Er überlässt nichts der zufälligen Wahl, sondern arrangiert und montiert. Er verlegt sich nicht aufs Raten, sondern aufs Erklären. Er kann sein Publikum adressieren, ohne es gleichzeitig zu visualisieren. Er thematisiert das Unbezahlbare anstelle des vulgär Bezahlbaren. Er lässt überdies die Situation, die er zeigt (nämlich das Geschehen der TV-Show), nicht als standardisierte Wiederholung, sondern als einzigartige Erzählung bestehen. So fällt der Blick aufs Fernsehen immer wieder auf den Film selbst zurück, so dient die Abgrenzung von fernsehtypischen Merkmalen immer auch der Eingrenzung von filmspezifischen Formen. Dies alles vermag der Film nicht nur thematisch oder narrativ, sondern auch über seine eigene Form, über sein eigenes Bild zu vermitteln: »Die ›Manier‹ eines Werkes ist ein fortwährender Kommentar dessen, was das Werk sagt […], ein Kommentar, der im Bild eingeschlossen ist.«42 Der Film kann so zeigen, dass er sich nicht der Fernseh-Show andient, sondern dass er sich der Film-Schau verpflichtet.
Und jetzt/Und Schluss Fernsehen und Film verfügen über unterschiedliche Formen des Erschließens und Schließens. Sie weisen je spezifische Strukturprinzipien auf und sie weisen diese in Darstellung und Erzählung aus. Das Fernsehen verweist in allem, was es tut und zeigt, darauf, dass es weiterläuft.43 Der Film aber hat ein Ende – und er weiß es.44 Er kann dieses Ende, auf das er hinarbeitet und dem er zuarbeitet, sogar besonders deutlich zeigen, wenn er es in Kontrast zu der Endlosigkeit des Fernsehens vorführt. Ein Beispiel dafür ist NETWORK. Am Ende dieses Films steht das Ende eines Lebens, nämlich der Tod des Fernsehmoderators Howard Beale. Nachdem seine Howard Beale Show nicht mehr den gewünschten Quotenerfolg erbringen kann, entscheidet die Fernseh-Exekutive, ihn vor laufender Kamera erschießen zu lassen. Für den Film ist dies nichts anderes als die letzte Konsequenz des Fernsehens, das im Grunde ja alles, was es zeigt, zum möglichen Abschuss freigibt.45 Der televisuelle Tod des Fernsehmoderators hat deshalb weniger mit Ende als mit Fortlauf und Wiederholung zu tun. Der filmische Tod kann davon jedoch klar unterschieden werden. Der Film NETWORK führt zunächst über seine eigenen Mittel vor, was passiert: Ein Mann wird erschossen und fällt zu Boden. Der Film zeigt dies einmalig, um im Ergebnis den Tod festzustellen. Dazu genügt ihm ein einziges Bild: das des bewegungslo42 Christian Metz: Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster 1997, S. 25. 43 Neil Postman hat diese televisuelle Tendenz des Unabgeschlossenen als »Und jetzt«-Prinzip des Fernsehens beschrieben; vgl. Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode. Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt/Main 1985, S. 123-140. 44 Dass der Film seine Endlichkeit kennt und diese Kenntnis reflektieren kann, hat Lorenz Engell schlüssig nachgewiesen; vgl. Lorenz Engell: Bilder der Endlichkeit, Weimar 2005. 45 Zapping bedeutet wörtlich ›abschießen‹ oder ›abknallen‹.
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sen, blutüberströmten Körpers. Das Fernsehen, so zeigt es der Film anschließend, verfährt anders. Zu sehen ist nun eine Anordnung von vier über- und nebeneinander stehenden Bildschirmen, in denen Beales Tod in eine endlose Wiederholung überführt wird.46 Immer wieder werden die Bilder seines Sterbens gesendet, wobei diese als repetierte Einzelelemente und Teilstücke keine lineare Abfolge erkennen lassen (einige Ausschnitte zeigen das Erschießungskommando, andere das Studiopublikum, wieder andere den fallenden Beale). Weiterhin laufen auf den Fernsehbildschirmen nicht nur die BealeBilder, sondern auch andere Programme (etwa ein Werbespot für Frühstücksflocken mit dem Namen Life), die den wiederholt gezeigten Tod erneut relativieren (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Hin und weg – NETWORK
Das Fernsehen fährt fort und läuft weiter. Der Film hingegen vermag zu ordnen und zu schließen. In NETWORK wird dieses Vermögen beispielsweise dadurch markiert, dass der Film die Beliebigkeit des Bildschirmprinzips mit seiner eigenen Entschiedenheit konfrontiert. Dies geschieht nicht nur auf der visuellen Ebene, sondern auch auf der auditiven. Die heterogenen Tonquellen des Fernsehens, die sich überschneidenden Sprecherstimmen, Jingles und Reklamemelodien werden zum Schluss einem Ende ausgesetzt. Der Film lässt sie verstummen, wenn er das Geräuschgefüge der vier Bildschirme stillstellt und stattdessen sein eigenes überlegenes Voice-over sprechen lässt: »This was the story of Howard Beale, the first known instance of a man who was killed because he had lousy ratings.« Mit seiner eigenen Stimme, die jenseits aller Fernseh-Instanzen erklingt, weist der Film sich als Erzähler einer Geschichte aus, die nun zu Ende ist. Dieses Ende hebt er wiederum durch den Verweis auf die fernsehspezifische Endlosigkeit hervor (denn die Rede ist ja vom ersten, nicht vom einzigen televisuellen Todesfall), von der er sich dezidiert abheben kann. Denn letztlich setzt der Film an das Ende seiner Erzählung sein eigenes filmisches Schlusszeichen, den Abspann. Der Film-Ab46 Das Fernsehen kann den Tod nicht als etwas Letztgültiges sehen, sondern muss ihn seiner Wiederholungslogik unterwerfen, wie auch andere Filmbeispiele verdeutlichen. Micky und Mallory Knox aus NATURAL BORN KILLERS vollführen als verkörpertes Fernsehen Morde in Serie – und ihr Tun wird vom Fernsehen erneut in Wiederholung gezeigt. »Repetition works«, erklärt der Fernseh-Redakteur Wayne bei der Aufbereitung des Mord-Materials im Fernsehstudio – wohlwissend, für welches Medium er arbeitet.
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spann steht für sich selbst. Er kündigt nichts Weiteres, darauf Folgendes an, er lässt nichts anderes erwarten. Er sagt »Ende« und meint es auch so. Der Film-Schluss ist damit etwas anderes als der TV-Schuss. Er finalisiert, während das Fernsehen kein Ende finden kann.47 Jeder Film, der sich mit dem Fernsehen befasst, stellt dies heraus: Er umschließt das Fernsehen über seine filmische Schluss-Logik. Der Film kann über seine eigenen Möglichkeiten zeigen, dass er anders funktioniert als das Fernsehen. Darauf hält er sich einiges zugute. Im Unterschied zum Fernsehen lässt er sich bei dem, was er zeigt, nicht stören. Er ist über seine eigene Anordnung in Ordnung, während das Fernsehen immer wieder neue Anschlüsse suchen muss. Die Störanfälligkeit des Fernsehens präsentiert der Film häufig über televisuelle Bildirritationen und Sendeausfälle.48 Dass es sich dabei aber keineswegs um das Ende des Fernsehens handelt, weiß der Film ebenfalls zu verdeutlichen, etwa in THE TRUMAN SHOW. Nachdem die televisuelle Truman Show durch den unerwarteten Austritt ihres Protagonisten nicht weiter gesendet werden kann, erscheint auf dem FernsehBildschirm ein diffuses Rauschen. Das Fernsehen hat sich jedoch nicht ausgeschaltet. Es hat seinen Betrieb nicht eingestellt, es läuft weiter. »What else is on?« fragt einer der Parkhauswächter, nach der Programmzeitschrift suchend – und wissend, dass es neben dem eben gewählten Kanal zahlreiche weitere gibt, die auf Sendung bleiben. Mehr noch: Auch das bereits Gesendete ist keineswegs vergangen, sondern potentiell wiederholbar. Dies wurde bereits zuvor deutlich, denn das Fernsehen zeigte nicht nur die fortlaufende Live-Sendung, also die Truman Show, sondern auch ein Special mit Wiederholungen (etwa Trumans unglückliche Romanze mit Sylvia).49 Gerade in Abgrenzung zur Wiederholungstätigkeit des Fernsehens kann der Film nun herausstellen, dass er selbst zu schließen vermag. In GROUNDHOG DAY (H. Ramis, USA 1993) gerät der TV-Meteorologe Phil Connors in eine Wiederholungsschleife, welche die Situation der Live-Übertragung eben nicht als einzigartiges, sondern als repetitives Fernsehgeschehen ausweist. Das Ende kann nur der Film finden – hier als klassisches Happy End einer Liebesgeschichte. 47 Für das Fernsehen (und das gilt auch und gerade für das Live-Fernsehen) gibt es nichts Einzigartiges, Unwiederbringliches – denn, darauf hat Kay Kirchmann hingewiesen, die fernsehspezifische »Integrationsleistung besteht just darin, das Moment des Singulären ein- und rückzubinden in den Strom des Bilderflusses, in die Zyklizität der Repetition, in die Linearität der Serie [Herv. i. O.].« (Kay Kirchmann: »Störung und ›Monitoring‹ – Zur Paradoxie des Ereignishaften im Live-Fernsehen«, in: Gerd Hallenberger/Helmut Schanze (Hg.), Live is Life. Mediale Inszenierungen des Authentischen, Baden-Baden 2000, S. 91-104, hier S. 101) 48 Etwa in VIDEODROME, NATURAL BORN KILLERS oder FARGO (J. Coen/E. Coen, USA 1996), wo es im empfangsgestörten Fernsehen nur noch televisuellen Schnee zu sehen gibt. 49 Dass das Fernsehen nicht nur die Sendung selbst wiederholt, sondern auch innerhalb seiner Sendungen wiederholt auf Wiederholungen verweist, verdeutlicht das Beispiel FAHRENHEIT 451. »Let’s watch that once again«, sagt die TV-Stimme in einer Sendung über Selbstverteidigung – um kurze Zeit später wiederum zum wiederholten Sehen aufzufordern: »Watch it carefully again, cousins!«
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Weiterhin kann sich der Film als Ganzes und Geschlossenes in den Vordergrund schieben, wenn er die endlose Fließtätigkeit des Fernsehens präsentiert, ohne das Fernsehen im Einzelnen oder explizit zeigen zu müssen. Ein Beispiel dafür ist das Gespräch zweier Kundinnen des Friseursalons Soles in VOLVER (P. Almodóvar, E 2006), die ihr Fernsehverhalten – programmunabhängig – als unausgesetztes Glotzen beschreiben. Hier geht es also nicht um die einzelne Fernsehsendung (die gut oder schlecht wäre), sondern um das Fernsehen selbst. Als diffus Gestreutes und endlos Laufendes hat es einen eigenen Betrieb, aber es kennt keine einzelnen Werke. Während sich der Film durch einen gezielten Aufbau auszeichnet, während er sich mit Einstellung und Montage beschäftigt, während er sich mit Themen und Motiven befasst, während er dies alles vom Standpunkt der Erzählung aus unternimmt, kann das Fernsehen nichts anderes tun als zu fließen. Es macht dies immer weiter – auch wenn keiner zusieht.50 Und es macht dies auch, wenn es gerade nicht im laufenden Betrieb ist: »Ob ein bestimmter Apparat nun eingeschaltet ist oder nicht: das Fernsehen läuft weiter. In dieser Hinsicht ist es für die Zuschauer in einer anderen Weise da als die Kinoprojektion für die Filmzuschauer.«51 Dieses andere Dasein, dieses spezifische TV-Sein zeigt sich nicht nur in seinem Äußeren, sondern auch in seinen inneren Gesetzen. Das Fernsehen hat Segmente, aber keine Einstellungen. Und es fügt diese Segmente ganz anders zusammen als der Film seine Einstellungen: »Der Schnitt kommt im Fernsehen nicht vor; Fernsehen arbeitet mit dem permanenten Übergang. […] Der Film kennt Anfänge und Enden, Fernsehen dagegen hat immer schon angefangen und hört nie auf.«52 Das Fernsehen kann sich deshalb nicht selbst ausschalten – aber der Film kann es. In MASQUES (C. Chabrol, F 1987) fährt zum Schluss die filmische Kamera zurück, um das Gezeigte als Fernseh-Geschehen auszuweisen. Zu sehen ist jetzt der Rahmen des Fernseh-Apparates, der von einer filmischen Hand ausgeschaltet wird – und Schnitt. Und Schluss.
50 Der Film zeigt dies häufig, wenn er laufende Fernsehgeräte ohne davor befindliche Betrachter präsentiert, etwa in FREE RAINER – DEIN FERNSEHER LÜGT. Eine andere Möglichkeit ist, den laufenden Fernseher in Kombination mit dem nicht zuschauenden Zuschauer zu zeigen, z.B. in REBEL WITHOUT A CAUSE (N. Ray, USA 1955), wo Jims Vater schlafend vor dem Fernseher zu sehen ist. 51 J. Ellis: Fernsehen als kulturelle Form, S. 66. Dass das Fernsehen immer weiterläuft, dass es für seine Zuschauer endlos da ist, das kann der Film auch figurativ vorführen. Er zeigt das Fernsehen daher häufig als etwas, das auch im Apparat kein Ende und keine Grenze hat – so etwa in VIDEODROME, wo sich der Bildschirm dem Zuschauer entgegenwölbt, bis beide ineinander übergehen, oder in TETSUO (S. Tsukamoto, J 1989), wo Fernsehbildschirme als Träger von Erinnerungen bzw. als ausgelagerte Gehirne funktionieren. 52 L. Engell: Fernsehen mit Gilles Deleuze, S. 478.
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»Ich bin nackt.« Wie Video im Film Unmittelbarkeit erzeugt und Geständnisse provoziert ROLF F. NOHR
Eine Reflexion von Video durch das Kino scheint weniger durch das Zeigen von Camcordern, Videokassetten oder Urlaubsfilmen stattzufinden, sondern zuallererst eine emanzipatorische oder dissidente Figur der Selbstreflexion eines Mediums zu sein. Das Video ist nach Jean-Luc Godard der »Kinematograph des Amateurs«,1 es ist eine Erlösungsphantasie, die von der Suspendierung der Filmindustrie, des übermächtigen Autoren-Regisseurs und des big budget movie träumt.2 Das Video – so zumindest eine landläufige Erzählung des Kinos – kann den wirtschaftlich-unterhaltenden Komplex des Kinematografischen zu einer ursprünglichen Form des ›authentischen‹ Erzählens mit Bildern zurückentwickeln. Dies wäre zumindest die These eines Films wie beispielsweise BE KIND REWIND (M. Gondry, GB/USA 2008), der eine einzige überbordende Hommage an das ›Eigentliche‹ des Kinos zu sein scheint, welches nur durch ein so obsoletes (weil technologisch transitorisches) Medium wie das Video und die sich daran anlagernde Ideologie des do-it-yourself gerettet werden kann. Aber es wäre zu kurz gegriffen, das Video nur auf eine solche Figur des Medieninstitutionell-Dissidenten zu reduzieren.3 1
2
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Wilfried Reichart: »Interview mit Jean-Luc Godard«, in: Siegfried Zielinski (Hg.), Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt/Main u.a. 1992, S. 197-209, hier S. 203. »Ich habe die große Hoffnung, dass durch diese kleinen 8mmVideokameras, die es jetzt gibt, Leute, die normalerweise keine Filme machen, plötzlich welche drehen – und dass ein kleines dickes Mädchen aus Ohio der neue Mozart sein wird und mit der kleinen Kamera ihres Vaters einen wunderschönen Film dreht. Und dann wäre endlich der so genannte Professionalismus beim Film für immer zerstört.« – Francis Ford Coppola in HEARTS OF DARKNESS: A FILMMAKERS APOCALYPSE (F. Bahr/G. Hickenlooper/E. Coppola, USA 1991). Es wäre sicherlich notwendig, an dieser Stelle ausführlicher auf die emanzipatorischen, dissidenten oder widerständigen Medientheorien von Bertolt Brecht (vgl. »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: Ders., Schriften zur Literatur und Kunst I, 1920-1932, Frankfurt/Main 1967, S. 38-43) über Hans Magnus Enzensberger (vgl. »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Ders. (Hg.), Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse
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Video ist aus der Perspektive des Films eine Praxis, die wesentlich mehr zu bieten hat als überschaubare Hardwarekosten, eine schnelle Beherrschbarkeit und einen verführerischen low tec-Charme. Video ist mehr als nur der Speicher, mehr als nur das Gedächtnis des Kinos.4 Das Video, so die hier zu erläuternde These, ist eine spezifische mediale Geste, die nicht unbedingt an VHS-Bändern oder Ampex-Recordern festzumachen ist, sondern die eine bestimmte – und vorrangig mit dem Begriff des ›Unmittelbaren‹ zu verbindende – subjektive wie intersubjektive Praxis der Bildherstellung und -aneignung beschreibt. Diese Geste ist es denn auch, die einerseits die eigentliche Tech-
4
zur Pressefreiheit, München 1997, S. 97-116) bis hin zu den Cultural Studies (vgl. z.B. John Fiske: »Videotech«, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), The Visual Culture Reader, London 1998, S. 153-162) einzugehen und nachzuzeichnen, inwieweit Video hier jeweils als Option eines ideologischen ›Gegenübers‹ konzeptualisiert wird. In unterschiedlichster Weise werden in einer solchen Theorietradition der Laienfilm, das Homemovie oder der taktische Gebrauch audiovisueller Produktion als segregative Elemente der demokratischen Abgrenzung von hegemonial-institutionellen Produktionsbedingungen thematisiert – sei es durch die Aneignung der Produktionsmittel selbst, durch die Appropriierung von Technologien und Kodifizierungsformen oder durch die Integration oder Einschreibung der Geschichte des privaten Lebens in mediale Formate. Gerade diese Idee der textuellen Produktivität des ›Laien‹ als eine politisch sinnvoll erscheinende Transgression von Zeiten und Räumen des Privaten und Öffentlichen stabilisiert aber in vielen Argumentationen die Dichotomien, die solche Handlungsformen aufheben sollen. Wenn der Laienfilm das Mediendispositiv ›umformen‹ soll, indem er den Betrachter zum Betrachteten macht, also den Zuschauer zum handelnden Akteur und zum Produzenten werden lässt, so beharrt er doch auf einer Trennung von Produktion und Rezeption, aktiv und passiv, handelnd und nicht-handelnd. Durch die Beibehaltung dieser Dichotomie stabilisiert sich eine Medienlogik, die wesentliche Elemente von Medienhandeln nicht wahrnehmen kann – die quergängige Produktion von Bedeutung und Erfahrung jenseits einer Trennung von Konsum und Produktion. Sowohl in medienarchäologischer als auch in symboltheoretischer Perspektive wäre es eigentlich unabwendbar, hier zuerst zu diskutieren, inwieweit der Speichercharakter des Videos für Fernsehen und Film auch für dessen ästhetischen und bedeutungsproduktiven Einsatz innerhalb dieser Medien konstitutiv ist. Auch für die hier vertretenen Thesen wäre ein weiterer Mehrwert zu erwirtschaften, wenn die Selbstkonzeption des Videos im Film noch einmal kleinteiliger aus der Perspektive der Speicher-/Gedächtnisfunktion besprochen werden würde: das Überspielen als shared memories, die Löschung der Kassette als Gedächtnisverlust, die Differenz von privatem und intersubjektivem Gedächtnis (VHS vs. MAZ-Band) usw. (vgl. z.B. Roy Armes: On Video, London, New York 1988). Und nicht zuletzt markiert die Verfügbarkeit des Kinofilms auf Video nicht nur den Beginn seiner Sammel- und Archivierbarkeit für den Amateur, sondern auch den Beginn der Filmwissenschaft: Ohne Videoband keine Verfügbarkeit des Films für Forschung und Lehre (vgl. Vinzenz Hediger: »Rituale des Wiedersehens: Kinofilm im Zeitalter seiner Verfügbarkeit auf Video«, in: Ralf Adelmann/Rolf F. Nohr/Hilde Hoffmann (Hg.), REC – Video als mediales Phänomen, Weimar 2002, S. 72-93).
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nologie des Videos (als Magnetbandaufzeichnung) überlebt und beispielsweise aktuell in einem Phänomen wie YouTube wiederkehrt, die aber auch und vor allem als Übernahme in andere Medien den Gehalt ihres ›gestischen Potentials‹ remedialisieren kann. Ein erstes Beispiel zur Verdeutlichung dieser Perspektive ist AMERICAN BEAUTY (S. Mendes, USA 1999). In dieser Groteske aus dem amerikanischen Vorstadtleben geht es in einer Nebenhandlung um die Herausbildung einer – im Vergleich zur Haupthandlung – als ›rein‹ und ›errettend‹ charakterisierten Liebensbeziehung zwischen den beiden Jugendlichen Ricky und Jane. Jane, die Tochter der midlife-crisis-geschüttelten Hauptfigur Lester, wird auf den unter dem strengen Regime eines tyrannischen Vaters leidenden Nachbarsjungen Ricky aufmerksam, als sie bemerkt, dass dieser sie nicht nur beobachtet, sondern sie mit der Videokamera observiert und filmt. Bei einem ersten Treffen stellt sich Ricky ihr als eine Figur vor, die ihre Umwelt über deren videografisches Abbild reflektiert, also ihre Erfahrungen und Eindrücke filmend verarbeitet. Beide betrachten Rickys Lieblingsfilm, eine im Wind tanzende Einkaufstüte (vgl. Abb. 1). Ricky kommentiert dieses Bild mit den Worten, dass ihm die tanzende Tüte Stärke gegeben habe (»Es gibt manchmal soviel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann.«). Er charakterisiert das Videobild zwar als einen schwachen Ersatz für die durchlebte Erfahrung – dennoch inszeniert der Film die Betrachtung des Videos als einen sakralen Moment, der sich für den Kinozuschauer durch eine längere bildfüllende Sequenz der Einkaufstüte darstellt.
Abb. 1: Tanzende Einkaufstüte in AMERICAN BEAUTY
Die Videokamera spielt ebenso eine Rolle, wenn es um die körperliche Annäherung von Ricky und Jane geht. In einer weiteren Sequenz (vgl. Abb. 2) stehen sich die beiden an ihren Fenstern – nur durch den Garten getrennt – gegenüber. Ricky hebt die Kamera und filmt Jane, die daraufhin beginnt, sich langsam zu entkleiden. Schaut Jane an Ricky vorbei und sieht in sein Zimmer hinein, kann sie ihr eigenes Abbild in der Monitorausspiegelung von Rickys Kamera in dessen Fernseher betrachten. Als sich die beiden in einer späteren Sequenz lieben, zeigt uns der Film wiederum in ähnlicher technischer Anordnung, wie Ricky Jane filmt, während diese sich selbst auf dem Monitor beobachten kann. Die Präsenz des eigenen Abbildes, die beobachtende Kraft des Videos wird wiederum zu einem Schlüsselmoment der Erfahrung der Selbstreflexion und Selbstfindung erhoben. Als Jane sich der Kamera bemächtigt und Ricky fragt, wie er sich jetzt fühle, antwortet dieser: »Gut!«5 5
Jane: »Kommst du dir nicht nackt vor?« Ricky: »Ich bin nackt.«
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Abb. 2: Striptease in AMERICAN BEAUTY
Die Videokamera erlaubt also den Protagonisten in AMERICAN BEAUTY nicht nur, Erfahrungen aufzuschreiben und zu fixieren, sie ist ebenso ein Medium der Erkenntnis, der Offenlegung von intimem Wissen, ein Medium der Selbstreflexion und der Weiterentwicklung.6 Die Figuren Ricky und Jane scheinen die einzigen im Film zu sein, denen eine positive Entwicklung zugebilligt wird – weil sie sich eines Mediums neben dem Film bedienen und ihre Erfahrungen sich mit einer Illusion der Unmittelbarkeit verweben.
Remedialisierung Wie kann nun aber die Verbindung von Video und Kino theoretisch konzeptualisiert werden? Das medientheoretische Instrumentarium, das für eine solche Beschreibung zur Verfügung steht, ist weit gespannt. Sicherlich ist es produktiv, das Video im Kino beispielsweise als eine Remedialisierung7 im Sinne von Jay David Bolter und Richard Grusin zu beschreiben und über die Momente größter Offensichtlichkeit – das grobkörnige und rauschende Bild der tanzenden Einkaufstüte auf voller Leinwand – und naturalisierenden Verschwindens – die Selbstverständlichkeit des voyeuristischen Blicks des Videos im System Kino – dieser Remedialisierungen nachzudenken. Aber wie zielführend kann dies sein, wenn sich der Inhalt eines neuen Mediums immer aus einem vorgängigen Medium ergibt? Wenn also eigentlich darüber nachzudenken wäre, inwieweit die Videoästhetik eine kinematografische ist, und nicht, warum sich das Kino (wie auch das Fernsehen) so reichhaltig der Ästhetik des Videos bedient? Wie sinnig kann es also sein, den McLuhanschen Begriff der »energetischen Bastarde«8 anzulegen, einen Begriff, der die Hybridisierung von Medien als ein Freisetzen von multiplikativen Energien beschreibt, wobei gänzlich unklar bleibt, was das spezifische energetische Potential oder den Mehrwert des Videos im Beispiel darstellt? Für das Moment des Videos im Kino möchte ich demgegenüber zunächst vorschlagen, Video relativ unscharf als eine ›gestische Form‹ zu begreifen. 6
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Dass eine solche Weiterentwicklung nicht allein die Leistung des Videos ist, sondern auch ein zur Erkenntnis fähiges Subjekt benötigt, zeigt das Finale des Films, bei dem der Vater Rickys eines der Videobänder seines Sohnes falsch interpretiert. Vgl. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media. 6. Nachdr., Cambridge/Massachusetts 2003. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf u.a. 1992, S. 73.
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Dies verschiebt den Fokus der Betrachtung auf das Phänomen Video, also ein Nachdenken darüber, was die Bedeutung dessen ist, was wir landläufig als »Video« bezeichnen (ganz ähnlich, wie dies auch die Phänomenologie des Gestischen bei Vilém Flusser versucht9). Mein Vorschlag wäre jedoch, in der Definition des Gestischen dessen Bedeutung vor allem als intersubjektiv motiviert zu begreifen. Georgio Agambens »Noten zur Geste« legen ihr Augenmerk demzufolge auch mehr auf eine Beschreibung des Gestischen als symbolischen Akt zur Eröffnung eines Handlungsraumes. Das Spezifikum einer Geste liegt in ihrem Status eines »Dazwischen«: zwischen Handlung als Vollzug (praxis) und Handlung als Herstellung (poiesis).10 Etwas avancierter können wir die Geste als eine Artikulationsform bestimmen, die nicht an Technologien oder bestimme Materialitäten gebunden und jenseits einer reinen symbolischen oder mimetischen Repräsentation angesiedelt ist. Video als Geste meint eine spezifische Strategie der Herstellung einer eigenständigen Form von Sichtbarkeit als diskursives, ideologisches Verfahren. Video als Geste ist also eine quergängige Artikulationsform und (inter-)subjektive Praxis, die ihre Manifestation an unterschiedlichsten Orten findet: im Umgang mit der Heimvideokamera ebenso wie in Filmen mit Handykameras, in Dokusoap-Fernsehformaten ebenso wie bei YouTube – und nicht zuletzt eben auch im Kino. Eine solche Konzeption geht automatisch davon aus, dass die Hybridisierung aktueller Medientechnologien an sich schon die etablierten und intuitiven (technisch-apparativ modellierten) Instanzen der Analyse auflöst. Markus Stauff hat angesichts dieser Entwicklung jüngst den Vorschlag gemacht, Medienanalyse unter zwei neuen Leitfragen zu betreiben: erstens, wie sich Effekte von Medien beschreiben lassen, wenn es keine Objekte mehr gibt, sondern nur noch Inhalte, Praktiken, Ökonomien, diskursive Konstellationen usw. Und zweitens, wie sich Medieneffekte beschreiben lassen, wenn Produktion und Rezeption nicht mehr länger als trennbar angenommen werden (»prosumer-culture«).11 Der Leitgedanke zu einer so gewandten Medienanalyse ist eine konsequente Ausrichtung der Perspektivierung auf die zentrale Instanz des Subjekts. Subjekte handeln an und mit Medien, Subjekte werden durch und mit Medien ›formiert‹. Die wesentliche Dynamik eines so konzeptualisierten Mediensystems entsteht folglich weniger aus den Objekten und Institutionen, sondern vielmehr aus den quergängigen diskursiven und dispositiven Dynamiken der Ordnungsstrukturen von Mediensystemen. So verstanden ist die Geste des Videos als eine Dynamik zu begreifen, die quer durch Medien(-formen und -inhalte) auf die Subjekte zugreift und von ihnen betrieben wird. Die Geste des Videos ist somit mehr eine spezifische, ideologische intra- wie intersubjektive Handlungsform, die ihren Niederschlag jenseits dezidierter Medien findet. In diesem Sinne durchzieht die 9
Vgl. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt/Main 1994. 10 Vgl. Giorgio Agamben: »Noten zur Geste«, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik – Beiträge zur Philosophie und Gesellschaftskritik, Tübingen 1992, S. 97-107. 11 Vgl. Markus Stauff: »Medienanalyse und Gouvernementalitätsforschung«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 55 (2009), S. 68-72.
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Geste des Videos eine Mediengesellschaft in Form einer sozialen und ästhetischen Praxis und kann keinesfalls an bestimmten Erfindungen, Technologien oder Apparatekomplexen festgemacht werden.
Die Geste Video Wie lässt sich nun aber der Begriff des Videos als Geste definieren? Vor allem eben nicht durch eine spezifische Qualität, die im Material oder der Technizität des Medienobjekts begründet liegen würde. Es ist eben nicht das Spezifikum einer ästhetisch-technischen Operation wie einer speziellen Einstellungsform, Kameraführung, Farbe, eines bestimmten Ausschnitts, Tons oder Lichts; es sind keine spezifischen ›Materialfertigkeiten‹ wie Zeitlupe, Zeitraffer, Wiederholung oder digitale Effekte, die eine eigenständige Kodifizierung einer potentiellen Videoästhetik (einer technisch determinierten »Videozität«12) etablieren. Es mag zwar in Bezug aufs Kino eine deutliche Markierung sein, wenn sich die fliegende Tüte als Bild durch eine rauschende Materialität auszeichnet, oder wenn in anderen Filmen blinkende ›Rec‹-Zeichen und Kadrage-Markierungen in den Ecken auf die Videozität des Bildes verweisen – die eigentliche Geste des Videos findet sich aber nicht in der Zeichenhaftigkeit des Bildes, sondern im Wert seiner Bedeutungsproduktion, die es begleitend durchdringt. Das Sichtbare der Geste Video ist in diesem Falle vielleicht viel eher der Moment des Speicherns. Es ist der Verweis auf die Herausgehobenheit des Augenblicks eines distinkt Einzigartigen und auf die momentane, subjektive Wahrnehmung. Die fliegende Einkaufstüte thematisiert die Geste Video dahingehend, als sie deutlich werden lässt, dass die Anmutung der ästhetischen Ebene der fliegenden Tüte eine ist, die ihre Entfaltung ausschließlich dem Potential des Videos verdankt. Das Video provoziert hier durch die Aussage, dass das erzählende (Blockbuster-)Kino mit seinen Produktionsbedingungen und seiner dispositiven Struktur nicht in der Lage ist, ephemere und subjektive Schönheit einzufangen. Auf diese Weise rückt für die Geste des Videos nun auch ihre spezifische Zeitlichkeit ins Blickfeld: Die technische Genese der ersten Videorekorder, aus dem Antrieb des etablierten Massenmediums Fernsehen primär eine Aufzeichnungs- und Speicherungspraxis zur Verfügung zu stellen und damit sekundär auch die Idee der time axis manipulation ins Fernsehen einzuführen, verlängert sich (diskursiv) ins Video hinein. Es ist eben nicht beispielsweise die Idee der slow motion, welche die Geste des Videos auszeichnet, sondern vielmehr die Idee der Speicherung, der Erinnerung und des Aufschreibens von Eindrücken. Entscheidend ist aber, dass diese Form der Zeitlichkeit und »Monumentalisierung«13 hier eine Verzahnung zweier Praxisfelder der technischen Grundlagen von Produktion und Rezeption darstellt: Der mediensystematisch notwendige Speicher des Profibereichs entfaltet seine mediale Sinnstiftung erst im Amateurbereich.
12 Vgl. Wolfgang Ernst: »Gibt es eine spezifische Videozität?«, in: Adelmann/ Nohr/Hoffmann (Hg.), REC, S. 14-29. 13 Hartmut Winkler: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/Main 2004, S. 114.
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Urlaubsvideo Die Erfahrung des ›typischen‹ privaten Videoeinsatzes ist wohl die des Urlaubsfilms. Hier schlägt sich die Konstellation des gestischen Potentials am deutlichsten nieder. Ein Urlaubsfilm ist signifikanterweise ein Speicherungsort für eine subjektive Erlebnisform, die sich in ihrer niedergelegten Bedeutung auch nur den Gespeichert-Habenden erschließt. Die quälende Langeweile der Betrachtung fremder Urlaubsvideos generiert sich nicht zuletzt daraus, dass der Betrachter eines fremden Urlaubsvideos nicht in der Lage ist, die im Moment der Aufzeichnung gemachten Erfahrungen selbst abzurufen. Denn das Privatvideo speichert (mangels einer eigenständigen ästhetischen Form) nur die ›Markierung‹ der Erinnerung, nicht aber die eigentliche gemachte Erfahrung. Das (Urlaubs-)Video ist folglich insofern defizitär, da es nicht eigenständig in der Lage ist, Erfahrung zu stiften, sondern nur den trigger für eine Erinnerung bereitzustellen vermag.14 Die Behauptung des fotografischen Abdrucks des Realen (eines »Es-ist-so-gewesen«15) ist nicht mehr die eines materiellen Zeugen, sondern eine Behauptung des Zeigenden – des Urlaubsfilmregisseurs.16 Demgegenüber aber behauptet das Urlaubsvideo für seinen Hersteller selbst, dass es nicht nur eine Art mentales Notizbuch und Erinnerungsauslöser sei, sondern tatsächlich das Erfahrene manifest werden lassen könne. Die Behauptung der Geste des Videos ist demzufolge auch die essentielle Behauptung der Ermöglichung einer Erfahrung unmittelbarer Teilhabe. Die Geste des Videos ist die Suggestion einer Verlängerung der Erfahrung über ihren Moment hinaus. Es geht der Geste des Videos um eine Behauptung der Kontinuität von Erfahrung. Gleichzeitig entsteht aus dieser ersten Suggestion eine zweite, nämlich die der Konnektivität. Nicht nur, dass das Bild des Urlaubsvideos seinen Macher/Betrachter an die (zeitlich geschiedene) Erfahrung eines Urlaubs rückzubinden scheint, es scheint ihn ebenso mit anderen Betrachtern (räumlich) zu verbinden, also einen Konnex geteilter Erfahrung im Moment der Rezeption zu behaupten. Nur so lässt sich erklären, warum beispielsweise ein Videoportal wie YouTube aus einer erdrückenden Fülle privater und persönlicher Videos besteht. Diese unter dem Verdikt eines Wunsches nach öffentlicher Anerkennung zu betrachten, hieße zu übersehen, dass es weniger die Anerkennung als die vorgelagerte Aufnahme von Konnektivität selbst ist, die das Subjekt dazu zu treiben scheint, sich öffentlich zu exponieren. Wenn nun also gerade das Kino in starkem Maße auf die Kraft der Geste des Videos setzt, dann tut es dies möglicherweise genau mit dem Ziel, sich von der Geste des Videos die (illusionäre) Kraft dieser unverstellten Erfah14 Selbstverständlich ist dies kein Strukturmerkmal, welches nur das Video betrifft. Diese Differenz von Erfahrung und Erinnerungsauslösung ist eine, die immer dann zum Tragen kommt, wenn ein technisches Bildmedium als privates Gedächtnis aufgerufen wird. 15 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (1980), Frankfurt/Main 1989, S. 89. 16 Zur Figur des Bezeugens als Funktion von Mediensystemen vgl. auch Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008, S. 223ff.
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rungen entleihen zu wollen. Worauf das Kino also in dieser Appropriation setzt, ist eine Suggestion von Unmittelbarkeit. Die Geste des Videos stiftet hier eine Erfahrung der unverstellten und unvermittelten Gegenwärtigkeit und Präsenz: »Die Unmittelbarkeit bezeichnet gleichsam den Berührungspunkt mit der Oberfläche von etwas, was uns räumlich und zeitlich präsent ist.«17 Wenn wir das Bild des (Blockbuster-)Kinos zentral durch seine Arbitrarität und sein Vermögen, Attraktionen abzubilden, kennzeichnen,18 so scheint ein Bild, das sich der Geste des Videos entlehnt, wesentlich als Alternativprogramm ausgezeichnet zu sein. Das Kino versucht sich hier die Unmittelbarkeit einer gänzlich anderen Form des Bildermachens anzueignen und der Suggestionen des Videos teilhaft zu werden. Die Suggestion der Kontinuität von Erfahrung und Anschlussfähigkeit gibt dem Kino auf neue Art und Weise eine Kraft, gegen sein ureigenes Dilemma anzukämpfen – nämlich gegen seine Genese aus dem Technischen und Arbiträren. Ein Film wie BLAIR WITCH PROJECT (D. Myrick/E. Sánchez, USA 1999) buchstabiert eine solche Taktik der Mimikry exemplarisch aus. Als fake-documentary angelegt, bezieht er seinen wesentlichen Reiz aus zweierlei Aspekten, zum einen aus dem Aufeinandertreffen zweier medialer Gesten: Es trifft hier das Kino in Gestalt der Materialebene der 16mm-Filmsequenzen, die im Rahmen des Handlungsvollzugs des Filmes gedreht werden und damit das Narrativ des Films markieren – das Drehen eines Films – auf die Geste des Videos. Diese ist in Form der Videoaufnahmen, welche die zweite Ebene der Materialität des Films bilden und als Narrativ die Selbstbeobachtung eines Filmteams beim Drehen eines Films markieren, kopräsent. Der andere Aspekt ist derjenige der Erzeugung von Unmittelbarkeit als Traum des Dokumentarkinos – der ungebrochenen Einschreibung der Welt in das Material, also dem naiven pencile of nature. Pointiert behauptet der Film in Bezug auf diesen zweiten Aspekt eine Unmöglichkeit des dokumentarischen Traums für das Kino: Der Verismus des Dokumentarischen ist im Material des Films suspendiert. Die Bilder der 16mm-Kamera zeigen beharrlich nur leere Landschaften, dunkle Nachtbilder oder talking heads. Die bedrohliche Ebene des Films entfaltet sich erst über die Entlehnung eines anderen Materials, nämlich desjenigen des Videos. Durch die Thematisierung der handelnden Subjekte und ihrer Erfahrungen in der Unmittelbarkeit stiften die Videobilder die Suggestion der Teilhabe – auch wenn in ihnen im Grunde ähnlich wenig zu sehen ist wie in den 16mmBildern. Im Widerstreit von Film und Video entsteht somit zeitgleich eine Verdoppelung und Trennung des Repräsentierten nicht in der Materialität, sondern in der Geste.
Geste des Unmittelbaren Auf eine bestimmte Weise scheint also BLAIR WITCH PROJECT eine Meditation über die Implikationen der Apparatustheorie und der schon erwähnten 17 Andreas Arndt: Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004, S. 6. 18 Zum Kino der Attraktionen vgl. Tom Gunning: »The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectators and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56-62.
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These der Remedialisierung zu sein. Der Film variiert und travestiert Momente der ausgestellten Sichtbarkeit der Herstellungszusammenhänge und Momente ihrer Verschleierung. Er thematisiert das Dispositiv des Kinos ebenso wie die uralte Sehnsucht der Unmittelbarkeit im technischen (Massen-)Medium. In der Remedialisierungs-These treffen wir auf die Doppelfigur von immediacy und hypermediacy: das Nebeneinander von ausgestellter Gemachtheit und Technizität des Mediums einerseits und die Behauptung einer Unmittelbarkeit des Mediums andererseits.19 Dieser Berührungspunkt zwischen dem Medium und dem, was es repräsentiert (einem ominösen Realen – »the real«20), wäre, so die Behauptung, die Unmittelbarkeitssuggestion der Geste Video, die gerade aus der Doppelfigur von Offensichtlichkeit (Materialität des Videobildes etc.) und Unsichtbarkeit als Suggestion von Unmittelbarkeit durch Aufhebung des technisch-inszenatorischen Vorfilmischen entsteht. Die Videobilder in BLAIR WITCH PROJECT, AMERICAN BEAUTY und anderen Kinofilmen leben von ihrer scheinbaren ästhetischen wie technischen Voraussetzungslosigkeit. Diese Voraussetzungslosigkeit scheint dem Kino größtenteils abhanden gekommen zu sein. War die »travail de la transparence«21 archäologisch ein wichtiger Bestandteil der Funktionalität des Kinos, so scheint sie angesichts von Computer Generated Images, Motion Capturing und trailerworthy explosions im Verschwinden begriffen. Nicht mehr die Unsichtbarkeit des Produktionszusammenhangs scheint das aktuelle Blockbusterkino auszuzeichnen, sondern vielmehr eine Tendenz zur immer gezielteren Herausarbeitung seiner Manufakturierung. Die Geste Video kann also als Kompensationsfigur verstanden werden, die eine vorgebliche Voraussetzungslosigkeit in die Bilder zurückführen soll.22 Die entscheidende Pointe an einer solchen Argumentation über die Geste des Videos als Geste 19 Vgl. Bolter/Grusin: Remediation, S. 30. 20 Ebd. 21 Jean-Louis Comolli: »Technique et idéology: Caméra, perspective profondeur du champ«, in: Cahiers du Cinema 222 (1970), S. 39-51, hier S. 19. 22 Um dem Verdacht einer latent kulturpessimistischen Argumentation entgegenzuwirken, muss an dieser Stelle darauf verwiesen werden, dass auch den Computer Generated Images eine Tendenz zur Voraussetzungslosigkeit innewohnt, wie dies beispielsweise Herbert Schwaab (vgl. »Wie es möglich ist, von einem digitalen Riesenaffen berührt zu werden – Blockbusterkino, CGI und die Essenzen des Films«, in: Daniela Kloock (Hg.), Zukunft Kino. The End of the Reel World, Marburg 2008, S. 124-145) in Anlehnung an die filmphilosophischen Arbeiten Stanley Cavells herausarbeitet. Insofern könnte die aktuelle Tendenz zur Offensichtlichkeit des Gemachten auch als eine Art Zwischenstadium eines bestimmten Mediensegments (des Blockbusterkinos) begriffen werden, das in der Summe jedoch immer durch Unsichtbarkeit und Unmittelbarkeit charakterisiert ist. Ebenso kann darüber spekuliert werden, ob sich das Kino der Attraktionen (vgl. Fußnote 16) in diesem Zusammenhang erneuert. Die Attraktion des athletischen oder ästhetischen Körpers, der visuelle Schock oder der visuelle Gag werden dann durch die Attraktion einer computergenerierten Visualität ›ersetzt‹, die als intrafilmisches Moment ebenso sehr Attraktion ist wie die vorhergehenden vorfilmischen Attraktionen.
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der Unmittelbarkeit und Voraussetzungslosigkeit ist aber, dass eine solche Geste dennoch eine ideologische Geste ist.
Geständniszwang Eines der eindrücklichsten und bekanntesten Bilder von BLAIR WITCH PROist sicherlich dasjenige der verzweifelt in die Kamera stammelnden Protagonistin, die gepackt ist von dem sie umgebenden, unsichtbaren Grauen (vgl. Abb. 3). Dieses Bild bezieht seine Kraft aus der schon beschriebenen Unmittelbarkeitsbehauptung der Geste Video. Es ist aber auch Signifikant für eine Funktion des Videos, die sich weitaus mehr tarnt und ›unsichtbar‹ verbleibt: die Idee des Videobildes als (politisches) Geständnissystem.
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Abb. 3: Videotagebuch in BLAIR WITCH PROJECT
Deutlicher als BLAIR WITCH PROJECT hat dies der Film SEX, LIES AND VIDE(S. Soderbergh, USA 1989) inszeniert, in dem das Video als herausgestellter Ort der Beichte, des intimen Bekenntnisses, der Selbstentblößung thematisiert wird. Der Protagonist Graham sammelt in diesem Film die intimen Aussagen von Frauen über ihr Sexualleben als eine Aufarbeitung eines selbst erlittenen Verlustes, der Zurückweisung und als eine Kur gegen die eigene Impotenz. Dabei trifft er auf die Figur Ann, die ebenso wie er an der Sprachlosigkeit und rigiden Beklemmung ihrer gescheiterten Ehe leidet. Im Finale inszeniert der Film das wechselseitige Geständnis der beiden Figuren nicht als Dialog, sondern als eine komplexe Monologsequenz, in der – angesichts der aufzeichnenden Videokamera – ein Wechselspiel der Offenbarung der beiden Protagonisten stattfindet. Die Videokamera wird im Geständnismoment als eigentlich dritter Protagonist inszeniert, als Beichtvater, Instanz und beobachtendes Auge (vgl. Abb. 4).
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Abb. 4: Kameraauge in SEX, LIES AND VIDEOTAPES
Das Auge der Videokamera diszipliniert die Protagonisten dahingehend, als es ihnen nur möglich scheint, ihr Innerstes und Geheimstes über die vermittelnde und strukturierende Instanz des Kameraauges und nicht im Dialog zu entäußern und offenzulegen. Die Geste des Videos offenbart sich hier in ihrer Doppelfigur als Hersteller von Unmittelbarkeit sowie als Lenker des Subjekts in seiner Unmittelbarkeit. Die Geste Video – so die zweite zentrale These dieser Ausführungen – ist eben auch und gerade wegen ihrer primären Funktion sekundär eine Regierungstechnologie: Sie evoziert den Geständniszwang. SEX, LIES AND VIDEOTAPES verkehrt damit zunächst zwar die Geständnis-Situation aus AMERICAN BEAUTY, gleichzeitig wird hier jedoch erkennbar, dass auch der positiv konnotierten Selbsterkenntnis aus AMERICAN BEAUTY ein Moment der Überwachung und des hegemonialen neighbourhood-watching innewohnt. In einer so gewandten Betrachtungsweise erfüllt sich nun auch der Vorschlag, den Stauff angesichts der von ihm gestellten Fragen an die Möglichkeit der Medienanalyse heranträgt: nämlich das Subjekt selbst ins Zentrum der Analyse zu rücken und eben nicht mehr nach distinkten Medienformaten oder abgrenzbaren Wirkungsformen zu fragen, sondern sich den SubjektEffekten zuzuwenden, die vom Objekt gelöste, zirkulierende und hochdynamische Bedeutungskonstellationen haben.23 ›Rezeption‹ ist so verstanden ein zu schwaches Wort, um diesen Effekt einzufangen: ›Regierung‹ als SelbstSteuerung und -Regierung (im Sinne der Foucaultschen Betrachtungsformen von Macht, gouvernementalité und Regierung) scheint der passende und dezidiertere Begriff. Dieser zweite Aspekt der Geste des Videos ist einer, der sich ebenso aus dem privaten Gebrauch des Videos in die Matrix massenmedialer und kinematografischer Reflexionen verlängert. Die Geste Video ist immer auch Teil einer Strategie der Überwachung und Strukturierung der sozialen Topografie. Jeder Urlaubsfilm, jedes Heimvideo, jeder YouTube-Clip arbeitet an der Sichtbarkeit und Transparentwerdung des Privaten an sich, wodurch das videofilmende Subjekt nicht nur Objekt, sondern zugleich auch Subjekt der Überwachung ist. Der Schlüsselbegriff zu einem solchen Gebrauch ist dabei wiederum das Moment der Privatheit, das die Geste des Videos formt: erstens im Sinne einer Privatheit, welche die Rezeptions- wie auch die Produktionssituation selbst umgibt (und aus der die Suggestion der Unmittelbarkeit und 23 Vgl. M. Stauff: Medienanalyse und Gouvernementalitätsforschung.
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Voraussetzungslosigkeit stammt), zweitens als eine Privatheit, welche sich – daraus folgernd – in das Material einzuschreiben scheint und drittens als eine dadurch produzierte Form der Privatheit, die sich aber als hegemoniale Steuerungstechnik erweist. Dieser Dreischritt lässt sich vielleicht in aller Kürze am besten am Beispiel des (boomenden) Marktes von Amateurpornographie verdeutlichen. Die Anschaffung einer Videokamera bewegt ihren Besitzer dazu, Momente des Privaten zu archivieren und ephemere Erfahrungen festhalten zu wollen. Dazu gehören oftmals erotische oder sexuelle Momente. Eine solche Praxis eröffnet nun eine intersubjektive Begehrensstruktur, diese Zeugnisse fremder Unmittelbarkeit einsehen zu wollen. Dieses Begehren ist befeuert von dem voyeuristischen Wunsch, im Universum gewerblicher Pornographie auf das ›Eigentliche‹ und ›Unmittelbare‹ der Lust zu treffen. Dies führt nun wiederum dazu, dass auf dem Markt pornographischer Produkte seit langer Zeit das Genre der Amateurpornographie existiert, welches aus Filmen besteht, die zu allergrößten Teilen gewerblich produziert sind, aber in Ästhetik und Materialität die Anmutung des Privaten suggerieren. Damit verbindet sich aber an dieser Stelle der subjektive Wunsch nach der Stillstellung erotischen Erlebens mit dem ökonomisch-hegemonialen, ideologischen und normalisierenden Prinzip des Pornographischen. In Verkehrung einer bekannten Paraphrase wird hier das Private zwar politisch – aber eben in dem Sinne, dass die Selbst-Regierungstechnologie das Private überformt. Das Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit wird so zur Leitdifferenz der Kontrollgesellschaft bei Gilles Deleuze.24 Eine solche Argumentation eröffnet eine Perspektive auf das aktuelle narrative Kino, welche die ideologische Funktion der Geste Video nicht in der Thematisierung von staatlichen oder institutionellen Überwachungssystemen auffindet, sondern in Momenten der Offenlegung verschleierter Subjektthematisierungen der Sichtbarmachung. Auf der Suche nach Filmbeispielen für solche Gesten der Überwachung ist es dann auch weniger ein so offensichtlicher Film wie ENEMY OF THE STATE (T. Scott, USA 1998),25 sondern eher sein ›Vorgänger‹ THE CONVERSATION (F. F. Coppola, USA 1974), der tauglich darüber reflektiert, wie die Sichtbarmachungen eigener Begehrensstrukturen des Voyeuristischen zu strukturierenden und disziplinierenden Politikformen werden. Am deutlichsten wird dies vielleicht in ETT HÅL I MITT HJÄRTA (L. Moodysson, S/DK 2004). Als Kammerspiel angelegt, versucht der Film die Abgründe dysfunktionaler Beziehungen zwischen vier Figuren in einer trostlosen, durch Gewalt, Sexualität und Verzweiflung aufgeladenen Atmosphäre zu ergründen. Weniger die Direktheit und Unverstelltheit von Dialog und Spiel sind es, die hier für die Wirkung des Films sorgen sollen, sondern vielmehr der ausgestellte Einsatz der Videoästhetik. So suggerieren die langen, aus der Hand gefilmten Plansequenzen und die unkonventionelle Montage die Möglichkeiten einer Unmittelbarkeit der Teilhabe, einer Konnektivität zu den Figuren und einer Voraussetzungslosigkeit der An24 Vgl. Jörg Metelmann: »Der Terror der Bilder. Michael Hanekes BENNY’S VIDEO in der Kaleidoskop-Welt«, in: Adelmann/Nohr/Hoffmann (Hg.), REC, S. 5571. 25 Der Reiz von ENEMY OF THE STATE liegt in anderen Dimensionen: in der Thematisierung von Zirkulation, Looping und Iteration von Blickstrukturen, in der Variation von Omnipotenz-Phantasien der Sichtbarkeit usw.
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schlussfähigkeit eigentlich unbekannter Lebensentwürfe. Gleichzeitig offenbart das auf der DVD enthaltene Making Of aber auch, dass der stark improvisierte Herstellungsprozess des Films von den (zum Method Acting angehaltenen) Darstellern, die sich von den Instanzen Regie/Video überwacht und fremdgeführt fühlen, als hegemoniale Geste empfunden wird. Im selben Moment wird aber ebenso deutlich, dass die Darsteller bemüht sind, für den Ausgang dieses filmischen Experiments jene Regierung zu internalisieren und angesichts einer voyeuristischen Instanz von Video/Regie zu einer Selbstführung zu gelangen.
Video als Medium der Naturalisierung Die Geste Video, so zeigt dieses letzte Beispiel, ist eine Geste zwischen direct cinema und Amateurpornographie. Sie suggeriert die Möglichkeit der Unmittelbarkeit, die Option der Anschlussfähigkeit vom technischen Medium an die subjektive Erlebensqualität des Ereignisses oder Vorkommnisses26 und die Möglichkeit der naturalisierenden Speicherung subjektiven Empfindens. Die Geste Video ist anschlussfähig an eine Reihe von Gesten des ›Instantanen‹ (Sofortbild, Handykamera, Fotofixkabine, YouTube usw.). Ihre Effektivität als Subjekttechnologie etabliert dabei eine Illusion der Unmittelbarkeit und der Handlung im Vollzug, deren Adaption (auch) zu einer »Tyrannei der Intimität«27 gerinnen kann, die nicht nur eine Brücke vom Privaten zum Öffentlichen schlägt, sondern die auch und vor allem Raum eröffnet für (mediale) Regierungsformen, die nicht mehr hegemonial auftreten, sondern (im Sinne der Deleuzschen Kontrollgesellschaft) als Subjekttechniken funktional werden. Die Geste des Videos ist nicht nur der Urlaubsfilm, sondern im Sinne des Beichtstuhls, der Bio-Politik, des Bekenntniszwangs oder des Willens zum Wissen eine Form der Macht. Dass sich das heutige Kino dieser Formen der Wirkung bedient, scheint daher nur konsequent: Die Anschlussfähigkeit an das subjektive Empfinden des Unmittelbaren ist eine alte Sehnsucht des Kinos – und die Übernahme von Regierungstechnologien in den ›unterhaltend-industriellen‹ Komplex hat für das Kino ebenfalls eine lange Tradition.
Literatur Adelmann, Ralf/Nohr, Rolf F./Hoffmann, Hilde (Hg.): REC – Video als mediales Phänomen, Weimar 2002. Agamben, Giorgio: »Noten zur Geste«, in: Jutta Georg-Lauer (Hg.), Postmoderne und Politik – Beiträge zur Philosophie und Gesellschaftskritik, Tübingen 1992, S. 97-107. Armes, Roy: On Video, London, New York 1988. 26 Vgl. Lorenz Engell: »Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung. Ereignis, Erzählung«, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1 (1996), S. 129-153. 27 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main 1983.
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Arndt, Andreas: Unmittelbarkeit, Bielefeld 2004. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie (1980), Frankfurt/Main 1989. Bolter, Jay David/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media. 6. Nachdr., Cambridge/Massachusetts 2003. Brecht, Bertolt: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat«, in: Ders., Schriften zur Literatur und Kunst I, 1920-1932, Frankfurt/Main 1967, S. 38-43. Comolli, Jean-Louis: »Technique et idéology: Caméra, perspective profondeur du champ«, in: Cahiers du Cinema 222 (1970), S. 39-51. Engell, Lorenz: »Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung. Ereignis, Erzählung«, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/1 (1996), S. 129-153. Enzensberger, Hans Magnus: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Ders. (Hg.), Baukasten zu einer Theorie der Medien. Kritische Diskurse zur Pressefreiheit, München 1997, S. 97-116. Ernst, Wolfgang: »Gibt es eine spezifische Videozität?«, in: Adelmann/ Nohr/Hoffmann (Hg.), REC (2002), S. 14-29. Fiske, John: »Videotech«, in: Nicholas Mirzoeff (Hg.), The Visual Culture Reader, London 1998, S. 153-162. Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt/Main 1994. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions: Early Film, its Spectators and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London 1990, S. 56-62. Hediger, Vinzenz: »Rituale des Wiedersehens: Kinofilm im Zeitalter seiner Verfügbarkeit auf Video«, in: Adelmann/Nohr/Hoffmann (Hg.), REC (2002), S. 72-93. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf u.a. 1992. Metelmann, Jörg: »Der Terror der Bilder. Michael Hanekes BENNY’S VIDEO in der Kaleidoskop-Welt«, in: Adelmann/Nohr/Hoffmann (Hg.), REC (2002), S. 55-71. Reichart, Wilfried: »Interview mit Jean-Luc Godard«, in: Siegfried Zielinski (Hg.), Video – Apparat/Medium, Kunst, Kultur. Ein internationaler Reader, Frankfurt/Main. u.a. 1992, S. 197-209. Schwaab, Herbert: »Wie es möglich ist, von einem digitalen Riesenaffen berührt zu werden – Blockbusterkino, CGI und die Essenzen des Films«, in: Daniela Kloock (Hg.), Zukunft Kino. The End of the Reel World, Marburg 2008, S. 124-145. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main 1983. Stauff, Markus: »Medienanalyse und Gouvernementalitätsforschung«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 55 (2009), S. 68-72. Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt/Main 2004.
Portable Medien. Mobiles Aufzeichnen im Film MATTHIAS THIELE
Zwei kurze Filmszenen, die mobilen Aufzeichnungsmedien gelten, sollen als Vorspann dienen. In RUN FOR THE SUN (R. Boulting, USA 1956) spürt eine Klatschreporterin einen Erfolgsautor in einem mexikanischen Fischerdorf auf, in das sich der Schriftsteller aufgrund einer Schreibblockade zurückgezogen hat. Während er als eine am Hemingway-Image ausgerichtete Figur zur Flasche greift, greift sie in der Hotelbar sitzend zum Notizblock. Der Aufzeichnungsakt wird in zwei Einstellungen dargeboten. Die erste beginnt mit einer Halbtotalen, in der die Protagonistin beim Kellner eine Bestellung aufgibt. Durch eine kaum merkliche Kamerafahrt wird die Journalistin in eine Halbnahe herangeholt. Aus ihrer weißen Handtasche zieht sie ein metallenes Notizblocketui hervor, das sie zum Schreiben aufklappt und dem sie den Schreibstift entnimmt. In Großaufnahme folgt eine Aufsicht auf den weißen Papierblock und auf den rhythmisch kreiselnden Zug der schreibenden Hand, die das Notierte mit einem langgezogenen Gedankenstrich beschließt. Von einem Kameraschwenk begleitet, legt die Hand den Stift demonstrativ mit etwas Abstand neben den Notizblock. Frei auf dem Tisch liegend wird das Schreibgerät blitzschnell und unerwartet vom Metalletui magnetisch angezogen. In OCTOPUSSY (J. Glen, GB/USA 1983) ist, wie in fast jedem James Bond-Film, eine Sequenz der Figur Q und ihren Gadgets aus dem Forschungslabor gewidmet. Vorgeführt wird ein eleganter Füllfederhalter, der neben Tinte auch ätzende Säure und, eingelassen in die Verschlusskappe, ein Funkgerät enthält, das in Kombination mit einer aktivierten Wanze als Ohrknopflautsprecher oder in Verbindung mit Bonds digitaler Armbanduhr als Peilsender eingesetzt werden kann. Darüber hinaus befindet sich in der Q-Abteilung eine Seiko TV-Watch, die mit einer auf einem Stativ befestigten portablen Videokamera verschaltet ist. Das closed-circuit-TV nutzt Bond zur sexistischen Abschweifung, indem er mit der Kamera eine Mitarbeiterin anvisiert, ihr tiefes Dekolleté auf das farbige TV-Display der Armbanduhr überträgt und den Zoom, Masturbation konnotierend, mehrfach vor und zurück bewegt – ein Missbrauch von kaltem Kriegsgerät, den Q empört als »pubertäre Spielerei« zurückweist. Die Filmausschnitte zeigen zwei Aspekte auf: Erstens hat man es im Film mit einem sehr breit gefächerten Spektrum mobiler Medien zu tun, das in den beiden Beispielen bereits einen Notizblock, Schreibgeräte, ein Mikrofon, einen Kopfhörer, Uhren, Displays und eine Videokamera umfasst. Die mediale Disparität wird noch dadurch gesteigert, dass die Medientechnik im Bond-Film zugleich Waffentechnik ist. Unter dem Paradigma ›Portabilität‹
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versammelt sich also ein höchst heterogenes Ensemble von Medien (vom Notizheft und Bleistift über den Fotoapparat bis hin zur Digitalkamera) und damit auch ein tendenziell unüberschaubares Filmkorpus. Entsprechend soll hier pragmatisch der Fokus nur den elektronischen audio-visuellen Aufzeichnungsmedien gelten, wobei unter diesen der mobilen Videokamera ein besonderer Stellenwert zukommen wird, da der Camcorder in den letzten Jahren durch Filme wie MR. BEAN’S HOLIDAY (S. Bendelack, GB/F/D/USA 2007), DIARY OF THE DEAD (G. A. Romero, USA 2007), VANTAGE POINT (P. Travis, USA 2008), CLOVERFIELD (M. Reeves, USA 2008), [REC] (J. Balagueró/P. Plaza, E 2007) und QUARANTINE (J. E. Dowdle, USA 2008) zu einem der privilegierten Gegenstände filmischer Medienreflexion aufgestiegen ist. Zweitens erweist sich die Szene als eine gewichtige Instanz filmischer Medienreflexion. Die Beobachtung portabler Medien organisiert sich im fiktionalen Film in der Regel szenisch. Dies geschieht, folgt man den Beispielen, auf zweierlei Weise: Zum einen wird das technische Gerät, das als Requisit und Teil des Szenenbildes fungiert, für einen Moment als Ding in seiner Materialität, losgelöst von der eigentlichen Handlung, in den Vordergrund gerückt – das Insert, das in RUN FOR THE SUN der kinetischen Sensation des Schreibinstruments und in OCTOPUSSY vor allem der Miniaturisierung als Faszinosum und Fetisch der Technik gilt, stellt dabei nur die augenfälligste Realisierungsform dar. Zum anderen wird das technische Artefakt als Auslöser und Abfolge bestimmter medialer Handlungen inszeniert. So verführt die Präsenz des closed-circuit-TV 007 zur spielerischen Nutzung der Videokamera und des Zooms, die dem Bond-Film durch die demonstrative Präsentation von Geschlechterstereotypen zugleich zum erwarteten reflexiven Spiel mit Gender-Klischees dient. Die filmische Darstellung von Medienanwendungen deckt sich nur selten mit dem eigentlichen Handlungsfluss, weil es darüber hinaus immer um das In-Szene-Setzen von Medienpraktiken im Vollzug geht. In diesem nicht-narrativen Überschuss des Bildes und der Zeit verhält sich der Film – zumindest im Hinblick auf portable Aufzeichnungsmedien – gegenüber Technik, Körper und Raum gleichgültig, macht er doch gerade das Zusammenspiel von Apparat und Geste im Raum sichtbar und beobachtbar. Im Folgenden wird es zunächst um dominante Szenen mobilen Aufzeichnens gehen. Dem schließen sich über die Aufzeichnungsszene hinausgehende Thematisierungen portabler Medien im Film an. Zum Abschluss sollen dann jene Filme behandelt werden, die vorgeben, mit einem Camcorder gefilmt und ein zufällig entstandenes Dokument zu sein. Hier werden durch einen spezifischen Umgang mit dem Aufzeichnungsgerät kinematografisch Aussagen zur Schulter- und Handheld-Kamera und ihrem Bewegtbild form(ul)iert.
Szenen mobilen Aufzeichnens Die Portabilität von Medien interpretiert der Film dahingehend, dass er vorzugsweise die material-technische Seite von Medien in den Blick nimmt und Medialität anhand der Assoziationen und Interaktionen zwischen medientechnischen Artefakten und Körpern beobachtet. Dabei reduzieren Filme por-
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table Aufzeichnungsmedien äußerst selten auf eine geschlossene apparative Einheit. Stattdessen werden diese häufig als Geräte in Szene gesetzt, die aus mehreren tragbaren Bestandteilen bestehen. In BLOW OUT (B. De Palma, USA 1981) macht sich ein Tontechniker auf die Jagd nach Tönen und verlässt hierzu mit vollgepackten Taschen das Filmstudio. In der darauf folgenden Sequenz, die ihn nachts an einem See beim Aufnehmen von Geräuschen zeigt, gelten die Groß- und Detailaufnahmen den verschiedenen Elementen des apparativen Verbunds – dem Richtrohrmikrofon, dem Muschelkopfhörer und dem um die Schulter getragenen Tonbandgerät, während in Halbnahen ihr durch Gesten des Technikers vermitteltes Zusammenwirken und in Totalen die Position und Ausrichtung von Körper und portablem Medienverbund im Raum vor Augen geführt werden. Zu den entscheidenden Elementen der tragbaren Ausrüstung zählen im Film vor allem der Datenträger und die Batterie. Insbesondere die Datenspeicher durchlaufen oftmals vom Aufnahmeapparat relativ unabhängige Zirkulations- und Austauschprozesse. In CANNIBAL HOLOCAUST (R. Deodato, I 1980) und THE BLAIR WITCH PROJECT (D. Myrick/E. Sánchez, USA 1999) sind es gerade die gefundenen Filmaufnahmen, die Aufschluss über das rätselhafte und grauenvolle Verschwinden der Dokumentarfilmteams geben. Die Filmdosen werden in dem Kannibalenfilm bereits räumlich getrennt von den Überresten der Filmcrew – den zusammengebundenen Skeletten, Kleidern und 16-mm-Kameras – entdeckt und dann nach New York überführt, wo das Material im Auftrag eines Fernsehsenders entwickelt, sorgsam gesichtet und zu einer Dokumentation montiert wird. Nach Vorführung des fertigen Films entscheiden sich die Verantwortlichen des TV-Senders jedoch gegen die Ausstrahlung und ordnen sogar die Vernichtung des Filmmaterials an. Der Thriller DIVA (J.-J.Beineix, F 1981) lässt gleich zwei Tonbänder zirkulieren: einerseits eine Tonbandspule mit dem heimlichen Mitschnitt eines Opernkonzerts, die zwischen Musikliebhabern und Klangästheten als Leihgabe vertrauensvoll kursiert; andererseits eine Audiokassette mit belastenden Zeugenaussagen, die unbemerkt weitergegeben wird und schließlich in einem von Misstrauen gekennzeichneten Tauschhandel den Besitzer wechselt. Das Übergabearrangement in einer stillgelegten Fabrikhalle unterstreicht die Portabilität von Kassette und Kassettenrekorder; letzterer wird im Abspielmodus an einem dünnen Drahtseil hängend per Fernsteuerung in die Hände des Verbrechers hinabgelassen. Die Abhängigkeit mobiler Medien von Batterien wird in Filmen immer wieder thematisiert. Die Gespräche des Filmteams in THE BLAIR WITCH PROJECT kreisen vor Drehbeginn um Kamera und Ausrüstung; allerdings wird hier das Filmmaterial als knappe Ressource problematisiert und ein sparsamer Umgang damit angemahnt, während die Versorgung mit Batterien prahlerisch als gesichert ausgewiesen wird: »We’ve got so much fucking battery power, we could fuel a small Third World country for a month.« In der Regel rückt die Batterieabhängigkeit jedoch durch ein Energiedefizit in den Vordergrund. In DIARY OF THE DEAD beginnt im Verlauf der Krankenhaussequenz das Bild, das von einer innerdiegetisch verorteten Videokamera stammt, instabil zu werden. Es kommt zu asignifikantem Bildrauschen, im von Störungen betroffenen Bildfeld leuchtet blinkend das Menüzeichen für zu schwache Batterieleistung auf. Der folgende Signalausfall geht mit einem Schwarzbild einher, dem sich nach wenigen Sekunden eine neue Einstellung
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anschließt, welche in Großaufnahme den Netztransformator des Ladegeräts präsentiert, um dann das Stromkabel bis zur Steckdose abzuschwenken. Das Risiko, an einem Ort mit Untoten zu verharren, um Akkus aufzuladen, wird in einem Streit zwischen Kameramann und Begleitung damit begründet, dass es ohne Kamera keinen Sinn mache, weiterzugehen: »The camera is the whole thing.« In CALENDAR (A. Egoyan, AR/CDN/D 1993) wird in einer Szene, die sich innerhalb einer Einstellung abspielt, ebenfalls die Batterie als knappes Gut und technische Bedingung für das Filmen thematisiert. Die statische Filmeinstellung, die den Blick durch einen auf dem Stativ montierten Fotoapparat repräsentiert, da die Kadrage einer zuvor in einem Kalender gezeigten Fotografie entspricht, zeigt hintergrundfüllend eine armenische Kirche. Der Fahrer des Fotografen tritt im Vordergrund in das Bildfeld und zündet sich eine Zigarette an. Im Mittelgrund erscheint die Frau des Fotografen mit tragbarem Camcorder, den sie filmend auf den Fahrer richtet. Als dieser auf Armenisch von einer Legende des Ortes zu erzählen beginnt, hört sie fasziniert zu und übersetzt das Gesagte zugleich Richtung Filmkamera für den dahinter stehenden Fotografen. Dessen Off-Stimme unterbricht den Erzählenden barsch durch die Frage an seine Frau, ob die Videokamera noch eingeschaltet sei. Als sie verneint, fordert er sie bestimmt dazu auf, den Modus der Kamera noch einmal zu überprüfen. Da die Kamera tatsächlich noch eingeschaltet ist, regt sich der Fotograf im Off auf: »You know, it’s ridiculous. I mean, we only brought so many batteries with us and it’s just going to..., you know […] It’s the third time you’ve done that.« Der Film MR. BEAN’S HOLIDAY endet nach dem Abspann auf fulminante Weise, indem sich sein Ende in einer einzigen Einstellung vervierfacht. Zu sehen ist die Aufsicht auf einen nackten Fuß, der in Großbuchstaben das Wort »FIN« in den nassen Sand am Meeresstrand schreibt. Da in das Bildfeld oben und unten Menüleisten eingeblendet sind, wird die Aufnahme Mr. Beans digitaler Videokamera zugeordnet. Während die Brandung das in Sand geschriebene Ende hinwegspült, beginnt in der Mitte des Bildes, begleitet von einem alarmierenden Piepton, der Schriftzug »LOW BATTERY« zu blinken (vgl. Abb. 1). Nachdem das Wort »FIN« völlig verschwunden ist, versagt schließlich auch die Kamera: Schwarzbild – Ende.
Abb. 1: MR. BEAN’S HOLIDAY – Kunst der Batterieabhängigkeit
Die Problematisierung und Inszenierung der Batterie als technische Voraussetzung für das Filmen sowie als Quelle für Widrigkeiten verweist auf das
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medienreflexive Verfahren des Films, der Medientechnik und den damit verbundenen medialen Praktiken durch Unfälle und Defekte temporäre Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Zu den gängigen Pannen portabler Medien gehören die Kollision und das Entgleiten des Apparats aus dem festen Griff der Hand, wobei Letzteres, wie etwa in CELLULAR (D. R. Ellis, USA/D 2004) oder 88 MINUTES (J. Avnet, D/USA/CDN 2007), insbesondere anhand des Mobiltelefons durchgespielt wird. In EDTV (R. Howard, USA 1999) begleiten Ed, den Protagonisten einer live ausgestrahlten Reality-TV-Show, rund um die Uhr zwei Kameraleute mit Schulter-Camcordern und ein Toningenieur mit Mikrofonstange. Die filmische Darstellung des ersten Sendetags steht unter dem Motto des Neuen, Ungewohnten und der fehlenden Routine. Während Ed, umringt vom dreiköpfigen Fernsehteam, das Haus verlässt, stößt einer der Kameramänner beim Rückwärtslaufen mit zwei Passanten zusammen, so dass die Kamera von der Schulter zu fallen droht. Die nächste Einstellung übernimmt den Point of View der betroffenen Kamera, die umherschwenkend die Orientierung im Raum und ihr Beobachtungsobjekt wieder einzufangen sucht. Die folgende Totale zeigt, wie die Gruppe weiter die Straße entlanggeht, wobei der unachtsame Kameramann sich nun beim Rückwärtsgehen durch mehrmaliges schnelles Kopfwenden versichert, dass ihm niemand mehr im Wege steht. Die Sequenz verdeutlicht, dass mit dem Kunstgriff der Störung zugleich eine fiktionale Differenz etabliert wird, da der Film selbst sich in der Regel ja störungsfrei abspielt und dabei die Pannen und Defekte der mobilen Medien im continuity style höchst routiniert, souverän und äußerst beweglich im Wechsel der Kamerastandpunkte und -bewegungen in Szene setzt. In einer Sequenz von MR. BEAN’S HOLIDAY sitzen Mr. Bean und ein Junge, der durch Beans Verschulden von seinem Vater getrennt wurde, zusammen auf einem Bahnsteig, als ein Schnellzug, in dem sich der Vater des Jungen befindet, den Bahnhof in stark gedrosseltem Tempo passiert. Da der Vater ein Blatt Papier, auf das er Zielort und Telefonnummer geschrieben hat, gegen ein Waggonfenster presst, beginnt Mr. Bean neben dem Zug herzulaufen und mit seinem Camcorder die Botschaft aufzuzeichnen. Aus dem Zugwageninneren gefilmt sieht man, wie Mr. Bean im Laufschritt stolpert, die Kamera aus seiner Hand in die Luft fliegt und er zu Boden stürzt. Involviert in den mobilen Aufzeichnungsakt drohen dem Operator im Film Kollision und Sturz, so dass portable Medien hier mit der Vorstellung einer fokussierten und eingeschränkten Umweltaufmerksamkeit verknüpft werden. In die Sturzsequenz ist die Aufnahme des hinunterfallenden Camcorders hineingeschnitten, der seitlich auf dem Boden zu liegen kommt und weiter aufnimmt, wie der Zug davonfährt. Der autonome, unabhängig vom Operator aufzeichnende Camcorder ist ein gängiges Motiv im Film. Eine ungewöhnliche Variante dieses Motivs bietet INTERVIEW (S. Buscemi, USA/CDN/NL 2007), da hier ein gegenüber seinem Interviewpartner abfällig und unprofessionell agierender Reporter einen eingeschalteten Camcorder als Ersatz für sein defektes Tonbandgerät auf den Tisch stellt, um das Gespräch automatisch aufzuzeichnen. Als in CLOVERFIELD der Kameramann einer Monsterattacke zum Opfer fällt, landen der Camcorder und vor dessen Objektiv der tote Körper des Operators im Gras, worauf der Autofokus die Bildschärfe mehrfach zwischen den Grashalmen im Vordergrund und dem Leichnam im Mittelgrund hin und her wechselt. [REC] und seine US-amerikanische Nachver-
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filmung QUARANTINE enden ebenfalls mit dem Tod des TV-Kameramanns und einer zu Boden gefallenen, automatisch weiter aufzeichnenden Videokamera, durch die im Nachtsichtmodus zu sehen ist, wie die sich zu Tode fürchtende Fernsehreporterin von einer monströsen Gestalt in die Dunkelheit fortgerissen wird. Die Kombination von Tod und weiter aufzeichnender Videokamera findet sich bereits Anfang der 1980er Jahre in der Schlusssequenz von DER STAND DER DINGE (W. Wenders, D/P/USA 1982), allerdings bricht hier die willkürliche und zur Seite wegkippende Bildaufzeichnung noch mit dem endgültigen Tod des Operators ab, da mit diesem die Aufnahmetaste nicht weiter gedrückt gehalten wird und in die Stopp-Position zurückfedert, was auf der Tonspur von einem Klick-Geräusch begleitet wird. Entscheidend für das Motiv ist zweierlei: Erstens kehrt sich hier die Batterieabhängigkeit der portablen Geräte in ihr Gegenteil um, da dem Batteriebetrieb nicht die technische Dysfunktion, sondern das autonome Weiterfunktionieren eingeschrieben wird. Zweitens wird das mobile Aufzeichnungsmedium durch den Tod des Operators zu einem absolut immobilen Apparat – mobile Medien sind im Film insofern Effekt einer agilen Assoziation von portablem Gerät und menschlichem Körper. Ein szenisch wiederkehrender Aspekt betrifft das Potential portabler Medien, mit ihnen aufgrund ihrer geringen Größe heimlich oder unerlaubterweise Vorkommnisse aufzeichnen zu können. DIVA beginnt damit, dass der Pariser Postbote Jules in seiner Uniform ein Konzert besucht, wobei er versteckt in der Zustelltasche ein Tonbandgerät mit sich führt, das er während der Aufführung ohne den Blick zu senken aussteuert, so dass sein verbotenes Tun weitgehend unbemerkt bleibt. In INTERVIEW versteckt der Reporter den als Tonbandgerät genutzten Mini-Camcorder in der Seitentasche seines Jacketts, um so nachweisbar an intime, nicht für die Öffentlichkeit gedachte Informationen zu gelangen. Eindrücklich inszeniert die Eröffnungssequenz von PEEPING TOM (M. Powell, GB 1960) heimliches Filmen. Von der Detailaufnahme eines erst geschlossenen und dann weit aufgerissenen Auges springt der Film zu einer Totalen, die eine unbelebte Seitenstraße bei Nacht zeigt. Ein Mann im Mantel nähert sich vom Vordergrund her einer Prostituierten, die im Mittelgrund zwischen Straßenlampe und beleuchtetem Schaufenster ausharrt. In Großaufnahme sieht man eine 16-mm-Kamera, die zwischen Hüfte und Mantel verborgen ist und sorgsam, ohne das Objektiv zu verdecken, weiter vom Mantel umhüllt wird. Dem schließt sich eine Einstellung an, die qua Suchermaske als Blick durch die versteckte Kamera markiert ist, und in der wir der Prostituierten auf ihr Zimmer folgen. Die Selbstreflexion des Filmischen, die durch die Übernahme der Perspektive der im Mantel versteckten Kamera eingeleitet wird, findet ihre Fortsetzung zunächst in einem abschweifenden Kameraschwenk, der einer Verpackungsschachtel des 16mm-Filmmaterials gilt, welche der heimlich Filmende in eine Mülltonne wirft, und gipfelt in der Wiederholung der mit der Handkamera gefilmten Einstellung, die nun ohne Maske zu sehen ist, da sie mittels Filmprojektor auf eine Leinwand projiziert wird.
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Szenenübergreifende Thematisierungen Portable Medien tauchen im Film selten isoliert auf. In der Regel werden sie eingebettet in ein Mediensystem oder als Teil einer heterogenen Medienlandschaft präsentiert. Dabei spielt insbesondere bei der mobilen Film- und Videokamera die Differenz zwischen institutionalisiertem, professionellem Sektor und nicht institutionalisiertem Amateurbereich eine wichtige Rolle. So steht in PEEPING TOM dem 16-mm-Handkamera-Filmbereich, der hier das Heimkino, die kalt objektivierende wissenschaftliche Dokumentation und den unter der Ladentheke heiß gehandelten Erotikfilm umfasst, das Studiosystem der Filmindustrie mit seinen großen, schweren Kameras und seiner arbeitsteilig organisierten Produktion gegenüber. Trotz der Unterschiede teilen die Bereiche aber, in der selbstreflexiven Perspektive des Films, den problematischen Komplex von Voyeurismus, Exhibitionismus und Sadismus. Der Thriller 15 MINUTES (J. Herzfeld, USA/D 2001) sieht den DV-Camcorder des Consumerbereichs aufgespannt zwischen der Traumfabrik Hollywood und dem Fernsehen mit seinen an Quoten und Gewalt ausgerichteten Reality-TV-Formaten. Der Verbrecher Oleg Razgul erklärt in der Eröffnungssequenz, dass er der Filme wegen in die USA einreise und dass er vom Filmemachen träume, seit er Frank Capras IT’S A WONDERFUL LIFE (USA 1946) im Fernsehen gesehen habe. Als er eine Videokamera mit dem Slogan »Make Your Own Movie« beworben sieht, stiehlt er diese und filmt fortan die Morde seines Partners. Dieser glaubt wiederum, durch die Kopplung von Video und Fernsehen zu Ruhm und Reichtum zu gelangen sowie aufgrund der bloßen Existenz der Aufnahmen für verrückt und juristisch für unzurechnungsfähig erklärt zu werden. Während Razguls Handheld-Kamera stets hautnah, distanzlos und ungefiltert Gewalt und Grausamkeiten einfängt, wird dagegen das professionelle mobile Fernsehteam mit Übertragungswagen und Schulterkamera in einer Szene des Films als zu langsam und den Ereignissen hinterherhinkend diskreditiert. In 15 MINUTES gehören Gegenwart und Zukunft dem Massenmedium Fernsehen, das mit der mobilen Videokamera gleichgesetzt wird und seine Quoten der Integration roher, direkter, nicht-professioneller CamcorderAufnahmen verdankt. Der Film dagegen wird der Vergangenheit zugerechnet, da er lediglich in Form von wiederholter Fernsehverwertung präsent ist und alleine der Mobilisierung von Kaufentscheidungen im VideoConsumerbereich dient. Dass die mobilen Medien gerade nicht dem Film und seinem dynamischen Bewegungsspektakel, sondern ausschließlich den Bildschirmmedien Fernsehen und Internet zugeordnet werden, dominiert die filmische Reflexion, wenn man an EDTV, [REC], QUARANTINE, VANTAGE POINT und DIARY OF THE DEAD denkt. In der Gegenüberstellung von nicht-professioneller Medienpraxis und Massenmedien wird dem portablen Aufzeichnungsgerät das Potential zugesprochen, Sachstände und Vorkommnisse dokumentieren zu können, die den institutionalisierten Medien in der Regel entgehen. Der mobile Aufzeichnungsakt gilt als spontane, nicht erwartete und damit auch als zufallsoffene Außenaktivität, weshalb portable Medien jederzeit und überall unbeabsichtigt Sensationen einfangen und Taten bezeugen können. In STRANGE DAYS (K. Bigelow, USA 1995) wird mit der unter einer Perücke getragenen Aufzeichnungstechnologie SQUID die Ermordung eines Rappers und seiner Begleitung durch weiße Streifenpolizisten, die eine Verkehrskontrolle durchfüh-
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ren, dokumentiert. Mit einem Camcorder wird in CELLULAR ebenfalls versehentlich festgehalten, wie Polizisten Drogendealer festnehmen und auf offener Straße skrupellos erschießen. VANTAGE POINT, in dem es um ein Attentat auf den US-amerikanischen Präsidenten geht, etabliert drei Sichtbarkeitsregime am Ort des Geschehens. Erstens gibt es die schaulustige Masse, die mit gezückten Fotoapparaten und Videokameras unterwegs ist. Zweitens werden die Sicherheitskräfte und ihre Überwachungsmaßnahmen präsentiert: Absperrungen, Einlass- und Taschenkontrolle, auf dem Dach postiertes Wachpersonal mit Feldstecher sowie Scharfschützenwaffe, wachsam in die Menge schauende Bodyguards. Drittens schließlich werden das live berichtende Fernsehen und sein logistischer Apparat – die Flotte verschiedener Übertragungswagen, die im Raum optimal verteilten und positionierten Kameras auf Stativ und Schulter, die Monitorwand im Regiewagen sowie die Reporter vor Ort – in Szene gesetzt. Während das Fernsehen als eine Zensur- und Selektionsmaschine vorgeführt wird, die hierarchischen Wertigkeiten, einem festgelegten Ablaufplan und einem vorgegebenen Zeitgerüst unterworfen ist, wird anhand des Blickwinkels eines Touristen gezeigt, dass der Camcorder in den Händen des Amateurs anderen Regeln folgt. Durch den Wechsel zwischen fotografischem Filmbild, das den Urlauber umherschauend, staunend und filmend präsentiert, und elektronischem Videobild des Camcorders, mit dem offenbar unausgerichtet und ziellos Häuserfassaden und Menschenmengen abgeschwenkt werden (vgl. Abb. 2), legt VANTAGE POINT nahe, dass hier im Unterschied zum Fernsehen gleichschwebende Aufmerksamkeit vorherrscht, die Bereitschaft, alles gleichgültig zu erfassen, was zu Aufzeichnungen führt, die dem Apparat des Fernsehens entgehen.1
Abb. 2: VANTAGE POINT – Die mobile Amateuraufzeichnung
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Diese These des Films steht der prominenten fernsehtheoretischen Position Stanley Cavells entgegen, der zufolge sich gerade das Fernsehen durch eine gleichgültige Aufmerksamkeit auszeichnet, durch ein Monitoring, das gleichermaßen dem Ereignislosen, Vertrauten und Wiederholten wie dem Ereignishaften und Singulären gilt. Vgl. Stanley Cavell: »Die Tatsache des Fernsehens«, in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2002, S. 125-164, insbes. S. 151-154. Die gegensätzliche Einschätzung resultiert mit aus der unterschiedlichen Gewichtung der institutionellen Seite des Fernsehens: Während Cavell die Produzenten vor der Monitorwand vernachlässigt, stehen diese in VANTAGE POINT durch das Regiewagen-Setting im Zentrum der Ereignisberichterstattung.
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Portable Aufzeichnungsmedien werden darüber hinaus auch als signifikante Elemente der aktuellen Medienentwicklung angesehen. DIARY OF THE DEAD gibt vor, eine von Filmstudenten mit Profi-Kamera und semiprofessioneller Henkel-Cam gedrehte, auf einem Notebook geschnittene und ins Internet gestellte Dokumentation zu sein (vgl. Abb. 3). Zusätzlich hineinmontiertes Material, das dem Nachrichtenfernsehen entstammen soll und gehäuft Bilder von Kameramännern mit Schulterkameras präsentiert, dient zu Exkursen über die Allgegenwart, den Sensationalismus und den Voyeurismus der Medien. Die ikonographische Rekurrenz lässt die portable Kamera zum repräsentativen Symbol der Mediengesellschaft werden. EDTV problematisiert den Trend von Reality-TV und Ubiquität als medialem Programm, das vor allem durch mobile Kameras und Mikrofone umgesetzt wird. Dabei werden zwei Dinge hervorgehoben: Erstens generiert und reproduziert die Durchdringung des Alltags mit mobilen Aufzeichnungsmedien zunächst vor allem Banalität, Sinnfreiheit und Langeweile – ein Aspekt, den auch CLOVERFIELD und [REC] in den Sequenzen vor Einbruch der Denormalisierung demonstrieren. Zweitens spielt EDTV in vielen Szenen damit, dass der medialen Ubiquität und dem panoptischen Arrangement gerade aufgrund der portablen Medien durch den Raum und seine architektonische Ordnung Grenzen gesetzt sind und so Widerstände erwachsen. Im Kampf um die Grenzziehung zwischen Öffentlichem und Privatem können die Kameramänner wegen ihrer großen und sperrigen Kameras oftmals nicht wendig genug auf die spontanen Fluchtbewegungen im Raum reagieren, zumal Türen und Fenster für das mobile Kamerateam nicht nur Einlass und Einsicht, sondern auch Ausschluss bedeuten.
Abb. 3: DIARY OF THE DEAD – Die portable Kamera: Symbol der Mediengesellschaft
Ein weiterer Aspekt, der wiederkehrend thematisiert wird, ist das Verhältnis zwischen portabler Kamera und dem Filmenden. Zum einen ist die Kamera ein Instrument in der Hand des Operators. Dabei dient das Gerät nicht nur der Dokumentation, sondern auch als Sehhilfe. Vorgeführt wird, dass der Camcorder Aufnahme- und Abspielgerät zugleich ist, dass er durch das Display nach dem mobilen Aufzeichnungsakt noch vor Ort eine Sichtung des Materials und damit Aufschluss über das Wahr- und Aufgenommene erlaubt. So ermöglicht in MR. BEAN’S HOLIDAY nach dem Sturz am Bahnsteig die Wiedergabe per Display das Entziffern der Telefonnummer. Nach der ersten traumatisierenden Monsterattacke in CLOVERFIELD fragen die Leute auf der Straße verwirrt und fassungslos: »Did you see that?«, »Have you seen it?« Worauf
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aus dem Off die Antwort erfolgt: »I have it on tape, let me rewind the tape.« Auch durch den Einsatz der Videokameraleuchte, vor allem aber des Nachtsichtmodus erweist sich der Camcorder als optisches Hilfsmittel, das in der Dunkelheit für Orientierung im Raum sorgt. Der Auffassung von Technik als Mittel steht zum anderen die Vorstellung gegenüber, dass der Kameraoperator zum Anhängsel des technischen Gerätes mutiert. Mit THE BLAIR WITCH PROJECT, CLOVERFIELD, DIARY OF THE DEAD und [REC] konstituiert sich ein neuer tragischer Filmheld, der aufgrund der Präsenz einer portablen Videokamera die Bürde auf sich nimmt, alle Katastrophen und Erschütterungen um sich herum bis zum eigenen bitteren Ende für die Nachwelt festzuhalten. Die Logik dieser medialen Augenzeugenschaft wird in DIARY OF THE DEAD artikuliert: »If it doesn’t happen on camera, it’s like it didn’t happen, right?«
Motion sickness Die Mehrzahl der aufgeführten Filme präsentiert Bewegtbilder, die von einer mobilen Hand- oder Schulterkamera stammen sollen. Dies geschieht entweder über den Film verteilt oder gilt für den Film insgesamt. In beiden Fällen führt eine bestimmte Handhabung der Kamera und des Schnitts zu einer spezifischen visuellen Ästhetik, die sich als Simulation portabler Kamerabilder kontrastiv von der Folie gängiger kinematografischer Filmstandards abhebt. So kommt es gehäuft zur Adressierung der Kamera, die sogar dem Kameramann erlaubt ist, indem er den Camcorder auf sich selbst richtet und direkt in das Objektiv hineinspricht. Es dominieren verkantete Einstellungen, verfehlte Kadrierungen, stark angeschnittene Objekte sowie grotesk ausgeleuchtete Nah- und aufdringliche Detailaufnahmen. Selten ruht die Kamera auf einem Objekt, vielmehr unterliegt sie minimalen Ruckbewegungen, die eine Unentschiedenheit bezüglich Fokus und Bildausschnitt nahelegen. Die Führung der Kamera scheint planlos und unkontrolliert zu sein und folgt im schnellen Wechsel den Bewegungen zufällig ins Bild kommender Objekte. Heftige Verwackelungen, Reißschwenks mit Verwischungen, wilde Zooms und Oszillationen zwischen Schärfe und Unschärfe bestimmen das Bild bis hin zur visuellen Indifferenz. Dies wird unterstützt durch elektronische Bildstörungen und abrupte Signalausfälle sowie durch eine Schnitttechnik, die erstens auf Brüche statt auf Anschluss zielt und zweitens unökonomisch mit der Länge der Einstellungen verfährt. So gibt es wiederholt Einstellungen, in denen die portable Kamera im Aufnahmemodus seitlich um ihre Blickachse gekippt auf einem Möbelstück oder auf dem Boden abgelegt wird. Die aufgezählten Verfahren und Techniken werden als Indikatoren des Nichtfiktionalen, Ungeplanten, Unerwarteten und Authentischen strategisch eingesetzt, wobei sie ihre Motivation und Plausibilität alleine aus der Mobilität beziehungsweise Portabilität der Kamera beziehen.
Literatur Cavell, Stanley: »Die Tatsache des Fernsehens«, in: Ralf Adelmann u.a. (Hg.), Grundlagentexte zur Fernsehwissenschaft. Theorie – Geschichte – Analyse, Konstanz 2002, S. 125-164.
FILMISCHE KONSTRUKTIONEN VON DIFFERENZVERHÄLTNISSEN – MEDIENREFLEXION IM FILM ANHAND DER LEITDIFFERENZEN ›SCHRIFT/BILD‹ UND ›ANALOG/DIGITAL‹
Intermedialität und Medienreflexion zwischen Konvention und Paradoxie. Schrift und Blindenschrift im Film ANDREAS BÖHN/DOMINIK SCHREY
In einer Szene aus THE MATRIX (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 1999) erkundet der Protagonist Neo, kurz nachdem er die volle Wahrheit über seine bisherige Existenz in der digitalen Scheinwelt der Matrix erfahren hat, die karge Umgebung seines neuen Zuhauses. Er betritt einen Raum, in dem sich ein Terminal mit drei Computermonitoren befindet, über die Kaskaden neongrün leuchtender Schriftzeichen flimmern. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei diesen geheimnisvollen Zeichenfolgen um den verschlüsselten Programmcode der Matrix, die zu decodieren – d.h. in bewegte Bilder zu übersetzen – die Rechenleistung der verfügbaren Bildwandler übersteigen würde. Der Rest der von den Maschinen versklavten Menschheit dagegen bekommt nur die Bilder zu sehen, der Programmcode wird – ganz ähnlich wie in jedem modernen Computerprogramm – versteckt gehalten. Unter den trügerischen Verlockungen der Bildhaftigkeit gibt es in THE MATRIX also eine zweite ontologische Ebene der Schrift oder des Codes, die allerdings hierarchisch deutlich über der ersten Ebene der Bilder steht und diese determiniert. Nur wer diesen Code versteht – und dadurch seine Gesetze umgehen kann –, vermag die Menschheit aus ihrem digitalen Dornröschenschlaf zu retten. Der Film reiht sich demnach vordergründig ein in die bilderfeindliche und logozentrische Tradition der europäischen Philosophie – was einer gewissen Ironie nicht entbehrt, dürften die spektakulären Bilder von THE MATRIX doch einen nicht unwesentlichen Teil zum Erfolg des Films beigetragen haben. Genau diese Ambivalenz ist in gewisser Weise kennzeichnend für das gesamte Verhältnis des Films zur Schrift – oder vielmehr zur Schriftkultur. Einerseits wird der Film schon immer als Medium der Bilder wahrgenommen, dessen Stärke darin besteht, das anschaulich machen zu können, was sonst nur beschrieben oder vorgestellt werden kann. Andererseits wird der Film deshalb traditionell eher der Massenkultur als der mit Schriftlichkeit assoziierten Hochkultur zugerechnet, was die Apologeten und Theoretiker des Mediums immer wieder dazu veranlasste, zu versuchen, den Film durch die
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Beschreibung mit Metaphern aus dem semantischen Feld der Schriftlichkeit1 zu nobilitieren: angefangen bei der Bezeichnung des ersten kombinierten Kamera-/Projektor-Apparates der Brüder Lumière als cinématographe (»Bewegungsschreiber«) über Alexandre Astrucs Metapher caméra-stylo (»Kamera als Federhalter«2) bis hin zu James Monacos mittlerweile in vierter Auflage erschienenem Standardwerk How to Read a Film.3 Die Verbindung der Medien Schrift und Film ist jedoch keineswegs auf solche Metaphern beschränkt und geht auch weit über die Tatsache hinaus, dass praktisch allen – zumal fiktionalen – Filmen ein geschriebenes Drehbuch vorausgeht. Nicht selten kommt dem Geschriebenen bzw. dem Schreibprozess im Film vielmehr eine handlungstragende oder gar handlungsentscheidende Funktion zu und in einigen Fällen wird auch mehr oder weniger explizit das Verhältnis von Schrift und Bild bzw. Schrift und Film reflektiert.
Standardfälle Schrift kann im Film intra- oder extradiegetisch auftreten, je nachdem, ob sie als Teil der dargestellten Welt erscheint oder nicht. Intradiegetisch kann Schrift in allen Zusammenhängen und Varianten vorkommen, in denen sie auch außerhalb des Films in der Welt aufzufinden ist, also etwa in verschiedenen medialen Erscheinungsformen – als Handschrift, als gedruckte Schrift in Büchern oder Zeitungen, als Inschrift beispielsweise auf einem Denkmal, als Gravur auf einer Vase oder im Inneren eines Eherings, im öffentlichen Raum auf Plakaten, als Neonschrift oder als Graffito auf der Wand, auf Körpern als Tätowierung oder als auf die Innenseite der Hand geschriebener Spickzettel oder als acheiropoietische Schrift, die als solche wahrgenommen wird, aber keinem intentionalen Urheber zuzuordnen ist, wie zum Beispiel die Bahnen eines Buchdruckerkäfers im Holz, die an Schriftzeichen erinnern. So sieht man in der berühmten Anfangssequenz von CITIZEN KANE (O. Welles, USA 1941) zunächst ein Schild mit der Aufschrift »No trespassing« am Zaun von Xanadu, dann das »K« von Kanes Namen in den Metallornamenten des Tors, eine Aufschrift an einem Tierkäfig, dann den Titel der intradiegetischen, fingierten Wochenschau News on the March sowie die eingeblendeten Anfangsverse des Coleridge-Gedichts »In Xanadu did Kubla Khan a stately pleasure dome decree« und im Weiteren Zwischentitel zu Stummfilmausschnitten, Aufschriften auf Holzkisten, in denen Objekte nach Xanadu geschafft werden, Zeitungsseiten mit Berichten über Kanes Tod, eine Werbeaufschrift für die Zeitung Inquirer auf einem vorbeifahrenden Lastwagen, Firmen- und Ortsnamensschilder, den handgeschriebenen Titel eines Gemäldes, Pappschilder von Protestierenden mit Kane-kritischen Aufschriften und 1
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Vgl. Joachim Paech: »Die Spur der Schrift und der Gestus des Schreibens im Film«, in: Volker Roloff/Scarlett Winter (Hg.), Godard intermedial, Tübingen 1997, S. 41-56, hier S. 41f. Vgl. Alexandre Astruc: »Die Geburt einer neuen Avantgarde. Die Kamera als Federhalter«, in: Theodor Kotulla (Hg.), Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Bd. 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 111-115. Vgl. James Monaco: How to Read a Film. Movies, Media, and Beyond, Oxford 2009.
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Banderolen mit Werbung für ihn, ein Plakat und einen Handzettel zu einem Auftritt von Kanes Frau als Opernsängerin, die Aufschrift »Closed« u.a. mit Farbe auf einen Rollladen geschrieben, die Nachricht von Kanes Tod als durchlaufende elektrische Anzeige, bald darauf den Namen eines Nachtclubs als Schrift aus blinkenden Neonröhren, die Inschrift »Walter Parks Thatcher« auf einem Denkmal für jene Person, deren handgeschriebene Tagebuchseiten und schließlich am Ende das Wort »Rosebud« auf einem Holzschlitten. Diese kursorische Aufzählung zeigt bereits die Vielfalt phänomenaler Formen, in denen Schrift Eingang in die filmische Diegese finden kann. Dabei können die Funktionen und Verwendungsweisen von Schrift stark variieren. In der Eingangssequenz von CITIZEN KANE werden eingeblendete Gedichte rezitiert und Erklärungen verlesen, ein Tagebuch gelesen, ein Vertrag vorgelesen und unterschrieben, ein Telegramm vorgelesen und eine Antwort darauf sowie ein Brief diktiert. Gelesenes kann mehr oder weniger weit reichende Auswirkungen auf den Lesenden zeitigen. Das Verlesen einer Erklärung signalisiert in der Verschränkung der beiden kommunikativen Akte Sprechen und Schreiben eine unauflösliche Fixierung, während man eine nur geschriebene Erklärung nicht veröffentlichen müsste und eine nur mündliche Erklärung leichter revidieren könnte. Diese Fixierung tritt bei der Vertragsunterzeichnung zwischen Kanes Mutter und Thatcher zutage, die Kanes weiteres Schicksal bestimmt. Als solche fatalen Festlegungen mit destruktivem Wirkungspotential tauchen Schriftstücke immer wieder im Film auf, worauf noch zurückzukommen sein wird. Alles bisher Angeführte kann jedoch punktuell bleiben und muss einen Film nicht insgesamt prägen. Auch wenn in CITIZEN KANE Schrift in allen genannten Varianten vorkommt, so macht ihn das für sich genommen noch nicht zu einem Film über Schrift, wohl aber die Tatsache, dass seine Hauptfigur ein Zeitungsverleger ist und die Macht des geschriebenen Wortes auf vielfältige Weise nutzt. Extradiegetisch kann Schrift auf mehrere systematisch zu unterscheidende Arten in den Film integriert werden:4 außerhalb der Filmhandlung, also vorher und/oder nachher in Form von Paratexten wie Vor- und Abspanntiteln, Hinweisen zu rechtlichen Bestimmungen usw., durch Montage zwischen Einheiten der Filmhandlung platziert wie in Gestalt von Zwischentiteln mit Dialogen, Erläuterungen oder Kommentaren, als Untertitel zwar kopräsent mit den Filmbildern, aber von diesen deutlich abgehoben, oder als Einblendungen ins Filmbild, die sich auf dieses direkt beziehen. CITIZEN KANE zeigt die klassische Form von Vor- und Abspann, nämlich eindeutig von der Filmhandlung getrennt als weiße Schrift auf schwarzem Grund, mit unterschiedlichen Schrifttypen und -größen gestaltet, doch es gibt auch die Überlappung dieser Paratexte mit dem Film, etwa bei Einblendung der Titel in die beginnende Handlung; der Vorspann kann sogar erst einige Zeit nach Beginn der Handlung einsetzen.5 Zwischentitel waren im Stummfilm als funktionale 4
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Vgl. hierzu auch Sean Cubitt: »Preliminaries for a taxonomy and rhetoric of on-screen writing«, in: Jonathan Bignell (Hg.), Writing and the Cinema, Edinburgh 1999, S. 59-73. Für eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Verwendungsformen von Schrift in Vor- und Abspann vgl. Alexander Böhnke: Paratexte des Films, Bielefeld 2007; Georg Stanitzek: »Schrift im Film (Vorspann): Was ist das Problem?«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 142
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Äquivalente des fehlenden Tons üblich und kommen daher in CITIZEN KANE auch in dem in die Pseudo-Wochenschau hineingeschnittenen fingierten Stummfilmmaterial vor. Einblendungen finden sich in Form von Jahreszahlen, die das im Bild gezeigte Geschehen zeitlich einordnen.
Komplexe Fälle und Spielformen In all diesen Bereichen haben sich im Laufe der Jahre Konventionen entwickelt, mit denen natürlich in der Folge wieder spielerisch umgegangen wurde: So wird etwa der Titel von MULHOLLAND DRIVE (D. Lynch, F/USA 2001) nicht in einem extradiegetischen Paratext angezeigt, sondern erscheint nur in Form eines Straßenschildes im Film selbst; Woody Allen setzt in ANNIE HALL (USA 1977) Untertitel ein, um bei einem Gespräch der beiden Protagonisten auch das, was ungesagt bleibt und nur gedacht wird, wiederzugeben;6 im Vorspann von MONTY PYTHON AND THE HOLY GRAIL (T. Gilliam/ T. Jones, GB 1975) entsteht sogar ein Konflikt zwischen mehreren verschiedenen Ebenen extradiegetischer Schrift: Credits, Untertitel und Einblendungen beginnen sich zu verselbständigen und von ihren konventionellen Zwecken zu lösen und kommentieren sich schließlich gegenseitig. In vielen Fällen bleibt die Zuordnung von schriftlichen Elementen im Film problematisch: Wenn etwa in der Comic-Adaption WATCHMEN (Z. Snyder, USA 2009) vor einer Autowerkstatt ein verrostetes Schild mit dem Hinweis »Obsolete models a specialty« zu sehen ist, dann handelt es sich dabei zwar zweifellos um einen Gegenstand der Diegese, gleichzeitig jedoch auch um einen Metakommentar auf die Filmhandlung, in deren Zentrum eine Gruppe anachronistischer Superhelden steht. Doch schon die Zwischentitel des Stummfilms, die häufig als grundsätzlich extradiegetische Schriftverwendung abgehandelt werden,7 figurierten in gewisser Hinsicht zwischen den Ebenen der Diegese. In den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts herrschen noch erklärende Titel vor, die den Zuschauer über Ort und Zeit der Handlung, ausgesparte Episoden oder die Gedanken der Figuren informieren und so zum besseren Verständnis des Films beitragen. Schon sehr früh finden sich aber immer wieder auch kommentierende Zwischentitel, die selbstreflexiv zur Filmhandlung Stellung beziehen. Zwischentitel dieser Art stellen eindeutig extradiegetische Elemente dar, sie adressieren ausschließlich den Zuschauer. Doch bei den Sprechtiteln, die ab den 1910er Jahren zunehmend die erklärenden Titel verdrängen, verhält es sich bereits komplizierter: Die schriftliche Darstellung des – nur – für das Publikum nicht hörbaren Dialogs repräsentiert
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(2006), S. 88-111; die Aufsätze in Alexander Böhnke/Rembert Hüser/Georg Stanitzek (Hg.): Das Buch zum Vorspann, Berlin 2006. Vgl. hierzu ausführlicher Joachim Paech: »Zwischen Reden und Schweigen – die Schrift«, in: Dietrich Scheunemann/Paul Goetsch (Hg.), Text und Ton im Film, Tübingen 1997, S. 47-68; Gottlieb Florschütz: »Schrift und Bild im Zeitalter des digitalen Films«, in: Hans-Edwin Friedrich/Uli Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film, Bielefeld 2002, S. 97-112. Vgl. etwa Joseph Garncarz: »Schrift, Visualität, Erzählung. Zur Funktion der Zwischentitel in Hitchcocks deutschen Stummfilmen«, in: H.-E. Friedrich/ U. Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film, S. 33-46, hier S. 37.
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Äußerungen innerhalb der Diegese und verdoppelt diese in gewisser Hinsicht. Im Gegensatz zu Kommentaren oder Erklärungen wurden Sprechtitel daher auch weniger stark als Unterbrechung des Bilderflusses wahrgenomPHQZLH%RULVƠMFKHQEDXPEHVFKUHLEWª0DQJODXEWGLH:RUWH]XKören, wenn die Schauspieler miteinander sprechen. Die Worte bilden sich im Gehirn des Zuschauers synchron zur Bildfolge.«8 Zudem war es bereits sehr früh üblich, die Zwischentitel typografisch an den Inhalt der Filme anzupassen: »Die Physiognomie der Buchstaben«, schreibt Béla Balázs, solle »die Physiognomie der Bilder fortsetzen«.9 So können Schriftart und -grad gewisse Emotionen oder die Lautstärke des Sprechens charakterisieren, wodurch die Zwischentitel selbst in gewisser Weise zum Bild werden.10 Besonders der expressionistische Stummfilm der Weimarer Zeit, »der mit Schriftbildern und Schriftbildanimationen […] so leidenschaftlich hat spielen müssen wie erst wieder die Videoclip-Ästhetik«,11 wird mit diesem Verfahren assoziiert. Das augenfälligste Beispiel hierfür ist DAS CABINET DES DR. CALIGARI (R. Wiene, D 1920), in dem sich die grotesk verzerrten Formen der verwinkelten Kulissen in der Typografie der Zwischentitel wiederholen, die zum Teil nur noch aus einem einzelnen Wort bestehen. Doch der Film weicht die Grenzen zwischen intra- und extradiegetischer Schrift noch weiter auf, indem er diese stark stilisierte Schrift der Zwischentitel in die diegetischen Filmbilder eindringen lässt: Als die Wahnvorstellungen des Dr. Caligari ihren Höhepunkt erreichen, erscheint wie aus dem Nichts der leuchtende Schriftzug »DU MUSST CALIGARI WERDEN«. Die Halluzination löst sich zwar schnell wieder auf, aber nur um an anderer Stelle im Bild in mehreren, größer werdenden Instanzen wieder aufzutauchen, bis nahezu das komplette Bild von Schrift bedeckt ist: »Der Text selbst wird hier zum Agenten im Bild, zur Verkörperung des Zwangs, der von Dr. Caligari Besitz ergreift.«12 Obwohl die Schrift ephemer ist, gibt es keinen Zweifel 8
Boris Ơjchenbaum: »Zum Problem der Zwischentitel«, in: Wolfgang Beilenhoff (Hg.), Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt/Main 2005, S. 191-192, hier S. 191. 9 Béla Balázs: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1976, S. 171. 10 Vgl. J. Paech: Die Spur der Schrift und der Gestus des Schreibens im Film, S. 46. 11 Friedrich Kittler: »Schrift und Bild in Bewegung«, in: Peter Gente/Martin Weinmann (Hg.), Friedrich Kittler. Shortcuts, Frankfurt/Main, S. 89-106, hier S. 102. 12 Dietrich Scheunemann: »Intolerance – Caligari – Potemkin: Zur ästhetischen Funktion der Zwischentitel im frühen Film«, in: Ders./P. Goetsch (Hg.), Text und Ton im Film, S. 11-46, hier S. 30. Die Schrift tritt allerdings schon lange vor dem expressionistischen Stummfilm zum ersten Mal in die Bilder des Films ein: Bereits 1907 gibt es in dem Kurzfilm COLLEGE CHUMS (E. S. Porter, USA) eine Szene, in der sich ein Mann und eine Frau per Telefon streiten. Die untere Bildhälfte besteht aus einer gezeichneten Stadtansicht, oben links ist der Mann, rechts die Frau vor schwarzem Hintergrund eingeblendet. Auf der schwarzen Fläche zwischen den beiden bewegt sich das Gesagte als animierte Schrift von einer Person zur anderen. Als der Streit heftiger wird und
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über die Verbindlichkeit und Irreversibilität des Befehls. Schrift ist Fixierung, Schreiben ist, wie Vilém Flusser feststellt, kein konstruktiver, sondern ein eindringender, destruktiver Akt.13 Kaum jemals wird dies so deutlich wie in DAS CABINET DES DR. CALIGARI und anderen Filmen der Weimarer Zeit, deren Albtraumwesen in vielen Fällen direkt der Schrift oder dem Schreiben entspringen: der Golem in DER GOLEM, WIE ER IN DIE WELT KAM (C. Boese/P. Wegener, D 1920) etwa oder der Vampir in NOSFERATU, EINE SYMPHONIE DES GRAUENS (F. W. Murnau, D 1922), der erst durch einen unheilvollen Vertrag nach Wisborg geholt wird. Zudem beginnt und endet Murnaus Film mit Seiten aus einer Chronik, die offenbar die Ereignisse des Films erzählt. Diese Buchseiten sind nicht extradiegetisch im eigentlichen Sinn, da der Film auf diese Weise als bildliche Darstellung eines schriftlichen Textes präsentiert wird. Und auch DER STUDENT VON PRAG (S. Rye/P. Wegener, D 1913) beginnt und endet mit einem schriftlichen Vertrag mit dem Teufel. Doch andererseits inszeniert gerade der phantastische Film Schrift und Bücher häufig als Übergänge in eine andere Welt und damit als öffnende Elemente. Der Episodenfilm UNHEIMLICHE GESCHICHTEN (R. Oswald, D 1919) wird mit einem »Phantastisches Vorspiel beim Antiquariat« betitelten Erzählrahmen eingeleitet, in dem die folgenden Geschichten sich aus dem Stöbern in alten Büchern entwickeln. Diese Tradition aus der Frühzeit des Mediums setzt auch der zeitgenössische phantastische Film fort. In EL LABERINTO DEL FAUNO (G. del Toro, E/MEX/USA 2006) erhält die büchervernarrte halbwüchsige Protagonistin ein Buch mit zunächst leeren Seiten, auf denen eine acheiropoietisch auftretende, sich selbst schreibende Schrift ihr den Weg in eine andere Welt weist, deren Realitätsstatus bis zum Schluss offen bleibt, die jedoch auf komplexe Weise mit der ersten Welt verschränkt ist. In diesen Fällen markiert Schrift intradiegetisch die Überschreitung der Grenze zwischen Welten und deren Wechselspiel.14 Eine komplexe Interaktion von intra- und extradiegetischen Aspekten von Schrift findet sich in PROSPERO’S BOOKS (P. Greenaway, NL/F/GB/I/J 1991). Der Film basiert auf einem schriftlich fixierten Text, nämlich dem Stück The Tempest von William Shakespeare. Als Adaption dieses Textes stellt er eine Aktualisierung, man könnte auch sagen: Verlebendigung, dieser zu Schrift geronnenen sprachlichen Vorlage dar, und mit dieser Metaphorik und ihrer Polarität spielt der Film. Er beginnt mit der Hauptfigur, die den Text des Stückes zugleich schreibt und spricht. Dem Schreiben auf der visuellen Ebene und dem Sprechen auf der akustischen wird durch Über- und Einblendungen eine weitere visuelle Dimension hinzugefügt, die von Wasser und sonstigen Flüssigkeiten bestimmt ist. Der Sturm als Vermischung der Elemente Wasser und Luft setzt die Handlung des Stücks in Gang, er führt aber auch zu einer Verflüssigung der erstarrten Schrift im Film; dieser zeigt die beiden sich offenbar gegenseitig ins Wort fallen, kollidieren die Schriftzüge schließlich miteinander; vgl. Scott MacDonald: Screen Writings. Scripts and Texts by Independent Filmmakers, Berkeley u.a. 1995, S. 1f. 13 Vgl. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf, Bensheim 1991, S. 39. 14 Zu Buch und Schrift im phantastischen Film vgl. Claudia Pinkas: Phantastik im Film. Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität, Karlsruhe 2009, Kap. IV.3.2.
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auch im Folgenden immer wieder Bücher, welche sich verlebendigen, indem die im Buch notwendigerweise stillstehenden Bilder sich durch die filmische Repräsentation des Buchs in Bewegung versetzen. Diese Bücher fungieren auch als kapitelanaloge Gliederungsinstrumente in PROSPERO’S BOOKS, was den Film selbst wiederum buch- und schriftartig erscheinen lässt. Ein ähnliches Wechselspiel zwischen feststehendem Text und verflüssigender Adaption entfaltet ADAPTATION (S. Jonze, USA 2002), der jedoch nicht Wasser und Sturm, sondern die Evolution als Leitmetaphorik wählt. Man sieht immer wieder, wie das zu verfilmende Buch gelesen oder geschrieben wird, und dazwischen Sequenzen, die doppelt anschließbar sind: als filmische Darstellung des realen Geschehens, das seiner Transformation in Schrift vorausging, oder als Imagination des Lesers, welche die Verfilmung des Buchs vorwegnimmt. Wir erleben aber andererseits auch mit, wie das Drehbuch zu diesem Film diktiert wird, und stellen verblüfft fest, dass wir das, was darin beschrieben wird, schon gesehen haben. Wie die natürlichen Arten zeitweilige Stabilisierungen im Prozess der Evolution sind, so bilden Texte und Filme nur Zwischenstationen im fortlaufenden kreativen Prozess, der zwischen ihnen oszilliert. Dadurch erscheint Schrift zwar als spezifische, aber eben auch nur als eine Form der Objektivierung und Stillstellung neben anderen.
Intermedialität und Medienreflexionen Einerseits figuriert Schrift im Film, wie Joachim Paech schreibt, intermedial an der Schnittstelle von Film und Literatur – beispielsweise in den Filmen Peter Greenaways oder in ADAPTATION –, »zum anderen figuriert sie formal […] zwischen Schrift-Bild und Bilderschrift«.15 Aus entsprechender Ferne betrachtet, wird jede Schrift zum Bild, wie THE MATRIX RELOADED (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 2003) vorführt. Die Bilderfeindlichkeit des ersten Teils wird hier unwillentlich relativiert, indem immer wieder die Silhouetten der handelnden Personen komplett von den neongrünen indischen Ziffern figural nachgezeichnet werden (vgl. Abb. 1) – offenbar ist die Welt aus Text bzw. Programmcode letztlich doch nur in Form von Bildern vorstellbar.
Abb. 1: Schriftbilder in THE MATRIX RELOADED
15 J. Paech: Die Spur der Schrift und der Gestus des Schreibens im Film, S. 45.
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Dass auch der umgekehrte Prozess denkbar ist und Bilder aus der Distanz zu Schrift werden können, demonstriert dagegen der Vorspann von LOLA RENNT (T. Tykwer, D 1998), in dem zunächst ziellos umherlaufende Menschen aus großer Höhe betrachtet die Buchstaben des Titels formen.16 In beiden Fällen werden die Grenzen zwischen Schrift und Bild in Frage gestellt oder zumindest als permeabel inszeniert. Viele weitere Beispiele für solche Grenzüberschreitungen und Metalepsen zwischen Schrift und Bild, Text und Paratext oder Diegese und Extradiegese finden sich im Animationsfilm – etwa in den Zeichentrickfilmen Tex Averys oder der Fleischer-Brüder – sowie in den weniger stark durch Narration geprägten Formen des Films, wie etwa dem Avantgarde- bzw. Experimentalfilm – z.B. bei Hollis Frampton oder Michael Snow – oder dem Essayfilm – z.B. in Jean-Luc Godards HISTOIRE(S) DU CINÉMA (CH/F 1988-1998). Eine im Gegensatz zu diesen insgesamt gut erforschten Beispielen17 nur selten erwähnte Variante von Intermedialität zwischen Schrift und Film ist die Idee des ›Rebus-Films‹, wie Paul Leni sie Mitte der 1920er Jahre in einer Reihe von Kurzfilmen für das Kinovorprogramm umsetzte. In diesen bewegten Bilderrätseln überlagern sich die syntaktische Schriftlogik und die ikonische Bildlogik – der Zuschauer wird dazu aufgefordert, die gezeigten Bilderfolgen in sprachliche Begriffe zu übersetzen und diese zu notieren, um ein Kreuzworträtsel zu lösen, dessen – schriftliche – Auflösung dann nach einem weiteren Vorfilm auf der Leinwand präsentiert wird. Schrift tritt hier also nicht nur im Film selbst bzw. auf der Leinwand auf, sondern reicht in den Zuschauerraum hinaus, wenn das Publikum schreibend versucht, die Bilder zu lesen. Zwar hat sich diese Form der Unterhaltung nicht über die Stummfilmzeit und deren spezifische Vorführsituation hinweg erhalten, aber ähnliche Verfahren der Intermedialität von Schrift und Bild finden sich in abgeschwächter Form auch noch in neueren Filmen, etwa in BE KIND REWIND (M. Gondry, GB/USA 2008), in dem die in Spiegelschrift geschriebene Nachricht »Keep Jerry out« von einem der Protagonisten erst dann verstanden wird, als er eben diesen Jerry genau zwischen einem Schild mit der Aufschrift »KEEP« und einem mit der Aufschrift »OUT« stehen sieht (vgl. Abb. 2).
16 Vgl. Michael Schaudig: »›Flying Logos in Typoshere‹. Eine kleine Phänomenologie des graphischen Titeldesigns filmischer Credits«, in: H.-E. Friedrich/ U. Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film, S. 163-184, hier S. 181. 17 Zu den genannten Beispielen aus Experimental- und Essayfilm vgl. etwa S. MacDonald: Screen Writings; Michael Lentz: »Zur Intermedialität in experimentellen Schriftfilmen«, in: H.-E. Friedrich/U. Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film, S. 113-138; Jim Hillier: »Writing, cinema and the avant-garde: Michael Snow and So Is This«, in: J. Bignell (Hg.), Writing and the Cinema, S. 74-87; Joachim Paech: »Der Schatten der Schrift auf dem Bild. Vom filmischen zum elektronischen ›Schreiben mit Licht‹ oder ›L’image menacée par l’écriture et sauvée par l’image meme‹«, in: Michael Wetztel/Hertha Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 213-233; Siegfried Zielinski: »›Zu viele Bilder – wir müssen reagieren!‹ Thesen zu einer apparativen Sehprothese – im Kontext von Godards Histoire(s) du cinéma«, in: V. Roloff/S. Winter (Hg.), Godard intermedial, S. 185-199.
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Abb. 2: ›Bildrätsel‹ in BE KIND REWIND
Wie komplex die intermedialen Beziehungen zwischen Schrift- und Bildlogik im Film sein können, lässt sich an M – EINE STADT SUCHT EINEN MÖRDER (F. Lang, D 1931) demonstrieren: Am Anfang des Films sieht man ein Kind spielerisch einen Ball immer wieder gegen den Steckbrief eines Kindermörders an einer Litfasssäule werfen, bis der Schatten eines Mannes auf das Plakat fällt und der Mörder – wie wir sofort vermuten – das Mädchen anspricht. Dadurch, dass die schriftliche Repräsentation des Mörders und der Schatten eines Mannes als indexikalisches Zeichen einander berühren, ja decken, kommen wir zu dem Schluss, dass der Schatten zu dem Mörder gehören muss. Dabei ist die ›Berührung‹ nichts Haptisches, sondern nur eine Einschränkung visueller Wahrnehmung durch Abschattung des Lichts, im Unterschied zu der Berührung des Mörders mit der Hand, auf die mit Kreide ein »M« geschrieben ist, welches ihn später als solchen signifizieren wird. Schrift ist verräterisch – wie auch die Handschrift des Bekennerschreibens Hinweise auf das Psychogramm des Täters gibt, aber nicht wirklich zu seiner Überführung beiträgt. Diese erfolgt wiederum durch das Lesen anderer Zeichen: die Maserung eines groben Holzbretts als Schreibunterlage, die in der Schrift zu erkennen ist; die durch das Papier hindurch in dieses Brett eingeritzten Buchstaben; die Abriebspuren des Schreibstifts auf dem Brett – auch dies indexikalische Spuren von Kontakt zwischen Objekten und weder symbolische Schriftzeichen noch ikonische Bilder, seien es unbewegte oder bewegte. Auch das stigmatisierende »M« wird zunächst auf einen Körper geschrieben, der dadurch aber nicht bezeichnet wird, und dann erst durch eine Berührung auf den Gemeinten übertragen, der dadurch eher (ab-)gestempelt als beschrieben wird. Die Bevorzugung des Indexikalischen folgt dem Indizienparadigma, welches das kriminalistische Genre prägt18 und welches sich schon in der Verschiebung vom Lesen der Schrift zur Graphologie zeigt: Letztere setzt nicht auf das in der Schrift willentlich symbolisch Kodifizierte, sondern auf das unwillkürlich indexikalisch sich in ihr Manifestierende. Doch darüber hinaus steckt in ihr auch eine komplexe Medien- und Zeichenreflexion: Wir erschließen uns die Welt durch Bilder und symbolische Zeichen wie Sprache und Schrift, sehen zugleich jedoch deren Abhängigkeit von Deutung und Manipulation. Wesentlich mehr vertrauen wir den ›natürlichen‹ Zeichen, den 18 Vgl. Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78-125.
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Indizien. Und wenn sich beide berühren, wie im Bild des Schattens auf dem Steckbrief oder im Bild des sich in den Stromleitungen verheddernden und dann davonfliegenden Luftballons – Indiz für den Tod des Mädchens, dem er gehörte, aber auch Metapher für dessen entweichende Seele –, dann wird uns geradezu unheimlich zumute.
Blindenschrift und andere mediale Paradoxien Während Schrift akustische Sprache ins Visuelle transformiert, koppelt Blindenschrift Akustisches und Haptisches; Blindenschrift im Film präsentiert diese Koppelung wieder als Visuelles. Blindenschrift im Film ist daher in gewisser Weise immer paradox, denn sie kann im Kino ihre mediale Funktion nicht erfüllen und bleibt ein bloßes Punktmuster, das auf der Leinwand selbst für Blinde prinzipiell unlesbar bleiben muss, da es dort nicht ertastet werden kann. Mit genau dieser medialen Paradoxie spielt LA ANTENA (E. Sapir, RA 2007), dessen retrofuturistische Märchenwelt deutlich an die Ästhetik des expressionistischen und neusachlichen Stummfilms angelehnt ist: Die Bewohner der Ciudad sin voz haben die Fähigkeit zu sprechen verloren, große Teile des Films sind daher frei von gesprochenem Dialog. Doch anstatt die Gespräche wie im Stummfilm über Zwischentitel darzustellen, erscheinen das im Film Gesprochene und manche anderen Geräusche hier in Form von schriftlichen Einblendungen mitten im Bild, nahe der jeweils sprechenden Person. In manchen Einstellungen überdecken diese Schriftäußerungen sogar fast das komplette Bild (vgl. Abb. 3-5). Das Besondere an dieser Form von Schrift im Film ist jedoch, dass sie ein so selbstverständlicher Teil des Bildes ist: Offenbar können auch die Figuren der Diegese diese Schriftzüge sehen, lesen und sogar berühren. Immer wieder werden Worte weggewischt, verdeckt, verschoben oder – ganz analog zur Blindenschrift – ertastet (vgl. Abb. 5).
Abb. 3-5: Schriftelemente in LA ANTENA
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Ein blinder Junge, der im Zentrum der Handlung steht, da er eine von nur zwei Personen ist, die noch sprechen können, berührt in einer Szene den Mund eines stummen Mädchens, um dessen schriftliche Äußerungen ertasten zu können. Es folgt eine Einstellung, in welcher der Kopf des Mädchens offensichtlich auf eine Leinwand projiziert ist, da die Größenverhältnisse plötzlich nicht mehr übereinstimmen, dennoch scheint der Junge es zu verstehen – hier scheint die Kinoleinwand tatsächlich haptische Qualitäten zu bekommen und mit den Fingern lesbar zu werden wie die Blindenschrift (vgl. Abb. 6).
Abb. 6: ›Lippenlesen‹ in LA ANTENA
In anderen Spielfilmen – selbst in solchen, deren Protagonisten Blinde sind, wie etwa PROOF (J. Madden, USA 2005) oder ERBSEN AUF HALB 6 (L. Büchel, D 2004) – gibt es selten mehr als eine oder zwei kurze Szenen, in denen in Großaufnahme Finger über die typischen Erhöhungen im Papier gleiten (vgl. Abb. 7), wesentlich häufiger sieht man dagegen Hände über menschliche Körper und Objekte der Umwelt fahren, was oft eine gewisse Sinnlichkeit suggeriert.
Abb. 7: Braille-Schrift in PROOF
Auch LOS ABRAZOS ROTOS (P. Almodóvar, E 2009), dessen männliche Hauptfigur ein durch einen Unfall erblindeter Regisseur und Playboy ist, bildet in dieser Hinsicht zunächst keine Ausnahme, bietet aber dennoch einige Ansatzpunkte für eine Reflexion über die Intermedialität von Blindenschrift und Film: Bedingt durch den Verlust seines Augenlichts bleibt dem Regisseur nur noch das Schreiben von Drehbüchern – für Filme, die er selbst nie wird sehen können. Hier wird also eine gewisse Analogie zwischen dem Ver-
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fassen von Drehbüchern generell und der Blindenschrift deutlich. Der Hauptteil der Handlung jedoch spielt zeitlich vor dem Unfall und erzählt von der dramatischen Affäre des Regisseurs mit seiner Hauptdarstellerin, die mit dem krankhaft eifersüchtigen Produzenten des Films liiert ist. Letzterer lässt seine Frau während der Dreharbeiten von seinem Sohn mit einer Kamera überwachen. Allerdings ist diese Kamera die meiste Zeit zu weit weg vom Geschehen, um auch den Ton aufzuzeichnen, weshalb eine Lippenleserin angeheuert wird, die den stummen Film buchstäblich liest und transkribiert, also die Bilder ins Medium Schrift überführt. So entstehen zwei gegenläufige Prozesse: Im einen Fall steht die Schrift für die Bilder, die nicht gesehen werden können, im anderen Fall steht die Schrift für die Worte, die nicht gehört werden können. Die Paradoxie der Blindenschrift im Film, die ihm nur scheinbar das Moment der Haptik inkorporiert und tatsächlich unlesbar bleiben muss, findet hier ihre Analogie in Korrelationen von Schrift und Film, die auf systematischen Defiziten aufbauen und in LOS ABRAZOS ROTOS zu einem höchst merkwürdigen Geflecht von Komplementaritäten und Stellvertretungen führen. Die Integration von Schrift im Film eröffnet ein Reflexionspotential, das v.a. dadurch gekennzeichnet ist, dass Schrift im Film immer auch als Folie für Reflexionen über divergierende Sinnesmodalitäten funktionieren kann, wie insbesondere die Ausführungen zur Blindenschrift evident machen.
Literatur Astruc, Alexandre: »Die Geburt einer neuen Avantgarde. Die Kamera als Federhalter«, in: Theodor Kotulla (Hg.), Der Film. Manifeste, Gespräche, Dokumente. Bd. 2: 1945 bis heute, München 1964, S. 111-115. Balázs, Béla: Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst, Wien 1976. Bignell, Jonathan (Hg.): Writing and the Cinema, Edinburgh 1999. Böhnke, Alexander: Paratexte des Films, Bielefeld 2007. Böhnke, Alexander/Hüser, Rembert/Stanitzek, Georg (Hg.): Das Buch zum Vorspann, Berlin 2006. Cubitt, Sean: »Preliminaries for a taxonomy and rhetoric of on-screen writing«, in: Bignell (Hg.), Writing and the Cinema (1999), S. 59-73. ƠMFKHQEDXP%RULVª=XP3UREOHPGHU=ZLVFKHQWLWHO©LQ:ROIJDQJ%HLOHQhoff (Hg.), Poetika Kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt/Main 2005, S. 191-192. Florschütz, Gottlieb: »Schrift und Bild im Zeitalter des digitalen Films«, in: Friedrich/Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film (2002), S. 97-112. Flusser, Vilém: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf, Bensheim 1991. Friedrich, Hans-Edwin/Jung, Uli (Hg.): Schrift und Bild im Film, Bielefeld 2002. Garncarz, Joseph: »Schrift, Visualität, Erzählung. Zur Funktion der Zwischentitel in Hitchcocks deutschen Stummfilmen«, in: Friedrich/Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film (2002), S. 33-46. Ginzburg, Carlo: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Ders., Spurensicherungen. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, München 1988, S. 78-125.
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Hillier, Jim: »Writing, cinema and the avant-garde: Michael Snow and So Is This«, in: Bignell (Hg.), Writing and the Cinema (1999), S. 74-87. Kittler, Friedrich: »Schrift und Bild in Bewegung«, in: Peter Gente/Martin Weinmann (Hg.), Friedrich Kittler. Shortcuts, Frankfurt/Main, S. 89-106. Lentz, Michael: »Zur Intermedialität in experimentellen Schriftfilmen«, in: Friedrich/Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film (2002), S. 113-138. MacDonald, Scott: Screen Writings. Scripts and Texts by Independent Filmmakers, Berkeley u.a. 1995. Monaco, James: How to Read a Film. Movies, Media, and Beyond, Oxford 2009. Paech, Joachim: »Der Schatten der Schrift auf dem Bild. Vom filmischen zum elektronischen ›Schreiben mit Licht‹ oder ›L’image menacée par l’écriture et sauvée par l’image meme‹«, in: Michael Wetztel/Hertha Wolf (Hg.), Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 213-233. Paech, Joachim: »Die Spur der Schrift und der Gestus des Schreibens im Film«, in: Roloff/Winter (Hg.), Godard intermedial (1997), S. 41-56. Paech, Joachim: »Zwischen Reden und Schweigen – die Schrift«, in: Scheunemann/Goetsch (Hg.), Text und Ton im Film (1997), S. 47-68. Paech, Joachim: »Die Szene der Schrift und die Inszenierung des Schreibens im Film«, in: Friedrich/Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film (2002), S. 67-80. Pinkas, Claudia: Phantastik im Film. Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität, Karlsruhe 2009. Roloff, Volker/Winter, Scarlett (Hg.): Godard intermedial, Tübingen 1997. Schaudig, Michael: »›Flying Logos in Typoshere‹. Eine kleine Phänomenologie des graphischen Titeldesigns filmischer Credits«, in: Friedrich/Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film (2002), S. 163-184. Scheunemann, Dietrich: »Intolerance – Caligari – Potemkin: Zur ästhetischen Funktion der Zwischentitel im frühen Film«, in: Ders./Goetsch (Hg.), Text und Ton im Film (1997), S. 11-46. Scheunemann, Dietrich/Goetsch, Paul (Hg.): Text und Ton im Film, Tübingen 1997. Stanitzek, Georg: »Schrift im Film (Vorspann): Was ist das Problem?«, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 142 (2006), S. 88111. Zielinski, Siegfried: »›Zu viele Bilder – wir müssen reagieren!‹ Thesen zu einer apparativen Sehprothese – im Kontext von Godards Histoire(s) du cinéma«, in: Roloff/Winter (Hg.), Godard intermedial, S. 185-199.
Schreibwerkzeuge im Film. Pinsel, Feder und Schreibmaschine SVEN GRAMPP
Eine der wohl unmittelbarsten filmischen Übernahmen medientheoretischer Reflexionen über Schreibwerkzeuge findet sich in NAKED LUNCH (D. Cronenberg, CDN/GB/J 1991), wird doch dort die von Friedrich Nietzsche auf der Schreibmaschine getippte Passage »UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN«1 ganz wörtlich genommen und durchgespielt: Der drogensüchtige Kammerjäger William Lee kauft sich eine Schreibmaschine, nachdem er in einer Bar von einem Insekt beauftragt worden ist, sich als Agent in die ominöse marokkanische Stadt Interzone zu begeben. Von dort aus soll er über verdächtige Vorkommnisse Bericht erstatten. Nach kurzer Zeit verwandelt sich die Schreibmaschine in eine überdimensionale Schabe, die William Vorschläge macht, was er auf ihren Chitin-Panzer schreiben soll: »Okay. Now, the first sentence is: ›Homosexuality is the best all-around cover an agent ever had.‹ […] That is a great sentence. These are words to live by, Bill. I’m glad these words are going into your report. Our new management will be so pleased that you see our point of view.« Der Kammerjäger wird somit zum Agenten der Schreibmaschine, die ihm die Worte diktiert und ihm dementsprechend auch vorschreibt, welchen Standpunkt er einzunehmen hat. Das ›Schreibzeug‹ arbeitet ganz konkret an Williams Bericht und damit auch an seinen Gedanken mit. So findet sich Nietzsches Schreibmaschinensatz in einer surrealen Filmfantasie unmittelbar umgesetzt. Im Folgenden sollen Grundzüge filmischen Nachdenkens über Schreibwerkzeuge anhand von Filmbeispielen vorgestellt und systematisiert werden. Es wird dabei weniger um die herausragende Reflexion gehen, als vielmehr um einen Überblick über Reflexionsmuster, die sich im populären Spielfilm etabliert haben. Wenngleich im Verlauf des Textes auf einige ›Schreibwerkzeug‹-Filme hingewiesen wird, werde ich mich bei den Analysen auf einen relativ kleinen Korpus an Filmen und Filmausschnitten beschränken. Diese Beschränkung resultiert aus der Bestrebung, möglichst anschaulich und konkret übergreifende Strukturen des filmischen Nachdenkens über Schreibwerkzeuge in den Blick zu nehmen. Vor allem vier vergleichsweise junge Filme werden untersucht, namentlich THE HOURS (S. Daldry, USA/GB 2002), WO HU CANG LONG (A. Lee, RC/HK/USA/VR 2000), STRANGER THAN FICTION
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Friedrich Nietzsche: Brief an Heinrich Köselitz (Ende Febr. 1882), in: Ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung. Band I, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin, New York 1975, S. 172.
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(M. Forster, USA 2006) und 1492: CONQUEST OF PARADISE (R. Scott, F/E 1992). Von diesem Korpus behaupte ich, dass er erstens repräsentatives Material an filmischen Reflexionsfiguren über Schreibwerkzeuge enthält, welche die filmischen Fiktionswelten der Populärkultur besiedeln. Zweitens werden in diesen Filmen zentrale Facetten des filmischen Nachdenkens über Schreibwerkzeuge verhandelt. Drittens gehe ich davon aus, dass die ausgewählten Beispiele diese Reflexionsfiguren besonders pointiert veranschaulichen. Zudem setzen die benannten Filme viertens die Schreibwerkzeuge explizit in Relation zu filmischen Darstellungsmodi – und damit unterscheiden sie sich von filmischen Bezugnahmen auf Schreibwerkzeuge, wie man sie etwa in NAKED LUNCH findet. Im Gegensatz zu diesem geben die ausgesuchten Filme nämlich nicht nur Auskunft über Schreibwerkzeuge, sondern immer auch Antworten darauf, wie der Film im Verhältnis zu den Schreibwerkzeugen seine eigenen Operations- und Funktionsweisen verstanden wissen will.
Relationierungsarten Erstes Beispiel (THE HOURS): Eine Frau nimmt eine Schreibfeder zur Hand, taucht deren Spitze in ein Tintenfässchen und formuliert dann den ersten Satz eines Romans; kurz darauf sehen wir eine weitere Frau, die diesen Satz in einem Buch liest, dann eine dritte Frau, die den im Roman noch indirekt formulierten Satz in wörtlicher Rede ausspricht. Zweites Beispiel (WO HU CANG LONG): Mit einem tuschegetränkten Schreibpinsel werden kalligrafische Figuren schnell auf ein Papier gezeichnet; kurze Zeit später befinden wir uns mitten in einer Martial-Arts-Kampfszene, in der zunächst die menschlichen Körper, dann die Landschaft und zuletzt auch die Kamera die Bewegungssignatur des Pinsels aufnehmen. Drittes Beispiel (STRANGER THAN FICTION): Am Ende des Films erscheinen in einer Detailaufnahme die auf einer Schreibmaschine getippten Worte »THE END«; dann wird ein Tintenklecks auf das Papier geworfen, es folgt der Abspann. Die kurzen Beispiele sollen die drei Relationierungsarten verdeutlichen, die in der filmischen Reflexion des Verhältnisses von Schreibwerkzeugen und filmischen Mitteln verlässlich wiederkehren.2 Im ersten Fall geht es um etwas, das man als den Topos der Verursachung bezeichnen könnte. Hier wird das Schreiben als Ausgangspunkt und Verursachung filmischer Imagination in Szene gesetzt und reflektiert. Im zweiten Fall werden die kalligrafi2
Die in den Beispielen angeführten Schreibwerkzeuge – Feder, Schreibpinsel und Schreibmaschine – sind unter die Kategorie von Werkzeugen zu subsumieren, die nicht-transitorische, schriftsprachliche Aufzeichnungen herstellen. Diese relativ enge Bestimmung von Schreibwerkzeugen möchte ich meiner Untersuchung zugrunde legen, um den Begriff des Schreibwerkzeugs nicht einer metaphorisch induzierten Ausweitung des Gegenstandsbereichs auszusetzen, wie sie sich etwa in der Beschreibung der Filmkamera als »camera stylo« (Alexandre Astruc) Bahn gebrochen hat. Solch eine Ausweitung hat den Nachteil, Schreibwerkzeuge kaum noch von Nicht-Schreibwerkzeugen unterscheidbar zu machen, womit dann auch der Begriff des Schreibwerkzeugs als analytische Kategorie obsolet wird.
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schen Schreibbewegungen des Pinsels mit der filmischen Darstellungsform strukturell analogisiert. Im letzten Fall kann das Bild mit den auf einer Schreibmaschine getippten Worten »THE END« als Pars pro toto stehen für die vielen Filme, in denen sich eine Reflexion von Schreibwerkzeugen als Mitteln findet, mit denen Dinge beendet oder doch zumindest ›zugerichtet‹ werden. Der am Ende hingeworfene Tintenklecks stellt den filmischen Kontrapunkt zu solchen Begrenzungen dar. Gegen das abstrakte Schriftprinzip und die Arretierung durch das Schreibwerkzeug wird die konkrete Bewegung und Offenheit der filmischen Formen gestellt. Hier gewinnt die filmische Operationsweise Kontur, indem sie in Differenz zu den Schreibwerkzeugen gesetzt wird. Die drei genannten Relationierungsarten sollen im Folgenden näher untersucht werden.
VERURSACHUNGSVERHÄLTNISSE ›Am Anfang war das Schreibwerkzeug‹ – so könnte ein wiederkehrendes filmisches Narratem lauten. Häufig wird nämlich der Ausgangspunkt des Films von einem Protagonisten markiert, der gerade eine Erzählung oder einen Bericht niederschreibt. Die tippende Schreibmaschine oder die hektisch über das Papier wandernde Tintenfeder wird hierbei zum verursachenden Ausgangspunkt der Erzählung, die im Folgenden dann audiovisuell entfaltet wird.3 Dieser Ausgangspunkt wird üblicherweise an einigen Stellen im Film noch einmal ins Gedächtnis gerufen, und zwar dadurch, dass der Schreibvorgang und sein Gegenstand – eben die Geschichte – alternierend montiert werden.4 Beliebt ist auch, am Ende die Schreibsituation wieder aufzugreifen, nämlich das Ende des Films mit einem getippten »The End« zusammenfallen zu lassen und damit Anfang und Ende der filmischen Erzählung in einer Kreisbewegung zu umschließen.5 Hinsichtlich der Reflexion von Schreibwerkzeugen sind mindestens zwei Aspekte an diesen gängigen Strukturierungen interessant: Erstens ist hier der Schreibvorgang eindeutig als einer markiert, der Anfänge und Enden setzt, also die Ereignisse ordnet und begrenzt. Zweitens wird mit der Darstellung des Schreibvorgangs ein Urheber der Erzählung identifiziert und so ein Schöpfungsakt visualisiert. Für solch einen ›Schöpfungsakt‹ reicht es aber augenscheinlich nicht aus, etwas niederzuschreiben. In den allermeisten Fällen geht diese schöpferische Schreibsituation – im Übrigen analog zur christlichen Schöpfungsgeschichte oder auch zu magischen Praktiken – mit dem Einsatz der Stimme einher. Erst mit Hilfe der Stimme kann die Bilderwelt der Erzählung entfaltet werden. Ein eindrückliches Beispiel dafür liefert THE HOURS. Wir sehen die Schriftstellerin Virginia Woolf, wie sie nach einer Feder greift, diese in ein Tintenfässchen taucht und konzentriert auf das vor ihr liegende Blatt Papier starrt. Dann spricht sie einen Satz laut vor sich hin, welcher der erste Satz ihres neuen 3
4 5
Um nur einige wenige Beispiele zu nennen: MOULIN ROUGE! (B. Luhrmann, USA/AUS 2001), HOMO FABER (V. Schlöndorff, F/D/GR/GB 1991), DER HIMMEL ÜBER BERLIN (W. Wenders, D/F 1987). Beispielsweise in ADAPTATION (S. Jonze, USA 2002), HAMMETT (W. Wenders, USA 1982) oder BARTON FINK (J. Coen, USA/GB 1991). Mustergültig entfaltet in MOULIN ROUGE!.
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Romans sein wird. Allein schon mit dieser Szene findet die Vorstellung Nietzsches von den Schreibwerkzeugen, die an unseren Gedanken mitarbeiten, eine auf den künstlerischen Schöpfungsakt bezogene audiovisuelle Umsetzung: Das ›Schreibwerkzeugdispositiv‹ ermöglicht, das legt der Film nahe, ein spezifisches Nachdenken und so die Formulierung von (Roman-)Anfängen (vgl. Abb. 1). Der Satz, den Virginia Woolf äußert, ist im Konjunktiv gehalten: »Mrs Dalloway said she would buy the flowers herself.« Es folgt ein Umschnitt und wir sehen eine Frau, die diesen ersten Satz des nun bereits gedruckten Romans Mrs Dalloway laut liest (vgl. Abb. 2). Nach einigen weiteren Umschnitten kommt eine dritte Frau ins Bild, die diesen Satz nun in wörtlicher Rede ausspricht und sich damit an ihre Lebenspartnerin wendet (vgl. Abb. 3). Zu Beginn wird also ein Satz im Präteritum formuliert, der eine indirekte Rede – einen konjunktivischen Teil – enthält. Danach wird dieser Satz noch einmal laut vorgelesen und so im Lesen aktualisiert, um dann in eine Erzählung zu münden, in der eine Frau diesen Satz in direkter Rede – also indikativisch – wiedergibt. Damit ist ein Schöpfungsakt aus einer literarischen Imagination beschrieben, der im Film seinen Anfang in einer zögernden Schreibbewegung nimmt. Zur audiovisuellen Ausgestaltung des Satzes – und damit zur Transposition des konjunktivischen Erzählens aus einer vergangenen Situation in einen präsenten Handlungsvollzug – bedarf es jedoch einer menschlichen Stimme. Schreibwerkzeuge und die damit in Zusammenhang stehenden Schrifterzeugnisse, so legt uns THE HOURS zusammen mit etlichen anderen Filmen6 nahe, sind ambivalent. Sie sind zwar als notwendiger Ausgangspunkt der Geschichte gesetzt, benötigen aber eine verbale Aktualisierung, um ihre Möglichkeiten tatsächlich entfalten und ins Bild setzen zu können.
Abb. 1-3: Die Schöpfung der Mrs. Dalloway aus dem Geiste der Schreibfeder in THE HOURS
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Beispielsweise HAMMETT, MOULIN ROUGE!, DER HIMMEL ÜBER BERLIN.
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Dieser Zusammenhang lässt sich anhand einer Trias deuten, die der Psychoanalytiker Jacques Lacan mit Blick auf die Funktionsweisen der menschlichen Psyche entwarf und die Friedrich Kittler zur Beschreibung unterschiedlicher Medientechniken aufgreift.7 Da Kittler in diesem Kontext unter anderem explizit auf Film und Schreibmaschine Bezug nimmt und damit eben auch Schreibwerkzeuge untersucht, sind seine Ausführungen hier besonders attraktiv. Drei Medien ordnet Kittler den drei von Lacan beschriebenen Prinzipien des Realen, Imaginären und Symbolischen zu. Der Schreibmaschine wird dabei die symbolische Ebene zugewiesen – mit ihr lassen sich nämlich, so Kittler, konventionalisierte und abstrakte Symbole mechanisch aufzeichnen. Dem Imaginären als dem Bereich, in dem Fantasien, Wünsche und Begierden anzusiedeln sind, weist Kittler den Film zu: Dort sollen genau solche imaginären Phänomene idealtypisch visuell umgesetzt werden. Das Singuläre, Kontingente, nicht symbolisch Repräsentierbare ist nach Lacan der Bereich des Realen. Diesem Bereich ordnet Kittler den Phonographen zu, der ohne den Umweg über symbolische Repräsentationssysteme ›direkt‹ auditive – vorrangig stimmliche – Phänomene aufzeichnet, die dann wieder via Grammophon reproduzierbar sind. Wie auch immer man zu solchen fein säuberlichen funktionalen Zuweisungen stehen mag – mir scheint diese Beschreibung doch sehr brauchbar, um die oben angeführte filmische Reflexionsweise von Schreibwerkzeugen zu erklären. Schnell lässt sich jedoch erkennen, dass Filme wie THE HOURS die Verhältnisse anders denken als Kittler; vor allem denken sie sie als Verursachungsverhältnisse. Die Verursachungskaskade verläuft dabei wie folgt: 6\PEROLVFKHV6FKUHLEZHUN]HXJH ĺ5HDOHV6WLPPH ĺ,PDJLQlUHVILOPische Erzählung). Damit verankert der Film seine eigene Bedingungsmöglichkeit in einem ihm vorgängigen symbolischen Aufzeichnungssystem. Jedoch muss dieses zuallererst ganz buchstäblich durch die Stimme ›zum Leben erweckt‹ werden. Die Stimme, wie sie der Film hier denkt, ist mehr als ein Träger symbolischer Kommunikation; sie ist deren aus dem ›Realen‹ stammende Transformation. Erst aufgrund dieser Transformation wird in der filmischen Erzählung das Imaginäre aufrufbar und filmspezifisch gestaltbar. Über den Umweg des Realen wird eine imaginäre Ebene eröffnet, die mit keinem Schreibwerkzeug (und damit eben auch mit keinem Roman, und hieße er auch Mrs Dalloway) direkt zu erreichen ist. Die in den Filmen reflektierte Verursachung durch das Schreibwerkzeug wird somit in eine Beschreibung der Spezifik filmischer Darstellung gewendet, die auf dem Ineinandergreifen von Realem und Imaginärem basiert.8 7 8
Vgl. hierzu ausführlich Friedrich Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. In HAMMETT sind die Verursachungsverhältnisse demgegenüber wesentlich komplizierter entfaltet. Diese ›Verkomplizierung‹ soll kurz skizziert werden, um an einem Beispiel anzudeuten, welche Variationen das oben benannte Muster annehmen kann. Hier erhält der Schriftsteller Dashiell Hammett die Inspirationen für seine Erzählungen aus dem Leben, dem ›Realen‹; diese transformiert er dann auf der Schreibmaschine ins Symbolische und setzt damit (seine eigenen) Imaginationen frei. Die drei Ebenen sind wunderbar in der letzten Einstellung des Films versammelt: Man sieht Hammett auf der Schreibmaschine schreiben, während er mit den Figuren seines Romans, de-
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ÄHNLICHKEITEN Da der Schreibakt per se ein Akt der Bewegung ist, ist er dem Bewegungsprinzip des Films strukturell ähnlich. Auf diese Ähnlichkeit wird in sehr vielen Filmen aufmerksam gemacht. Sei es, dass die Wörter, die geschrieben werden, in Detailaufnahme über die Leinwand laufen,9 sei es, dass die Kamera horizontal oder vertikal dem Geschriebenen folgt.10 Auffällig ist jedoch der unterschiedliche Umgang mit verschiedenen Schreibwerkzeugen. Wenn auch der Rhythmus des Schreibmaschinentippens vor allem in Eingangssequenzen von Filmen häufig mit dem Rhythmus des Filmbildes korrespondiert, wird er doch kaum einmal zum vorherrschenden Bewegungsprinzip eines Films.11 Viel wohler scheinen sich die meisten Filme in der Nähe von Bewegungssignaturen zu fühlen, die von Stiften, Füllern und vor allem Schreibpinseln ausgehen.12 ren Vorbilder aus dem ›realen‹ Leben stammen, in Dialog tritt; dabei erscheinen die Figuren als Geister in Schwarz-Weiß neben Hammett. Verkompliziert wird das Ganze noch dadurch, dass die ›reale‹ Handlung des Films implizit an einen ›imaginären‹ Film angelehnt ist, nämlich an THE MALTESE FALCON (J. Huston, USA 1941), der wiederum eine Adaption eines Romans des tatsächlichen Schriftstellers Dashiell Hammett aus dem Jahre 1930 darstellt und also aus dem Bereich des Symbolischen stammt. 9 Beispielsweise am Ende von ALL THE PRESIDENT’S MEN (A. J. Pakula, USA 1976) oder an mehreren Stellen in ADAPTATION und BARTON FINK. 10 Beispielsweise zu Beginn von MISERY (R. Reiner, USA 1990) oder am Ende von STRANGER THAN FICTION und SMOKE (W. Wang, D/USA/J 1995). 11 Freilich gibt es viele Eröffnungssequenzen, die den Rhythmus der Schreibmaschine in harte Schnitte und/oder monotone Schwenkbewegungen umsetzen, vorzugsweise, wenn der Film in Großraumbüros beginnt – beispielsweise in KAFKA (S. Soderbergh, F/USA 1991) oder THE HUDSUCKER PROXY (J. Coen, GB/D/USA 1994). Außerdem wird der Rhythmus der Schreibmaschine gern aufgenommen, wenn sich ein Schriftsteller respektive Drehbuchautor in einem fieberhaften Kreativitätsschub befindet. Meist erfolgt dann ein beschleunigender Wechsel zwischen der Darstellung des Schreibvorgangs und der Visualisierung der geschriebenen Erzählung, so etwa besonders eindringlich in ADAPTATION. 12 Neben dem im Folgenden näher betrachteten WO HU CANG LONG kann diesbezüglich beispielsweise auf DER HIMMEL ÜBER BERLIN verwiesen werden. Dort wird zu Beginn langsam und in ausladenden, runden Bewegungen mit einem Füller ein Kinderreim aufgeschrieben. Diese bedächtig-spielerische ›Bewegungssignatur‹ durchzieht die Kameraführung des gesamten Filmes. In THE PILLOW BOOK (P. Greenaway, F/GB/NL/L 1996) werden kalligrafisches Schreiben und filmische Operationsweisen nicht nur durch die Kamerabewegungen parallelisiert, sondern durch Überblendungen und Bildaufbau regelrecht miteinander verschmolzen. In A BEAUTIFUL MIND (R. Howard, USA 2001) wiederum schreibt der Mathematiker John Nash seine Diagramme und Formeln ständig mit Kreide auf Glasfenster. Hier wird das Schreiben als ein Prozess dargestellt, der in der Bewegung das ›allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Schreiben‹ ermöglicht, und zwar während John durch die transparente Scheibe nach draußen blickt und etwa einen Taubenschwarm beobachtet.
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WO HU CANG LONG bietet hierfür ein besonders anschauliches Beispiel. In diesem Film unterhält sich eine Schwertkämpferin mit einem Mädchen, während jenes den Namen der anderen mit einem Pinsel kalligrafisch niederschreibt (vgl. Abb. 4). Ist die Kalligrafie schon an und für sich im Zwischenbereich von schriftsprachlicher Repräsentation und bildender Kunst angesiedelt, so wird diese ›Unschärfe‹ im Verlauf des Films in eine Strukturanalogie von filmischem Bild und Schreiben gewendet. Die Schwertkämpferin analogisiert Kalligrafie und Schwertkampf. Das tertium comparationis findet sie im Bewegungspotential des Handgelenks, das sie zum universalen Bewegungsprinzip erhebt, meint sie doch: »All lies in the wrist.« Kurze Zeit später wirbeln die Handgelenke der Schwertkämpferin tatsächlich wie die des Mädchens bei der vorhergehenden Szene des kalligrafischen Schreibens. Dann erweitert sich diese Bewegungsart auf die Körper der Kämpfenden (vgl. Abb. 5). Und als sich die Kämpfe von den menschlichen Ansiedlungen in die Wälder verlagern, wogen auch diese wie Pinselfedern (vgl. Abb. 6). Schließlich werden selbst die Kamerabewegungen von diesem Wogen erfasst. Damit wird die Bewegungssignatur der Kalligrafie (über den Umweg des Schwertkampfes) strukturanalog zu der filmischen Bewegungssignatur gesetzt. Hier wird die Kamera tatsächlich als etwas verwendet, das in der Tradition der Autorentheorie metaphorisch als ›camera stylo‹ bezeichnet werden kann.
Abb. 4-6: Die kalligrafische Bewegungssignatur des Films in WO HU CANG LONG
Dass im Film häufig die Ähnlichkeit zur Kalligrafie hervorgehoben wird und sehr viel weniger etwa diejenige zum Bewegungsrhythmus der Schreibmaschine, ist auffällig. Zum einen will sich der Film somit wohl als eine Kunstform verstehen, die an der Schwelle von symbolischen Zeichensystemen und visueller Kunst anzusiedeln ist. Zum anderen scheint der Film seine Bewegungsdynamik sehr viel eher in der öffnenden, spielerisch-verschnörkelten
Sowohl die horizontalen Bewegungen der Kamera, die den Film durchziehen, als auch generell die vermeintliche Durchsicht auf die Realität gewährende Qualität des Filmischen werden hier strukturell mit dem Schreiben analogisiert.
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Bewegung eines Schreibpinsels finden zu wollen als in der monotonen, geradlinigen Bewegung einer Schreibmaschine.
DIFFERENZ Neben den Analogiebildungen gibt es aber einen wohl noch dominanteren, diametral entgegengesetzten Strang filmischer Reflexion von Schreibwerkzeugen: Viele Filme scheinen regelrecht besessen zu sein von der Idee, dass Schreibwerkzeuge in engstem Zusammenhang mit Phänomenen wie Mechanisierung, Anonymisierung, Reduktion, Arretierung, Ende, ja Tod stehen,13 13 Der Zusammenhang zwischen Schreibmaschine und Tod, der in vielen Filmen angelegt ist, soll mit Verweis auf einige Exempel zumindest angedeutet werden: Beispielsweise wird in MISERY die Schreibmaschine erst zum Instrument, mit dem der Schriftsteller seine Hauptfigur einer mehrteiligen Serie namens Misery sterben lässt. Später wird dann die Schreibmaschine buchstäblich zur Waffe, mit welcher der Schriftsteller versucht, seine Pflegerin, die ihn gefangen hält, umzubringen. In LA MALA EDUCACIÓN (P. Almodóvar, E 2004) wird der ›Anschlag‹ auf einen Protagonisten, der zu dessen Tod führt, bildlich als Aufschlagen des Kopfes auf einer Schreibmaschine in Szene gesetzt. In THE SHINING (S. Kubrick, GB/USA 1980) drückt sich der Wahnsinn Jacks, der zur Ermordung des Hotelkochs und letztlich zu seinem eigenen Tod führt, dergestalt aus, dass er auf der Schreibmaschine monoton immer wieder denselben Satz (wenngleich in unterschiedlichen Layouts) wiederholt. Auch wenn es nicht gleich um den Tod geht, so ist zumindest die enge Verbindung von Schreibmaschine und Anonymisierung, Mechanisierung und Reduktion in unzähligen Filmen ausfindig zu machen. So verschwinden in THE FLY (K. Neumann, USA 1958) sogar die Personalpronomina, wenn auf der Schreibmaschine geschrieben wird. Im frühen Cartoon BETTY BOOP’S CRAZY INVENTIONS (D. Fleischer, USA 1933) wird die Schreibmaschine als Technologie vorgeführt, die sogar das Maisessen automatisieren kann. In WHO’S MINDING THE STORE? (F. Tashlin, USA 1963) tippt Jerry Lewis alias Norman Phiffier zum bis heute recht populären The Typewriter Song in die Luft, während seine Bewegungen immer schneller werden und vor allem durch das am Ende der Zeile erklingende Geräusch und den darauf folgenden Rückzug des Zeilenschalthebels eine regelrechte mechanische Rhythmisierung erfahren. Ganz zu schweigen von den mit der Schreibmaschine verbundenen Geschlechterimplikationen. So ist die Schreibmaschine in NAKED LUNCH eindeutig männlich konnotiert, während Frauen Stifte und Füller benutzen, da die »Maschine« sie »beengen« würde, wie sich eine Protagonistin explizit ausdrückt. In SUNSET BOULEVARD (B. Wilder, USA 1950) wird dem Drehbuchschreiber Joe Gillis die Redaktion und Fertigstellung eines von der Stummfilmdiva Norma Desmond per Hand geschriebenen Manuskripts aufgetragen, was er selbstredend auf einer Schreibmaschine erledigt. Schreibmaschinen werden jedoch umgekehrt dann sehr häufig von Frauen bedient, wenn es um Bürotätigkeiten – und hier speziell um reine Reproduktionsfunktionen – geht; vgl. dazu beispielsweise BARTON FINK oder noch deutlicher SECRETARY (S. Shainberg, USA 2002), in dem die Schreibmaschine regelrecht zur lustvollen Domestizierung der Frau eingesetzt wird.
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wohingegen das filmische Prinzip das genaue Gegenteil bedeuten soll. Der Film bezeichnet nämlich in einer Vielzahl von Fällen das sinnlich Konkrete, Bewegungsdynamik und Unabgeschlossenheit. Um es formelhaft zu verkürzen: Stehen die Schreibwerkzeuge für Seiten des Todes, so steht der Film für Seiten des Lebens. Viele Filme folgen dabei einer ›kinematografischen Lebensphilosophie‹, die sich in expliziter Differenzsetzung zum Operationsmodus von Schreibwerkzeugen entfaltet. Als Beispiel solch einer ›kinematografischen Lebensphilosophie‹ kann STRANGER THAN FICTION gelten. In dem Film wird Harold Crick, ein harmloser pedantischer Steuerprüfer, durch einen Roman, den die Schriftstellerin Karen Eiffel gerade schreibt, existenziell bedroht. Sein Leben richtet sich nämlich unausweichlich nach den Vorgaben aus, die die Schriftstellerin gerade auf ihrer Schreibmaschine formuliert.14 Da jeder der Romane von Karen mit dem Tod des Protagonisten endet, ist Harold in Lebensgefahr, sollte das neueste Buch abgeschlossen werden. Die Schreibmaschine wird hier zum Inbegriff eines beengenden, ja existenziell bedrohenden Lebensentwurfes. Ihre Funktionslogik, ihre durch die Tondramaturgie des Films eigens betonten harten Anschläge, ihr klares und monotones Schriftbild, all dies korrespondiert in STRANGER THAN FICTION mit der Erzählung, die die Schriftstellerin schreibt und die zum Tod des Protagonisten führen soll. Die filmische Operationsweise steht dem diametral gegenüber. Gegen die Reduktionen und Schließungen, die mit dem Schreibwerkzeug einhergehen, werden in STRANGER THAN FICTION unverbunden Szenen aus der Alltagswelt ins (Film-)Bild gesetzt, die individuelle Vorlieben unterschiedlicher Menschen zeigen und die von der Schriftstellerin, deren Stimme (!) wir diesmal aus dem Off hören, als die eigentlich entscheidenden Dinge des Lebens gefeiert werden. Am klarsten zeigt sich diese Gegenüberstellung von Film und Schreibmaschine am Ende des Films: Dort wird ein auf der Schreibmaschine der Schriftstellerin geschriebenes »THE END« eingeblendet, begleitet von Tippgeräuschen. Darauf folgt aber nicht sofort der Abspann – zuvor tropft ein Tintenklecks auf das Schreibmaschinenpapier. Hier wird noch einmal die Differenz zwischen Film und Schreibmaschine verdichtet in Szene gesetzt: Wird dem Schreibwerkzeug Begrenzung und Beengung zugeordnet (»THE END«), so steht der Film durch den hingeworfenen Tintenklecks für die darüber hinausgehende, entgrenzende, störende und unkontrollierte Bewegung. So gesehen scheint der Dynamik entfaltende, lebendige Film der beengenden, ›tödlichen‹ Schreibmaschine haushoch überlegen. Doch der Film setzt sich nicht nur in Differenz zur Schreibmaschine. In einigen Filmen wird eine derartige Differenz auch in Bezug auf Schreibwerkzeuge hergestellt, die in anderen Filmen im Gegenteil eher geeignet erscheinen, die Ähnlichkeit zwischen Film und Schreibwerkzeugen zu entfalten.15 14 Harolds ontologischer Status bleibt dabei höchst diffus, wird er doch als jemand vorgestellt, der einerseits tatsächlich in der ›Realität‹ – also unabhängig von einer diegetischen Welt – existiert, andererseits aber nur innerhalb des diegetischen Horizonts erscheinen kann. Das Problem der Darstellung von ›Realität‹ und zurichtender Diegese bleibt also auch jenseits des auf der Schreibmaschine geschriebenen Romans bestehen. 15 In Friedrich Wilhelm Murnaus Filmen beispielsweise sind alle möglichen Schreibwerkzeuge so gut wie immer mit Beschränkung, Reduktion und letzt-
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Am Beispiel des Endes von 1492: CONQUEST OF PARADISE möchte ich dies anhand der Schreibfeder näher ausführen. In der letzten Sequenz des Films sitzt Columbus als hochbetagter Mann an einem Fenster und schaut hinaus aufs Meer. Derweil bedrängt ihn sein Sohn Fernando, ihm endlich mehr von seinem Leben zu erzählen, damit er es aufschreiben kann. Fernando nimmt eine Schreibfeder und wartet. Dann ist Columbus in einer Nahaufnahme zu sehen; bedächtig schließt er die Augen und sagt: »I remember…«, bevor er verstummt. Daraufhin öffnet er seine Augen wieder. Ein Umschnitt erfolgt und wir sehen ein gleißendes, blendendes Licht, das einer hell erleuchteten Projektionsleinwand ähnelt. Allmählich zeichnen sich durch einen dichten Nebel erste Umrisse ab, die eine Insel erkennen lassen. Dies ist eine Szene, die im Film schon einmal genau so zu sehen war, nämlich als Columbus’ erster Blick auf die ›Neue Welt‹. Dann ist wieder Fernando im Bild, der immer noch mit der Feder in der Hand darauf wartet, dass sein Vater weiterspricht. Währenddessen tropft aus der Feder unablässig Tinte auf das Papier. Es folgt der Abspann, in dem unter anderem berichtet wird, dass die Biografie, die Fernando im Anschluss über seinen Vater schrieb, diesem seinen angemessenen Platz in der Geschichte zurückgegeben hat. Von diesem Abspann ausgehend lässt sich die Differenz, die hier zwischen filmischer und schriftlicher Kompetenz aufgebaut wird, deutlich ausmachen. Wenn formuliert wird, dass die Biografie Fernandos Columbus seinen Platz in der Historie zurückgegeben hat, dann ist der Schrift eine spezifische Erinnerungsfunktion zugewiesen: Sie ist das überdauernde Protokollinstrument vergangener Ereignisse, die erinnerungswürdig sind und die ohne schriftliche Aufzeichnung in Vergessenheit geraten könnten bzw. geraten sind. Genau dies sind Funktion und Kompetenzbereich der Schrift. Dabei geht es aber, und das legt uns 1492: CONQUEST OF PARADISE unmissverständlich nahe, allein um die Welt der historischen Daten. Davon werden Funktion und Kompetenz des Films abgesetzt. In der skizzierten Szene schreibt ja Fernando gerade nicht weiter, nachdem sein Vater mit »I remember…« angesetzt hat. Schrift und Worte versagen vor der überwältigenden Erinnerung, die Columbus befällt, wenn er die Augen schließt. Diese Art Erinnerung, dieses innere Bild, so legt die Szene nahe, kann einzig der Film darstellen, was noch zusätzlich betont wird: Als sich Columbus erinnert, sehen wir, noch bevor die Erinnerung konkrete Gestalt annimmt, nur ein hell erleuchtetes, weißes Bild und damit eine Art (Kino-)Leinwand, auf die dann nach und nach die Umrisse der ›Neuen Welt‹ projiziert werden. Der Film ist demnach das ideale Medium, um solche Erinnerungen darstellbar zu machen. Die Differenz zum Schreibprozess könnte größer kaum gedacht sein – und das wird auch genau da präzise gezeigt, wo der Schreibvorgang ins Bild lich Tod verbunden. Das eindrücklichste Beispiel dafür findet sich in Murnaus letztem Film TABU (USA 1931). Matahi, ein Perlentaucher von der Südseeinsel Bora-Bora, muss mit seiner Geliebten fliehen, weil ein niedergeschriebenes Gesetz ihr Zusammensein verbietet. Die beiden gelangen auf eine Insel, die unter französischer Vorherrschaft steht. Dort unterschreibt der Perlentaucher mit einer Schreibfeder bereitwillig Schuldscheine, ohne zu wissen, dass er damit die Verpflichtung eingeht, Geld zu zahlen. Letztlich führt dann dieser Akt des Unterschreibens zum Verlust seiner Geliebten und zu seinem Tod.
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gesetzt wird. Fernando will, wie bereits angeführt, die Erinnerungen seines Vaters niederschreiben. Jedoch kann er nach den Worten »I remember…« nicht fortfahren, da sein Vater verstummt. Das letzte Bild des Films zeigt das Innehalten des Schreibvorgangs. Wir sehen nur noch, wie die Tinte auf das Papier tropft (vgl. Abb. 7), dann folgt der Abspann. Damit plädiert 1492: CONQUEST OF PARADISE für eine funktionale Ausdifferenzierung und Aufgabenteilung der Medien, werden ihnen doch unterschiedliche Kompetenzen zugeteilt: Wichtige Fakten werden mit den ›symbolischen‹ Schreibwerkzeugen aufgeschrieben und damit erinnerungsfähig gehalten; die sinnliche Ausgestaltung ›realer‹ Welten, vor allem im Hinblick auf ihr Potential, Imaginäres zu entfalten, wird jedoch – wenngleich auf Grundlage schriftlicher Erinnerung – dem Kompetenzbereich des Filmischen überantwortet.
Abb. 7: Das Versagen schriftlicher Darstellbarkeit in 1492: CONQUEST OF PARADISE
Film/Philosophie mit Schreibwerkzeugen: Konklusion Die öffnende, dezentrierende Bewegungssignatur scheint das Kriterium zu sein, mit dem sich Filme selbst identifizieren. Viele Filme verstehen sich also, wenn sie über Schreibwerkzeuge nachdenken, als Ort, an dem der élan vital gefeiert wird. Dies funktioniert zum einen in Form der Analogisierung von Schreibwerkzeugen (vornehmlich kalligrafischer Natur, wie in WO HU CANG LONG zu beobachten). Zum anderen – und noch sehr viel häufiger – wird das Schreibwerkzeug in Differenz zum Film gesetzt, um die eigene Bewegungssignatur hervortreten zu lassen. Gerade solch eine Absetzung lässt sich vor dem Hintergrund lebensphilosophischer Konzepte lesen, die etwa Siegfried Kracauer, Béla Balázs und Gilles Deleuze auf den Film übertragen haben.16 Kracauer beispielsweise spricht dem Film Eigenschaften wie die Fähigkeit zur Darstellung von Unendlichkeit oder Zufälligkeit zu. Damit, so behauptet er, könne der Film einen spezifischen Zugang zur äußeren Wirklichkeit retten, die durch die mechanische und begriffliche Zurichtung der Welt bedroht werde. Diese mechanische und begriffliche Zurichtung wird in den Filmen immer wieder aufgegriffen und mit Schreibwerkzeugen in Verbindung gebracht, insbesondere mit der Schreibmaschine. Hier sollen Stillstand und existenzielle Gefahr drohen. Der Film wird dagegen so gut wie immer auf der ›Seite des Lebens‹ situiert. 16 Vgl. vor allem Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), Frankfurt/Main 1979; aber auch Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt/Main 2001; Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1996.
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Etliche Filme greifen noch auf eine weitere Unterteilung zurück, die Kittler mit Bezugnahme auf Lacan in den medientheoretischen Diskurs eingeführt hat. Wo Kittler aber einzelnen Medien die drei Prinzipien des Symbolischen, Realen und Imaginären zuordnet,17 da verschränken filmische Reflexionen über Schreibwerkzeuge ebendiese Prinzipien. Die symbolische Ebene der Schreibwerkzeuge wird zwar zunächst als Voraussetzung filmischer Darstellung gedacht. Das Spezifikum des Films wird aber wiederum in der Relationierung von Imaginärem und Realem gefunden, wahlweise in Form eines weiteren Verursachungsverhältnisses (wie in THE HOURS) oder als Vermischung beider Ebenen (wie in 1492: CONQUEST OF PARADISE). Interessant an diesen filmischen Reflexionen erscheint, dass der Film, wenn er über Schreibwerkzeuge nachdenkt, zwar seine Superiorität zumeist in einer den ›lebensphilosophischen Filmreflexionen‹ ähnlichen Denkfigur herausstreicht. Dennoch verweist er aber auch auf die konstitutiven Leistungen der Schreibwerkzeuge für sein eigenes Funktionieren: ohne Schreibwerkzeuge und symbolische Systeme kein Film. Und wenn auch das Wesen des Films das Nicht-Symbolische sein sollte, so kann dieses nur vor dem Hintergrund der symbolischen Systeme überhaupt erst zur Erscheinung kommen, so legen es zumindest einige Filme selbst nahe. Eine so geartete filmische Reflexion über Schreibwerkzeuge behauptet also, dass die Schreibwerkzeuge in einem spezifischen Sinne an ihren Gedanken mitarbeiten: Sie ermöglichen es dem Film, sich als das Andere der Schreibwerkzeuge zu denken, aber eben als das von diesen Schreibwerkzeugen bedingte Andere. Nirgends kommt solch ein dialektischer Gedankengang gelungener zum Ausdruck als in Gestalt einer Schreibfeder, die nach zwei geschriebenen Wörtern innehält und von deren Spitze allmählich Tinte tropft (vgl. Abb. 7).
Literatur Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films (1924), Frankfurt/Main 2001. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1996. Kittler, Friedrich: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), Frankfurt/Main 1979. Nietzsche, Friedrich: Brief an Heinrich Köselitz (Ende Febr. 1882), in: Ders.: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. 3. Abteilung. Band I, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Berlin, New York 1975.
17 Vgl. F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter.
Lesen und Schreiben sehen. Dichtung als Motiv im Film CHRISTINE MIELKE
Literaturverfilmungen versus Literatur als Filmmotiv Wird die Beziehung von Literatur und Film thematisiert, so erscheint zunächst die Verfilmung von Literatur als einer der wichtigsten Aspekte dieser medialen Relation. Wie in der Forschung vielfältig ausgeführt wurde,1 erwies sich die Literaturverfilmung als geeignete Zweckbeziehung, um dem ›alten‹ Unterhaltungsmedium Buch mit Hilfe der Umsetzung der arbiträren Zeichen in die dichten Informationen der Filmbilder eine erweiterte Daseins- und Rezeptionsplattform zu bieten. Auf der anderen Seite eröffnen sich dem ›neuen‹ Medium Film und seinem anfänglichen Charakter des reinen Spektakels durch narrative Strukturen verfeinerte Formen der erzählenden Unterhaltung.2 So wichtig es sein mag, die Art der filmischen Umsetzung von literarischer Sprache zu untersuchen und deren Glücken oder Missglücken zu bewerten, so interessant ist es auch, die Analyse darauf zu fokussieren, wie Literatur als filmisches Motiv tatsächlich zur Darstellung kommt. Der Literaturverfilmung könnte z.B. die Aufgabe zukommen, die literarische Vorlage medial zum Verschwinden zu bringen, um überhaupt filmästhetisch funktionieren zu können. Keine Literaturverfilmung bestand jemals darin, dass in tatsächlicher Erzählzeit die Seiten eines literarischen Werkes in linearer Abfolge gezeigt wurden – dies widerspräche dem medialen »unique selling point« des Spielfilms eklatant.3 Vielmehr stellt jede Verfilmung eine Emanzipation des Films von seiner literarischen Vorlage dar, also von der Materialität des Mediums Buch, der Arbitrarität der Schrift und der Reduktion auf den visuellen Sinneskanal. Alleine die wortgetreue Wiedergabe einzelner Passagen durch eine Erzählerstimme aus dem Off und ähnliche Hinweise auf 1 2
3
Vgl. aktuell Stefan Neuhaus (Hg.): Literatur im Film. Beispiele einer Medienbeziehung, Würzburg 2008. Womit auch der von Frank Terpoorten erwähnte »Graben zwischen literarischer Hoch- und filmischer Populärkultur« zu überbrücken versucht wurde; Frank Terpoorten: »Die Bibliothek von Babelsberg. Über Bücher im Film«, in: Jürgen Gunia/Iris Hermann (Hg.), Literatur als Blätterwerk, St. Ingbert 2002, S. 107-124, hier S. 108. Vgl. Joachim Paech: Literatur im Film. 2. Aufl., Stuttgart, Weimar 1997; wobei Paech jedoch auch ausführlich auf die allmähliche, aber deutliche Literarisierung des frühen Films eingeht.
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eine Ausstellung der Literarizität werden als höfliche Reminiszenzen an das literarische Werk häufiger eingesetzt – so etwa in DIE MARQUISE VON O… (E. Rohmer, D/F 1976), THE HOURS (S. Daldry, USA/GB 2002), SOPHIE’S CHOICE (A. J. Pakula, GB/USA 1982), EVERYTHING IS ILLUMINATED (L. Schreiber, USA 2005) oder auch im Gesamtwerk von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet. Dieser der Verfilmung inhärente emanzipatorische Akt hat zur Folge, dass Literaturverfilmungen nicht notwendigerweise von Literatur handeln. Aufschlüsse darüber, wie das Medium Film seine Beziehung zum Medium Literatur reflektiert, lassen sich über den Weg der Analyse von Literaturverfilmungen kaum finden. Auch wenn die Annahme ›Literaturverfilmung = Motiv ›Literatur im Film‹‹ als Fehlschluss fast zu offensichtlich erscheinen mag, so stellt sich die Falsifizierung als erstaunlich schwierig dar, wenn z.B. bedacht wird, dass Filmen Drehbücher zugrunde liegen, also fast jeder Spielfilm als eine Art Verfilmung der literarischen Gattung Drehbuch charakterisiert werden könnte. Vor allem verwundert dieses Verschwinden der Literatur in der Literaturverfilmung, wenn eine Analyse des Motivs Literatur im Film zeigt, dass dies keinesfalls ein Motiv unter anderen ist, sondern dass es in einem ausgeprägten Konkurrenzverhältnis von Literatur und Film, ja in einer Art Hassliebe inszeniert, reflektiert und dekonstruiert wird.
Die diffizile Verwandtschaft von Literatur und Film Dass das Filmbild keine mediale Souveränität besitzt und nur auf Basis seiner schriftlichen Entstehungsprozesse quasi als Folgeprodukt existiert, scheint eine überkommene bzw. in den Anfangstagen des Films bereits widerlegte These zu sein.4 Die lineare Zeitbasiertheit5 oder die diegetischen Strukturen werden meist nur als einige von vielen anderen medialen Charakteristika des Films angesehen, selten jedoch als so dominant, dass sie die Beschränkung des analytischen Handwerkszeugs auf rein literaturwissenschaftliche Ansätze legitimieren würden.6 Vielmehr bezeichnen diese vordergründigen Gemeinsamkeiten bei vertiefter Analyse zugleich auch das Ende der Verwandtschaft: »Tatsächlich ist der einzige Aspekt, unter dem sich eine Gemeinsamkeit zwischen Literatur und Film behaupten lässt, der des zeitlichen Verlaufs eines Geschehens, also ›Handlung‹. Auch dies gilt jedoch nur in eingeschränktem Maße: 7 für erzählende Prosa und für den Spielfilm nämlich.«
Als eine Gemeinsamkeit, die sie mit anderen Medien teilen, sieht Stefan Neuhaus, dass es sich bei beiden, Film und Literatur, um sinnstiftende Zeichensysteme handelt – wobei auch er sogleich die Differenzen benennt, die sich im Vergleich der Struktur und Funktionsweise dieser Zeichensysteme ergeben: 4 5 6 7
Vgl. z.B. Rudolf Arnheim: Film als Kunst (1932), München, Wien 1974. Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1998. Vgl. Christian Metz: Sprache und Film, Frankfurt/Main 1973, Kap. 5, S. 7681. Ralf Schnell: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart, Weimar 2000, S. 147.
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»Literatur besteht in erster Linie aus Schriftsprache, von paratextuellen Merkmalen wie Umschlag, Format etc. oder Abbildungen einmal abgesehen. Die jeweilige Sprache ist das Signifikantensystem, das auf die außersprachlichen Signifikate verweist. Der Film indes verwendet eine Kombination von Zeichensystemen, 8 als wichtigstes die Bildsprache, als zweitwichtigstes die gesprochene Sprache.«
Bei aller Verwandtschaft und Interdependenz, die Joachim Paech zwischen literarischer und filmischer Schreibweise und Kunstproduktion sieht, geht auch er von der grundsätzlichen Inkommensurabilität unter sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten aus: »Daß der Film eine Sprache sei, ist fester Bestandteil der metaphorisierenden wie der umgangssprachlichen Rede über den Film. Im Zusammenhang mit der Beziehung des Films zur Literatur kann diese linguistische Definition außer Acht bleiben, denn eine ›Sprache‹ des Films wäre von der Sprache der Literatur zu sehr verschieden, so daß sich auf dieser Ebene keine Beziehung herstellen lie9 ße.«
Medienhistorisch argumentierend greift die Literatur seit Beginn der Entwicklung von Vorformen technischer Bilder (aber auch der Malerei) visuelle Ästhetiken auf und integriert bzw. übersetzt sie in schriftliche Zeichensätze. Der Film wiederum führt in den Inszenierungsstrategien des Spielfilms zum einen die Tradition des Theaters fort, zum anderen »hat der Film die Macht, die dem Theater gänzlich versagt ist: die Macht, psychische Erfahrungen mitzuteilen durch ihre unmittelbare Projektion auf die Leinwand«.10 Die Verwandtschaftsbeziehung zur bzw. die Abhängigkeit des Theaters von der Literatur kann wiederum als ebenso komplex angesehen werden wie die von (Spiel-)Film und Literatur. Bei der Untersuchung des Vorkommens von Literatur im Spielfilm erscheint das Verhältnis jedoch in einigen markanten Punkten weit enger als es medientheoretisch (nicht medienhistorisch) zu erwarten wäre. Film basiert zunächst in seiner Entstehung meist auch auf Schrift (Exposé, Treatment, Drehbuch) und durch das Erzählen bedient er sich der literarischen Gattungen Roman, Novelle o.Ä. Wenn Film jedoch Literatur explizit zeigt oder erwähnt, so hat dies nichts mit der Beschaffenheit des Mediums Film zu tun. Dies bedeutet, dass unterschieden werden muss zwischen der medialen Inklination des Films u.a. auch zur Literatur und der kontingenten Integration des Motivs Literatur in die Handlung eines bestimmten Films, die keine Notwendigkeit ist und als motivische Anspielung auch noch keine intermediale Relation im engeren Sinne begründet.11
8 S. Neuhaus: Literatur im Film, S. 11f. 9 J. Paech: Literatur im Film, S. 173. 10 Erwin Panofsky: Stil und Medium im Film und Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers, Frankfurt/Main 1999, S. 25. 11 Zu intermedialen Beziehungen von Film vgl. Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998, S. 14-30.
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Berücksichtigt werden muss auch, dass der Film zunächst nicht der Literatur als solcher zu einer medial neuen Präsenz verhilft, sondern erst einmal alle Eigenheiten des Mediums Schrift und der Kunstform Literatur vollständig absorbiert und zum Verschwinden bringt. Medial – so unproblematisch dies zunächst scheint – ist auch die filmische Darstellung von Literatur primär eine filmische Darstellung und keine schriftsprachliche. Die medialen Besonderheiten werden nicht gezeigt und erfahrbar gemacht, sondern sie werden nur filmisch aufgerufen. Was Film jedoch leisten kann, ist neben der rein optischen Präsenz von Literatur die Darstellung z.B. der Wirkung von Literatur als Kunstform, ebenso wie z.B. die Wirkung von Musik oder von Drogen durch Filmbilder gezeigt werden kann. Aber, und dies soll als These die folgenden Analysen perspektivieren, das Medium Film entwickelt gegenüber diesem Motiv eine spezifische Form der Funktionalisierung von Handlungsverläufen. So verwahrt sich das filmische Medium im Zeigen von literarischen Gattungen oft gegen deren mediale Historizität oder die genealogische These der Verwandtschaft von Film und Literatur. Dabei kann festgestellt werden, dass es für den Film näher stehende und weiter entfernte Gattungen gibt. Dieses Verhältnis zum Film begründet sich jedoch gerade nicht in der Annahme einer Literaturbasiertheit des Mediums Film, sondern über verschiedene, im Einzelnen auszuführende Aspekte wie die Funktionalität eines Genres (Drehbuch) oder eine verwandte Rezeptionswirkung (Lyrik). Zunächst kann das Motiv Literatur im Film jedoch in seiner allgemeinen, noch nicht nach Gattungen ausdifferenzierten Form dargestellt werden, so z.B. in Form der Bibliothek im Film12 oder anhand einer Typologie lesender Figuren im Film.
Die Bibliothek im Film: Ästhetik eines Statussymbols Ein Großteil der Filme, die sich inhaltlich mit Literatur beschäftigen, inszeniert die ›Verpackung‹ dieser Inhalte in großem Stil. Die äußere Hülle, das Buch, wird oft zu einem Fetisch, der in stimmungsvollen Nah- und Detailaufnahmen optisch so in Szene gesetzt wird, dass neben dem Sehen offenbar auch Haptik und selbst Geruch simuliert werden sollen. Das materielle Buch scheint hier in seiner visuellen Präsenz einen Wert an sich darzustellen. Die deutlichste Form dieser Wertschätzung des literarischen Werks an sich ist die Bibliothek im Film.13 Hier verbinden sich das Objekt Buch, die Tätigkeit des Lesens und die visuelle Erfahrung des Raumes zu einem Assoziationsraum von Konzentration und Wissen einerseits, Geborgenheit und Entrücktheit andererseits. So unterschiedliche Filme wie THE NAME OF THE ROSE (J.-J. Annaud, F/I/D 1986), BREAKFAST AT TIFFANY’S (B. Edwards, USA 1961), THE NINTH GATE (R. Polanski, E/F/USA 1999), FINDING FORRESTER (G. Van Sant, USA 2000), DER HIMMEL ÜBER BERLIN (W. Wenders, D/F 1987), FAHRENHEIT 451 (F. Truffaut, GB 1966), SE7EN (D. Fincher, USA 1995) und vie12 Zu Klischees über Bibliothekare in Filmen, aber auch Büchern vgl. die Sammlung unter http://www.bui.fh-hamburg.de/projekte/gmaus/fdb_index2.html [letzter Zugriff am 02.06.2010]. 13 Vgl. Dario Alessandro: Hauptrolle: Bibliothek. Eine Filmographie, Innsbruck 2002.
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le andere mehr beinhalten zentrale Szenen, die in öffentlichen oder privaten Bibliotheken spielen und den mit Büchern gefüllten Raum ehrfurchtsvoll ins Bild setzen. Die Bibliophilie drückt sich dabei zum einen in langen Kamerafahrten entlang der Bücher aus, die oft den sakralen Raumeindruck einer Kathedrale erzeugen. Zum anderen wird die Literatur in ihrer Quantität und vor allem materiellen Qualität gezeigt, d.h. wertvolle Ledereinbände, die meist kostbar und antik aussehen, reihen sich endlos aneinander. Selbst in FAHRENHEIT 451, wo bei den zu verbrennenden Büchern zunächst auch viele zerlesene Taschenbücher zu sehen sind, wird das Auffinden einer geheimen Bibliothek durch die Art der Bücher und ihre Anordnung als Eintritt in einen sakralen Raum inszeniert. Die Vernichtung der Bibliothek endet folgerichtig auch mit dem Märtyrertod der Besitzerin, die in ihren Büchern verbrennt. Die Bibliothek kann auch als Kulisse für die Obsessionen dienen, die sich um Kenntnis wie Besitz eines einzigen Buches drehen. Bücherliebhaber werden im Film in Kombination mit Bibliotheken gerne als Besessene gezeigt, die sich und ihre Bücher – anders als die entrückte, in sich ruhende lesende Figur – vor Leidenschaft vernichten. Sowohl in THE NAME OF THE ROSE als auch in THE NINTH GATE verbrennen Bibliotheken und wird der Tod der Bibliophilen inszeniert. Einen Sonderfall stellt die in ROSSINI (H. Dietl, D 1997) gezeigte Bibliothek von Jakob Windisch dar, dem Autor des Loreley-Romans, um dessen Verfilmungs- und Besetzungsrechte die Filmhandlung konstruiert ist. Hier nähert sich die Kamera in mäandernden Bewegungen entsprechend einer möglicherweise subjektiven Perspektive einem sich über mehrere Wände und Zimmer erstreckenden meterhohen Bücherregal. Der Kamerablick wird schließlich zum Blick auf den Dichter, der in der zuvor von der Kamera eingenommenen Bewegung tänzelnd und vor sich hin summend eine Leiter erklimmt und mit der Hand suchend die Buchrücken entlang streicht. Die Zuschauer erkennen zunächst, dass in den Regalen das immer gleiche Buch in hundertfacher Ausführung steht. Durch Heranzoomen wird sichtbar, dass es sich zwar immer um den Roman Loreley handelt, jedoch in unterschiedlichen Sprachen. Der im Film beständig erwähnte Welterfolg des Romans wird in der kurzen Szene in einen für die Darstellung von filmischen Bibliotheken typischen sakral wirkenden Raum überführt. Erzeugt wird der Eindruck eines Kultraums, in dem sich die Verehrung der gesamten ROSSINI-Belegschaft versinnbildlicht. Der verliebte Dichter, der im Bademantel eine italienische Übersetzung heraussucht, konterkariert dabei in deutlicher Anspielung auf Carl Spitzwegs Bücherwurm die hoheitsvolle Aura (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Bibliothek des Schriftstellers in ROSSINI
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Zur Typologie der Lesenden Ähnlich wie bei der visuellen Präsenz von Büchern im Film handelt es sich bei der lesenden Figur im Film, sobald das Lesen als ein beständiges Merkmal hervorgehoben wird, um eine Stereotypisierung. Das Buch wird meist zum reinen Attribut, sein Inhalt kann zwar Erwähnung finden oder gar handlungsrelevant werden, eine solche Entwicklung scheint jedoch zweitrangig zu sein. Primär dient das Buch dazu, aus einer Figur eine Leserin/einen Leser zu machen, da mit dieser Kategorie bestimmte Zuschreibungen verbunden sind. Insofern dient das Buch als solches filmdramaturgisch der Abkürzung von differenzierten Figurencharakterisierungen oder, positiver formuliert, der auch visuell und nicht nur über Handlungen zugänglichen Typisierung der Figur. Bei näherer Untersuchung der Lesenden im Film zeigt sich, dass die filmische Ikonographie selten innovativ präsentiert wird, sondern ganz im Gegenteil auf klassische Stereotypen zurückgreift bzw. dass ihr Innovationspotential vielmehr im Medientransfer ältester ikonographischer Traditionen von z.B. mittelalterlichen Mariendarstellungen in technische Audiovision liegt. Was Jutta Assels und Georg Jäger für die Bildanalyse Lesender beschreiben, kann auch für das bewegte Bild im narrativen Kontext gelten: »Eine Werkanalyse, welche die Bedeutungsvielfalt eines bestimmten Lese(r)bildes – seinen Typus, seine Motivik, Attribute sowie den religiösen, philosophischen, politischen Hintergrund etc. – erforschen möchte, muß sich zur Dekodierung des Fundus tradierter Texte bedienen: der umfangreichen emblematischen Literatur, der Bibel, der antiken Mythologie, der historischen, philosophischen, theologi14 schen Literatur uvm.«
Eingebettet in den narrativen Fluss wird deutlich, dass das gesamte traditionelle Bedeutungsspektrum filmisch meist nur angedeutet wird und im besten Falle für ›Kenner‹ eine zusätzliche Bedeutungsebene neben der handlungsfunktionalen eröffnet. In THE UNBEARABLE LIGHTNESS OF BEING (P. Kaufman, USA 1988) wird die Figur Tereza über mehrere Einstellungen nur in der Rückansicht, jedoch bildlich zentral eingeführt. Der Moment, in dem Tomas und auch die Zuschauer Tereza erstmals frontal sehen, zeigt sie mit einem Attribut. Sie verlässt die Umkleidekabine einer Schwimmhalle mit einem Buch. Die nächste Szene zeigt sie als Bedienung, die mit dem Umbinden der Arbeitsschürze gleichzeitig ein auf der Theke liegendes Buch aufschlägt. Der im Café anwesende Tomas imitiert sie nahezu, wenn auch er ein Buch – im Gegensatz zu ihr jedoch kein dickes, gebundenes, in gediegenem Beige gehaltenes Buch, sondern ein grellrotes, dünnes Taschenbuch – zur Hand nimmt. Das Lesen der Frau während ihrer Arbeit stellt in der traditionellen Bildlichkeit keineswegs einen Widerspruch dar. Nach Assel und Jäger findet sich die Darstellung der lesenden Frau in Kombination mit hausfraulichen Attributen oder gleichzeitigen manuellen häuslichen Tätigkeiten sowohl in der Mariendarstellung als auch in diesen Typus imitierenden profanen Frauen14 Jutta Assels/Georg Jäger: »Zur Ikonographie des Lesens – Darstellungen von Leser(inne)n und des Lesens im Bild«, in: Bodo Franzmann u.a. (Hg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 638-673, hier S. 638.
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darstellungen.15 Die Abbildungsweise steht für die sowohl gebildete als auch sittsame, tugendhafte Frau.16 Die verzerrte Spiegelung im Film durch den Mann kann als bewusste Provokation des biederen Provinzmädchens gesehen werden. So wird die spätere Liaison (die jedoch von dem Mädchen vorangetrieben wird) vorweggenommen.
Selbstreferentialität und mediale Reflexion: Drehbuch Vom Produktionsvorgang eines Filmes und den dazu notwendigen Arbeitsschritten und -mitteln aus gesehen steht das Drehbuch von allen literarischen Genres dem Spielfilm am nächsten, da es in den meisten Fällen unmittelbar zur Realisierung des filmischen Geschehens verwendet wird. Die Frage, ob das Drehbuch ein literarisches Genre ist, kann durch Frank Deglers Analysen mit ›ja‹ beantwortet werden, da das definitorische Differenzkriterium dieser Genres vor allem in ihrer technischen Realisierung, also außerhalb des Textes liegt. Daher ist es »prinzipiell möglich, Drama und Drehbuch als theatralischen Diskurs gleich zu behandeln«.17 Jürgen Link definiert die literarischen und funktional-inszenatorischen Charakteristika des Dramas so, dass sie ebenso für das Drehbuch gelten könnten.18 Dieses kann so deutlich in der Traditionslinie des Theaters positioniert werden, dass gefolgert werden kann, »daß Drehbücher die wohl am meisten unterschätzte literarische Gattung des 20. Jahrhunderts sind«.19 Mit dieser respektablen literarischen Herkunft scheint sich das Medium Film jedoch beständig kritisch auseinandersetzen zu müssen. Im Motiv Drehbuch wird eine Ambivalenz deutlich, die sich auf die funktionale Notwendigkeit einerseits und auf die Frage nach der Respektabilität und Souveränität der Gattung Drehbuch andererseits bezieht. In Filmen wie BARTON FINK (J. Coen, USA/GB 1991), THE PLAYER (R. Altman, USA 1992), ROSSINI oder ADAPTATION. (S. Jonze, USA 2002) findet eine Auseinandersetzung mit dem Drehbuchschreiben statt, bei der handlungslogisch die Gattung in ihre Schranken gewiesen bzw. das quasi inkognito auftretende respektable Genre des Dramas funktional vereinnahmt und degradiert werden soll, was sich jedoch für die handelnden Figuren meist rächt. Der Wechsel vom Theater- ins Filmfach bedeutet für den ehemals gefeierten Theaterautor und jetzt zum Schreiberling degradierten Barton Fink eine kreative Krise und schließlich die Ermordung seiner Geliebten durch die Person, die seine Kreativität anregt. Die kreative Krise wie auch deren Ende werden kammerspielartig im Hotelzimmer des Autors in Szene gesetzt. Im15 Vgl. J. Assels/G. Jäger: Zur Ikonographie des Lesens, S. 647f. 16 Zum Unterschied zwischen der eitlen und der lesenden Frau vgl. auch Albrecht Koschorke: »Alphabetisation und Empfindsamkeit«, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 605-628. 17 Frank Degler: Aisthetische Reduktionen. Analysen zu Patrick Süskinds Der Kontrabaß, Das Parfum und Rossini, Berlin, New York 2003, S. 284. 18 Vgl. Jürgen Link: Literaturwissenschaftliche Grundbegriffe, München 1979, S. 311. 19 F. Degler: Aisthetische Reduktionen, S. 284.
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mer wieder geht der Kamerablick über die Schulter auf die leeren Seiten in der Schreibmaschine und schließlich auf den Schreibvorgang. Mit Beginn des kreativen Prozesses findet eine Verwirrung der Sinneswahrnehmungen statt, die ausschließlich visuell umgesetzt wird. Beim Lesen der Hotelbibel wandeln sich die Buchstaben der Bibelverse um und formulieren schriftlich den Beginn der Drehbuchhandlung, die jedoch nichts mit dem ursprünglichen Bibeltext zu tun hat. Gezeigt wird folglich nicht die Bibel als Kreativitätsauslöser, sondern die Schrift als solche (vgl. Abb. 2-4).
Abb. 2-4: Autor und Inspirationsquelle in BARTON FINK
Mit filmischen Mitteln wird hier die Unterordnung des literarischen Genres unter die Priorität der Sichtbarkeit des Films gezeigt. Der zunehmend unheimliche Verfall des Zimmers, die sich ablösenden Tapeten und schließlich die Tote symbolisieren die Selbsterniedrigung des Künstlers auf dem Weg zum kommerziellen Erfolg. Zugleich kann die morbide Ästhetik als Aufbegehren des ›niveauvolleren‹ Genres im Kontrast zur protzigen Produzentenvilla gesehen werden. BARTON FINK bewegt sich daher im Widerspruch des Mediums: auf die Schrift und das literarische Erzählen angewiesen, muss es jedoch in seiner Funktionalisierung gezeigt werden. Wie ein unterbewusst erzeugter Subtext scheint beständig die Botschaft hindurch, dass diese Funktionalisierung des literarischen Erzählens zum Zwecke der (Audio-)Visualisierung nur unter größten Gefahren und psychischen Schäden erlangt werden kann. Als Konflikt kann hier bezeichnet werden, dass das Drehbuch aus Sicht des Mediums Film eine hybride Gattung bleibt: zweckdienlich zur Visualisierung von Filmhandlung und damit in Schriftform lediglich eine Vorform des Eigentlichen, des Audiovisuellen – jedoch souverän in seiner auch solitär denkbaren und tatsächlichen Existenz als dramatischer Text, der nicht unbedingt auf eine Verfilmung angewiesen ist, um rezipiert zu werden.
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Ähnlich drastisch und kunstvoll wird dieser Konflikt in ADAPTATION. ausagiert. Auch hier soll ein Drehbuch aus dem Geist des alten Mediums Schrift entstehen. Der reale Autor des fiktiven Drehbuchs zu BEING JOHN MALKOVICH (S. Jonze, USA 1999) erleidet beim Auftrag, den Bestseller Der Orchideendieb in ein verfilmbares Drehbuch zu transformieren, eine massive Schaffens- und Lebenskrise, die mit Hilfe eines Ratgebers zum Drehbuchschreiben höchst kreativ gewendet wird. Dieses überbordende Szenario kann jedoch erst dann entstehen, wenn die literarische Vorlage in ihren langen reflektierenden Passagen als untauglich zur Verfilmung erkannt wird und das Denken in filmischen Mustern siegt. Insgesamt zeigen sich die Problemstellungen zwischen Film und Literatur im Auftreten der Gattung Drehbuch im Film am deutlichsten. In der Reflexion über die eigenen narrativen Grundlagen scheint das Medium seiner ihm selbstverständlich zugehörigen literarischen Gattung, dem Drehbuch, aufgrund dessen Herkunft aus der als Konkurrenz empfundenen Schrifttradition immer zu misstrauen. Diese Haltung zeigt sich in Wahrnehmungsstörungen der Akteure, Vermischungen von Ordnungsebenen im Film auch für die Zuschauer und der grundsätzlichen konfliktbehafteten Situation, in der das Motiv verhandelt wird. Etabliert wird dabei oft ein ›unzuverlässiges Erzählen‹, bei dem die Filmbilder – trotz aller gegenteiligen Behauptungen20 – auch lügen können. Die dargestellten Wahrnehmungsstörungen, Schockmomente und Enthüllungsszenarien sind die mit dem Drehbuch verknüpften narrativen Mittel, mit denen der Film intelligent mit den ihm eigenen medialen Mitteln das Verhältnis von Literatur und Film/Text und Bild vor allem seit den späten 1990er Jahren hinterfragt. Nach Josef Rauscher kann dies im besten Fall eine Steigerung des Reflexionsgrades darstellen, »eine der Möglichkeiten, die das unzuverlässige Erzählen eröffnet und die in vielfacher Form seit den Zeiten der sogenannten Postmoderne ausgenutzt wurden«.21
Friedliche Verwandtschaft: Drama So nah verwandt die Drehbuchtheorie das Drehbuch mit dem Drama sieht, so unterschiedlich zeigt sich dagegen die Ausgestaltung des Motivs Drama durch den Spielfilm. Das Verhältnis von Film und Theater, der beiden auf Audiovision ausgelegten Medien, scheint durch die Dispositiv-Differenz technisch-mechanisch keineswegs zu solch problembehafteten und eskalierenden Reflexionen wie beim Drehbuch zu führen. Vielmehr wird in der Re20 So besteht Thomas Koebner auf dem grundsätzlichen Übereinkommen der Verlässlichkeit der Bilder, deren Einschätzung als unzuverlässig oder unwahr nur kurzzeitig sein kann, da das Grundvertrauen das vielleicht bewusst erzeugte Misstrauen bald wieder überwiegt; vgl. Thomas Koebner: »›Was stimmt denn jetzt?‹ Unzuverlässiges Erzählen im Film«, in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 19-38. 21 Josef Rauscher: »Unzuverlässigkeit des Erzählens als Steigerung des Reflexionsgrads von ›Bild-Texten‹«, in: Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skrandies (Hg.), Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit, Audiovisualität, Musik, Bielefeld 2009, S. 121-137, hier S. 136.
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flexion des Films über das Drama vor allem das Theater als Dispositiv in den Vordergrund gerückt und erst in zweiter Linie, wenn auch deutlich erkennbar, der Prozess des literarischen Schreibens sowie die literarische Existenz der Gattung Drama. Im Spielfilm tritt das Theaterstück meist in seiner nostalgischen Rolle als charmant-anachronistisches Medium auf, das zu seiner wahren Größe erst durch die medial bedingten erzählerischen Möglichkeiten des Spielfilms gelangt. So wird in vielen Fällen die Geschichte eines Theaterstückes erzählt, das seine Fortsetzung über den begrenzten und als eindimensional dargestellten Rahmen der Bühne hinaus findet, so etwa in BULLETS OVER BROADWAY (W. Allen, USA 1994), TO BE OR NOT TO BE (E. Lubitsch, USA 1942) oder DAS LEBEN DER ANDEREN (F. Henckel von Donnersmarck, D 2006). Die Extensionen, die der Film dem Theater ermöglicht und mit denen das technische Medium von den Eigenschaften der traditionellen Aufführungspraxis des Dramas profitiert, zeigen sich besonders deutlich z.B. in SHAKESPEARE IN LOVE (J. Madden, USA/GB 1998). Zum einen liefert der Film die Illusion des ›Zeitsprungs‹, indem realitätsnah die Aufführungspraxis des Elisabethanischen Theaters vermittelt wird. Zum anderen geht SHAKESPEARE IN LOVE jedoch am Ende bewusst über die Mittel des Theaters hinaus und zeigt die imaginativen Fähigkeiten des technischen Mediums: Im Schlussteil des Films leitet Shakespeares Lesen des entstehenden Stückes The Twelfth Night visuell vom intradiegetischen Zimmer zu den Bildern der Vorstellung des Dichters über. Gezeigt werden Bilder, die ausschließlich in der Imagination Shakespeares und eben im Film gezeigt werden können. Das Theater als Dispositiv verwehrt seinem Stück diese Visualisierung bzw. evoziert sie durch die reine Kraft der gesprochenen Sprache respektive im Drama des geschriebenen Wortes als individuelle Vorstellung.
Zwischen Autor und Welt: Roman Die filmischen Reflexionen zur Gattung Roman beinhalten erwartbarerweise den Schreibprozess als Kern der Visualisierung. Drei Typen der filmischen Reflexion des Romans lassen sich unterscheiden:
Rahmung durch den Roman: Die gesamte Handlung eines Films wird als romanhaftes Narrativ markiert und rahmt dann meist das Filmgeschehen. Eine Erzählerstimme oder das Zeigen eines Schreibvorgangs zu Beginn und Ende des Films sollen die Ursprünge des Audiovisuellen aus der Schrifterzählung explizit machen, treten dann jedoch meist in den Hintergrund oder verschwinden ganz hinter dem sich steigernden und von der literarischen Sprache emanzipierenden Bilderfluss des Spielfilms. Exemplarisch zeigt sich die Herkunft aus der Romanvorlage und deren Nutzung für die Rahmung in EVERYTHING IS ILLUMINATED. Roman als Motiv: eine in unzähligen Varianten auftretende Form, in welcher der Roman im Film schlicht inhaltlich als Roman eine Rolle spielt. Dies kann in längeren Sequenzen mit direktem Einfluss auf den Haupthandlungsstrang der Fall sein oder auch nur in kurzen prägnanten Szenen, die etwa durch das Lesen oder Vorlesen eines Romanausschnitts Rückschlüsse auf Figuren zulassen oder bestimmte Richtungswechsel für
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die Figuren begründen, beispielsweise in 2046 (W. Kar-Wai, VR/F/D/HK 2004), MISERY (R. Reiner, USA 1990), E.T.: THE EXTRA-TERRESTRIAL (S. Spielberg, USA 1982), THE HOURS u.v.m. Autorfigur: eine oft audiovisuell wenig innovative Variante des Romans im Film in Kombination mit dem Auftreten seines Autors. Schriftsteller im Film bedienen meist das Stereotyp des verwirrten Künstlers, geplagt von Lebenskrisen. Dazu bedarf es kaum einer ästhetisch avancierten Reflexionssituation über Literatur, so in AS GOOD AS IT GETS (J. L. Brooks, USA 1997) oder sehr charmant in der Literaturverfilmung WONDER BOYS (C. Hanson, GB/D/USA/J 2000).
Eine spezielle Bildsprache kann hingegen bei der Motivkombination Roman und Autor im Film ausgemacht werden, was die Inszenierung von absurden Momentaufnahmen betrifft, welche die Rolle des Autors außerhalb der Gesellschaft betonen. Teilweise wird dies an der Figur des Autors selbst durchexerziert, häufig aber auf ein weibliches Gegenüber verschoben, etwa in BETTY BLUE (J.-J. Beineix, F 1986), BREAKFAST AT TIFFANY’S, ROSSINI, CABARET (B. Fosse, USA 1972), MISERY und DAS LEBEN DER ANDEREN. Ein Film, in dem die Problematik der Darstellbarkeit eines Romaninhalts außerhalb und zugleich innerhalb einer Literaturvermittlung über eine vom Drehbuch vorgegebene und visuell durch Schnitte raffiniert umgesetzte Verzahnung der Zeitebenen gelöst wird, ist THE HOURS. Virginia Woolfs Roman Mrs Dalloway wird hier in drei gesellschaftlichen Präsenzstufen präsentiert und zieht sich sowohl materiell als Buch durch den Film als auch in Textausschnitten, in mündlichem Zitieren (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Literarische Referenz in THE HOURS
Als eine basale Problematik im Verhältnis von Film und Roman erweist sich der eigenständige Charakter des Romans als Kunstwerk, den der Film beständig zugunsten seiner eigenen Dominanz als Kunstwerk reduzieren oder negieren muss – obwohl das Medium andererseits die kollektiv verankerte Wirkungsmacht des Buches und besonders des Romans als Erzählmedium motivisch gerne einsetzt. Was Frank Terpoorten über das Motiv des Buches in den Filmen Peter Greenaways und Jean-Luc Godards feststellt, gilt für viele hier genannte Beispiele auch:
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»In beiden Fällen besitzen die Bücher Macht. Damit nehmen beide Filmemacher zum einen – vielleicht ungewollt – Stellung gegen die These der Verdrängung des Buches aus dem kulturellen Alltag. Andererseits entledigen sie Literatur durch ihre filmästhetische Adaption gerade ihrer wesentlichen Medialität. Denn die Bücher sind in beiden Fällen weder lineares noch kontemplatives Lektüremedium. Statt mit Buchstaben bedruckter Seiten werden die ›Filmbücher‹ stets als 22 Objekte inszeniert.«
Die Macht der Bücher besteht zudem im fiktionalen Weltentwurf, bei dessen Lektüre die Außenrealität im gelungenen Fall der Immersion ausgeblendet wird, was also auch die Filmrealität beträfe, in deren Kontext das Motiv des Romanlesens auftritt. Zum zweiten zählt zum Charakter von Romanen als Konsequenz aus dem fiktionalen Weltentwurf die Geschlossenheit des Mediums in der Komplexität der Romanhandlung.
Scheinbare Introversion: Tagebuch Eines der wenigen literarischen Genres, das im Film gleichermaßen in seiner Materialität als Buch wie auch mit seinen Inhalten präsentiert wird, ist das Tagebuch. Tagebuchszenen können dabei tragende oder die Handlung begleitend parallelisierende Funktion haben oder nur punktuell eingesetzt werden, z.B. als deus ex machina, durch den Informationen enthüllt werden. Obwohl dies zu erwarten wäre, löst das Motiv des Tagebuchs keine Kollisionen von Bild und Text als medialen Twist aus (wie das Drehbuch) oder trägt, wie noch erläutert werden wird, zu einer medialen Synthese und innovativen medialen Formen von Text/Bild/Ton bei (wie die Lyrik). Das Tagebuch wird meist klassisch in Einstellungen inszeniert, die entweder Schreibende oder Lesende zeigen. Ausnahmen wie in TWIN PEAKS: FIRE WALK WITH ME (D. Lynch, F/USA 1992) bestätigen die Regel, wenn Laura Palmer ihr Tagebuch als Unterlage zum Koksen verwendet. Psychologisch dient das Tagebuch im Film der schreibenden Selbstentäußerung und der Zwiesprache der schreibenden Figur mit sich selbst, wodurch die eigentliche Funktion erreicht wird, nämlich den Zuschauern Einblicke in das Erleben der Figuren zu geben. Der im Film manchmal zur Vereinfachung der Handlungsführung eingesetzte und dadurch etwas verrufene innere Monolog kann so durch ein motiviertes Voice-over akustisch realisiert werden, exemplarisch in der deutschen TV-Serie MEIN LEBEN & ICH (1999-2007), in BRIDGET JONES’S DIARY (S. Maguire, GB/IRL/F 2001), kreativ auch in Form des fiktionalen Tagebuchs in SONNENALLEE (L. Haußmann, D 1999). Auch kann die zeitliche Organisation von Filmen durch das Motiv des Tagebuchs strukturiert werden, so etwa in dem monologischen Episodenfilm CARO DIARIO (N. Moretti, I/F 1993) und in LE RAYON VERT (E. Rohmer, F 1986), oder es werden explizit Leerstellen in der filmischen Vergangenheit problematisiert, wie z.B. bei den fehlenden Tagebuchseiten in ETERNAL SUNSHINE OF THE SPOTLESS MIND (M. Gondry, USA 2004).
22 F. Terpoorten: Die Bibliothek von Babelsberg, S. 123f.
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Gefühlsverstärker: Lyrik Die literarische Gattung, bei der Film und Literatur eine fruchtbare ästhetische Symbiose eingehen können, ist die am wenigsten narrative Gattung Lyrik. Die Linearität des Erzählens macht üblicherweise die Gemeinsamkeit und dadurch bedingt die Konkurrenzsituation von (Spiel-)Film und literarischen Gattungen aus. Im Gegensatz dazu steht die Eigenschaft der Audiovisualität, die auf ganz andere Art Film und Lyrik verbindet. Lyrik zeichnet sich dadurch aus, dass sie zwar ebenfalls der zeitlichen Abfolge von (zu lesender) Schrift unterliegt, dass sie jedoch nicht daraus ihre Rezeptionswirkung bezieht. Vielmehr streben Gedichte zum einen durch die Sprachwerdung die Mitteilung eines Welterlebens an, die den Einzelfall ins Allgemeingültige, Symbolische erhebt.23 Daraus ergibt sich zum anderen ein oft bildhafter Eindruck des Beschriebenen. Im Zusammenspiel von Denotat und Konnotat eines Gedichts entsteht so ein subjektiv imaginierbares Bild, das durch den sprachlichen Ausdruck gleichzeitig eine objektivierte Basis hat. In der Lyrik muss außerdem die Schrift als Medium nicht zwingend vorhanden sein bzw. sie stellt oft nur ein Hilfsmittel dar, um eine mündliche Überlieferung schriftlich abzusichern. Im Film hingegen wird (geschriebene) Sprache zweitrangig, da vor allem das (bewegte) Bild Träger der Information und des ästhetischen Eindrucks ist und Sprache diese ergänzt, wie die Maxime ›show, don’t tell‹ meint.24 Wird im Film lyrische Sprache eingesetzt, entsteht ein Effekt der Komplementarität der Medien Bild und Sprache: Die vor allem visuellen ästhetischen Stärken des Bildmediums treffen auf eine literarische Gattung, die von gegenteiligen Voraussetzungen her kommt, jedoch noch weniger auf Linearität als Hauptmerkmal des Erzählens setzt als der Film.25 Das Gedicht im Film markiert meist einen kurzzeitigen Moduswechsel des Erzählens. Mit dem Aussetzen der Handlung wird von der syntagmatischen Ebene der Narration auf die paradigmatische der Konnotation und Assoziation umgestellt. Im Erzählfluss der Bilder erhalten lyrische Episoden strukturell und ästhetisch einen ähnlichen Status wie ein Standbild.26 Setzt mit diesem visuell ein Moduswechsel von Syntagma zu Paradigma ein, so erzielt das Gedicht auf sprachliche Weise einen ähnlichen Effekt. Mehrere Wirkungsweisen und Einsatzmöglichkeiten von Lyrik können unterschieden werden: 23 Vgl. Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Stuttgart 1989, Stichwort: Lyrik, S. 540. 24 Als den Kern von Filmästhetik, Film vor allem als Kunst des Sehens, vertritt diese Maxime z.B. Béla Balázs in Der Geist des Films; vgl. Béla Balázs: Der Geist des Films (1930), München 1984. 25 Vgl. dazu vor allem Simin Nina Littschwager: Verfilmung von Lyrik. Mit Beispielanalysen aus dem Film »Poem«, Marburg 2010; ferner R. Arnheim: Film als Kunst, S. 210f. Littschwager identifiziert als Schnittstellen von Lyrik und Film die Elemente Visualität und Rhythmik, wobei speziell die Musik ein entscheidendes Merkmal der ästhetischen Verwandtschaft darstellt. Vgl. Littschwager: Verfilmung von Lyrik, S. 51-68. 26 Vgl. Christine Mielke: »Still-Stand-Bild. Zur Beziehung von Standbild und Fotografie im Kontext bewegter Bilder«, in: Andreas Böhn (Hg.), Formzitat und Intermedialität, St. Ingbert 2003, S. 105-144.
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Verstärkung einer Stimmung: etwa in KINDERGARTEN COP (I. Reitman, USA 1990), wenn John Kimble (gespielt von Arnold Schwarzenegger) Kindern zum Mittagsschlaf das Gedicht Spring Morning vorträgt. Weniger glatt und eindimensional emotional wird dies in BEFORE SUNRISE (R. Linklater, USA/A/CH 1995) inszeniert. In FOUR WEDDINGS AND A FUNERAL (M. Newell, GB 1994) wird die Gedichtszene visuell zweigeteilt. Auf der Trauerfeier für den unerwartet gestorbenen Gareth wird W. H. Audens Funeral Blues vorgetragen. Ungefähr nach der Hälfte des Vortrags verlässt die Kamera die Szenerie der Trauerhalle und zeigt, während der Vortrag weiter zu hören ist, den anschließenden Weg zur Beerdigung. Zeitlich entsteht so eine Inkongruenz, da das Gedicht nur bei der Trauerfeier, nicht aber unmittelbar bei der Beerdigung gesprochen wird. Moduswechsel: Deutlich setzt Alexander Kluge dieses Mittel als Stilbruch in seinem an Stilbrüchen reichen ABSCHIED VON GESTERN (D 1966) ein, wenn in die kollagenhaft erzählte und in Schwarz-Weiß gefilmte Handlung um die in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft Halt suchende Anita G. das Gedicht Das Mammut von Heinrich Hoffmann, Autor des Struwwelpeter, samt Zeichnungen eingebunden wird. Wendepunkt: Gegenteilige Effekte zeigt das Gedicht, das zum Wendepunkt im Handeln von Filmfiguren führt, wie z.B. in dem mit vielen Literaturmotiven spielenden DAS LEBEN DER ANDEREN. Durch das Bespitzeln und Abhören des Dichters Dreymann wird der Stasimann Wiesler auf Bertolt Brecht aufmerksam. Eine Szene zeigt aus der Vogelperspektive in Nahaufnahme Wiesler auf einem Sofa liegend, einen gelben Band in den Händen. Während seine Stimme aus dem Off die erste Strophe von Brechts Erinnerung an die Marie A. vorträgt, zeigt die Kamera den stummen Wiesler, dessen Augenbewegungen die Zeilen förmlich abtasten. In der Folge verändert sich Wieslers Verhältnis zu seiner Abhörtätigkeit und er beginnt, subversive Tätigkeiten zu decken.27 Programmatik: Eine weitere einflussreiche Lyrikvariante ist das Gedicht als Filmprogrammatik. Beispiele ganz unterschiedlicher Art finden sich unter anderem in DER HIMMEL ÜBER BERLIN oder A NIGHTMARE ON ELM STREET (W. Craven, USA 1984). Auch wenn DER HIMMEL ÜBER BERLIN, ein äußerst poetischer und mit literarischen Motiven und Mitteln spielender Film, ganz im Gegensatz zu dem Horrorklassiker zu stehen scheint, so verbindet beide die Verwendung eines programmatischen Gedichts. Wim Wenders’ Film beginnt mit den Worten »Als das Kind Kind war…«, einem Gedicht, gelesen von Peter Handke, das die Vorzeichen für die Dilemmata von prosaischer Realität und Wunderglauben vorwegnimmt. Medial interessant in Szene gesetzt wird das Gedicht durch die gesprochene Sprache und die Bilder des gleichzeitigen Aufschreibens,
27 Ein Beispiel für eine ähnliche Relativierung der Berufung durch ein Gedicht findet sich in DOGMA (K. Smith, USA 1999). Der gefallene Engel erläutert einer Nonne in einer Flughafenwartehalle die wahre Bedeutung von Lewis Carolls The Walrus and the Carpenter, ohne jedoch das Gedicht zu rezitieren.
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die jedoch nur zeitweise parallel verlaufen.28 In Wes Cravens Horrorklassiker gibt ebenso ein Gedicht das Spannungsfeld vor, aus dem der Film sein (Grusel-)Potential bezieht. Mit den Zeilen »One, two, Freddy’s coming for you. Three, four, better lock your door…« beginnt ein Kinderabzählreim, der den Film hindurch immer wieder beiläufig von spielenden Mädchen aufgesagt wird und das Spiel mit kollektiven Urängsten verstärkt. Konklusion: Analog zur lyrischen Programmatik im Film kann die Konklusion per Gedicht gesehen werden. Als Schlusssequenz ist sie jedoch noch effektvoller und deshalb vermutlich häufiger als die Gedicht-Programmatik. Das Gedicht am Ende eines Films konstruiert einen Moduswechsel des Erzählens, der, ähnlich wie das Standbild, eine Überhöhung des Geschehens ins allgemeingültig Schicksalhafte anstrebt. Ein Gedicht kann hier einen dramatischen Schlussakkord bedeuten, wie etwa in THE DANGEROUS LIVES OF ALTAR BOYS (P. Care, USA 2002), oder einen sanften, versöhnlichen Ausklang, wie z.B. in SOPHIE’S CHOICE.29 Emily Dickinsons Ample Make This Bed wird hier gleichzeitig als Trauerrede auf ein totes Paar wie auch als Abschluss der Filmhandlung eingesetzt.
Text-Bild-Synergien: Lyrikfilme Neben der großen Anzahl von Gedichtsequenzen im Spielfilm gibt es eine weitere Kategorie, welche die größtmögliche Präsenz von Lyrik im Film bezeichnet. So selten diese Art von Film ist, als so gelungen können hier die Synergieeffekte der ästhetischen Mittel des Films und derjenigen der Literatur in Form von Lyrik geschätzt werden. Gemeint sind einige wenige Filme, die sich Lyrik ganz zum Inhalt gemacht haben oder, aus der Perspektive des Sprachkunstwerks formuliert, in denen sich Lyrik das geeignete technische Medium und seine ästhetischen Mittel zur größtmöglichen literarischen Wirkung ausgewählt hat, so z.B. in DEAD POETS SOCIETY (P. Weir, USA 1989) und vor allem in POEM (R. Schmerberg, D/USA 2003). Ralf Schmerberg inszeniert deutschsprachige Gedichte in Form hochartifizieller Musikvideos, bei denen der Musikanteil zugunsten der zentral gesetzten Sprache nur partiell unterstützend eingesetzt wird. POEM funktioniert als Episodenfilm, da die Sequenzen als kreative und frei gestaltete Verfilmungen der einzelnen Gedichte gesehen werden können. Bei POEM zeigt sich neben der Tatsache des künstlerisch innovativen Vorhabens von Lyrikverfilmungen, dass die ausschließlich lineare Narration der lyrischen Sprache widerstrebt. Stattdessen können filmische Mittel der Visualisierung und Vertonung von gebundener Schriftsprache eingesetzt werden, um das der Lyrik eigene Maß an prozesshafter Sprache einerseits und Bildhaftigkeit andererseits in ein multimediales Werk zu transformieren. Die 28 Zur genaueren Analyse der Eingangssequenz vgl. Joachim Paech: »Die Szene der Schrift und die Inszenierung des Schreibens im Film«, in: Hans-Edwin Friedrich/Uli Jung (Hg.), Schrift und Bild im Film, Bielefeld 2002, S. 66-79, hier S. 66f. 29 Ähnlich wird die Handlung eines Filmdramas in THE SWEET HEREAFTER (A. Egoyan, CDN 1997) beschlossen.
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konventionelle Linearität des Erzählens steht dem jedoch entgegen. So kann abschließend festgestellt werden, dass das symbiotische Verhältnis von Film und Lyrik bei genauerer Betrachtung den Film auf seine die Lyrik unterstützenden Mittel reduziert, so dass also nicht mehr vom Motiv der Lyrik im Film gesprochen werden kann, sondern – wäre nicht das technische Trägermedium nach wie vor der Film (bzw. die DVD, die elektronische Datei etc.) – vom Motiv des Films in der Lyrik.
Fazit Die hier vertretene Argumentationskette ging von einer Konkurrenz zwischen Film und Literatur aus, die sich am stärksten beim Filmmotiv Drehbuch zeigt, und vertrat die These einer Abnahme dieser Konkurrenz bis hin zur gegenseitig befruchtenden Koexistenz und Symbiose über das Theaterstück, den Roman, das Tagebuch und schließlich die verschiedenen Erscheinungsformen von Lyrik im Film. Hatte sich das Drehbuch als Motiv des Spielfilms immer wieder als literarische Gattung dem Film und seinen ästhetischen Mustern zu unterwerfen, so kann bei der Lyrik als Motiv nahezu das Gegenteil behauptet werden. Gedichte im Film werden meist punktuell eingesetzt, da Gedichtsequenzen, ähnlich wie Standbilder im Film, von der konventionellen Handlungsebene des Spielfilms wegführen und im narrativen Bilderfluss paradigmatische Inseln der poetisch-metaphorischen Sprache und der Uneigentlichkeit darstellen. Dies hat zur Folge, dass eine starke Präsenz von Lyrik im Film zu einem Dominanzphänomen führen kann, hinter dem der Film als Spielfilm zurücktritt. Stattdessen wird der Film, so die These, zum Vehikel der poetischen Sprache und dient der Transformation und Illustration von ansonsten nur imaginierten Bildern.
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Antwortlos. Brief, Postkarte und E-Mail in filmischer Reflexion CHRISTINA BARTZ Der Brief ist ein telekommunikatives1 Ursprungsmedium. Sieht man einmal vom Boten im Sinne eines »personalen Nachrichtenträgers«2 ab, ist der Brief eine besonders frühzeitige Form der Organisation von kommunikativen Prozessen über Zeit und Raum hinweg. Indem beim Brief Äußerungen schriftsprachlich auf einem transportablen Träger gespeichert werden, operiert er unabhängig von diesen Kategorien, d.h. Verfasser und Leser befinden sich in der Regel nicht nur an unterschiedlichen Orten, sondern ihre Tätigkeiten erfolgen auch konsekutiv, wobei der Zeitpunkt der Lektüre unendlich hinausgeschoben werden kann. Dadurch kann es zu einer Funktionsverschiebung hinsichtlich des Briefes kommen: Zunehmend rückt dann seine Leistung als Speichermedium in den Mittelpunkt. Er dient dann weniger der Überwindung räumlicher Distanzen, als dass er die Möglichkeit bietet, Wissen mehr oder weniger langfristig zu bewahren. Aus der telekommunikativen Funktion ergeben sich eine Reihe von Folgebestimmungen und auch Konventionalisierungen – so die Abwesenheit der Kommunikatoren und die damit einhergehende Möglichkeit ihrer Anonymität oder die normative Vorgabe der Orientierung der Briefform an der face-to-face-Situation der wechselseitigen Rede und damit die Vergegenwärtigung des schreibenden Ichs im Brief.3 Gerade mit letzterem im Sinne einer Medienkultur des Briefes und den damit verbundenen Konventionen beschäftigt sich die Literaturwissenschaft ausgiebig, wenn sie die Briefkultur epochenspezifisch untersucht und beispielsweise das empfindsame Schreiben im 18. Jahrhundert analysiert.4 Solche Konventionen entdeckt sie gleichermaßen in Briefen, Brieflehrbüchern und literarischen Werken5 – allen voran Die
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Zum Komplex Telekommunikation vgl. Jens Ruchatz/Christina Bartz: »TeleMedien: Telegrafie, Television«, in: Claudia Liebrand u.a. (Hg.), Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster 2005, S. 199-222, hier S. 199f. Vgl. Horst Wenzel: »Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger«, in: Ders. (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe: Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis, Berlin 1997, S. 86-105, hier S. 86. Vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003, S. 192-196. Vgl. etwa Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identität und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003. Zur Briefliteratur vgl. z.B. Reinhard M. G. Nickisch: Brief, Stuttgart 1991, S. 199-205.
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Leiden des jungen Werther –, die der Literaturwissenschaft als Dokumente des Reflektierens über die Formen und Normierungen des Briefes dienen. In gleichem Maße – so eine erste Ausgangsüberlegung des vorliegenden Bandes – lässt sich der Film im Hinblick auf eine solche Medienkultur des Briefes befragen. Die filmische Reflexion des Briefes unterscheidet sich aufgrund der medialen Differenz von den entsprechenden schriftsprachlichen Äußerungen der Literatur und Brieflehre. Mit Blick auf diese mediale Differenz kann der Film seine spezifische Leistung hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der Briefkommunikation entwickeln. Dabei scheint auch jenseits von briefkulturellen Konventionen, wie sie die Literaturwissenschaft beschreibt, schon die Bestimmung des Briefes als Telekommunikationsmedium besonders anschlussfähig für den Film zu sein: Denn in Entsprechung zur Brieffunktion der kommunikativen Verbindung über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg verfügt der Film über seine Montageverfahren, die gerade auf die wahrnehmungstechnische Verbindung unterschiedlicher Orte und Zeitebenen setzen. Die Montage generiert also für den Film die Möglichkeit der Darstellung telekommunikativer Prozesse, indem sie räumlich und zeitlich Getrenntes zusammenbringt. Es geht in Anlehnung an Lew Kuleschow um eine »schöpferische Geographie«,6 bei der zwei entfernte Orte für die Wahrnehmung des Zuschauers zu einem einheitlichen Raumeindruck montiert werden. Doch diese Form der schöpferischen Geographie kann sich auch als narratives Element niederschlagen – nämlich dann, wenn die Trennung der Orte für den Zuschauer wahrnehmbar bleibt, die Handlungen des filmischen Personals aber trotzdem aufeinander bezogen werden und so Telekommunikation in Szene gesetzt wird. Dieses Verfahren wird im Film regelmäßig zur Darstellung synchroner Audiokommunikation über Entfernung – also Telefonie und Funk – verwendet. In BLACK HAWK DOWN (R. Scott, USA 2001) beispielsweise werden funkvermittelte Gespräche der Soldaten, die in unterschiedlichen Hubschraubern sitzen, immer wieder in dieser Form gezeigt. Die Montage scheint dabei einem Schuss-Gegenschuss-Verfahren, wie es für die Darstellung von Dialogen regelmäßig zum Einsatz kommt, zu ähneln, denn die beiden räumlich getrennten Gesprächspartner sind im Wechsel zu sehen. Ihre wechselseitige Rede über die Entfernung erhält so eine visuelle Umsetzung.7 6 7
Vgl. Hans Beller: »Aspekte der Filmmontage – Eine Art Einführung«, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Filmmontage, München 1993, S. 9-32, hier S. 21. Vgl. entsprechend zum Telefon Matthias Thiele: »Cellulars on Celluloid. Bewegung, Aufzeichnung, Widerstände und weitere Potentiale des Mobiltelefons. Prolegomena zu einer Theorie und Genealogie portabler Medien«, in: Ders./Martin Stingelin (Hg.), Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens, München 2010, S. 285-310, hier S. 303; Winfried Pauleit: »Telefon/Zelle. Dispositive und Ästhetik des mobilen Telefonierens«, in: Ästhetik & Kommunikation 135 (2006), S. 23-31, hier S. 25. Natürlich handelt es sich letztendlich nicht um ein Schuss-Gegenschuss-Verfahren, weil dafür ja genau ein gemeinsamer Raum, der durch die 180º-Regel etabliert wird, notwendig ist; durch das Zeigen des jeweiligen Sprechers ist der Eindruck aber ähnlich. Zum Schuss-Gegenschuss-Verfahren vgl. David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art. An Introduction, New York u.a. 1993, S. 262-271.
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Genau diese Vorgehensweise bleibt aber aus, wenn die Kommunikation über Entfernung eben nicht wie beim Funkverkehr synchron läuft, sondern eine zeitliche Distanz zwischen Nachrichtenproduktion und -rezeption entsteht, und dies, obwohl der Film mit der Ellipse auch hierfür eine gängige Montageform zur Verfügung stellt. Die Ellipse beschreibt die Auslassung von narrativen Redundanzen und die Zusammenfügung wesentlicher Teilereignisse.8 Im Falle der Briefkommunikation wäre hier an das Montieren von Schreibund Leseprozess zu denken, während die Überwindung der Distanz – also der Postweg9 – nicht in Szene gesetzt wird. Geht es jedoch um den Brief, werden die Figuren des Absenders und des Adressaten nicht durch die Montage zusammengeführt – das Verfahren kommt nicht zur Anwendung. Stattdessen fällt in der Regel sogar eine der beiden Komponenten weg. Es wird also innerhalb der filmischen Narration entweder der Akt des Briefeschreibens oder der der Lektüre fokussiert, während die jeweils andere Seite ausfällt bzw. stark unterrepräsentiert ist. Dementsprechend ist auch die Wechselseitigkeit kein bestimmendes Element bei der filmischen Reflexion des Briefes. Stattdessen wird das Verfahren der Fokussierung einer Seite der Kommunikation entscheidend für den Verlauf der Geschichte; es motiviert sie und hält sie am Laufen, so z.B. in dem Thriller ZODIAC (D. Fincher, USA 2007), in dem es maßgeblich um die Suche nach dem Absender und damit nach einem Serienkiller geht. Der Film generiert also – sofern er sich mit Briefkommunikation befasst oder sie als narratives Element aufnimmt – seine Erzählung aus der Anonymität bzw. Unbekanntheit des Briefsenders oder, was ebenso möglich ist, des Briefempfängers. Diese Unbekanntheit kann sich auf zwei Ebenen manifestieren: zum einen in Bezug auf den Protagonisten, der sein Gegenüber der Kommunikation nicht kennt, und zum anderen in Bezug auf den Zuschauer, der nicht mit detaillierten Informationen über den Absender oder den Empfänger versorgt wird. Unbekanntheit meint dabei nicht zwingend, dass dem Zuschauer über einen der Kommunikatoren jegliche Information fehlt, sondern es kann auch bedeuten, dass die Informationsvergabe stark reduziert ist, also z.B. nicht mehr als der Name bekannt ist, wie im Falle von ABOUT SCHMIDT (A. Payne, USA 2002). Hier werden allein Name, Nationalität und Alter des Adressaten genannt. In THE COLOR PURPLE (S. Spielberg, USA 1985), dessen Erzählung vor allem um eine gestörte Briefkommunikation kreist, wird zwar detailliertes Wissen über beide Figuren, also Sender und Empfänger, vermittelt, doch motiviert durch die Störung bleibt auch hier eine Seite unterreflektiert – allein der durch die Störung verzögerte Leseprozess sowie die Suche der Protagonistin nach ihrer Schwester, von der die Briefe stammen, finden ihre visuellen Umsetzungen im Film. Indem eine Vielzahl von Filmen ihre Narration gerade durch die geringfügige oder fehlende Wissensvermittlung über einen der beiden Kommunika8 9
Vgl. H. Beller: Aspekte der Filmmontage, S. 25. Obgleich natürlich auch der Postweg für die Inszenierung von Telekommunikation von Interesse sein kann, weil seine Darstellung die Distanz für den Zuschauer wahrnehmbar macht. Das Zurücklegen der räumlichen Entfernung zwischen Adressat und Absender wird selten visuell umgesetzt und narrativ eingebunden. Beispiele dafür wären allerdings SAINT-JACQUES… LA MECQUE (C. Serreau, F 2005) und LES QUATRE CENTS COUPS (F. Truffaut, F 1959).
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tionspartner entwickelt, wird auch die Briefkultur im Film entsprechend reflektiert. Die narrative Vorgabe der Unbekanntheit produziert also ein spezifisches Wissen über den Brief und seine Kommunikationsform. Im Folgenden werden ausgehend von einigen Beispielen die Geschichten, die sich aus der einseitigen Betrachtung des Kommunikationsprozesses ergeben, sowie die damit jeweils verbundenen Konzeptualisierungen des Briefes analysiert. In einem ersten Schritt werden Filme untersucht, die sich dem Sender zuwenden, um anschließend auf eben jene Filme einzugehen, die sich verstärkt mit der Lektüre von Briefen beschäftigen. Im Zuge der jeweiligen Erzählung erhält der Brief eine Vielzahl von Funktionen: Er wird zur Reflexionsfläche für die Situation und Befindlichkeit des Protagonisten, wie etwa in ABOUT SCHMIDT; er drückt die Sehnsüchte der Figuren aus, indem diese mittels des Briefes auf andere Personen – THE LOVE LETTER (P. Chan, USA 1999) – oder auf eine fremde, weil entfernte Welt – THE COLOR PURPLE – projiziert werden; er dient als Dokument für vergangene Zeiten oder Personen, wobei im Zuge der Lektüre die Person zunehmend Gestalt gewinnt, z.B. in LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN (M. Ophüls, USA 1948). Im Kontext dieser Funktionszuweisungen entfällt aber das Moment der Möglichkeit von Wechselseitigkeit innerhalb der Briefkommunikation. Der Brief dient in diesen Geschichten gerade nicht der schriftsprachlich fixierten Wechselrede, also dem Hin und Her von verschriftlichter Rede und Antwort.10 Dies gilt jedoch nicht, wenn sich der Brief vom Papier als Träger löst und elektronisch wird.
Der unbekannte Adressat Selten nur wird die Narration vorangetrieben, indem dem Zuschauer Wissen über den Leser von Briefen vorenthalten wird, vermutlich schon allein weil sich das Verfassen eines Briefes an einen unbekannten Empfänger nur schwer motivieren lässt – zu stark ist der Brief mit einer stabilen Adressenordnung konnotiert, die auf eine eindeutige und zumeist auch singuläre Anschrift setzt und den Brief darüber als Bestandteil der Individual- im Gegensatz zur Massenkommunikation ausweist. Der Brief ist eben kein Massenmedium bzw. wird spontan nicht als solches identifiziert, wie gerade anhand des Films LIEBESBRIEFE AUS DEM ENGADIN (W. Klingler/L. Trenker, D 1938) deutlich wird. Die Handlung wird durch eine Werbekampagne für einen Skiort ausgelöst. Die Kampagne besteht aus einem seriell gefertigten Liebesbrief, der mit persönlicher Ansprache an unzählige Frauen verschickt wird, die daraufhin in den Ort reisen, um den vermeintlich liebenden Unterzeichner zu treffen. Als Absender wird ein beliebter Skilehrer des Ortes genannt, der aber nichts davon weiß, wodurch sich einige Verwicklungen ergeben. Diese sind dabei nicht allein der Unwissenheit des Skilehrers geschuldet, sondern ebenso der Verwechslung, der die Frauen aufgrund der persönlichen Adressierung des Liebesbriefes aufsitzen. Dadurch können sie ihn nicht als mas10 Diesem (weitgehenden) Ausfall von Dialogizität in der Briefkommunikation entsprechend bleibt auch die Rollenzuweisung von Absender und Adressat meist klar identifizierbar. Da beispielsweise der Adressat nur selten und in Ausnahmefällen antwortet, tritt er auch nicht als Verfasser von Briefen auf.
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senmediale Werbemaßnahme erkennen, sondern begreifen sich jeweils als Empfängerin von individuellen Liebesbekundungen. Die Geschichte wird also motiviert, indem die Unbegrenztheit der Empfängerschaft und die damit einhergehende Anonymität des Rezipienten, wie sie der massenmedialen Kommunikation eingeschrieben sind,11 in die Form des Liebesbriefes überführt werden. Liebesbrief und Massenkommunikation werden also gleichzeitig aktualisiert, obwohl der Liebesbrief einer entsprechenden Semantik verpflichtet ist, die gerade die Einzigartigkeit des Gegenübers prämiert12 und somit im Gegensatz zur seriellen Ansprache und egalitär konzipierten Empfängerschaft der Massenmedien steht. Die Leserinnen der Briefe erscheinen im Film aber nicht jeweils als hochindividualisierte Geliebte, sondern insgesamt als anonyme Masse, und zwar zweifach: zum einen als Masse der unzähligen Empfängerinnen und zum anderen als weibliche Masse. Als solche werden sie in Szene gesetzt, wenn sie aufgeregt den unwissenden Skilehrer verfolgen. Ihre Individualisierung und charakterliche Konturierung, wie sie der Liebesbrief nahelegt, bleibt also aus. Diese fehlende Individualisierung des Adressaten ist aber nicht zwingend mit dem Serienbrief und seiner Mehrfachadressierung verbunden, denn sie kann sich – wie die folgenden Beispiele zeigen – auch dann manifestieren, wenn ein Einzelner angeschrieben wird. Im ersten Beispiel geht es um eine unbestimmte Anschrift, die sich im »anyone« erschöpft und damit ebenfalls die Anonymität des Empfängers benennt. THE BUTTERFLY EFFECT (E. Bress/ J. M. Gruber, USA 2004) – dessen Protagonist meint, sich in die Vergangenheit zurückversetzen zu können, was ihn schließlich als Patient in eine psychiatrische Klinik führt – gibt exemplarisch vor, wie sich ein unbestimmter Briefempfänger konzipieren lässt: indem der Brief für einen zufälligen Adressaten geschrieben wird. Der Brief beginnt mit der Anrede »Anyone find this…«. Schon anhand dieser knappen Eröffnung lassen sich einige Funktionsweisen des Briefes reflektieren, die sich gerade vor der Folie der vermeintlichen Zeitreisen der Hauptfigur ergeben: Zunächst wird deutlich, dass die Akte des Schreibens und des Lesens zu unterschiedlichen Zeitpunkten geschehen, denn der Adressat wird in der Zukunft angesprochen. Damit verbunden wird die Gedächtnisfunktion betont; der Brief richtet sich an einen zukünftigen Leser, dem offensichtlich die aktuelle Situation geschildert werden muss, da sie ihm andernfalls nicht präsent ist. Darüber hinaus scheint die Schilderung der Situation für jeden von Interesse – eben ›anyone‹. Es geht also gerade nicht um den persönlich adressierten Brief. Aber auch eine eindeutige Anschrift schließt die Unbekanntheit des Empfängers und seine fehlende Individualisierung nicht aus, und zwar dann, wenn der Angeschriebene ohne bildliche Entsprechung und genauere Angaben bleibt, der Adressat also diffus bestimmt ist. In ABOUT SCHMIDT verfasst der Protagonist Warren Schmidt Briefe an ein tansanisches Patenkind namens Ndugu, das ihm über ein Kinderhilfswerk vermittelt worden ist. Der Adressat Ndugu tritt während des gesamten Films nicht in Erscheinung. Indem allein Warrens Tätigkeit des Verfassens von Briefen, begleitet von einer visuellen 11 Vgl. Gerhard Maletzke: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Opladen, Wiesbaden 1998, S. 46. 12 Vgl. Niels Werber: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003, S. 19-25.
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Umsetzung des Briefinhalts, zu sehen ist, steht weniger der kommunikative oder gar telekommunikative Aspekt der Briefe im Mittelpunkt. Statt um die Verbindung eines tansanischen Kindes mit einem US-amerikanischen Mann geht es allein um die Befindlichkeit des Letzteren. Die Briefe dienen dabei vor allem der Erkenntnisproduktion über Warrens Leben, und zwar nicht nur für Warren selbst, sondern auch für den Zuschauer. Der Film referiert darüber implizit auf eine romantische Tradition des Briefes, die jenen nicht als dialogisches Medium, sondern als monologische Instanz der Ich-Konstruktion entwirft, welche ohne Antwort auskommt und insofern die Grenze zum Tagebuch streift.13 Der Film schließt jedoch insofern nicht vollständig an diese Brieftradition an, als Warren auch immer darum bemüht ist, sein Leben als in seinem Sinne gelungen zu beschreiben – so beispielsweise bei der Schilderung der Hochzeit seiner Tochter –, obwohl die visuelle Ebene sein Unbehagen mit der Situation vermittelt oder gar ein vollkommen anderes Bild zeichnet. Die briefvermittelte Ich-Konstruktion startet also in einer geschönten Wiedergabe der Umstände. Die positive Beschreibung gelingt aber letztendlich kaum, so dass der Schreibprozess die Wahrheit über Warrens Leben zu Tage befördert und der Brief seine Funktion als Reflexionsfläche und Selbsterkenntnisinstanz ausübt. Als Zwischenresümee lässt sich also festhalten, dass die filmische Briefreflexion erstens an eine Tradition anschließt, in welcher der Schreibvorgang als Selbsterkenntnisprozess erscheint. Indem der Brief damit weitgehend als monologisches Medium konzipiert wird, entfällt zweitens auch das telekommunikative Moment. Stattdessen wird die Zeitkomponente betont, also der Aspekt, dass der Brief sich an einen Leser in der Zukunft richtet und diesen mit Informationen versorgt. Drittens wird der Brief verstärkt in Anlehnung an eine massenkommunikative Struktur geschildert, wenn der Adressat unbekannt und anonym und damit kaum individualisiert ist.
Der unbekannte Absender Genauso wie sich in ABOUT SCHMIDT der Verfasser der Briefe im Zuge des Schreibens offenbart, enthüllt er sich in anderen Filmen im Laufe des Lektüreprozesses. Er wird dem innerdiegetischen Leser und mit ihm dem Zuschauer in Form des Briefes präsentiert. Der Brief vergegenwärtigt den Absender für den Adressaten wie für den Zuschauer, dadurch gewinnt der Verfasser zunehmend an Kontur bzw. wird er überhaupt erst in die filmische Narration eingeführt. Exemplarisch dafür steht die Detektivgeschichte, wie sie in ZODIAC vorgestellt wird. Bei der polizeilichen und journalistischen Suche nach einem Serienmörder geben vom Mörder verfasste Bekenner- und Ankündigungsschreiben zentrale Hinweise auf den Täter. Die Tötungsdelikte des unbekannten Verfassers der Briefe initiieren eine Suche nach dem Ab13 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München, Wien 1987, S. 214. Eine Antwort bleibt dann auch im Film weitgehend aus, auch wenn die Erzählung mit dem Schreiben einer Missionarsschwester aus Tansania, das von Ndugu berichtet, endet. Doch auch dieser Brief dient allein als Reflexionsfläche für Warrens Leben.
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sender, die eben über die Briefe führt; diese sollen Aufschluss über ihren Produzenten geben.14 Die Lektüre wird so im Sinne eines Enträtselungs- und Enthüllungsvorgangs konzipiert. Der Brief als Auskunftsinstanz über seinen Absender ist aber nicht nur in kriminalistischen Rätseln von Interesse, sondern vor allem im Kontext von Liebesgeschichten, deren Briefgebrauch in der Regel von einer durch das 18. Jahrhundert geprägten Briefkultur bestimmt ist. Diese beinhaltet – so Albrecht Koschorke15 – unter dem Namen Empfindsamkeit ein Unmittelbarkeitsphantasma, dem gemäß sich in den geschriebenen Worten die Seele des Gegenübers vergegenwärtigt. Es geht dabei um eine Imagination von Unmittelbarkeit, die nicht allein darin besteht, mittels der Schrift im Brief eine direkte Interaktion mit dem ›Gesprächspartner‹ zu ermöglichen, sondern die zudem besagt, dass sich ein unverstellter Blick in seine Seele gewinnen lässt: »Schriftlichkeit ist ein kommunikationstechnisches Korrelat zum diskursiven Phänomen ›Seele‹«,16 wie Koschorke dies zusammenfasst. Diese Vergegenwärtigungsleistung des Briefes wird im Film wenig explizit thematisiert; sie findet jedoch ihren Niederschlag in Form eines Montageverfahrens, das die Briefinhalte als Einstellungsfolgen in den Erzählfluss einfügt. Hugo Münsterberg, der die Leistung des Films u.a. in der Objektivierung von Bewusstseinsvorgängen für den Zuschauer sieht, benennt dieses Verfahren – unabhängig von einer Auseinandersetzung mit dem Brief oder der Seelenschau – als spezifisch für den Film. Dabei sind die Zuschauer, so Münsterberg, »passive Zeugen der Wunder, die durch die Phantasie der Spielfiguren sichtbar werden. Wir sehen den Jungen, der in die Marine eintritt und seine erste Nacht an Bord schläft; die Wände verschwinden, und seine Phantasie fliegt von Hafen zu Hafen. […] Schon steht er in der Takelage des stolzen Schiffes, das gerade in 17 den Hafen von Rio de Janeiro und nun in Manila Bay einläuft.«
In gleicher Weise wird dem Zuschauer der Briefinhalt als Vorstellung und Einbildung des jeweiligen Protagonisten präsentiert – in THE COLOR PURPLE geht es dabei wie in dem von Münsterberg genannten Beispiel um die Vergegenwärtigung fremder Kontinente und Kulturen, die sich der Protagonistin in Form der Briefe mitteilen und die der Zuschauer als visuelle Umsetzungen der Briefinhalte zu sehen bekommt. So wird – nicht nur in THE COLOR PURPLE – die Unmittelbarkeit, die der Schrift und den Worten im Brief zuge14 ZODIAC beschäftigt sich jedoch weniger mit der Briefkommunikation im Speziellen, als dass er dem Zuschauer ein ganzes Medienensemble aus Zeitung, Fernsehen, Telefon, Fotografie etc. präsentiert, in das sich der Brief als ein Bestandteil einfügt. Die Analyse dieser komplexen Vernetzung der Medien und der damit verbundenen Funktionszuschreibungen wäre eine eigenständige Betrachtung wert. Grob kann man aber hinsichtlich der Funktionalisierung und Darstellung des Briefes in ZODIAC festhalten, dass die Thematiken Materialität, Handschrift, Codierung sowie intime vs. öffentliche Kommunikation zentral sind. 15 Vgl. A. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 195f. 16 Ebd., S. 196. 17 Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916), Wien 1996, S. 61.
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schrieben wird, in eine Einstellungsfolge übersetzt. Dies bedeutet aber, dass im gleichen Zuge die Darstellung der Schrift, der ja traditionell die Vergegenwärtigungsleistung zugesprochen wird, entfällt. Indem also der Film zeigt, wie sich eine Figur anlässlich des Briefes Vorstellungen vom Gelesenen bildet, wird einerseits eine klassische Funktion des Briefes – das Präsentmachen von Entferntem – betont. Andererseits scheint es aber so, dass die Einstellungsfolgen zu den Inhalten vom Brief selbst ablenken: Er tritt nicht mehr in Erscheinung, weil er in seiner filmischen Bearbeitung einem medialen Übersetzungsprozess von der Schrift zur audiovisuellen Darstellung unterzogen wurde. Dies wird besonders deutlich in THE COLOR PURPLE, weil hier die Briefe während der Lektüre in ein Buch eingelegt werden, so dass sie nicht zu sehen sind. Dabei verwundert die Anwendung des Übersetzungsverfahrens, das den Brief visualisiert, gerade in THE COLOR PURPLE, in dem anfänglich eine (wenn auch unterkomplexe) Auseinandersetzung mit der Verweisstruktur von geschriebenen Wörtern auf Abwesendes stattfindet, nämlich wenn die Protagonistin lesen lernt und dabei alle Gegenstände des Haushalts mit ihrem Namen versehen werden. Auf diese Weise wird eine schriftliche Verdoppelung des Hauses und seiner Gegenstände geschaffen, durch die sich die Figuren des Films kurzzeitig bewegen. Wort und Ding sind dabei zeitgleich präsent, bevor sie mit der Abreise der Schwester auseinandertreten. Das von Münsterberg beschriebene Montageverfahren findet jedoch nicht nur Anwendung, um entfernte Regionen vorzustellen, sondern auch – im Rahmen von Liebeskommunikation – um das Gegenüber präsent zu machen. Es geht um die genannte Enthüllung des Briefschreibers und dessen, was ihn im Innersten bewegt. Exemplarisch steht hierfür LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN, in dem der Brief Bestandteil einer Rahmenhandlung ist, die u.a. aus dem Leseprozess des Protagonisten Stefan Brand besteht. Das Lesen des Briefes, der mit den Worten »Wenn Du diesen Brief liest, bin ich vielleicht schon tot« beginnt, initiiert eine Reihe von Rückblenden, die den Inhalt des Briefes und damit die Geschichte der Liebe der Absenderin Lisa zu Stefan, welche in dem eingangs angekündigten Tod endet, visualisieren. Für den Lebemann Stefan, dem Lisa zunächst unbekannt ist, obwohl er ein Kind mit ihr gezeugt hat, entsteht so die Verfasserin des Briefes als Individuum. Das Lesen wird dabei als emotionaler Erkenntnisprozess in Szene gesetzt, in dem die unbekannte Absenderin zunehmend Gestalt gewinnt und in dem auch Stefans Leben, das eng mit dem von Lisa verbunden ist, erzählt wird. Insofern dieser Erkenntnisprozess briefvermittelt entsteht, geschieht er im Rahmen einer erzählperspektivisch komplexen Anordnung, welche die Figuren Lisa und Stefan ebenso mit einbezieht wie den Zuschauer: Der Zuschauer begleitet gemäß der Rahmenhandlung Stefans Lektüre des Briefes, der Lisas Erinnerungen wiedergibt, die sich Stefan in Form des Briefes vergegenwärtigt. Dadurch lernt nicht nur er Lisa und ihre Geschichte sowie seine Rolle darin kennen – auch dem Zuschauer wird dieses Wissen vermittelt. Indem die Wissensvergabe an Stefan orientiert ist und zugleich Lisas Erinnerung geschildert wird, können dem Zuschauer mittels des Briefes beide Figuren und ihre Gefühlslagen vor Augen geführt werden. Dabei wird erstens durch die visuelle Umsetzung von Lisas Erinnerungen ein unmittelbares Verstehen durch Stefan nahegelegt. Zweitens wird mittels der Darstellung von Stefans Reaktion auf die Lektüre ein Eindruck der direkten Interaktion zwischen Briefverfasserin
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und -leser geschaffen. Unmittelbarkeit wird so durch die Verschachtelung der Erzählperspektive und die Interaktionsform mehrfach suggeriert. Ebenfalls um eine Liebesgeschichte kreist THE LOVE LETTER, in dem ein maschinengeschriebener Brief ohne Absender – der Brief endet mit den Worten »I remain yours« – und ohne Anschrift – die Anrede lautet »Dearest« – auftaucht. Beides wird aber nicht zum Problem, da jeder, der den Brief entdeckt, sich als Adressat aufgerufen fühlt und dazu auch meint, den Verfasser identifizieren zu können. Auf diese Weise werden zwischen den Figuren Liebesbeziehungen gestiftet, die allein auf einer imaginären Adressierung beruhen. Ausgangspunkt des Reigens der durch den Brief initiierten Beziehungen ist die Protagonistin Helen, die das Schreiben zwischen ihrer Geschäftspost findet. Der Fundort lässt sie annehmen, dass sie die intendierte Empfängerin des Briefes ist, und sie beginnt zu rätseln, wer ihn verfasst haben könnte. Ihre Suche wird dabei vor allem über die Stimme inszeniert und organisiert: So ist die erste Lektüre von Helens Stimme, die gedanklich, aber für den Zuschauer wahrnehmbar den Brief liest, begleitet. Ihre Stimme wird aber bald von anderen abgelöst, weil sie sich verschiedene Personen als Verfasser vorstellt, indem sie – wiederum gedanklich – deren Stimmen den Brief lesen lässt, ohne dass sie dadurch zu einem plausiblen Ergebnis hinsichtlich des Absenders kommt. Interessant ist dieses Verfahren nun zum einen, weil es nicht, wie die bisher besprochenen Filme, auf die visuelle Präsentation des Briefinhaltes setzt – was angesichts des metaphernreichen Stils, in dem der Brief verfasst ist, auch schwierig wäre. Stattdessen wird der Brief als verschriftlichte Rede vorgestellt. Er macht eine Stimme präsent, auch wenn angesichts des fehlenden Absenders unklar bleibt, wem die Stimme gehören soll. Ein Verfasser findet sich aus Helens Perspektive erst, als ihr Angestellter den Brief entdeckt und sich selbst als Empfänger und Helen als Absenderin einsetzt, indem auch er den Brief durch Helens Stimme lesen lässt und ihn später für sie zitiert. Zum anderen wird durch die Vielstimmigkeit, die der fehlende Absender initiiert, eine Wiederholungslektüre in Gang gesetzt, die auf die Schönheit des Klangs und der Formulierungen verweist und darüber den Empfänger affiziert. Indem der Brief keine visuelle, sondern nur eine lautliche Umsetzung erhält, weist THE LOVE LETTER auch die Gedächtnisfunktion, die so viele Filme mit dem Brief verbinden (THE BUTTERFLY EFFECT, LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN), zurück. Gesprochen wird der Inhalt flüchtig bzw. transitorisch und er manifestiert sich ausschließlich im Augenblick des Sprechens. THE LOVE LETTER ist aber nicht allein wegen dieser besonderen, weil auditiven Präsentation des Briefes von Interesse. Darüber hinaus wird hier der Brief mehrfach explizit reflektiert und nicht nur als zentraler Bestandteil der Narration eingeführt. Aus der Vielzahl der Aspekte sollen zwei herausgegriffen werden: Die Reflexionsleistung des Films zeigt sich erstens, indem der Liebesbrief gegen den Geschäftsbrief abgegrenzt wird. Wie bereits erwähnt, findet Helen den Liebesbrief zwischen ihrer Geschäftspost. Die Geschäftspost wird dabei im Film permanent als Problem der Überflutung ausgestellt: Immer wieder hat die Protagonistin mit der Menge an Post zu kämpfen, die sie über den Postschlitz in der Eingangstür ihres Geschäftes erreicht und sich über den Boden ergießt. Der aussichtslose Kampf gegen diese Menge an Briefen ist ein Thema des Films. Demgegenüber wird der Liebesbrief als singuläres Phänomen inszeniert.
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Zweitens wird der Liebesbrief mit der Postkarte verglichen. Postkarten haben – so legt es der Film zunächst nahe – vor allem eine Lokalisierungsfunktion, d.h. sie teilen mit, wo sich jemand gerade befindet.18 So liest die Postangestellte des kleinen Ortes, in dem die Handlung situiert ist, alle Postkarten, um sich über den augenblicklichen Standort abwesender Dorfbewohner zu informieren; dafür nimmt sie eine Weltkarte zu Hilfe. Insofern sie die Karten liest, obwohl sie für andere bestimmt sind, wird auch deutlich, dass sich darüber kaum intime und private Kommunikation organisieren lässt. Diese Annahme wird jedoch im Laufe der Handlung als problematisch entlarvt, wenn Helens alter Freund George in einem Gespräch über seinen Aufenthalt in New York im Jahr 1976 und die vielen Postkarten, die er an Helen geschickt hat, berichtet. Er bedauert, nie eine Antwort von ihr erhalten zu haben, was bei ihr Verwunderung auslöst, weil sie annimmt, dass Postkarten eben keine Antwort provozieren. Ein erneuter Blick auf seine Postkarten, die sie von vielen Orten erreicht haben und die sie inzwischen in einer Kiste gesammelt hat, verrät ihr das Missverständnis: Ihm ging es nicht darum, ihr seinen Standort mitzuteilen, sondern New York als Ausgangspunkt für eine Liebesbeziehung zu nutzen, denn die Postkarte enthält einen Einschub mit den Worten »I want to spend the rest of my life with you. Let’s start here…«. Ihre Verkennung der Möglichkeit der Postkarte zur Übermittlung von Liebesbekundungen hat dazu geführt, dass sie sich nicht als Adressatin einer Liebesnachricht identifizieren konnte, während ihr dies beim Brief, dem sie spontan die Funktion der intimen Liebesbezeugung zutraut, sofort plausibel ist – und das, obwohl der Brief nicht an sie gerichtet war, wie das Ende des Films enthüllt. Am Ende wird der Brief vom Wind weggetragen und man kann als Zuschauer davon ausgehen, dass er weitere Geschichten bei seinem nächsten Finder auslösen wird. Ihm wird ein Eigenleben zugesprochen, das ihn unabhängig von einer intendierten Adressierung und von seinem Verfasser macht. Damit ist er mit der Geschäftspost vergleichbar, die sich unaufgefordert – und, so hat es den Anschein, auch ohne Zutun eines Postboten – durch den Türschlitz auf den Boden ergießt: Briefe gleich welcher Form sind nicht kontrollierbar, sondern kontrollieren scheinbar den Menschen. Sie treten als Initiatoren von Beziehungen auf oder können als Flut bedrohliche Formen annehmen. Sie können unerwartete Reaktionen auslösen, etwa eine innerliche Berührung durch die Schönheit der Formulierungen oder die Suche nach einem liebenden Absender. Der Brief ist ein Handlungsträger und gibt daher auch dem Film den Titel: THE LOVE LETTER. Es lässt sich also resümieren, dass gemäß der filmischen Darstellung Briefe erstens ein Eigenleben führen und sich nicht an die Intention ihres Verfassers halten. Sie haben zweitens vor allem eine Vergegenwärtigungsfunktion, die vielfach und auf unterschiedliche Weise inszeniert wird. Sie vergegenwärtigen Personen, Vergangenes und zum Teil auch Entferntes, ohne dass letzteres jedoch dazu führt, dass sie als Telekommunikation in Erscheinung treten. Mit der Vergegenwärtigungsleistung hängt drittens ihre
18 Eine ähnliche Funktion übernehmen in LE FABULEUX DESTIN D’AMÉLIE POULAIN (J.-P. Jeunet, F/D 2001) per Post versandte Fotos einer Sofortbildkamera, die einen Gartenzwerg vor berühmten Sehenswürdigkeiten wie Angkor Wat zeigen, um seinen aktuellen Aufenthaltsort zu markieren.
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Enthüllungsfunktion zusammen: Sie dienen dazu, den unbekannten Absender zu enträtseln.
Dialog Abschließend stehen nun zwei Filme im Mittelpunkt, die sich zunächst nicht in die eingangs genannte These von der fehlenden Dialogizität in der Briefkommunikation, wie sie im Film durch die Betrachtung jeweils einer Seite der Kommunikation dargestellt wird, einfügen: YOU’VE GOT MAIL (N. Ephron, USA 1998) und THE LAKE HOUSE (A. Agresti, USA 2006). Ersterer verschiebt das Thema Brief in seine elektronische Variante, was erhebliche Folgen für die Inszenierung und damit für die Konzeption der entsprechenden Kommunikation hat. Die E-Mail wird nämlich im Film weniger als elektronische Briefpost verstanden, als dass sie eher einem schriftlichen Telefonat gleicht – das legt zumindest das Montageverfahren, das bei YOU’VE GOT MAIL zur Darstellung von E-Mails verwendet wird, nahe. Hier liegt nämlich die Wechselseitigkeit vor, die bei der Inszenierung der Briefe auf Papier regelmäßig ausfällt, dafür aber für Telefon und Funk von Bedeutung ist, wie das Beispiel BLACK HAWK DOWN gezeigt hat: Die Protagonisten Joe und Kathleen werden in YOU’VE GOT MAIL im Wechsel beim Schreiben ihrer Mails gezeigt. Hinzu kommt, dass ihre E-Mails während der Lektüre durch die Stimme des jeweiligen Gegenübers unterlegt werden, so dass ein Dialog auf auditiver Ebene entsteht. Besonders deutlich wird dies in der Eingangssequenz, in der Kathleen an ihren Rechner geht, um Joes Mail zu lesen. Als sie lesend zu sehen ist, wird der Inhalt der Mail von ihm gesprochen, was auf der Bildebene zu seiner Person überleitet: Während seine Stimme als Voice-over die Mail wiedergibt, wird sein Alltag gezeigt und damit eben auch, wie er am Computer eine Mail von Kathleen liest, die sie wiederum spricht. Auf diese Weise wird nicht nur der Eindruck eines Dialoges evoziert, sondern darüber hinaus auch die Mail-Kommunikation als besonders aktuell suggeriert, denn der Vollzug von Handlungen auf der visuellen Ebene und ihre Beschreibung in einer Mail durch deren auditive Wiedergabe geschehen zeitgleich – während der Zuschauer beispielsweise Kathleen durch New York gehen sieht, hört er ihre Mail, in welcher sie die Stadt beschreibt. Dies unterscheidet sich grundlegend vom herkömmlichen Brief, der im Film vor allem als Berichterstattungsinstrument über die Vergangenheit funktionalisiert wird – so in LETTER FROM AN UNKNOWN WOMAN, in dem Stefan Lisas Niederschrift ihrer Erinnerung liest und der Zuschauer eine entsprechende szenische Umsetzung sehen kann. Damit ist die E-Mail erstens ein aktuelles Medium, während der Brief verstärkt in seiner Erinnerungsfunktion auftaucht. Diese Aktualität scheint zweitens dazu zu führen, dass Mails – wie das Telefon – wechselseitige Kommunikation organisieren; der Brief dagegen wird im Film vermehrt als reiner Schreib- oder Lektüreprozess dargestellt, bei dem das jeweilige Gegenüber fehlt. Diese beiden Eigenschaften von Mails werden in YOU’VE GOT MAIL vor allem über die Bild- und Tonebene vermittelt. Es werden jedoch vier weitere Charakteristika und Leistungen von E-Mails thematisiert, und zwar in Form ihres Inhalts: Zum einen geht es in den Mails, wie bereits angedeutet, um die Schilderung des eigenen Alltags. Indem dabei regelmäßig der Verfasser der
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jeweiligen E-Mail während des Lesevorgangs seines Gegenübers gezeigt wird, entsteht der Eindruck der Vergegenwärtigung, wie er auch für die Papierpost so zentral ist. Zweitens geht es um die Orientierung der E-Mail an der Redesituation bzw. »conversation«, wie Kathleen schreibt, die dann eben ihre bildliche Entsprechung im wechselseitigen Zeigen der Kommunikatoren hat. Explizit wird so das Gespräch als Vorbild für den E-Mail-Austausch thematisiert. Drittens und damit verbunden wird darauf abgehoben, dass man sich durch die simulierte Gesprächssituation zwar gegenseitig sehr vertraut ist, sich aber dennoch nicht kennt. So wird die gegenseitige Anonymität, die dann ja auch zum zentralen Movens der Narration wird, angesprochen. Dies schließt an die Papierpost an, weil auch hier die gegenseitige Anonymität der Briefpartner immer wieder Bestandteil der Narration und damit der Auseinandersetzung mit dem Brief ist. Interessanterweise ist dabei das Moment der Unbekanntheit wesentlicher als die überbrückte Distanz, aus der ja u.a. die Anonymität resultiert. Tatsächlich spielt Raum gar keine Rolle, weil viertens ununterbrochen New York als Gegenstand der Kommunikation dient: Kathleen und Joe leben beide in New York, was permanent Thema ist. Aufgrund dessen treffen sie sich auch immer wieder, ohne aber zu wissen, dass es sich jeweils um den E-Mail-Partner handelt, wodurch erneut die Anonymitätsproblematik berührt wird. Das Thema der Überwindung von Distanzen, also der telekommunikative Aspekt, ist nun auch beim traditionellen Brief unerheblich und findet, wie zuvor beschrieben, kaum Eingang in die filmischen Geschichten. Jedoch verwundert dieses Fehlen bei YOU’VE GOT MAIL bzw. wird überhaupt als Fehlen offensichtlich, weil hier der Vorspann das Gegenteil vermuten lässt. Der Film beginnt nämlich mit einem Computerbildschirm, auf dem u.a. eine stark reduziert dargestellte Weltkugel abgebildet ist. Zunehmend nähert sich der Bildausschnitt der Weltkugel, wodurch einerseits die Rahmung durch den Bildschirm verschwindet und andererseits nur noch Teile der Weltkugel zu sehen sind. Hochstilisiert erkennt man als Zuschauer nun Kommunikationsbahnen, die sich durch die Landschaft ziehen. Auf diese Weise setzt der Film im Vorspann die Fernkommunikation mittels elektronischer Post ins Bild, um dann später die Verwicklungen zweier Menschen zu schildern, die beide eine Buchhandlung auf derselben New Yorker Straße unterhalten. Damit zeichnet sich die E-Mail kaum dadurch aus, dass sie zwei räumlich voneinander entfernte Personen kommunikativ vereint, sondern sie ist vielmehr durch die Anonymität gekennzeichnet, die sich aus der räumlichen Trennung – sei sie auch noch so gering – ergibt. Die Großstadt New York mit ihren Menschenmassen bildet dabei die Folie, vor der sich die Unbekanntheit des jeweils Anderen beschreiben lässt. Insofern schließt die filmische Konzeptualisierung der E-Mail an die des Briefes an, die ebenfalls die Überwindung räumlicher Distanzen als eine seiner möglichen Leistungen übergeht. Zugleich unterscheiden sich Brief und E-Mail in ihrer filmischen Darstellung stark, denn im Gegensatz zur E-Mail dient der Brief nicht der dialogischen Kommunikation. Es gibt jedoch auch Filme, die auf die Wechselseitigkeit der Briefkommunikation setzen. Ein erstes und besonders markantes Beispiel dafür ist DANGEROUS LIAISONS (S. Frears, USA/GB 1988). Hier werden – wenn auch nicht durchgehend – Einstellungen vom Schreib- und vom Leseprozess direkt hintereinander montiert und zugleich wird mittels Voice-over der Briefinhalt durch den Verfasser wiedergegeben, so dass sich der Eindruck einer ›voll-
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ständigen‹ Kommunikation ergibt, da zwei Kommunikationspartner in Beziehung zueinander gesetzt werden. Jedoch ist nur in Ausnahmen der Adressat auch der im Bild gezeigte Leser des Briefes; zumeist werden die Briefe durch einen Dritten gelesen, bevor sie ihren intendierten Empfänger erreichen, dessen Lektüre dann keine szenische Umsetzung mehr erfährt. Vor allem Valmont fängt immer wieder die Briefe seiner weiblichen Verführungsopfer ab, um sich einen Informationsvorteil zu verschaffen, bevor er sie an den eigentlichen Adressaten weiterleitet. Er kontrolliert mittels der Zofe die brieflichen Kommunikationswege von Madame de Tourvel, um mit den so gewonnenen Informationen das Geschehen effektiv in seinem Sinne zu manipulieren, ohne dass die Verfasserin etwas davon weiß. Jedoch sind nicht nur die abgefangenen Briefe im Film Bestandteil eines Informationsvorteils und Manipulationsinteresses; auch die Briefe, die den vom Absender gewünschten Empfänger ohne Umwege erreichen, werden vom Leser entsprechend eingesetzt – so etwa, wenn Cécil der Marquise de Merteuil den Verlust ihrer Jungfräulichkeit durch Valmont schildert. Die Marquise nutzt diese Information, um Cécil zu beeinflussen und zu steuern. Damit ist jeder Briefverkehr, der im Film in Szene gesetzt wird, durch den Leser korrumpiert, problematisch geworden und gestört. Aus der Perspektive des Verfassers ist dem Leser nicht zu trauen, weil er entweder nicht die in der Anrede genannte Person ist oder weil er andere Absichten als die vom Briefautor vermuteten verfolgt, und so besteht ein Großteil der Narration darin, dass der Absender in seine Überlegungen nicht mit einbezieht, dass der Brief seinen Adressaten nur auf Umwegen erreicht. Mit dieser Briefdarstellung, die auf die Unmöglichkeit einer für den Absender unproblematischen Briefkommunikation abhebt, orientiert sich der Film an seiner literarischen Vorlage Les liaisons dangereuses von 1782, in der sich das zeitgenössische Briefverständnis manifestiert. Vor der Etablierung einer empfindsamen Briefkultur kann sich der Briefverkehr nämlich »auf keinen Kodex der Vertraulichkeit stützen […]. Die schriftlichen Demarchen laufen unaufhörlich Gefahr, durchkreuzt und verraten zu werden…«19 Daher sind vertrauliche Briefe auch nicht namentlich zu unterzeichnen, die Zustellung ist möglichst geheim zu organisieren. In Entsprechung dazu stellt die Verfilmung von Frears den Brief als Bestandteil eines Informationskrieges und eines manipulativen Kalküls dar. Ein zweites Beispiel für die Darstellung der wechselseitigen Briefkommunikation ist THE LAKE HOUSE, in dem die Hauptfiguren, die beide zu unterschiedlichen Zeiten in demselben Haus wohnen, mittels ihrer Briefe über die Zeit hinweg in Verbindung stehen, was dem Film Anlass bietet, eine krude Innerlichkeit, die mit dem Brief verbunden wird, in Szene zu setzen. Auch hier geht es wie in so vielen anderen Filmen um die Möglichkeit einer Präsenz des abwesenden Gegenübers im Brief. Die zeitparadoxe Liebesgeschichte scheint insofern nicht viel Neues zur Briefreflexion beizutragen. Doch sie ist interessant, weil sie eben verstärkt die Wechselseitigkeit der Kommunikation thematisiert, u.a. indem die beiden liebenden, aber zeitlich getrennten Hauptfiguren zusammenmontiert und zum Teil sogar gemeinsam im Bild gezeigt werden (so dass in einem Bild zwei Zeitebenen zu sehen sind). THE LAKE HOUSE hebt sich damit von vielen anderen Filmen, die sich mit dem Brief beschäftigen, ab. Aber vielleicht beschäftigt sich THE LAKE HOUSE 19 A. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 175f.
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auch gar nicht mit dem Brief, denn diese spezifische Erzählung der Kommunikation über die Zeit hinweg – zwei Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten leben, stehen in wechselseitigem Kontakt miteinander – scheint gar keine Geschichte um eine Briefkommunikation zu sein, findet sich ein ähnlicher Plot doch auch in FREQUENCY (G. Hoblit, USA 2000), in dem der Protagonist durch ein Funkgerät Kontakt zu seinem Vater in der Vergangenheit hält. Das Medium dieser Geschichte über die Kontaktaufnahme zu vergangenen Personen, die aktuell antworten können und sich nicht nur in Form von in der Vergangenheit verfassten Briefen manifestieren, ist eben Funk. THE LAKE HOUSE hat also das falsche Medium gewählt bzw. es gilt: Nicht alle Filme, die den Brief als narratives Element aufnehmen, reflektieren diesen auch.
Literatur Beller, Hans: »Aspekte der Filmmontage – Eine Art Einführung«, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Filmmontage, München 1993, S. 9-32. Bohrer, Karl Heinz: Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, München, Wien 1987. Bordwell, David/Thompson, Kristin: Film Art. An Introduction, New York u.a. 1993. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 2003. Maletzke, Gerhard: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Opladen, Wiesbaden 1998. Münsterberg, Hugo: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916), Wien 1996. Nickisch, Reinhard M. G.: Brief, Stuttgart 1991. Pauleit, Winfried: »Telefon/Zelle. Dispositive und Ästhetik des mobilen Telefonierens«, in: Ästhetik & Kommunikation 135 (2006), S. 23-31. Reinlein, Tanja: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identität und Inszenierungspotentiale, Würzburg 2003. Ruchatz, Jens/Bartz, Christina: »Tele-Medien: Telegrafie, Television«, in: Claudia Liebrand u.a. (Hg.), Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster 2005, S. 199-222. Thiele, Matthias: »Cellulars on Celluloid. Bewegung, Aufzeichnung, Widerstände und weitere Potentiale des Mobiltelefons. Prolegomena zu einer Theorie und Genealogie portabler Medien«, in: Ders./Martin Stingelin (Hg.), Portable Media. Zur Genealogie des Schreibens, München 2010, S. 285-310. Wenzel, Horst: »Boten und Briefe. Zum Verhältnis körperlicher und nichtkörperlicher Nachrichtenträger«, in: Ders. (Hg.), Gespräche – Boten – Briefe: Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis, Berlin 1997, S. 86-105. Werber, Niels: Liebe als Roman. Zur Koevolution intimer und literarischer Kommunikation, München 2003.
Zeitungs-Journalisten und populäre Konzeptionen des Zeitungswesens. Die Zeitung im Film HANS J. WULFF
Das Genre der Zeitungs- oder Journalismusfilme zeichnet eine Geschichte der Öffentlichkeitsverständnisse des 20. Jahrhunderts – gleich in mehrfacher Hinsicht: x x x x
das Selbstverständnis von Journalisten ebenso betreffend wie die oft impliziten Vorstellungen über journalistische Ethik oder soziale Funktionen und politische Bindungen des Journalisten; im Hinblick auf die sich verändernde Landschaft der öffentlichen Medien und ihrer Organisationsformen; im Hinblick auf soziale und kulturelle Einflüsse, die Zeitungen und journalistische Arbeit im Allgemeinen haben; im Hinblick auf die Schichtungen von ›Macht‹ (als ökonomische oder politische Macht, als Meinungs- und Bedeutungsmacht usw.) und die Beziehungen, die Zeitungen zu diesen Sphären der Macht haben.
In allen diesen Hinsichten ist der Journalist der dramatische Fluchtpunkt. In seiner Figur müssen sich sowohl die politischen und ethischen Forderungen, denen das journalistische Handwerk unterliegt, als auch die Verlockungen und Verführungen der Macht, die der Zeitung und dem Journalisten qua Öffentlichkeitsfunktion gegeben ist, kristallisieren. Darum ist die Geschichte des Zeitungsfilms die Geschichte der Journalistenfigur. Besondere Aufmerksamkeit verdienen die Organisationsverhältnisse der Medienfirmen und -konzerne, die sich verändert haben. Am Anfang steht die einzelne Redaktion, der Verleger ist Besitzer der Zeitung, die Zeitung ist der Betrieb. Zeitungskonzerne, die unter Umständen in einzelnen Städten Monopolstatus anstreben, bilden eine erste Komplexitätsstufe. Das Anstreben politischen Einflusses oder gar politischer Herrschaft erweitert den Fokus noch einmal. In CITIZEN KANE (O. Welles, USA 1941) sind es die Zeitungs- und in ihren Anfängen die Radioindustrie, welche die ökonomische Basis des politischen Interesses bilden. Heute ist meist das Fernsehen das Medium, das nationalen oder sogar weltweiten Einfluss sichert. Der Medienkonzern Carver in dem James Bond-Film TOMORROW NEVER DIES (R. Spottiswoode, GB/USA 1997), der einen Krieg mit China anstoßen will, um die dortigen Machtverhältnisse zu ändern, so dass auch der riesige chinesische Markt von ihm be-
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herrscht werden kann, ist vollends unspezifisch geworden – das Fernsehen steht vollkommen gleichberechtigt neben Zeitungen und Computersoftware.
Stereotype einer Berufsrolle Kaum eine Berufsgruppe hat ein so stereotypes Erscheinungsbild im Hollywood-Film der 1930er und 1940er Jahre wie die Journalisten: den Hut in den Nacken geschoben, einen kalten Zigarettenstummel im Mundwinkel, den Telefonhörer am Ohr, die Whiskyflasche in der Nähe – dazu gehören aber auch der Notizblock und der Stift (hinter dem Ohr oder in der Jacke). Und dazu gehört das nervöse Notieren von diesem und jenem auf fliegenden Blättern oder – wenn Not am Mann ist – gar auf einer Serviette. Vor allem der Notizblock eint den Zeitungsmann mit manchen Polizisten und Detektiven – als Sammlung von Indizien, als Spur in die Wirklichkeit, als Material, aus dem die Geschichte, die Erklärung des Geschehens oder auch nur die Schlagzeile wird. Ähnlich wie die Klischees der Reporter sind auch die Bilder der Redaktion stereotype Re-Inszenierungen von Redaktionen, die oft auch in der Wirklichkeit so ausgesehen haben: das große Gemeinschaftsbüro, klingelnde Telefone, übervolle Spickwände und oft ganz unordentliche Schreibtische; dazu die Schreibmaschinen, über welche die Helden in entscheidenden Szenen gebeugt sind, die endlich formulierte Nachricht in die Tasten hauend. Das Handlungsschema ist bis heute kaum modifiziert: Etwas ist geschehen, das für Tageszeitungen von Interesse ist – ein Mord, ein spektakulärer Unglücksfall, eine sensationelle Erfindung. Von Beginn des Zeitungsfilms an gehören das Blitzen der Fotoapparate, das Gedrängel der Zeitungsreporter am Schauplatz, das Erhaschen flüchtiger Auskünfte von Polizisten, Ärzten oder Angehörigen zur ›Szene der sensationellen Information‹. Das Typenfeld des Journalisten ist breit und umfasst bis heute moderne Berufskrankheiten sowie Formen des Leidens am enormen Leistungsdruck – der Hektiker, der Magenkranke oder der Zyniker indizieren eine Berufswirklichkeit, die an die spätkapitalistischen Arbeitsformen der Jetztzeit erinnert. Der Reporter als Idealist und Wahrheitssuchender, der Reporter geworden ist aus einem zutiefst moralischen Anspruch – das ist sicherlich ein Kinomythos,1 der aber auch dort nur selten vorkommt. Bei seiner Arbeit verfügt der Journalist oft über die jeweils neuesten Technologien. Telefon und Schreibmaschine, Fernschreiber, Fotokamera und Videoaufzeichnung, Computer und Internet – die Ausrüstung des Reporters folgt den technischen Neuerungen der Zeit, die Kommunikations- und Aufzeichnungstechniken werden vom Reporter pünktlich benutzt. Erinnert sei an HIS GIRL FRIDAY (H. Hawks, USA 1940), in dem mittels eines Telefons eine versteckte Figur über den Stand der Geschichte unterrichtet wird; und erinnert sei an das Telefonat am Ende von FOREIGN CORRESPONDENT (A. Hitchcock, USA 1940), mittels dessen die Verschwörung an die Redaktion in New 1
Vgl. Brooks Robards: »Newshounds and Sob Sisters: The Journalist Goes to Hollywood«, in: Paul Loukides/Linda K. Fuller (Hg.), Beyond the Stars: Stock Characters in American Popular Film, Bowling Green/Ohio 1990, S. 131-145, hier S. 132.
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York weitergegeben werden kann. Verzichtet der Journalist auf neueste Technologien, ist auch dies signifikant – so wird die an die Person des Journalisten gebundene Aufgabe der Profession umso mehr herausgestellt. Eine Konjunktion zwischen filmischer Form und der Arbeit des Reporters verdient unbedingte Aufmerksamkeit – die ›Hollywood-Sequenz‹ ist oft visueller Höhepunkt und narrativer Wendepunkt zugleich. Eine Nachricht ist geboren, ein Skandal aufgedeckt worden und hier finden sich jene schnell geschnittenen Sequenzen, welche die Zeit raffen, der Herstellung der Zeitung folgend: die Schächte einer Linotype, die rutschenden Bleilettern, gesetzte Seiten, Druckmaschinen, verknotete Zeitungsstapel, rotierende Titelblätter, Schlagzeilen ausrufende Zeitungsjungen, der Schulterschuss auf eine lesende Person. Auch die Ikonographie der großen ›Hollywood-Sequenzen‹ greift auf die immer gleichen stereotypen Bilder zurück – Metonymien komplexer Prozesse der Produktherstellung. Zeitungsfilme sind urbane Filme. Sie gehören wie die Reporter zur Stadt, nicht zum Land, sie reflektieren industriegesellschaftliche Formen des Zusammenlebens.2 Sie charakterisieren zudem einen äußerst amerikanischen Typus.3 Darum sind es nun nicht mehr nur die politischen Funktionen der Presse, sondern auch ihre wirtschaftlichen und politischen Verstrickungen, die im Zeitungsfilm behandelt werden. Zwar ist der Reporter als Protagonist häufig noch gegen den Chefredakteur und den Besitzer der Zeitung gestellt – er wendet sich oft genug gegen seine Arbeitgeber, zumindest dann, wenn die Story besser ist, als jene es glauben. Doch es hat immer wieder Filme gegeben, die sich weniger für die journalistische Arbeit interessierten als vielmehr für die Machtpotentiale, die Konzerne haben, welche nicht nur Zeitungen oder Fernsehprogramme vertreiben, sondern eigentlich ›Öffentlichkeit‹ herstellen. Nur im Western finden sich vermehrt Beispiele für die Arbeit von Zeitungsmännern beim Aufbau zivilisatorischer Strukturen nach der Zeit der Landnahme. Das wohl berühmteste Exempel ist THE MAN WHO SHOT LIBERTY VALANCE (J. Ford, USA 1962), in dem nicht nur vom Kampf eines Zeitungsmachers im frühen Westen für Recht und Ordnung erzählt, sondern am Ende auch eine fatale und paradox wirkende Conclusio aus der Geschichte, die der Titelheld erzählte und in der er seinen eigenen Mythos zerstörte, gezogen wird: »If the legend becomes fact, print the legend«, resümiert der junge Journalist, bevor er seine Gesprächsaufzeichnungen vernichtet. Der Zeitungsfilm gehört zur breiten Gattung des exposure film: Der Berufsalltag mit seinen Problemen und Kuriositäten ist darin handlungstragend. Die Protagonisten sind Workaholics, ihre Wirklichkeit ist ganz durch den Beruf ausgefüllt. Vor allem Rechtsanwälte, Polizisten, Ärzte, Journalisten und andere urbane Berufe bestücken das exposure play, das insbesondere in den (Sub-)Genres der Screwball Comedy verbreitet wurde. Die Helden haben meist keine großen Ambitionen, Macht und Reichtum zu erlangen. Sie definieren sich über ihren Beruf und versuchen als kleine Rädchen einer großen Maschinerie das Bestmögliche für sich herauszuholen und dabei professionelle Arbeit abzuliefern. Die Beziehung zu den Kollegen ist durch Konkur-
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Vgl. B. Robards: Newshounds and Sob Sisters, S. 132. Vgl. Ed Sikov: Screwball: Hollywood’s Madcap Romantic Comedies, New York 1989, S. 156.
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renz geprägt, die Figuren sind aber durch Beruf und Stellung am Rande der bürgerlichen Gesellschaft zumeist doch solidarisch. Die Journalistenfigur ist von Beginn an durch mehrere Charakteristika ausgezeichnet, die sie von fast allen anderen Figuren abheben und die zumindest in Resten bis in die heutige Filmproduktion hinein erhalten geblieben sind: Journalisten sind meist pubertär in der Bereitschaft, sich von allen bürgerlichen Bindungen zu verabschieden. Auch die Unfähigkeit, dauerhafte Beziehungen einzugehen oder gar eine Familie zu gründen, deutet auf eine unterentwickelte soziale Reife hin.4 Allerdings sind die Figuren in ihrer sozialen Hilflosigkeit und Unschuld auch außerordentlich anziehend – man denke an das von Ruth Hussey und James Stewart gespielte Reporter-Paar in THE PHILADELPHIA STORY (G. Cukor, USA 1940). Sie sind voyeuristisch auf ihren Gegenstand ausgerichtet. Während der Recherche wird die Grenze zur Straftat gelegentlich überschritten. Viele Journalistenfiguren sind eigentlich autistisch orientiert, sich selbst verherrlichend, kein Maß kennend. Dabei entfalten sie aber auch ein subversives Potential, beziehen eine oft zynische Gegenstellung zu bürgerlichen Positionen, einen Ort außerhalb der Sicherheiten bürgerlichen Lebens, der mit der Einsamkeit einhergeht. Es mag sein, dass gerade die soziale Randposition der Journalisten die Möglichkeit eröffnet, die Redaktion als Experimentierfeld anzusehen, in dem die zunehmende Professionalisierung und Aufweichung der Geschlechterrollen miteinander in Konflikt gebracht werden können. Erstaunlich viele Journalistenfiguren der 1930er und 1940er Jahre sind weiblich, als sei der Journalismus ein Berufsfeld, in dem Männer und Frauen zu jener Zeit gleichberechtigt arbeiten könnten. Einige Geschichten gehören dem Remarriage-Zyklus an, einige behandeln eine professionelle Konkurrenz zwischen Mann und Frau. Schon WOMAN OF THE YEAR (G. Stevens, USA 1942) erzählt davon, dass die Frau eine Kolumne von ihrem Mann übernimmt, diese zu größtem Erfolg führt, zur Frau des Jahres gekürt wird und dann doch einsieht, dass beruflicher Erfolg und privates Glück nicht zusammengehen können – der Mann wird die Kolumne weiterführen. Die Mischung der sozialen Rollen und Beziehungen lässt sich besonders gut an den Veränderungen ablesen, die The Front Page durchgemacht hat. Der Stoff ist viermal verfilmt worden – 1931 als THE FRONT PAGE (L. Milestone, USA), 1940 als HIS GIRL FRIDAY, 1974 als THE FRONT PAGE (B. Wilder, USA) und 1988 als SWITCHING CHANNELS (T. Kotcheff, USA). Ausgangspunkt war ein erfolgreiches Broadwaystück von Ben Hecht und Charles MacArthur aus dem Jahre 1928 – beide waren Reporter. Signifikanterweise ist die männliche Doppelrolle aus dem Stück und der 1931er-Verfilmung schon in HIS GIRL FRIDAY durch eine männlich-weibliche Besetzung ersetzt worden. Aus der scharfen Opposition der beiden Männer wurde so eine ambivalente Spannung, in der sich Elemente der beruflichen Konkurrenz mit solchen der erotischen Anziehung mischten. In Billy Wilders 1974er-Verfilmung ist aus dem Mann-Frau-Gespann ein Mann-Mann-Doppel geworden, die homosexuellen Untertöne sind deutlich spürbar. Die Adaptation von Ted Kotcheff verlegt das Drama aus einer Zeitungs- in eine Fernsehredaktion; nun sind es Verhaltensdispositionen der neuen Medienleute, welche die Konflikte bestimmen. 4
Vgl. B. Robards: Newshounds and Sob Sisters, S. 134.
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Kleine Filmgeschichte des Journalisten Im Verlauf des 20. Jahrhunderts gibt es drei große Wellen von Zeitungs- und Medienfilmen: 1) In den 1930er Jahren formiert sich der Zeitungsfilm, dessen Produktion zu Beginn der 1940er Jahre zurückgeht. In seinem Zentrum steht der Zeitungsmann – die Filme behandeln einen Akteurstypus in seinen diversen sozialen und professionellen Verflechtungen. Nach dieser Welle treten der Handlungsort ›Zeitungsredaktion‹ und der Filmberuf ›Journalist‹ zunächst zurück. In den 1950er und 1960er Jahren findet sich zwar eine ganze Reihe von Journalismus-Filmen, doch gewinnt der Motivkreis erst mit Filmen wie ALL THE PRESIDENT’S MEN (A. J. Pakula, USA 1976), NETWORK (S. Lumet, USA 1976) oder NEWSFRONT (P. Noyce, AUS 1978) in den 1970ern neue Aktualität. 2) Der Journalist wird nun zum Gegenpol der Mächtigen, die journalistischen Medien zu einem Korrektiv des politischen Systems – man denke an ALL THE PRESIDENT’S MEN, aber auch an Rollen, wie sie THE PARALLAX VIEW (A. J. Pakula, USA 1974) populär machte. Das Spektrum der Medien, für welche die Figuren arbeiten, verbreitert sich. Neben die Zeitung tritt das Fernsehen als neues Leitmedium. Die wirklichkeitsbildende Fähigkeit von Medien gerät nun ganz neu in das Interesse der Dramaturgie. Der Reporter übernimmt meist investigative Aufgaben; diese Filme knüpfen an die Ära des Zeitungsfilms an, bestimmen aber die Rolle des Journalisten neu – er ist gezwungen, sich parteilich zu verhalten, weil er dem sozialen und politischen System nicht mehr nur entgegengestellt ist, sondern sich als handelnder Teil desselben entpuppt. 3) Seit den frühen 1990er Jahren bildet sich die Gattung des journalistischen Medienfilms heraus, in der das ursprüngliche Interesse am Journalisten zurückgeht und die Medienfigur als ganz neuer, dem Journalistischen nur noch marginal verbundener Akteur auftritt. Dieser wird zu einer ShowFigur, Nachrichten mutieren zu einem manchmal rabiat wirklichkeitsabgekehrten politainment, Wirklichkeiten werden unter Umständen erfunden, wenn dies hilft, die Umsätze der Medien zu erhöhen – in WAG THE DOG (B. Levinson, USA 1997) etwa wird ein ganzer Krieg für die Mediendarstellung konzipiert und inszeniert. In den frühen 1930ern orientierte sich die Darstellung des Journalismus zunächst zwischen seriösem politischem Kommentar und Sensationsjournalismus5 und war deutlich an Letzterem interessiert. Der Journalist hat am laufenden Geschehen teil, deckt auf, sucht nach Verborgenem und Verheimlichtem – und darin ähnelt er bis heute dem Polizisten und dem Detektiv.6 Aber er ist von diesen wiederum abgesetzt, weil er der Zeitung oder der Öffentlichkeit als einer eigenen Kraft verbunden und verpflichtet bleibt. Er ist Teil
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Vgl. Peter Roffman/Jim Purdy: The Hollywood Social Problem Film. Madness, Despair, and Politics from the Depression to the Fifties, Bloomington 1981, S. 40. Vgl. B. Robards: Newshounds and Sob Sisters, S. 132.
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der vierten Gewalt und darum anders legitimiert als der Polizist oder Detektiv,7 in dieser Hinsicht eher dem Arzt oder dem Rechtsanwalt zugesellt. Seit dem riesigen Erfolg von IT HAPPENED ONE NIGHT (F. Capra, USA 1934) ist das dominierende Schema in immer neuen Variationen abgearbeitet worden. Boy looking for scandal meets girl on the run – dies ist das Grundmotiv, alle anderen gruppieren sich darum herum. Wenige, vielfach variierte Geschichten lassen sich isolieren: 1) Viele der Geschichten, die sich im Korpus finden lassen, sind eigentlich Beziehungsgeschichten zwischen Reporter und Reporterin, womit ein Rahmen gegeben ist, der nicht nur eine Liebesgeschichte, sondern auch allgemeinere berufsethische Konflikte (wie die Konkurrenz der Kollegen, das Blockieren und Monopolisieren von Zeugen, das Erschleichen von Exklusivaussagen etc.) zu Mitteln und Gegenständen der Kommunikation des Liebespaares bestimmt. Die Differenz zwischen erotischer und professioneller Obsession wird bis zur Konkurrenz zwischen der eigenen Heirat und einem eiligen Interviewtermin (HIS GIRL FRIDAY) gesteigert und überzeichnet. 2) Ein zweiter Typus von Geschichten erzählt von den Verstrickungen, in die vor allem Reporterinnen mit Männern, über die sie berichten, hineingeraten; dies ist zum einen eine fast mythosartige Ausgangskonstellation für eine Beziehung, zum anderen ein narrativer Vorwurf, der sich durch alle ›Helfer-Genres‹ (Polizisten und Detektive, Psychiater und Sozialarbeiter und eben auch Reporter) zieht. Das Muster findet sich noch in THE ELECTRIC HORSEMAN (S. Pollack, USA 1979) wieder. 3) Oft geschieht es, dass Reporter sich in die Ermittlungen der Polizei einmischen, eigene Recherchen durchführen und eigene Zeugen auftreiben. Dann kommt ein Konkurrenzverhältnis zwischen Polizisten und Reportern auf, in dem sich der Reporter oft als eigennützig erweist, an der Schlagzeile, nicht an der Aufklärung einer Straftat interessiert. Im Kino der 1970er Jahre bildet sich ein neuer dominierender GeschichtenTypus heraus, hier nimmt nun die Gestalt des Aufklärer-Reporters eine zentrale Bedeutung ein. Dieser deckt im Verlauf der Ermittlungen Polit-Verschwörungen nationalen Ausmaßes auf. In THE PARALLAX VIEW stößt der Journalist auf eine politisch-terroristische Organisation, in ALL THE PRESIDENT’S MEN entdecken Journalisten von der Washington Post, dass der Präsident selbst (Richard Nixon) das Abhören seines Wahlkonkurrenten veranlasste. In den 1980er Jahren kommt ein weiteres Erzählmuster hinzu: Ein Journalist aus einem westlichen Land wird als Auslandskorrespondent – oft als Kriegsberichterstatter – in ein Krisengebiet der Dritten Welt geschickt. Markus Vorauer gibt eine recht präzise Beschreibung des stereotypen Verlaufs: »Diese Helden sind anfangs, was die Situation des fremden Landes betrifft, politisch eher desinteressiert, sie sind nur auf den großen scoop aus, um berühmt zu werden. Mit der Zeit entwickeln diese Figuren, angesichts des Chaos, doch ein Krisenbewußtsein, was ihre alten Werte betrifft, und sie ergreifen Partei
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Vgl. B. Robards: Newshounds and Sob Sisters, S. 132.
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(meist für das unterdrückte Volk und gegen die Interessen der Nation, in deren Dienst sie stehen). Die Filme enden durchwegs mit dem Scheitern der Journalisten, die zwar ihr Leben retten können, deren Berufsethos aber schwer gelitten 8 hat – mehr noch, der Beruf selbst wird in Frage gestellt.«
DIE FÄLSCHUNG (V. Schlöndorff, D/F 1981), THE YEAR OF LIVING DANGEROUSLY (P. Weir, AUS 1982), UNDER FIRE (R. Spottiswoode, USA 1983), THE KILLING FIELDS (R. Joffé, GB 1984), SALVADOR (O. Stone, GB/USA 1986), CRY FREEDOM (R. Attenborough, GB 1987), FULL METAL JACKET (S. Kubrick, GB/USA 1987), A WORLD APART (C. Menges, GB/ZW 1988) und PROFESSIONE: REPORTER (M. Antonioni, I/F/E 1975) als Vorläufer: Es ist eine ansehnliche Reihe von Filmen, welche die Unsicherheit von Journalisten angesichts einer sich neu ordnenden postkolonialistischen Welt, deren Kriege Interessenkonflikten folgen, die oft nur noch schwer verstehbar sind, durchgespielt haben. Die meisten dieser Filme spielen in Lateinamerika, greifen aktuelle politische Konflikte, Militärputsche und Befreiungskriege auf: ein Genre, das nahe am Zeitgeschehen agiert und politische Konflikte narrativisiert, in Spannung und Action umsetzt und auf diese Weise in fiktive Kinowirklichkeit transformiert. Gleichwohl verlängert die in den 1970ern dominant werdende Figur des Aufklärer-Reporters nicht einfach, was bis dahin im Zeitungsfilm entwickelt wurde, so einschichtig und eindeutig-aufrecht die Heldenfiguren der meisten Filme auch zu sein scheinen. Die Bezüge haben sich geändert, die Berufsfiguren wurden neu kontextualisiert. Neben den Zeitungsmann tritt nun der Reporter. Er bildete sich als Typenvorstellung schon in den Filmen der 1960er Jahre heraus. Nun war es nicht mehr nur Aufgabe des Journalisten, eine Geschichte zu recherchieren und an die Öffentlichkeit zu bringen, sondern sich vielmehr als Teil eines Mediensystems zu begreifen, das in der Wirklichkeit selbst Wirkungen herstellt, indem es die Informationsflüsse beeinflusst. War der Zeitungsmann noch unabhängig und frei, sind die Reporter gebunden. Sie müssen das eigene Verhalten in einem anderen Feld von Bindungen orientieren als es noch die Zeitungsfiguren der 1930er Jahre mussten. MEDIUM COOL (USA 1969) ist eine halb-dokumentarische Arbeit des Hollywood-Kameramanns Haskell Wexler, in der dokumentarisches Material über die Unruhen während der demokratischen Wahlen in Chicago 1968 mit fiktionalen Teilen über einen TV-Kameramann vermischt ist, der im Verlauf der Geschehnisse seinen Zynismus aufgibt und zu einem leidenschaftlichen Anwalt der Interessen der Jugend wird. Indem er journalistisch arbeitet, greift er in die Auseinandersetzungen ein, gibt ihnen ein neues Gesicht und vielleicht auch einen veränderten Verlauf – einen solchen Zusammenhang hatte es in dieser Klarheit im Kino der 1930er und 1940er Jahre nicht gegeben. Der Journalist, der selbst das Unglück erzeugt, von dem er berichtet, steht in der Filmgeschichte dem Aufklärer-Journalisten aber schon viel früher gegenüber. Ein Film wie ACE IN THE HOLE (B. Wilder, USA 1951) zeichnet genau das Gegenbild jener kämpferischen und aufklärerischen Berufsrolle, wie sie später dann zum Beispiel in dem Watergate-Film ALL THE PRESI8
Markus Vorauer: »Das Fremde bleibt fremd: Journalismus im Film. Versuch einer Darstellung anhand ausgewählter Filmbeispiele der 80er und 90er Jahre«, in: Kinoschriften 4 (1996), S. 73-86, hier S. 75.
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verfolgt wird. Hier scheint das Bild einer Presse auf, die Öffentlichkeit wie einen Zirkus konstituiert und bedient und sich der politischen und pädagogischen Verantwortung entledigt hat. Ziele werden durch Auflagenzahlen vorgegeben, nicht durch ein moralisches Selbstverständnis. Die Filme thematisieren diese Spannung durchaus: Da steht dem skrupellosen Berichterstatter immer wieder die Idealfigur des Reporters entgegen; da wird in A FACE IN THE CROWD (E. Kazan, USA 1957) der Reporter Lonesome Rhodes mit seinen populären Statements zum Moderator-Star einer Fernsehsendung – und wird schließlich durch eine Rundfunkredakteurin und einen eigentlich resignierten Fernsehmann gestürzt. Das Verhältnis des Reporters zum Publikum ist zynisch. »Dieses Volk ist eine einzige Hammelherde. Weil sie noch dümmer sind als ich, muss ich ihnen das Denken abnehmen«, heißt es einmal im Film. Neben den ambivalenten Figuren der meisten Reporterfilme und den aufrechten und manchmal selbstlosen Helden der Filme von Frank Capra tritt schon in der Anfangszeit des Zeitungsfilms auch die Figur des skrupellosen Karrieristen auf. Sie hat dabei durchaus vielgestaltige Züge. SCANDAL SHEET (J. Cromwell, USA 1931) führt einen Provinzreporter vor, der alles tut, um die Auflage zu steigern. Er schreibt Skandalartikel über das Leben seiner prominenten Frau, er vermarktet ihre Ermordung und er endet als Herausgeber der Gefängniszeitung. NOTHING SACRED (W. A. Wellman, USA 1937) erzählt von einem Reporter, der eine junge Frau aus der Provinz als Sterbenskranke nach New York holt, sie zu einem sentimentalischen Idol der New Yorker aufbaut – und dabei weiß, dass sie kerngesund ist. Das verantwortungslose Treiben der Zeitungsleute wird nur implizit kritisiert, der Modus der turbulenten Komödie bleibt dominant. Gelegentlich steht dem Reporter schon im Kino der 1930er Jahre ein sensationshungriges Publikum gegenüber. In FURY (F. Lang, USA 1936) bedient die Presse die Bedürfnisse eines Publikums, das einen Verdächtigen lynchen möchte. Ähnlich wird in THEY WON’T FORGET (M. LeRoy, USA 1937) ein Nordstaatenlehrer des Mordes verdächtigt und einer terrorartigen Verfolgung durch die Lynchjustiz ausgesetzt. Trotz der Proteste der Nordstaatenpresse fährt die Südstaatenpresse fort, Anschuldigungen zu erheben – der Lehrer wird schließlich verurteilt und auf der Fahrt ins Gefängnis vom Lynchmob erhängt. Manchmal werden seriöse Zeitungen in Skandalblätter umgebaut. In FIVE STAR FINAL (M. LeRoy, USA 1931) etwa wird ein alter Skandal aufgewärmt und stürzt die Beteiligten ins Unglück – unter Steigerung der Auflagenzahlen. Öffentlichkeit mutiert so zu einem Unterhaltungszirkus, die Presse bedient und verstärkt Ressentiments, statt ihnen entgegenzuwirken. Es geht nicht um Wahrheit, sondern um Neugierde am Skandal. »Nachschießen, Mädchen, nachschießen! Immer nachschießen!« ist darum auch die Devise, die der Reporter in DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM (V. Schlöndorff, D 1975) am Ende aus dem Gesetz von Angebot und Nachfrage ableitet.
Antihelden und Opfer Immer wieder steht das Opfer der Pressekampagne im Zentrum der Filmgeschichten. I WANT TO LIVE (R. Wise, USA 1958) erzählt die Geschichte einer Kleinkriminellen, die aufgrund von Indizienbeweisen und unter enormem
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Druck der Presse eines Mordes für schuldig befunden wird, den sie nicht begangen hat. DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM erzählt vordergründig von einem Sensationsreporter, der so satanisch und unglaubwürdig ist wie eine Figur aus einem Comic Strip.9 Eigentlich handelt der Film aber von der Titelfigur, die in die Mühle von Terroristenhatz und Verdächtigungen gerät, um darin umso mehr als moralische Heldin zu erstrahlen. Ebenso stellt sich die Frage, ob der Journalist durch die Masse, seinen Arbeitgeber, die Auflagen/Verkaufszahlen/Einschaltquoten oder durch die Wahrheit mandatiert ist. Beides ist im Film immer wieder explizit auch schon vor den Reporterfilmen der 1970er Jahre behandelt worden. In CALL NORTHSIDE 777 (H. Hathaway, USA 1948) nimmt sich ein Reporter eines angeblichen Polizistenmörders an, der vor Jahren verurteilt wurde und den er am Ende rehabilitieren kann. Der Reporter, der sich gegen Justiz und öffentliche Meinung stellt und zum Mandanten des Einzelnen wird – auch dies ist eine Facette im Ensemble der Bilder des Journalisten. Die Frage nach der sozialen Verantwortung des Zeitungsmannes wird seit den späten 1940ern immer wieder gestellt. THE LAWLESS (J. Losey, USA 1950) erzählt die Geschichte eines New Yorker Reporters, der in einem Provinzstädtchen eine Zeitung gegründet hat, um der Unruhe des Hauptstadtlebens zu entgehen. Als ein Chicano mehrerer Straftaten verdächtigt und vom Mob gejagt wird, gibt er aber seine Neutralität auf und organisiert mit Unterstützung seiner publizistischen Mittel einen Unterstützungsfonds für den Verfolgten.10 Die Antihelden-Filme der 1970er Jahre wenden sich vehement gegen das Sensationsbedürfnis der Presse. In DOG DAY AFTERNOON (S. Lumet, USA 1975) tritt der Geiselnehmer vor die Bank, die er überfallen hat, und erzählt der Presse von seinem verpfuschten Leben. Erst dadurch weitet sich der Konflikt aus, wird zu einer öffentlichen Tatsache. An der Biographie des Geiselnehmers scheiden sich die Geister, entzünden sich Phantasien – und er wird am Ende vor laufenden Kameras von der Polizei erschossen. Noch komplizierter ist VANISHING POINT (R. C. Sarafian, USA/GB 1971). Hier wird ein Kurier namens Kowalski nicht nur von der Polizei gejagt, sondern durch einen blinden schwarzen Radio-Discjockey, der die Jagd auf den Verkehrsrowdy am Polizeifunk mitgehört hat, zu einer symbolischen Figur des Widerstandes aufgebaut. Der Held kann sich dagegen kaum wehren – und er fährt am Ende, den sicheren Tod suchend, in eine Falle hinein, um die herum sich die Fernsehkameras aufgebaut haben und Zaungäste auf ihren Decken den Showdown erwarten. Antihelden dienen nicht so sehr dazu, Sympathien auf sich zu ziehen, sondern vielmehr dazu, den Zorn des Zuschauers zu erregen. Antihelden sind moralische Figuren, die das Gerechtigkeitsempfinden des Zuschauers aktivieren. Sie agieren in einer Welt von Werten und Bedeutungen, die durch die Attribute, welche die Medien den Figuren zuschreiben, erst hervorgebracht wird. Die Figuren werden damit aufgeladen, wenn sie erst das Interesse der Medien gefunden haben, und sie werden zu Gegenständen des öffentlichen Interesses – damit aber auch zu Gegenständen des öffentlich ausgetragenen Konflikts um Macht, um Meinung, um Gerechtigkeit. An diesem Punkt setzt eine Reflexion ein, welche die Rolle der Presse in kapitalisti9
Vgl. Gabriele Jelle Behnert: Anatomie eines Genres. Das Bild des Journalisten im Spielfilm, Hildesheim u.a. 1992, S. 57. 10 Vgl. P. Roffman/J. Purdy: The Hollywood Social Problem Film, S. 174f.
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schen Gesellschaften neu auslotet. Eine Medienpraxis, die Menschen zu Trägern von Werten macht, zu Repräsentanten von Interessensgruppen oder von Lebensstilen, instrumentalisiert diejenigen, über die sie berichtet, macht sie zu Objekten und letztlich zu Waren. Diesem Prozess, dem auch eine libertäre oder linke Medienpraxis unterworfen ist, lässt sich nicht entkommen. Die Parteilichkeit des Journalisten ist vor allem in den Politfilmen der 1980er Jahre wieder neu gefragt. Und hier stellt sich jener häufig gegen die herrschenden Interessen, wird zur exemplarischen Figur, die in die Gerechtigkeit der Sache der Aufständischen auch dann einführt, wenn diese Einsicht gegen die herrschenden Interessen der Ersten Welt zustande kommt. In UNDER FIRE solidarisiert sich ein Journalist mit den aufständischen Sandinistas und stellt seine publizistische Verbindung in den Dienst des Untergrundes: Er fälscht Bilder eines toten Führers der Sandinistas. Der Journalist wird so zu einer neuen Heldenfigur, Elemente einer journalistischen Ethik radikal gegen eine unmittelbare Involviertheit in den Freiheitskampf der Völker tauschend.11 Nach eigenem Bekunden ist er am Ende verliebt in die Revolution, »weil ihre Sache nach meinem Herzen ist«.12 So wird das politische Geschehen zugleich privatisiert und romantisiert. Auch in SALVADOR und in CRY FREEDOM findet der Journalist eine neue Identität, weil er sich in den Dienst der Sache der Freiheit stellt. Gerade CRY FREEDOM ist in dieser Hinsicht interessant, weil der Film nur vorgeblich von dem südafrikanischen Politiker Steve Biko erzählt – tatsächlich handelt er von einem weißen südafrikanischen Reporter, der sich mit Biko anfreundet und sein Leben in den Dienst des Kampfes gegen die Apartheid stellt. Noch im Politfilm der 1970er Jahre stehen die Auslandskorrespondenten kommentierend, häufig ironisch neben den politischen Prozessen in den Ländern, in denen sie arbeiten. In ÉTAT DE SIÈGE (Costa-Gavras, F/I/D 1972) etwa wird immer wieder auf Journalisten-Figuren zurückgegriffen, die gegen die Entführung eines amerikanischen Polizeiberaters und das Ultimatum der Stadtguerilleros Phantasien über politische Veränderungen in dem ungenannten südamerikanischen Land diskutieren, in dem die Geschichte spielt. Und vielleicht werden sie konvertieren, die eigene Arbeit in den Dienst einer anderen Sache stellen (wie in UNDER FIRE). Oder sie werden darauf verzichten, eine Nachricht tatsächlich auszuwerten – am Ende von THE ELECTRIC HORSEMAN wird die Reporterin nicht verraten, wohin der Held das Pferd gebracht hat, das er aus dem Zirkus entführt hatte. Scheinen diese Figuren zu Einsicht und einer gewissen Form von Weisheit gelangt zu sein, bilden sie Anlass für eine sentimentalische Hinwendung des Zuschauers zu dem, was die Figuren durchgemacht haben; hingegen sind gerade die uneinsichtigen Sensationsreporter, die ohne Achtung vor denen, über die sie berichten, oft größeren psychischen und sozialen Schaden anrichten, Anlass für moralische Empörung. Gerade dann lassen sich solche Figuren funktionalisieren. Der Reporter Tötges in DIE VERLORENE EHRE DER KATHARINA BLUM dient nicht nur dazu, die publizistischen Strategien der Boulevardpresse anzuprangern, sondern auch dazu, die Allianz von Presse und Polizei anzugreifen – vermittelt durch den Zuschauer, der das verwerfliche Verhalten der Figur moralisch 11 Vgl. B. Robards: Newshounds and Sob Sisters, S. 140f. 12 Günter Giesenfeld: »Under Fire«, in: Thomas Koebner (Hg.), Filmklassiker 4. 2. Aufl., Stuttgart 1998, S. 108-111, hier S. 110.
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auswertet, zur eigenen Haltung umformt. Der Sensationsreporter ist eine propagandistische Figur, die das eigene Gegenbild im Zuschauer hervorlocken soll. Sind die resignierenden Reporterfiguren auf gewisse Art pathetisch, ist der skrupellose Reporter eine ebenso polemische wie didaktische Figur. Auch an ihm werden aber die Werte und Tugenden greifbar, für welche die Zeitungen und Reporter einmal idealerweise einstanden.
Literatur Behnert, Gabriele Jelle: Anatomie eines Genres. Das Bild des Journalisten im Spielfilm, Hildesheim u.a. 1992. Giesenfeld, Günter: »Under Fire«, in: Thomas Koebner (Hg.), Filmklassiker 4. 2. Aufl., Stuttgart 1998, S. 108-111. Robards, Brooks: »Newshounds and Sob Sisters: The Journalist Goes to Hollywood«, in: Paul Loukides/Linda K. Fuller (Hg.), Beyond the Stars: Stock Characters in American Popular Film, Bowling Green/Ohio 1990, S. 131-145. Roffman, Peter/Purdy, Jim: The Hollywood Social Problem Film. Madness, Despair, and Politics from the Depression to the Fifties, Bloomington 1981. Sikov, Ed: Screwball: Hollywood’s Madcap Romantic Comedies, New York 1989. Vorauer, Markus: »Das Fremde bleibt fremd: Journalismus im Film. Versuch einer Darstellung anhand ausgewählter Filmbeispiele der 80er und 90er Jahre«, in: Kinoschriften 4 (1996), S. 73-86.
Die Wahrhaftigkeit einer Illusion. Film und Tätowierung ANDRÉ GRZESZYK
Die schöne, rätselhafte Frau erwartet ihn draußen an der Tür. Der Cop hört sie in seinem Rücken, dreht sich mit gezogener Waffe um. Wie ein Gespenst taucht sie aus dem Schwarz der Nacht auf, mit rot geschminkten Lippen und erhobenen Händen. Die Pistole sinkt nach unten, ihr Mund schmollt verwegen. »Sie haben mich belogen«, sagt sie. Er antwortet: »Und Sie? Haben Sie mir die Wahrheit gesagt?« Mit langsamen Schritten geht sie zurück, zurück in den Regen, die Kamera folgt ihr in einer Fahrt. Sie bleibt stehen, öffnet ihren schwarzen Mantel, streift ihn ab. Ein weißes Kleid kommt zum Vorschein. Es folgt eine Halbtotale, die seinen Point of View aufnimmt, kunstbildnerisch im Goldenen Schnitt kadriert. Wäre da nicht der endlos prasselnde und fallende Regen, das Bild würde wie ein Gemälde wirken, so sehr ist dieser Moment ein durch und durch ästhetisierter. Die Einstellungen wechseln sich nun rhythmisch variierend ab, sein ungläubiger Blick und ihre Gestalt im Vorhang des Regens, der das weiße Kleid mehr und mehr durchweicht, den Blick freigibt auf den nackten Körper unter dem Stoff. Ihre Haut kommt zum Vorschein, Tropfen für Tropfen wird die Oberfläche ihres Körpers und damit die feingestochene Tätowierung sichtbar. Ein anderer Schauplatz. In einem russischen Restaurant sitzt ein Mann in Unterhose vor einem Gremium aus alten Männern, die über sein Schicksal in der Woris Akonje, der russischen Mafia, entscheiden sollen. Geprüft werden seine Glaubwürdigkeit, seine Herkunft, seine Integrität, seine Hingabe an die gemeinsame Sache. Es wird geurteilt, ob der Anwärter in den inneren Kreis aufgenommen wird, einer der Ihren werden kann. Ein Kreuzverhör ohne Fragen, die gestrengen Blicke der Oberen – unterfüttert mit sakraler Musik – reichen aus. Die Alten betrachten die Tattoos auf dem Körper des nackten Mannes. In den Illustrationen seiner Haut finden sie sein Leben geschrieben, Geschichten von seiner Familie und seiner Zeit in einem sibirischen Gefängnis, Hieroglyphen aus Tinte und Haut, zugänglich nur jenen, die sie zu deuten wissen.
Die Attraktionen lesen Zwei Szenen aus zwei verschiedenen Filmen. Die geheimnisvolle Frau spielt eine zentrale Rolle in TATTOO (R. Schwentke, D 2002). Der Mann, dessen Tätowierungen seine Lebensgeschichte erzählen, ist die Hauptfigur Nikolai Luzhin in EASTERN PROMISES (D. Cronenberg, GB/CDN/USA 2007). Zwei
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Szenen und zwei Modelle des Verstehens, die für den Film und die theoretische Reflexion seiner Geschichte eine zentrale Rolle spielen. Gemeint ist die von Tom Gunning vorgeschlagene Differenz zwischen einem Kino der Attraktionen und einem narrativen Kino, wobei das eine beständig in das andere übergeht.1 So lassen sich in einem ersten Schritt zwei grundsätzlich verschiedene Verwendungen von Tätowierungen im Film erkennen, mit denen das audiovisuelle Medium seine eigenen Bedingungen und diskursiven Praktiken im stummen Spiegel eines fremden Mediums betrachtet: die Tätowierung als reines, ästhetisiertes Schauobjekt zum einen oder als Spur einer Geschichte zum anderen. Diese Unterscheidung ist im Hinblick auf die Differenz zwischen Film und Tätowierung insofern von paradigmatischer Bedeutung, als das Medium Film anhand der Hautillustrationen noch einmal verschiedene Varianten einer Sicht- bzw. Lesbarkeit des Bildes in allen Abstufungen entfaltet. Denn Tätowierungen können sowohl gesehen als auch gelesen werden, gerade weil ihre Bandbreite von einfachen, tendenziell reinen Schriftzügen über ornamentale Verzierungen und Piktogramme bis hin zu in allen Details ausgearbeiteten figuralen Bildern reicht. Tattoos verweisen so auf eine Lesbarkeit der Oberfläche, in individuell-existentieller wie in sozial-gesellschaftlicher Dimension. Damit stehen sie auch für einen bestimmten theoretischen Entwurf des Kinos ein, der sich zu Beginn der Filmgeschichte etwa mit dem Namen Béla Balázs’ verband und heute eine ganz zentrale Position in den Schriften Jacques Rancières zum Kino innehat.2 Je nach narrativer Notwendigkeit und inszenatorischer Praxis wird von Film zu Film die eine oder die andere Seite des potentiellen Bedeutungsspektrums der Tätowierung herausgehoben – und damit auf einer selbstreflexiven Ebene das Potential des Kinobildes an sich artikuliert.
Mannigfaltigkeiten Doch dies ist nur ein Aspekt der filmischen Reflexion auf das Medium der Tätowierung. Die Arten und Weisen, wie der Film anhand der Hautillustrationen über sich selbst nachdenkt – Bedeutungen evoziert und verwirft, wieder aufnimmt und variiert – sind mannigfaltig. Und zu jeder Sinndimension gibt es ein Gegenbeispiel, der diachrone Entwurf des Verhältnisses kann allein in 1
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Vgl. Tom Gunning: »The Cinema of Attractions – Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London 1994, S. 57-62. Eine adäquate Entfaltung der Medien Film und Tätowierung in ihrer je spezifischen Eigenheit würde den Rahmen dieses Textes sprengen, deshalb werde ich mich im Folgenden auf die Berührungspunkte von Film, Theorie und der entsprechenden diskursiven Zurichtung der Tätowierung beschränken. Vgl. Heide Schlüpmann: »Filmsprache als Körpersprache: Zu Béla Balázs’ Ästhetik des Kinos von 1925«, in: Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Mimesis, Bild und Schrift – Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln 1996, S. 83-97; Jacques Rancière: »Die Geschichtlichkeit des Films«, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit: Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 230-246.
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Ungleichzeitigkeiten geschrieben werden. Deshalb kann an dieser Stelle nur angerissen werden, inwieweit das Kino im Hinblick auf die Tätowierung Analogien oder Unterschiede herstellt. Allein die Sicht- bzw. Lesbarkeit bildet unendliche Versionen aus, betont kulturelle Differenzen, wenn Tattoos als Geheimsprache fungieren, die nur dem Wissenden zugänglich ist, wie es in EASTERN PROMISES der Fall ist. Oder der ornamental verzierte Körper stellt die Figur des Anderen einzig über den Schauwert her, wie es etwa in der Figur Nero in STAR TREK (J. J. Abrams, USA/D 2009) manifest wird. Es ist der alte Konflikt zwischen Narrativisierung/Sinn und perzeptiver Sensation, in dem Tätowierungen angesiedelt sind. Als solche bilden sie auch einen Ausweg aus ebendieser Sackgasse, indem sie – mit unterschiedlicher Gewichtung – das eine mit dem anderen zu verbinden suchen. Situiert an der Grenze zwischen Körper und Bild, besetzen sie eine Doppelfunktion in jenem Verhältnis, das nach dem Ende des semiotischen Paradigmas eine der zentralen Rollen innerhalb der theoretischen Perspektivierung des Films spielte.3 Deshalb mag es verwunderlich erscheinen, dass die diesbezügliche filmwissenschaftliche Literaturlage sehr begrenzt ist. Vielleicht ist dies auf die eher seltene direkte Adressierung der Tätowierung im Film zurückzuführen.
Folgen Sie dem weißen Kaninchen Verloren in einer digitalen Welt findet sich der Held Neo zu Beginn des ersten Teils der MATRIX-Trilogie (L. Wachowski/A. Wachowski, USA/AUS 1999-2003). Die Buchstaben auf dem Bildschirm seines Computers sind unendlich variierbar, eine liquide Morphologie, deren Gestalt immerwährend in einem Werden begriffen ist. Morpheus, der dem zweifelnden Neo die wirklich wahre Welt zeigen wird, meldet sich aus dem Cyberspace mit den Worten »Follow the white rabbit«, und es ist kein Zufall, dass jener Hinweis, der – so ganz anders als in Carrolls Prätext – in eine Welt jenseits aller digitalen Illusionen und Verstellungen führt, als Tätowierung auf der Schulter einer Frau erscheint, implizieren Tattoos doch einen tieferen Wahrheitsgehalt. Konnotationen von Dauer und Unauslöschlichkeit schwingen bisweilen mit, wenn der Film Illustrationen der Haut als narrativ-inszenatorisches Mittel einsetzt und eine Welt noch vor der Willkürlichkeit und Beliebigkeit des digitalen Zeichens evozieren will. Damit manifestiert sich in der Tätowierung ein Wahrheitswert, der seinen Ursprung – Rancière folgend – in der romantischen Poetologie findet: »Es ist die Fähigkeit, geschriebene Zeichen auf einem Körper aufzuzeigen, jene Spuren, die von ihrer eigenen Geschichte eingeschrieben werden und somit wahrheitsgetreuer als jeder gesprochene Diskurs sind.«4 Wahrheit ist die Wahrheit eines durchnässten Kleides, jenseits aller Manipulationen und Intrigen. Tätowierungen können so innerhalb eines ästhetischen Regimes der Künste verortet werden, das die Wahrheit in der Erscheinung der historisch-sozialen Oberflächen verortet, sei es die Fassade
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Vgl. Steven Shaviro: The Cinematic Body – Theory Out of Bounds (Volume 2), Minneapolis 1994. Jacques Rancière: Politik der Bilder, Berlin 2005, S. 21.
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eines Hauses oder die Epidermis eines menschlichen Körpers.5 Und natürlich ist auch diese Perspektive auf die Tätowierung nur bedingt richtig, verliert sie doch ihren Anspruch als buchstäblich tiefere Wahrheit sofort wieder in den Krisen des Erzählens, wie sie etwa unter dem Schlagwort des ›unzuverlässigen Erzählens‹ subsummiert werden.6 Paradigmatischer filmischer Ausdruck jener Verunsicherung ist die Hauptfigur Leonard in MEMENTO (C. Nolan, USA 2000), deren Tätowierungen sich mit der vermuteten Stimmigkeit der fragilen Erinnerungen immer wieder aufs Neue transformieren.
Grenzgänger Spätestens mit dem Siegeszug des narrativen Films wurde ein Problem innerhalb der inszenatorischen Praxis des Films prekär: die Grenze zwischen Innen und Außen. Im Kontext einer Reflexion über die Tätowierung im Film meint dies die Grenzen zwischen Figur und Milieu, zwischen der Innerlichkeit der Charaktere und ihrem je spezifischen Ausdruck. Gemeint ist das Formenregister an Gesten, Bewegungen und dem Minenspiel der Schauspieler, die den Blick auf eine Figur in das Erleben und Miterleben affektiver, dispositionell-charakterlicher Zustände transformieren. Tätowierungen sind in dieser Perspektive als Teile einer Schauspielkunst des Empfindsamen zu lesen, welche die Möglichkeiten des audiovisuellen Bildes, die Innerlichkeit der Protagonisten, ihre Ziele, Wünsche und Ängste als verstehbare Zeichen und Bilder an die Oberfläche zu bringen, erweitern.7 Tätowierungen rücken die Grenze zwischen Innen und Außen per se ins Bewusstsein, denn sie sind auf der Haut zu sehen, aber in die Haut gestochen und thematisieren damit eine Körpergrenze, die »eben nicht nur eine tatsächliche, sondern auch eine sym-
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Zum Begriff des ästhetischen Regimes der Künste vgl. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. Vgl. Bernd Kiefer: »Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen – Überlegungen zur Unreliable Narration in Literatur und Film«, in: Fabienne Liptay (Hg.), Was stimmt denn jetzt? – Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 72-87. Claudia Benthien identifiziert in ihrer Kulturgeschichte der Haut zwei generelle Auffassungen der Epidermis in der abendländischen Geschichte: als Ort des Übergangs zwischen Leib und Welt und als Hülle, als Panzer des Selbst gegenüber der Welt. Die zweite Lesart setzt erst langsam im 18. Jahrhundert ein und erfordert neue Techniken der zwischenmenschlichen Begegnung, denn »das Authentische liegt [nun] unter der Haut, im Leibe verborgen, es entzieht sich dem Blick und erfordert eine Lese- und Deutungskunst zur Dechiffrierung.« (Claudia Benthien: Haut: Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 2001, S. 25). Jene Lesekunst ließe sich auch als funktionales Element spezifischer filmischer Verfahren, etwa der Großaufnahme, nachweisen – vgl. Getrud Koch: »Nähe und Distanz: Face-to-faceKommunikation in der Moderne«, in: Dies. (Hg.), Auge und Affekt: Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt/Main 1995, S. 272-291.
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bolisch hochbesetzte Grenze [markiert], die kulturellen und historischen Wandlungen unterworfen ist«.8 Damit beinhalten Tattoos – neben dem zweifachen Potential als Schrift und als Bild – auch eine Doppelstellung zwischen Innen und Außen, die ein paradigmatischer Topos des Kinos ist. So legt die erste Einstellung auf die Figur Max Cady in CAPE FEAR (M. Scorsese, USA 1991) alle Motivationen offen, ohne das Gesicht des Charakters zu zeigen. Sein Wollen erklärt sich allein über die Sichtbarkeit des Rückens, auf dem die Worte »truth« und »justice« zu lesen sind. Vervollständigt werden sie durch das Bild einer Waage, die an ein Kreuz genagelt ist. Auf der linken Schale der Waage liegt eine Bibel, auf der rechten Schale ein Schwert. Damit ist der Handlungsrahmen der Figur bis zum Ende abgesteckt, die Koordinaten sind gegeben, innerhalb derer sich die Rache des Sträflings Cady vollziehen soll. Die Tattoos sprechen die Absichten und die Mittel, mit denen die Ziele erreicht werden sollen, unmittelbar als bildlich-zeichenhafte Form aus. Zugleich signalisieren sie Gefährlichkeit und auch die Herkunft der Figur aus dem kriminellen Milieu durch die Qualität der Bildlichkeit, die durch ihre groben Linien auf Gefängnistätowierungen verweist.
Subjektivitätseffekte Im Hinblick auf Max Cady kann man von einer zweiten Haut sprechen, einer neuen Persönlichkeit, die mit der Zeit im Gefängnis entsteht und ihren sichtbaren Ausdruck in den Tätowierungen auf dem Körper findet. Die Tattoos stehen in diesem Fall für ein tatsächliches Werden ein, das Werden eines neuen Menschen, eine Metamorphose, die ihren emblematischsten Ausdruck in den 1990er Jahren wohl in der Figur des Serienmörders Buffalo Bill in THE SILENCE OF THE LAMBS (J. Demme, USA 1991) gefunden hat. Die Haut steht hier ein für ein existentielles Sein, die Persönlichkeit einer Figur.9 Es gilt über die erste Haut eine zweite Haut zu ziehen, wie ein Kleid. So verfährt zumindest Buffalo Bill, der seinen Opfern die Haut abzieht, um sie als Stoff für ein Hautkleid zu verwenden und so die Transformation des Mannseins zur Frau zu gewährleisten. Cady sticht stattdessen das Gewand, das sein Werden zu einer neuen Person bewerkstelligt, in seinen nackten Körper. Tätowierungen stehen nur allzu oft für Identitäten und lebensgeschichtliche Übergänge. EASTERN PROMISES setzt den Initiationsritus Nikolais, der schließlich in die Woris Akonje aufgenommen wird, als einen Akt des Tätowierens in Szene. Die gestochenen Motive werden ihn für immer als einen Angehörigen der russischen Mafia kenntlich machen.
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C. Benthien: Haut, S. 45. Vgl. auch das Kapitel »Seelenspiegel – Die Epidermis als Leinwand« in C. Benthien: Haut, S. 111ff.
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Abb. 1: Die Auslöschung der Identität im Bildraum in THE ILLUSTRATED MAN
Doch die Reflexion der Tätowierung durch den Film kann auch an dieser Stelle in die gegenteilige Richtung umschlagen. So steht in THE ILLUSTRATED MAN (J. Smight, USA 1969) am Ende der Nacht, in der eine geheimnisvolle Hautillustratorin dem grobschlächtigen Zirkusarbeiter Carl ein Ganzkörpertattoo gestochen hat, ein Ich-Verlust. Bildlich inszeniert wird dies über das völlige Verschwimmen der menschlichen Gestalt vor den Ornamenten und Farben des übrigen Bildraumes (vgl. Abb. 1). Carl wird im Folgenden mit dem Fluch zu kämpfen haben, dass Fremde in der einzig freien Stelle auf seinem Rücken ihre Zukunft sehen können. Die Kamera fährt in Großaufnahmen immer wieder seinen Körper ab, jede Tätowierung entflammt eine neue narrative Episode und mit dem zunehmenden Ich-Verlust seiner Zuhörer entfaltet sich THE ILLUSTRATED MAN als Reflexion auf die theoretische Bestimmung, die mit den späten 1960er Jahren einsetzte und als deren prominenteste Figur Jean-Louis Baudry gelten darf:10 das Bild, die Dunkelheit, das Feuer. Carls Körper wird zur Trägerfläche der Schatten an der platonischen Höhlenwand, speist die kinematografischen Halluzinationen unmittelbar in die Retina und das Bewusstsein seiner Betrachter. Es geht um die Macht und Gewalt der Kinobilder, wie sie immer wieder mediendifferenzlogisch reflektiert und in Szene gesetzt werden. THE ILLUSTRATED MAN inszeniert die ergreifende und halluzinierende Macht der Bilder als Tätowierungen, welche die Zuschauersubjekte in ein gemeinsames Delirium werfen und die Phantasien, die schließlich niemandem mehr gehören, über die Bilder entgrenzen. So werden über die Tätowierung Subjektivitäten produziert; dabei wird reflektiert, wie gewaltsam dieser Akt sein kann, ausgedrückt in den Detailaufnahmen der Nadeln, welche die Tinte unter die Haut treiben.
Stigma und Verzierung Tätowierungen sind ihrer historischen Genese nach nahe mit dem Stigma verwandt, sie dienten nur allzu oft der Brandmarkung sozial Ausgeschlossener. Tätowierte wurden als Jahrmarktsattraktionen ausgestellt.11 Im Film kön10 Gemeint ist die ideologiekritische Wende innerhalb der theoretischen Reflexion des Films. Vgl. Jean-Louis Baudry: »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks (1975)«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 11 (1994), S. 1047-1074. 11 Als ›Freaks‹ waren sie fester Bestandteil des Jahrmarktes. THE ILLUSTRATED MAN schließt direkt an diese Tradition an, war es doch eine gängige Praxis,
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nen Tätowierungen sowohl Stigma als auch reine Ästhetisierung des Körpers bedeuten, mitunter wechseln sich diese Funktionen innerhalb der narrativen Entfaltung eines Films ab. Erinnert sei hier an die Figur Derek Vinyard in AMERICAN HISTORY X (T. Kaye, USA 1998), deren allzu sichtbar tätowiertes Hakenkreuz auf der Brust nach der charakterlichen Läuterung im Gefängnis in seiner Bedeutung vom kruden Ausdruck einer politischen Haltung zum unauslöschlichen Kainsmal der Sünden der Vergangenheit transformiert wird. Analog dazu ließe sich die Figur Jack in 21 GRAMS (A. G. Iñárritu, USA 2003) lesen, die sich als Ausdruck des verlorenen Glaubens mit einem glühenden Messer das tätowierte Kreuz auf dem Unterarm entfernt. Tätowierungen übernehmen bisweilen die Herrschaft über die Person, in deren Haut sie gestochen werden. So verwandelt sich die unschuldige Otsuya in IREZUMI (Y. Masumura, J 1966) schnell in eine männermordende und manipulierende Femme fatale, nachdem ihr Rücken mit dem Bild einer Spinne illustriert wurde. Das Kino reflektiert so auf seine Weise die Angst vor den möglichen Folgen des Bilderproduzierens und -konsumierens, etwa in THE TATTOOIST (P. Burger, NZ/SGP 2007), in dem alle Kunden des Tätowierers Jake Sawyer buchstäblich von schwarzer Tinte aufgefressen werden. Nicht zufällig ereilen die Hauptfigur simultan zu jenen Morden tatsächliche Stigmata, also die Wunden Christi in der Handfläche, werden über die Hautillustrationen doch oft biblische Motive tradiert und assoziiert. Max Cadys und Nikolais Körper ist je mit einem Kreuz verziert. Die Hautillustrationen überliefern komplexe repräsentativ-hierarchische Strukturen, die sich jedoch nicht nur auf religiöse Inhalte beschränken, wie das Beispiel Nikolais in EASTERN PROMISES beweist. THE TATTOOIST verknüpft gar das ganze Feld kolonialer Phantasien und Ängste mit den alten Vorstellungen des jüdisch-christlichen Glaubens.
Sex und Gewalt Zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, dem Beginn des 20. Jahrhunderts, treffen sich Film und Tätowierung an einem heterotopen Ort: dem Jahrmarkt. Der Kinematograf wird – jenseits der konkreten Filme, die es zu sehen gibt – als technisches Wunder ausgestellt, die Tätowierung gilt als sideshow des Zirkus und der Aussteller. Die Hautillustrationen und ihre Träger werden als reine Schauobjekte präsentiert, als Differenzmarkierung, an der sich die ›Normalität‹ der bürgerlichen Kultur erst etablieren kann. Zwischen Hautkrankheiten und Tätowierungen werden noch keine Unterschiede gemacht, primär geht es um die Konstruktion des sozial und kulturell Anderen.12 Während der Film seinen Siegeszug durch das 20. Jahrhundert antritt dass die Tätowierten Geschichten über ihre Tattoos erzählten. Vgl. Karin E. Beeler: Tattoos, Desire and Violence – Marks of Resistance in Literature, Film and Television, Jefferson 2006, S. 166ff. 12 Tätowierungen stehen somit in direktem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Praktiken der Inklusion und Exklusion, der Konstruktion des Eigenen und des Fremden – vgl. Jane Caplan: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Written on the Body – The Tattoo in European and American History, London 2000,
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und bald einen festen Ort – den Kinopalast – zugesprochen bekommt, verharrt die Tätowierung an den Rändern der Gesellschaft. Kino wird Industrie, wird Kunst, wird akzeptiert und anerkannt, die Schauspieler rücken in den Fokus medialer Hysterie und Aufmerksamkeit. Der Tätowierung haftet jedoch weiterhin der Geschmack des Marginalen, Ausgestoßenen – oder, in einer Umkehrung der Lesart: die Bedeutung des Subversiven – an.13 Jene Konnotationen des Asozialen, des Delinquenten und Randständigen tradieren sich nun hauptsächlich über den narrativ-szenischen Einsatz der Tätowierung im Film. Dabei spielen Assoziationen zu Sex und Gewalt eine zentrale Rolle. Emblematisch verdichtet findet sich diese filmisch-diskursive Zurichtung der Tätowierung etwa in der Szene einer Vergewaltigung in CAPE FEAR. Während Max Cady eine Frau missbraucht, legt die Kamera vor allem Wert auf die beständige Fokussierung seines von Tattoos übersäten nackten Oberkörpers. Die Differenzierungsfunktion zur sozialen Konvention geht trotz zunehmender Akzeptanz der Tätowierung in der zeitgenössischen Gesellschaft in der filmischen Inszenierung nicht verloren. Es finden sich immer wieder Beispiele, in denen der nackte, unschuldige und reine Körper dem ›schmutzigen‹, wissenden, weil bezeichneten und bezeichnenden Körper dichotomisch gegenübergestellt wird.
Abb. 2: Zeichen in der Haut, die ganze Welten voneinander trennen – EASTERN PROMISES
Paradigmatisch entfaltet sich diese Funktion des Tattoos in der Großaufnahme einer kurzen Berührung zweier Hände in EASTERN PROMISES (vgl. Abb. 2). Die rechte Hand gehört der Hebamme Anna, die durch einen Zufall mit dem russischen Mafiamilieu in Kontakt kommt. Die linke, tätowierte Hand, ist die Hand Nikolais. Diese kurze Berührung bringt die ganze Differenz zweier Welten – des bürgerlichen und des kriminellen Milieus –, um die sich der filmische Kosmos dreht, emblematisch zum Ausdruck. Jene unüberbrückbare Distanz zweier möglicher Weisen zu leben und zu erleben verdichtet sich bildnerisch in den Tätowierungen auf Nikolais Hand. S. xi-xxiii, hier S. xivff. Cesare Lombroso widmet in seiner Studie »Criminal Man« der Tätowierung ein eigenes Kapitel, um auf die von ihm postulierte Verbundenheit zwischen Hautillustration und Verbrechen hinzuweisen – vgl. Cesare Lombroso: Criminal Man, Durham 2006, S. 58ff. 13 Zu diesen Konnotationen vgl. vor allem K. E. Beeler: Tattoos, Desire and Violence.
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Der Körper und seine Sichtbarkeit Im Anschluss an die Darstellung von Sexualität lässt sich ein weiterer Aspekt der Tätowierung im Film aufzeigen: Tätowierungen verbinden sich auf direkte Weise mit den je von Film zu Film zu etablierenden Blickökonomien, das heißt: In der Darstellung der Tätowierung im Film kann sich das jeweilige historische und kulturelle Moment einer Öffnung bzw. Unterdrückung des Blicks manifestieren. Betrachtet man die Filmgeschichte unter der Prämisse einer Blickökonomie, also im Hinblick darauf, was zu einem bestimmten Zeitpunkt gezeigt und gesehen werden darf und was nicht, so buchstabiert die Geschichte der Tätowierung im Film die allmähliche – und mit dem Kino des New Hollywood explosive – Lockerung und Befreiung der Darstellung aus.
Abb. 3 & 4: Verstecken und Enthüllen – Das Spiel mit der Erotik in IREZUMI und der ausgestellte nackte Körper in TATTOO
Übt sich der japanische Film IREZUMI in den 1960er Jahren noch im kunstfertigen Spiel des Verhüllens und Versteckens der Geschlechtsmerkmale seiner Protagonistin, so ist die Nacktheit als Voraussetzung für die Sichtbarkeit einer Ganzkörpertätowierung in der deutschen Produktion TATTOO aus dem Jahre 2002 kein Problem mehr (vgl. Abb. 3 & 4). Diese Öffnung des Blicks, dieser Zugewinn an offener Sichtbarkeit setzt sich fort und mündet gleichsam in EASTERN PROMISES, in dem die unverstellte Nacktheit des Schauspielers Viggo Mortensen, der als Nikolai in einer Londoner Sauna zwei Widersacher zur Strecke bringt, auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in ihrer puren physischen Präsenz und Sichtbarkeit noch als shock value gelten darf. Der diachrone Entwurf einer Geschichte der Tätowierung im Film könnte sich an jenen feinen – historisch und kulturell bedingten – Choreographien aus Zeigen und Verhüllen entfalten. Oder, um die Thesen Tom Gunnings zum Kino der Attraktionen wieder aufzunehmen, an jenen zwei – nur idealtypisch zu beschreibenden – Modellen einer Konstruktion des Zuschauers als Voyeur oder als mitgedachter Zuschauer.
Literatur Baudry, Jean-Louis: »Das Dispositiv: Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks (1975)«, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung 11 (1994), S. 1047-1074. Beeler, Karin E.: Tattoos, Desire and Violence – Marks of Resistance in Literature, Film and Television, Jefferson 2006.
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Benthien, Claudia: Haut: Literaturgeschichte – Körperbilder – Grenzdiskurse, Reinbek 2001. Caplan, Jane: »Introduction«, in: Dies. (Hg.), Written on the Body – The Tattoo in European and American History, London 2000, S. xi-xxiii. Gunning, Tom: »The Cinema of Attractions – Early Film, Its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser (Hg.), Early Cinema. Space, Frame, Narrative, London 1994, S. 57-62. Kiefer, Bernd: »Die Unzuverlässigkeit der Interpretation des Unzuverlässigen – Überlegungen zur Unreliable Narration in Literatur und Film«, in: Fabienne Liptay (Hg.), Was stimmt denn jetzt? – Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 72-87. Koch, Getrud: »Nähe und Distanz: Face-to-face-Kommunikation in der Moderne«, in: Dies. (Hg.), Auge und Affekt: Wahrnehmung und Interaktion, Frankfurt/Main 1995, S. 272-291. Lombroso, Cesare: Criminal Man, Durham 2006. Rancière, Jacques: »Die Geschichtlichkeit des Films«, in: Eva Hohenberger/Judith Keilbach (Hg.), Die Gegenwart der Vergangenheit: Dokumentarfilm, Fernsehen und Geschichte, Berlin 2003, S. 230-246. Rancière, Jacques: Politik der Bilder, Berlin 2005. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen – Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2006. Schlüpmann, Heide: »Filmsprache als Körpersprache: Zu Béla Balázs’ Ästhetik des Kinos von 1925«, in: Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.), Mimesis, Bild und Schrift – Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln 1996, S. 83-97. Shaviro, Steven: The Cinematic Body – Theory Out of Bounds (Volume 2), Minneapolis 1994.
Diagrammatische Ikonizität. Diagramme, Karten und ihre Reflexion im Film CHRISTOPH ERNST
Stichwort ›Medienreflexion‹ Das Stichwort ›Medienreflexion‹ bezeichnet in konstruktivistisch orientierten Medientheorien ein Selbstbeobachtungsverhältnis zweiter Ordnung. Akzeptiert man die aus der Systemtheorie abgeleitete Prämisse, Medien als sinnverarbeitende Systeme zu betrachten, so lässt sich behaupten, dass Medien in der Lage sind, durch Selbstbeobachtung ihre Selbstbeschreibung als Medien zu formulieren. Medienreflexion gilt als eine Operation, in der sich das Medium ein Bild von sich selbst als Medium macht. Dieser Prozess ist allerdings relativ kompliziert: Das Medium bildet sich in sich selbst ab, was impliziert, dass es die Grenze zu seiner Umwelt bestimmt. Diese Grenzbestimmung erfolgt durch die Objektivierung der Unterscheidungen, anhand derer das Medium seine Prozesse entwickelt und andere Medien ihre Prozesse organisieren. Durch die Beobachtung dieser Unterscheidungen ist das Medium in der Lage, den Einfluss der Umwelt auf seine eigenen Prozesse zu spezifizieren. Medienreflexion ist also eine Selbstbeobachtung, in der ein Medium sich in Differenz zu sich selbst (Selbstbeobachtung) und in Differenz zu anderen Medien (Fremdbeobachtung) objektiviert.1 Diese komplexen Voraussetzungen des medienreflexiven Beobachtungsverhältnisses führen zu einer Reihe von methodischen Problemen, wenn man eine Medienreflexion selbst wieder beobachten möchte. Zwei Probleme lassen sich exemplarisch identifizieren: 1) Inhalt und Praxis der Medienreflexion: Beobachtungen können, wie jede Form der Bezugnahme, von ihrer Inhaltsseite und ihrer Praxisseite aus rekonstruiert werden. Inhaltlich richten sich Beobachtungen auf einen Gegenstand, haben als Vollzüge des Beobachtens selbst aber auch eine praktische Seite. Im Fall von Medienreflexion führt diese Differenz aus beobachtender Bezugnahme auf etwas und Praxis der Bezugnahme selbst dazu, dass im Film die eigene mediale Verfassung auf der Inhaltsebene thematisiert oder aber diese Thematisierung auf der Praxisebene in Szene gesetzt werden kann. Während die medienreflexive Selbstbeobachtung im 1
So jedenfalls, wenn man Medienreflexion strikt an Niklas Luhmanns Begriff der »Reflexion« anlehnt. Vgl. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1987, S. 617ff.; Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1992, S. 469ff.
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ersten Fall auf das inhaltliche Motiv der Selbstreferenz beschränkt ist, muss im zweiten Fall die praktische Seite der Inszenierung und der Formsprache berücksichtigt werden. Das aber führt zur Notwendigkeit, die Frage zu klären, wo sich eine Medienreflexion vollzieht: Ist sie eine auf die Inhaltsseite beschränkte Operation oder schließt sie die Praxisseite mit ein? 2) Implizite und explizite Medienreflexion: Verknüpft ist dieses Problem mit der Frage nach einer impliziten und einer expliziten Form von Medienreflexion – wenn der Film ein anderes Medium beobachtet, wie kann man dann erkennen, dass es sich um eine Explikation von Mediendifferenzen handelt? Diese Frage verschärft sich noch, wenn die Praxis als eigenständige Dimension von Medienreflexion hinzugenommen wird. Denn dann muss man entweder annehmen, dass es implizite Formen der Medienreflexion gibt, oder aber ein Kriterium an der Hand haben, welches eine implizite, nicht-reflexive Referenz auf einen Sachverhalt von einer expliziten Reflexion dieses Sachverhaltes unterscheidet. Um sinnvoll von Medienreflexion sprechen zu können, ist es nötig, ein Kriterium zur Explikation von Referenzen als expliziten Reflexionen – also beschreibenden Formen der Selbstbeobachtung – in Abgrenzung zu anderen Formen der Bezugnahme festzulegen. Um den Begriff ›Medienreflexion‹ einsetzen zu können, muss also methodisch klargestellt sein, inwieweit sich die Geltungsreichweite des Begriffs auf die Inhalts- und Praxisdimension erstreckt und inwieweit ein Kriterium zur Explikation von Reflexionsverhältnissen zur Hand ist. Ich möchte diesen Problemen im Folgenden dadurch gerecht werden, dass ich unter Medienreflexion einen Prozess der Bezugnahme des Films auf Diagramme und Karten verstehe, in dem der Film aus dem Bezug auf Diagramme und Karten eine Konsequenz für seine Selbstbeschreibung als Medium ableitet. Die von Diagrammen und Karten eröffneten Darstellungsmöglichkeiten werden im Film in Differenz zu den eigenen filmischen Möglichkeiten gesetzt. Hieraus können dann inhaltliche sowie praktische Konsequenzen gezogen werden, die sich als reflexives Verhältnis bestimmen lassen.
Diagrammatische Ikonizität im Film Diese Beobachtung von Medienreflexion basiert im Fall von Diagrammen und Karten gleichermaßen auf zwei Prämissen:2 2
Karten können als Medien zur Visualisierung von Rauminformationen angesehen werden, Diagramme dagegen als Medien zur Visualisierung von Verhältnisinformationen. Sofern Rauminformationen Verhältnisinformationen sind, sind die wesentlichen kulturellen Funktionen von Karten von denen der Diagramme ableitbar. Das bedeutet nicht, dass beide formästhetisch identisch sind; es bedeutet aber, dass sie auf sehr ähnlichen epistemologischen Operationen beruhen. In dieser Hinsicht kann man Diagramme und Karten hier gleichberechtigt diskutieren. Zum Verhältnis von Kartographie und Diagrammatik vgl. Sybille Krämer: »Karte, Kartenlesen, Kartographie. Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen«, in: Philine Helas u.a. (Hg.), Bild/Ge-
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Meine erste Prämisse lautet, dass Diagramme und Karten im Film in einer supplementären Funktion verwendet und reflektiert werden. Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film kann von deren supplementären Funktion im Film her erklärt werden. Dem liegt eine einfache empirische Beobachtung zugrunde: Diagrammen und Karten ist eine im Film ergänzend verwendete Form von Bildlichkeit zu eigen. Diese Bildlichkeit ergänzt den Film dort, wo dessen eigene bildliche Möglichkeiten an ihre Grenzen stoßen. Das ist der Fall, wenn es um die Visualisierung abstrakter Relationen und der Anschaulichkeit entzogener Verhältnisse geht.3 In solchen Fällen wird die Bildlichkeit von Diagrammen und Karten vom Film supplementär verwendet, also in die Vollzüge der dominanten Bildlichkeit eingegliedert. Vorausgesetzt wird damit natürlich, dass es eine dominante Form der Bildlichkeit des Films gibt, die ergänzt werden kann. Aus semiotischer und bildtheoretischer Perspektive ist diese Voraussetzung dann erfüllt, wenn die dominante Bildlichkeit des Films in Verbindung mit dem Problem einer indexikalisch begründeten Ikonizität steht: Indexikalität bezieht sich auf alle Probleme der Darstellung einer vorausgesetzten Welt im Film, Ikonizität hingegen auf alle Probleme der Repräsentation von bildlichen Gehalten im Prozess der Darstellung dieser Welt durch den Film. Indexikalität und Ikonizität sind im Film aufeinander bezogen: Die Indexikalität des Films wird zur Legitimierung der Ikonizität herangezogen – dadurch, dass der Film auf einem indexikalischen Verhältnis zu einer vorhergehenden Welt basiert, kann seine Ikonizität als ein faktuales Verhältnis zur Welt oder aber als dessen Negation, nämlich ein fiktionales Verhältnis, bestimmt werden.
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schichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 73-82; Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008, S. 298ff. Die Frage nach der Medialität von Diagrammen und Karten hängt wesentlich mit der Abgrenzung vom Medium Bild auf der einen und vom Medium Schrift auf der anderen Seite zusammen. Zu einer gattungstheoretisch inspirierten Definition des Diagramms als Medium zwischen Bild und Schrift vgl. z.B. Christian Stetter: »Bild, Diagramm, Schrift«, in: Gernot Grube/Werner Kogge/Sybille Krämer (Hg.), Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005, S. 115-135. Die Eigenständigkeit der Diagramme (und Karten) als Medien ergibt sich dabei weniger aus ihren formalen Eigenschaften als vielmehr aus ihren pragmatischen Verwendungskontexten. Mit diagrammatisch repräsentierten Verhältnisinformationen werden logische Schlussfolgerungen, etwa durch die Rekombination der Visualisierung abstrakter Verhältnisse, durchgeführt. Vgl. dazu im Anschluss an Charles S. Peirce Michael H. G. Hoffmann: Erkenntnisentwicklung. Ein semiotischpragmatischer Ansatz, Frankfurt/Main 2005. Zur Abgrenzung von Diagramm und Bild unter phänomenologischen und semiotischen Gesichtspunkten vgl. auch Lambert Wiesing: »›Ornament, Diagramm, Computerbild‹ – Phänomene des Übergangs. Ein Gespräch der ›Bildwelten des Wissens‹ mit Lambert Wiesing (Interview mit Birgit Schneider, Margarete Pratschke, Violeta Sánchez)«, in: Horst Bredekamp/Gabriele Werner (Hg.), Diagramme und bildtextile Ordnungen. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Themenheft, Berlin 2005, S. 115-128.
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Diagramme und Karten fügen dem eine dritte Form der Ikonizität hinzu, die sich als diagrammatische Ikonizität (oder auch operative Ikonizität) bezeichnen lässt.4 ›Diagrammatische‹ Ikonizität bedeutet einerseits, dass von einem Bezugsgegenstand nur die Grundrelationen dargestellt werden, und andererseits, dass der Bezugsgegenstand durch das Diagramm und die Karte erst mit hergestellt wird. Sinnfällig wird dies bei abstrakten Gegenständen und Relationen, von denen man ausgeht, dass es sie gibt, die sich als solche aber der Sichtbarkeit entziehen. Das Besondere dieses Verhältnisses ist die Möglichkeit zur operativen (epistemischen) Nutzung. Die in Diagrammen und Karten repräsentierten Verhältnisinformationen können rekombiniert und transformiert werden, was zu Schlussfolgerungen mit pragmatischen Implikationen führt. Karten sind unter dieser Vorgabe als Spezialfälle von Diagrammen anzusehen. Mit diagrammatischer Ikonizität können etwa mögliche Handlungsszenarien durchgespielt werden: Eine Skizze soll Funktionsprinzipien einer Luftpumpe klar machen, eine kleine Karte wird gezeichnet, um alternative Routen festzulegen, eine Sonnenuhr wird konstruiert, um die Zeit zu bestimmen, und eine Computersimulation soll die Entstehung eines nur in Ruinen vorliegenden antiken Tempels nachvollziehen – all das sind Formen des ›operativen‹ Umgangs mit Diagrammen und Karten. Im vorliegenden Kontext ist entscheidend, dass diagrammatische Ikonizität mit der Prämisse einer indexikalisch begründeten Ikonizität bricht: Sie steht in keinem Verhältnis der kausalen Nachträglichkeit zur Welt, sondern die Welt kann nach den Vorgaben des Diagramms gestaltet werden. Diagramme und Karten sind also Medien des virtuellen Verhältnisses einer Entwurfs- und Entwicklungslogik, die kulturell vor allem in investigativen oder explorativen Verwendungskontexten vorzufinden ist.5 Das leitet über zu meiner zweiten Prämisse. Sie besagt, dass die Referenz auf diagrammatische Ikonizität im Film dann ein ›medienreflexives‹ Verhältnis ausbildet, wenn der Film die supplementäre Bildlichkeit von Diagrammen und Karten für seine eigenen Vollzüge zum Thema werden lässt – wenn also auf Ebene der Handlung oder auf Ebene der Formsprache für den Verlauf des Films Konsequenzen aus dieser Bildlichkeit gezogen werden, die reflexiv zugänglich sind. Dafür muss gewährleistet sein, dass die supplementäre Funktion von Diagrammen und Karten im Film explizit kommentiert wird. Dies geschieht, indem diagrammatische Ikonizität entweder als Teil eines Films ausdrücklich inszeniert oder aber als durch ein anderes Medium im Film hervorgebracht dargestellt wird – indem Diagramme und Karten im Film also in
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Vgl. Charles S. Peirce: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/Main 1983, S. 64ff.; M. H. G. Hoffmann: Erkenntnisentwicklung; Sybille Krämer: »›Operationsraum Schrift‹: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift«, in: Grube/Kogge/Krämer (Hg.), Schrift, S. 23-57; Frederik Stjernfelt: Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology and Semiotics, Dordrecht 2007. Hierbei handelt es sich nur um eine rudimentäre Bestimmung diagrammatischer Ikonizität. Vgl. ausführlicher F. Stjernfelt: Diagrammatology sowie Matthias Bauer/Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010.
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Verbindung zum Film (Selbstbeobachtung) oder zu anderen Medien (Fremdbeobachtung) gesetzt werden. Dieser Ansatz führt zu einer Bestimmung des Gegenstandsbereichs, die sich von ähnlichen Behandlungen des Themas unterscheidet: Bei der Beobachtung der Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film geht es nicht um eine Inventarisierung der Formen des Erscheinens von Diagrammen und Karten im Film, also z.B. eine Beobachtung des Erscheinens von Baumdiagrammen, Funktionsdiagrammen, Aufrisszeichnungen, technischen Skizzen, Wetterkarten, tätowierten Karten, Schatzkarten, Landkarten, Sternkarten etc. Ein solcher inventarisierender formaler Ansatz würde die chronotopische Funktion von Diagrammen und Karten hervorheben, etwa die Verwendung von Karten zur elliptischen Abkürzung der Narration, kann das Thema ›Medienreflexion von Diagrammen und Karten‹ aber nicht erschöpfen. Vielmehr ist es notwendig, die Darstellungspotentiale von Diagrammen und Karten zum Ausgangspunkt einer funktionalen Analyse zu machen,6 in der es um die Funktionen der Bildlichkeit von Diagrammen und Karten im Film geht: Erst wenn der Film die medialen Möglichkeitshorizonte, die sich durch Diagramme und Karten ergeben, in seine Vollzüge einbindet, ist die Grundlage für Medienreflexion gegeben. Der Gegenstandsbereich für die Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film lässt sich von den Funktionen und Verwendungen der Bildlichkeit dieser beiden Medien her definieren: Weder ist jede Form des Erscheinens von Diagramm und Karte im Film ein medienreflexives Beobachtungsverhältnis, noch erstreckt sich der Gegenstandsbereich ausschließlich auf Diagramme und Karten. Entscheidend ist die Frage, wie der Film die spezifische Bildlichkeit von Diagrammen und Karten für seine eigenen Vollzüge nützt.
Die Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film Aufgrund der kulturellen Verbindung von Diagrammen und Karten mit problemlösendem Handeln werden Diagramme und Karten unter Vorgaben des Hollywood-Kinos häufig zur Exposition eines zu lösenden Problems eingesetzt. Diagramme und Karten dienen zur exemplifizierenden Charakterisierung einer zu ändernden Situation bei gleichzeitiger Plausibilisierung von möglichen Handlungsoptionen.7 Diese Tendenz ist in den letzten Jahren in auf visual effects basierenden Genres des Hollywood-Kinos wie ScienceFiction und Fantasy zu beobachten und steht in engem Zusammenhang mit 6
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Während es zum Thema ›Karte im Film‹ eine recht lebhafte Forschung gibt (vgl. exemplarisch Rolf F. Nohr: Karten im Fernsehen. Die Produktion von Positionierung, Münster 2002; Andrea Sick: Kartenmuster. Bilder und Wissenschaft in der Kartografie, Hamburg 2003), ist das Thema ›Diagramm im Film‹ noch relativ wenig beachtet worden; vgl. dazu Matthias Bauer: »Evidenz und Konjektur. Zur Dynamik von ›image‹, ›diagram‹ und ›symbol‹«, in: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München 2006, S. 176-192. Vgl. hier auch Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1997, S. 193ff.
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dem für das Thema diagrammatische Ikonizität elementar wichtigen Phänomen der Digitalisierung der filmischen Bildproduktion durch Computer Generated Imagery (CGI). Die Verwendung von CGI hat die Einbindung von diagrammatischer Ikonizität im Film enorm verändert. Das hängt damit zusammen, dass die Rekombinations- und Transformationsprozesse diagrammatischer Ikonizität durch CGI sehr gut umgesetzt werden können. CGI erlaubt es, die operative Epistemologie von Diagrammen und Karten effektiver zu visualisieren, als dies analoge Effekte vermögen. Die Frage, die sich hieraus für die Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film ergibt, ist nun die, ob und inwiefern die supplementäre Verwendung von Diagrammen und Karten im Film nicht nur eine Reflexion der Grenze verschiedener Formen von Ikonizität darstellt, sondern ob der Film nicht bei Gelegenheit der Reflexion von Diagrammen und Karten Bezug auf die zunehmend digitale Verfassung seiner Bildlichkeit nimmt.8 Ich möchte diese Fragen im Folgenden anhand dreier Beispiele verfolgen, indem ich typische kulturelle Verwendungskontexte diagrammatischer Bildlichkeit aufgreife.
ENTWERFEN UND SCHLUSSFOLGERN Ein für die Möglichkeiten heutiger CGI-Effekte einfaches, aber gutes Beispiel für die Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film findet sich in STAR TREK: GENERATIONS (D. Carson, USA 1994). An Bord der Enterprise kommen Captain Picard (Patrick Stewart) und der Androide Data (Brent Spiner) in der Abteilung für stellare Kartographie zusammen und berechnen mittels einer holographischen Animation die Flugbahn einer kosmischen Anomalie, die vom Bösewicht des Films manipuliert wird. Durch die Rekombination der projizierten Flugbahn gelingt es den Helden, den Plänen des Bösewichts auf die Spur zu kommen und die drohende Gefahr der Zerstörung eines in der Flugbahn der Anomalie gelegenen, bewohnten Planeten zu erkennen (vgl. Abb. 1 & 2).
Abb. 1 & 2: STAR TREK: GENERATIONS – Schlussfolgerung auf eine Gefahr aus der operativen Veränderung ihrer Relationen im Hologramm
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Es ist eine Binsenweisheit, dass CGI-basierte visual effects nicht mehr nur auf Genres wie Science-Fiction oder Fantasy begrenzt sind, sondern generell zur Optimierung der Bildlichkeit des Films eingesetzt werden. Dennoch scheint der medienreflexive Aspekt bei Science-Fiction oder Fantasy ausgeprägter zu sein.
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Diagrammatische Ikonizität wird in dieser Szene als eine kartographische Relation exponiert. Die Szene führt die spezifischen Eigenschaften diagrammatischer Ikonizität, also ihre Fähigkeit, operativ verändert zu werden und auf diese Weise Schlussfolgerungen zu ermöglichen, exemplarisch vor Augen. Zum einen wird dabei die Enttarnung der Pläne des Bösewichts als Schlussfolgerung über eine Rekombination der Flugbahnrelationen erreicht, also im Film eine diagrammatische Erkenntnisoperation visualisiert. Zum anderen führt dies zu einer Plausibilisierung der Handlungsmotivation durch die Etablierung eines rationalen Handlungsrahmens. Die Szene beinhaltet nicht nur eine Visualisierung der Prozesshaftigkeit von Schlussfolgerungen, die im Film selbstreferenziell Auswirkungen auf die Diegese haben, sondern die Visualisierung der Prozessualität dieser Schlussfolgerung wird als rationale Schlussfolgerung markiert und in einen ethisch-moralisch vertretbaren Handlungsrahmen eingebettet. STAR TREK: GENERATIONS ist ein Beispiel für die Nutzung der supplementären Funktion von Diagrammen und Karten, in der die Eigenschaften dieser Bildlichkeit explizit die Normativität der Genre-Vorgaben des Science-Fiction-Films im Allgemeinen und des STAR TREK-Franchise im Speziellen unterstützen. STAR TREK-Protagonisten der NEXT GENERATION-Ära handeln im Vergleich zur üblichen Science-Fiction-Soldateska des Hollywood-Kinos außerordentlich skrupulös. Diagrammatische Ikonizität dient hier dazu, eine zu verändernde Problemlage zu visualisieren und die Handlungsoptionen für ethisch-moralisch korrektes Handeln zu evaluieren. Von Medienreflexion kann man sprechen, weil die Visualisierung des Schlussprozesses nicht nur irreduzibel mit der Diegese verwoben ist, sondern weil die entwerfende und die schlussfolgernde Funktion diagrammatischer Ikonizität im Film aufgegriffen werden. Dies beschränkt sich zwar auf die diegetische Verhandlung durch die Figuren im Film, es kann aber dennoch als Kommentar zur darstellungstheoretischen Leistung diagrammatischer Ikonizität gelesen werden, sofern man diese Verhandlung als Explikation einer Mediendifferenz der regulären Formen von filmischer Bildlichkeit versteht. Entscheidend ist dafür die Referenz auf das Medium der Holographie, welches den entwerfenden Charakter diagrammatischer Ikonizität in digitalen Medien realisiert. Die durch den Computer ermöglichte diagrammatische Ikonizität verkoppelt sich mit den imaginären Potentialen der Einbildungskraft. Sie mündet jedoch nicht in einen hyperrealistischen Exzess der Visualisierung individueller Phantasmen im Rahmen einer vollständig ihrem Original ähnlichen virtuellen Realität (wie in anderen Beispielen für die Verwendung von Holographie in STAR TREK). Der supplementäre Charakter diagrammatischer Ikonizität wird epistemisch und normativ als besondere Leistung digitaler Medien benannt und exponiert. Nicht das hyperreale Phantasma, sondern die rationale Schlussfolgerung und das daraus resultierende problemlösende Handeln werden vom Film als Merkmale diagrammatischer Ikonizität reflektiert – nicht also die Herstellung einer zweiten, virtuellen Realität wird als Eigenschaft diagrammatischer Ikonizität exponiert, sondern die Herstellung einer erweiterten Realität, die in die reale Realität eingelagert ist.
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SPURENLESEN UND OBSERVIEREN Ein ganz ähnliches Beispiel findet sich in der Verwendung einer Karte in dem Film HARRY POTTER AND THE PRISONER OF AZKABAN (A. Cuarón, GB/ USA 2004). Ähnlich dem Beispiel in STAR TREK: GENERATIONS wird auch hier eine Karte im Rahmen eines investigativen, schlussfolgernden Prozesses verwendet. Die sogenannte Marauder’s Map (vgl. Abb. 3) dient Harry Potter (Daniel Radcliffe) dazu, einen Bösewicht zu enttarnen. Bei der Marauder’s Map handelt es sich um eine Karte, auf der Namen und Bewegungen aller Personen in der Zauberschule Hogwarts eingezeichnet sind – so auch die Bewegungen des in eine Ratte verwandelten, aber in der Karte dennoch namentlich verzeichneten Bösewichts Peter Pettigrew (Timothy Spall). Harry Potter sieht die in der Karte sich manifestierenden Fußspuren Pettigrews und eilt zu dessen Position in Hogwarts, findet dort aber zu seiner Überraschung – und im Gegensatz zu den Informationen der Karte – niemanden vor. Dieser Widerspruch (denn eigentlich gilt: ›The map never lies‹) wird später zur Prämisse der Enttarnung des Bösewichts: Aus der Tatsache, dass Harry vor Ort niemanden vorgefunden hat, kann geschlossen werden, dass Pettigrew sich in eine Ratte verwandelt hat, die Harry vor Ort einfach übersehen hat.
Abb. 3: HARRY POTTER AND THE PRISONER OF AZKABAN – Echtzeit-Überwachung eines Territoriums durch die Marauder’s Map
Interessant an der Marauder’s Map ist die Verknüpfung von kartographischer Darstellung und Echtzeit-Überwachung eines Territoriums. Die Marauder’s Map zeigt die Bewegungsprofile aller Akteure in Hogwarts. Bewegung ist mit Hilfe der Karte permanent observierbar. Mehr noch: Die Karte ist ein nahezu unbestechliches Überwachungsmedium, weil sie z.B. Pettigrews Verwandlungszauber durchdringt und ihn trotz seiner Gestalt als Ratte namentlich verzeichnet. Thematisiert werden hierdurch nicht nur die üblichen strategischen Orientierungsfunktionen von Karten, sondern darüber hinausgehende Funktionen, wie sie elektronischen Analyse- und Überwachungsmedien zufallen.9 Dies kann als Referenz auf eine Veränderung der Nutzungskontexte von Karten betrachtet werden. 9
Vgl. auch Christine Buci-Glucksmann: Der kartographische Blick der Kunst, Berlin 1997. In dem Film agiert die Karte wie ein digitales Interface, das in seinen Eigenschaften anderen im Science-Fiction- oder Fantasy-Film verwendeten Gadgets mit ähnlicher Leistungszuschreibung (z.B. den Tricordern oder Scannern in STAR TREK) nicht nachsteht.
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Karten sind seit langem als Hilfsmittel bei der Echtzeit-Überwachung von Territorien in Gebrauch (z.B. werden auf ihnen im Luftkrieg die Bewegungen von per Radar erfassten einfliegenden Feindflugzeugen repräsentiert). Das Neue der Marauder’s Map ist jedoch die Durchdringung des Territoriums durch eine Aufklärungskapazität der Karte selbst (!). Während die Informationen über die Bewegungen in der Karte vorher durch externe Quellen gesichert wurden (z.B. mittels Funk im Zweiten Weltkrieg), ist die Marauder’s Map in der Lage, ihr Territorium selbst aufzuklären. Die Karte funktioniert wie ein aktives Aufklärungsmedium. Die Verwendung der Karte als passives Medium zur Objektivierung von Relationen steht hier in Verbindung mit der aktiven Logik bildgebender Verfahren. Man kann feststellen: Die Marauder’s Map ist eine Karte, die nicht auf das Paradigma der Repräsentation gestützt ist, sondern auf dem Prinzip entwerfender Projektion im Sinne der Analyse und Konstruktion eines der Anschauung entzogenen Referenten beruht. Überspitzt gesagt: Die Marauder’s Map hat mehr mit einem MRT gemeinsam als mit einer analogen Karte – sie durchleuchtet ihr Territorium und erstellt daraus Bewegungsprofile, insofern Spuren in ihr eingezeichnet werden. Auffällig ist an dem Beispiel, dass ausgerechnet das diagrammatische Medium der Karte zum Träger eines indirekten Verweises auf Formen der computergenerierten Bildlichkeit wird. Doch auch in diesem Film wird die Karte als supplementäres Medium reflektiert: Die Karte liefert Hinweise auf den Bösewicht, spielt im Schlussfolgerungsprozess zu dessen eigentlicher Enttarnung aber nur die Rolle des ausschlaggebenden Indizes. Sie ist innerhalb der Diegese handlungsleitend und ihre innerdiegetische Funktion darf als eine Reflexion auf digitale Formen von Observationsmedien betrachtet werden. Sie greift aber nicht auf die Praxisseite des Films über.
PLANEN UND SIMULIEREN Das ist bei einem Beispiel, das zum Abschluss noch einmal an den Anfang der Geschichte der Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film zurückführt, erkennbar anders. Mustergültig realisiert findet sich hier die Verknüpfung der Reflexion auf diagrammatische Ikonizität und CGI in einer der ersten relevanten Verwendungen von CGI im Film überhaupt – und zwar in STAR WARS IV: A NEW HOPE (G. Lucas, USA 1977). Gemeint ist die Szene des Mission-Briefings vor dem Angriff der Rebellen auf den Death Star. Während des Briefings wird in einem kinoartigen Besprechungsraum auf einer zweidimensionalen Leinwand eine dreidimensionale animierte Vektorgrafik vorgeführt, mit deren Hilfe die Piloten den Verlauf und die Schwierigkeiten eines Angriffs auf den Death Star durchspielen. Diagramm und Karte finden hier im durch eine animierte Vektorgrafik repräsentierten Modell des Death Star zusammen. Ihre gemeinsame strategische Funktion als Medien des Durchspielens möglicher Handlungsverläufe ist also mit einer direkten Referenz auf die medialen Eigenschaften des Films kombiniert.
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Abb. 4: STAR WARS IV: A NEW HOPE – Diagrammatische Simulation des Angriffs auf den Death Star
Der Witz daran ist: Im Rahmen des Mission-Briefings wird die spätere praktische Inszenierung des Angriffs auf der Leinwand des Besprechungsraumes durchgespielt, bezieht sich der Film im Film also explizit auf den LayoutCharakter diagrammatischer Ikonizität zur Realisierung seiner eigenen Vollzüge (vgl. Abb. 4). Diese Simulation des Angriffs wird mithin nicht nur auf Ebene der Diegese, sondern auch auf Ebene der praktischen Inszenierung zum Vorbild des späteren Angriffs. Die spätere Angriffssequenz folgt bis in die Perspektivität der Einstellung des Fluges von Luke Skywalker (Mark Hamill) in den Graben des Death Star dem bereits vorher als Film im Film mittels diagrammatischer Ikonizität simulierten Muster. Der Film nimmt hier also ausdrücklich Bezug auf die Implikationen von diagrammatischer Ikonizität für den Film. Auf der Inhaltsseite verbleibt die diagrammatische Ikonizität dabei in einer restringierten supplementären Funktion, was indirekt durch die ideologische Botschaft des Films unterstützt wird: Luke Skywalker schaltet kurz vor dem entscheidenden Schuss auf den Death Star seine automatische (ebenfalls mittels Vektorgrafik operierende) Zielvorrichtung ab und vertraut nicht auf eine technisch gestützte Rationalität, sondern auf seine Gefühle bzw. Intuition. Auf der Praxisseite hingegen wird aus der ergänzenden Form von Bildlichkeit das Vorbild für die inszenatorische Umsetzung – hängt also die Inszenierung von der innerdiegetisch verhandelten diagrammatischen Ikonizität der Anflugsimulation ab. Der Film entwirft in sich selbst eine diagrammatische, auf eine Leinwand projizierte Simulation des später im Film realisierten diegetischen und filmischen Geschehens. Es ist schwierig, diese Szene nicht als eine Reflexion auf die zunehmende Digitalisierung des Films zu lesen. Diese Schlussfolgerung beinhaltet jedoch die aufschlussreiche Komponente, dass Digitalisierung hier zugleich als ›Diagrammatisierung‹, also prozessual, gedacht wird. Was diese Szene für die Geschichte der Medienreflexion von Diagrammen und Karten im Film so bedeutsam macht, ist die praktische Umdeutung der supplementären Funktion von diagrammatischer Ikonizität: Auf der formästhetischen Ebene wird diagrammatische Ikonizität im Film zum expliziten Handlungsskript, nach dem sich der Film richtet. In STAR WARS IV: A NEW HOPE wird bei Anlass einer Reflexion auf diagrammatische Ikonizität dadurch die Grenze zwischen analoger und digitaler Bildlichkeit reflektiert und eine erste Konsequenz daraus gezogen – nämlich die, dass diagrammatische Ikonizität zur Folie wird, nach der sich die Inszenierungen des Films richten. Nachdrückliche Bestätigung findet diese These darin, dass in STAR WARS IV: A NEW HOPE die digitale Verwendung diagrammatischer Ikonizi-
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tät von der analogen Verwendung diagrammatischer Ikonizität abgegrenzt wird. Dies geschieht dadurch, dass im Kontext des besagten Angriffs zwei verschiedene Gadgets gezeigt werden, die nach den jeweiligen analogen und digitalen Prinzipien funktionieren: Das analoge Gadget wird durch die Rebellen genutzt. Während des Angriffs betrachten sie mit Hilfe eines einer Sonnenuhr nachempfundenen Beobachtungsinstrumentes, auf welchem die lineof-sight des Death Star in Relation zu ihrer bedrohten Basis diagrammatisch repräsentiert wird, die verbleibende Zeit für ihren Angriff. Ironischerweise nutzt das Imperium für exakt die gleiche Leistung eine dreidimensionale, farbige Vektorgrafik mit digitaler Zeitanzeige, die auf einen Bildschirm projiziert ist. Während die Rebellen also noch im analogen Zeitalter operieren, ist das Imperium schon auf der Höhe der Zeit angekommen. STAR WARS IV: A NEW HOPE nimmt somit ausdrücklich Bezug auf zwei verschiedene mediale Realisierungsweisen diagrammatischer Ikonizität, eine analoge und eine digitale, die am Kriterium exakt der gleichen Darstellungsleistung miteinander verglichen werden (vgl. Abb. 5 & 6).
Abb. 5 & 6: STAR WARS IV: A NEW HOPE – Digitale und analoge Gadgets für die Repräsentation diagrammatischer Verhältnisse
Durch die praktische Umsetzung des diagrammatischen Handlungsskripts in Form einer animierten Simulation, die dann selbst vom Film ausagiert wird, reflektiert STAR WARS IV: A NEW HOPE diagrammatische Ikonizität zu einem frühen Zeitpunkt als irreduzibles Supplement, also als ein Supplement, das der Science-Fiction- und Fantasy-Film nicht nur heranzieht, sondern ohne das er gar nicht mehr auskommt.
Ergebnisse Aus diesen stichpunktartigen Bemerkungen möchte ich eine knappe Schlussfolgerung ziehen: Es gibt starke Hinweise dafür, davon auszugehen, dass sich die Medienreflexion von Diagrammen und Karten im populären fiktionalen Kino, für welches das Science-Fiction- und das Fantasy-Genre als typisch anzusehen sind, rückwirkend auf die letzten 30 Jahre als eine Reflexion auf die Grenze des durch Formen indexikalisch legitimierter Ikonizität geprägten analogen Films zu den durch diagrammatische Ikonizität geprägten Formen des digitalen Films bestimmen lässt. Der indexikalisch-ikonische Komplex, der den Film lange Zeit geprägt hat, scheint sich in Richtung einer Reflexion
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auf die Virtualität, die innerhalb von faktualer und fiktionaler Realität gegeben ist, aufzulösen.10 Die Medienreflexion der Ikonizität von Diagrammen und Karten funktioniert gleichsam als ein Indikator für diese schleichende Transformation des Films durch computerbasierte Bildlichkeit. Dass dieser Prozess voranschreitet, ja dass die Digitalisierung der Bildproduktion vielleicht sogar das dominante Phänomen des gegenwärtigen Films ist, kann nicht ernsthaft als neue Erkenntnis behauptet werden. Dass hierbei jedoch die diagrammatische Ikonizität als ein zentrales Phänomen zu berücksichtigen ist und vom Film in dieser Weise reflektiert wird, ist gegenüber der bisherigen Beschäftigung mit dem Thema CGI in der Medienwissenschaft jedoch eine innovative Erkenntnis, die es allemal wert ist, hervorgehoben zu werden. Die Medienreflexion von Karten und Diagrammen im populären fiktionalen Film führt zu nichts weniger als der Einsicht, dass (zumindest aus semiotischer und bildtheoretischer Sicht) diagrammatische Ikonizität als Paradigma der Digitalisierung des Films anzusehen ist. Moderne Verfahren der Herstellung filmischer Bildlichkeit, etwa das ohne CGI nicht denkbare Motion Capturing oder die Multiperspektivität der virtuellen Kamera, werden somit nicht nur technisch als Digitalisierungsverfahren reflektierbar, sondern auf ihrer kulturellen Innenseite als Diagrammatisierung filmischer Bildlichkeit zugänglich.11 Im Umkehrschluss illustriert dies, warum es sinnvoll ist, sich mit dem Thema Medienreflexion zu befassen: Begreift man Medienreflexion als eine Selbstbeobachtung zweiter Ordnung auf Ebene der Selbstbeschreibung des Films, dann kann genau diese Einsicht aus den Vollzügen des Films selbst abgeleitet werden.
Literatur Baudrillard, Jean: Agonie des Realen, Berlin 1978. Bauer, Matthias: »Evidenz und Konjektur. Zur Dynamik von ›image‹, ›diagram‹ und ›symbol‹«, in: Thomas Koebner/Thomas Meder (Hg.), Bildtheorie und Film, München 2006, S. 176-192. Bauer, Matthias: »(Don’t) Say Yes to Another Excess. Ang Lees Transformation der Hulk-Legende«, in: Ders. (Hg.), Ang Lee. Film-Konzepte 5, München 2007, S. 81-96. Bauer, Matthias/Ernst, Christoph: Diagrammatik. Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld, Bielefeld 2010.
10 Verknüpft man diese mit der aktuellen Diskussion um den »Hyperrealismus« digitaler Bilder (vgl. etwa Gundolf S. Freyermuth: »Cinema Revisited. Vor und nach dem Kino – Audiovisualität in der Neuzeit«, in: Daniela Kloock (Hg.), Zukunft Kino: The End of the Reel World, Marburg 2007, S. 15-39), ist diese Einsicht nicht so weit von der These entfernt, dass sich das Territorium unter Bedingungen medialer Ähnlichkeitskonstruktion nach der Karte richtet; vgl. dazu Jean Baudrillard: Agonie des Realen, Berlin 1978, S. 7ff. 11 Vgl. dazu auch Matthias Bauer: »(Don’t) Say Yes to Another Excess. Ang Lees Transformation der Hulk-Legende«, in: Ders. (Hg.), Ang Lee. Film-Konzepte 5, München 2007, S. 81-96, hier S. 92ff.
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Buci-Glucksmann, Christine: Der kartographische Blick der Kunst, Berlin 1997. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1997. Freyermuth, Gundolf S.: »Cinema Revisited. Vor und nach dem Kino – Audiovisualität in der Neuzeit«, in: Daniela Kloock (Hg.), Zukunft Kino: The End of the Reel World, Marburg 2007, S. 15-39. Grube, Gernot/Kogge, Werner/Krämer, Sybille (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine, München 2005. Hoffmann, Michael H. G.: Erkenntnisentwicklung. Ein semiotisch-pragmatischer Ansatz, Frankfurt/Main 2005. Krämer, Sybille: »›Operationsraum Schrift‹: Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift«, in: Grube/Kogge/Krämer (Hg.), Schrift (2005), S. 23-57. Krämer, Sybille: »Karte, Kartenlesen, Kartographie. Kulturtechnisch inspirierte Überlegungen«, in: Philine Helas u.a. (Hg.), Bild/Geschichte. Festschrift für Horst Bredekamp, Berlin 2007, S. 73-82. Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1987. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main 1992. Nohr, Rolf F.: Karten im Fernsehen. Die Produktion von Positionierung, Münster 2002. Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen, Frankfurt/Main 1983. Sick, Andrea: Kartenmuster. Bilder und Wissenschaft in der Kartografie, Hamburg 2003. Stetter, Christian: »Bild, Diagramm, Schrift«, in: Grube/Kogge/Krämer (Hg.), Schrift (2005), S. 115-135. Stjernfelt, Frederik: Diagrammatology. An Investigation on the Borderlines of Phenomenology, Ontology and Semiotics, Dordrecht 2007. Wiesing, Lambert: »›Ornament, Diagramm, Computerbild‹ – Phänomene des Übergangs. Ein Gespräch der ›Bildwelten des Wissens‹ mit Lambert Wiesing (Interview mit Birgit Schneider, Margarete Pratschke, Violeta Sánchez)«, in: Horst Bredekamp/Gabriele Werner (Hg.), Diagramme und bildtextile Ordnungen. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Themenheft, Berlin 2005, S. 115-128.
Zelluloidmaschinen. Computer im Film STEFAN HÖLTGEN
Der Computer und das Kino pflegen eine nahe Verwandtschaft. Sie ist zunächst materiell begründet: Einer der ersten Computer, Konrad Zuses Z1 von 1936, nutzte verworfene Filmstreifen der UFA-Studios als LochstreifenSpeicher für Rechenprogramme. Die Perforation des Filmstreifens, die sein schrittweises Vorlaufen möglich machte, bot die ideale materielle Grundlage.1 Diese Verwandtschaft mag ein Zufall sein, selbst wenn sie einige der technischen Eigenschaften von Filmstreifen und Programmspeicher identifiziert; die materielle Nähe des Computers zum Film ist jedoch geblieben und reicht soweit, dass Filme heute zumeist am Computer ›geschnitten‹ werden oder – wie im Fall des Animationsfilms – sogar vollständig in ihm entstehen. Noch bis hin zu Zuses Z1 war der Computer eine mechanische Maschine, in der nicht Elektronen kreisten, sondern sich Teile bewegten. Das könnte seine Frühgeschichte besonders filmaffin machen2 – sie ist es aber nicht. Es
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Schon zuvor war der Ingenieur Emil Schilling 1926 auf die Idee für eine »Steuerung für Rechenmaschinen o. dgl.« (zit. n. Stefan Höltgen: Pionier der Computerzeit: Emil Schilling, 2010, online: http://tinyurl.com/3mlry2m [letzter Zugriff am 15.09.2011], o.S.) gekommen, die mittels perforierter Lochstreifen und getaktet dem Malteserkreuz ähnlich im Filmprojektor Datenvorschub leistete. Seine Erfindung, die Ralf Bülow im Archiv des Patentamtes Berlin-Zehlendorf gefunden hat, blieb allerdings eine Papiermaschine – sie wurde außer auf dem Patentantrag nirgends konstruiert. Vgl. dazu auch: Rechnerlexikon – Die große Enzyklopädie des mechanischen Rechnens: Patent:DE580675, o.J., online: http://historicalc.com/artikel/Patent:DE580675 [letzter Zugriff am 15.09.2011]. Emanuel Scheyer stellte in seinem Scientific American-Artikel den Lochstreifen kurz zuvor als »Kinautograph« vor, womit er bereits in der begrifflichen Ähnlichkeit zum Kinematografen die Verwandtschaft beider Technologien hervorhob. Vgl. Emanuel Scheyer: »When Perforated Paper Goes to Work«, in: Scientific American 127 (1922), S. 349f., S. 445, hier: S. 349. Vannevar Bushs Differential Analyzer etwa war ein solch beweglicher, elektromechanischer Analogcomputer. Erfunden und gebaut zwischen 1928 und 1932 am Bostoner MIT sind uns seine frühen Verwendungen durch den Film dokumentiert geblieben. In DESTINATION MOON (I. Pichel, USA 1950), WHEN WORLDS COLLIDE (R. Maté, USA 1951) oder EARTH VS. THE FLYING SAUCERS (F. F. Sears, USA 1956) sehen wir ihn etwa arbeiten – in immer derselben Se-
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ist vielmehr das Stumme, Unsichtbare des Rechners, das in Filmen thematisiert wird. An ihm tritt ein ›Mehr‹ in Erscheinung, das sich nicht aus seiner Materialität ableiten lässt. Diesem möchte sich der folgende Text widmen. Computer zeigen im Film mehr als bloße Rechentechnik, sind dort mehr als vernetzte Systeme oder konvergierte Multimediamaschinen. Sie sind vor allem Projektionsmaschinen: »evokatorisch[e] Objekt[e]«,3 kulturelle Symbole und Metaphern im Rahmen soziokultureller Narrative. Die Computerfilme, um die es hier geht, führen vor Augen, was im alltäglichen Umgang mit der Computertechnologie zumeist unausgesprochen, vage oder schillernd bleibt, sie übertreiben Visionen und Ängste, projizieren sie manchmal in die nahe oder ferne Zukunft und stellen vor allem immer wieder die Frage nach der Beziehung des Menschen und der Gesellschaft zur Maschine und Technologie – auf eine Weise, wie sie nur Fiktionen erzählen und Filme zeigen können. Ziel ist, eine mögliche systematische Motivgeschichte des Computers in exemplarischen Schlaglichtern mit ausgesuchten Filmbeispielen zu skizzieren. Sie bleibt notwendig unabgeschlossen – nicht nur des begrenzten Raumes in einem Sammelbandbeitrag wegen, sondern auch, weil die Evokationen, die der Filmcomputer beim Zuschauer weckt, ständigen historischen Wandlungen unterliegen und sowieso der je eigenen Mediensozialisation des Betrachters geschuldet sind. Ansätze für eine filmwissenschaftliche Betrachtung des Motivs ›Computer im Film‹ sind kürzlich geliefert worden.4 Allein die kulturwissenschaftliche Betrachtung der filmischen Computerdarstellungen steht angesichts des immensen Materialfundus’ noch aus. Sie muss sich anstatt an filmphilologischen Methoden vor allem an der Mentalitätsgeschichte, der Techniksoziologie und der Medienwissenschaft orientieren. Dies beinhaltet sowohl einerseits eine Konzentration auf die diskursive Verhandlung des Apparates ›Computer‹ innerhalb der Filme als auch andererseits die noch wenig berücksichtigte Frage, wie Filme durch die Darstellung realer Computer als Chronisten an einer Mediengeschichtsschreibung teilnehmen, die neben der plotimmanenten Verhandlung der Geräte immer auch ihr technisches So-Sein vor Augen führt. Fragt die Filmwissenschaft also, mit welchen ästhetischen Mitteln Computer im Film dargestellt werden und was daraus für das filmische Narrativ resultiert, so stellt eine kultur- und medienwissenschaftliche Perspektive die Frage, warum Computer (so und nicht anders) gezeigt werden, was die Darstellung eines Computers über den zeitgenössischen Blick auf die Technologie verrät und auf welche Weise der Film durch seine ästhetischen Möglichkeiten an einer Konstruktion von Mediendifferenz beteiligt ist.
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quenz aus dem Archiv. Um Filme als technikhistorische Speicher soll es deshalb auch gar nicht gehen; sie werden andernorts fortlaufend dokumentiert. Vgl. dazu: James Carter: Starring the Computer. Computers in Movies and Television, o.J., online: http://www.starringthecomputer.com [letzter Zugriff am 15.09.2011]. Sherry Turkle: Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur, Reinbek 1984, S. 10. Vgl. Alexander Florin: Computer im Kino. Die narrative Funktion von Computern in US-amerikanischen Filmen, Nordersted 2009.
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Gerade dieser letzte Aspekt ist im Hinblick auf die Medienreflexion, die der Film betreibt, wenn er andere Medien inszeniert, stets zu berücksichtigen. Die Computer, die wir im Film sehen – und seien es technikhistorische Artefakte, die dort zur Auferstehung kommen –, sind stets auch filmische Konstruktionen, mit denen das eine Medium (Film) seine Möglichkeiten durch einen Vergleich mit dem anderen Medium (Computer) exploriert. Dabei kommt nicht selten heraus, dass der Computer im Film die vorhandenen technischen Möglichkeiten des Films übernommen hat und erweitert: Wenn etwa virtuelle Welten inszeniert werden, muss die Immersion nicht durch filmische Tricks evoziert werden, sie ist im Computer durch virtual reality erreichbar. Oder wenn ein Blick des Schauspielers in die Kamera Kommunikation mit dem Zuschauer suggeriert (unter Ignoranz der Tatsache, dass seit dem Filmdreh beliebig viel Zeit vergangen ist und der Blick also immer einer in die Zukunft der Filmprojektion ist), dann erreicht der Computer diese Kommunikation durch echte Interaktivität. Viele der in diesem Beitrag erörterten Filmbeispiele basieren auf jenem Reflexionsbestreben des Mediums Film – ja, setzen es sogar voraus, damit der Computer im Film mehr ist als ein Requisit. Ansätze zu diesen Sichtweisen möchte ich im Folgenden vorstellen, während ich vier Eigenschaften des Filmcomputers untersuche: als raumfordernder Prozess, als beseelter Apparat, als verschlingende Maschine und als Werkzeug spielerischer Wirklichkeitserzeugung.
Heimcomputer Der Computer hat seinen Weg von Militär und Forschung über die Wirtschaft bis in die Privatsphäre innerhalb von nur 30 Jahren hinter sich gelegt. Die Computerisierung des Alltags seit Beginn der 1970er Jahre5 hat sehr früh ihre Spuren in der Kulturproduktion hinterlassen. Neben der Lebensqualitätssteigerung, Quantensprüngen in der Wissenschaft durch Berechnungsbeschleunigung oder der Beseitigung des ›menschlichen Makels‹ in der militärischen Strategieentwicklung haben Computer, je näher sie uns im Alltag gekommen sind, aber auch stets Ängste ausgelöst: Was, wenn wir vom Computer und seinen Leistungen abhängig werden? Was, wenn er seine Überlegenheit gegen uns ausspielt? Was, wenn der Computer zu intelligent wird und aufgrund seiner über- bzw. unmenschlichen Fähigkeiten Ansprüche stellt, die wir nicht erfüllen wollen? Etliche Spielfilme werfen diese Fragen auf, indem sie Computer zeigen, die sich des menschlichen Wohnraums bemächtigen, den menschlichen Bewohner darin ein- oder daraus aussperren, sexuell zudringlich werden oder mit dem Leben ihres Besitzers spielen. Zwei Beispiele dafür sind COLOSSUS: THE FORBIN PROJECT (J. Sargent, USA 1970) und HARDWARE (R. Stanley, GB/USA 1990).
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Am 15. November 1971 stellt die Firma Intel den ersten Ein-ChipMikroprozessor 4004 vor, der die Kostenvergünstigung und Miniaturisierung des Computers so weit vorantreibt, dass die Geräte bald für den Privatgebrauch erschwinglich werden. Vgl. Paul E. Ceruzzi: Eine kleine Geschichte der EDV, Bonn 2002, S. 262ff.
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Als extension of men’s brain – so versteht nicht nur Marshall McLuhan 1968 den Computer,6 sondern zwei Jahre später auch der Ingenieur Dr. Charles Forbin, der den »intelligentesten Computer der Welt« erfunden hat. Dieser soll die Atomwaffen der USA kontrollieren, weil er schneller und zuverlässiger ist als das menschliche Personal. Colossus, so der nicht von ungefähr stammende Name des Gerätes,7 ist tief in einem Berg untergebracht. Dort soll er sicher vor sowjetischen Atomwaffen sein. Doch bei Inbetriebnahme entdeckt der Rechner, dass in der UdSSR ein ebensolcher Computer mit dem Namen Guardian ans Netz (!) gegangen ist und verbindet sich mit diesem. Zusammen übernehmen sie die Kontrolle über die Kernwaffendepots beider Lager und beginnen, die Menschheit zu erpressen. Sie verschmelzen zu einem elektronischen Bewusstsein, das sich fortan als World Control bezeichnet, und reißen die Regentschaft über die Welt an sich. Jeder Versuch, sie zu sabotieren oder in ihrer Potenz zu schwächen, scheitert.
Abb. 1: Dr. Charles Forbin unter Beobachtung des Computers Colossus in COLOSSUS: THE FORBIN PROJECT
Schließlich stellt Colossus Forbin unter surveillance (vgl. Abb. 1), beobachtet jeden seiner Schritte und schreibt ihm einen streng geregelten Tagesablauf vor. Nur einen Freibereich, den der Sexualität, kann sich Forbin erstreiten, und so trifft er sich regelmäßig mit einer Mitarbeiterin, die er Colossus als seine »Mistress« vorstellt, mit der er jedoch lediglich Informationen austauscht. Die Verschwörung gegen Colossus schlägt jedoch abermals fehl und der Supercomputer richtet seine Atomraketen nun auf die noch nicht von ihm kontrollierten Gegenden der Welt aus, um auch diese zu unterwerfen. Sein
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»The computer is the most extraordinary of men’s technological clothing; it is an extension of our central nervous system. Beside it, the wheel is a mere hula-hoop.« (Marshall McLuhan: War and Peace in the Global Village, Bantam/New York 2001, S. 35) Der Colossus MARK II war der erste Computer, der in Bletchley Park während des Zweiten Weltkriegs zur Dechiffrierung deutscher Militärnachrichten eingesetzt wurde. Vgl. P. E. Ceruzzi: Eine kleine Geschichte der EDV, S. 44.
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Argument: Er bringt der Menschheit Frieden und ihr kann es schließlich egal sein, unter welcher Zwangsherrschaft sie in jenem Frieden lebt. Der Film basiert auf dem ersten von drei Romanen, die der US-amerikanische Science Fiction-Autor Dennis Feltham Jones 1966, 1974 und 1977 geschrieben hat. Sein Motiv des die Menschheit zum Frieden zwingenden Computers hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Tradition (bekannt etwa aus dem Film THE INVISIBLE BOY, H. Hoffman, USA 1957). Es bildet einen ›logischen Gegenpol‹ zur unlogischen, sich immer weiter zuspitzenden Eskalation des Kalten Krieges. Interessant an COLOSSUS: THE FORBIN PROJECT ist vor allem die Technik, mittels der sich der Computer nach und nach in die Lebensbereiche der Menschen hineinzwängt. Zunächst lediglich mit einem zweizeiligen Dioden-Display und einer Schreibmaschinentastatur als Eingabe-Einheit ausgestattet, verlangt es ihn schon bald nach mehr und anderem Input: Kameras sollen installiert werden, um Forbin zu überwachen und zuletzt sogar eine Audio-Einheit, mit der Colossus mit seinen menschlichen Untergebenen kommunizieren kann. Die Angst des freien (US-)Bürgers, überwacht zu werden, sich also in jenem autoritären System wiederzufinden, das man doch eigentlich zum Feindbild erklärt hat, offenbart sich in COLOSSUS: THE FORBIN PROJECT deutlich. Vier Jahre vor der Watergate-Affäre Richard Nixons beschwört der Film dieses Angstbild der immer paranoider werdenden US-amerikanischen Politik. Dass der amerikanische und der sowjetische Supercomputer hier sogar gemeinsame Sache machen, um eine weltweite Tyrannei zu etablieren, verdeutlicht diese Identifizierung. Hinter der kalten Logik der Maschine offenbart sich zwar ein humanistischer Gedanke, den der Filmcomputer allerdings auf einen zynischen Nenner bringt: Die Menschheit wird der Freiheit beraubt, ihre Apokalypse selbst herbeizuführen. COLOSSUS: THE FORBIN PROJECT ist zuvorderst eine militärische Utopie. Der ›Überwachungsraum‹, den der Computer einrichtet, ist ein künstlicher. Das 1968 von der militärischen Forschungsbehörde DARPA konzipierte Computernetzwerk ARPA (aus dem später das Internet hervorgegangen ist) scheint hier prototypisch auf. Und auch wenn es nur zwei Rechner sind, die vernetzt werden – das Resultat ist dasselbe: Unzerstörbarkeit aufgrund von Dezentralisierung. Versuche, die Verbindung zu kappen, führen zu schnell etablierten ›Ausweichrouten‹: exakt dieselbe Idee, die ARPA verfolgen sollte. Die Tatsache, dass Colossus in einem unterirdischen Atombunker untergebracht ist und von dort mit der Weltzerstörung droht, macht ihn zu einer jener Doomsday-Maschinen, die Herman Kahn 1960 beschrieben hat8 und die ihren ersten filmischen Niederschlag in DR. STRANGELOVE OR: HOW I LEARNED TO STOP WORRYING AND LOVE THE BOMB (S. Kubrick, GB 1964) gefunden haben. Aufgrund der noch geringen Reichweite seiner Schnittstellen kann Colossus allerdings von Forbin belogen werden und muss seine data range nach umgekehrtem McLuhan’schen Prinzip zunächst durch menschliche Kommunikation ausweiten, um so seinen Machtbereich zu erweitern. Um in letzter Konsequenz physisch bedrohlich zu werden und nicht bloß durch gefährliche Fehlfunktionen der Peripherie in Erscheinung zu treten, fehlt Colossus jedoch ein entscheidender Aspekt: ein beweglicher Körper. Diesen
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Vgl. Herman Kahn: On Thermonuclear War, Princeton 1960, S. 144-160.
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konstruiert sich ein Filmcomputer 1990 in Richard Stanleys Dystopie HARDWARE.
In HARDWARE ist es (scheinbar) ein Roboter,9 der sich des Wohnraums der Künstlerin Jill bemächtigt. HARDWARE ist ein postapokalyptischer Film. Diese Genrezugehörigkeit verstärkt das Parabelhafte der Story, denn die Zukunft, die Stanley in seinem Film zeichnet, ist besonders durch ihre räumliche Dichotomie von Innen und Außen/Ein- und Ausschließung bestimmt. Dies gibt dem beobachteten Motiv eine gänzlich neue Qualität, denn ›Draußen‹, das ist in HARDWARE gleichbedeutend mit Krankheit, Verstrahlung, Gewalt, Krieg und Perversität. ›Drinnen‹ hingegen steht für Privatheit, Sicherheit, (relative) Reinheit und Frieden. In HARDWARE wird das Konzept der Privatheit, mithin das der Wohnung überhaupt, sozusagen auf seinen deutlichsten Nenner gebracht: Während draußen barbarische, apokalyptische Zustände herrschen, ist drinnen das kleinbürgerliche Leben noch halbwegs in Ordnung. Und gesichert wird diese Ordnung von einem Heim-Computer (vgl. Abb. 2).10
Abb. 2: Der Roboter BAAL hat sich in HARDWARE der Homecomputer bemächtigt
Der Heim-Computer von Jill weckt sie, kocht für sie Tee, führt sie durch die Fernsehprogramme, spricht mit ihr und verwaltet den Einlass zu ihrer Wohnung: Ein pneumatisch gesteuertes Tor mit scharfen Zacken an den Rändern hält die Obdachlosen, die im Hausflur des Gebäudes dahinvegetieren, draußen. Fast wie ein zahnbewehrtes Maul sieht die Tür aus – und sie wird diese Funktion im Film auch noch bekommen. Die Privatheit muss gelegentlich 9
Roboter als Emanationen des Computers möchte ich nur am Rande in die Thematik einführen, da das Sujet ›Roboter im Film‹ eine ganz eigene Tradition – auch in der Literatur- und Kulturgeschichte – besitzt als der Computer. In HARDWARE interessiert hier deshalb vor allem der Roboter als »bodily extension of the computer brain«, um es in McLuhan’scher Diktion zu formulieren. 10 Die Komposita Heim- und Personal Computer wären in meinem Argumentationszusammenhang auch »anthropotechnisch« im Sinne von Peter Sloterdijk zu verstehen.
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aufgehoben werden, damit jemand herein- oder hinausgehen kann. Das ist zumeist Jills Freund Mo, der zu Filmbeginn nach einem seiner zahlreichen Trips aus der postapokalyptische Wüste nach Hause zurückkehrt und Jill etwas mitbringt: die Überreste eines Kampfroboters mit dem abermals sinnfälligen Namen BAAL – Biomechanical Autoindependent Artificial-Intelligent Lifeform, aber eben auch das hebräische Wort für ›Ehemann‹. Und dieser Roboter beginnt nun unbemerkt von Jill die Macht im Apartment an sich zu reißen, indem er sich an den Heim-Computer anschließt. Dass Mo, ein Mann, ja, durch eine Handprothese selbst schon ein Cyborg, diese Gefahr mit in die Privatsphäre Jills, der Frau, einschleppt, verdeutlicht eine interessante Struktur. Das Männliche ist in HARDWARE mit dem Außen konnotiert, das Weibliche mit dem Innen. Eine Verbindung, die kulturgeschichtlich nicht ohne Grundlage ist: Die Frau gilt immer schon als ›Hüterin des Hauses‹ – wegen ihrer ›Ähnlichkeit‹ zu diesem: »Der weibliche Körper wurde als unadäquates Haus gesehen, weil seine Öffnungen nicht geschlossen seien; somit bedarf die Frau, um ihre Seele zu schützen, immer eines zweiten Hauses – und die Architektur des zweiten Hauses wird zur männlichen Kontroll- und Ordnungstätigkeit.«11 Ein Angriff auf die Privatsphäre der Frau ist in diesem Kontext immer auch ein Angriff auf ihren Körper, ein Eindringen in ihre Wohnung kommt einer Vergewaltigung gleich. Mit BAAL hat sich allerdings ein ›fremder Mann‹ einschleichen können, da er zunächst als Maschine getarnt war. Später zeigt sich jedoch, dass er durchaus mit sexuellen Attributen und Interessen ausgestattet ist: In einer Sequenz fährt er einen penisartigen Bohrer aus, um die am Boden liegende Jill damit von unten zu penetrieren. Damit wird er sexueller Konkurrent von Mo, der BAAL zwar in Jills Wohnung gebracht hat, ihn nun jedoch zu vernichten versucht, um dort der einzige Mann zu sein. Und der Roboter ›denkt‹ genauso: Ein Nachbar, der zuvor mit einem Teleskop seine Blicke in Jills Apartment geschleust hat, nutzt die Gelegenheit, als Mo nicht da ist, und stattet ihr einen Besuch ab. Unter dem Vorwand, ihre (von BAAL kontrollierte) Tür zu reparieren, startet er anzügliche Annäherungsversuche. Der Roboter tötet ihn und verriegelt den Eingang zur Wohnung. Mo gelingt es zwar, bis zur Tür vorzudringen, diese öffnet und schließt sich jedoch nur noch nach dem Willen des mittlerweile vollständig vom Roboter kontrollierten Heim-Computers. Nachdem es Mo unter erheblichen Verlusten (ein Sicherheitsdienst-Mitarbeiter wird von der Tür in Hüfthöhe in zwei Hälften ›zerbissen‹) gelingt, die Wohnung zu betreten und er sich dort dem Roboter stellt, kommt es zu einem Zweikampf, der überraschender- aber auch konsequenterweise vom Männlicheren der beiden, BAAL, gewonnen wird. Denn es geht schon längst nicht mehr bloß darum, den Eindringling physisch zu entfernen, sondern den Raum, den er okkupiert hat, zurückzuerobern. Und das ist mit martialisch-männlicher Kriegstechnik kaum zu bewerkstelligen, sondern nur durch eine Re-Effeminierung des Apartments. Jill hackt sich also in ihren Heim-Computer ein, verschafft sich einen Überblick über ihr Terrain und arbeitet eine Strategie gegen BAAL aus, die in den Konnotationskomplex des Films passt: Was hier von außen eingedrungen ist, ist nicht nur schmutzig (Mo wird von Jill zuerst einer Geigerzähler-Unter11 Irene Nierhaus: Raum – Geschlecht – Architektur, Wien 1999, S. 23.
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suchung unterzogen, bevor er das Apartment betreten darf), sondern sogar der Schmutz (als Quintessenz für all das, was für das ›Draußen‹ steht) selbst. Was wäre also konsequenter als den Eindringling zu waschen? Jill lockt BAAL ins Badezimmer unter die Dusche, lässt ihn gefährlich nahe an sich herankommen (so nahe, wie ihr Mo einige Sequenzen zuvor unter der Dusche gekommen war) und dreht das Wasser auf: Ein Kurzschluss beendet die Existenz der Maschine und damit den Film. Die hier beispielhaft vorgestellten Filme zeigen nicht nur recht deutlich, dass der Verdacht, der dem Computer entgegengebracht wird, nämlich zu einer autoritären Instanz innerhalb der menschlichen Privatsphäre zu werden, durch zwei Filmjahrzehnte stabil geblieben ist. Auch die Fragilität des Privaten wird dadurch unterstrichen, dass es im Prinzip Produkte des Menschen selbst – elektronische Geräte – sind, die diese Errungenschaft der Moderne immer wieder gefährden. Damit ›privatisieren‹ die Filme allerdings lediglich ein Problem, das bereits zwei Jahrzehnte zuvor im militärischen Sektor aufgetaucht ist: Sobald es Menschen mit Maschinen zu tun haben, entsteht Emergenz. Der Mensch ist immer schon der Unsicherheitsfaktor Nummer Eins in der militärischen Logik gewesen. Besonders problematisch ist er aber dort, wo er sich der Überwachung entziehen kann. Wo es geht, muss er deshalb durch Maschinen ersetzt oder von ihnen kontrolliert werden.
Der Geist in der Maschine Die zuvor vorgestellten Filmcomputer hatten bereits eines gemeinsam: Sie besaßen Verstand in dem Maße, dass sie unabhängig vom Willen ihrer Programmierer oder Besitzer Entscheidungen über sich und ihre Umwelt gefällt haben. Dies zählt zu den Fähigkeiten, die einem Wesen mit Bewusstsein zugesprochen werden, und ist Grundlage für die moralische Bewertung seiner Handlung. Zumindest die Justiz spricht ausschließlich Menschen diese Fähigkeit zu, nach eigenem Willen gut oder schlecht zu handeln. Dass dieses Vermögen qua Evokation im Film auf den Computer projiziert wird, macht das Erzählpotential der Werke aus und weist auf eine lange Diskussion zurück. Seit ihren Anfängen beschäftigt sich die Kybernetik mit der Frage, ob es denkende Maschinen (also Künstliche Intelligenz) geben kann.12 In der Kultur- und Literaturgeschichte tauchen beseelte Automaten seit der griechischen Antike auf und es folgt einer thematischen Stringenz, dass das Zeitalter der Industrialisierung immer mehr dieser Alptraum-Phantasien hervorbringt. Der Computer scheint die Realisierung dieser Vision zu sein. Die Möglichkeiten des ›Elektronengehirns‹, bestimmte Fähigkeiten des Menschen (vor allem seines Denkens) zu automatisieren, lassen in der Science Fiction bald das Motiv des intelligenten Computers auftauchen. Mortimer Taube, ein USamerikanischer Kybernetiker, setzt sich 1961 mit der Frage auseinander, ob 12 Maßgeblich an der Debatte über Künstliche Intelligenz beteiligt sind Norbert Wiener und Alan Turing – letzterer wirft in einem für die Computerwissenschaft paradigmatischen Aufsatz diese Frage bereits im Titel auf. Vgl. Alan Turing: »Computing Machinery and Intelligence«, in: Ders.: Intelligence Service. Schriften, Berlin 1987, S. 147-182.
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das, was Computer tun, überhaupt mit dem menschlichen Denken vergleichbar ist. Er gelangt zu der Ansicht, dass Maschinen das Gehirn weder strukturell (aufgrund der fundamentalen Unterschiedlichkeit von Maschine und Organ) noch funktionell (aufgrund des mangelhaften Wissens, wie ein Gehirn funktioniert) zu simulieren in der Lage sind, ja, dass es überhaupt fraglich ist, ob eine Maschine wie ein Mensch denken kann, denn: »Die Funktion des Gehirns durch eine Maschine zu simulieren, das heißt, eine Maschine zu bauen, die Informationen verarbeitet, um die Erhaltung eines biologischen Organismus sicherzustellen, von dem sie selbst integraler Bestandteil ist, ganz abgesehen von der Gattung, zu dem der biologische Organismus gehört. Solange nicht jemand ganz spezielle Vorstellungen darüber hat, wie man eine Maschine dieses Typs bauen kann, erscheint es ratsam, das Thema der me13 chanischen Simulation des menschlichen Gehirns ganz fallen zu lassen.«
Das Denken lässt sich also nicht auf das Gehirn reduzieren, es ist eine Funktion des gesamten biologischen Systems Mensch.14 Nur in der Kunst können Maschinen denken und allein dadurch wie Menschen sein. Diese Diskussion um die (Un-)Möglichkeit von Denkmaschinen wird bereits in den 1950er Jahren im Science Fiction-Film aufgegriffen. Eine der verblüffendsten Adaptionen findet das Motiv 1968 in Arthur C. Clarkes Roman 2001 – A Space Odyssey und dem gleichnamigem Film 2001 – A SPACE ODYSSEY (S. Kubrick, GB/USA 1968). Darin wird unter anderem die Geschichte des Computers HAL 9000 erzählt, der einen bemannten Raumflug zum Jupiter begleitet (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Der Supercomputer HAL 9000 in 2001 – A SPACE ODYSSEY
HAL gilt als das ausgereifteste Elektronengehirn seiner Zeit und ist sich seiner Unfehlbarkeit selbst sicher. Mit leichter Arroganz kontert er Fragen über 13 Mortimer Taube: Der Mythos der Denkmaschine. Kritische Betrachtungen zur Kybernetik, Reinbek 1969, S. 77. 14 Körperintelligenz zu einer Facette der KI zu machen, ist allerdings zwischenzeitlich auch Thema von Informatik und Robotik.
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seine Fähigkeiten und streitet dann einen später tatsächlich von ihm begangenen Fehler vehement ab. Die Tatsache aber, dass sein UnfehlbarkeitsBewusstsein auf einen tatsächlichen Fehler trifft, führt seine menschlichen Begleiter zu der Überzeugung, dass man seiner Funktionalität nicht mehr trauen kann und er – zumindest seine höhere ›Gehirnfunktion‹ – abgeschaltet werden muss. HAL, der im gesamten Raumschiff Kameraaugen besitzt, gelingt es, diesen Plan zu durchschauen15 und er beschließt, die menschliche Besatzung des Schiffes zu töten, um die Mission im Alleingang zu beenden. In dem Moment, in dem es Dave Bowman, dem letzten lebenden Astronauten, gelingt, HALs Mordplänen zu entgehen, entfaltet sich das ganze dramatische Potential dieses Computers: Er redet auf Dave ein, doch dieser lässt sich nicht beirren, betritt das Logic Memory Center und beginnt nach und nach alle Module für die höheren Funktionen von HAL zu deaktivieren, indes HAL ihm mitteilt, er habe Angst. Der Verlust der geistigen Fähigkeiten geht schließlich einher mit dem Verlust von Sprachvermögen. Das Sprechen war nicht nur im Film immer schon ein Indiz für Künstliche Intelligenz: Bereits der sogenannte Turing-Test legte fest, dass ein Computer dann als intelligent gelten kann, wenn ein menschlicher Gesprächspartner nicht mehr unterscheiden kann, ob er mit einem Menschen oder einer Maschine spricht.16 So steht also das Stummstellen HALs für dessen Unschädlichmachung. Interessant ist hier, dass sich Kubrick auf ein Werk der frühen Computerkunst beruft: HALs finales Regressionsstadium und damit sein letzter Ausdruck von Sprachfähigkeit offenbart sich im Singen des ihm von seinem Programmierer beigebrachten Kinderliedes Daisy Bell, welches gleichzeitig das erste von einem Computer gesungene Lied überhaupt war.17 15 Kubrick, der sich ansonsten darauf verlässt, dass das Publikum die intelligiblen Fähigkeiten des Filmcomputers richtig einschätzt, greift an dieser Stelle auf den etwas hilflos wirkenden Trick zurück, das verschwörerische Gespräch der Astronauten aus der Perspektive von HAL zu zeigen und dabei auf ihre Münder in Großaufnahme zu schneiden: HAL liest von den Lippen ab und – wie um sicher zu gehen – sagt dies an späterer Stelle auch noch einmal. Es entsteht hier das Gefühl, als dränge sich die tradierte Form filmischer Dialog-Inszenierung (Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen mit Point of View-Perspektiven) vor die implizit gewusste Tatsache, dass HAL stets stiller Beobachter von allem ist, was sich vor seinen Kameraaugen abspielt. Wir sehen sozusagen HALs ›Gedankenfilm‹ und werden dadurch daran erinnert, dass wir es nicht mit einer Maschine, sondern mit einer Maschine im Film zu tun haben. Eine tröstliche Erinnerung – insbesondere vor dem Hintergrund, dass Computer heute längst diese Eigenschaft als »Sehmaschinen« im Sinne von Paul Virilio besitzen. 16 Vgl. Alan Turing: Computing Machinery and Intelligence, S. 149f. 17 Es wurde 1961 auf dem Mainframe-Rechner IBM 704 von John Kelly, Carol Lockbaum und Max Mathews programmiert. In der (von Kubrick wie bei all seinen Filmen auch hier persönlich authentisierten) deutschen SynchronFassung von 2001 – A SPACE ODYSSEY singt HAL jedoch nicht Daisy Bell, sondern Hänschen klein, was höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass dies das erste von einem deutschen Computer gespielte instrumentale Lied ist: Zur Überprüfung der Programmabläufe hatte man den ZuseComputer Z22 mit einer Audioausgabe versehen. In Abwesenheit des Fir-
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16 Jahre später kommt HAL in der Fortsetzung 2010 – THE YEAR WE MADE CONTACT (P. Hyams, USA 1984) wieder zu Bewusstsein. Anfangs übernimmt jedoch ein ›weiblicher‹ Computer im Film seine Rolle. Zu Beginn unterhält sich der HAL-Entwickler Dr. Chandra mit SAL 9000, dem weiblichen Pendant des Supercomputers, über einen Versuch, den der Wissenschaftler anstellen möchte: SALs höhere Gehirnfunktionen sollen deaktiviert und dann wieder aktiviert werden, damit Chandra sehen kann, ob der Computer danach – ähnlich einem narkotisierten Menschen – noch einwandfrei funktioniert. Da SAL wie schon zuvor HAL emotionale Zustände haben (oder simulieren) kann, ist sie sich unsicher, was mit ihr geschehen wird. Sie fragt: »Werde ich träumen?« und Chandra antwortet ihr wie selbstverständlich: »Natürlich, alle höheren Lebewesen träumen.« Die Anthropomorphisierung des Computers ist in 2010 – THE YEAR WE MADE CONTACT noch weiter fortgeschritten. Die Rechner sind allgegenwärtig (überall sind Laptops, Monitore und Tastaturen zu sehen) und die Frage, ob Leben auf Silikonbasis dieselben Rechte habe wie Leben auf Kohlenstoffbasis, ist zumindest für Chandra zugunsten des Computers geklärt. Als er in der Umlaufbahn von Jupiter schließlich auf HAL trifft, wird dieses Thema konkret. Der Informatiker, der von der übrigen Besatzung des Bergungsschiffes spaßeshalber als »computer brain surgeon and psychiatrist« tituliert wird, tritt mit dem wiedererweckten HAL 9000 tatsächlich in ein therapeutisches Gespräch.18 Denn es gilt, den Computer und das verlassene Raumschiff zu opfern, damit das Bergungsschiff und seine Besatzung vor einer nahenden Katastrophe rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden können. HAL soll also zum Suizid überredet werden. Chandra teilt ihm seine letzte Mission wie einem Patienten die letale Diagnose mit. Die Maschine wird hier nicht mehr bloß als Werkzeug eingesetzt, sondern in ihren Widersprüchen und Ängsten als lebendiges Wesen anerkannt. 2010 – THE YEAR WE MADE CONTACT erweitert damit letztlich die im Vorgänger inaugurierte Computer-Ethik zu eimenchefs hatten sich 1958 einige Ingenieure den Spaß gemacht, die Z22 so zu programmieren, dass der Lautsprecher das Lied Hänschen klein ausgab. Vgl. Horst Zuse: Broschüre über Konrad Zuses Werk, o.J., online: http://www.horst-zuse.homepage.t-online.de/zuse-broschuere.html [letzter Zugriff am 15.09.2011]; Stefan Höltgen: HAL 9000 und die Z22, 2010, online: http://www.simulationsraum.de/blog/2010/04/20/haenschenklein/ [letzter Zugriff am 15.09.2011]. 18 Damit ironisiert Arthur C. Clarke, der auch die Romanvorlage zu 2010 – THE YEAR WE MADE CONTACT schrieb, ein 1966 aufgetretenes Phänomen der KIForschung: Der Informatiker Joseph Weizenbaum hatte damals – ganz im Sinne des Turing-Tests – das Programm ELIZA entwickelt, das über einen Parser die eingegebenen Sätze eines ›Patienten‹ auf relevante Stichworte durchsuchte und dazu scheinbar passende therapeutische Fragen entwickelte, so dass für den ›Patienten‹ der Eindruck eines psychologischen Gesprächs entstand. Vgl. Joseph Weizenbaum: »ELIZA – A Computer Program for the Study of Natural Language Communication between Man and Machine«, in: Communications of the ACM 9/1 (1966), S. 36-45. Später entwickelte sich Weizenbaum – auch aufgrund des Zuspruchs zu ELIZA – zu einem der entschiedensten Gegner der KI-Forschung. Vgl. Joseph Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt/Main 1977.
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ner praktischen Philosophie im Umgang von Kohlenstoff- und SiliziumLebewesen miteinander. Doch der Geist, den die Science Fiction in die Maschine einziehen lässt, ist nicht immer ein philosophisches Spiegelbild zum menschlichen Pendant, sondern in den meisten Fällen sein Widersacher, der dann oft auch in der Zweitbedeutung von Geist als übernatürliches Wesen – etwa als Geist eines verstorbenen Verbrechers – in Erscheinung tritt. Dessen Image amalgamiert dann mit dem der bedrohlich gewordenen Technologie, deren Unheimlichkeit auf diese Weise gleichgesetzt wird mit der von Gespenstern und Dämonen. Damit überschreitet der Computerfilm ab den 1980er Jahren deutlich die Grenze des Science Fiction- zum Horror-Genre. Der Spielfilm GHOST IN THE MACHINE (R. Talalay, USA 1993) liefert ein Beispiel hierfür. Darin findet sich eine recht frühe und hochinteressante Horror-Vision von den Möglichkeiten und Gefahren des Internets, das damals (zumindest der breiten Öffentlichkeit) noch allein vom Hörensagen bekannt gewesen sein dürfte. Talalays Film erzählt von einem Serienmörder, der sich seine Opfer aus gestohlenen Adressbüchern aussucht und deshalb »Address Book Killer« genannt wird. Dieser erleidet einen schweren Autounfall und stirbt kurz darauf in einem Krankenhaus in einer CT-Röhre. Die RöntgenStrahlung und die Anbindung des Computertomographen ans Krankenhausnetzwerk bilden die fantastische Erklärung dafür, dass sein Geist in die elektronischen Netze entweicht und von dort aus weiter sein Unwesen treiben kann. Hauptangriffsziel ist eine alleinstehende Mutter, die kurz zuvor in einem Computerstore ihr Adressbuch hat einscannen lassen, aus welchem der Killer sich nun bedient. Der Frau kommen ihr computerbegeisterter Teenager-Sohn sowie ein Ex-Hacker zur Hilfe. Zusammen entdecken sie die virtuelle Natur des Bösewichtes und ersinnen einen Plan, wie sie dessen NetzExistenz beenden können: Sie versperren ihm jedweden Netzzugang in das Haus seiner Opfer und locken ihn mit Hilfe eines Computervirus in das Netzwerk eines nahe gelegenen Teilchenbeschleunigers. Dort soll ihm im Magnetfeld des Synchrotrons der Garaus gemacht werden. GHOST IN THE MACHINE versucht alle Möglichkeiten des Motivs für seine Story auszuwerten. So sieht man den virtuellen Killer durch alle möglichen elektrischen und elektronischen Netze reisen und seine Opfer in trickreichen Varianten ermorden: durch Elektrifizierung, mit Mikrowellen und durch Manipulation des Computers einer Crashtest-Anlage. Alle Arten von Netzen dienen ihm zur Tatanbahnung: das Radionetz, das Telefonnetz, das Stromnetz, das Internet und sogar das Straßenverkehrsnetz (mit Hilfe einer GPSähnlichen Lokalisierungssoftware, mit der er den Aufenthaltsort eines OpferAutos und dessen Autoradio ermittelt) (vgl. Abb. 4). Einfach abschalten lässt sich der Geist nicht, weil er nicht mehr an die Physis eines Computers gefesselt ist. Als reine Virtualität muss er zunächst zurück in die physische Welt gezwungen und aus seinen Netzen ausgesperrt werden. Er braucht wie seine Opfer eine ›Adresse‹, bevor man ihm ›zu Leibe‹ rücken kann. Dass der Serienmörder es selbst vor allem auf Adressen abgesehen hat, hatte ihn für seine Netz-Existenz ja auch geradezu prädestiniert: Wie ein MaschinenspracheProgramm arbeitet er seine Stacks ab und lässt seine Aufmerksamkeit von Adresse zu Adresse wandern, bis er ans Ende seines Codes gelangt – er schickt sich selbst über das Netz von Angriffsziel zu Angriffsziel. Heute nennt man so etwas einen Computer-Wurm.
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Abb. 4: Der Geist des Serienmörders beobachtet in GHOST IN THE MACHINE sein Opfer von der anderen Seite des Monitors
Die Frage nach der Maschine, die das menschliche Gehirn simuliert, ist – so schreibt Mortimer Taube – auch dialektisch als Rückfrage an uns selbst zu verstehen: »Wenn der Mensch letztlich nicht mehr ist als eine Maschine, und zwar in dem Sinne, in dem Descartes glaubte, Tiere seien Maschinen (Descartes nahm den Menschen aus religiösen Gründen aus dem mechanischen Bereich heraus), dann kann man die Simulation des menschlichen Gehirns durch Maschinen interpre19 tieren als die Simulation einer Maschine durch eine Maschine.«
Wenn wir (in der Kybernetik, im Film oder sonstwo) darüber spekulieren, wie sich eine Maschine verhält, der ein (menschlicher) Geist innewohnt, dann stellen wir damit zugleich Hypothesen über die Beschaffenheit von uns selbst, die Beschaffenheit unseres Geistes, die Funktionsweise unseres Gehirns in Analogie zum Computer an. Im Computerfilm wird allerdings auch der umgekehrte Weg beschritten, um die unsichtbaren Vorgänge im Computer in Begriffen unserer menschlichen Vorstellungswelt ausdrückbar zu machen – dann, wenn Menschen in den Computer hineingeraten.
[ENTER] Die Kompatibilität von menschlichem Körper und Maschine ist ein beliebtes Thema von Technikphilosophie und Kybernetik. Schon vor 130 Jahren hatte der Philosoph Ernst Kapp Maschinen zu Prothesen des menschlichen Körpers erklärt. In dieser Überlegung sind ihm zahlreiche Denker gefolgt. Bruce Mazlish geht einen Schritt weiter und stellt die evolutionäre und kulturelle Entwicklung des Menschen in direkte Abhängigkeit zu derjenigen der Maschinen: »[W]ir begreifen, daß der Mensch und die Maschinen, die er erschaffen hat, zusammengehören und daß uns Begriffe und Funktionsmodelle der ›Denkmaschinen‹ dabei helfen, die Arbeitsweise unseres eigenen Gehirns besser zu verstehen. Lange Zeit waren unser Stolz und unsere Weigerung, diese Zusammengehö-
19 M. Taube: Der Mythos der Denkmaschine, S. 76.
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rigkeit anzuerkennen, der Nährboden für ein tiefes Mißtrauen gegenüber der Technik und der gesamten Industriegesellschaft. Doch letztlich beruht ein solches Mißtrauen (für das es gute Gründe gibt, solange wir die Maschinen als etwas Fremdes ansehen, und nicht als eigene, kontrollierbare Schöpfung) auf der Verweigerung des Menschen, seine eigene Natur zu verstehen und zu akzeptieren – daß er ein Lebewesen ist, das mit den Werkzeugen und Maschinen, die er 20 baut, ein Kontinuum bildet.«
Mazlish spricht die Gründe für jenes »Misstrauen«, das uns in den bereits diskutierten Filmen begegnet ist, noch einmal an. Dieses Misstrauen taucht auf, wenn die ›Zusammengehörigkeit‹ von Mensch und Computer als gegeben dargestellt wird. Ein Beispiel liefert der Film EXISTENZ (D. Cronenberg, CDN/GB 1999), der diese Zusammengehörigkeit als eine organische Verwachsung von Technik und Körper inszeniert. Dort hat der Regisseur David Cronenberg eine Maschine bzw. ein Spiel entworfen, das wie ein ausgelagertes Organ aussieht und über die Wirbelsäule des Spielers direkt an das menschliche Nervensystem angeschlossen wird. Cronenberg entwickelt damit ein Motiv weiter, dessen Ursprung im Film bis wenigstens in die frühen 1970er Jahre zurückreicht. Dort, wo der menschliche Körper und die Maschine gemeinsame Schnittstellen besitzen – und im Prinzip ist jede Schnittstelle am Computer für ein menschliches Organ da (Tastatur: Finger, Drucker und Bildschirm: Auge, Lautsprecher: Ohr usw.) –, sehen Computerfilme nicht selten die Möglichkeit, dass der User mit der Maschine verwächst und sich in ihr auflösen kann. Dieser Eingang in den virtuellen Raum der Technologie zeigt sich in drei Abstufungen: Erstens spielen Filme um das Motiv des Hackers mit der Vorstellung, dass sich der Mensch bzw. dessen Verstand im Denken selbst durch das Netz bewegt. Eine zweite Kategorie von Filmen thematisiert ein symbolisches Eindringen des Menschen in den Rechner, indem dieser eine (virtuelle) Realität generiert, in die der Mensch mit Hilfe bestimmter Gadgets (VRHelm, Data-Glove, Data-Suite,…) immersiv eintauchen und als Avatar ein ›second life‹ leben kann. Und drittens gibt es noch Filme, die dieses Eindringen als einen unfreiwilligen Sturz beschreiben. In diesen Filmen, die zumeist von Videospielen handeln, verschwindet der Mensch nicht symbolisch, sondern physisch samt Geist und Körper in der Maschinenwelt.
HACKER 1995 ist das Internet noch fast ausschließlich von Akademikern und Studenten bevölkert, es sind die Rechenzentren der Universitäten, die sich einen Vollzeitzugang zum Netz leisten können. Doch gibt es bereits seit etwa einem Jahrzehnt auch Netze, die über die Telefonleitung und ein Modem erreicht werden können und auch Privatleuten zur Verfügung stehen. Aus diesem Jahr stammt auch der Film HACKERS (I. Softley, USA 1995). Er erzählt die Geschichte des jugendlichen Computerkriminellen Dade, der als Kind unter dem Nick »Zero Cool« wegen Einbruchs in solche Netzwerke zu einem 20 Bruce Mazlish: Faustkeil und Elektronenrechner. Die Annäherung von Mensch und Maschine, Frankfurt/Main 1998, S. 11.
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»Computerverbot bis zum 18. Geburtstag« verurteilt wird. Der Hauptplot setzt ein, als der Junge die Strafe ›abgesessen‹ hat. Er ist immer noch Hacker, nun unter dem Pseudonym »Crash Override«, und zieht mit seiner ihn alleinerziehenden Mutter nach New York. Dort bekommt er Zugang zu einer Peer Group, die sich mit Computern beschäftigt, und zu der auch die Hackerin »Acid Burn« gehört. Die Hackergruppe wird von einem Staatsanwalt verfolgt, der in der Computerjugend die Terroristen des 21. Jahrhunderts sieht. Als Dade in das Firmennetzwerk einer Ölförder-Gesellschaft einbricht und dort ein Verzeichnis mit Dateien aus dem Papierkorb auf seine Festplatte kopiert, entdeckt er, dass sich darin ein Computervirus befindet, mit dem eine Sabotage mit verheerenden Konsequenzen durchgeführt werden soll. Der Sicherheitsbeauftragte der Firma, der Hacker »The Plague«, ist der Autor des Virus und wird damit zum mächtigen Feind der Gruppe. Überdies schalten sich nun auch der Secret Service und das FBI in den Fall ein, weil es »The Plague« gelingt, die jugendlichen Hacker mit dem Sabotage-Virus in Verbindung zu bringen (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Hacking für den Frieden in HACKERS
Das, was sich HACKERS unter Hacking vorstellt, geht konform mit der damals landläufigen Vorstellung über diese Verbrechensart:21 eine in sich abgeschlossene Community von Freaks, die keiner anderen Ethik als ihrer eigenen folgt, die im ständigen Wettkampf miteinander steht und jeden Computer und jedes Betriebssystem in- und auswendig kennt. Diese Annahme korreliert mit der Darstellung von Computern und Netzwerken. Ständig sehen wir blinkende Serverschränke, glühende Leiterbahnen und animierte Flüge durch Kabel und Computergehäuse. Der Tenor ist klar: Computer sind überall und immer präsent und wer sie beherrscht, herrscht über alle verfügbaren Informationen. Den jugendlichen Hackern ein sozialkompatibles Ethos zu unterstellen, gelingt dem Film erst, als der kriminalistische Diskurs die rein virtuellen Sphären verlässt und sich dem Terrorismus in Form einer angedrohten TankerHavarie zuwendet. 21 Heute wird zwischen Hackern, die Sicherheitslücken aufdecken, und kriminellen Crackern, die diese für Verbrechen ausnutzen, unterschieden. Zur Zeit von HACKERS gab es im öffentlichen Bewusstsein nur computerkriminelle Hacker. Vgl. Christian Zimmermann: Der Hacker. Computerkriminalität: Die neue Dimension des Verbrechens. Ein Insider packt aus: »Keiner ist mehr sicher!«, München 1996 und S. Turkle: Die Wunschmaschine, S. 241-294.
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HACKERS zeichnet einen technologischen Konflikt, der immer schon auch ein politischer ist. In ihm treten die als Anarchisten diffamierten Hacker gegen eine Staatsmacht an, von der ihr Tun als terroristisch, gefährlich und unberechenbar bezeichnet wird. Den Warnungen zugrunde liegen gleichzeitig das Misstrauen gegenüber der Jugend und der mit ihr assoziierten Technologie wie auch eine Sehnsucht nach Kontrolle über den Raum. Dieser Raum hat seine euklidischen Dimensionen um virtuelle erweitert. Es ist ein unendlich großer virtueller Unterraum entstanden, zu dem nur diejenigen Zutritt haben, die das ›Sesam, öffne dich‹, das Passwort, das Know-how besitzen. Und mag der reale Raum auch immer kleiner werden – der virtuelle Raum weitet sich aus und bietet neue Möglichkeiten, die vor allem die Jugend zu nutzen weiß.
AVATARE Am Anfang der zweiten Kategorie von Computerfilmen, die den Eingang des Menschen in die Virtualität beschreiben, steht WELT AM DRAHT (R. W. Fassbinder, D 1973). Er erzählt die Geschichte des Computer-Wissenschaftlers Stiller, der im Institut für Kybernetik und Zukunftsforschung auf die Stelle seines Freundes Vollmer gesetzt wird, nachdem dieser auf mysteriöse Weise verstorben ist. Vollmers und nun Stillers Arbeit besteht in der Ausgestaltung des Programms Simulacron, in welchem eine virtuelle Realität mit bereits 10.000 Avataren entwickelt wird. Dies soll Prognosen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zulassen und insgeheim auch ein Testfeld für neue Produkte sein. Vollmer scheint eine seltsame Entdeckung gemacht zu haben, die ihn zuerst den Verstand und dann das Leben gekostet hat. Weil Stiller einer der letzten war, die ihn lebendig gesehen haben, gerät er in den Kreis der Mordverdächtigten. Aber auch ihm passiert Seltsames: Zeugen sind wie vom Erdboden verschluckt und nach einiger Zeit erinnert sich sogar niemand mehr an den Mord, der selbst aus den Zeitungen, in denen vorher über ihn berichtet wurde, verschwunden ist. In der virtuellen Welt von Simulacron entdeckt Stiller dann auf einmal Avatare, die wie verschwundene und ermordete Menschen aussehen. Eine der virtuellen Personen verrät Stiller, dass auch seine Welt nur eine Simulationswelt ist. Er ahnt nun, dass Vollmer und die Zeugen seines Mordes einfach ›wegprogrammiert‹ wurden, und macht sich auf die Suche nach einem Ausgang in die ›reale Realität‹. Wir haben es also mit einer vertrackten Handlung zu tun, die dem Zuschauer von 1973 nicht wenig Imaginationsfähigkeit abverlangt haben dürfte. Die sparsame Inszenierung von Computertechnik liefert zudem wenig Projektionsfläche für den skurrilen Plot. Ab und zu werden Server-Räume gezeigt und eine Videowand, die Szenen aus der Simulationswelt zeigt. Diese sind an ihrer Farbarmut (im Vergleich zur simulierenden Welt) zu erkennen. Der Unterschied dieser Simulation zur richtigen Welt ist wiederum optisch nicht deutlich markiert, um dem Zuschauer nicht vorab schon zu verraten, dass etwas nicht stimmt. Ein weiterer Anhaltspunkt für den Zuschauer ist die Diskursivierung der Simulation. Die Charaktere sprechen von den Welten in den Kategorien »oben« (›realere‹ Ebene) und »unten« (›simuliertere‹ Ebene). Damit wird, über das interessante topologische Denken von Wirklichkeit(sstufen) hinaus, auch eine theologische Ebene berührt. »Oben« ist die
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Götterwelt der Programmierer und User. Bei Fassbinder sind diese jedoch ›Teufel‹ im Wortsinne: Verwirrer und Durcheinanderwerfer. Sie konstruieren Realitäten und Erscheinungen von Bewusstsein, die sich über ihren Status nicht sicher sein können und ständig von ›Löschung‹ bedroht sind. Stiller ist mit philosophischem Grundwissen ausgestattet (worden) und beginnt recht bald Platons und Aristoteles’ Ideen-Lehre zu durchdenken und mit seiner Situation zu vergleichen. Der cartesianische Zweifel, der an ihm nagt, wird zudem mehrfach ethisch umgedeutet: Zum einen wird die Frage aufgeworfen, ob Avatare mit einem derartig ausdifferenzierten Bewusstsein überhaupt ›Mittel zum Zweck‹ sein dürfen oder ob dies nicht dem Menschenbild seit der Aufklärung widerspricht. Zum anderen steht bei ihm natürlich die Angst vor der Möglichkeit im Raum: Wie selbstbestimmt ist der Mensch noch gegenüber Maschinen, die, wie Simulacron, den »Sprung zum autonomen Computer« (Zitat aus dem Film!) bereits vollzogen haben? Zahlreiche Filme haben die computergenerierte virtuelle Realität für ihre Erzählungen um Verschwörungen und Dystopien genutzt. THE THIRTEENTH FLOOR (J. Rusnak, D/USA 1999) basiert, wie WELT AM DRAHT, auf Daniel Galouyes Roman Simulacron-3 von 1964. Hier wird jedoch (noch) mehr auf der Ethik der Cyber-Wesen und der Erkenntnistheorie des ›Ebenenwechsels‹ insistiert. Hilary Putnams einschlägiges Gedankenexperiment vom Gehirn im Tank hat seine filmische Entsprechung im ebenfalls 1999 erschienenen THE MATRIX (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 1999) gefunden. Hier werden alle Elemente einer ›Mensch im Computer-Erzählung‹ verarbeitet und massenkompatibel philosophisch wie theologisch aufbereitet. Dass der Film so erfolgreich werden konnte, mag vielleicht gerade an seiner (erlösungs-)mythologischen Erzählung liegen, die kurz vor Ende des Millenniums unterschwellige wie ganz reale Ängste vor den Folgen der Techniknutzung (etwa dem Y2k-Bug) verarbeitet hat.
EINSTURZ/ABSTURZ 1982 erscheint einer der für die damalige Zeit innovativsten Computerfilme: TRON (S. Lisberger, USA 1982), der eine zentrale zeitgenössische Frage stellt: Wie hat man sich das Innenleben eines Computers vorzustellen? Welche Bilder sind für die abstrakten Metaphern des Programms, der Schnittstelle, der Datei überhaupt angemessen? Zu einer Zeit, da Computer gerade die Kinderzimmer erobert hatten, ist dies eine vor allem für die Eltern nicht unwichtige Frage. Und TRON gibt darauf eine sehr gegenständliche Antwort: Anthropomorphe Wesen sind es, die den Computer der Firma ENCOM bevölkern. Diese nutzt seit kurzem das Master Control Programm, ein betriebssystemartiges Meta-Programm, welches die Funktionen aller anderen Prozesse im Rechner überwacht – vor allem aber die Schnittstellen, durch die Daten in den und aus dem Computer in die Welt gelangen. Das MCP wird allerdings bedroht von einem »unabhängigen Monitorprogramm« namens Tron, mit dem der Firmenangestellte Alan die Spuren der im Unsichtbaren ablaufenden Prozesse sichtbar machen will. Das Tron-Projekt wird daher durch das MCP stillgelegt. Zudem ist der ehemalige Firmenangestellte Flynn damit beschäftigt, sich bei ENCOM einzuhacken, um den Beweis dafür (zurück) zu erhalten, dass
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das lukrativste Programm, das fiktive Spiel Space Paranoid (sic!), ihm gehört. Die Wahrheit über seine Urheberschaft ist noch irgendwo im System verborgen und so entschließen sind Alan, Flynn und seine Freundin Lora, nachts bei ENCOM einzubrechen und in den Computer einzudringen. Der MCP ist jedoch gewappnet, digitalisiert über eine neuartige, experimentelle Schnittstelle Flynn und ›saugt‹ ihn in den Computer hinein (vgl. Abb. 6). Dort sieht er sich der despotischen Willkürherrschaft des MCP ausgesetzt. Programme aller Art, die den Glauben an ihren User nicht freiwillig aufgeben wollen, werden interniert und in einer elektronischen Arena von Gladiatoren in Videospielen (aus-)gelöscht. Als Flynn sich als User zu erkennen gibt, brechen die Programme Tron und Yori (ein Programm Loras) zusammen mit ihm aus, um zu einer Schnittstelle zu gelangen, von wo sie einen Code des Users Alan in Empfang nehmen, der die Herrschaft des MCP endgültig beendet.
Abb. 6: Flynn wird in TRON gerastert und digitalisiert
Die Anthropomorphisierung und damit Sichtbarmachung elektronischer Prozesse (selbst »Ja-/Nein«-sagende Bits fliegen durch diese Computerwelt) wirkt streckenweise wie ein naives Technikmärchen. Dies beginnt bereits beim Eintauchen in die Computerwelt, das wie ein Hubschrauberflug in eine Stadtlandschaft inszeniert wird. Damit wird nicht nur ein Match-Cut zwischen Stadt und Datenwelt realisiert, sondern auch eine visuelle Brücke für die Anthropomorphisierung geschlagen: Das Leben im Computer ähnelt dem Leben in Städten. Die Metaphorik schlägt bis in kleinste Details (Straßen, Sportarenen, Kirchen, ...) durch und stellt sich in die Tradition jener populärwissenschaftlichen Literatur zum Computer, die der Allgemeinheit seit den 1950er-Jahren nahebringen will, was es mit diesem Apparat auf sich hat und dabei immer wieder bildliche Analogien benutzt. Film als Medium ist hier an der exponierten Stelle, diese Sprachbilder endlich durch Laufbilder ersetzen zu können. Darüber hinaus ist TRON aber auch eine luzide Parabel, beschreibt virtuelle Phänomene, die erst zwei Jahrzehnte später real werden. Das TronProgramm wird mit den Attributen eines Paketfilters und Trojaners versehen, das MCP hat Funktionen eines Betriebssystems und einer Firewall. Überdies bedient sich die Geschichte von Flynn und ENCOM computerhistorischer Gründungsmythen. Es wird von Garagen-Unternehmen, Softwarediebstählen und dem Videospieleboom (Space Paranoids ähnelt im Titel sogar dem berüchtigten Spacewar!) erzählt. Die Welt im Computer wird mit den farbigsten Begriffen beschrieben: Der MCP beschwert sich etwa bei seinem Skla-
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ventreiber Sark: »Programme fliegen mit einer gestohlenen Simulation durch das System!«, und als eben diese Programme (Tron, Flynn und Yori) an ihrem Ziel, der Schnittstelle Dumont,22 angelangt sind, raunt diese(r) bedächtig: »Alles Sichtbare muss über sich hinauswachsen und in das Reich des Unsichtbaren übergehen.« Die drei zuletzt vorgestellten Filme (es gibt etliche mehr) haben bereits gezeigt, in welcher Weise Menschen und Maschinen in Kontakt miteinander treten, worin die Gefahren und die Chancen gesehen werden. Der Sache gemäß recht häufig geht es in diesen Filmen um ontologisch fundierte Verschwörungen; interessanterweise sind aber auch nicht selten Gewalt und Krieg zentrale Motive. Aggression lässt sich im Virtuellen ausagieren, ohne dass sie reale Konsequenzen hat. Krieg kann im Computer als Spiel durchgespielt werden. Macht kann über künstliche Menschen ausgeübt werden, ohne dass die Moralität darunter leidet. Was für unsere Alltagserfahrung stimmen kann, wird in diesen Computer-Filmen allerdings hinterfragt, problematisiert und ins Extrem gedacht.
Spiel-Filme Was den Computer für den Betrachter der bisher diskutierten Filme unheimlich macht, ist selten allein seine physische Präsenz. Es ist vielmehr die in ihr verborgene Fähigkeit, scheinbar Denkprozesse durchzuführen, Intelligenz zu simulieren, zu lernen und dem Menschen darin ähnlicher zu sein, als es ihm lieb ist. Erst die Software macht aus der Maschine einen Computer und aus dem Filmcomputer eine Projektionsmaschine. In den Jahrzehnten, in denen der Computer sich langsam als Motiv in der Filmgeschichte etablieren konnte, ist das Verständnis seines ›eigentlichen Charakters‹ parallel zur Selbstverständlichkeit, mit der die Maschine auch in den Alltag und die Privathaushalte Einzug gehalten hat, stetig gewachsen. Mussten Computer in den Filmen der 1950er oft noch durch Roboterkörper anthropomorphisiert oder turmhohe Maschinen-Bauten in ihrer Monstrosität als Gefahr veranschaulicht werden, so ist der Hardware-Software-Übergang heute verstandesmäßig so weit vollzogen, dass jeder Zuschauer von THE MATRIX weiß, dass das eigentliche Problem nicht auf der Maschinenoberfläche zu suchen ist. Die Ähnlichkeit der Künstlichen Intelligenz zu menschlichen Denkprozessen macht also trotz oben zitierter Kritik Taubes das Unheimliche der Computer im Film aus, weil sie die qualitative zugunsten der quantitativen Eigenschaft des Apparats anspricht. Rechnerische Geschwindigkeit kompensiert dabei mangelnde Komplexität des ›Denkvorgangs‹, dessen Basis ja bloß zwei Schaltzustände sind. Die Tatsache, dass Computer (als Emergenzmaschinen) mehr sind, als man diesen Nullen und Einsen ansieht, hat wohl schließlich dazu geführt, auch hinter komplexeren Rechenoperationen mit sozialen Dimensionen eine kühl kalkulierende Entscheidungsabwägung (ja/nein) als ethisches Prinzip zu vermuten.
22 Abermals eine christliche Metapher: Dumont ist ein heiliger Berg, zu dem sie reisen und auf dessen Gipfel sie eine göttliche Botschaft von Alan empfangen!
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Eine auf zwei Alternativen basierende Handlungslogik ist zunächst nicht unheimlich. Sie wird es jedoch, wenn emotionale und soziale Faktoren vollständig ausgeklammert werden – wenn sie in ›kalte Rationalität‹ mündet und auch moralische Entscheidungen nur noch auf Basis von Datenlagen getroffen werden (wie sich in 2001 – A SPACE ODYSSEY gezeigt hat). Gerade dies hat die Warnungen der ›kritischen Computerliteratur‹ in den vergangenen Jahrzehnten befeuert, die einen »Imperialismus der instrumentellen Vernunft«23 am Werke sieht. Geht dann die Bedrohung nicht vom Computer selbst, sondern von dessen User aus, wird dahinter oft ebenfalls diese vom Rechner übernommene ›kalte Rationalität‹ vermutet. Am deutlichsten zeigt sich dies am Diskurs über Gewalt und Computerspiele24 und deshalb natürlich auch in Filmen, die Computerspiele zum Thema haben. Hier werden Menschen von der Maschine programmiert, über die Beschaffenheit der Realität getäuscht und in die Kriminalität getrieben. In TRON, in dem es bereits zentral um Spiele ging, hatte der Computer seinen User wortwörtlich digitalisiert und in eine virtuelle Spielhölle gezogen, um ihn dort in einer Art Videospielarena auf Leben (1) und Tod (0) zu testen. Wirft man einen Blick auf die ausgeklügeltsten ›Spiel-Filme‹ der vergangenen Jahre, lässt sich leicht feststellen, dass gerade die umgekehrte Variante, in der Spiel und Wirklichkeit zur Deckung gelangen, stetig populärer geworden ist. David Cronenberg, der die Verwischung fiktionaler und faktionaler Ebenen bereits häufiger zum Gegenstand seiner Filme gemacht hatte, wirft mit dem oben bereits angesprochenen EXISTENZ die diesbezügliche Grundfrage noch einmal auf: »Sind wir noch im Spiel?«, fragt am Ende einer der Videospieler, nachdem sich ein terroristischer Überfall, der eigentlich Gegenstand des Spielplots war, nun auch in der ›realen Wirklichkeit‹ zugetragen hat. Die Frage beantwortet der Film nicht, sondern schaltet nach dem Schuss des Terroristen in die Schwarzblende – und gibt damit den Zweifel über die Realitäts- bzw. Virtualitätsebene an den Zuschauer weiter, denn es war ja auch irgendwie dieser (bzw. der Film), welcher da mit einem Schuss in Richtung Kamera an sein Ende gelangt ist. Eine eher positive Konnotation erfährt das Motiv in AVALON (M. Oshii, J/PL 2001). Dort spielen die Menschen in einer trostlosen Welt verbotene Videospiele, um der Tristesse ihres Alltags zu entfliehen. Das Aufdecken eines letzten geheimen Levels, der Class Real, führt sie schließlich in eine Simulation, die der Zuschauer-Welt in all ihrer Buntheit in nichts nachsteht, von den Spielern jedoch als Utopie erfahren wird – eine Inversion des Themas aus WELT AM DRAHT. Zumeist sind die Protagonisten der ›Spiel-Filme‹ jedoch Jugendliche, die insbesondere in der Homecomputer-Ära auch das Zielpublikum der Filme bildeten. Von solch einem vom Computer zum Hacking und Gaming verführten Jugendlichen erzählt WARGAMES (J. Badham, USA 1983). Der Jugendliche David ist ein netter und intelligenter Zeitgenosse, der sich nur gelegentlich mit seinem IMSAI 8080-Computer in BBS-Netze hackt (vgl. Abb. 7), um 23 J. Weizenbaum: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, S. 337ff. 24 In meinem Essay zeichne ich diesen Mechanismus medien- und kulturhistorisch nach. Vgl. Stefan Höltgen: Killerspiele. Computer – Gewalt – Zensur, Berlin 2011.
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gratis Spiele auf seinen Computer zu laden oder seine Schulnoten zu ändern. Dabei gerät er eines Tages an eine Telefonnummer, hinter der sich der Zentral-Rechner des NORAD, W.O.P.R. (War Operational Plan Response), verbirgt. David hält das Menü, das sich auf seinem Bildschirm aufbaut, für eine Spieleliste, aus der er den Punkt »Global Thermonuclear War« auswählt und damit den Atomkrieg in die Wege leitet.
Abb. 7: Hacking für den Atomkrieg in WARGAMES
WARGAMES wirkte zu seiner Zeit nicht deshalb so erschütternd, weil er ein Bild von der verdorbenen Jugend zeichnete, sondern weil er die atomare Katastrophe, die 1983 mehrfach die gesamte Menschheit bedrohte, quasi als Computerfehler vorführte. Anders als die anderen ›Spiel-Filme‹ der 1980er Jahre baut diese Utopie nicht auf einer besonders realistischen Spiel-Grafik auf, sondern umgekehrt: Die starke Abstraktion der auf Davids Bildschirm gemalten Umrisse von USA und UdSSR ist es, die dem jugendlichen Protagonisten so ungefährlich wie ein Videospiel vorkommt.25 Dass W.O.P.R., quasi als geheime Subroutine, wirklich einige Spiele wie Backgammon, Schach und Tic-Tac-Toe bereithält, macht diesen Eindruck für David nur noch authentischer. Erst als er sich der Gefahr bewusst wird und in NORAD längst die zweithöchste Raketen-Alarmstufe ausgelöst wird, weil der IMSAI das Programm auch auf die dortigen Monitore überträgt, begreift David, dass das Ganze allein für die Maschine ein Spiel ist: »Is this a game or is it real?«, tippt er in den Computer ein. Dieser antwortet: »What is the difference?« Spätestens hier wird dem Zuschauer klar, dass die digitale Ethik der Computer der komplexen Realität nicht angemessen ist und zwangsläufig ins Verderben führt. Am Ende von WARGAMES wird W.O.P.R. deshalb verschrottet – in den Raketensilos nehmen wieder Menschen ihren Platz an den ›roten Knöpfen‹ ein. Schon die Analogie dieser Startknöpfe zu den Triggern am Computerspiel-Joystick offenbart die ähnlichen Technologien und Metaphern des Vi25 Die meisten Computerspiele mit dem Atomkriegsmotiv reduzieren das Schlachtfeld auf solche groben Skizzen, wodurch auch eine trügerische moralische Abstraktheit des Geschehens zum Ausdruck kommt. Vgl. Stefan Höltgen: »Spielen (in) der atomaren Situation. Atomkriegsszenarien im 8und 16-Bit-Computerspiel«, in: Rudolf Thomas Inderst/Peter Just (Hg.), Contact – Conflict – Combat. Zur Tradition des Konfliktes in digitalen Spielen, Boizenburg 2011, S. 73-92.
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deospiels und der Kriegsmaschinerie in erstaunlicher Weise. Wen wundert es da, dass der Krieg immer schon ein beliebtes Videospiel-Sujet gewesen ist? Im Prinzip beruhen schon die ersten ballistischen Simulationen wie Tennis for Two (1958) oder Spacewar! (1962) auf der Kriegskunst des Werfens und Schießens. Und andererseits: Dass heute Videospiele eingesetzt werden, um Soldaten zu trainieren, leitet sich aus der Geschichte des Mediums ab.26Auch die Idee hierfür hat Eingang in einen Film der 1980er-Jahre gefunden: In THE LAST STARFIGHTER (N. Castle, USA 1984) wird von Außerirdischen ein Videospiel-Automat auf der Erde aufgestellt, um unter den Jugendlichen, die es bis ins letzte Level schaffen, Rekruten für die »Star Liga« auszuwählen. Das ist eine Kampftruppe, die das Vordringen eines galaktischen Bösewichtes verhindern soll – und letztlich also auch die Erde beschützt. Der Jugendliche Alex erreicht dieses Level und wird auch prompt abgeholt, um zum Weltraum-Soldaten zu werden. Nach einigem Hin und Her entschließt er sich, diese Chance anzunehmen und reist mit seiner Geliebten zu den Sternen. THE LAST STARFIGHTER denkt hier einen Aspekt der Geschichten der übrigen ‹Spiel-Filme« weiter: Die zumeist jugendlichen Helden an der Schwelle zum Erwachsenwerden suchen nach einer eigenen Identität, die sie im Umgang mit dem Computer gefunden zu haben glauben.27 Denn gerade im Zeitalter der Homecomputer zeigen Firmen wie Atari, Nintendo und Coleco, dass sich ›spielerisch‹ Vermögen erwirtschaften lässt. Warum also soll Videospielen kein Beruf oder keine Bestimmung sein? Für Alex wird es eine, denn mit THE LAST STARFIGHTER findet er die Lösung gleich zweier Probleme: Es hilft ihm (im Wortsinne), aus dem Alltag zu fliehen und nimmt ihm die Entscheidung ab, sich einen Lebensweg zu erarbeiten. Er wird einfach Sternen-Krieger.
Konvergenz/Schluss Dass ihm diese Entscheidung so leicht fällt, liegt an der simulativen Ähnlichkeit zwischen Alex’ Videospiel-Welt und der ›Weltraum-Welt‹, in die er entführt wird. Der Trick, mit dem der Film diese Ähnlichkeit dem Zuschauer glaubwürdig macht, ist gleichermaßen unbewusst wie genial: Alle Szenen, die außerhalb der Erde spielen, sind als Computer-Animationen in den Film eingefügt. THE LAST STARFIGHTER ist damit einer der ersten Filme, in dem CGI in größerem Maße eingesetzt und der Filminhalt digital wird. Hier schließt sich der Kreis zu den hyperrealistischen Spiel-Szenarien aus EXISTENZ und AVALON. Und so wie der Film das Videospiel zum Thema macht, wird seit der frühesten Videospielzeit auch der umgekehrte Weg beschritten 26 Vgl. Claus Pias: »Synthetic History«, in: Archiv für Mediengeschichte. Themenheft: Mediale Historiographien (1/2001), online: http://www.unidue.de/~bj0063/texte/history.pdf [letzter Zugriff am16.06.2011]. 27 Vgl. S. Turkle: Die Wunschmaschine, S. 75ff. Ein Großteil der heute kanonischen Studien von Turkle zur Computerkultur basiert auf der Befragung von Kindern und Jugendlichen zu deren Umgang mit dem Computer. Das Bild einer Computerjugend, das sie dabei herausarbeitet, findet sich in den Protagonisten der zeitgleich entstandenen Filme (wie WARGAMES oder THE LAST STARFIGHTER) beinahe wortwörtlich umgesetzt.
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und Filme werden zu Spielen gemacht. Das Erfolgsspiel Pac Man wird 1982 zur TV-Serie, Super Mario Bros. 1993 zum ersten einer bis heute anhaltend erfolgreichen Kette von Kinofilmen nach Videospielvorlage. Der Erfolg dieser gegenseitigen Adaption liegt wohl vor allem darin begründet, dass es zumeist die Computerkids von damals und heute sind, die diese Filme besonders gerne und häufig sehen. Und diese hat man dann natürlich gleich am Kinoeingang wieder abgeholt und die Fiktionen mit WARGAMES oder THE LAST STARFIGHTER in ›Spiele zum Film‹ verlängert. So zeigt sich die enge Beziehung zwischen Kino und Computer insbesondere in dieser Cross Promotion von Videospiel und Spielfilm, die sich wechselweise zu Paratexten machen. Dies funktioniert vor allem deshalb, weil sich die Erzählverfahren von Computerspiel und Film einander angenähert haben, Filme heute genauso Erzählstrategien und Optiken des Computerspiels nutzen, wie diese Filmszenen und -dramaturgien zur Etablierung ihrer Spielehandlungen. Der Computer als technisches Artefakt rückt dabei in den Hintergrund, bildet allenfalls die techno-ideologische Grundlage dazu. Davon abgesehen zeigt er sich jedoch heute in beinahe jedem Film als Ausstattungsgegenstand. Die filmische Allgegenwart dieser Technik ist Ausweis für seine vollständige Diffusion in alle gesellschaftlichen Bereiche. Seine Eigenschaften als Projektionsmaschine hat er dennoch nicht eingebüßt. Immer noch werden Filme aller möglichen Genres über Computer gedreht, in denen die unterschiedlichsten Aspekte der Technikakzeptanz thematisiert werden. Und was wir aus diesen Filmen über Computer erfahren, sagt wie schon in den allerersten Computerfilmen mehr über uns als über die Computer.
Literatur Carter, James: Starring the Computer. Computers in Movies and Television, o.J., online: http://www.starringthecomputer.com [letzter Zugriff am 15.09.2011]. Ceruzzi, Paul E.: Eine kleine Geschichte der EDV, Bonn 2002. Florin, Alexander: Computer im Kino. Die narrative Funktion von Computern in US-amerikanischen Filmen, Nordersted 2009. Höltgen, Stefan: Pionier der Computerzeit: Emil Schilling, 2010, online: http://tinyurl.com/3mlry2m [letzter Zugriff am 15.09.2011]. Höltgen, Stefan: »Spielen (in) der atomaren Situation. Atomkriegsszenarien im 8- und 16-Bit-Computerspiel«, in: Rudolf Thomas Inderst/Peter Just (Hg.), Contact – Conflict – Combat. Zur Tradition des Konfliktes in digitalen Spielen, Boizenburg 2011, S. 73-92. Höltgen, Stefan: Killerspiele. Computer – Gewalt – Zensur, Berlin 2011 [In Druck]. Kahn, Herman: On Thermonuclear War, Princeton 1960. Mazlish, Bruce: Faustkeil und Elektronenrechner. Die Annäherung von Mensch und Maschine, Frankfurt/Main 1998. McLuhan, Marshall: War and Peace in the Global Village, Bantam/New York 2001. Nierhaus, Irene: Raum – Geschlecht – Architektur, Wien 1999.
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Pias, Claus: »Synthetic History«, in: Archiv für Mediengeschichte. Themenheft: Mediale Historiographien (1/2001), online: http://www.unidue.de/~bj0063/texte/history.pdf [letzter Zugriff am 16.06.2011]. Rechnerlexikon – Die große Enzyklopädie des mechanischen Rechnens: Patent:DE580675, o.J., online: http://historicalc.com/artikel/Patent:DE580675 [letzter Zugriff am 15.09.2011]. Scheyer, Emanuel: »When Perforated Paper Goes to Work«, in: Scientific American 127 (1922), S. 349f., S. 445. Taube, Mortimer: Der Mythos der Denkmaschine. Kritische Betrachtungen zur Kybernetik, Reinbek 1969. Turing, Alan: »Computing Machinery and Intelligence«, in: Ders.: Intelligence Service. Schriften, Berlin 1987, S. 147-182. Turkle, Sherry: Die Wunschmaschine. Vom Entstehen der Computerkultur, Reinbek 1984. Weizenbaum, Joseph: »ELIZA – A Computer Program for the Study of Natural Language Communication between Man and Machine«, in: Communications of the ACM 9/1 (1966), S. 36-45. Weizenbaum, Joseph: Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft, Frankfurt/Main 1977. Zimmermann, Christian: Der Hacker. Computerkriminalität: Die neue Dimension des Verbrechens. Ein Insider packt aus: »Keiner ist mehr sicher!«, München 1996.
WEITERE MEDIALE FUNKTIONEN IN FILMISCHER REFLEXION – HÖREN, SPRECHEN, TÖNE SPEICHERN
Die Welt für das Ohr sichtbar machen. Radio als Performativ im US-amerikanischen Film PETRA MARIA MEYER
»Zu einem vollen Eindruck gehört nicht, dass er im naturalistischen Sinne komplett sei; es darf ruhig allerlei fehlen, was in der Wirklichkeit vorhanden wäre – wenn nur das Gebotene genug 1 vom Wesentlichen des Vorgangs bietet.«
Im audio-visuellen Medium Film kommen zwei Ebenen zur Versinnlichung der Welt zusammen. Es entsteht ein voller Eindruck, bei dem – bezogen auf die Medienreflexion des Radios im Film – das Fehlen schnell fehlen kann. »Ich bin nur eine Stimme und kein Gesicht«, sagt Erica Bain, die eine eigene Radiosendung hat und einen Fernsehauftritt verweigert. Sie erhält in THE BRAVE ONE (N. Jordan, AUS/USA 2007) gleichsam ein Gesicht. Wird die Eigenart der Radiosendung, die diesen Thriller rahmt und begleitet, um sich verbunden mit den Geschehnissen symptomatisch zu wandeln, im Film zwar kenntlich, so muss auch THE BRAVE ONE bezogen auf das Medium Radio Dilemmata der filmischen Medienbeobachtung begegnen, die hier erörtert werden sollen: Wie lässt sich im intermedialen Wechselspiel2 eine konstitutive Isolation des Hörens evozieren, wie ein Bildentzug im Bildermedium Film bewahren, wie eine spezifische, Vorstellungsbilder3 erzeugende Kraft des Radios freisetzen? Kann ein Film das Phantasma der Stimme, das sich auf Unsichtbarkeit stützt, erfahrbar machen? Was entzieht und was öffnet sich der Sichtbarkeit in Filmen, die das Radio reflektieren? Auch THE BRAVE ONE,
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Rudolf Arnheim: »Film als Kunst (1932)«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001, S. 176-200, hier S. 199. Als künstlerische Strategie, im Wechselspiel mindestens zweier Medien mediale Eigenschaften bewusst zu machen sowie als Wissenschaft, die es sich zur Aufgabe macht, Mediendifferenzen zu denken, ist Intermedialität Medienreflexion par excellence. Mit Bezug auf Antonio Damasio gehe ich hier nicht davon aus, dass es isolierter akustischer Reize bedarf, um Vorstellungsbilder zu erzeugen, sondern dass alle Sinnesreize sich in Vorstellungsbilder (Wahrnehmungs- und Erinnerungsbilder) einfügen, die jedoch in Abhängigkeit von dem, was die Sinnesorgane an Reizen an das Gehirn weiterleiten, differierende Wirklichkeitskonstruktionen bedingen; vgl. Antonio Damasio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995, S. 140ff.
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der meines Wissens bislang ausschließlich als revenge movie thematisiert wird, hat hinsichtlich dieser Fragen durchaus etwas beizutragen. Während der amerikanische Titel die bisherige Lesart nahelegt, führt der deutsche Titel – DAS FREMDE IN DIR – auf eine andere Spur: Die Medienreflexion des Radios erweist sich für den Verlauf des Krimis als konstitutiv und impliziert Aspekte, die im US-amerikanischen Film selten eine Rolle spielen.
Weite der Thematik und notwendige Eingrenzung Immer wieder hören Protagonisten im Film Radio: beim Autofahren, beim Hausputz, in Kneipen oder Reisebüros. Nach wie vor werden sie mit dem Radiowecker wach. Dabei kann dieser wie in GROUNDHOG DAY (H. Ramis, USA 1993) eine den gesamten Film strukturierende Funktion annehmen. Die parabelartige Geschichte der Läuterung des zunächst zynischen TV-Wetteransagers Phil Connors stützt sich auf eine Zeitschleife mit Wiederholungsstruktur. Diese wird durch die qualvolle ›Wiederkehr des Gleichen‹ – die Ansage zum Tag des Murmeltiers (Groundhog Day) jeden Morgen um 6 Uhr via Radiowecker – medienspezifisch bezeichnend sinnfällig. Radiozeit wird stets als Jetzt erfahrbar und dient im Film zumeist – weniger doppelbödig als in dieser besonderen Retention des Jetzt in GROUNDHOG DAY – zur Vermittlung realer Zeit. In AMERICAN GRAFFITI (G. Lucas, USA 1973) sind es dauerhafte Einspielungen des lokalen Radiosenders, die eine Nacht in einer Provinzstadt indizieren und auch der zeitliche Rahmen in THE FOG (J. Carpenter, USA 1980) wird durch Radiosendungen vermittelt. In seinen wechselnden Erscheinungsformen kann Radio durchaus als vorrangige Quelle innerdiegetischer Sprach-, Musik- und Geräuscheinspielungen im Film bezeichnet werden. Wenn in einer für das Fernsehen künstlich erzeugten Welt in THE TRUMAN SHOW (P. Weir, USA 1998) Regisseur Christof nicht vergisst, Truman Burbank bei der täglichen Fahrt zur Arbeit ein Autoradio zu gönnen, wird die Unverzichtbarkeit des Informations- und Unterhaltungsmediums für die filmische Wirklichkeitskonstruktion deutlich. Dabei ist das einfache Vorkommen des Radios ebenso selten wie seine komplexe Reflexionsfigur, die auch einen poetisch-künstlerischen Bereich umfasst.4 Im Dazwischen findet man ein reiches Spektrum an Einsatzmöglichkeiten. Auch in THE TRUMAN SHOW werden via Radio plot points markiert und kognitive Prozesse des Protagonisten angedeutet. Love Is Around The Corner erklingt im Reisebüro aus dem Radio und begleitet den Entschluss Trumans, seine Angst, die Grenze seines ›Lebensraumes‹ zu überschreiten, aus Liebe zu überwinden. Liebe und Radio sind ebenso eng verbunden wie Telefon und Liebe oder Telefon und Radio. Für die Beobachtung der filmischen Medienbeobachtung erscheinen transmediale Aspekte ebenso relevant wie mediale Differenzen. Im Unterschied zum Sehsinn ist der Hörsinn ein Fernsinn, der keinen Abstand hält, da 4
Radio im avantgardistischen und experimentellen Film wird hier ebenso ausgespart wie die umgekehrte Reflexion von Film im Medium Radio; vgl. dazu Petra Maria Meyer: »Sehgewohnheiten durch neue Hörweisen ändern. Intermedialität in Radio, Film und Fernsehen«, in: Dies. (Hg.), Acoustic Turn, München 2008, S. 611-647.
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die Töne, die das Ohr hört, auch bei räumlicher Entfernung darin eindringen und eindringlich bleiben.5 Dieser Unterschied ist bezogen auf Telefon und Radio wirkungsmächtig. Liebende sind sich über dieses medienvermittelte Hören häufig näher als über Sichtkontakt. Der Liebesfilm SLEEPLESS IN SEATTLE (N. Ephron, USA 1993) stützt sich entsprechend auf ein im Radio übertragenes Telefongespräch. Was gewöhnlich nur per Telefon im intimen Dialog zweier miteinander bekannter Personen zur Sprache kommt, erreicht via Radio eine unbekannte und verstreute Menge von Hörern. Unter diesen ist auch Annie Reed – sie hört die Stimme des Architekten Sam Baldwin und verliebt sich in ihn. Unwillentlich, da sein besorgter kleiner Sohn sich an den Radiosender gewandt hat, spricht Sam über den Verlust einer »wahren Liebe«, die Trauer um seine verstorbene Ehefrau. Wie der Blick, so hat auch die Stimme ihren wesentlichen Wirkungsbereich im Feld der Phantasmen und Wunschträume.6 Darauf kann der Liebesfilm sich stützen. Durch seine Stimme ist der Architekt für Annie der ›Andere‹, er gerät zum imaginären Schauplatz, wo ›Es‹ spricht und Annies Glaube an ›Magie‹, an idealisierte Liebe gefestigt wird. Somit auch durch die Struktur des Begehrens gestützt, hat sich das Radio trotz wachsender Medienkonkurrenz seit seiner institutionellen Entwicklung in den 1920er Jahren behaupten können, wobei seine Erscheinungsweisen im sich wandelnden Ensemble der Medien variieren. Das besondere Thema der Piratensender im engen und weiteren Sinne, das hier nur kurz angesprochen werden kann, reflektiert Radio als Medium, mit dem sich nicht nur Unbehagen an Gesellschaft und Kultur äußern und verbreiten, sondern auch Auflehnung gegen Missstände organisieren lässt. In PUMP UP THE VOLUME (A. Moyle, CDN/USA 1990) überwindet der High School-Schüler Mark Hunter mittels seines Piratensenders nicht nur seine Schwierigkeiten, mit den Mitschülern in Dialog zu treten. Mit veränderter Stimme gewährt er seinem Alter Ego Denk- und Aktionsfreiheit, weckt die Widerstände seiner Schulkameraden gegen ein repressives Schulsystem und erregt nicht nur die Aufmerksamkeit der gegen ihn ermittelnden Behörden, sondern bewirkt auch die Suspendierung der Schuldirektorin. Die Teenie-Komödie tritt mit entsprechendem Sound fetzig ans Hörerohr und macht einmal mehr deutlich, dass sich im Film Radio als ein Musik- und Sprachmedium zeigt, in dem sich Radiomacher ungern mundtot machen lassen. Insbesondere Radiomoderatoren neigen im Film zu nonkonformen medialen Ausdrucksformen und erweisen sich dabei häufig als keineswegs autoritätshörig. Dies zeigt sich besonders dort, wo Radio strategisch zu militärischen Zwecken – gestützt auf den Zusammenhang von Gehör und Hörigkeit, von Horchen und Gehorchen – genutzt wird. In GOOD MORNING, VIETNAM (B. Levinson, USA 1987) bringt der AFN-Moderator Adrian Cronauer den US-Soldaten in Vietnam vertraute Stimmen aus Amerika an die Front. Sein »Goooooooood morning, Vietnam« weckt die Lebensgeister mit humorvollen Geschichten und gutem amerikanischem Sound, so dass seine Radiosendung als Gesinnungs5
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Für eine ausführliche Thematisierung der Eigenarten des Gehörsinns vgl. Petra Maria Meyer: »Minimalia zur philosophischen Bedeutung des Hörens und des Hörbaren«, in: Dies. (Hg.), Acoustic Turn, S. 47-73. Vgl. Jacques Lacan: »Von der Liebe zur Libido«, in: Ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1980, S. 196-210.
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und Durchhalteunterstützung in Kriegszeiten zunächst systemstabilisierend funktioniert. Doch Songs wie What A Wonderful World lassen sich zunehmend weniger mit den real existierenden Verhältnissen vereinbaren, die der Radiomoderator tagtäglich in Saigon erlebt. So avanciert er zum Enfant terrible in der Army, demaskiert Nixons Politik und widersetzt sich der obligatorischen Zensur der Nachrichten, um von Bombenanschlägen und kriegerischen Konflikten zu berichten. Ein unangepasster Radiomoderator ist hier Träger eines Vietnamfilms, der sich kaum den Kampfhandlungen, sondern vielmehr der Situation der Zivilbevölkerung und der Soldaten widmet. Da, wo Moderatorenpraxis im Radio zum Stein des Anstoßes wird, setzen Medienreflexionen im US-amerikanischen Film vorrangig an. Schon diese ersten Beispiele machen deutlich, dass Radio im Film ein genreübergreifendes Thema ist. Als entsprechend unerschöpflich erweist sich das Spektrum an Filmen, das berücksichtigt werden könnte. Um das Untersuchungsfeld einzugrenzen, sollen im Folgenden nur Filme von Interesse sein, in denen Radio derart repräsentiert wird, dass filmische Reflexion radiospezifischer Medialität explizit wird. Begründungen für eine gezielte Auswahl lassen sich zudem der US-amerikanischen Radiogeschichte abgewinnen, die sich von der des deutschen Radios unterscheidet. Die Differenzen zwischen einem in Deutschland in der Spanne zwischen Kulturinstrument (Hans Bredow) und Propagandamedium (Nationalsozialismus) beginnenden Radio, das sich mittels Programmdramaturgie weiterentwickelte, und einem Massenmedium amerikanischer Ausprägung wurden durch die Radioforschung gut herausgearbeitet.7 Einigkeit besteht dort auch über das Unterscheidungsmerkmal der US-amerikanischen Radiotelefonie, die sich technisch auf die anfängliche Nutzung zweier Frequenzen stützen kann und das Format-Radio in den USA deutlich prägt. Technikgeschichtlich betrachtet liegen die Einführungen von Telefon (um 1875), Radio (1877) und Film (1895) zeitlich nah beieinander. Radiotelefonie spielt in der filmischen Reflexion des Radios eine entsprechend zentrale Rolle und erweitert die filmische Beobachtung um ein intermediales Wechselspiel, das im Folgenden an zwei exemplarischen Filmen tiefergehend analysiert werden soll. Die enge Verbindung von Radio und Film, die in den 1930er und 1940er Jahren, dem goldenen Zeitalter des amerikanischen Rundfunks, in stetiger Wechselwirkung standen, ist Grundlage für den filmischen Einblick in die amerikanische Rundfunkgeschichte, die Woody Allen in RADIO DAYS (USA 1987) gibt. Während sich A PRAIRIE HOME COMPANION (R. Altman, USA 2006) melancholisch an eine legendäre amerikanische Live-Radiosendung erinnert, die in den USA rituell und zyklisch seit 1970 bis heute wiederholt wird, ist Allens filmischer Beitrag zu einer Gedächtniskultur des Hörens8 bezogen auf das Radio weiter gefasst.
Liebeserklärung ans Radio: RADIO DAYS Ein überall ohne Rundfunkgebühren hörbares Radio war in den 1930er Jahren in den USA beliebter als das Kino und wurde entsprechend zu Werbe7 8
Vgl. Wolfgang Hagen: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München 2005. Vgl. Petra Maria Meyer: Gedächtniskultur des Hörens, Düsseldorf 1997.
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zwecken verwendet. Filmproduzenten nutzten Radiosendungen wie Screen Guild Theatre oder Lux Radio Theatre, eine Show, die 40 Millionen Zuhörer hatte, um auf neue Filme hinzuweisen.9 Filmschauspieler traten in Hörspieltransformationen bekannter Filmstoffe auf.10 Satirische Radiomonologe von Bob Hope soll auch Allen nie verpasst haben. Die Allen-Forschung sieht hier frühe wegweisende Einflüsse.11 RADIO DAYS ist eine filmische Liebeserklärung ans Radio, die Allen aus der Perspektive eines Schuljungen erzählt, welchem er seine Stimme leiht. Der kleine Joe wächst in einer kleinbürgerlichen, jüdischen Großfamilie auf und hört mit Begeisterung Radio, insbesondere die Geschichten des »Maskierten Rächers«. Dass die Stimme häufig eine andere Vorstellung der Figur erweckt (»eine Kreuzung zwischen Superman und Cary Grant«) als das Erscheinungsbild des Sprechers, macht der Film für den Zuschauer durch Bilder aus dem Radiostudio deutlich (vgl. Abb. 1). Die filmische Möglichkeit, den Körper sichtbar zu machen, zeigt nicht nur die Differenz zwischen stimmlicher und bildlicher Erscheinung, die hier neue Wirkungskraft über Ambivalenz als filmischen Mehrwert freisetzt. Vielmehr zeigt diese filmische Beobachtung zugleich selbstreflexiv, wie der Film festlegt, was als real und was als imaginär anzusehen ist.
Abb. 1: RADIO DAYS – Der »Maskierte Rächer« wird live vor dem Mikrofon im Studio aufgeführt und direkt gesendet
Auch in RADIO DAYS spielt Allen mit autobiographischen Anleihen. Er nannte seinen Film »eine exakte Beschreibung der Zeit, die ich als kleiner Junge erlebte«.12 Da diese Zeit zwischen Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten Weltkrieg durch einen verklärten Erinnerungsblick und Missstände verharmlosend zur Darstellung gelangt,13 wird schnell deutlich, dass auch Allens filmisches Alter Ego sowie das erzählte Geschehen fiktiv sind. In der Exposition werden trefflich ›nette‹ Verbrecher in Szene gesetzt: Während eines Ein9 Vgl. Stephan Reimertz: Woody Allen, Reinbek 2000, S. 14. 10 In Lux Radio Theatre inszenierte auch Alfred Hitchcock Hörspielversionen seiner Filme. Medientransformationen von Filmen wie SPELLBOUND (A. Hitchcock, USA 1945) oder NOTORIOUS (A. Hitchcock, USA 1946) stellen ein wichtiges eigenständiges Thema dar. 11 Vgl. S. Reimertz: Woody Allen, S. 13. 12 Zit. n. Reinhold Rauh: Woody Allen. Seine Filme – sein Leben, München 1991, S. 178. 13 Vgl. Jürgen Felix: Woody Allen. Komik und Krise, Marburg 1992, S. 47.
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bruchs geht einer der Diebe an das läutende Telefon. Ein Radiosender gibt ihm die Gelegenheit, bei einem Telefonquiz mitzumachen. Da er die Titel von drei Melodien benennen kann, findet der Wohnungsinhaber am nächsten Tag zwar eine ausgeraubte Wohnung vor, erhält jedoch gleichzeitig eine Wagenladung mit Gewinnen vom Rundfunksender. In dieser mehrdeutigen Eingangsszene stimmt Allen Zuschauer und Zuhörer nicht nur auf die grundlegende Rolle der Radiotelefonie im amerikanischen Radio ein, sondern auch auf die Zentralstellung der Musik. Der Soundtrack aus Jazz, Schlagern, Quizsendungen, Frontberichten und Kulturkritiken stellt als akustische Collage ein eigenständiges Hörstück im Film dar. Viele US-amerikanische Hörer, die diese Zeit erlebt haben, werden – wie der Einbrecher in der Exposition – die Stücke identifizieren können. Zugleich macht RADIO DAYS die Allgegenwart des Radios in dieser Zeit deutlich. Das Radio ist beim Streit der Eltern, bei den Konflikten der Nachbarn, beim Versuch der Schwester, ihrem Traum von der Sängerinnenkarriere nahezukommen, und bei den Tanzübungen der Tante auf der Suche nach einem geeigneten Ehemann präsent. Eine amüsante und zugleich medienkritische radiogeschichtliche Anspielung gelingt bei einem Ausflug der Tante mit einem Verehrer, der sie und sein Auto fluchtartig verlässt, weil er via Autoradio Orson Welles’ The War of the Worlds hört. Das Live-Hörspiel des Mercury Theatre von 1938 schildert zwar unwahrscheinliche Geschehnisse (die Invasion der Erde durch Marsmenschen), nutzt dazu jedoch einen journalistischen Reportagestil, d.h. die Darstellungsform größtmöglicher Wahrscheinlichkeit. Die fiktionale Hörspielproduktion zog in erschreckender Weise sehr reale Geschehnisse nach sich. Viele Amerikaner flohen vor der vermeintlichen Gefahr. Dadurch wurde auch die Reportageform als ein mögliches Mittel der Manipulation und Verfälschung kenntlich. Das Hörspiel ging als ebenso singuläres wie drastisches Beispiel der Medienkritik in die Geschichte ein.14 Nicht nur das Livemedium Radio, das suggestiv ins Leben einzugreifen weiß, wird in RADIO DAYS medienreflexiv deutlich; auch Formprinzipien des Hörspiels werden eingesetzt, wenn Allen Musik als Indikator historisch varianter Hörgewohnheiten und Weltwahrnehmungsweisen nutzt, durch Musikzitate Figuren charakterisiert, Situationen spezifiziert, Atmosphären gestaltet oder Handlungsverläufe strukturiert. So ist es insbesondere die Musik-Collage mit Werken von Kurt Weills September Song bis Cole Porters Begin The Beguine, die das Lebensgefühl der Zeit und die spezifische Stimmung sozialer Milieus vermittelt. Auf der bildlichen Ebene unterstützt ein bemerkenswerter Fundus an Radiogeräten weitere Visualisierungen der guten alten Zeit in Form von Wohnungseinrichtungen, Kleidern und Autos. Allens Liebeserklärung an das Radio, das für die jüdische Gemeinde in New York ein zentrales Integrationsmedium war, ist von einer typisch amerikanischen Freiheitsutopie geprägt. Ein Pionier des kommerziellen US-amerikanischen Rundfunks, der Begründer der National Broadcasting Company (NBC) und Leiter der Radio Corporation of America (RCA), David Sarnoff, hat diese Utopie enthusiastisch formuliert: 14 Vgl. dazu auch Petra Maria Meyer: »Akustische Kunst – Live event – Authentisches Erleben«, in: Gerd Hallenberger/Helmut Schanze (Hg.), Live is Life, Baden-Baden 2000, S. 105-122.
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»I believe that a free radio and a free democracy are inseparable; that we cannot have a controlled radio and retain a democracy; that when a free radio goes, so also goes free speech, free press, freedom of worship and freedom of educa15 tion.«
Wirft man die Fragen auf, wer hier Produktionsmittel und Inhalte kontrolliert und welche Interessen ausschlaggebend sind, erscheint diese ›Freiheit‹ zweifelhaft.16 Dennoch haftet dem US-amerikanischen Radio dieses Image der Freiheit an, das auch den Anspruch an ›Redefreiheit‹ in Call-in-Sendungen des Talkradios stellte, welcher in filmischen Reflexionen des Radios dekonstruiert wird. Talkradio, ein Hörfunkformat mit hohem Wortanteil, das sich im Live-Gespräch mit Studiogästen oder Anrufern sozio-politischen Themen, aber auch breiten Lebensproblemen widmet, ist in den USA fast genauso stark vertreten wie Musikformate. Während Allen in RADIO DAYS Musikformate intensiv nutzt, soziale Problemfelder aber weitgehend unberücksichtigt lässt, werden diese in Filmen zum Thema Radiotelefonie zentral.
Verletzende Sprache: TALK RADIO Das mediale Dispositiv17 Radio wird in TALK RADIO (O. Stone, USA 1988)18 als Bedingungsgefüge, das an materielle und diskursive Grundlagen gebunden ist, sich also über Gesagtes und Ungesagtes vermittelt, ausgestellt. Mit Ausnahme weniger Rückblenden vollzieht sich die erzählte Zeit des Films ausschließlich im Studio des texanischen Radiosenders KGAB. Filmisch werden die technisch-apparativen Gegebenheiten, die Studiosituation und die institutionellen Rahmenbedingungen ebenso wie Moderation und Gesprächsführung als spezifische kulturelle und mediale Praktiken in Szene gesetzt.
15 Zit. n. Robert McChesney: Telecommunications, Mass Media & Democracy – The Battle Over the Control and Structure of U.S. Broadcasting 1925-1935, New York 1993, S. 240. 16 Vgl. hierzu etwa Michaela Hampf: Freies Radio in den USA – Die Pacifica Foundation 1946-1965, Münster 2000. 17 Der Begriff wird hier sowohl mit Jean-Louis Baudry, der Kino u.a. an Jacques Lacan orientiert als ideologieproduzierenden Apparat begreift, als auch mit Michel Foucault verstanden, der zur Analyse von Machtverhältnissen mit diesem Begriff ein komplexes Ensemble aus Diskursen, Institutionen, architekturalen Einrichtungen etc. bezeichnet; vgl. Jean Louis Baudry: »Le dispositif. Approches métapsychologiques de l’impression de réalité«, in: Communications 23 (1975), S. 56-72; Michel Foucault: Dispositive der Macht, Berlin 1978, S. 119f. 18 Oliver Stone schrieb das Drehbuch zusammen mit dem Performer und Theaterautor Eric Bogosian auf der Basis des Romans The Life and Murder of Alan Berg von Stephen Singular.
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Abb. 2: TALK RADIO – Der Moderator von Night Talk als Objekt der Beobachtung
Objekt- und Farbästhetik prägen die Szene, in der das Schild »On Air« rot leuchtend heraussticht und Mikrofone, Regler am Mischpult, Pegelanzeigen oder Bandmaschinen in Großaufnahmen gezeigt werden. Der Moderator Barry Champlain agiert im Studio wie in einem Käfig, aus dem er durch gläserne Scheiben Mitarbeiter und Vorgesetzte sieht, von denen er wiederum gesehen wird (vgl. Abb. 2). Die Kamera umkreist ihn, macht ihn groß und klein, während er die »beliebteste Talkshow in Texas« in den Äther schickt. Mit seiner Sendung Night Talk setzt er beim Wissen darum an, dass »dieses Land in der Krise« steckt, »total verfault« ist. Das Format der Call-in-Sendung begründet er folgendermaßen: »Wir sind der einzige Nachbar, den ihr noch habt. Es redet doch einfach keiner mehr mit dem anderen.« Letzteres bestätigt die Sendung, die keine intimen Gespräche, sondern die »Tyrannei der Intimität«19 präsentiert, keine Dialoge offeriert, sondern Rede und Gegenrede derart konfrontiert, dass Gewaltzusammenhänge und Herrschaftsstrukturen kenntlich werden. Night Talk wird als Show deklariert, »in der gesagt wird, was gesagt werden muss«. »Ich bin für Euch da«, meint Barry, »knallt mir die heißesten Themen um die Ohren.« Einige Anrufer und ihre Themen, darunter ein Drogensüchtiger und ein Vergewaltiger, sind alles andere als harmlos und der Moderator, für den Lügen ebenso zum Sendeformat gehören wie schonungslose Ehrlichkeit, muss Antwort und Ver-Antwortung aufeinander abstimmen. Eine weitere Herausforderung stellt sich durch wiederholte Anrufe von NeoNazis, die ihn als »Judenarsch« beschimpfen und den Holocaust in Frage stellen. Die Kamera, die zwischenzeitlich auch vom Moderator geäußerte Lügen decouvriert und so mit der intermedial gegebenen Sichtbarkeit für Filmzuschauer und Unsichtbarkeit für Radiohörer spielt, macht bei solchen Anrufen den Wechsel der Gesprächssituation kenntlich. Während Barry in verschiedenen Einstellungen aus wechselnden Perspektiven nah am Mikrofon sprechend ins Bild gesetzt wird, wenn er seine Zuhörer als »Jammerhaufen« beschimpft, den er »verabscheut«, wird er in der Auseinandersetzung mit den Neo-Nazis, die ihm nicht nur verbal drohen, sondern auch ein Paket mit einer toten Ratte in den Sender schicken, aus der Vogelperspektive gezeigt, in der er – sichtlich als der Raumordnung unterworfenes Subjekt ausgestellt – mit seinem Kopfhörer unruhig im Studio hinund herläuft. Die Spannung des Films stützt sich auf den Machtaspekt, auf
19 Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 2008.
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die Frage, wer die Oberhand behält: der Moderator, der seine Hörer zunächst totredet und dann abwürgt, oder der aggressive Anrufer, der betont, dass er weiß, »wie der Moderator aussieht und wo er wohnt«. Für den Filmzuschauer bleiben die Anrufer wie für den Moderator unsichtbar, »voix acousmatiques«,20 d.h. Stimmen ohne Träger. Der Bildentzug ist signifikant, denn die Stimmen der unsichtbaren Anrufer bleiben in einer Schwebe, die insbesondere dann destabilisierend wirkt, wenn sie unberechenbare Drohungen aussprechen. Hier wahrt TALK RADIO die radiophone Isolation des Hörens und gewinnt der Stimme, die mal als Waffe, mal als Wunde hörbar wird, bedrohliche Spannung ab. Konsequenterweise werden die Sprecher der Anruferstimmen im Abspann des Films aufgeführt. In diesem Zusammenhang impliziert auch TALK RADIO eine medienreflexive Gegenüberstellung von Telefonie und Radiotelefonie. Bei einem Telefonat zwischen Barry und seiner ehemaligen Ehefrau nutzt diese das Telefon zum intimen Dialog und zur zwischenmenschlichen Verständigung, indem sie Barry ihre noch bestehende Liebe gesteht, während er der Programmatik seiner Sendung folgt, in der sich nicht Verständnis oder Höflichkeit, sondern Beschimpfung als dienstbeflissen erweist. Diese Szene veranlasst auch dazu, einen Unterschied zwischen Kommunizieren und Senden zu bedenken, und lässt die medienkritische Annahme zu, dass der massenmediale Sendebetrieb zu einem Verlust von Kommunikation im Sinne einer berührenden interpersonalen Mitteilung führt. Der Moderator leugnet hier – verdrängend oder professionell –, dass zwischen telefonierenden Gesprächspartnern, die sich persönlich kennen, eine ganz andere Beziehung besteht als zwischen einem Radiomoderator und anonymen Hörern. Während sich ein Telefonanruf an eine individuelle Person richtet, adressiert der Rundfunk eine wechselnde Menge von Hörern. Ein Radiomoderator nennt zu Beginn und am Ende der Sendung seinen Namen. Die Hörer brauchen keine Namen zu nennen und wenn sie welche angeben, müssen diese nicht der Wahrheit entsprechen. Zugleich ist derjenige, der beim Sender anruft, durch die Sendung, die er hört, immer schon an- und aufgerufen.21 Das Radio als Sprachmedium und die Sprache als subjektkonstituierende bzw. -destruierende Kraft erfahren in TALK RADIO eine erhellende Reflexion. Die Sprachgewalt, mit der Barry an- und aufruft, formuliert er selbst überaus direkt als Motto seiner Sendung: »Über Stock und Stein bricht sich jeder das Bein, aber nur Worte können einen wirklich fertigmachen.« Warum Worte diese Macht haben, hat Judith Butler in ihrer Studie Haß spricht erforscht. Sie konstatiert eine »grundlegende Abhängigkeit von der Anrede des Anderen«.22 Erst durch die Art des Anrufes und der Anrede »gelangt das Subjekt zur ›Existenz‹«,23 die ihm somit auch abgesprochen werden kann. Barry ver20 Michel Chion hat die Stimme eines nicht sichtbaren Sprechers auf den Begriff »voix acousmatique« gebracht; vgl. Michel Chion: La voix au cinéma, Paris 1982. 21 Nach Louis Althusser, auf den sich auch Judith Butler bezieht, ist der Anruf gleichsam ein Aufruf, einen Platz einzunehmen, der identifizierbar macht; vgl. Louis Althusser: »Über die Ideologie«, in: Ders.: Ideologie und Staatsapparate – Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130-153. 22 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998, S. 15. 23 Ebd.
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weigert seinen Anrufern eine bestätigende Ansprache, unterwirft das angesprochene Subjekt dem, was es gerade nicht sein will. Dass er damit durchaus entlarvend agiert, ändert nichts an der Gewalt, die er ausübt. Als Jude erfährt er seinerseits Reformulierungen einer antisemitischen hate speech, die ihn zwischenzeitlich sprachlos machen. Schweigen am Mikrofon macht einmal mehr deutlich: »Ein primäres funkisches Thema ist der Tod.«24 Der symbolische Tod antizipiert in TALK RADIO den realen – nach der Sendung wird Barry von einem Unbekannten auf dem Parkplatz des Senders erschossen. Im Spannungsfeld von Stimme/Sprache und Bild liegt auch das selbstreflexive Potential von TALK RADIO. Während der Bildeindruck dem Betrachter zumeist einen atmosphärisch und ästhetisch einnehmenden Eindruck vermittelt, stößt die Sprache, die sich im Bildentzug ganz auf die Stimme stützt, häufig ab. Das Potential des Films, die auditive und die visuelle Inszenierungsebene durch Spaltung widersprüchlich zu nutzen, wird hier besonders deutlich. In einem Schlüsselmonolog von Barry, in dem der Performer Eric Bogosian zugleich seine Sprechkünste darbietet, erfährt der Zuschauer zudem eine Spaltung auf der Ebene der Kameraführung. Während eine Kamera das Studio um den Moderator kreisen lässt, wird er durch eine zweite Kamera starr fokussiert. Zu dieser Bewusstmachung filmischer Mittel kommt eine erhellende medienreflexive Beobachtung von Radio. Dadurch, dass es in TALK RADIO keinen Inhalt gibt, der vom radiophonen sprachlichen Geschehen, vom Vollzug des Talks in verbaler und körperlicher Bewegung der Stimme, Gesten und Gänge im Studio zu trennen wäre, kennzeichnet der Film das Medium Radio als Performativ. Die filmische Medienreflexion geht gleichsam über den Reflexionsstand der Radiotheorie hinaus, indem die Zentralstellung des Mediums im Bereich der gesellschaftlichen Performativität herausgestellt wird, einem Bereich, in dem die »Auseinandersetzung um das Subjekt und seine Reformulierung«25 stattfindet.
Anruf und Aufruf: THE FISHER KING Dass Radiomoderation als performative Äußerung nicht nur Wiederholung öffentlicher Rede, sondern wirkungsmächtige Sprachpraxis ist, zeigt auch eine Radioreflexion in THE FISHER KING (T. Gilliam, USA 1991), auf die ich mich aus Platzgründen beschränke. Es handelt sich um die Eingangsszene, in der einer der Protagonisten – der Kult-Radiomoderator Jack Lucas – eingeführt wird. Wie Barry in TALK RADIO wird auch Jack im Studio aus verschiedenen Perspektiven fokussiert, während er tänzelnd thematisch ausgerichtete Geräusch- und Musikeinspielungen vornimmt und seine Anrufer bloßstellt, demütigt oder desillusioniert. Ein Anruf und die Antworten von Jack werden jedoch das Leben mehrerer Personen – auch sein eigenes – entscheidend verändern. Als Edwin von seiner Liebe zu einer schönen, reichen Frau erzählt, die er in einer Szenekneipe gesehen hat, nimmt Jack ihm alle Hoffnung.
24 Wilhelm Hoffmann, zit. n. Gerhard Hay (Hg.): Literatur und Rundfunk, Hildesheim 1975, S. 374. 25 J. Butler: Haß spricht, S. 249.
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Eine Detailaufnahme zeigt Jacks Mund am Mikro und setzt eine folgenreiche Einflüsterung ins Bild, während der Zuschauer eine deutlich überzeichnete, erkennbar ironische Hetzrede auf die ›Yuppies‹ hört, zu denen Jack selbst gehört: »Sie sind böse, Edwin. Das Unvollkommene widert sie an. Das Banale entsetzt sie, also all das, wofür Amerika steht, all das, wofür Du und ich kämpfen. Man muss sie aufhalten, bevor es zu spät ist. Sie oder wir überleben.« Eine mit einem Pfiff Aufmerksamkeit gebietende, auffordernde, zugleich aber rauh-intime Stimme, die Nähe vermittelt, steht hier im Widerspruch zur überzeichneten Sprache. Im Anschluss bleibt die Kamera in der Detaileinstellung, um zu zeigen, dass Jack nach seiner Rede innehält, lauscht und auf die Resonanz des Hörers wartet. Diese lautet: »OK, Jack.« Die Sequenz setzt überaus direkt sowohl die Suggestivkraft im Stimme-Ohr-Komplex als auch die Hierarchie zwischen Moderator und Anrufer, die mit einem Unterwerfungsgestus des Anrufers verbunden ist, in Szene. Erst nachdem eine Hörerbestätigung erfolgt ist, beendet Jack das Gespräch mit den Worten: »Alles klar.« Dass nichts klar ist, man versäumte, sich über Nichtverstehen zu verständigen und somit Missverständnisse unausweichlich sind, merkt er nicht. Sorglos beendet der Moderator seine Sendung mit einer sprechenden Musikeinspielung: I’ve Got The Power. Der Höhenflug endet jäh, weil Jack tatsächlich die ›power‹ hat, die Macht über jemanden, der weniger auf ihn hört, als dass er ihn wörtlich nimmt und hörig seinem Aufruf folgt. Jack erfährt aus den Fernsehnachrichten, dass Edwin noch am selben Abend in der Szenekneipe Amok läuft, zunächst mehrere Menschen und dann sich selbst erschießt (vgl. Abb. 3 & 4).
Abb. 3 & 4: THE FISHER KING – Affektive Komposition von close ups
Ein Affektbild im Sinne von Gilles Deleuze26 – die Großaufnahme von Jacks Gesicht – markiert die Wende in der Biographie von Jack Lucas und im Plot einer phantastischen Geschichte, die voller Motive aus der christlichen Religion, Mythen und Märchen auftritt. Dazu sei nur erwähnt, dass dem fehlgeschlagenen Radioanruf mit missverstandenem Aufruf eine Gottesanrufung und ein Freundschaftsruf von Parry (gespielt von Robin Williams) folgen, der nach einem Schicksalsschlag – dem Verlust seiner Frau bei dem Amoklauf – traumatisiert und obdachlos auf Jack trifft. Der folgende Handlungsverlauf lässt sich somit durchaus als weitere Reflexion des Hörens, nun des Zuhörens als Öffnung zum Anderen und zur Welt, verstehen. 26 Vgl. Gilles Deleuze: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1989, Kap. 7, insb. S. 143ff.
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Sowohl in TALK RADIO als auch in THE FISHER KING wird deutlich, dass sich Radio als Medium des An- und Aufrufes und des Angerufen-Werdens immer schon dem Problem der Selbstkonstitution und -destruktion eines Subjektes öffnet. Der anfänglich bereits erwähnte Film THE BRAVE ONE verbindet gleichsam die Ebene der Selbstkonstitution, die sich auf ein »audio-phonisches System« des »sich im Sprechen-Vernehmens«27 stützen kann, mit der Ebene der Erinnerung.
Sich hören machen/lassen: THE BRAVE ONE Mit einer Kamerafahrt, die von den Dächern der Wolkenkratzer auf den Boden der Stadt New York hinunterführt, wird die Stadtgeräuschszenerie sichtbar und hörbar. Während man die Protagonistin mit dem Aufnahmegerät ausgestattet durch die Stadt gehen sieht, hört man den Listening Walk, kurzfristig auch unmaskiert durch extradiegetische Musik. Der Film setzt hier die Arbeit einer Radioreporterin mit O-Tönen oder ein Verfahren der Akustischen Kunst im Radio in Szene und bringt dem Zuschauer ein Stück Stadtgeräuschlandschaft zu Gehör, das für heutige Radioästhetik kennzeichnend ist und längst auch zum Sounddesign des Films gehört. Nach diesem sprachunabhängigen Intro wird schon bald die Stimme der Protagonistin aus dem Off hörbar. Das Spätere, die Verarbeitung der audio-visuellen Eindrücke zu einer Radiosendung, wird vorweggenommen: »Ich bin Erica Bain und wie Sie alle wissen, durchstreife ich die Stadt. Ich beschwere und beklage mich über sie, aber ich gehe, sehe und höre, bin Zeuge der Schönheit und der Hässlichkeit, die aus unserer geliebten Stadt verschwindet.« Während der Verlautbarung ihrer Worte, die Erica nah am Mikrofon spricht, so dass sich ein Innenraum öffnet, der in seiner Intimität durch leise Musik noch betont wird, verschwindet der auditive Außenraum der Stadtgeräuschlandschaft und auch die Bilder werden immer unschärfer. Überblendungen zwischen Hausfassaden gehen in Überlagerungen mit dem Produktionsraum, dem Studio der Rundfunkanstalt, über. Aus dem Stadtbild wird ein Bilderpalimpsest, aus dem urbanen Szenario eine Erinnerungslandschaft. Nicht nur das Gegenwärtige und das Spätere, auch das Vergangene und das Gegenwärtige durchdringen einander. Mit ihren Worten spricht Erica Geschehnisse der Vergangenheit, unvergessliche Personen und Bilder an, die mit New York verbunden sind. Derart evoziert sie etwa, dass sich die Stadt in Andy Warhols Sonnenbrille spiegelt. Überlappende Satzfragmente spielen zeitweise mit sprachlicher Polyphonie, die ebenfalls zu den Kennzeichen einer durch Akustische Kunst formatübergreifend veränderten Radioästhetik gehört. Ein weiterer Wechsel ins literarische Hörspielfeld schließt sich ebenso an wie die Evokation der Stimmen von Verstorbenen. Ein unstillbares Stimmbegehren neigt dazu, aus dem Äther der Frequenzen multiple Stimmen herauszuhören, auch Gottes Stimme28 oder Funksignale
27 Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt/Main 1988, S. 284; Petra Maria Meyer: Die Stimme und ihre Schrift, Wien 1993, S. 44ff. 28 Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Frankfurt/Main u.a. 1973, S. 316.
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von anderen Sternen wie in CONTACT (R. Zemeckis, USA 1997). Das Radio ist ein vielfältiger, phantasmatisch aufgeladener Resonanzraum. Neil Jordan präsentiert eine weitere Strategie von Bildentzug im Bild. Durch Überlagerung und Unschärfe wird figurierten und refigurierten Vorstellungsbildern Platz gemacht. So versucht THE BRAVE ONE, das Unsichtbare im Sichtbaren anzudeuten, bevor er Radio im Film auch als Institution und technisch-apparatives Bedingungsfeld sichtbar macht. Im Studio des Radiosenders sitzend, realisiert Erica ihre Sendung Street Walk, mit der sie an »Geschichten einer Stadt« erinnert, die sich aufzulösen scheint. Der Bildentzug ins Hörfeld hinein macht nicht nur radiospezifische Eigenarten deutlich, sondern vermag durch diese intermediale Strategie auch aufzuzeigen, dass alles aktuell und virtuell zugleich auftritt, in unaufhörlicher Verdoppelung der Gegenwart in Wahrnehmung und Erinnerung oder Vergessen. Derart gehört zur Exposition des Films auch ein Kristallbild im Sinne von Gilles Deleuze , das beim Blick auf die Filmbilder ermöglicht, die Wahrnehmung in der Erinnerung zu reflektieren.29 Die Protagonistin nimmt dabei eine beispielhafte Funktion ein. Streift sie in der Anfangsepisode mit dem Wunsch, sich zu erinnern, durch die Stadt, so wird sie nach einem Schicksalsschlag durch die Stadt getrieben, ohne vergessen zu können. Bei einem Überfall im Park wird ihr Verlobter David Kirmani brutal ermordet und sie selbst stark verletzt. Obwohl sie die Geschehnisse physisch übersteht, bleiben sie psychisch virulent. Angst vor Gewalt und eine neue Bereitschaft zur Gegengewalt kennzeichnen von nun an ihre Streifzüge. Sechs Menschen wird sie am Ende des Films erschossen haben, darunter auch die Täter des Überfalls im Park. Den letzten der drei Verbrecher kann sie jedoch nur mit Hilfe eines Polizisten – Detective Sean Mercer – töten, der im Film als nicht korrumpierbarer Gesetzeshüter charakterisiert wird. Die eigenartige, bis zur Absolution führende Wende in der Haltung des Polizisten zu diesem komplexen Fall von Selbstjustiz wird erst durch die intermediale Strategie des Regisseurs plausibel. Zweifellos spielt der Einsatz eines Videomitschnitts des Überfalls im Park eine Rolle, den Erica vor den letzten Tötungen an den Polizisten schickt und der zugleich eine neue Motivation für Gewalttaten unter neuen medialen Bedingungen reflektiert. Entscheidend für die figurenpsychologische Ebene, welche die Handlung plausibel macht, ist jedoch das Medium Radio im Film. Durch die expositorische Anfangsszene ist der Zuschauer bereits als Hörer sensibilisiert. Er wird im Verlauf des Films mit diversen key sounds konfrontiert und vermag einen Wandlungsprozess im identitätskonstituierenden Erinnerungsgeschehen per Tonband und Radio mitzuverfolgen. Identitätsarbeit ist hier gleichsam Identitätsumbildung. Via Tonband teilt Erica sich und den Zuschauern/Hörern mit, dass sie eine Fremde in sich entdeckt hat. Immer wieder sind es ihre Sendungen, die den Radiohörern im inneren Kommunikationssystem des Films und den Filmzuschauern im äußeren Kommunikationssystem mitteilen, wie sehr sich ihre Selbstwahrnehmung und ihre Wahrnehmung von Stadt und Welt verändert haben. Eine Schlüsselszene findet sich in der ersten Sendung nach dem Überfall, in der Erica über das Schweigen am Mikrofon – das gefürchtete Sendeloch, das schon in TALK RADIO bedrückend in Szene gesetzt wurde – nur langsam wieder zur Sprache findet 29 Vgl. Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt/Main 1997, S. 95ff.
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und ihre Angst bekennt. Während sie spricht, ändert sich die Kamera- und damit verbunden die Hörperspektive. Wurde anfänglich eine für die Radiostimme typische Raumlosigkeit zwischen Mund und Mikrofon in der Nahaufnahme ebenso visualisiert wie die Präsenz ihrer Worte in intimer Nähe erklang, so zeigt die Kamera zwischenzeitlich den Blick der Redakteurin, die außerhalb der Sendekabine stehend durch die Glasscheibe sieht. Bei diesem Gegenschuss hört der Zuschauer – und das ist entscheidend – für einen kurzen Moment lang eine bezeichnend andere Stimmqualität. Schalltote Aufnahmeräume setzen nicht selten ›Grabesstimmen‹ frei. Entsprechend erfolgt nach den abschließenden Worten ein Umschnitt auf Grabsteine, eine Friedhofssequenz. In der engen Verbindung zum endlichen Dasein und zu angstbesetzten Themen liegt der existenzielle Gehalt des Mediums Radio. Tod, Angst und Stimme gehören ebenso zusammen wie Stimme und Liebe. Über die Weite des Äthers sind sich Sean und Erica schon lange nahe. Immer wenn sie auf Sendung ist, wird der Zuschauer über eine alternierende Montage informiert, dass der Polizist ihre Show am Autoradio verfolgt (vgl. Abb. 5 & 6). Zeitweise gleichen ihre Ausführungen einem Dialog mit ihm.
Abb. 5 & 6: THE BRAVE ONE – Via Radio getrennt verbunden
Die persönliche Hörerbindung, deren Herstellung übliche Aufgabe des Radiosprechers ist, bekommt hier eine andere Brisanz. Radio steht in diesem Film gänzlich für eine Radiostimme, der die Leinwand fehlt, auf der sie sich repräsentieren könnte. Auch wenn der Film der Moderatorin ein Gesicht gibt, sie bleibt in diesem Sinne »eine Stimme und kein Gesicht«. Diese Stimme ist der eigentliche Protagonist des Films.30 Eine zweite Handlung im revenge thriller erscheint aus dieser Perspektive als ein ›Sich hören machen/lassen‹, »se faire entendre« im Sinne Jacques Lacans: »Während se faire voir mit einem Pfeil ausgedrückt werden kann, der tatsächlich auf das Subjekt zurückkehrt, geht das se faire entendre an den anderen. Der Grund dafür ist struktureller Art [alle Herv. i. O.].«31 Wie auf der Ebene der Schaulust der Blick, so wird im Hörfeld die Stimme eingesetzt, »um etwas zu suchen, das jeweils im Andern Antwort gibt«.32 Seans ungewöhnliches Verhalten mag die Antwort auf Ericas Sendungen sein. Zumindest wird aus dieser Hörperspektive die Kehre des Polizisten verständlicher – da er der Radiostimme, die er hörte, längst gehörte. 30 Eine ausführliche Stimmenanalyse kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen. 31 J. Lacan: Von der Liebe zur Libido, S. 204. 32 Ebd., S. 205.
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Fazit Während Radio tagtäglich eher halbbewusst rezipiert wird, also sich versteckt und umso eindringlicher auswirkt, macht der Film nicht selten auch dieses ›akustisch Unbewusste‹ des Radios kenntlich. Zugleich wird durch das Radio im Film auch im eigenen Selbst ein Erinnern an den Anderen und seine Andersartigkeit, die gerne vergessen wird, möglich. Dabei ist der graduell variable Bildentzug eine Strategie der medialen Reflexion, durch die auch ein Medienspezifikum des Films bewusst wird: die auditive Ebene des Bewegtbild-Mediums, die häufig übersehen wird. Durch Filme wie RADIO DAYS oder THE BRAVE ONE erweist sich die auditive Ebene als transmedial. Nicht nur technische, sondern auch ästhetische Parallelen werden deutlich. Durch Filme wie TALK RADIO lässt sich selbstreflexiv in einem paradoxen Wechselspiel der auditiven und visuellen Inszenierungsebene ein filmspezifisches Spannungsfeld erkennen. Medientheoretisch erhellend machen die hier untersuchten US-amerikanischen Filme insbesondere Parallelen und Differenzen zwischen Telefonie und Radiotelefonie deutlich und erweitern Erkenntnisse zu der Machtstruktur, die dem Dispositiv Radio innewohnt. Filme wie TALK RADIO decouvrieren die Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse hinter vermeintlicher ›Redefreiheit‹. On air zeigt sich, »dass der Zwang des Lebenskampfes die Beziehungen der Menschen regelt«.33 Als besonders relevant erweist sich die nähere Kennzeichnung der Medialität von Radio, die durch die Beobachtung der filmischen Beobachtung möglich wurde. Radio, Anruf und Aufruf sind gleichermaßen performativ, bezeichnen das, was sie tun, was sie vollziehen oder was zu vollziehen ist. Der filmischen Reflexion gemäß ist Radio insofern kein Ding, das substanziell zu verstehen ist. Vielmehr bildet es sich im Verfahren, in einer Handlung als Talkradio oder streetwalk oder erinnerndes ›Sich hören machen/lassen‹ häufig als live event selbst aus. So verstanden wird Radio im wechselnden, strategischen Einsatz der Kräfteverhältnisse performativ konstituiert.
Literatur Althusser, Louis: »Über die Ideologie«, in: Ders.: Ideologie und Staatsapparate – Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg 1977, S. 130-153. Arnheim, Rudolf: »Film als Kunst (1932)«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001, S. 176-200. Baudry, Jean Louis: »Le dispositif. Approches métapsychologiques de l’impression de réalité«, in: Communications 23 (1975), S. 56-72. Butler, Judith: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. Chion, Michel: La voix au cinéma, Paris 1982. Damasio, Antonio: Descartes’ Irrtum. Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, München 1995. Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt/Main 1989. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1997. 33 Max Horkheimer: Notizen in Deutschland (unter dem Pseudonym Heinrich Regius), Zürich 1934, S. 225.
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Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt/Main 1988. Felix, Jürgen: Woody Allen. Komik und Krise, Marburg 1992. Foucault, Michel: Dispositive der Macht, Berlin 1978. Hagen, Wolfgang: Das Radio. Zur Geschichte und Theorie des Hörfunks – Deutschland/USA, München 2005. Hampf, Michaela: Freies Radio in den USA – Die Pacifica Foundation 19461965, Münster 2000. Hay, Gerhard (Hg.): Literatur und Rundfunk, Hildesheim 1975. Horkheimer, Max: Notizen in Deutschland (unter dem Pseudonym Heinrich Regius), Zürich 1934. Lacan, Jacques: »Von der Liebe zur Libido«, in: Ders.: Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, Olten 1980, S. 196-210. McChesney, Robert: Telecommunications, Mass Media & Democracy – The Battle Over the Control and Structure of U.S. Broadcasting 1925-1935, New York 1993. Meyer, Petra Maria: Die Stimme und ihre Schrift, Wien 1993. Meyer, Petra Maria: Gedächtniskultur des Hörens, Düsseldorf 1997. Meyer, Petra Maria: »Akustische Kunst – Live event – Authentisches Erleben«, in: Gerd Hallenberger/Helmut Schanze (Hg.), Live is Life, BadenBaden 2000, S. 105-122. Meyer, Petra Maria: Intermedialität des Theaters, Düsseldorf 2001. Meyer, Petra Maria (Hg.): Acoustic Turn, München 2008. Meyer, Petra Maria: »Sehgewohnheiten durch neue Hörweisen ändern. Intermedialität in Radio, Film und Fernsehen«, in: Dies. (Hg.), Acoustic Turn (2008), S. 611-647. Meyer, Petra Maria: »Minimalia zur philosophischen Bedeutung des Hörens und des Hörbaren«, in: Dies. (Hg.), Acoustic Turn (2008), S. 47-73. Rauh, Reinhold: Woody Allen. Seine Filme – sein Leben, München 1991. Reimertz, Stephan: Woody Allen, Reinbek 2000. Schreber, Daniel Paul: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Frankfurt/Main u.a. 1973. Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 2008.
Belebung im Raum oder: »Das ist er, das ist seine Stimme!« Grammophon, Schallplatte und CD im Film fragen nach der Wirklichkeit des Tons JAN DISTELMEYER
Bevor die Bilder zu laufen beginnen, sagt irgendwer »Are the rest of you ready? Go ahead!« Dann, nach ungefähr sieben Sekunden, geht es los: Wir sehen und hören einen Mann, der vor einem riesigen Phonographen-Trichter eine Violine spielt, während zu seiner Linken zwei hemdsärmelige Herren ein wenig unsicher und merkwürdig angestrengt dazu tanzen (vgl. Abb. 1). Sie scheinen mehr darauf konzentriert, einander bei der Umarmung auf keinen Fall anzuschauen. Dann taucht unvermutet jemand von links im Bild hinter dem Trichter auf und der Film bricht nach ca. 17 Sekunden ab.
Abb. 1: DICKSON EXPERIMENTAL SOUND FILM
Gedreht wurde dieses Filmstück unter der Leitung von William Kennedy Laurie Dickson, der auch die Violine spielt, irgendwann zwischen September 1894 und März 1895 in den USA, genauer: in Thomas Alva Edisons Black Maria Studio. Bekannt ist es heute als DICKSON EXPERIMENTAL SOUND FILM, ein Katalogtitel wies es Ende der 1960er Jahre als VIOLIN BY W. K. L. DICKSON WITH KINETO aus. Es gilt als der erste Filmversuch für das von Dickson und Edison entwickelte Quasi-Tonfilmverfahren Kinetophone, das ein Kinetoscope mit einem Phonographen verband – als der, wie auch der
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Sounddesigner und Cutter Walter Murch betont, der bei der Restaurierung des Films im Jahr 2000 für die Synchronisierung von Bild und Ton zuständig war, älteste erhaltene Film mit synchronem Ton.1 Das Verhältnis von Schallplatte, Grammophon und Film, auch wenn der Phonograph noch mit Wachswalzen anstelle von Platten funktionierte, mag mit diesem Stück nicht unbedingt begonnen haben. Wer weiß, welche Dokumente noch entdeckt werden. Aber DICKSON EXPERIMENTAL SOUND FILM deutet zumindest die Dimension dieses Verhältnisses an. Es ist elementar: Die Filmgeschichte ist nur schwer von der Schallplatten- und GrammophonGeschichte zu trennen, und spätestens seit dem DICKSON EXPERIMENTAL SOUND FILM tauchen Phonographen, Grammophone und Schallplatten in Filmen auf. Bis in die 1930er Jahre war das Experimentieren mit dem Tonfilm auch ein Experimentieren mit Phonographen und Grammophonen, war die Geschichte des Tonfilms auch die der Schallplatte. Sei es bei Léon Gaumonts Chronophone und Oskar Messters Biophon zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder beim Sprechkino der Zeit des Nickelodeons, als unter den Namen Cameraphone, Cinephone, Phonoscope oder Vivaphone immer wieder »ein und dieselbe Technologie von Schallplatten, die mehr oder weniger mit dem Bild synchronisiert sind«,2 noch als die Zukunft des Kinos gehandelt wurde. Spannend und kaum zu überschauen ist das Verhältnis von Grammophon, Schallplatte (und später CD) und Film eben darum, weil das Erscheinen der ersteren in Filmen nur eine Seite dieser Beziehung ist, deren andere das Medium Film ganz grundlegend betrifft. So wie die verschiedenen Spielarten des Nadeltons die Schallplatte und ihre VorläuferInnen zum Teil der Filmentstehung und -präsentation machten, ist die CD als CD-ROM z.B. beim Kinobetrieb des digitalen Tonsystems DTS im Einsatz. Zur ikonographischen und technischen Verbindung kommt zudem noch eine (daran gekoppelte) industrielle hinzu, die nicht weniger wichtig ist. In Europa hatte die Schallplattenindustrie in den 1920er Jahren großes Interesse am Tonfilm gezeigt und der Welterfolg von THE JAZZ SINGER (A. Crosland, USA 1927) markierte den ersten Höhepunkt des an der Schallplatte hängenden Nadeltons, dem allerdings schon auf dem Fuße das absehbare Ende folgte, als sich im Mai 1928 nahezu alle Hollywood-Studios für das Lichtton-System von Western Electric entschieden.3 Doch auch unab1 2
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Vgl. Walter Murch: Dickson Experimental Sound Film 1895, o.J., online: http://filmsound.org/murch/dickson.htm [letzter Zugriff am 05.02.2009]. Rick Altman: »Die Geburt der klassischen Rezeption. Die Kampagne zur Standardisierung des Tons«, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 5/2 (1996), S. 3-22, hier S. 10. Vgl. Karel Dibbets: »Die Einführung des Tons«, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart 1998, S. 197-203, hier S. 198. »Für diese Technologie [Lichtton; JD] sprach weiterhin ihre leichtere Kopierbarkeit, die Ton- und Bildinformation auf einem Trägermaterial vereinte. Damit war eine größere Kontrolle über das Produkt ›Tonfilm‹ gegeben sowie kalkulierbarere Vorführungsbedingungen und ein geringerer Distributionsaufwand bei weniger Verschleiß und weniger Risiko der irreparablen Beschädigung im Vergleich zum Nadelton. Auch waren bei der NadeltonAufzeichnung und Wiedergabe existierende Schallplattenpatente der phono-
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hängig davon blieb die Filmindustrie aufs Engste mit der Plattenindustrie verflochten. Lange bevor das Blockbuster-Prinzip durch Crossmarketing und horizontale Integration der Medienkonglomerate für die besten Bedingungen sorgte, Film und Soundtrack, Celluloid und Vinyl wechselseitig zu bewerben, gingen die Interessen von Film- und Schallplattenindustrie Hand in Hand. Charles O’Brien hat exemplarisch gezeigt, inwieweit die »zahlreichen Schallplattenaufnahmen der ›Dreigroschensongs‹ […] die Produktion und Rezeption«4 von Georg Wilhelm Pabsts Mehrsprachenversionen DIE 3-GROSCHENOPER (D 1931) und L’OPÉRA DE QUAT’SOUS (F 1931) geprägt haben. Der Filmkritiker Hans Wollenberg hat um 1930 mehrfach auf die laufende »gegenseitige Befruchtung der Tonfilm- und der Schallplattenindustrie« hingewiesen, bei der »die Platte nicht nur Schritt für den Tonfilm« macht, sondern »umgekehrt auch die Tonfilmmusik für die Schallplatten-Produktion eine hervorragende Rolle«5 spielt.
Motive – Im Dienst der Narration Der Auftritt des Phonographen-Trichters in DICKSON EXPERIMENTAL SOUND FILM rückt etwas von der Funktionsweise dieses Films in den Blick. Vielleicht zum ersten – aber ganz gewiss nicht zum letzten – Mal wird ein Teil des Phonograph/Grammophon-Dispositivs in Szene und damit etwas wie Erkenntnis über das Medium Film und das Kino-Dispositiv in Gang gesetzt. Der Film, wenn man das nach 17 Sekunden sagen kann, handelt hier von sich und seinen Bedingungen, was spätere Spielfilme immer wieder anders versuchen werden. Aber möglicherweise fallen einem, wenn man an Grammophon, Schallplatte und CD im Film denkt, zunächst und vor allem jene Beispiele ein, bei denen Plattenspieler, Grammophone, Phonographen, Schallplatten und auch CDs als bestimmte Akteure oder Symbole in Erinnerung bleiben. Filme, in denen diese Soft- und Hardware sozusagen im narrativen Auftrag steht, um zumeist etwas über Menschen und ihre Situation zu erzählen. Ich denke an Filme, die Grammophon, Schallplatte und CD für die Erzählung benutzen, ähnlich wie Beck (Dwayne »The Rock« Johnson) am Anfang von THE RUNDOWN (P. Berg, USA 2003) einen Plattenspieler einsetzt, um ein paar zahlungsunwillige Footballspieler zu verdreschen.
4
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graphischen Industrie zu beachten, die bei der Konzentration der Tonfilmpatente mit einbezogen werden musste.« (Michael Wedel: »Klärungsprozesse. Tobis, Klangfilm und die Tonfilmumstellung 1928-32«, in: Jan Distelmeyer (Hg.), Tonfilmfrieden/Tonfilmkrieg, München 2003, S. 34-43, hier S. 41) Charles O’Brien: »Versionen, Radio und Grammophon. Die 3-Groschen-Oper und L’opera de quat’sous«, in: Jan Distelmeyer (Hg.), Babylon in FilmEuropa. Mehrsprachen-Versionen der 1930er Jahre, München 2006, S. 123-132, hier S. 123. Hans Wollenberg: »Schallplatte, Tonfilm und Kino«, in: Film und Ton (Wochenbeiblatt der Licht-Bildbühne) 26.04.1930. Z. n.: CineGraph e.V. (Hg.), Als die Bilder singen lernten. Krise und Goldenes Zeitalter des internationalen Musikfilms 1925-38, Hamburg 1998, S. 7.
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So wie wir hier verstehen sollen, dass in den Händen dieses Grobhelden alles zur Waffe wird, mag die Rolling Stones-Doppel-LP Exile On Main Street in SONNENALLEE (L. Haußmann, D 1999) als Objekt der Begierde von West(Pop-)Kultur und damit zugleich als Symbol einer nur ersehnten Aufgeschlossenheit der DDR dienen. Hier kann darum nicht der DJ, sondern nur die Platte selbst am Ende ein Leben retten. Ein Grammophon unter der Motorhaube als Autoradioersatz demonstriert uns in BUSY BODIES (L. French, USA 1933) den verqueren Einfallsreichtum von Laurel und Hardy, und wenn Woody Allen in PLAY IT AGAIN, SAM (H. Ross, USA 1972) mit einer lockeren Geste versehentlich eine Platte aus der Hülle schleudert, bestätigt sich das Bild des nervösen Schmocks und Anti-Casanovas. Sowohl in A CLOCKWORK ORANGE (S. Kubrick, GB/USA 1971) als auch in ONE FLEW OVER THE CUCKOO’S NEST (M. Forman, USA 1975) ist der Plattenspieler ein Zepter der Macht, ein Folter- und Therapieinstrument. Ihren Status als Auslaufmodell festigen der Alt-Rock’n’Roller Buddy (Ricky Tomlinson) in DAS LEBEN IST EINE BAUSTELLE (W. Becker, D 1997) wie auch Sylvester Stallone als ehemaliger Regionalheld Freddy Heflin in COPLAND (J. Mangold, USA 1997) dadurch, dass sie ihre Lieblingsmusik im CD-Zeitalter auf einem alten Plattenspieler hören. In Western wie THE MISSING (R. Howard, USA 2003) steht das Grammophon für den Abschied vom alten Westen und der frontier-Logik. Der Fortschritt ist angekommen, bald Status quo, und während damit auch das Ende des klassischen Westerns und seiner Erzählung vom Werden einer Zivilisation sein Zeichen hat, steht die CD in Filmen wie 9½ WEEKS (A. Lyne, USA 1986) und AUSTIN POWERS: INTERNATIONAL MAN OF MYSTERY (J. Roach, USA/D 1997) wiederum für eine neue Zeitrechnung. Deshalb kann der aus den 1960ern aufgetaute Vergangenheitsagent Austin Powers nicht anders, als eine CD der Birds, natürlich Mr. Tambourine Man von 1965, vergeblich auf einem Plattenspieler abspielen zu wollen. Auf den Umgang kommt es an: In WILD STYLE (C. Ahearn, USA 1983) ist das Scratchen der Platten – turntablism – Ausdruck und Technik einer neuen Subkultur. Die Idee, Phonograph, Grammophon und Platte als Zeichen oder Boten einer anderen Kultur zu inszenieren, ist unzählige Male verfolgt worden. Queen Latifah wirft in SET IT OFF (F. G. Gray, USA 1996) erst einmal demonstrativ alle CDs mit nicht genehmer Musik aus dem eben geknackten Auto (»Bullshit, bullshit, fucking bullshit!«; vgl. Abb. 2), bevor die Hip HopQueen dann zu I Ain’t No Joke von Eric B. & Rakim Gas gibt. ICH WAR NEUNZEHN (K. Wolf, DDR 1968) beginnt mit einem russischen Plattenspieler, der einen fröhlichen Walzer über die Schlachtfelder schickt, um das Ende des Krieges einzutakten: »Achtung, Achtung, deutsche Soldaten, wir beginnen unsere Sendung. Der Krieg ist endgültig verloren. Eure Lage ist hoffnungslos.«
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Abb. 2: Von Queen Latifah in SET IT OFF aussortiert
In SCHINDLER’S LIST (S. Spielberg, USA 1993) ist die Plattenspieler-Musik, die im Lager aufgelegt und über Lautsprecher verstärkt wird, Ausdruck der unerträglichen, aber eben nicht paradoxen Verbindung von Technik, Kultur und Barbarei im Nationalsozialismus, während das gleiche Motiv in LA VITA È BELLA (R. Benigni, I 1997) eher mit Ausbruch, Traum, Erinnerung, kurz: mit einem ›Anderen‹ zu tun hat. Benignis Guido schickt hier die OffenbachBarcarole als Liebesgruß durch das KZ, bevor die Musik angesichts des schemenhaften Leichenbergs verstummt (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: Das Grammophon in LA VITA È BELLA
In OUT OF AFRICA (S. Pollack, USA 1985) sind Grammophon und MozartPlatten Insignien der westlichen Kultur, die dem Afrika-Abenteurer Denys Finch Hatton (Robert Redford) wichtig sind und sein Bild als geliebten Traummann und das ›Beste aus zwei Welten‹ von Anfang an skizzieren. Das Grammophon ist auch in FITZCARRALDO (W. Herzog, D 1982) der Lautsprecher weißer, westlicher Zivilisation, imperialistischen Wahns und alteuropäischer Hochkultur, beschallt Wälder und Flüsse. Noch berühmter aber ist die Kulturpolitik in NANOOK OF THE NORTH (R. J. Flaherty, USA/CDN 1922). Hier darf die Wildnis westlicher, weißer Kultur begegnen, indem der Titelheld gleich dreimal in eine Schallplatte beißen muss, um seine Rolle als ›das
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Andere‹ der symbolisierten Zivilisation gegenüber zu behaupten und belächeln zu lassen.6
Abläufe speichern und spielen Damit ist noch nicht einmal ein Bruchteil der Rollen angedeutet, die Grammophon, Schallplatte und CD in Filmen bislang übernommen haben. Viel wäre noch zu sagen über z.B. Jack Lemmons Kofferplattenspieler in THE APARTMENT (B. Wilder, USA 1960), das Ausflugs-Grammophon im Schilf in MENSCHEN AM SONNTAG (K. Siodmak/R. Siodmak/E. G. Ulmer/F. Zinnemann, D 1930) oder über die Musikkassette in JACKIE BROWN (Q. Tarantino, USA 1997). Der Walkman in Filmen wie AMERICAN PSYCHO (M. Harron, USA 2000) und DIVA (J.-J. Beineix, F 1981) wäre ein eigenes Thema – wie überhaupt die Mobilisierung von Musik im Film als Individualvergnügen mit allen Folgen für die Gemeinschaften auf und vor der Leinwand. Nicht weniger interessant ist der Mythos des Digitalen, die ›Digitalizität‹ in Form des Versprechens der makellosen, nicht verschleißenden Brillanz des Klangs, der – wie bei Mickey Rourkes audiophilia-Gestus in 9½ WEEKS – seit Mitte der 1980er die CD begleitet.7 Auch über die Funktion von Schallplatten bei Jean-Luc Godard wäre noch zu reden, in dessen MASCULIN FÉMININ: 15 FAITS PRÉCIS (F/S 1966) es um zwei sehr unterschiedliche Plattenproduktionen der Kinder von Marx und Coca Cola geht. Das Endprodukt der einen Seite seiner Filmgleichung ONE PLUS ONE (GB 1968), die Studioarbeit der Rolling Stones bei der Entwicklung eines ihrer berühmtesten Songs, wollte Godard nicht vorführen. Sympathy For The Devil sollte in ONE PLUS ONE nicht aufgelegt werden, es ging nicht um die Platte, vielmehr um deren Produktion – was Godards Produzent Ian Quarrier dann wiederum ignorierte und für einen Skandal sorgte, als er seine Version des Films tatsächlich mit dem kompletten Song enden ließ. Um aufzunehmen, wie ein Film entsteht oder funktioniert, müssen Godard-Filme nicht unbedingt Kameras, einen Schneidetisch oder ein Filmteam zeigen. Indirekter als DICKSON EXPERIMENTAL SOUND FILM handelt ONE PLUS ONE auch von der Filmproduktion, indem er die Herstellung einer Schallplatte verfolgt. Populärkultur: Beide, Film und Schallplatte, speichern mechanisch Bewegung und Zeit, halten laufende Bilder und/oder aufeinander folgende Töne fest, um sie wiederzugeben. Film und Platte fixieren Abläufe und führen sie vor. Auch davon zeugt schon Dicksons Experiment. Es könnte deshalb durchaus an der langen und systematischen Verbundenheit von Schallplatte und Film, von Grammophon und Kino liegen, dass die Filmgeschichte voll ist von Beispielen, in denen gerade der Auftritt von Grammophon oder Platte eine Reflexion über Möglichkeiten und Bedingungen des Films anschiebt.
6 7
Vgl. dazu Michael Taussig: Mimesis and Alterity. A Particular History of the Senses, New York 1993, S. 193-235. Vgl. dazu Will Straw: »In Memoriam. The Music CD and Its Ends«, in: Design and Culture 1/1 (2009), S. 79-92; Jan Distelmeyer: Das flexible Kino. Ästhetik und Dispositiv der DVD & Blu-ray, Berlin 2012, S. 173-179.
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Eines der interessantesten Werke ist À NOUS LA LIBERTÉ (R. Clair, F 1931), der am Beginn des Tonfilms eine phantastische Parabel über die Verbindung von Fließband und Gefängnis, Moderne und Automation, Tonfilm und Plattenindustrie liefert und am Ende die Vollautomatisierung einer Plattenspielerfabrik in die Vision eines französischen Kommunismus münden lässt. Am Schluss des Films wird die Fabrik, die der Industrielle und dereinst entflohene Zuchthaushäftling Louis hat errichten lassen, den Arbeitern geschenkt. Bis dahin hatten diese nach dem gleichen Prinzip am Fließband geschuftet, das Louis im Gefängnis gelernt hatte (vgl. Abb. 4). Nun wird getanzt.
Abb. 4: Louis’ Plattenspielerfabrik in À NOUS LA LIBERTÉ
Hier bewegt sich alles; so wie der Plattenteller rotiert (und später die Tanzenden) und das Fließband rollt, dreht sich die Kamera und läuft der Film durch den Projektor – genauer: der Tonfilm im Lichttonverfahren, für den keine Platte mehr mitlaufen muss, weil der gedrehte Bildstreifen die Tonspur mitführt. Ein ganz besonderer Moment dieses Tobis-Tonfilms ist darum jener, in dem Louis’ Freund Emile ein junges Mädchen kennenlernt, weil er glaubt, ihre betörende Gesangsstimme durch ihr offenes Fenster gehört zu haben. Dabei war es gar nicht ihre Stimme, sondern nur ihr Grammophon. Dieser Moment des Verkennens (das Grammophon trudelt langsam und verzerrend aus) lässt sich nicht nur als netter Kommentar zum Nadelton verstehen, sondern behandelt zugleich einen entscheidenden Aspekt, ein Versprechen und eine Eigenschaft des Tonfilms.
Grammophon-Tricks So wie der Film seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder versuchte, die laufenden, aber eben nicht sprechenden Bilder mit ›ihrem‹ Ton (und nicht nur mit begleitender Musik, Geräuschen, Erzählern etc. im Kinosaal) weiter zu beleben, mithin die Leibhaftigkeit der Illusion zu perfektionieren, so zeigen unterschiedlichste Filme, wie mit Schallplatte und Grammophon die Vorspiegelung leibhaftiger Präsenz funktioniert. À NOUS LA LIBERTÉ ist einer von ihnen. Die Hoffnung und das Versprechen des Tonfilms, mit dem synchronen Ton die lebenden Bilder zu vervollkommnen (vermeintlich auf Kosten des gewonnenen Kunstanspruchs, wie die Tonfilmdebatte Ende der
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1920er Jahre demonstrierte), wird in Filmen verarbeitet, die von der Illusion handeln, mit Ton – und insbesondere mit der Schallplatte – leibhaftige Präsenz zu behaupten. Während À NOUS LA LIBERTÉ sich dazu nur in einem Augenblick verhält, ist diese Illusion ein zentrales Thema in Fritz Langs zweitem Tonfilm DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (D 1933). Der hinter einem Vorhang verborgene Dr. Mabuse alias Dr. Baum ist nur präsent durch seine Stimme, die tatsächlich aus Lautsprechern kommt. Dieses Prinzip gipfelt in dem berühmten, von Lang ausgetüftelten Grammophon-Trick, durch den sich Dr. Baum als Drahtzieher und ›Mann hinter dem Vorhang‹ Alibis verschafft: Sobald jemand in seinem abgeschlossenen Arbeitszimmer die Türklinke herunterdrückt, wird eine Grammophonplatte mit den Worten »Ich möchte jetzt nicht gestört werden!« in Gang gesetzt. Ähnliches ist seitdem immer wieder inszeniert worden, zu den bekanntesten Beispielen gehören THE LADYKILLERS (A. Mackendrick, GB 1955) mit den vorgeblichen Menuett-Proben oder – um in ein ganz anderes Genre zu wechseln – FERRIS BUELLER’S DAY OFF (J. Hughes, USA 1986). In jedem Fall ist nur der Ton (und sein Apparat) anwesend. »Das ist er, das ist seine Stimme!«, ruft einer der Verfolger Mabuses aus, bevor die Tür aufgebrochen und der Grammophon-Trick entlarvt wird (vgl. Abb. 5).
Abb. 5: Kommissar Lohmann entdeckt den Grammophon-Trick in DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE
Das ist er: Der Klang der Schallplatte macht lebendig, und dies vielleicht auch deshalb, weil der Ton immer schon räumlich ist. Wie Rick Altman unterstreicht, können Töne nicht »in einem zweidimensionalen Kontext« existieren: »Weil Ton immer in einem bestimmten dreidimensionalen Raum aufgenommen worden ist und in einem anderen abgespielt wird«, spricht Altman von einer »räumlichen Signatur«,8 die der Ton somit auch dem Film verleihen kann. Der Klang schwingt im Raum – mögen die projizierten Bilder auch 8
Rick Altman: »General Introduction: Cinema as Event«, in: Ders., Sound Theory/Sound Practice, New York 1992, S. 1-14, hier S. 5.
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als zweidimensional angesehen werden (darauf legten die Kinobetreiber, wie Altman zeigt, zunächst durchaus Wert), weil die glatte, geometrisch exakt angeordnete und angestrahlte Fläche vor den Sitzreihen des Publikums der Platz für das Bild-Geschehen sein sollte. Der Ton hingegen ließ die Kinoerfahrung immer schon zu einer dreidimensionalen Angelegenheit werden. Michel Chions Hinweis, dass das Bild – abgesehen von Split Screen-Versuchen und längerer Doppelbelichtung – regelmäßig in der Einzahl blieb, während »der Ton immer schon plural«9 gewesen ist, unterstützt den Raumaspekt. Er hebt die Schichten des Tons hervor, die Ebenen, die sich im Kinoraum ausbreiten, und hat z.B. bei einem Begleitorchester zur Stummfilmzeit schon Jahrzehnte vor Dolby Surround Gültigkeit. Eine Szene aus GERMANIA ANNO ZERO (R. Rossellini, I 1948) arbeitet genau damit: mit dem Belebungsprinzip des Tons sowie seiner räumlichen Signatur. Die Ausbreitung des Klangs in einem gegebenen Raum (Berlin/Deutschland) lässt hier für Momente etwas lebendig erscheinen, was kein Film- oder Trugbild, sondern Vergangenheit ist. Der Berliner Junge Edmund Koehler erhält von dem ehemaligen Lehrer und Nazi Henning den Auftrag, eine Schallplatte mit einer Rede Hitlers an »Amis oder Tommies« zu verkaufen. Leihweise wird er mit einem Grammophon ausgestattet, auf dem er zwei englischen Soldaten in der zerstörten Reichskanzlei die Platte vorführt. Sobald das Grammophon läuft, ist nur noch Hitlers Durchhalterede – »...dass ich das ganze deutsche Volk aufrichten darf und aufrichten kann...« – zu hören. Ein alter Mann sieht sich in den Ruinen (nach der Quelle der Stimme?) um, ein Panoramaschwenk blickt über das zerstörte Berlin. In diesem Moment, beinahe schon zu aufdringlich, lebt Hitler fort, ist als Hall noch da, weht über die Trümmer des »Tausendjährigen Reiches«, bewahrt auch in den Körpern der »Volksdeutschen«, und ist zugleich natürlich nur eine Erinnerung, die gespeichert und mittels Technik wiedergegeben bzw. heraufbeschworen nun den Raum füllen kann und Leibhaftigkeit nur vorgibt. Hitler spricht eben nicht, sondern nur ein Apparat mit einer akustischen Nazi-Devotionalie. Die anhaltende und weit verbreitete Annahme, Filme könnten Geschichte ›lebendig‹ machen, ist hier schon als Kunstgriff entlarvt. Diese Grammophon-Szene, die bereits 1948 erzählt, wie Deutsche mit ihrer Nazi-Vergangenheit Kasse machen, erscheint mir heute beinahe wie ein prophetischer Kommentar zu den jüngsten großen deutschen Geschichtsfilmen und -fernsehreihen, mit denen noch um die 60 Jahre später der Untergang symbolisches und reales Kapital einbringt. In dem Moment, in dem zum Panoramaschwenk über das zerstörte Berlin der Grammophon-Klang unvermindert zu hören ist, als befänden wir uns immer noch mit Edmund und seinen Kunden neben dem Apparat, führt das Belebende und Räumliche des Klangs, mit dem der Tonfilm arbeitet, zusätzlich zu einer weiteren Grundfrage: zu der nach dem Verhältnis von Ton und Bild, die im Begriff der Diegese virulent wird. Die Diegese forscht danach, woher der jeweilige Ton stammt und wer ihn eigentlich zu hören vermag.
9
Michel Chion: »Sanfte Revolution und rigider Stillstand«, in: Meteor 15 (1999), S. 35-46, hier S. 38.
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Was ist (nicht-)diegetischer Ton? Der Ton in GERMANIA ANNO ZERO, die Hitler-Rede, hat zunächst eine Quelle, die im Bild zu sehen ist. Und doch scheint dieser Ton seiner Herkunft, dem Grammophon, auf wunderbare oder teuflische Weise zu entkommen. Er wird zum Filmton, der auf seine Herkunft pfeift, weil er zu allen Bildern gehören kann. Dieses Stilmittel ist populär, viele der bereits genannten Filme und auch der erwähnten Szenen – z.B. in LA VITA È BELLA und OUT OF AFRICA – arbeiten damit: ein Ton/Geräusch/Musikstück, dessen Quelle im Bild sichtbar ist, macht sich selbstständig und überwindet von Szene zu Szene räumliche, zeitliche und logische Grenzen. Die räumliche Signatur dieser Töne kann sich ändern, indem z.B. Hintergrundgeräusche ausgeblendet werden, der Klang ›voller‹ wird oder sich eine zerkratzte Schallplatte plötzlich in einen lupenreinen Orchesterton verwandelt. Man könnte dies als einen Übergang vom diegetischen zum nicht-diegetischen Filmton bezeichnen – jedoch nur, um damit produktive Verwirrung zu stiften. Auch dies scheint mir das Auftreten von Grammophon, Schallplatte und CD im Film herauszufordern. Um das zu erläutern, will ich hier kurz auf die Problematik des Begriffs der Diegese eingehen, die 2007 mehrere Beiträge der Zeitschrift montage/av aufgegriffen haben. Etienne Souriau hatte 1951 den Begriff der Diegese in seinem Vokabular der Filmologie eingeführt. Nach Souriau umfasst Diegese all das, »was sich laut der vom Film präsentierten Fiktion ereignet und was sie implizierte, wenn man sie als wahr ansähe, z.B.: Die nur wenige Minuten auseinanderliegenden Szenen, in denen eine Figur zunächst als Kind, dann als Erwachsener 10 auftritt, unterstellen einen diegetischen Zeitsprung von etwa fünfzehn Jahren.«
Bis heute wird diese Kategorie in Einführungen z.B. der deutschen und USamerikanischen Filmwissenschaft verwendet. Rüdiger Steinmetz definiert Diegese als »die Welt der Fiktion, die durch die Erzählung geschaffen wird und evoziert wird. Zu den in den Bildern und Tönen liegenden Informationen kommen all jene von der Erzählung mobilisierten Vorkenntnisse des Zuschauers hinzu, auf die er zurückgreift, um das Geschehen räumlich zeitlich [sic!] einordnen zu können. Man unterscheidet zwischen diegetischen und nicht-diegetischen (intra- oder extradiegetischen) Ton- und Bildsequenzen. Nicht-diegetisch sind beispielsweise Vor11 und Abspann.«
»Nichtdiegetische Elemente des Films«, erläutert Rainer Rother, »sind definiert als solche, die von einer Figur des Films nicht wahrgenommen werden
10 Etienne Souriau: »Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie (1951)«, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 6/2 (1997), S. 140-157, hier S. 156. 11 Rüdiger Steinmetz: Grundlagen der Filmästhetik – Filme sehen lernen 1, Frankfurt/Main 2005, S. 17f.
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können.«12 Die Problematik dieser Unterscheidung zwischen diegetischen und nicht-diegetischen Elementen wird gerade dann virulent – so denke ich –, wenn es um Ton geht. Was ist (nicht-)diegetischer Ton? Auch Hans J. Wulff beschreibt den diegetischen Ton als »Filmton, der von Objekten oder Akteuren in der erzählten Welt erzeugt wird« und der »für die Akteure der Diegese selbst hörbar« ist: »Insbesondere die Filmmusik entstammt oft nicht der Diegese, sondern ist extradiegetisch, hat kommentativen, psychologisierenden oder ähnlichen Charakter. Manchmal wird mit der Zugehörigkeit des Tons zur erzählten Welt gespielt – so erklingt in Robert Bentons KRAMER VERSUS KRAMER [USA 1979; JD] Vivaldische Lautenmusik, als der Held die Straße hinuntergeht, erweist sich aber als diegetische Musik, die von zwei Straßenmusikern veranstaltet wird. In Mel Brooks’ SILENT MOVIE [USA 1976; JD] fährt ein ganzer Bus, vollbesetzt mit einem mexika13 nischen Orchester, durchs Bild, wiederum die Musik diegetisierend.«
David Bordwell und Kristin Thompson charakterisieren diegetischen Ton entsprechend als »in the story space« – aufgeteilt in »internal (subjective) or external (objective)«. Nicht-diegetisch liegt entsprechend »outside the story space«.14 Wie schwierig diese Grenzziehungen durchzuhalten sind, führen uns vor allem Musicals vor. Eines der berühmtesten Beispiele, SINGIN’ IN THE RAIN (S. Donen/G. Kelly, USA 1952), eignet sich hier besonders gut, weil dieser Film nicht nur explizit vom Tonfilm handelt und dessen Entstehungsgeschichte erzählt, sondern auch, weil dabei das Grammophon eine wichtige Rolle spielt. Um Stimmprobleme der Stummfilmdiva Lina Lamont (Jean Hagen) zu beheben, erfinden Don Lockwood (Gene Kelly), Kathy Selden (Debby Reynolds) und allen voran Cosmo Brown (Donald O’Connor) für ihren ersten Tonfilm gleich auch die erste Tonfilmsynchronisation, indem sie Kathys Stimme auf Schallplatte speichern. Wie Dickson um 1894 tönt Kathy dafür in den Trichter. Beide Filme verhandeln etwas von ihrer Medialität: Indem der Nadelton gleich doppelt zum Einsatz kommt, reflektiert SINGIN’ IN THE RAIN spielerisch das Tonfilmverfahren jenes Films, der den ganzen Tonfilmdruck in SINGIN’ IN THE RAIN überhaupt erst auslöst: THE JAZZ SINGER. Damit ist die grundlegende Frage nach der Quelle des Tons im Film bereits als heikel ausgestellt. Sie ist ein Leitthema in SINGIN’ IN THE RAIN, der in seinen zahlreichen Sing-und-Tanz-Nummern diese Frage unweigerlich auch im Hinblick auf diegetischen und nicht-diegetischen Ton aufwirft – am frechsten vielleicht beim Stück Good Morning, wenn in Küche und Wohnräumen des Lockwood-Anwesens zu genretypisch unsichtbarer Orchestermu-
12 Z. n.: Anton Fuxjäger: »Diegese, Diegesis, diegetisch. Versuch einer Begriffsentwirrung«, in: montage/av – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 16/2 (2007), S. 17-37, hier S. 26. 13 Hans J. Wulff: »Diegetischer Ton«, in: Lexikon der Filmbegriffe, o.J., online: http://www.bender-verlag.de/lexikon/lexikon.php?begriff=Diegetischer+ Ton [letzter Zugriff am 04.10.2008], o.S. 14 David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art – An Introduction, New York 1997, S. 333.
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sik gesungen und getanzt wird, was die Kamera mit unbeschwerten Fahrten durch die (wie Kulissen durchgängigen) Räume verfolgen kann. Was ist hier nicht-diegetischer Ton? Doch wohl die Musik, die uns ja nicht durch einen Schwenk auf das Orchester im Nebenraum als diegetisch präsentiert wird. Die Quelle des Gesangs ist im Bild zu sehen, die der Musik nicht – klar, es ist Filmmusik, Musik, die von Objekten oder Akteuren in der erzählten Welt nicht erzeugt wird und darum nicht gehört werden dürfte. Das Problem ist nur, dass sie ganz offenbar irgendwie doch von diesen Akteuren gehört wird. Sie singen und tanzen zu ihr. Die Töne des nicht existenten Orchesters schleichen sich auf merkwürdige Weise in das ein, was Bordwell und Thompson den »story space« nennen. Wozu Don, Kathy und Cosmo singen und tanzen, ist so etwas wie ein Paradoxon der Diegese. Es ist zugleich diegetisch und nicht-diegetisch. Und es sind diese Töne, die uns bei der Frage, was wir mit den Figuren der Diegese teilen, zu einem weiteren Problem führen. Zu einem Problem, das Anton Fuxjäger so beschrieben hat: »Aber Moment mal: im Kino sehen oder hören wir doch keinen einzigen Teil der Diegese, kein einziges Element der erzählten Welt – schließlich sind wir nicht dort, sondern im Kino. […] Der gesamte Film befindet sich ›außerhalb der er15 zählten Welt‹.«
Die Diegese ist das Ergebnis unserer Vorstellung während und nach der Begegnung mit dem Film und dem Spiel seiner Erscheinungen. Sie ist all das, was man nach Souriau »als vom Film dargestellt betrachtet und was zur Wirklichkeit, die er in seiner Bedeutung voraussetzt [Herv. i. O.], gehört«.16 Im Kino, so Fuxjäger, haben wir es lediglich mit Zeichen zu tun, »die auf die Diegese verweisen oder genauer gesagt: uns dazu veranlassen, eine Vorstellung der Diegese zu konstruieren«.17 Es kommt auf unsere Vorstellung an. Der diegetische Raum, so hatte Souriau geschrieben, »wird nur im Denken des Zuschauers rekonstruiert«.18 Das visuell Artifizielle der Good Morning-Sequenz aus SINGIN’ IN THE RAIN arbeitet einer Bedeutung zu, in der das unsichtbare Orchester (die Künstlichkeit der Musik) Teil einer Diegese ist, die nicht zuletzt – so wie ich es sehe – von der Kunst und Künstlichkeit des Films handelt. Der anschließende Einsatz der Schallplatte, der Lina/Kathy-Grammophon-Trick sozusagen, gibt dem ein Bild.
15 A. Fuxjäger: Diegese, Diegesis, diegetisch, S. 26. 16 E. Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie, S. 151. 17 A. Fuxjäger: Diegese, Diegesis, diegetisch, S. 27. 18 E. Souriau: Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie, S. 144.
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Die Wirklichkeit des Tons Das Paradoxon der Diegese, das uns SINGIN’ IN THE RAIN vor Augen und Ohren führt, verstehe ich als ein Argument sowohl gegen als auch für die oben genannten und offenbar problematischen Definitionen. Das Beispiel bringt die Definitionen zum diegetischen und nicht-diegetischen Ton an ihre Grenzen. Und doch ist es gerade das Ringen mit diesen Kategorien und ihren eilfertigen Festschreibungen, das zu einer Eigentümlichkeit des Filmtons (nicht nur im Musical) führt: zum Filmton als etwas Gespenstischem, das im selben Moment anwesend und abwesend sein kann. Für diesen Aspekt des Tonfilms spielen Grammophon, Schallplatte, CD oder andere Tonträger im Film deshalb eine besondere Rolle, weil sie dem Ton eigentlich eine fixierte Quelle geben. In dem Moment aber, in dem der vom Apparat und seinem Tonträger stammende Klang seinen Ursprung zu verlassen scheint, zum Filmton wird, der in einer Szene dann auch nicht mehr von den Akteuren gehört wird, indem also – wenn man so will – der diegetische Ton nicht-diegetisch wird, steht die Grenze selbst im Mittelpunkt und zur Debatte. Dies geschieht in der Schallplatten-Szene in GERMANIA ANNO ZERO; so entsteht die Frage (und nicht die Antwort), was die zerstörten Gebäude mit Hitlers Stimme oder mit jenen, die sie so vernehmlich erklingen lassen, zu tun haben. Das Ende von A CLOCKWORK ORANGE, wenn der Plattenspieler samt Verstärker und den riesigen Lautsprechern ins Krankenzimmer rollt und Freude, schöner Götterfunken erschallt, fragt ebenso nach dem Status der letzten Einstellung von Alex (Malcolm McDowell) beim »alten Rein-RausSpiel«. In unzähligen Beispielen schwingt sich eine abgespielte CD oder Platte vom diegetischen Szenenton zum nicht klar zu lokalisierenden Filmton auf. Den umgekehrten Weg, sozusagen vom nicht-diegetischen zum diegetischen Ton, bereitet in SOUS LES TOITS DE PARIS (R. Clair, F 1930) wiederum eine Schallplatte: Die noch ortlose Begleitmusik einer Szene stockt plötzlich merkwürdig, bevor wir zu sehen bekommen, dass diese Musik in der Tat von einer Platte kommt, auf der die Nadel hängengeblieben ist. Vergleichbares geschieht bei der Ich wollt’, ich wär ein Huhn-Musicalnummer im IT HAPPENED ONE NIGHT-Remake GLÜCKSKINDER (P. Martin, D 1936), in der Paul Kemp den hängenden Tonarm dann ›zurechtschießt‹. Die Schwelle, von der anderen Seite aus passiert, rückt auch so ins Zentrum. In die eine oder andere Richtung formulieren diese Filme die Frage, was (nicht-)diegetischer Ton ist. So entpuppt sich die Glaubwürdigkeit der Töne, die den synchronen Tonfilm antreibt, die laufenden Bilder belebt und in Filmen wie DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, À NOUS LA LIBERTÉ, SINGIN’ IN THE RAIN, THE LADYKILLERS oder FERRIS BUELLER’S DAY OFF ein Thema der Narration wird, letztlich nur als eine andere Ebene desselben Komplexes, der von Beginn an den Film begleitet hat. Es ist die Frage nach dem, was ich – mit aller Vorsicht – die ›Wirklichkeit des Tons‹ nennen möchte.
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»You can get anything you want.« Telefonie im Film BJÖRN BOHNENKAMP
»Das Telefon im Film, unter diesem Blickwinkel: Ein technischer Kommunikationsbeschleuniger, der Raum und Zeit überwindet; eine narrative Zentrifuge, die Spannung erzeugt und sie mit Realitätsbezug anreichert; ein unerbittlicher Selektionsfilter, der Handlungsstrukturen kommunikativ organisiert und sortiert; eine endlose Diskursmaschine, die die Selbstverständlichkeiten der Alltagsgespräche ebenso produziert wie kommunikative Strategieund Machtkämpfe; ein anonymer Mechanismus, der die Schurken des Außergewöhnlichen aus den Nischen zwischen Reden und Schweigen kriechen läßt; eine soziale Nabelschnur, Tempel des Selbstgesprächs mit anderen, Wunschmaschine, 1 Befehlszentrale…«
Schon seit Beginn der Filmgeschichte stehen Film und Telefon in einer ganz besonderen Beziehung: Das eine Medium bietet dem anderen immer wieder neue Gelegenheiten des Auftritts, das andere setzt sich im einen immer wieder neu in Szene.2 Die vermutlich ersten Auftritte eines Telefons im Film sind die beiden Versionen der Edison Manufacturing Company-Produktion THE TELEPHONE (USA 1898).3 Ein Schild zeigt gleich auf, was diese neue
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Bernhard Debatin: »Riskante Gespräche. Kommunikationsstörungen und -abbrüche im (Film-)Telefonat«, in: Ders./Hans J. Wulff (Hg.), Telefon und Kultur. Das Telefon im Spielfilm, Berlin 1991, S. 21-47, hier S. 9. Vgl. auch die schon umfangreichen Forschungsarbeiten zu diesem Verhältnis, vor allem die Zusammenstellung bei Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, sowie neuere Ansätze bei: Ned Schantz: »Telephonic Film«, in: Film Quarterly 56/4 (2000), S. 23-35; Heinz-Jürgen Köhler/Hans J. Wulff: »Filmtelefonate«, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt/Main 2000, S. 125-141; Björn Bohnenkamp: »I’m There, Right Now«. Auftritte des mobilen Telefons im Film, Frankfurt/Main 2010. So vermutet zumindest Jan Olsson: »Framing Silent Calls – Coming to Cinematographic Terms with Telephony«, in: John Fullerton/Ders. (Hg.), Allego-
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Technologie alles vermag: »Don’t travel. Use the telephone. You can get anything you want.«4 Die gemeinsame Geschichte beider Medien reicht historisch noch weiter zurück: »The telephone and the cinema share a parallel history. Born in the late nineteenth century, each achieved a certain kind of stability in the first half of the twentieth century, and each has now entered a period of mutation and complex interconnection with other technologies.«5 In diesem Zitat scheint auf, was es besonders komplex macht, der Beziehung von Telefonen und Filmen nachzuspüren: Es ist zunächst einmal heikel, Telefon und Film als Medien zu charakterisieren. Zwar haben beide eine Zeit relativer Stabilität im Gebrauch hinter sich, aber sie befinden sich – und befanden sich stets – in Phasen der Mutation und der komplexen Verschaltung mit anderen Technologien. So verliert die Differenz zwischen Fotochemie und Elektrizität, den ursprünglichen technologischen Grundlagen beider Medien, im Zeitalter digitaler Datenspeicherung und -übertragung ihre Relevanz. Hingegen entfaltete sich die Differenz zwischen dem Verbreitungsmedium Telefon und dem Speichermedium Film erst im Prozess ihrer sozialen Aneignung. Telefone haben sich als transitorische Medien durchgesetzt. Der Film kommt hier dem Telefon entgegen, er leiht ihm seine Fähigkeit, zunächst Visuelles und später auch Akustisches zu speichern. Der Film ermöglicht dem Telefon die Schaffung eines hundertjährigen medialen Gedächtnisses. Ein ganzes Arsenal telefonischer Praxen kann archiviert werden – das hoffnungsvolle Warten oder sorgenvolle Bangen vor dem Anruf, die Vielfalt der akustischen Signale, mit denen das Telefon einen Anruf markiert, die Hinwendung des Anrufers zum Telefon, seine Gesprächsführung und zugleich das, was dem Gesprächspartner verborgen bleibt, Gestik, Mimik, Körperhaltung und die Möglichkeiten, das Telefonat zu beenden. Nicht zuletzt würdigen viele Filme dieses archivarische Verhältnis schon in ihren Titeln: BUTTERFIELD 8 (D. Mann, USA 1960), TELEFON (D. Siegel, USA 1977), DENISE CALLS UP (H. Salwen, USA 1995), HANGING UP (D. Keaton, USA/D 2000), PHONE BOOTH (J. Schumacher, USA 2002), CELLULAR (D. R. Ellis, USA 2004) und viele mehr. Praxen der telefonischen Kommunikation, ihre Konventionen und ihre Wandlungen werden archiviert, private und öffentliche Telefonate, aber auch die Telefonkultur spezieller Professionen.6 Es gibt Telefonfilme über Journalisten, Gangster oder Börsenmakler, in denen telefoniert wird zu Zwecken der Investigation, des Verrats oder des Geschäfts wie aktuell in THE INSIDER (M. Mann, USA 1999), GOOD ADVICE (S. Rash, USA 2001) oder THE DEPARTED (M. Scorsese, USA/HK 2006).7
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ries of Communication: Intermedial Concerns from Cinema to the Digital, Bloomington 2004, S. 157-192, hier S. 164. Zit. n. ebd., S. 187. N. Schantz: Telephonic Film, S. 25. Vgl. hierzu H.-J. Köhler/H. J. Wulff: Filmtelefonate, S. 127f. Vgl. hierzu im Speziellen Robert Müller: »Tough Guys, Tommy Guns and Telephones: Zur Funktion des Telefons im amerikanischen Gangsterfilm«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, S. 191-205; Daniela Sannwald: »Nobody’s Phone Is Off Limits: Zur Funktion des Telefons im amerikanischen
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Wie in diesen und vielen anderen Filmen über die schiere Materialität von Telefonen gerade auch ihre Medialität reflektiert wird, soll im Folgenden erörtert werden. Anschließend wird die Perspektive gewendet und danach gefragt, wie umgekehrt das Telefon einerseits die Diegese im Film und andererseits die Medialität des Films selbst sichtbar werden lässt.
Reflexionen des Telefonischen ZUR MEDIALITÄT DER TELEFONIE Fragt man sich, was das Telefon jenseits seiner Qualität als Möbelstück oder adrettes Inventar als Medium beobachtbar macht, so gerät man in die Gefahr, sich im Dickicht der verschiedenen Medienbegriffe zu verirren. Allerdings sind sich viele Medienbegriffe ›mittlerer Reichweite‹ zumindest in einer formalen Eigenschaft ähnlich: Sie sind dreiteilig. So bezeichnet Regis Debray, Gründer der französischen Mediologie, als »Medium im eigentlichen Sinn das System Dispositiv – Träger – Prozeß«.8 Neben einem »Aufzeichnungsdispositiv« in Form eines Verbreitungsnetzes besteht ein Medium aus einem Apparat als »Einschreibeträger« und einem prozesshaften »Verfahren der Symbolisierung«.9 Während der Begriff des Telefons zu dem Missverständnis einlädt, man würde nur den Apparat meinen, empfiehlt sich der Begriff der Telefonie, um die Vielzahl telefonischer Kommunikationsmöglichkeiten zu beschreiben – unabhängig von der konkreten technischen Realisation. Denn diese telefonischen Prozesse, Apparate und Netze sind einem steten Wandel ausgesetzt, wobei der Medienumbruch zum Mobiltelefon nur die signifikanteste Zäsur unter vielen ist. Man erinnere sich an die Umstellung auf Selbstwählbetrieb, an den Wandel der Apparate vom Candle Stick hin zum French Headset, an die ersten Autotelefone oder portablen Telefone im Haus. Versucht man sich allerdings an einer systematischen, nicht primär historischen Typologie der Beobachtungsrelationen, so muss dieser Wandel zunächst zurücktreten. Als Gegenstand der Betrachtung soll zunächst ein ›klassisches‹ Telefon postuliert werden, bei dem ein Apparat über das Dispositiv eines Kabelnetzes mit einem anderen Telefon verbunden ist, um akustische Signale, die zumeist in Sprache symbolisiert werden, eben nicht zu speichern, sondern nur zu übertragen.10 Schon die filmische Beobachtung des Apparats ist dabei mal symmetrisch, mal asymmetrisch. In vielen Filmen steht zunächst die akustische Zeitungsfilm der 30er Jahre«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, S. 175-189. 8 Regis Debray: »Für eine Mediologie«, in: Claus Pias u.a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, Stuttgart 1999, S. 67-75, hier S. 69. Einen ebenfalls dreigliedrigen, wenn auch etwas anders gelagerten Medienbegriff findet man beispielsweise bei Lorenz Engell: »Ausfahrt nach Babylon«, in: Ders. (Hg.), Ausfahrt nach Babylon, Weimar 2000, S. 263-303. 9 R. Debray: Für eine Mediologie, S. 69. 10 Ned Schantz spricht davon, dass es im mittleren Zeitraum der Telefon-/FilmGeschichte eine Phase der Stabilität gegeben habe und benennt diese ebenfalls als »klassisch«; vgl. N. Schantz: Telephonic Film, S. 25ff.
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Wahrnehmung des Telefons im Vordergrund: Der Apparat kann bedrohlich, bedeutsam, beharrlich und spätestens in Zeiten der Klingeltöne auch erheiternd klingeln. In ONCE UPON A TIME IN AMERICA (S. Leone, I/USA 1984) ist es das eindringliche Schrillen des Telefons, das zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen zwei Erzählebenen hin- und herschaltet. Doch auch die Visualität des schweigenden Apparats kann viele Bedeutungsnuancen annehmen. So warnt vor allem die Farbe Rot vor der Dramatik des möglichen Anrufs: In LOLA RENNT (T. Tykwer, D 1998) löst ein rotes Telefon eine Geschichte um Leben oder Tod aus, in TELEFON steht ein roter Apparat zwischen den Fronten des Kalten Krieges. Die Farbe Weiß hat sogar ein ganzes Genre begründet, die Filme des italienischen telefoni bianchi in den 1930er Jahren.11 TELEFONI BIANCHI (D. Risi, I 1976) bringt aus der historischen Distanz die damalige Prominenz des Telefons als Stilmittel satirisch auf den Punkt; in seiner Eingangssequenz fügt sich das Telefon hervorragend in das plüschige weiße Dekor ein und treibt die Handlung durch dramatische Anrufe voran (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: TELEFONI BIANCHI oder: Die Dramatik im Dekor
Die dritte Ebene des Mediums Telefon, das Netz, ordnet jeder Figur unmissverständlich eine Nummer zu – und wenn nicht, dann kommt es zu Turbulenzen wie in PILLOW TALK (M. Gordon, USA 1959). Ist die Figur nicht zu Hause, kann sie vertreten werden: So lässt Gloria Wandrous ihre Anrufe von BUTTERFIELD 8 entgegennehmen – einer Telefonnummer, die sie auf der noblen New Yorker Upper East Side lokalisiert; die Figuren in DIE MEDIOCREN (M. Glasner, D 1995) geben sich besonders viel Mühe mit ihren Anrufbeantwortertexten. Szenen werden oftmals mit dem Ansagetext eines Anrufbeantworters als Voice-over eingeleitet und erhalten somit die Funktion einer einführenden Personendarstellung. Das gesamte telefonische Dispositiv ist im Film nicht abbildbar. Kabel, Telefonzentralen oder Telefonistinnen wie in BELLS ARE RINGING (V. Minnelli, USA 1960) oder EASY VIRTUE (A. Hitchcock, GB 1928) können es nur stellvertretend repräsentieren. Wahrnehmbar sind konkrete Telefonate, die stets pars pro toto für die unendliche Zahl an möglichen Verbindungen stehen, für die unvorstellbar hohe Zahl der Netzteilnehmer, für das Netz als Gesamtheit aller Kommunizierenden. Klingelt ein Telefon im Film, so ist plötz11 Vgl. Marcia Landy: Italian Film, Cambridge 2000, S. 8f.
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lich die ganze Welt im Kader aktualisiert, die Möglichkeit, dass die einzelne Figur mit anderen Figuren Kontakt aufnimmt.
MOBILTELEFONE: DEMATERIALISIERUNG UND MINIATURISIERUNG Die über symbolische Prozesse und materielle Apparate verlaufende Anbindung des Einzelnen an ein dispositives Netz, das telefonische Versprechen von Gemeinschaft und Sicherheit – aber auch von Entmündigung – lässt sich im Film auch in seiner körperlichen Dimension beobachten. Hier reflektiert der Film die anthropologische Tradition, Medien als Ausweitungen des Körpers zu denken – im Falle des Telefons von Gehör und Stimme.12 Aber diese Bindung zwingt ihn auch wie eine neu gelegte Nabelschnur13 zur Lokalisierung des Körpers und damit zur Unbeweglichkeit. In PUNCH-DRUNK LOVE (P. T. Anderson, USA 2002) mischen sich ständig Schwestern und Mutter von Barry Egan per Telefon in seine Lebensgestaltung ein. Man sieht den schüchternen und unsicheren Egan in seinem gläsernen Büro wie im Mutterbauch herumschwimmen – ohne Chance, sein Leben in die Hand zu nehmen. Erst am Ende befreit er sich, trifft eigene Entscheidungen und kappt die Nabelschnur, sprich: reißt das Telefonkabel ab. Mittlerweile sind wir längst in einer ›Wireless World‹ ohne Nabelschnüre/Kabelschnüre angelangt – mittlerweile reicht ein kleines Mobiltelefon, um das Globale mit dem Lokalen zu verbinden.14 Alle medialen Ebenen haben sich verändert. Die digitale Technologie unterscheidet nicht mehr zwischen den Symbolen von Text, Bild und Ton. So zeigt beispielsweise der Film PARIS (C. Klapisch, F 2008) das romantische Potential der SMS-Kommunikation auf. Es ist gerade ein Professor für Geschichte, der sich seiner Angebeteten nicht anders zu nähern weiß als mittels einer neuen Technologie. Während er an einem Film über das Alte und Neue der Stadt Paris arbeitet, bringt er selbst in dieser Stadt historische Sprache und neue Technologie in seinem Liebeswerben zusammen (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: PARIS oder: Die Poesie des Digitalen
12 Vgl. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf 1992, S. 305ff. 13 Vgl. Elizabeth Neswald: »Telegonie«, in: Ästhetik & Kommunikation 24/90 (1995), S. 31-34, hier S. 32; Denis Vasse: L’ombilic et la voix, Paris 1974. 14 Vgl. Geoff Cooper: »The Mutabile Mobile. Social Theory in the Mobile World«, in: Barry Brown/Nicola Green/Richard Harper (Hg.), Wireless World. Social and Interactional Aspects of the Mobile Age, London 2002, S. 19-31, hier S. 29.
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Die Apparate werden gleichzeitig sowohl multifunktionaler als auch immer kleiner, sie entmaterialisieren sich fast.15 Mobiltelefone werden mittlerweile wie körpereigene Organe wahrgenommen.16 Das Mobiltelefon ist nicht mehr nur ein technischer Apparat, sondern eine »hybride Entität zwischen Person und Technologie«.17 Im Film wird diese Verschmelzung beispielsweise in THE DARK KNIGHT (C. Nolan, USA/GB 2008) reflektiert, wenn Joker ein Mobiltelefon unter die Haut seines Mitstreiters implantiert. Mit der Verlagerung von Kabel zu Funk wird das Telefonnetz zum vollends unsichtbaren, fast äthergleichen Universalmedium.18 Das Netz ermöglicht Mobilität und zugleich Lokalisierbarkeit an jedem Ort, an dem man sich aufhält – jeder Ort kann sich plötzlich in eine »improvisierte Freiluft-HandyTelefonzelle«19 verwandeln. Dies bringt Vorstellungen von privat und öffentlich, von Nähe und Distanz durcheinander; soziale Verhaltensweisen müssen neu ausgehandelt werden.
GENRES: KONVENTIONEN UND WANDEL So endet die Geschichte des Telefonfilms und beginnt die des Handyfilms. Es ist vor allem eine Eigenschaft des Films, die diesen Wandel besonders gut beobachtbar werden lässt: Zwar operiert jeder einzelne Film immer nur von einem historischen Beobachtungszeitpunkt aus, aber als Genrefilm kann sich jeder einzelne Film in eine ganze Reihe von Filmen einschreiben, die bestimmte Konventionen immer neu aktualisieren. Zu diesen Konventionen gehört eben auch der Auftritt von Telefonen: Telefone haben immer schon in Komödien zum Lachen gebracht und in Thrillern Spannung erzeugt. Während die Funktionen der Telefone für Genrefilme gleich bleiben, werden sie im medial-historischen Wandel immer neu aktualisiert. 15 Vgl. zu dieser These beispielsweise Bernhard E. Bürdek: »Design: Von der Materialität zur Immaterialität – Am Beispiel des Telefons«, in: Ulrich Lange (Hg.), Telefon und Gesellschaft. Beiträge zu einer Soziologie der Telekommunikation, Berlin 1989, S. 76-131; Stefan Münker: »Das Verschwinden des Telefons. Ein Blick zurück in die Zukunft der Telefonie«, in: Lorenz Engell/ Britta Neitzel (Hg.), Das Gesicht der Welt. Medien in der digitalen Kultur, München 2004, S. 127-138, hier S. 128. 16 Vgl. Wolfgang Pauser: »Telefonkonsum. Zur Sexualität des Handy«, in: Ästhetik & Kommunikation 24/90 (1995), S. 20-26, hier S. 20; Bärbel Tischleder/Hartmut Winkler: »Portable Media. Beobachtungen zu Handys und Körpern im öffentlichen Raum«, in: Ästhetik & Kommunikation 32/12 (2001), S. 97-104. 17 G. Cooper: The Mutabile Mobile, S. 29. 18 Zum Begriff des Äthers vgl. Albert Kümmel-Schnur/Jens Schröter (Hg.): Äther. Ein Medium der Moderne, Bielefeld 2008; zum Thema Lokalisierungstechniken vgl. Tristan Thielmann: »Die Wiederkehr des Raummediums Äther«, in: Kümmel-Schnur/Schröter (Hg.), Äther, S. 75-98. 19 Im Original »temporary phone zone«; Amparo Lasen: »History Repeating? A Comparison of the Launch and Uses of Fixed and Mobile Phones«, in: Lynne Hamill/Ders. (Hg.), Mobile World: Past, Present and Future, Guildford 2005, S. 29-60, hier S. 48.
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Einige der bereits genannten Eigenheiten von Telefonfilmen bringen regelmäßig zum Lachen, so die Täuschungen in PILLOW TALK und BELLS ARE RINGING, aber auch die Verwicklung in Telefonate und Abhängigkeiten in PUNCH-DRUNK LOVE oder DENISE CALLS UP. In letzterem Film hängen fünf Workaholics ständig am Telefonhörer und verpassen dadurch ihr reales Leben. Ihre physische Abhängigkeit von den Apparaten wird im Film gerade durch Festnetztelefone verbildlicht, in deren Telefonkabeln sie sich regelrecht verschnüren. Die einzige Person, die bei DENISE CALLS UP schon ein Mobiltelefon benutzt, ist die Titelfigur Denise – stets bereit für soziale Interaktion und damit die Gegenfigur zu den Workaholics. Eine andere Form fehlschlagender Kommunikation, nämlich das stetige Verpassen der Gesprächspartner, erzeugt etwa in MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS (P. Almodóvar, E 1988) eine Menge Komik. Ausgangspunkt von Komödien sind gerade Frauen, die beispielsweise in THE DEVIL WEARS PRADA (D. Frankel, USA 2006) und TWO WEEKS NOTICE (M. Lawrence, USA/AUS 2002) unter einer noch viel größeren Versklavung durch das Medium stehen als Barry Egan in PUNCH-DRUNK LOVE: Als Assistentinnen ihrer Chefs sind Andy Sachs und Lucy Kelson rund um die Uhr erreichbar – während der Freizeit, in der Nacht, auf der Hochzeit ihrer Freunde. Melanie Parker und Eve Marks, die Protagonistinnen in den Filmen ONE FINE DAY (M. Hoffman, USA 1996) und HANGING UP, müssen neben ihren Jobs noch ihre Familien organisieren. Diese ständige latente Überforderung durch die Position zwischen Küche und Karriere erfordert perfekte Zeitökonomie und zugleich hohe Flexibilität – und durch nichts anderes wird diese Problematik besser symbolisiert als durch die exzessive Nutzung von Mobilkommunikation. Im Thriller lautet die spannende Frage zumeist: Schafft der Protagonist es noch? Das »es« ist häufig kommunikativer oder topographischer Natur: Er muss einen bestimmten Ort erreichen (um zu retten, zu entschärfen, zu töten) oder eine bestimmte Information weitergeben. Ist »er« ausnahmsweise eine »sie«, die sich selbst nicht behelfen kann, so besteht die Notwendigkeit, eine Information weiterzugeben, um einen männlichen Retter herbeizuholen. Der Versuch, sich mittels des Telefons aus einer Gefahrensituation zu befreien, der Kampf, ein Telefon zu erreichen, das Misslingen des Rettungstelefonats, all dies sind Topoi des Thrillers. Gerade Alfred Hitchcock hat die unzähligen Varianten immer wieder durchgespielt.20 Schon 1909 entstand der Film THE LONELY VILLA (D. W. Griffith, USA), in dem das Telefon eine bedeutende Rolle spielt: Eine Frau ist mit ihren Kindern allein und schutzlos in ihrer Villa, als Einbrecher eindringen. Nur ein Telefon könnte Hilfe herbeirufen… Dieses »Lonely-Villa-Motiv«21 wird filmgeschichtlich immer wieder aufgegriffen, beispielsweise ein knappes Jahrhundert später in PANIC ROOM (D. Fincher, USA 2002): Nachdem das Festnetztelefon bereits ausgeschaltet ist, eröffnet sich für die Hausherrin Meg Altman eine zweite Chance der Kommunikation mit der Außenwelt und damit der Rettung, indem sie versucht, ihr Mobiltelefon zu holen. 20 Vgl. Klaus-Peter Koch: »Sicherheit versus Bedrohung: Telefonmotive im Thriller«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, S. 207-219. 21 Frank Kessler: »Bei Anruf Rettung«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, S. 167-173, hier S. 167.
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Gleichzeitig arbeitet das Telefon im Dienst von suspense, wenn der mithörende Zuschauer mehr weiß als die Figuren, oder im Dienst der Spannung, wenn sich beim Klingeln die Frage stellt, wer gerade anruft. Geradezu klassisch für Letzteres ist die Eingangssequenz von SCREAM (W. Craven, USA 1996), in der Casey Becker in ihrem Haus von einem Unbekannten angerufen wird – es handelt sich hierbei um einen Serienmörder, der längst um ihr Haus herumschleicht, um sie zu töten (vgl. Abb. 3).
Abb. 3: SCREAM oder: Das Grauen am Hörer
Das Mobiltelefon wiederum induziert eine Reihe von anderen Techniken im Dienste der Spannung. Es erhöht etwa das Tempo der Mobilität – der Held kann versuchen, Verbündete anzurufen, wichtige Informationen zu erhalten oder seine Gegner ausfindig zu machen, während er sich auf seine Mission begibt. So hat Chev Chelios in CRANK (M. Neveldine/B. Taylor, USA 2006) nur noch wenige Minuten zu leben, seine Lebenszeit erhöht sich allerdings, je mehr Adrenalin sein Körper ausschüttet. Er begibt sich also mit dem Auto auf den Weg, um sich an seinem Mörder zu rächen und benutzt das Mobiltelefon gleichzeitig, um ihn zu finden. Je mehr Möglichkeiten Held und Antagonist erhalten, desto stärker wird die Abhängigkeit vom Mobiltelefon: Wechselt das Telefon den Besitzer, hat die Gegenseite die Möglichkeit, in falschem Namen Kurzmitteilungen zu schreiben und den vorangegangenen Telefonverkehr nachzuvollziehen. Und auch der Film muss die vom Mobiltelefon versprochene stetige Erreichbarkeit wieder relativieren, um die Spannung zu erhöhen. CELLULAR bündelt eine Reihe von Topoi des Handyfilms: In einem klassischen Lonely-Villa-Motiv wird Jessica Martin auf einem Dachboden eingesperrt, das Telefon ist fast vollständig zerstört, es gelingt nur ein Notruf zum Mobiltelefon von Ryan. Dieser macht sich auf den Weg und versucht Jessica zu retten, doch Funklöcher und ein fast leerer Akku machen es ihm schwer.
Reflexionen des Diegetischen Es sind gerade diese konventionalisierten, fast schon stereotypen Einsätze des Telefons im Dienste der Spannung und der Komik, die nicht nur das Medium Telefon, sondern auch das Medium Film reflektieren. Eben diese Offensicht-
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lichkeit für den Zuschauer, dass ein Telefon zu einem bestimmten Zeitpunkt klingeln muss oder nicht klingeln darf, führt ihm die Gesetze des Funktionierens von Filmen vor Augen. Jenes Funktionieren besteht zumindest bei Spielfilmen in der Etablierung einer Diegese. Vor allem auf den drei Ebenen, die schon Aristoteles in seiner Dramentheorie thematisierte, muss die filmische Diegese bestimmten Gesetzen gehorchen: auf der Ebene der Zeit, des Raums und der Personenhandlung.
FILMISCHE ZEITEN: STARTPUNKTE VS. VERLÄUFE Auf der zeitlichen Ebene ist dies besonders offensichtlich. So ist es bereits ein fester Topos, wenn in Detektivfilmen ein Telefonklingeln den Detektiv aus Lethargie und Selbstmitleid herausreißt und ihn in eine atemberaubende Handlung katapultiert: »Könnte doch jeder Anruf Aufforderung und letzte Chance sein!«22 Es ist unvorhersehbar, was geschieht, wenn der Hörer abgenommen wird: »Das […] Klingeln des Telephons ist für mich das Emblem für die prinzipielle Kontingenz im Erleben des anderen.«23 Manchmal ist es auch gerade die Störung des normalen Gesprächs, die unverhofft aufgeschnappte Information, beispielsweise über ein bevorstehendes Verbrechen, die eine Geschichte ins Rollen bringt. Telefone setzen nicht nur etwas in Gang, sie können auch den weiteren Verlauf des Films organisieren, indem sie den »flow of story information«24 fortführen. Von Szene zu Szene informiert sich der Zuschauer über den Fortgang des Films und setzt die Informationen schließlich so zusammen, dass er hinter dem Plot eine Erzählung erkennen kann. Für diesen Informationsfluss können Telefone eine Reihe von Funktionen übernehmen: Sie können im Dienste der Handlung, der Spannung oder der Informationsführung eingesetzt werden,25 es können sich ganze Telefon-Plots ausdifferenzieren wie in PILLOW TALK.26 In Filmen wie SORRY, WRONG NUMBER (A. Litvak, USA 1948) oder CRANK wird ständig versucht, ein anfängliches Rätsel durch am Telefon eingeholte Informationen zu lösen. Manchmal lenkt das Telefon die Handlung sogar in eine ganz andere Richtung wie in THE MAN WHO KNEW TOO MUCH (A. Hitchcock, USA 1956) oder BLACKMAIL (A. Hitchcock, GB 1929).
22 Bodo Rollka: »›Nachts ging das Telefon‹. Das Telefon in der Unterhaltungsliteratur unter besonderer Berücksichtigung des Kriminalromans«, in: Lange (Hg.), Telefon und Gesellschaft, S. 309-329, hier S. 312. 23 Hans Ulrich Gumbrecht: »NachMODERNE ZEITENräume«, in: Robert Weimann/Ders. (Hg.), Postmoderne – Globale Differenz, Frankfurt/Main 1991, S. 54-70, hier S. 69. 24 David Bordwell/Kristin Thompson: Film Art. An Introduction, New York 1997, S. 101. 25 Vgl. Hans J. Wulff: »Ikonographie, Szenentransition, Narration: Zur Analyse der Beziehungen zwischen filmischer Form und filmischem Telefonat«, in: Debatin/Ders. (Hg.), Telefon und Kultur, S. 127-165, hier S. 148. 26 Vgl. Karl-Dietmar Möller-Naß/Patrick Bennat: »Telefon-Plots«, in: Debatin/ Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, S. 235-246.
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FILMISCHE PERSONEN: ANGERUFENE VS. ANRUFER Ein Telefonklingeln setzt nicht nur den zeitlichen Startpunkt für eine Handlung, es etabliert auch ein System von Rollen innerhalb der Diegese. Der angerufene Detektiv wird durch den Anruf mit einem Mal zur Hauptfigur. Ihm wird eine Position innerhalb des Gesetzes der Diegese zugewiesen. Louis Althusser hat eine Denkfigur entwickelt, die das Thema des Angerufen-Werdens ideologiekritisch reflektiert. Demnach wird ein Individuum von einer Ideologie als Subjekt unterworfen, indem es ›angerufen‹ wird. Althusser beschreibt diesen Ruf als Ansprache von Mensch zu Mensch, im Film wird diese Szene oft durch das Klingeln des Telefons umgesetzt. Dreht sich das Individuum um – oder nimmt es den Hörer auf –, so erkennt es an, dass der Ruf ihm galt und akzeptiert die angebotene Subjektposition.27 Im Film übernimmt die Diegese die Funktion einer solchen Ideologie als »System von Ideen und Vorstellungen«.28 Wie Individuen durch eine Anrufung plötzlich eine bestimmte Rolle in der Geschichte einnehmen, inszeniert beispielsweise Hitchcock in vielen seiner Filme. In NORTH BY NORTHWEST (A. Hitchcock, USA 1959) ruft ein Hoteldiener einen Anruf für George Kaplan aus – eine Person, die es gar nicht gibt. Roger Thornhill dreht sich um – und mit dieser Geste wird er als Kaplan identifiziert, ihm wird die narrative Leerstelle eines fiktiven Agenten zugeordnet. In TELEFON wird die Anrufung radikalisiert, der Film handelt von sowjetischen Schläfer-Agenten in den USA, die per Telefonanruf geweckt und aktiviert und auf diese Weise quasi telekinetisch ferngesteuert werden. Bei David Lynch hingegen schlagen diese Anrufungen regelmäßig fehl. Nicht umsonst sind die so (fehl-)instrumentalisierten Telefone – wie in Lynchs LOST HIGHWAY (F/USA 1997) oder MULHOLLAND DRIVE (F/USA 2001) – häufig kabellos und damit losgelöst von jeder festen Anbindung an das eigene Haus der Figuren. Doch das Telefon kann im Film nicht nur die diegetische Position des Angerufenen, sondern auch des Anrufers vergeben. Anrufer und Angerufener befinden sich vor Beginn des Telefonats in unterschiedlichen Situationen; mal ist das Telefon »stummes und passives Werkzeug«29 und verspricht »Kommunikationspotenz«,30 mal verwandelt es sich in einen »hysterisch plärrenden Wildfang«31 und sichert »Adressierbarkeit«.32 Beide sozialen Kompetenzen, Kommunikationspotenz auf der einen und Adressierbarkeit auf der anderen Seite, können wiederum im Film narrativ thematisiert werden. Insbesondere das Fehlen dieser Kompetenzen kann zum Problem geraten; dann kann das Bemühen um ein ›Sich-Erreichbar-Machen‹ oder ›Jeman27 Vgl. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977, S. 140. 28 Ebd., S. 130. 29 Vilém Flusser: »Die Geste des Telefonierens«, in: Pias u.a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, S. 185-191, hier S. 185. 30 Hans J. Wulff: »Telefon im Film/Filmtelefonate: Zur kommunikationssoziologischen Beschreibung eines komplexen Situationstyps«, in: Debatin/Ders. (Hg.), Telefon und Kultur, S. 61-105, hier S. 69. 31 V. Flusser: Die Geste des Telefonierens, S. 185. 32 H. J. Wulff: Telefon im Film, S. 69.
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den-Erreichen‹ durchgespielt werden. In PLAY IT AGAIN, SAM (H. Ross, USA 1972) oder auch THE PLOT AGAINST HARRY (M. Roemer, USA 1989) finden sich Figuren, die darum bemüht sind, überall erreichbar zu sein. Vor allem in CELLULAR werden beide Perspektiven thematisiert. Jessica Martin erhält durch das Telefon endlich die Chance, wieder selbst zu kommunizieren: Der Film gibt ihr die Möglichkeit, aktiv zu werden, die Handlung weiterzutreiben und eine entscheidende Wendung zur Rettung einzuleiten. Gleichzeitig weist er Ryan als dem Angerufenen die Rolle des Retters zu.
FILMISCHE RÄUME: PRIVAT VS. ÖFFENTLICH Wie Telefone die räumliche Ebene der filmischen Diegese und damit vor allem die Inszenierung der Grenze von Privatem und Öffentlichem reflektieren, lässt sich besonders gut in PHONE BOOTH beobachten. Dieser Film ist nach CELLULAR bereits der zweite Telefon-Thriller, für den Larry Cohen das Drehbuch schrieb. Auch hier darf jemand »Nicht auflegen!«, so der deutsche Verleihtitel. Der Protagonist Stu Shepard hängt aber nicht am Mobiltelefon, sondern befindet sich in einer Telefonzelle, das Gewehr eines Killers auf ihn gerichtet. Die Telefonzelle hat im alten Festnetz eine heterotopische Funktion – hier kann sich der Telefonierende akustisch von der Außenwelt abschirmen. Dabei wird die Telefonzelle zum (vermeintlichen) Schutzraum, etwa wenn sich Melanie Daniels in THE BIRDS (A. Hitchcock, USA 1963) darin vor den Vögeln schützt, oder aber zum Rettungsraum, wenn Callahan in DIRTY HARRY (D. Siegel, USA 1971) von Telefonzelle zu Telefonzelle hetzt, um Anrufe entgegenzunehmen und den Killer an seiner Tat zu hindern. Die Telefonzelle ist ein öffentlicher Ort, der zum privaten Raum der Kommunikation werden kann. Während man anhand von Genre-Traditionen das filmische Telefon mit dem filmischen Mobiltelefon über verschiedene Filme hinweg vergleichen kann, wird in PHONE BOOTH dieser Medienumbruch in einem Film diskutiert. Shepard kommt aus einer Handywelt, in der er tricksen, täuschen und sich tarnen kann, er führt seine halbseidenen Geschäfte am Telefon, während er durch Manhattan streift. Für einen Anruf, der nicht auf seiner Rechnung auftauchen soll, betritt er die angeblich letzte Telefonzelle Manhattans. In dieser Falle zwingt ihn der unsichtbare Killer, seine Betrügereien auf einer öffentlichen Bühne vor einer Menge von Schaulustigen zu gestehen – und zugleich setzt das Telefon so einen Reflexionsprozess über den filmischen Raum und sein Verhältnis zum theatralen Raum in Gang. Der Gefangenheit in der Telefonzelle steht die Verheißung der Freiheit mobiler Telefonie gegenüber. Schon vor der Erfindung des Mobiltelefons gab es Filme, welche die von allen räumlichen Zwängen losgelöste Kommunikation thematisierten. In der Figur des Truckers vereinen sich beide Ebenen der Freiheit – mit seinem Fahrzeug bewegt er sich frei durch alle Räume, mit seinem Funkgerät kann er sich jederzeit mit seinen Kollegen verständigen. Mit-
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unter bildet sich gar ein ganzer CONVOY (S. Peckinpah, USA/GB 1978) – ein Schwarm unabhängiger, freier mobiler Zellen.33 Mit der Annahme eines Mobiltelefons folgt auch Neo in THE MATRIX (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 1999) der Anrufung einer solchen freien Bewegung. Seine Mitstreiter haben alle die Möglichkeit, über Mobiltelefone miteinander zu kommunizieren, die Agenten der Matrix sind hingegen über Headsets dauerhaft den Befehlen der Zentrale ausgesetzt. Wer das Headset abnimmt, gehört nicht mehr dazu. Und Festnetztelefone? Die tauchen in der virtuellen Benutzeroberfläche nur noch als Zitate einer vergangenen Räumlichkeit auf und dienen als Ein- und Ausstiegstore für die Hacker. Der filmische Raum wird hier nicht mehr als abgefilmtes Theater, sondern nur noch als ›flache‹ digitale Illusion in Szene gesetzt.
Reflexionen des Filmischen Das Telefon macht allerdings nicht nur Raum und Zeit der Diegese sichtbar. Es reflektiert auch die medialen Eigenschaften des Films, die den Eindruck der räumlich-zeitlichen Einheit der Diegese überhaupt erst ermöglichen. David Bordwell und Kristin Thompson beschreiben in ihrem Standardwerk Film Art. An Introduction vor allem zwei Dimensionen, die das Filmische konstituieren: Montage als Verknüpfung von Einstellungen und Mise-en-scène als Aufbau des einzelnen Filmbilds.34 Ein klingelndes Telefon kann nicht nur einen Schwenk motivieren, der die Mise-en-scène verändert, sondern auch bei einer unbewegten Kamera die Topikalisierung des Bildaufbaus vollkommen verändern. Das Auftauchen eines stummen Telefons im Bild lässt diese Möglichkeiten mit einem Mal präsent werden: Jedes Bild und die Relationen seiner Elemente zueinander werden als potentiell veränderlich wahrgenommen. Auch den Wechsel von einer Einstellung zur anderen kann das Telefon motivieren – als Schnitt auf das bisher unsichtbare Telefon im gleichen diegetischen Raum oder als Wechsel zwischen zwei Teilnehmern eines Telefonats in zwei unterschiedlichen Einstellungen. Im Beispiel Split Screen offenbaren sich sogar beide Dimensionen zugleich: Hier werden mindestens zwei Bilder gleichzeitig nebeneinander montiert, die Mise-en-scène besteht in diesem Fall selbst aus einer Montage. Split Screens sind besonders beliebt, um Telefonate im Film zu visualisieren (vgl. Abb. 4).
33 Zum Begriff des Schwarms vgl. beispielsweise Eva Horn/Lucas Marco Gisi: Schwärme – Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2008. 34 Vgl. D. Bordwell/K. Thompson: Film Art.
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Abb. 4: PILLOW TALK oder: Liebe im Split Screen
Medien machen »lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden«.35 Ein Telefonat im Split Screen lässt den Film in diesem Moment wieder wahrnehmbar werden, indem es den anästhetisierenden Realitätseindruck des Films aufbricht. Telefone im Film machen darüber hinaus noch zwei weitere Unterscheidungen sichtbar, die im Film gewöhnlich überspielt werden: zum einen die Unterscheidung von Sichtbarem und Unsichtbarem, zum anderen die Unterscheidung von Bild und Ton.
KADER VS. OFF Der Film trennt durch seine Kadrierung einen Ort von seiner Umgebung ab und verweist alles Nichtkadrierte in ein unsichtbares Off.36 Das Filmbild verschweigt jederzeit, dass es neben ihm etwas gibt, was nicht gezeigt wird. Telefonie hingegen hat das Vermögen, jenes Nichtgezeigte wieder in die Wahrnehmung zurückzuholen. Telefonie lässt »das Verschwinden verschwinden« und »entfernt […] die Entfernung«,37 sie bringt zwei Orte zueinander. Neben dem Wahrnehmungsraum eröffnet sich für den Telefonierenden noch ein Kommunikationsraum, der ihn mit dem Gesprächspartner verbindet und Entfernungen überwindet.38 Im Kommunikationsraum des Telefonats kann der Eigensinn von Kommunikation und Verständigung dargestellt werden; hier können Konflikte und Versöhnungen inszeniert, kommunikatives Vertrauen und Verzerrung von Kommunikation präsentiert werden.39 35 Lorenz Engell/Joseph Vogl: »Zur Einführung«, in: Pias u.a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur, S. 8-11, hier S. 10. 36 Vgl. Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungsbild, Frankfurt/Main 1991, S. 27ff. 37 Jochen Hörisch: Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt/Main 2001, S. 270. 38 Auch hierzu finden sich bei Hans J. Wulff typologische Anregungen und zahlreiche Beispiele; vgl. H. J. Wulff: Ikonographie, Szenentransition, Narration. 39 Vgl. B. Debatin: Riskante Gespräche, S. 22.
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Auch das Auseinanderfallen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum kann im Film auf vielfältige Art und Weise thematisiert werden: Täuschungen und Illusionen lösen Verwirrungen und Verwicklungen aus.40 Im Thriller I SAW WHAT YOU DID (W. Castle, USA 1965) geben Mädchen am Telefon vor, hinter das Geheimnis ihres Gesprächspartners gekommen zu sein. Jener hat tatsächlich einen Mord begangen und vertuscht nun wiederum seine eigene Identität, um seinerseits die Mädchen aufzuspüren. Der Film kann Personen beobachten, die sich beim Telefonieren unbeobachtet wähnen, und so in die »Welt der fremden Seele«41 blicken. Das Auseinanderfallen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum wird mit der Verwendung eines portablen Telefons in SHORT CUTS (R. Altman, USA 1993) persifliert, wenn sich eine Hausfrau während der Hausarbeit im familiären Heim durch Telefonsex etwas dazuverdient. Die fehlschlagenden Anrufungen bei Lynch lassen schließlich ständig Orte neben dem gezeigten Raum auftauchen, so dass der Zuschauer dem Film und seinem Realitätseindruck vollständig misstraut.
AUDIO VS. VIDEO Kommunikations- und Wahrnehmungsraum unterscheiden sich zudem in einer Eigenschaft: Im Wahrnehmungsraum des Telefonierenden sind weiterhin alle Sinne aktiv – der Telefonierende kann sehen, hören, tasten, riechen und schmecken –, während im Kommunikationsraum nur die stimmliche Kommunikation erlaubt ist. Telefone verbinden, was im Film sichtbar und unsichtbar ist; Telefone trennen, was im Film stets beisammen ist: die Ebenen des Visuellen und des Akustischen. Beobachtet der audiovisuelle Film die übertragenen sprachlich-stimmlichen Signale des klassischen Telefons, die zweite mediale Ebene nach Debray, so begibt er sich in ein asymmetrisches Reflexionsverhältnis. Allerdings besteht ein – historisch variables – Gefälle in der Tonqualität zwischen Telefon und Film. Nur so ist es möglich, dass beim Telefongespräch eine Restunsicherheit bestehen bleibt, wer am anderen Ende spricht. Filme wie PILLOW TALK und BELLS ARE RINGING entfalten ihren Reiz dadurch, dass Menschen am Telefon ihre Stimme verstellen und durch diese Täuschung die Handlung des Films in Gang setzen können. In der Telefonkommunikation fallen visuelle und akustische Informationen über das Gegenüber auseinander.42 Der Film wiederum kann diesen Hiatus durch Sichtbarmachung schließen, ihn aber ebenso aus dramaturgischen Gründen aufrechterhalten. Ist die Quelle des Tons nicht im Kader zu sehen, so spricht man von einem acousmêtre.43 Diesem Ton aus dem Off wird eine Macht über die Bilder zugeschrieben, er setzt die Sehnsucht nach Lokalisierung und Identifizierung aus. Diese göttliche Stimme aus dem telefonischen Off entscheidet über das 40 Vgl. H. J. Wulff: Telefon im Film, S. 65ff. 41 Franziska Baumgarten: »Psychologie des Telefonierens«, in: Lange (Hg.), Telefon und Gesellschaft, S. 187-196, hier S. 194. 42 Vgl. B. Debatin: Riskante Gespräche, S. 36. 43 Vgl. Michel Chion: The Voice in Cinema, New York 1990, S. 5ff.
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Schicksal der Figuren.44 Sobald in THE RING (G. Verbinski, USA/J 2002) ein ›verbotenes‹ Video angeschaut wird, meldet sich eine Stimme aus dem Jenseits am Telefon und verheißt den baldigen Tod.
ASYMMETRISCHE VERHÄLTNISSE Mittels dieser geheimnisvollen Stimmen ruft das Telefon im Film eine Reihe von asymmetrischen Verhältnissen auf. Es tritt das ins Bild, was nicht im Bild zu sehen ist, was vom Film als unsichtbar ins Off verschoben werden musste. Dieses Andere gelangt jedoch nur in Form des Tons ins Bild: Wenn der Film versucht, die Quelle der Stimmen, die seine Bilder bestimmen wollen, zu erfassen, gelingt ihm das nur teilweise. Er erfasst die Stimme, aber nicht das Bild dessen, was außen liegt. So wird in diesem Moment auch das Verhältnis von Film-Bild und Film-Ton zueinander brüchig: Das Klingeln des Telefons und die Stimmen aus dem Apparat zeigen auf, dass im Film Bild und Ton nicht zueinander gehören. Beide werden getrennt aufgenommen und gemeinsam wiedergegeben, damit beim Zuschauer-Zuhörer der Eindruck entsteht, Auditives und Visuelles ergäben eine Einheit. Telefonische Klänge stellen diese scheinbar selbstverständliche Einheit wieder in Frage. So verbindet das Telefon eine Stimme mit einer Stimme von einem anderen Ort und schließt zugleich alle Bilder aus; der Film verbindet eine Stimme mit einem Bild und schließt zugleich alles aus, was von einem anderen Ort ist. Durch dieses Dreiecksverhältnis von Hier und Dort, von Stimme und Bild können beide Medien sich gegenseitig die Grenzen ihrer Wahrnehmbarkeitsregeln aufzeigen. In den telefonischen Film schreibt sich so immer eine theoretische Reflexion des Telefons ein, angefangen von den Flusserschen Gesten des Telefonierens über die McLuhansche Botschaft im telefonischen Apparat bis hin zu Fragen der Globalität und Lokalität, zwischen denen das Telefon vermittelt. Das filmische Telefon zeigt darüber hinaus die Bauarten der Diegese auf, wenn es in die Handlung eingreift: Spielfilme lassen Menschen spielen, sie benötigen Figuren, ihre Hoffnungen und Sehnsüchte, um ihre Erzählungen laufen zu lassen. Das Telefonklingeln lässt vieles offenbar werden: die Notwendigkeit der Start- und Wendepunkte einer Erzählung oder die Räumlichkeit, in der sich alles abspielt. Doch die vielen asymmetrischen Verschaltungen von Film und Telefon zeigen noch viel mehr – sie verweisen auf das, woraus der Film jenseits der Diegese besteht, das, was ihn als Medium ausmacht: Montage und Mise-en-scène, Kader und Off, Bild und Ton.
Literatur Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 1977. Baumgarten, Franziska: »Psychologie des Telefonierens«, in: Lange (Hg.), Telefon und Gesellschaft (1989), S. 187-196. 44 Vgl. Michael Köhler: »Körpertelefon. Hörigkeiten zwischen Offenbarung und Sirenengesang«, in: Ästhetik & Kommunikation 24/90 (1995), S. 15-19, hier S. 17.
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»Leave your conscious after the beep.« Der Anrufbeantworter im Film HEDWIG WAGNER
Kommunikationsakte und Medialität des AB Zunächst einmal kanalisiert der AB, denn er ist gewissermaßen die Vorführstation für die Verschiedenartigkeit von Kommunikationsakten. Informative Mitteilungen, Fragen, Mahnungen, direkte und indirekte Handlungsaufforderungen, Geständnisse, performative Sprechakte, die lebensverändernd werden, Nicht-Aussagen, die lediglich den Versuch eines Anrufes dokumentieren, die Thematisierung der Nicht-Erreichbarkeit, Hilfeschreie, Schweigen – all diese unterschiedlichen Sprechakte zeichnet der AB auf. Die Klassifikation der Sprechakte, die idealtypisch für eine Theorie des kommunikativen Handelns stehen könnte,1 soll hier aber nur in den beiden Extremen des informativen Gebrauchstextes und des prosaisch/poetisch überhöhten Reflexionstextes erörtert werden. Mit dem Aspekt der Informationsvergabe verbinden sich Fragen nach Insertion und Transition sowie Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum, mit dem Aspekt des Reflexionstextes Fragen nach Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der AB – ob am Anfang, mittendrin oder am Ende des Filmgeschehens – wird zumeist zur Anzeige eines fehllaufenden Weltbezugs eingesetzt oder erweist sich als Kommunikationsproblem; die aufgeschobene Erreichbarkeit wird zum Scheitern, zum Misslingen, zum Missverstehen.
Theoretische Perspektiven der Film-Telekommunikation WAHRNEHMUNGS- UND KOMMUNIKATIONSRAUM Beim Telefonat, bei dem im Leben wie bei dem im Film, befindet sich der Telefonierende in einer alltagsweltlichen Umgebung, die während des Telefonats, in dem man sich auf den nicht-anwesenden Gesprächspartner konzentriert, in der Wahrnehmung nahezu ausgeblendet wird. Die Abschottung gegen den Wahrnehmungsraum – den den Telefonierenden umgebenden Realraum – erfolgt zugunsten der kommunikativ etablierten, in der Vorstellungswelt mitgetragenen Gesprächsszenerie, des Kommunikationsraums. Das Auseinanderfallen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum, die 1
Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1981.
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grundsätzliche Distanz beider,2 kann im Film die vielfältigsten Verwicklungen erfahren und die Mise-en-scène beflügeln. Das Verhältnis von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum ist bei der AB-Situation aber nicht das gleiche wie bei Telefonaten. Bei der AB-Situation bleibt der Wahrnehmungsraum präsent, fast stärker noch als in einem von Angesicht zu Angesicht geführten Gespräch, das die Aufmerksamkeit ganz auf das Gegenüber lenkt. Die Mediensituation AB – hoch selektive, weil steuerbare Mitteilungen – teilt mit Filmsituationen im Vergleich zu Lebenssituationen ihre Selektivität und intentionale Gestaltbarkeit.
INSERTION – TRANSITION Hans J. Wulff, der von der These ausgeht, »daß der Film formale Eigenschaften des Telefonats für seine eigene sequentielle Formenwelt benutzt«,3 sieht die Indienstnahme des Telefons für den Film in der Motivation des Einstellungsanschlusses als Szenenübergangsmöglichkeit in den beiden Modi der Transition und der Insertion. Insertion meint, dass die aus dem Filmganzen herauslösbare Einheit des Telefonats (›Szene‹) als strukturbildende Einheit innerhalb einer Sequenz markiert wird und dabei von zwei verschiedenen Realitätsstatus, dem situativ tatsächlich Anwesenden und dem im Telefongespräch Vorgestellten, bestimmt ist. Die Kamera bleibt (nach einem eventuellen kurzen Insert) beim Anrufenden bzw. beim Angerufenen, kadriert also Figur 1. Transition hingegen meint die Möglichkeit, mit dem Telefonat einen Übergang von Szene zu Szene zu schaffen. Dabei handelt es sich um »eine motivierte Diskontinuität, kein[en] so harte[n] Bruch wie ein[en] einfache[n] Umschnitt«.4 Der Wechsel von Figur 1 zu Figur 2 ist eine »elegante Szenefolgemontage bei zeitlicher und kommunikativer Kontinuität«.5 Diese besondere Motivation begründet eine spezifische Mise-en-scène bzw. ein bestimmtes Editing-Verfahren. Wenn Wulff für die AB-Situation festgestellt hat, dass es sich um nichtdyadische Telefonate handelt, dann ergibt sich daraus die interessante Frage, ob die filmische Inszenierungsweise nach wie vor unter dem Leitparadigma von Insertion und Transition behandelt werden kann.
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Zur Differenz von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum vgl. Hans J. Wulff: »Film-Telefonate. Kommunikationssoziologische Bemerkungen«, in: Ulrich Lange/Klaus Beck/Axel Zerdick (Hg.), Telefon und Gesellschaft. Beiträge zu einer Soziologie der Telekommunikation, Berlin 1989, S. 348-364; Hans J. Wulff: »Telefon im Film/Filmtelefonate: Zur kommunikationspsychologischen Beschreibung eines komplexen Situationstyps«, in: Bernhard Debatin/Hans J. Wulff (Hg.), Telefon und Kultur. Das Telefon im Spielfilm, Berlin 1991, S. 61-105. Hans J. Wulff: »Ikonographie, Szenentransition, Narration: Zur Analyse der Beziehungen zwischen filmischer Form und filmischem Telefonat«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur, S. 127-167, hier S. 137. Ebd., S. 138. Ebd., S. 139.
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INTIMITÄT – ANONYMITÄT Herausgelöst aus der Reziprozität des Kommunizierens schafft die Einseitigkeit des Sprechens, die mit der Tonaufzeichnung des AB oder des Diktiergeräts verbunden ist, eine Schieflage. Aus dem Sprechen wird leicht ein Diktat oder ein Verdikt, aus dem Hören eine Verurteilung oder ein Verrat. Das Abhören und das für fremde Ohren Zugänglichmachen dient sowohl in KLUTE (A. J. Pakula, USA 1971) als auch in HAMLET (K. Branagh, GB/USA 1996) der Intrige. In beiden Fällen wird ein Mordkomplott eingefädelt, wie auch in Q & A (S. Lumet, USA 1990). Für Wulff ist das die Plot-Funktionalisierung, die der AB anbietet: »Für die Erzählung wird der Anrufbeantworter dann interessant, wenn einer, für den der aufgesprochene Text eigentlich nicht bestimmt war, durch das Abhören des Bandes zur Kenntnis von Informationen gelangt, die er gegen den Anrufen6 den (oder den Angerufenen) wenden kann.«
Dass sich mit dem AB das in der direkten Rede ausbalancierte Nähe-DistanzVerhältnis, das zumeist nicht als Problem auffällt, in die Extreme von Anonymität und Intimität radikalisiert, wird durch Wulffs Assoziationen bestätigt, nicht jedoch als eine problematische Verzwirnung, die sich in einem Paradoxon niederschlägt, ausformuliert. »Der Verkehr mittels eines Anrufbeantworters ist gegenüber dem normalen Telefonat dahingehend anders, als man es hier mit einer nichtdialogischen Form zu tun hat, die zwar mündlich ist, die aber im Grunde eher dem Brief ähnelt – mit der zeitliche Spanne zwischen Rede und Gegenrede, der Unmöglichkeit, dem 7 Sprecher unmittelbares Feedback zu geben etc. [alle Herv. i. O.]«
Zwischen dem intimen Liebesbrief und dem anonymen Todesauftrag neigt der gesprochene Text einem Exzess zu, schlägt aus in Richtung Intimität oder Anonymität, in Richtung Eros oder Thanatos. Die Assoziation der nichtdialogischen Kommunikationsform des AB-Textes mit einem Brief, einer schriftlichen Kommunikationsform mit adressierter Abwesenheit im Medium der Schrift, die – nach Jacques Derrida – die idealisierte Anwesenheit mit sich führt,8 wirft die Frage nach der Medialität des AB-Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf.
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H. J. Wulff: Ikonographie, Szenentransition, Narration, S. 147. Ebd. Vgl. Jacques Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 325-353, hier S. 330.
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Gebrauchs- und Reflexionstext ZWISCHEN GEBRAUCHS- UND REFLEXIONSTEXT: MÜNDLICHKEIT IM GEBRAUCHSTEXT Die Konzentration auf nur einen der Sinne, das Gehör, die Ausblendung des den Telefonierenden umgebenden Realraums, die den Kommunikationsraum ›Telefonat‹ etabliert und den Wahrnehmungsraum nahezu einfriert (ein visuelles freeze-frame im Vorfilmischen), all das, was mit dem Telefonat betont wird, die Aufmerksamkeit, die sich in analytischer Konzentration auf das zu Decodierende hin steigert, radikalisiert sich für den Sprecher des mündlichen Textes in der AB-Situation. Die Mühe und die Peinlichkeit, sein Anliegen stotterfrei, in der richtigen Reihenfolge, ohne Wichtiges zu vergessen vorzutragen sowie insbesondere das Wissen, dass der Abhörer völlig stressfrei nicht nur auf das Denotat, sondern zugleich auf das Konnotat der Stimme achtet und damit Gemütslage, Souveränität des Vortrags und psychische Verfassung/Gesamtpersönlichkeit zugleich mitverhandelt werden, steigert sich noch durch das Wissen, dass der Text mehrmals abgehört werden kann und dadurch Unzulänglichkeiten immer mehr hervortreten. Die Bedingung der Rede, der Imperativ: »Sprich!« bringt den Anrufer in eine unterlegene Position. Mit dem AB tritt eine Asymmetrie von Sprecher und Hörer ein, die ein gesteigertes Potential zur Figurencharakterisierung in sich trägt. Isoliert, als repräsentativer Stellvertreter – wie die Kurzschrift ein shortcut –, als blickte man ungleich direkter auf den Grund einer Figur, ist es nicht verwunderlich, dass durch die AB-Texte andere Filmfiguren lächerlich gemacht und geschwächt werden können, so z.B. der Sekretär des »Großen Lebowski« im titelgebenden THE BIG LEBOWSKI (J. Coen, USA 1998), der damit umso deutlicher als Antipode zum stets coolen – wenn auch Null-Checker – »Dude« hervortritt (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Der »Dude« in THE BIG LEBOWSKI tanzt entspannt, während die AB-Nachrichten laufen
Bei der Kommunikationssituation des Aufzeichnens von Anrufen bzw. des Abspielens derselben, in der AB-Situation also, verbleiben die Filme größtenteils in einer Sequenz (›Situation‹ genannt) und damit in einem Kontinuum von Ort, Zeit, Figuren und Handlung. Die mehrfach untergliederte Transition (durch Alternation, auf der Basis von Handlungspaaren, durch themati-
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sche und akustische Motivation)9 wird als motivierter Übergang kaum genutzt. Doch könnte man im eigentlichen Sinne auch nicht von Insertion sprechen, also einer Rückkehr in die Ausgangsszene vor dem Telefonat, denn die Szene ›AB abhören‹ wird nicht verlassen. In neueren Filmen kommt es noch nicht einmal zu einer Szene, denn das für das Telefonat so bezeichnende Auseinanderfallen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum findet nicht statt. Die filmische AB-Situation ist also – ganz im Gegensatz zu FilmTelefonaten – durch die Einheit von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum gekennzeichnet. Film-Inszenierungen erweisen dem AB damit eine ganz andere filmische Reflexion, die dem Tonraum eine diegetisch-einheitsstiftende Kraft zuweist. Der gesprochene Text läuft beim Abhören (anders als beim Aufsprechen) neben alltäglichen Verrichtungen ganz nebenbei ab (wie in THE BIG LEBOWSKI), der Wahrnehmungsraum bleibt uneingeschränkt, der Kommunikationsraum wird nicht eröffnet (vgl. Abb. 2).
Abb. 2: Der »Dude« merkt auf, der Kommunikationsraum bricht kurzzeitig in den Wahrnehmungsraum ein
Die Radikalisierung der grundsätzlich auch schon in der Rede möglichen Asymmetrie zwischen Sprecher und Hörer ergibt sich beim Aufsprechen von Seiten des Sprechers durch die Konzentration auf den zweidimensional gewordenen Kommunikationsraum, hinter dem der Wahrnehmungsraum nahezu verschwindet, wohingegen beim Hörer der Kommunikationsraum nahezu verschwindet – er tritt hinter den dominant bleibenden Wahrnehmungsraum zurück.
ZWISCHEN GEBRAUCHS- UND REFLEXIONSTEXT: MÜNDLICHKEIT IM REFLEXIONSTEXT »This is America. Leave your conscious after the beep.« Diese Zeilen aus einem Song des Musicals Rent von Jonathan Larson und dem gleichnamigen Film RENT (C. Columbus, USA 2005) kennzeichnen all die in den Raum hineingesprochenen Nachträge, monologisch vorgetragenen Reflexionen und selbstkritischen Stimmen, die aus einer Beobachterposition reflektierend das eigene Verhalten oder eine zwischenmenschliche Beziehung thematisieren. 9
Vgl. H. J. Wulff: Ikonographie, Szenentransition, Narration, S. 137ff.
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Die so eingezogene Meta-Ebene, die stimmgewaltig und körperlos die Funktion eines innerdiegetischen Off-Kommentars erfüllt, um es einmal in einer paradoxen Wendung zum Ausdruck zu bringen, zeugt von einer Fokalisierung,10 welche die Zurechenbarkeit von Erzählerinstanzen ins Wanken bringt und damit ihre Fokalisierungsfunktion verliert. Auditiv freischwebend ist die Artikulation, die keine direkte Rede, kein allwissender Off-Kommentar, kein innerer Monolog ist. Die Adressierung ist ungewiss. Es wird gar nicht mehr erwartet, dass darauf geantwortet wird. Es bleibt etwas im Raum stehen, das möglicherweise zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen wird, auf das in der Rede Bezug genommen wird, das als Handlungsanweisung gewirkt hat – oder auch nicht. Der AB ist ein Medium mit unabschätzbarer Folgewirkung. Die Offenheit des Redeangebots ist eine freischwebende Potentialität, die sich blitzschnell in Aktualität oder – bei NichtBeachtung – in reine Virtualität wandeln kann. Diese Offenheit, einen plot point einzuleiten oder rein gar nichts auf der Ebene der Handlung oder der Figurencharakterisierung zu bewirken, ist die mediale Potentialität des AB. Der Gebrauchstext, jener monologische Informationsfluss und die gemeinhin eingesetzte Textsorte AB-Text, ist dabei – wenngleich von gleicher Technik bestimmt – von einer ganz anderen Medialität, hier insbesondere von einer ganz anderen Mündlichkeit, als der Reflexionstext, da dieser medienhistorisch gewendet das Erbe des verlesenen Briefes antritt und die Psycho-Rede für den Analytiker abgibt.
Zur Medialität des AB-Textes zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit Rüdiger Campe weist in seiner Analyse den Telefonaten in literarischen Texten, also einem Schriftlichkeitsmedium, eine Stellung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu.11 Der AB-Text, der Ansagetext12 wie der spontan darauf gesprochene monologische Informations- und Reflexionsfluss, steht ebenfalls zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, stellt wiederum eine – im Vergleich zum gut erforschten Telefonat – feinere Zwischenstufe zum Telefonat dar und ist bestimmt vom »alten dualen Spiel von face-to-face- und Schriftverkehr«.13 Mit dem AB im Film wird eine neue An-/und Abwesenheitstypologie entworfen, die sich in den Zwischenraum der einzelnen Medien Gespräch, Telefonat und Brief einnistet und mit ihrer Darstellung im Film – verkompliziert durch ihre Ausgestaltung des diegetischen/nondiegetischen akustischen wie visuellen On-/Off-Verhältnisses – zur eigentlichen Paradoxie wird. Die 10 Vgl. Edward Branigan: »Levels of Narration«, in: Ders.: Narrative Comprehension and Film, London, New York 1992, S. 86-124. 11 Vgl. Rüdiger Campe: »Pronto! Telefonate und Telefonstimmen«, in: Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen 1. Medien, Opladen 1987, S. 68-94. 12 Vgl. Rainer Knirsch: »Sprechen Sie nach dem Piep.« Kommunikation über Anrufbeantworter. Eine gesprächsanalytische Untersuchung, Tübingen 2005, S. 36ff. 13 R. Campe: Pronto!, S. 69.
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filmspezifischen Formen des Monologs, des verlesenen Briefes und des OffKommentars nehmen dabei eine artverwandte, aber doch verschiedene Funktionalität ein. Entwirft man eine Film-Typologie von AB-Kommunikaten, so ist neben der Funktionalität und der schon erwähnten Verschiedenartigkeit von Sprechakten auch die zeitliche Einbettung zu beachten, aus der sich das spezifisch filmische Reflexionspotential ergibt.
AM ANFANG DES FILMS: INFORMATION, MITTEILUNG UND MISSVERSTEHEN In LITTLE MISS SUNSHINE (J. Dayton/V. Faris, USA 2006) kommt die gute Nachricht gleich zu Beginn des Filmes vom Band: Olivia, ein bebrilltes, eher dickliches Mädchen im Grundschulalter, darf an einem Beauty-Wettbewerb teilnehmen, der Hunderte von Meilen entfernt am Wochenende stattfinden wird. Die gute AB-Nachricht als Handlungsinitiation etabliert die Ausgangssituation (S), der dann eine wahnwitzige Aktion (A) folgt (die ganze Familie macht sich auf zu einer Irrsinnsfahrt mit einem Toten, aufgedeckten Lebenslügen und bitteren Selbsterkenntnissen), um sich am Ende des Films in einer neu aufgestellten Familiensituation (S’) wieder einzufinden.14 Die AB-Information über den Wettbewerb wird in einem darauf folgenden Telefonat zur Mitteilung,15 der dann eine Handlung folgt, doch der Schritt zum wirklichen Verstehen, einer adäquaten Antwort, einem angemessenen Verhalten, erfolgt nicht. Alle Protagonisten sind entweder von einer Fehleinschätzung dessen geleitet, auf was eigentlich Bezug genommen werden soll – die Welt oder die künstliche Welt des Beauty-Wettbewerbs –, oder von Kommunikaten, die ihren Inhalt oder ihre Adressaten verfehlen, so etwa die ins Leere laufende Rede des Vaters vom selbstgemachten Erfolg.
AM ENDE DES FILMS: DER AB-MONOLOG ALS VERLESENER (LIEBES-)BRIEF Maya (Virginia Madsen) antwortet in SIDEWAYS (A. Payne, USA 2004) auf Miles’ (Paul Giamatti) letzten Brief und erklärt sich auf dem AB. Es ist ein Lebensbericht und Liebesgeständnis, in seiner Monologform stärker als ein Telefonat. Die ausgesprochenen Gedanken wirken definitiv, da sie vergangenheitsabschließend und zukunftsfestlegend klingen. In SIDEWAYS dient der verlesene Brief der Liebeskommunikation und steht am Ende des Films als Abschluss vorangegangener Kommunikation. Dass der AB-Text nur ein Kommunikat unter vielen verwendeten im Film darstellt, muss als korrespondierendes Verhältnis mitbedacht werden. Hier reiht sich die aufgezeichnete Schlussrede in eine spezifische Medienfolge ein: vis-à-vis-Gespräche, ein unveröffentlichtes Manuskript Miles’, das von nur einer Person, Maya, gelesen wird, ein Brief von Miles und schließlich Mayas AB-Rede als Antwort. Diese ist gekennzeichnet von monologischer Introspektion und verschobener 14 Vgl. Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1983, S. 194ff. 15 Vgl. Niklas Luhmann: Einführung in die Systemtheorie/Niklas Luhmann, Heidelberg 2002, S. 292; mit Information – Mitteilung – Verstehen bezeichnet Luhmann die drei Einheiten der Kommunikation als Trias.
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Adressierung, wobei sich nicht nur der Zeitpunkt der Erreichbarkeit aufgeschoben hat, sondern auch der Adressat. Vornehmlich wird das eigene, in der Rede entäußerte Ich adressiert. Der Zuhörer kann partizipieren, muss aber, ähnlich wie bei einem Tagebuch, das Kommunikat in seiner Selbstbegründung annehmen. Campes erste Bestimmung des Telefonats bestätigt die Assoziation von Liebeskommunikation und Intimität: »[D]as Telefonat hält die Mitte zwischen dem Rendez-Vous und dem Liebesbrief«.16 Das Anrufbeantworterkommunikat hält, anders als das Telefonat, die Mitte zwischen Rendezvous und Liebesbrief nicht mehr, ist aber gleichwohl eine Ausprägung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die gedankliche Verfertigung beim Aufsprechen, dem ›Texten‹, erfolgt in einem nicht fixierten schriftlichen Modus. Die Schriftlichkeit des gesprochenen AB-Textes liegt in der Textgestaltung, die sich an Aufbau und Struktur eines Schriftstücks orientiert.17 Die Kenntnis des formalen Textgestaltungskorsetts leitet das Verfassen des Kommunikats beim Reden.
AUßERHALB DER ZEIT, AUßERHALB DER WELT: DIE INNENWELT Dass AB-Kommunikate ins Leere laufende Texte sind, die ge-, aber nicht angehört werden, sondern eine abperlende Außenwelt darstellen, welche die Innenwelt eigentlich nicht tangiert und nach Belieben auch wieder abgestellt werden kann, das wird in vielen Filmen gezeigt, so z.B. beim ersten AB-Einsatz in THE BIG LEBOWSKI oder bei den Anrufen der Eltern in RENT. Insbesondere in RENT repräsentiert der AB zumeist die uneinholbare Außenwelt, die gebremst und gefiltert eindringt. Die AB-Nachrichten stellen eine Referenz auf die normale kleinbürgerliche Welt dar, auf ihre Gesetze und Funktionsweise, die in diesem Musical in doppelter Weise negiert werden: zum einen durch den Verhaltenskodex einer Künstler-Bohème und zum anderen durch die Virtualisierung von Welt mittels der Musical-Songs, einer gesungenen diegetischen Welt. Die Fähigkeit auf etwas schon Vorverfasstes zurückgreifen zu können, gefestigt durch (Rede-)Gewohnheit, zeugt von einem medialen Lernprozess. Je mehr dieses Wissen durch Gebrauch verinnerlicht worden ist, desto leichter fällt das Herunterrattern seines Anliegens, gerade weil der Adressat vergessen wird. Die Einseitigkeit der Rede ohne Antwort, ja ohne eine Beantwortung zu erwarten, ist nun zur medialen Grundbestimmung geworden. Entgegen der 1955 noch nicht vorhandenen gesellschaftlichen Medienkompetenz zeigt der Film KISS ME DEADLY (R. Aldrich, USA 1955) – der erste, der den Anrufbeantworter, damals noch eine schreibtischgroße Maschine, prominent in Szene setzt und die geheime Medienliaison zwischen Apparat und Sekretärin als Narrativ stiftet –, wie souverän solch eine Redeadressierung ohne Anwesenheit irgendeines menschlichen Adressaten vor sich gehen
16 R. Campe: Pronto!, S. 69. 17 Knirsch unterscheidet beim AB-Kommunikat mehrere Textelemente, so z.B. die Identifizierung zu Beginn, die Begrüßung, den Abschluss etc.; vgl. R. Knirsch: Sprechen Sie nach dem Piep, S. 44ff.
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kann (vgl. Abb. 3). Hier wird durch eine Schauspielerleistung eine spätere gesellschaftliche Medienkompetenz antizipiert.
Abb. 3: 1955: Der Anrufbeantworter als schreibtischgroßes Magnettongerät in KISS ME DEADLY
Das mündliche Vortragen des Anliegens in der Performanz eines Monologs imitiert das mündliche direkte Gespräch, aber eigentlich karikiert, ja konterkariert es jenes. Die Adressierung ist immer eine prekäre und ungewisse. Dies gilt insbesondere für die Erreichbarkeit.
KEINE ZEIT, GAR NICHT: DIE NICHT-ERREICHBARKEIT In GOODBYE: KURZSCHLUSS 217 (S. Hudson, D 2004) entsteht die Dramatik des Films durch die verzweifelten Versuche der alleinerziehenden, in Untersuchungshaft sitzenden Maria, jemanden aus ihrer Familie zu erreichen, der sich um die in der Wohnung zurückgelassene zweijährige Tochter kümmern kann. Die Ausweglosigkeit des Nicht-Erreichens macht aus der aufgeschobenen Kommunikation, die der AB mit seiner technisch signalisierten Empfangsbereitschaft darstellt, die totale Unerreichbarkeit.
NICHT-MEHR, ZU-SPÄT: AKUSTISCHER VOYEURISMUS, TODESDROHUNG/TODESANGST Die Spulen des magnetischen Tonbandgerätes drehen sich langsam von links nach rechts, während die Titel des Vorspanns von KLUTE von oben nach unten über die Leinwand laufen. Das Gerät gibt ein mitgeschnittenes Gespräch wieder, das dem Neo-Noir-Detektiv John Klute vorgespielt wird, der mit Hilfe der mechanischen Stimmaufzeichnungen einem Mordkomplott auf die Spur kommen soll. Die psychopathologische Verstrickung aus Sex, Mord und akustischem Voyeurismus löst sich am Ende des Films auf, als die Stimme zuordenbar geworden ist und die Entwicklung hin zur Dialogsituation gezeigt wurde. Die grundsätzliche Körperlosigkeit und Unsichtbarkeit der isolierten AB-Stimme gibt hier besonders gut den Einbruch des Bösen, die
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Stimme als Bedrohung wieder. Mit ihr lassen sich Todesdrohung und ausgelöste Todesangst gut verbinden. Anders als der mündliche Vortrag oder die freie Rede des Agons bleibt der Status des Ansprechens einer Person oder des für sich selbst Redens für viele Anrufer ungeklärt. AB oder Gesprächsaufzeichnung haben immer ein Adressierungsproblem, sie sprechen eine abwesende Anwesenheit an. Der präsentische Einbruch des aufgesprochenen Textes ist von Seiten des Sprechers immer eine anwesende Abwesenheit und von Seiten des Abhörers eine abwesende Anwesenheit. Die Asymmetrie von Hörer und Sprecher kennzeichnet die Medialität des AB, die filmische Reflexion und Theorie des Apparats zugleich ist. Die Idealität der Telekommunikation, die sich mit der Erfindung des Telefons technisch realisiert zu haben schien, müsste eigentlich durch das Zusatzgerät des AB, der fortan fernmündlich eben nicht nur den Raum, sondern auch die Zeit bzw. die Unterschiedlichkeit der Anwesenheitszeiten überwinden kann, vervollkommnet sein. Doch der AB nimmt durch seine Nicht-Reziprozität, das radikale Auseinanderfallen des Erreichen-Wollens und des faktischen Nicht-Erreichens und die dem Gerät als Daseinsgrund gegebene NichtErreichbarkeit nicht nur die Idealität der Telekommunikation, sondern von Kommunikation überhaupt zurück.18 Die beobachtete Hörer-Sprecher-Asymmetrie, die Fehlreferenzen auf die Außenwelt und die Kommunikationsfehlleistungen, die sich mit dem AB verbinden, führen zu der These, dass die AB-Textfunktionalisierung als Gegenprogramm zum fernmündlichen Gespräch, dem Telefonat, aufzufassen ist – also zu der Positionierung des AB als Gegenteil des Telefons. Und wie verhält sich der AB zu den Medien Gespräch und Brief? »Das Telefonat partizipiert an Gespräch und Brief, es leitet vom mündlichen zum schriftlichen Verkehr über, im literarischen Text verursacht es eine Störung an der Grenze. Die Telefonstimme hat dagegen eine Zwischenstellung, die auf kei19 ne der beiden äußeren Positionen der Kommunikation reduziert werden kann.«
Der AB-Text nun – im Gegensatz zum Telefonat – partizipiert nicht, sondern verfehlt Gespräch und Brief. In seiner Beidseitigkeit von Mündlichkeit und 18 Das von Uwe Wirth beschriebene Paradoxon des Anrufbeantworters, die aufgeschobene Erreichbarkeit des Empfängers, die Kommunikationsverhinderung und Voraussetzung des nächsten Kommunikationsaktes ist (vgl. Uwe Wirth: »Piep. Die Frage nach dem Anrufbeantworter«, in: Stefan Münkler/ Alexander Rösler (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt/Main 2000, S. 161-185), wird medientheoretisch unter Bezugnahme auf die psychoanalytisch aufgeschlüsselte Kommunikation insofern zum Grundparadigma menschlicher Kommunikation, als mit Referenz auf Avital Ronell deutlich wird, dass die nicht erreichte Anrufung, die AB-Situation – man achte hier auf die alphabetische Ordnungslogik der Abkürzung, eine Kürzung des ABC um den dritten Part, gleichsam den dritten abwesenden Teilnehmer des Kommunikationsaktes –, der direkten (nicht nur fern-) mündlichen Zweierkommunikation vorausgeht; vgl. Avital Ronell: Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, elektrische Rede, Berlin 2001. 19 R. Campe: Pronto!, S. 69.
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Schriftlichkeit hat er keine Formvollendung gefunden, sondern sucht stets aufs Neue eine adäquate Ausdrucksweise, die sich als schriftliches Imitat immer als Ersatz des direkten Gespräches weiß und diesen Mangel nicht ausgleichen kann.
ZUR UNZEIT: DIE AUßENWELT Aufgezeichnete Nachrichten zur Unzeit und als Unding: Dieser Aspekt der AB-Texte als Problemanzeige verweist auf die störende Außenwelt, auf die schlechte Nachricht und – wie bei Detektiv Rockford in der TV-Serie THE ROCKFORD FILES (USA 1974-1980) – auf die einbrechende Rede. Der AB erweist sich als eine effiziente Selektionsmaschine, die bestimmt, wer in den Wahrnehmungsraum – den privaten Bereich der Wohnung – eindringen darf und wer nicht. Bei Detektiv Rockford wird dies in Verkehrung thematisiert. Ständig schneien Freunde oder unerwartete Besucher herein, die sich vorher hätten telefonisch ankündigen sollen, dies aber nicht getan haben. Die vorherige Ankündigung wirkt dabei wie ein aufzurichtender Schutzwall, als könne man für Besuchsmomente die eigene Wohnung versiegeln, den Lebensbereich zur Einheit von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum machen. Doch dies wird als ständige Einheitsfiktion entlarvt. Bisweilen ist es ein Zeitund Koordinierungsproblem, etwa dann, wenn Detektiv Rockford mitten im Gespräch durch das Telefon herausgerissen wird, das Gespräch zu Ende führen möchte, aber auch ans Telefon will, der AB anspringt und beides verpasst wird: die erfolgreiche Beendigung des Gesprächs und das Telefonat. Es ist wie eine ständige Verständnis-Kastrationsdrohung. Im Film wird diese ›Störung an der Grenze‹ nur dann bewusst dargestellt, wenn sie mit einer visuellen Abwesenheit einhergeht. Sofern aber keine Anschlusskommunikation stattfindet, verfehlt sie die Einladung zum Dialog, sie führt weg vom mündlichen Verkehr, führt aber auch nicht hin zum schriftlichen. Im filmischen Text ist es dann eine Thematisierung der Medialität des Filmischen, wenn Anschlusshandeln und Anschlusskommunikation, die Szenenübergangsmotivation, also die Frage, ob im Modus von Insertion oder Transition weiter im filmischen Text verfahren wird, mit dem Einsatz des AB als Problem markiert werden, wenn also in Frage steht, wie die nächste Szene motiviert werden könnte. Eine ironische Ausnahme und damit Bestätigung stellt der folgende Typus dar.
IN DER MITTE DES FILMS, AUS DER MITTE DES LEBENS: AKTION UND SITUATION Wenn in THE BIG LEBOWSKI mitten in das Polizeigespräch, in dem der »Dude« – der Name allein ist schon ein Echo, eigentlich eine Echolalie auf das langgezogene ›beep‹ des AB – deklariert, dass ihm sein Auto und in einem ganz anderen Zusammenhang sein Teppich gestohlen wurden, aufs Stichwort genau die AB-Nachricht platzt, dass der Teppich sich bei Maude Lebowski, der Tochter des »Großen Lebowski« befindet, dann wirkt dies wie ein medial ausgestreckter Fingerzeig der filmischen Informationsvergabe. Die darauf folgende Sequenz wird damit motiviert und Maude als Filmfigur eingeführt.
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Es ist eine motivierte Aktionsinitiation, welche die neue Situation etabliert – eine harte Transition.20 Der dergestalt ausgestellte filmische cue wirkt wie die Deixis eines Indexes (Zeigefinger), wie die metanarrative Kommentierung der filmischen Sequenzmotivation: eine mediale Selbstreferenzialität.21 Ein nachgerade deiktischer cue, der mit ironischem Augenzwinkern – hier müsste man angemessenerweise von ironischem Ohrenklappern sprechen – die Performativität von Sprechakten preisgibt, denn in der Austinschen Sprechakttheorie ist für performative, durch Rede handelnde Sprechakte keine Ironie denkbar.22 Dass Ironie und Handeln durch Reden aber (nach der filmischen Moderne) kein Gegensatz mehr sein müssen, zeigt genau dieser Redeeinsatz, der die Fiktionalität von Handlungsmotivation ausstellt. Der Anschluss der nächsten Einstellung durch den Einsatz des AB fällt aber in der Regel als schwache Motivation oder als Motivationsproblem auf, das man entweder mit einem ironischen Augenzwinkern (wie in THE BIG LEBOWSKI) oder mit der Inadäquatheit des Anschlusses durch den harten Schnitt lösen kann.
Die akusmatische Präsenz der Stimme »Die sekundäre Mündlichkeit der Stimme am Telefon ist weder (primär) mündlich noch schriftlich. Sie novelliert die empirischen (die juristischen und die physikalisch-technischen) Bedingungen der Rede: Wer spricht? Was spricht?«23 Eine von der Schrift abgeleitete Mündlichkeit, eine nachträgliche Mündlichkeit, die sich nach Walter J. Ong von den technischen Medien herleitet und der die Schrift unbedingt vorausgehen muss,24 ist mit der AB-Stimme weiter getrieben, ist eigentlich schon mündliche Schriftlichkeit. Die schwierige Zwischenstellung des AB-Textes, die zwischen den Polen der Mündlichkeit und der Schriftlichkeit changiert, ja eigentlich oszilliert, und die sich zeitweilig in der paradoxen Form der sekundären Mündlichkeit bzw. der mündlichen Schriftlichkeit einfindet, hängt m. E. in dieser Hinsicht von der Bewertung der AB-Kommunikation als Monolog oder Dialog ab.25 20 Vgl. H. J. Wulff: Ikonographie, Szenentransition, Narration, S. 137ff. 21 Vgl. Kay Kirchmann: »Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferenzialität. Überlegungen zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität«, in: Ernst Karpf/Doren Kiesel/Karsten Visarius (Hg.), Im Spiegelkabinett der Illusionen. Filme über sich selbst, Marburg 1998, S. 67-87. 22 Vgl. John L. Austin: How to Do Things with Words, Cambridge 1962. 23 R. Campe: Pronto!, S. 69. 24 Vgl. Walter J. Ong: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, New York, London 1988, S. 80ff. 25 Wirth sieht hier lediglich einen Zusammenhang zwischen der Bewertung Mündlichkeit/Schriftlichkeit und der Bewertung Monolog/Dialog; vgl. U. Wirth: Piep. Die Frage nach Monolog oder Dialog wird von ihm als weit weniger wichtig erachtet und mit dem Verweis auf die Linguistik geklärt. Diese hebt für Ansage- und Sprechtext zwar die »teilweise monologische[n] Eigenschaften« hervor, versteht aber den Gesamttext als Dialog, da die zeitliche Trennung der beiden Texte keine Rolle für den Dialogcharakter des
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Sieht man den Ansagetext und den Anruftext als zwei getrennte Kommunikationsakte, die nicht zwangsläufig aufeinander bezogen sein müssen, wird das monologische Moment betont und Assoziationen zum verlesenen Brief (wie in SIDEWAYS) bzw. zum verlorenen Brief26 stellen sich ein. Betont man die Bezogenheit beider Textteile aufeinander, denkt man an die erzwungene Anschlusskommunikation, so wird das dialogische Moment der AB-Kommunikation in den Vordergrund gestellt. Uwe Wirth macht das Argument der Aufzeichnung des Anrufes stark, die dieser »aufgezeichneten Mündlichkeit den gleichen Spurcharakter wie die Schrift«27 verleiht. Er kommt mit Bezug auf Derrida zum Urteil der gleichen »idealisierten Anwesenheit«28 von AB-Kommunikation und Schrift. Wirth, der die AB-Kommunikation mit dem Briefroman vergleicht, sieht mit dem AB das Oppositionsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit nivelliert. Der gesprochene mündliche Brief wird sodann in seiner medialen Form leitend für die E-Mail, die »ihrem Stil nach meist nichts anderes als eine verschriftlichte Anrufbeantworter-Nachricht«29 ist. Bei Wirth wird durch den Verweis auf die technische Aufzeichnungsmöglichkeit der – der Schrift zugehörige – Spurcharakter betont, die Derridasche Schriftnachfolge in Anschlag gebracht. Und durch die Briefromanassoziation, die Übernahme der idealisierten Anwesenheit, wird der Mündlichkeitsaspekt gelöscht bzw. läuft dieser auf eine der Schriftlichkeit folgende Mündlichkeit hinaus, eine sekundäre Mündlichkeit, womit die behauptete Nivellierung des Spannungsverhältnisses von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zugunsten einer primär gedachten Schriftlichkeit zurückgenommen wird. Die menschliche Stimme, die vom Anrufbeantworter kommt, ist von einer unübertrefflichen akusmatischen Präsenz. Die von Michel Chion zum Zentrum einer neu zu entwerfenden Theorie des Tonfilms erhobene akusmatische Stimme,30 die erstmals das Sprachliche und nicht das Bedeutete eines sprachlichen Diskurses fokussiert, ist als Stimme ohne Körper präsent, ist ohne das Bild dessen, der spricht. Der Medialitätsaspekt der Stimme wird stets vergessen, ihre Performativität stets unterschlagen,31 aber gerade weil die Materialität der Stimme vergessen (vielmehr übergangen) werden kann, kommt ihr der erste Rang zu. Filmwissenschaft, die in Bezug auf den Ton mit den beiden Parametern diegetisch/nondiegetisch und On/Off operiert, hat sich am meisten mit dem nondiegetischen Off (etwa der Filmmusik) und dem diegetischen Off (etwa dem Kommentar) auseinandergesetzt. Für das Denken des Akusmatischen ist die Unterscheidung On/Off die fundamentalere, da die menschliche Stimme nach Chion den Tonraum, den filmischen Raum über-
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Gesamttextes spielt; vgl. auch Markus Nickl/Konstanze Seutter: »Technik als Kommunikationspartner. Gespräche auf dem Anrufbeantworter aus kommunikationstheoretischer Sicht«, in: Muttersprache 105/1995, S. 258-273. Vgl. R. Campe: Pronto!. U. Wirth: Piep, S. 169. J. Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 330. J. Derrida: Signatur, Ereignis, Kontext, S. 330. Vgl. Michel Chion: La voix au cinéma, Paris 1982. Vgl. Sybille Krämer: »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz, Frankfurt/Main 2002, S. 323-346.
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haupt strukturiert, ja eigentlich alles um sie herum hierarchisiert: le vococentrisme (der Stimmzentrismus). Da von der menschlichen Stimme aus dem diegetischen Off jederzeit erwartbar ist, dass sie sich verkörperlicht und in das Handlungsgeschehen im Bildfeld eintritt, sie sich zu einem diegetischen On mit visueller Präsenz wandelt, befindet sie sich – fernab der formalästhetischen eindeutigen Kategorisierung neoformalistischer Filmanalyse – »ni tout à fait dedans, ni clairement dehors«,32 ist also weder dem On noch dem Off eindeutig zuzuordnen. Die Tonquelle zu sehen oder nicht zu sehen, ist alles entscheidend, die auf der Oberfläche der Leinwand umherirrenden Töne und Stimmen offenbaren die Macht des Kinos in seiner ganzen Potentialität. Eben weil sich die umherirrenden Stimmen nicht an einen Ort heften können, sind sie der Inbegriff des Filmischen. Die Erfindung des acousmêtre mit seiner Kraft der nicht-sichtbaren menschlichen Stimme aus dem Inneren des Bildraumes ist Zentrum des Filmischen per se. In dieser kinematografischen Zentralität steht der Anrufbeantworter, eine Stimme ohne menschliche Physiognomie, akusmatisches Beherrschungszentrum des Kinematografischen. Durch den Abgleich mit der als leitend angenommenen Schrift wird das Auditive, das Performative des Sprechaktes vernachlässigt. Im filmischen Feld, im Feld des Audio-Visuellen aber wird das Auditive gerade durch das Visuelle wieder zum primär Mündlichen, fällt auf die Seite der Mündlichkeit. Neigt eine nach Derrida und Ong ausgerichtete Medientheorie zum Postulat der sekundären Mündlichkeit der AB-Kommunikation, plädiert Filmwissenschaft mit dem Primat des On-/Off-Verhältnisses, welches das Akustische an das Visuelle koppelt, für eine primäre Mündlichkeit und sieht den AB auf Seiten des Gesprächs und des direkten Handelns. Der AB ist insofern die Negation des Telefons, als das in der Frühgeschichte so oft beschworene Rauschen in der Leitung, das Hören fremder Stimmen33 mit der kalten mechanischen Tonaufzeichnung, der unendlichen Wiederholbarkeit und der Extrapolation einzelner Geräusche keine geisterhaften semantischen Unklarheiten heraufbeschwört, sondern sich kriminologisch rückverfolgen lässt und sich dem analytischen Zugriff aussetzt, wie etwa in KLUTE. Mit dem Telefon wurde hervorgehoben, dass die Stimme als Inbegriff authentischer, weil direkter Kommunikation über ihre körperliche Endlichkeit triumphierte.34 Es ist nicht eigentlich die Authentizität der Stimme, die Wahrhaftigkeit des einwandfreien Wiedererkennens,35 sondern die noch immer aus der Frühgeschichte mitschwingende Wahnhaftigkeit, die dem Medium zu eigen ist. Aus diesem Grunde verfällt der Gebrauch des AB in die zwei Extreme des verlesenen Liebesbriefes und der ausgestoßenen To32 M. Chion: La voix au cinéma, S. 15. 33 Vgl. Friedrich A. Kittler/Thomas Macho/Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002. 34 Vgl. Michael Wetzel: »Telephonie. Kommunikation und Kompetenz nach J. G. Hamann«, in: Jochen Hörisch/Georg Christoph Tholen (Hg.), Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 136-146, hier S. 136. 35 Bei der mechanischen Aufzeichnung findet eine Reduktion des Frequenzbereiches der menschlichen Stimme statt, die ein Wiedererkennen erschwert.
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desangstschreie, die er aufzeichnet, wie an den beiden Extremen SIDEWAYS und KLUTE zu sehen war. Der soziale Gebrauch des AB wandelte sich, nun steht er den frühen literarischen Imaginationen der Grammophon-/Phonograph-Technik der mechanischen Stimmaufzeichnung entgegen. Er ist eben nicht mehr Mysterium und Geisterhaftigkeit, sondern Banalität und (verfehlter) Redeleerlauf. Zudem hat sich eine zunehmende mediale Ausdifferenzierung ergeben, das AB-Kommunikat wird als eine Kommunikationssituation unter vielen anderen (nicht-)medialen Gesprächssituationen und Kommunikaten im Film verwendet; auf den AB kann mittels anderer technischer Medien mit Kommunikation reagiert werden. Auf die AB-Nachricht folgt der Anruf oder der Brief oder das Gespräch oder schlichtweg nichts. Aus der heutigen AB-Verwendung ist die Verkehrung des früheren Imaginären des Telefons geworden. In der filminszenatorischen Funktionalisierung kann noch jener Nachhall erhalten sein, der mit der aufgezeichneten menschlichen Stimme das Lacansche Reale einbrechen lässt, doch weithin ist die heutige AB-Funktionalisierung im Film das Gegenprogramm zum Imaginären des Telefons. Doch was ist nun das Imaginäre der Technik des AB? Es ist das Nicht-Verstehen, das Nicht-Erreichen. Es ist das Information-Aussenden, das Mitteilen-Müssen, aber das nicht Verstehen-Wollen, das nicht VerstehenKönnen. Sprechen, ohne zu reden, hören, ohne zu verstehen. Der AB findet gerade deshalb Anschluss an das Telefon, weil er sein Anti-Programm, sein Gegenteil ist. Der Film gewinnt mit dem Verfehlen, dem zeitlichen Verpassen, dem Personen-Versäumnis und dem intentionalen (Fehl-)Verständnis, dem Auseinanderfallen von Wahrnehmungs- und Kommunikationsraum und dem Auseinanderfallen der einzelnen filmischen Parameter. Das Visuelle und das Akustische fallen auseinander und innerhalb des Visuellen das akustische On und das akustische Off sowie innerhalb der Narration das diegetische On und das diegetische Off. Der Film gewinnt dadurch das Wissen um die Einheit als Kunst des Zusammensetzens der einzelnen filmischen Parameter. Gerade darin besteht seine filmische Reflexionskraft. Die Medialität kommt selbst zum Vorschein: Das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit wird nachgerade vorgeführt, das von Intimität und Anonymität ausgeführt und die filmische Zeitlichkeit kommt zu Bewusstsein.
Literatur Austin, John L.: How to Do Things with Words, Cambridge 1962. Branigan, Edward: »Levels of Narration«, in: Ders.: Narrative Comprehension and Film, London, New York 1992, S. 86-124. Campe, Rüdiger: »Pronto! Telefonate und Telefonstimmen«, in: Friedrich A. Kittler/Manfred Schneider/Samuel Weber (Hg.), Diskursanalysen 1. Medien, Opladen 1987, S. 68-94. Chion, Michel: La voix au cinéma, Paris 1982. Debatin, Bernhard/Wulff, Hans J. (Hg.): Telefon und Kultur. Das Telefon im Spielfilm, Berlin 1991. Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1983. Derrida, Jacques: »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: Ders.: Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 325-353.
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Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main 1981. Kirchmann, Kay: »Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferenzialität. Überlegungen zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität«, in: Ernst Karpf/Doren Kiesel/Karsten Visarius (Hg.), Im Spiegelkabinett der Illusionen. Filme über sich selbst, Marburg 1998, S. 67-87. Kittler, Friedrich A.: Grammophone Film Typewriter, Berlin 1986. Kittler, Friedrich A./Macho, Thomas/Weigel, Sigrid (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin 2002. Knirsch, Rainer: »Sprechen Sie nach dem Piep.« Kommunikation über Anrufbeantworter. Eine gesprächsanalytische Untersuchung, Tübingen 2005. Köhler, Heinz-Jürgen/Wulff, Hans J.: »Filmtelefonate«, in: Münkler/Rösler (Hg.), Telefonbuch (2000), S. 125-142. Krämer, Sybille: »Sprache – Stimme – Schrift. Sieben Gedanken über Performativität als Medialität«, in: Uwe Wirth (Hg.), Performanz, Frankfurt/Main 2002, S. 323-346. Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie/Niklas Luhmann, Heidelberg 2002. Münkler, Stefan/Rösler, Alexander (Hg.), Telefonbuch, Frankfurt/Main 2000. Nickl, Markus/Seutter, Konstanze: »Technik als Kommunikationspartner. Gespräche auf dem Anrufbeantworter aus kommunikationstheoretischer Sicht«, in: Muttersprache 105/1995, S. 258-273. Ong, Walter J.: Orality and Literacy. The Technologizing of the Word, London, New York 1988. Ronell, Avital: Das Telefonbuch. Technik, Schizophrenie, elektrische Rede, Berlin 2001. Wetzel, Michael: »Telephonie. Kommunikation und Kompetenz nach J. G. Hamann«, in: Jochen Hörisch/Georg Christoph Tholen (Hg.), Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München 1985, S. 136-146. Wirth, Uwe: »Piep. Die Frage nach dem Anrufbeantworter«, in: Münkler/ Rösler (Hg.), Telefonbuch (2000), S. 161-185. Wulff, Hans J.: »Film-Telefonate. Kommunikationssoziologische Bemerkungen«, in: Ulrich Lange/Klaus Beck/Axel Zerdick (Hg.), Telefon und Gesellschaft. Beiträge zu einer Soziologie der Telekommunikation, Berlin 1989, S. 348-364. Wulff, Hans J.: »Telefon im Film/Filmtelefonate: Zur kommunikationspsychologischen Beschreibung eines komplexen Situationstyps«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur (1991), S. 61-105. Wulff, Hans J.: »Ikonographie, Szenentransition, Narration: Zur Analyse der Beziehungen zwischen filmischer Form und filmischem Telefonat«, in: Debatin/Wulff (Hg.), Telefon und Kultur (1991), S. 127-167.
WEITERE MEDIALE FUNKTIONEN IN FILMISCHER REFLEXION – ÜBERMITTELN, KOPIEREN, TAUSCHEN
»… da siehst nur Punkterl und Stricherl.«1 Telegrafie und Telefaksimile im Film THOMAS NACHREINER
»A telegraph isn’t just a telegraph.«
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Mit der Feststellung, dass der Telegraf nicht einheitlich definierbar ist, greift Richard Menke eine der basalen Annahmen der Medienwissenschaft auf. Der Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Telegrafie im 19. Jahrhundert zwischen optischer und akustischer Signalwiedergabe, zwischen manueller und automatischer Übertragung wie auch zwischen drahtlosen Systemen und Varianten des Fernkopierens3 bestätigt dann auch in exemplarischer Weise die komplexe Binnendifferenzierung von Medien, die ontologische Bestimmungsversuche systematisch ins Leere laufen lässt. Als »model of all electrical signalling systems which follow«4 ist die Telegrafie prototypischer Art für die Medienmoderne, was sich auch an Übertragungen des Beschreibungsmusters auf den Computer als »an instantaneous telegraph with a prodigious memory«5 ablesen lässt. Wenngleich die Filmproduktion den nur sporadisch gezeigten telegrafischen Medien nicht annähernd die Aufmerksamkeit entgegenbringt, die ihren computerbasierten Nachfolgern zuteil wird,6 so ist dennoch zu vermuten,
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Der Postmeister von Ischl in SISSI (E. Marischka, A 1955) zum Gendarmeriemajor Boeckl, der verzweifelt versucht, die Mitschrift des Morseschreibers zu entziffern. Richard Menke: Telegraphic Realism. Victorian Fiction and Other Information Systems, Stanford 2008, S. 14. Vgl. ebd. Brian Winston: Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet, London, New York 1998, S. 30. Carolyn Marvin: When Old Technologies Were New. Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York, Oxford 1988, S. 3. Filmisch exemplifiziert wird dies beispielsweise auch in der Darstellung der Computer in BRAZIL (T. Gilliam, GB 1985). Was neben der erhöhten Aktualität der computerbasierten Medien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem auch an der futuristischen Besetzung der jeweiligen Medien liegen dürfte: So spielen Filme wie THE MATRIX (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 1999) oder TRON (S. Lisberger, USA/ RC 1982) mit der Imagination eines inneren Kosmos des Computersystems,
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dass die Telegrafie als elektrisches Urmedium die filmische Wahrnehmung von Signalverarbeitung und Fernübertragung schlechthin geprägt hat. Außerdem wirft die hohe Variabilität telegrafischer Verfahren, die schon im historiografischen Diskurs nur mit Mühe kondensiert werden kann,7 vor allem auch die Frage auf, welche Darstellungsvarianten von Fernübertragung in das Gedächtnis des populären Films eingeschrieben sind – folgt doch, laut Thomas Weber, die Inszenierung eines Mediums »keineswegs der gleichen Diskurslogik wie die theoretischen Diskurse über Medien, sondern wird vom darstellenden Medium geprägt«.8 Dementsprechend wird im Folgenden das Darstellungsverhältnis des beobachtenden Mediums Film gegenüber den beobachteten telegraphischen Medien untersucht, einerseits im Hinblick auf die darin manifest werdenden Mediendifferenzen, andererseits im Abgleich mit der medienhistorischen Wahrnehmung der Telegrafie. »The new media ecology of the nineteenth century tended to align storage with materiality, transmission with immateriality.«9 Diesem Fluchtpunkt der viktorianischen Wahrnehmung folgend, werden die telegraphischen Medien im Film – als Übertragungs- und Schreibwerkzeuge gleichermaßen – an der sie verbindenden Schnittstelle von Materialität und Immaterialität verortet und unter dem Gesichtspunkt ihrer medialen Übermittlungsfunktion betrachtet. Im Sinne Jürgen Fohrmanns, wonach »Medienzuschreibungen und Mediendefinitionen […] Produkte komparativer Analysen und der sie steuernden Interessiertheit«10 sind, soll hierbei die Frage beantwortet werden, welches Beobachtungsverhältnis der Film gegenüber den telegrafischen Medien etablieren kann bzw. etabliert hat. Richtete sich doch der Film historisch in einer hochgradig durch die Telegrafie geprägten Medienlandschaft ein, so dass eine zumindest initiale Prägung der Filmwahrnehmung durch die Telekommunikation anzunehmen ist.
Zur filmischen Sicht- und Hörbarkeit der Fernübertragung In Bezug auf die Selbstreflexivität von Filmen bemerkt Kay Kirchmann: »Selbstreflexiv ist ein Film, der eine oder mehrere seiner Konstituenten thematisiert.«11 Auf den Gegenstand der Fernübertragung in seinen variablen während derartige Figurationen für die Telegrafie lediglich im 19. Jahrhundert zu verorten sind. 7 Vgl. R. Menke: Telegraphic Realism, S. 14; für den detaillierten Versuch einer Kategorisierung vgl. Daniel Probst: Evolution der Medien. Kommunikationswissenschaftliche Überlegungen am Beispiel der Telegraphie, Stuttgart 2004. 8 Thomas Weber: Medialität als Grenzerfahrung. Futuristische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre, Bielefeld 2008, S. 54. 9 R. Menke: Telegraphic Realism, S. 11. 10 Jürgen Fohrmann: »Der Unterschied der Medien«, in: Ders./Erhard Schüttpelz (Hg.), Die Kommunikation der Medien, Tübingen 2004, S. 5-19, hier S. 7. 11 Kay Kirchmann: »Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. Zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität«, in: Ernst Karpf/ Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.), Im Spiegelkabinett der Illusionen, Mar-
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Spielarten abgewandelt, findet demnach eine filmische Reflexion der telegrafischen Medien statt, wenn ihre Konstituenten thematisiert werden. Um der Überdehnung des Reflexionsbegriffs entgegenzuwirken, sei hierbei die Thematisierung eines Mediums von seinem bloßen Vorkommen oder seiner schlichten Erwähnung unterschieden.12 Entsprechend können auch die Aufnahmen von Telegrafenmasten und -drähten, wie sie in THE GREAT TRAIN ROBBERY (E. S. Porter, USA 1903) oder THE WILD BUNCH (S. Peckinpah, USA 1969) die Bahntrasse säumen, noch nicht als Thematisierungen gelten, bleiben dabei die medialen Funktionen der Telegrafie doch unbehandelt. Anders verhält es sich mit THE GENERAL (C. Bruckman/B. Keaton, USA 1926) und THE LAST HARD MEN (A. V. McLaglen, USA 1976), die ebenfalls die Infrastruktur der Fernübertragung bebildern, dabei aber durch die Unterbrechung bzw. Zerstörung der Leitungen die Transparenz des Mediums aufheben: »Die Dysfunktion rückt das Technische radikal in den Blick und macht es sinnfällig. Sie zeigt die Grenzen der Technik auf und enthüllt so ihre etablierte Funktion.«13 Insbesondere in den Störungen und Verzögerungen der Übertragung offenbart sich der mediale Charakter der Telegrafie in seiner filmischen Reflexion (vgl. Abb. 1).
Abb. 1: Die Unterbrechung der Telegrafenleitung durch die Zugräuber in THE GENERAL
Dabei finden die Medien der Signalübertragung den eigentlichen Schauplatz ihrer Sicht- und Hörbarmachung in der Interaktion der Protagonisten mit den burg 1996, S. 67-86, hier S. 68. Als Konstituenten werden hierbei ästhetische Parameter, Wahrnehmungsstrukturen, ökonomische Faktoren, gesellschaftliche und historische Aspekte, Rezeptionsprozesse wie auch Mediendifferenzen erachtet. 12 So wird beispielsweise der Verweis auf ein Fax als Informationsquelle in THE DEVIL WEARS PRADA (D. Frankel, USA 2006) im Weiteren nicht als Thematisierung aufgefasst, ebenso wenig wie die bloße Visualisierung der telegrafischen Apparatur der Kommandozentrale in DUCK SOUP (L. McCarey, USA 1933). 13 T. Weber: Medialität als Grenzerfahrung, S. 84.
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Ein- und Ausgabegeräten. Während die verbindende Infrastruktur zunehmend im Subterranen oder im Äther verschwindet, stellt die Bedienung der Apparatur den Umschlagspunkt von materialisierter Information in immaterielle Transmission dar, über den auch so heterogene Techniken wie Morsetelegrafie, Fernschreiben und Telefaksimile vergleichbar werden. Die manuelle Morsetelegrafie erweist sich hierbei als äußerst variabel in der Verknüpfung verschiedener Präsentationsebenen: Während die Eingabehandlung in INDEPENDENCE DAY (R. Emmerich, USA 1996), THE LONEDALE OPERATOR (D. W. Griffith, USA 1911) und TITANIC (W. Klingler/H. Selpin, D 1943) zwar durch Nahaufnahmen hervorgehoben wird, jedoch unkommentiert bleibt, wird die Kodierungsoperation in SISSI (E. Marischka, A 1955) durch den Postmeister von Ischl unmittelbar oder in WESTERN UNION (F. Lang, USA 1941) durch Sue Creighton im Nachhinein verbalisiert. Im Zentrum steht hierbei die Problematisierung einer Wissensdifferenz zwischen denjenigen, die das Morsealphabet beherrschen, und denen, die es nicht dekodieren können. Da der durchschnittliche Zuschauer in der Regel zur letzteren Gruppe gehören dürfte, bezieht sich die Übersetzungsleistung entsprechend nicht nur auf den diegetischen Handlungsraum der Protagonisten, sondern stellt ebenso eine Dekodierung der Nachricht für das Publikum dar. EDISON, THE MAN (C. Brown, USA 1940) transponiert den Code sogar ins Jenseits der technischen Apparatur: Indem Thomas Edison mittels Stahlstift auf einem Gasrohr seinen Heiratsantrag an Mary Stillwell morst, offenbart sich die Software des Morse-Codes als hardwareübergreifendes Übertragungsprinzip, das in seiner Universalität als Sprache auch die dominante Form darstellt, in der das Medium Telegrafie im Film erfahrbar wird.14 Dabei ist diese allerdings stets an eine diegetische Rückübersetzung gekoppelt, wie sie in EDISON, THE MAN ein morse-kompetenter Mitarbeiter vornimmt. Während diese Übersetzungsnotwendigkeit ebenso für die drahtlose Telegrafie in DR. CRIPPEN (R. Lynn, GB 1962) gilt, wird hier eine weitere Präsentationsebene eingeführt: Der Kapitän der SS Montrose kommuniziert mittels drahtloser Telegrafie mit der Londoner Polizei, was neben der Zurschaustellung des Funkraums vor allem durch akustische Morsesignale erfahrbar gemacht wird. Dabei bewegt sich das Morsesignal mit der Zuspitzung der Fahndung nach dem flüchtigen Giftmörder von der diegetischen auf die extradiegetische Tonebene und wird zum Leitmotiv der Musik. Ebenso verfährt ON THE BEACH (S. Kramer, USA 1959), als das U-Boot Sawfish dem diegetischen Morsesignal folgend San Diego erreicht: Mit der Annäherung an den Ort des Signals verlagert sich der diegetische Signalton bis zur Entdeckung des Funkraums auch hier leitmotivisch auf die extradiegetische Tonebene. Mit der Entdeckung, dass die Signale nur zufällig entstanden sind (vgl. Abb. 2), werden die Morsesignaltöne wiederum diegetisch eingeführt. Dies fällt zusammen mit der Rückführung des arbiträren Signals in einen sinnhaften Code, der bestätigt, dass es für die Menschheit keine Überlebensmöglichkeiten in den atomar verseuchten Gebieten gibt. Die Realität des zufälligen Signals, das als extradiegetisches Leitmotiv den Film formal strukturiert, belegt 14 Eine ähnliche Loslösung von der elektrischen Apparatur erfährt der Morsecode in den Klopfzeichen in WESTERN UNION oder in der optischen Kommunikation in DAS BOOT (W. Petersen, D 1981) und PANIC ROOM (D. Fincher, USA 2002).
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quasi die kommunikationstheoretische Obsoleszenz des Menschen. Nicht der Inhalt der Übertragung ist entscheidend, sondern die schiere Existenz des Signals. So gesehen wird das Schicksal der Menschheit in ON THE BEACH bereits vor der endgültigen Unterbrechung des Signals auditiv besiegelt.
Abb. 2: Eine Cola-Flasche an einer Jalousie-Kordel betätigt den Morse-Taster in ON THE BEACH
Als Alternative und Komplement zur auditiven und oralen Übersetzung der telegrafischen Kommunikate15 fungiert ihre verschriftlichte Version. Während die in manifester Papierform überbrachten Telegramme – etwa in HIGH NOON (F. Zinnemann, USA 1952) oder TITANIC (J. Negulesco, USA 1953; J. Cameron, USA 1997) – in der Regel mit einer verbalen Übersetzung verbunden sind, wird in THE LONEDALE OPERATOR, THE HINDENBURG (R. Wise, USA 1975) und TITANIC (1943) der Nachrichtentext auch in Telegrammform unmittelbar visualisiert. Diesbezüglich ist festzuhalten, dass eine orale Rückübersetzung tendenziell mit der öffentlichen Information zusammenfällt, die visuelle Darstellung dagegen mit vertraulichen Nachrichten korreliert. Dass mit der zunehmenden Abbildung von automatisierten Fernschreibern16 das auditive Moment der Übertragung zugunsten verschriftlichter Übertragungen abnimmt, erscheint plausibel, verschwindet doch der Mensch dabei als Übersetzungsinstanz des Morse-Codes. Dementsprechend zirkulieren die Verstehensprobleme nunmehr um sekundäre Verschlüsselungsprozeduren. So präsentiert DAS BOOT (W. Petersen, D 1981) beim Empfang der Funksprüche die berüchtigte Verschlüsselungsmaschine Enigma der deutschen Wehrmacht, während in TORA! TORA! TORA! (R. Fleischer/K. Fukasaku/T. Masuda, USA/J 1970) die Entschlüsselungsprozesse im Informationswettlauf zwischen Japan und den USA die Leitlinie des Films bilden. Vor allem in TORA! TORA! TORA! wird die Aufmerksamkeit wiederholt auf 15 Zu den Möglichkeiten und Stufen der Telegrafie und den jeweils entstehenden Kommunikaten vgl. D. Probst: Evolution der Medien, S. 92-95. 16 Die breitenwirksame Einführung von Drucktelegrafen, die mit Emile Baudots 5-Bit-Code operierten, begann Ende der 1870er; vgl. ebd., S. 89f. Insbesondere im Bereich der Funktelegrafie wurde jedoch bis 1918 fast ausschließlich mit akustischen Morsesignalen gearbeitet; vgl. Stefan Kaufmann: Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945: Stufen telemedialer Rüstung, München 1996, S. 274.
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die automatisch operierende und dechiffrierende Fernschreiberbatterie im Funkraum und die daraus hervorgehenden Botschaften gelenkt. Die telegrafische Apparatur, die interessanterweise niemals auf Seiten der abgehörten Japaner gezeigt wird, steht als Synekdoche für den Informationskrieg der USA. Dabei fungieren die im Entstehen begriffenen Textfragmente zwar durchaus als visuelle Beweise des Funkverkehrs, gewinnen aber erst in ihrer oralen Übersetzung für den Zuschauer ihre dramaturgische und formale Signifikanz. Die Zwischenschaltung dekodierender Elemente scheint bei der Faksimiletechnik noch stärker in die black boxes der Gerätschaft verlagert: Entsprechend seiner Übertragungslogik17 kann ein Fax sowohl als Träger von Bildinformationen fungieren als auch die telegrafische Funktion der Schriftübertragung übernehmen. Ersteres wird deutlich mit dem Fingerabdruck und dem Fahndungsbild in DIE HARD 2: DIE HARDER (R. Harlin, USA 1990), der Phantomzeichnung in THE USUAL SUSPECTS (B. Singer, USA/D 1995) oder der chemischen Formel in DUPLICITY (T. Gilroy, USA/D 2009) hervorgehoben. Hierbei wird – mit Ausnahme von DIE HARD 2: DIE HARDER, wo das Einspeisen des Papiers zur Offenlegung von John McClanes Medieninkompetenz gerät – fast ausschließlich die Ausgabeoperation fokussiert. Durch den sukzessiven Ausdruck einer zuvor quasi-instantan übertragenen Information geht die Zeit verloren, die Verbal Kint in THE USUAL SUSPECTS zur Flucht (vgl. Abb. 3) oder der Serienmörder George Statler Jr. in POSTMORTEM (A. Pyun, USA 1998) zur Entführung seines Opfers benötigt. Prinzipiell zwar mit der Kapazität zur instantanen Übertragung ausgestattet, wird das Faxgerät durch die Materialisierung des Ausdrucks also zum Verzögerungsmoment und Spannungsgenerator. Parallel zu den anderen Praktiken der Fernübertragung kann von einer Reflexion der Übertragungstechnik insbesondere dann gesprochen werden, wenn die Verzögerungen der Übertragung, wie sie vor allem durch die Dekodierungs- und Materialisierungsoperationen zutage treten, von der Simultaneität der filmischen Handlung eingeholt werden.
Abb. 3: Das Fax enttarnt Roger Kint als Keysa Soze in THE USUAL SUSPECTS 17 Vgl. Clemens Deider: Fernkopieren. Telefax – Die Kopie über das Telefonnetz, Berlin 1989, S. 8: »Auf der Sendeseite wird eine zur Übermittlung bestimmte Vorlage punktweise abgetastet und die Bildpunkte entsprechend ihren Helligkeitswerten in elektrische Signale umgesetzt. Auf der Empfangsseite werden die Signale wieder in Bildpunkte zurückverwandelt und auf Papier aufgezeichnet. Während des gesamten Kopiervorgangs besteht eine Leitungsverbindung zwischen Sender und Empfänger.« Im Prinzip handelt es sich beim Faxgerät also um einen an das Telekommunikationsnetz angeschlossenen Fotokopierer – ein Umstand, den sich die Wirtschaftsspione in DUPLICITY (T. Gilroy, USA/D 2009) zunutze machen.
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Funktionsgebiete und Mediendifferenzen Erstaunlicherweise scheint die Telefaksimiletechnik der filmischen Wahrnehmung weitestgehend entgangen zu sein:18 Alle hier aufgeführten Filme, welche die Fernkopie illustrieren, sind Produkte der letzten 20 Jahre. Über die Funktionsbereiche von Strafverfolgung – THE USUAL SUSPECTS, DIE HARD 2: DIE HARDER, POSTMORTEM –, Geschäftswelt und Bürokultur – OFFICE SPACE (M. Judge, USA 1999), JERRY MAGUIRE (C. Crowe, USA 1996), DUPLICITY – und Privatleben – LOST IN TRANSLATION (S. Coppola, USA/J 2003) – hinweg fungieren Faxgeräte ihrer Definition als »Zusatzeinrichtung im öffentlichen Fernsprechverkehr«19 entsprechend als visuelle Komplemente zum Telefon. Während das binäre Medienverhältnis in der Regel vom flexibleren Sprachmedium Telefon dominiert wird, wechselt die Positionierung in LOST IN TRANSLATION: In einer Umwelt stets missglückender Kommunikation und fremder Zeichen, welche die Verständigung erschweren, wird das Faxgerät zum zentralen Bindeglied von Bob Harris und Charlotte, sei es durch die Übermittlung bildlicher Informationen oder persönlich konnotierter, handschriftlicher Mitteilungen.20 Die polizeilichen Verwendungen des Faxgeräts wiederum verweisen nicht nur auf eine lange Tradition der Fernübertragung in der Strafverfolgung, wie sie in HIGH NOON und DR. CRIPPEN illustriert wird,21 sondern außerdem auf eine tiefgreifende medienhistorische Zäsur: »Durch die Telegraphie wurde das neue, auf Photographie und Anthropometrie gegründete Wissen der Polizei erst effektiv: Das ein Individuum identifizierende, es seiner selbst überführende Wissen kann jetzt an jedem Ort der Welt bereitgestellt werden. Dass das Wissen von den Dingen und Leuten unendlich viel schneller gesendet werden kann als die Dinge und Leute selber, ermöglicht nicht nur weltweite Manipulationen des Warenverkehrs, sondern auch einen neuen, ortsunabhängigen Begriff vom Individuum. […] Personen- und Nachrichtenverkehr, noch zwanzig Jahre zuvor ein und dasselbe, nämlich Post, fallen in zwei sich gegenseitig bekämpfende Lager auseinander: Eisenbahn und Telegraphie. Die erste verbreitet das Böse, nämlich die Körper, die zweite die Macht des Ge22 setzes, die Zeichen.«
18 Erstaunlich deshalb, weil die Technik des Fernkopierens kaum jünger ist als die des Fernschreibens und ihre öffentliche Verfügbarkeit als Kommunikationsdienst zum Beispiel in Deutschland spätestens ab 1922 gegeben war; vgl. C. Deider: Fernkopieren, S. 4. 19 Ebd. 20 Im Hinblick auf die kulturellen Differenzen in der Medienaneignung sei hier auf die vergleichsweise feste Verankerung von Faxgeräten in der japanischen Medienkultur verwiesen, die in der Regel auf die Schwierigkeiten einer effizienten Kodierung der japanischen Schriftzeichen in telegrafischen Medien zurückgeführt wird; vgl. ebd. 21 Zur Rolle der Ergreifung des Giftmörders Dr. Crippen für das Image der drahtlosen Telegrafie vgl. B. Winston: Media Technology and Society, S. 72. 22 Bernhard Siegert: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 17511913, Berlin 1993, S. 195f.
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Die Telegrafie induzierte gewissermaßen eine Trennung der Konzepte von ›Kommunikation‹ und ›Transportation‹, die allerdings vom zeitgenössischen Mediennutzer nicht immer sofort verstanden wurde: In WESTERN UNION wird das Unverständnis gegenüber dieser Entwicklung durch den Trapper thematisiert, der die Nützlichkeit der Telegrafie anzweifelt, da sie seine Felle nicht wie die Eisenbahn in die nächste Stadt befördern kann.23 Demgegenüber wird aber auch der signifikante Vorteil dieser Entkopplung betont, wenn die Nachricht vom Indianerüberfall ins Hauptquartier telegrafiert wird, anstatt einen Meldereiter loszuschicken. Analog hierzu steht der Verweis von Erzherzog Karl Ludwig in SISSI, dass die Telegrafie doch »viel schneller« sei als die Post und daher für die Informationsübermittlung besser geeignet. In Bezug auf die Etablierung der telegrafischen Medien erweisen sich der medienhistorische und der filmische Diskurs als weitgehend deckungsgleich: So ist das Medium-Werden der Telegrafie untrennbar verknüpft mit der notwendigen Kontrolle des Eisenbahnverkehrs,24 die auch die rekurrente gemeinsame filmische Präsentation von Transport- und Kommunikationstechnologie nachzeichnet. Analog hierzu findet sich die Verbindung von drahtloser Telegrafie und Schifffahrt in der Koordination der Seestreitkräfte in DAS BOOT und TORA! TORA! TORA! wieder, während sie in TITANIC (1943, 1953, 1997) jeweils in – freilich vergeblichen – Notrufsignalen kulminiert. Sinnfällig wird diese Verbindung insbesondere im Western durch die Verschiebung der frontier – und damit der Zivilisation – in den bislang wilden Westen, bei der die Eisenbahn das logistische und die Telegrafie das kommunikative Mittel darstellt.25 Die Zerstörung der Telegrafendrähte in THE LAST HARD MEN oder in der Anfangssequenz von C’ERA UNA VOLTA IL WEST (S. Leone, I/USA 1968) stellt diesbezüglich ein retardierendes Moment im Zivilisationsprozess dar und öffnet die Bühne für den Showdown der Gesetzlosen, indem der Handlungsraum gegen äußere Einflussnahmen abgeschlossen wird. Jedoch schreitet die telegrafische Vermessung des Landes unweigerlich voran: Wenn Frank auf Jills Rücken das Telegrafieren nachahmt und dabei die Aufdeckung ihrer Identität offenbart, wird deutlich, dass auch der Westen kein anonymer Rückzugsraum mehr ist. Der amerikanische Mythos der Erschließung des Westens und der damit vollzogenen Einigung des Landes mittels Eisenbahn und Telegrafie findet seine mustergültige Abbildung in der Verbindung der Drähte aus Ost und
23 Damit werden alte Anekdoten der Telegrafiegeschichte aufgegriffen, wie zum Beispiel von der Frau auf dem preußischen Telegrafenamt, die ihrem Sohn Sauerkraut an die Front telegrafieren wollte; vgl. Tom Standage: Das viktorianische Internet, St. Gallen, Zürich 1999, S. 73f. 24 Vgl. B. Winston: Media Technology and Society, S. 23; vgl. hierzu auch die Genealogie der »Kontrollkrise« in James R. Beniger: The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge, London 1986, S. 427ff. 25 Vgl. Hans J. Wulff: »Telefon im Film/Filmtelefonate: Zur kommunikationssoziologischen Beschreibung eines komplexen Situationstyps«, in: Forschungsgruppe Telekommunikation (Hg.), Telefon und Kultur. Das Telefon im Spielfilm: Bd. 4, Berlin 1991, S. 61-105, hier S. 70.
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West in WESTERN UNION.26 Eine Reminiszenz erfährt der telegrafische Vereinigungsmythos schließlich mit INDEPENDENCE DAY im Bereich der Science-Fiction: Als alle satellitengestützten Kommunikationsmedien gegen die technische Übermacht der extraterrestrischen Invasoren versagen, wird der globale Gegenschlag mittels einfacher Morse-Telegrafie koordiniert. Während, wie weiter oben ausgeführt, das Morse-Signal in ON THE BEACH also nur eine fehlgeleitete Hoffnung auf Rettung war, ist es in INDEPENDENCE DAY angesichts der Dysfunktion aller anderen Medien das elektrische Urmedium der Moderne,27 das den Untergang der Menschheit abwendet. Dadurch wird der Morse-Code wiederum als globale Universalsprache ausgewiesen, die in diesem Fall gar eine Vereinigung des gesamten Planeten ermöglicht. Stand bislang vor allem die zeitliche Macht der instantanen Übertragung über den Raum hinweg im Fokus, so wird in TORA! TORA! TORA! auch die zeitliche Eigenlogik der Fernschreibetechnik ausgewiesen: Dass ein Angriff Japans auf Pearl Harbour bevorsteht, ist der amerikanischen Seite aus den Abhöraktionen bekannt, fraglich ist jedoch der Zeitpunkt. Die Dramaturgie des Films stellt sich im Rhythmus der Fernschreiber und ihrer Dechiffrierung als ein Wettlauf um Informationen zur aktuellen Lage dar, der für die USA schließlich aufgrund von Lücken in der eigenen Informationshierarchie verloren geht. Als fatal erweist sich hierbei einerseits ein handschriftlicher Befehl, der erst in Maschinenschrift übertragen werden muss, andererseits die sonntägliche Absenz der Offiziere von den Schaltstellen der telegrafischen Befehlsketten. So müssen die Verantwortlichen erst über ihre privaten Telefone wieder an die dienstlichen Schaltstellen beordert werden, während der japanische Erstschlag bereits in vollem Gange ist. Die Niederlage ist folglich sowohl mit der funktionalen Differenz zwischen Maschinentelegrafie und Handschrift als auch mit der sozial-organisatorischen Differenz zwischen Telegrafie und Telefonie assoziiert, da hieraus Konflikte mit der telegrafischen Operationslogik erwachsen. Die zeitliche Logik der Telegrafie greift nicht zuletzt in wirtschaftlichen Zusammenhängen: Die Dysfunktion des Börsentelegrafen in EDISON, THE MAN hebelt die Synchronisation von kaufmännischem Handeln und Börsenkurs aus, woraus kurzzeitiger Stillstand und informationelles Chaos resultieren. Die Reparatur des defekten Tickers macht Thomas Edison zum Helden, der die temporale Ordnung des Telegrafen auf dem (Welt-)Markt wiederherstellen kann.28 Während in CITIZEN KANE (O. Welles, USA 1941) der laufende Börsentelegraf lediglich als Symbol für die Leichtigkeit und den Automatismus des Geldverdienens ausgewiesen wird, führt die filmische Darstellung in WALL STREET (O. Stone, USA 1987), wenn auch in einer elektronischen 26 Zu den Varianten telegrafischer Mythenbildung und ihrer jeweiligen Verortung vgl. Uwe Hebekus: Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane, Tübingen 2003; allgemein zu elektrizitätsbasierten Unifikationsdiskursen vgl. C. Marvin: When Old Technologies Were New, S. 111-128. 27 Vgl. B. Winston: Media Technology and Society, S. 30. 28 Zur Verquickung von Telegraf und Weltmarkt (vor allem bei Karl Marx) vgl. Jens Schröter: »Übertragung und Explosion – Telegraphie/Telephonie/Transport«, in: Ders. u.a. (Hg.), Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld 2006, S. 203214, hier S. 205ff.
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Remediatisierung29 des Börsentickers, zum Kern des telegrafischen Prinzips: Die omnipräsenten elektronischen Laufbänder der Börsenkurse in den Brokerbüros etablieren den unerbittlichen Rhythmus der Kursentwicklung (vgl. Abb. 4), auf den mit telefonischen oder computerbasierten Transaktionen reagiert werden muss. Erst das in Unschärfe verschwimmende »market closed« beendet die telegrafische Simulation durch den Schnitt und hebt die zeitliche Logik des Telegrafen wieder auf.
Abb. 4: Die elektronische Anzeige als Weiterentwicklung des Börsentickers in WALL STREET
Telegrafische Fluchtpunkte der Filmgeschichte Verortet zwischen Materialität und Immaterialität, Transport und Kommunikation sieht das 19. Jahrhundert den maschinellen Komplex aus Eisenbahn und Telegrafie als Kondensator einer neuen Wahrnehmung. Die Eisenbahn nimmt mit der Etablierung des »spectator-passenger« die Wahrnehmungsanordnung des Films vorweg und fungiert mithin als protokinematografisches Phänomen.30 Dabei zeigt sich die telegrafisch koordinierte Eisenbahnfahrt auch visuell imprägniert durch die Telegrafenmasten und -drähte als Strukturelement und Signatur der distinktiv neuen Weltwahrnehmung.31 Mithin ist zu fragen, ob sich diese telegrafische Einschreibung in die protofilmische Wahrnehmung auch in der Filmwahrnehmung widerspiegelt. Die Analogie zum Flimmern der Dunkelphasen zwischen den einzelnen Filmbildern mag einleuchten, erscheint aber analytisch gesehen nur als bedingt tragfähig.32
29 In Anlehnung an das Konzept der remediation verstanden als die Aneignung von Techniken, Formen oder sozialer Signifikanz eines Mediums durch ein anderes Medium; vgl. David Jay Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, London 2002, S. 65. 30 Vgl. Lynne Kirby: Parallel Tracks. The Railroad and Silent Cinema, Durham 1997, S. 3. 31 Vgl. Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München, Wien 1977, S. 34. 32 Ähnlich (un-)belastbar wäre es, die Filmperforation oder die Tonspur in Analogie zu den Telegrafendrähten zu sehen. Dass diese bei richtig justierter Bildmaske nicht sichtbar sind und überdies mit der Etablierung des funktionierenden Mediums Film als Technik aus dem Blick geraten, würde sich al-
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Demgegenüber wurde mehrfach auf die Analogie zwischen Eisenbahn und Film hinsichtlich des Simultaneitätsprinzips verwiesen: »The perceptual paradigm of cinematic spectatorship includes a changed temporal consciousness – an orientation to synchronicity and simultaneity embodied in the railroads’ institutionalization of standard time in 1883. Simultaneity as a mode of consciousness infected cinematic spectatorship from the beginning and became institutionalized in the classical system of alternation and parallel edit33 ing.«
Entsprechend stellen Simultaneität und Synchronizität auch die Bindeglieder dar, die Film und Telegrafie verbinden: »Telegraphy thus became a metaphor for the power of cinematic crosscutting to expand the narrative’s geographical scope and hasten its happy resolution. As Gunning shows, the film’s editing demonstrates the powers over time and space wielded by both telegraphy and film, and it mobilizes the former as a techno34 logical model for imagining the capabilities of the latter.«
THE LONEDALE OPERATOR exemplifiziert diesen Zusammenhang paradigmatisch durch die alternierende Montage von Überfall auf die Bahnstation und Rettungsaktion des Eisenbahners; Situationen, die durch die Telegrafie auch auf der Handlungsebene verbunden werden. Während die Telegrafie im frühen Film mit der dramaturgischen Motivation und damit Legitimation der Montage dem gleichen Zweck dient wie die Telefonie, geht diese Funktion mit der Ausdifferenzierung der Telekommunikationspraktiken in den 1920er Jahren verstärkt auf die Fernübertragung von Sprache über.35 Entsprechend avanciert das Telefon im Film, wie Tom Gunning am Œuvre von Fritz Lang aufzeigt, zur »synecdoche of technology, the part of the larger whole which is modernity itself«36, während das Bild der Telegrafie von zunehmender medialer Transparenz geprägt wird oder vereinzelt den Fluchtpunkt medienkultureller Nostalgie darstellt. Zwar schreibt sich dabei noch tendenziell die frühe Unterscheidung des Telefons als privat konnotiertes und des Telegrafen als
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lerdings mit einer mediengeschichtlichen Entwicklung decken, in der sich die Drähte unter die Erde bewegt oder in Drahtlosigkeit aufgelöst haben. L. Kirby: Parallel Tracks, S. 7. Paul Young: »Media on Display: A Telegraphic History of Early American Cinema«, in: Lisa Gitelman/Geoffrey B. Pingree (Hg.), New Media 1740-1915, Cambridge, London 2003, S. 229-264, hier S. 229. Dies deckt sich mit der allgemeinen Wahrnehmung, in der die Telefonie zunächst nur als Spielart der Telegrafie verstanden worden ist, sich dann aber durch die zunehmende Substitution der Telegrafie bemerkbar machte; vgl. Volker Aschoff: Geschichte der Nachrichtentechnik. Band 2: Nachrichtentechnische Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin u.a. 1987, S. 249; vgl. hierzu auch D. Probst: Evolution der Medien, S. 147. Tom Gunning: »Fritz Lang Calling: The Telephone and the Circuits of Modernity«, in: John Fullerton/Jan Olsson (Hg.), Allegories of Communication: Intermedial Concerns from Cinema to the Digital, Rom 2004, S. 19-37, hier S. 35.
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öffentlich verstandenes Medium37 fort, doch wird letzterer dabei mehr und mehr marginalisiert. Kann sich also die Kinematografie in Bezug auf ihre öffentliche Adressierung des Publikums zunächst noch als »visueller Telegraf« gerieren,38 so entzieht sich die telegrafische Kommunikation im Lauf der Mediengeschichte zunehmend als Vergleichsebene. Betrachtet man das Medium Film nun in Relation zu seinen jüngeren Bezugsmedien Telefon und Computer, so erscheint die historisierende und tendenziell defizitäre Darstellung der Telegrafie nur folgerichtig. So definieren sich telegrafische Medien im Film entweder über zusätzliche visuelle und auditive Übersetzungen oder über Verzögerungen im Übertragungsprozess, die für ihre oben angeführten Nachfolgemedien nur bedingt oder überhaupt nicht zu veranschlagen sind. Dementsprechend offenbart sich die Medialität der Fernübertragung auch jenseits der Dysfunktion in den ihr eingeschriebenen Retardationsmomenten zwischen immaterieller elektrischer Kommunikation und ihrer Materialisierung. In diesem Sinne offenbart der Film nicht nur die gleiche Macht über Zeit und Raum wie die elektrischen Medien, sondern übertrifft diese sogar: Während die Fernübertragung in THE GENERAL, TORA! TORA! TORA!, THE LAST HARD MEN oder auch THE USUAL SUSPECTS ihr Simultaneitätsversprechen nicht einlösen kann, wird die filmische Synchronisation der Handlung über die diegetischen Rupturen der Technik hinweg aufrechterhalten. Übergreifend betrachtet werden hierbei die technischen Spezifika der verschiedenen telegrafischen Praktiken auf ihre Übersetzungsmodi reduziert und weitgehend einheitlich definiert, so dass sich der Film gegenüber einem von ihm als einheitlich dargestellten Komplex der Fernübertragung als überlegenes Medium erweist. So kennt zwar die Mediengeschichte keinen einheitlichen Telegrafen, die Filmgeschichte hingegen konstruiert ihn sich – sei es aus Nostalgie oder aus dem Bedarf, den eigenen Status abzugrenzen.
Literatur Aschoff, Volker: Geschichte der Nachrichtentechnik. Band 2: Nachrichtentechnische Entwicklungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin u.a. 1987. Beniger, James R.: The Control Revolution. Technological and Economic Origins of the Information Society, Cambridge, London 1986. Bolter, David Jay/Grusin, Richard: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, London 2002. Deider, Clemens: Fernkopieren. Telefax – Die Kopie über das Telefonnetz, Berlin 1989. Fohrmann, Jürgen: »Der Unterschied der Medien«, in: Ders./Erhard Schüttpelz (Hg.), Die Kommunikation der Medien, Tübingen 2004, S. 5-19. Gunning, Tom: »Fritz Lang Calling: The Telephone and the Circuits of Modernity«, in: John Fullerton/Jan Olsson (Hg.), Allegories of Communication. Intermedial Concerns from Cinema to the Digital, Rom 2004, S. 1937. 37 Vgl. P. Young: Media on Display, S. 231. 38 Vgl. ebd., S. 257.
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Hebekus, Uwe: Klios Medien. Die Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts in der historistischen Historie und bei Theodor Fontane, Tübingen 2003. Kaufmann, Stefan: Kommunikationstechnik und Kriegführung 1815-1945: Stufen telemedialer Rüstung, München 1996. Kirby, Lynne: Parallel Tracks. The Railroad and Silent Cinema, Durham 1997. Kirchmann, Kay: »Zwischen Selbstreflexivität und Selbstreferentialität. Zur Ästhetik des Selbstbezüglichen als filmischer Modernität«, in: Ernst Karpf/Doron Kiesel/Karsten Visarius (Hg.), Im Spiegelkabinett der Illusionen, Marburg 1996, S. 67-86. Marvin, Carolyn: When Old Technologies Were New. Thinking About Electric Communication in the Late Nineteenth Century, New York, Oxford 1988. Menke, Richard: Telegraphic Realism. Victorian Fiction and Other Information Systems, Stanford 2008. Probst, Daniel: Evolution der Medien. Kommunikationswissenschaftliche Überlegungen am Beispiel der Telegraphie, Stuttgart 2004. Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München, Wien 1977. Schröter, Jens: »Übertragung und Explosion – Telegraphie/Telephonie/ Transport«, in: Ders. u.a. (Hg.), Media Marx. Ein Handbuch, Bielefeld 2006, S. 203-214. Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 17511913, Berlin 1993. Standage, Tom: Das viktorianische Internet, St. Gallen, Zürich 1999. Weber, Thomas: Medialität als Grenzerfahrung. Futuristische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre, Bielefeld 2008. Winston, Brian: Media Technology and Society. A History: From the Telegraph to the Internet, London, New York 1998. Wulff, Hans J.: »Telefon im Film/Filmtelefonate: Zur kommunikationssoziologischen Beschreibung eines komplexen Situationstyps«, in: Forschungsgruppe Telekommunikation (Hg.), Telefon und Kultur. Das Telefon im Spielfilm: Bd. 4, Berlin 1991, S. 61-105. Young, Paul: »Media on Display: A Telegraphic History of Early American Cinema«, in: Lisa Gitelman/Geoffrey B. Pingree (Hg.), New Media 1740-1915, Cambridge, London 2003, S. 229-264.
Wuchernde Wiederholungen und die Kreativität des Kinematografen. Reproduktionsmedien im Film LARS NOWAK / PETER PODREZ
Beim ersten Betrachten von THE AVIATOR (USA/D 2004) kann angesichts spektakulärer Flugzeugabstürze, politischer Intrigen und erotischer Eskapaden leicht übersehen werden, dass Martin Scorseses biopic über den legendären Flugpionier und Filmproduzenten Howard Hughes auch einen verzweigten Diskurs über das Phänomen des Kopierens hält: Da wäre zunächst der Umstand, dass sowohl Hughes als auch dessen Rivale Tripp, der Vorsitzende von Pan Am, immer wieder mit Blaupausen von den Konstruktionszeichnungen ihrer Flugzeuge hantieren und damit ein Reproduktionsmedium ganz besonderer Art benutzen. Denn Blaupausen dienen nicht bloß – wie alle Reproduktionsmedien – dazu, Inskriptionen anderer Medien zu kopieren. Verwendet man Lichtpausen, wie es nicht nur in THE AVIATOR, sondern häufig auch in der Realität geschieht, zur Reproduktion von Entwurfszeichnungen, so werden sie zugleich umgekehrt durch ihre Referenten, die entworfenen Dinge, ›kopiert‹. Ähnlich wie in der geläufigen Verwendung des Ausdrucks »Blaupause« als Metapher für ein Modell zukünftigen Handelns findet dieser Umstand auch in Scorseses Film seinen Niederschlag, wo die erste von Hughes’ Blaupausen seines Hercules-Flugzeuges unmittelbar vor einer Einstellung dieses Flugzeuges selbst erscheint. Trotz ihrer eher untergeordneten narrativen Bedeutung erhalten die Diazotypien in THE AVIATOR eine formale Akzentuierung, die auf eine enge Verknüpfung mit den zentralen Themen des Films verweist. So tauchen die Blaupausen nicht nur mehrmals, sondern an einer Stelle zudem in massenhafter Häufung auf, womit ihr zentrales Strukturmoment, die zeitliche und räumliche Wiederholung, auch der Form ihrer Repräsentation eingeschrieben ist. Darüber hinaus füllen zumindest die Lichtpausen von Hughes häufig – sei es einzeln, sei es in der Masse – das gesamte Bildfeld aus. Und schließlich schenkt Scorsese auch der Farbe der Blaupausen einige Beachtung. Denn abgesehen davon, dass von der Lichtpause der neuen DC-20, die Tripp Senator Brewster zeigt, ausschließlich ihr leuchtendes Blau zu erkennen ist, wird diese Farbe auch auf andere Elemente des Films übertragen. Dazu gehören neben dem tiefblauen Meer, auf dem am Ende das nach vielen Verzögerungen doch noch fertiggestellte Hercules-Flugzeug erscheint, auch andere Medien, die Hughes allesamt in blaues Licht tauchen: die Blitzlichtgewitter der Pressefotografen, denen er wiederholt ausgesetzt ist; die Filmaufnahmen, die er sich in seinem privaten Kinosaal ansieht; das Bild im Sucher einer Fernseh-
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kamera, die ihn bei den Washingtoner Anhörungen aufnimmt. Das Blau der Diazotypie wird hier folglich durch Bildmedien – darunter den Film selbst – kopiert, die zwar im Unterschied zu den eigentlichen Reproduktionsmedien, welche im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen werden, nicht vorrangig dem Kopieren fremder Inskriptionen dienen, aber – ähnlich wie der Buchdruck – auf technischem Wege ihre eigenen Einschreibungen reproduzieren.1 Aber nicht nur andere Medien, sondern auch Hughes selbst verwandelt sich in THE AVIATOR in ein Reproduktionsmedium. Denn Scorseses Film stattet seinen Protagonisten mit einem verbalen Zwangsverhalten aus, das ihn bestimmte seiner Äußerungen maschinenhaft wiederholen lässt. Dieser Wiederholungszwang ist mit einer zweiten Obsession, einem Waschzwang, gekoppelt, der seinerseits auf das Phänomen der Wiederholung bezogen ist. Stellen der Wiederholungs- und der Waschzwang nämlich selbst bereits psychische Erkrankungen dar, so liegt der letzteren Obsession zugleich die Angst vor einer Ansteckung mit Keimen zugrunde, durch die eine Infektionskrankheit im eigenen Körper reproduziert würde. Beide Zwangsstörungen werden an das Reproduktionsmedium der Blaupause zurückgebunden. Indirekt geschieht dies etwa dadurch, dass sowohl das erstmalige Auftreten als auch die den Film beschließende Rückkehr des Wiederholungszwangs durch die paranoide Angst vor Figuren ausgelöst werden, die mit der Farbe Blau assoziiert sind, oder dadurch, dass Hughes im Schein der blauen Filmbilder abstruse Reinlichkeitsregeln repetiert und für den Fall, dass das angeordnete Prozedere nicht fehlerfrei umgesetzt wird, auch dessen Wiederholung anordnet. Und sogar ein direkter Zusammenhang wird hergestellt, wenn der Wiederholungszwang beim ersten Mal ausgerechnet bei Hughes’ Bitte auftritt, ihm sämtliche Blaupausen der Hercules zu bringen: »Show me all the blueprints. Show me all the blueprints. Show me all the blueprints...«
Humane und technische Reproduktionsmedien Durch diese Verbindung von Diazotypie und Obsession stellt THE AVIATOR die aus filmischem Blickwinkel grundlegenden Formen medialen Kopierens aus. Wenn bei der humanen Reproduktion gleichsam der Mensch zum Medium wird, dann muss sich dieses Phänomen allerdings nicht auf neurotische Erkrankungen beschränken. Vielmehr kann auch das manuell ausgeführte Vervielfältigen materieller Zeichen im Mittelpunkt stehen, etwa das Abschreiben der Bibel durch mittelalterliche Kopisten in DER NAME DER ROSE (J.-J. Annaud, D/I/F 1986). Oder aber es geht um die mentale Reproduktion von Informationen – dieser Topos ist vor allem im klassischen Agentenfilm virulent und bringt in jenem Genre sogar einen besonderen Figurentyp hervor, der mit einem beneidenswerten Erinnerungsvermögen ausgestattet ist und so ein perfektes Spionagewerkzeug darstellt, das ohne verräterische Apparate auskommt. Beispiele hierfür finden sich außer in THE KREMLIN LET1
Fotografie, Film und Druck wurden bekanntlich schon von Walter Benjamin als Medien der technischen Reproduzierbarkeit bestimmt. Vgl. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1996, S. 7-44.
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(J. Huston, USA 1970) vor allem im Schaffen Alfred Hitchcocks, der sowohl in THE LADY VANISHES (GB 1938) die Agentin Miss Froy eine als Geheimcode dienende Melodie als auch in THE 39 STEPS (GB 1935) den Gedächtniskünstler Mr. Memory ausspionierte Informationen über den Flugzeugbau auswendig lernen lässt. Dabei wird die Maschinisierung von Scorseses Hughes durch Mr. Memory noch einmal überboten, gibt dieser doch nicht nur die von ihm gespeicherten Daten mit einer ähnlichen Zwanghaftigkeit wieder, sondern entbehrt zudem jedes Verständnisses für die von ihm reproduzierten mathematischen Formeln, womit sich seine Gedächtnisübungen auf eine asemantische Signalverarbeitung reduzieren.2 Neben solchen humanen und zum Teil bereits technisierten nimmt der Film auch im eigentlichen Sinne technische Reproduktionsmedien in den Blick – und füllt damit nebenbei eine Lücke der medienwissenschaftlichen Forschung, die diese Medien nicht gerade zu ihren Lieblingsobjekten zählt. Allerdings rückt er weniger die auf optisch-chemischer Basis arbeitende Blaupause, wie sie in THE AVIATOR thematisch wird, in den Mittelpunkt als vielmehr die auf optisch-elektrische Prinzipien gegründete Fotokopie. Und auch zu diesem Reproduktionsmedium nimmt der Film – obgleich sowohl mit der Fotokopie als auch mit der Blaupause dadurch verbunden, dass auch er auf Licht basiert – eine Haltung distanzierter Abneigung ein. Das lässt sich bereits historisch festmachen: Obwohl die Fotokopie 1938 von Chester Carlson patentiert wurde und in den 1950er Jahren ihren Siegeszug durch die Büros der Welt antrat, machte sich der Film erst in den späten 1980er Jahren an die Beobachtung des nun nicht mehr ganz so neuen Mediums. Und er betrachtet dieses bis heute mit einem bemerkenswerten Gestus der Geringschätzung, erscheint der Xerograf in seinen Augen doch als banale und unterkomplexe Medientechnologie. Das Diktum Marshall McLuhans, Kopierer »versetzen jedermann in die Lage, Verleger zu werden«,3 wird ins Negative gewendet, indem der Film mit allem Nachdruck unterstreicht, dass niemand eine besondere Fähigkeit benötigt, um dieses anspruchslose Medium adäquat zu bedienen, und dass der berufliche Umgang mit einem Kopierer am unteren Ende der sozialen Hierarchie anzusiedeln ist.4 Und gleichzeiTER
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Vgl. Heinz J. Drügh/Volker Mergenthaler: »Ästhetik des Spionagefilms. Überlegungen zu einem Genre«, in: Dies. (Hg.), Ich ist ein Agent. Ästhetische und politische Aspekte des Spionagefilms, Würzburg 2005, S. 7-50, hier S. 18, S. 47ff.; Tom Cohen: Hitchcock’s Cryptonymies, Bd. 1, Secret Agents, Minneapolis 2005, S. 112ff. Werden bereits derartige Memorierungsleistungen nicht selten mit der Metapher des ›fotografischen Gedächtnisses‹ bezeichnet, so vertraut der Spionagefilm die Funktion der Reproduktion mitunter auch dem Medium der Fotografie selbst an: Da nicht jeder Geheimdienst über einen Gedächtniskünstler verfügt, werden Dokumente stattdessen häufig – beispielsweise in MATA HARI (G. Fitzmaurice, USA 1931) – durch Abfotografieren kopiert. Im digitalen Zeitalter wird das zentrale Genremotiv der Datenkopie dann auf Computertechnologien übertragen. Zit. n. Hillel Schwartz: Déjà vu. Die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit, Berlin 2000, S. 250. Hier wird am Fotokopierer eine Diskursfigur wiederholt, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegen das seinerzeit neue Medium der Fo-
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tig macht der Film klar, dass alle dies wissen. So übernimmt in der romantischen Komödie DEFINITELY, MAYBE (A. Brooks, USA/GB/F 2008) das Mädchen April in einem Wahlkampfbüro den als langweilig empfundenen Job eines »copy girl« allein des Geldes wegen, während ein höhergestellter Kollege einen an ihn herangetragenen Kopierauftrag nur mit größtem Widerwillen erledigt. Besonders betont wird die Banalität des Fotokopierens in O HOMEM QUE COPIAVA (J. Furtado, BRA 2003). In der minutenlangen Anfangssequenz erläutert der in einem Copyshop arbeitende und von einem besseren Leben träumende Junge André, wie ein Fotokopierer bedient wird. Gerade weil die Schilderung jedes im Grunde selbsterklärenden Arbeitsschritts mit größter Genauigkeit erfolgt und darüber hinaus mehrfach wiederholt wird, macht sie die Trivialität der Tätigkeit deutlich, die André auch ganz explizit abwertet, wenn er sich am Ende fragt, wie viele Gehirnzellen man hierfür überhaupt brauche. Eng an diese Banalität des Kopierens ist dessen Monotonie gekoppelt. Während André in einer Montage verschiedener Einstellungen immer und immer wieder dieselben Handlungen ausführt, ist das einzige, was sich verändert, seine Kleidung: Tagein, tagaus befindet er sich in derselben, wiederkehrenden Situation. Der Xerograf wird auch in FIGHT CLUB (D. Fincher, USA 1999) zum Symbol für die Eintönigkeit des Alltags. Als der namenlose Ich-Erzähler in seinem Büro Dokumente vervielfältigt, ist er von Kollegen umgeben, die allesamt ebenfalls am Kopierer stehen und dabei den gleichen Kaffeebecher in der Hand halten (vgl. Abb. 1). Dabei wiederholen sich auf der Tonspur nicht nur beständig die Kopiergeräusche, auch Teile des inneren Monologs des Erzählers werden repetiert: »For six months, I couldn’t sleep... I couldn’t sleep... I couldn’t sleep... I couldn’t sleep... With insomnia nothing is real. Everything is far away. Everything is a copy of a copy of a copy.« Wiederholungen bestimmen also nicht nur den monotonen Arbeitsalltag der Hauptfigur, sondern auch deren von permanenter Schlaflosigkeit geprägtes Privatleben.
Abb. 1: Monotonie des Kopierens in FIGHT CLUB
Die alleinige Degradierung des Kopierers scheint dem Film aber nicht zu genügen. Oftmals kontrastiert er den abstumpfenden Reproduktionsakt mit einer kreativen Tätigkeit, die in DEFINITELY, MAYBE im von William, dem Protagonisten des Filmes, angestrebten Verfassen von Wahlkampfreden, in O HOMEM QUE COPIAVA in Andrés Zeichnen von Comics besteht. Nur in den
tografie gerichtet hatte: Schon dieser hatte man vorgeworfen, dass sie im Unterschied zur Malerei lediglich seelenlose Kopien der Natur liefere.
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seltensten Fällen schreibt der Film dem Kopierer selbst kreatives Potential zu. Wenn er dies tut, erinnert er an das mediale Dispositiv des Xerografen, in dem stets die dem Blick entzogene Seite eines Gegenstandes kopiert wird, weshalb jederzeit unerwartete Ergebnisse möglich sind. Doch nehmen derartige Überraschungen in der filmischen Reflexion stets eine unheilvolle Wendung: In dem Kurzfilm THE BLACK HOLE (P. Sansom/O. Williams, GB 2008) wirft der Kopierer selbsttätig ein weißes Blatt mit einem mysteriösen schwarzen Kreis aus, der sich als Portal erweist, welches nach zahlreichen geglückten Transportationsexperimenten die habgierige Hauptfigur schließlich nicht mehr aus einem Tresor entkommen lässt. In COPY SHOP (V. Widrich, A 2001) reproduziert der geheimnisvoll leuchtende Xerograf überraschenderweise zunächst die Hand des Kopierladenbesitzers und vervielfacht im Folgenden sogar dessen gesamten Körper bis ins Unendliche. Am Ende verfolgen die Kopien das Original, bis dieses von einem Gebäude in den Tod stürzt. Obgleich im Unterschied zum Fotokopieren weder in der einen noch in der anderen Weise abgewertet, gehorcht das digitale Kopieren im Film nur selten der obigen Definition eines Reproduktionsmediums, da es hier kaum als Digitalisierung analoger Aufzeichnungen, also als Vervielfältigung von Einschreibungen anderer Medien, in Erscheinung tritt. Allerdings begegnet die digitale Reproduktion häufig, so etwa in MISSION: IMPOSSIBLE (B. de Palma, USA 1996), THE ENEMY OF THE STATE (T. Scott, USA 1998) oder HACKERS (I. Softley, USA 1996), in Gestalt der Reduplikation von – meist geheimen – Informationen, die bereits in digitaler Form vorliegen. Da digitale Daten immaterieller Natur sind, können sie filmisch nur durch ihre materiellen Träger dargestellt werden. Das sind im Fall ihrer Kopien in allen genannten Filmen Disketten, die versteckt, weitergegeben, gesucht, zerstört oder – in MISSION: IMPOSSIBLE – sogar durch einen Zaubertrick zum Verschwinden und Erscheinen gebracht werden. Ähnlich stereotyp gestaltet sich die Visualisierung des gleichfalls immateriellen Kopiervorgangs, dessen Fortschritt hier stets durch einen allmählich sich füllenden Balken auf dem Computerbildschirm angezeigt wird. Dass dieser Prozess aufgrund der großen Datenmengen eine gewisse Zeit benötigt, wird insofern zum Problem, als sich nähernde Antagonisten für einen großen Zeitdruck sorgen – ein Spannungsmoment, das in der Regel formal durch eine alternierende Montage und narrativ durch retardierende Momente wie technisch bedingte Verzögerungen gesteigert, am Ende aber stets zugunsten eines gelingenden Kopiervorgangs aufgelöst wird. In der Grundstruktur gilt dies auch für einen Science FictionFilm wie JOHNNY MNEMONIC (R. Longo, CDN/USA 1995), dessen entscheidendes Spezifikum freilich darin liegt, dass es sich bei dem Trägermedium zur Aufnahme der digitalen Kopien um ein Implantat im Gehirn der Titelfigur handelt, die somit ein Hybrid aus humanem und technischem Reproduktionsmedium bildet. Eine Besonderheit des digitalen Kopierens gegenüber der analogen Reproduktion besteht in seiner Verlustfreiheit, welche die Differenz von Kopie und Original tendenziell aufhebt.5 Zwar schenkt der Film diesem Sachverhalt bei der Thematisierung der digitalen Reproduktion keinerlei Beachtung. An5
Vgl. Gisela Fehrmann u.a. (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004.
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ders verhält es sich aber mit der Relation von Original und Kopie im Rahmen analoger Medien. Sie ist bereits vom theoretischen Diskurs extensiv und kontrovers thematisiert worden. So behauptete zum Beispiel Erwin Panofsky, Reproduktionen übertrügen das Original stets in die Materialität ihres eigenen Mediums mit dessen spezifischen »stilistischen Grenzen und Möglichkeiten«.6 Dem steht Benjamins Feststellung gegenüber, dass es neben auratischen Künsten wie der Malerei auch nicht-auratische Künste wie die Druckgrafik, die Fotografie und den Film gibt, bei denen sich die Kopien zwar deutlich von einer – in der Regel von der Rezeption ausgeschlossenen – Matrize unterscheiden mögen, untereinander jedoch austauschbar sind.7 Und in ähnlicher Weise hat Nelson Goodman zwischen auto- und allografischen Künsten unterschieden.8 Auch der Film nimmt zur Differenz von Original und Kopie im Fall analoger Medien verschiedene Haltungen ein. Denn einerseits wird die Unterscheidung in DEFINITELY, MAYBE in Bezug auf ein Reproduktionsmedium im weiteren Sinne, das gedruckte Buch, aufrechterhalten, wenn April unter den verschiedenen Exemplaren des Romans Jane Eyre dasjenige sucht, das ihr einst ihr früh verstorbener Vater geschenkt hat. Andererseits wird die fragliche Differenz unterlaufen, wenn André in O HOMEM QUE COPIAVA mit dem neuen Farbkopierer – und hier erscheint das Kopieren ausnahmsweise als nicht mehr ganz so anspruchslose Tätigkeit – Geldscheine so geschickt dupliziert, dass der Zuschauer die Kopien nicht von der Vorlage unterscheiden kann.
Mediale und andere Reproduktionsformen Der Film ergänzt die technischen Reproduktionsmedien aber nicht nur um humane, sondern setzt sie darüber hinaus in ein textuelles oder intertextuelles Verhältnis zu anderen Reproduktionsformen, die zwar ebenfalls an menschliche Subjekte gebunden sind, aber erstens nicht mehr Informationen zu ihrem Gegenstand haben und zweitens dadurch charakterisiert sind, dass Original und Kopie der gleichen ontologischen Spezies angehören. So steht in FIGHT CLUB das Kopieren nicht ausschließlich für die Monotonie des Alltags, sondern ist zugleich mit der Verdopplung der anonymen Hauptfigur in dem aggressiveren alter ego Tyler Durden verquickt. Denn noch bevor der Erzähler Durden kennenlernt, taucht dieser bereits mehrfach für den Bruchteil einer Sekunde im Bild auf – und zum ersten Mal geschieht dies in der oben beschriebenen Kopierszene. Auch der Protagonist von Peter Greenaways THE BELLY OF AN ARCHITECT (I/GB 1987), der amerikanische Architekt Kracklite, der in Rom eine Ausstellung über Etienne-Louis Boullée kuratiert, foto6 7
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Erwin Panofsky: »Original und Faksimilereproduktion«, in: Idea 5 (1986), S. 111-123, hier S. 111. Vgl. W. Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Benjamins Differenzierung ist jüngst von Uwe Wirth aufgegriffen und mit Charles Sanders Peirce’ Begriffspaar von type und token verknüpft worden. Vgl. Uwe Wirth: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpropfung«, in: Fehrmann u.a. (Hg.), Originalkopie, S. 18-33. Vgl. Nelson Goodman: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main 1997, S. 101ff.
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kopiert nicht nur Bilder von männlichen Bäuchen, sondern stellt zugleich selbst eine Kopie der Besitzer dieser Bäuche und einiger anderer berühmter Männer dar, zu denen neben Boullée auch Andrea Doria, Augustus, Hadrian und Christus gehören.9 Wenn Kracklite mit seiner Frau überdies ein Kind zeugt, tritt neben die psychische wiederum eine physische Reproduktion. Vollzieht sich diese in Greenaways Film noch auf natürlichem Wege, so nimmt sie in BLUEPRINT (R. Schübel, D 2003) die künstliche Form des Klonens an, das es einer Pianistin erlaubt, eine exakte Kopie ihrer selbst zur Welt zu bringen. Zwar wird das Klonen hier nur auf verbale Weise mit dem Reproduktionsmedium der Blaupause gleichgesetzt, auf die neben dem Titel des Films auch eine der Figuren Bezug nimmt, wenn ein Musikkritiker die in die beruflichen Fußstapfen ihrer Mutter getretene Tochter abfällig als »unscharfe[n] Blueprint« bezeichnet. Da die künstliche Fortpflanzung aber wie die mediale Reproduktion auf Technik beruht, gleicht sie ihr eigentlich sogar mehr, als es die natürliche Fortpflanzung tut.10 Überschreitet bereits die Produktion menschlicher Klone die Grenzen des heute Realisierbaren, so heben andere Filme das Phänomen der personalen Reproduktion gänzlich auf die Ebene einer fantastischen Gestaltvermehrung, ohne allerdings die Orientierung am Modell der körperlichen Reproduktion aufzugeben. Das geschieht in COPY SHOP, wie angedeutet, im Ausgang von einem Fotokopierer, der nicht mehr nur die üblichen Papierblätter, also unbelebte zweidimensionale Objekte, sondern lebendige dreidimensionale Subjekte auswirft (vgl. Abb. 2). An einem reproduktiven Gebrauch des Mediums Fernsehen setzt dagegen die MATRIX-Trilogie (A. Wachowski/L. Wachowski, USA 1999-2003) an, in der das Gespräch zwischen Neo und dem Architekten vor einem Hintergrund aus zahllosen Bildschirmen stattfindet, in denen Neos Gesicht in endloser Vervielfältigung erscheint. Dieses Phänomen wird auf Neos Gegenspieler, die Agenten, übertragen und dabei von jeder intradiegetischen medialen Basis abgelöst, wobei sich im Verlauf der Trilogie eine allmähliche Steigerung beobachten lässt. Denn während wir es im ersten Teil mit prinzipiell ähnlichen, letztlich aber doch verschiedenen Agenten zu tun haben, kann sich in THE MATRIX RELOADED einer dieser Agenten (der den passenden Namen »Smith« trägt) beliebig in die Matrix hineinkopieren und darin solange vermehren, bis diese in THE MATRIX REVOLUTIONS komplett mit seinen Kopien gefüllt ist. Da sich Smiths Vervielfältigung durch die 9
Vgl. Ann Lawrence: The Films of Peter Greenaway, Cambridge 1997, S. 122f.; Christer Petersen: Peter Greenaways Spielfilme. Strukturen und Kontexte, Kiel 2009, S. 66. Dabei hält sich Kracklite einmal auch eine Fotokopie von Augustus’ Bauch vor den eigenen Bauch, was die Rollen von Original und Kopie scheinbar umkehrt. In ähnlicher Weise assoziieren MISSION: IMPOSSIBLE und THE KREMLIN LETTER das Motiv der medialen Reproduktion mit dem der interpersonalen Maskerade. 10 Gleichzeitig stehen die beiden Fortpflanzungsarten zueinander in einer ähnlichen Beziehung wie die analogen und die digitalen Reproduktionsmedien. Denn weil die natürliche Fortpflanzung die Erbanlagen zweier Elternteile mischt, geht auch sie stets mit einer Differenz einher, während die künstliche Fortpflanzung als Reproduktion eines einzelnen Individuums ebenfalls eine restlose Gleichheit von Original und Kopie herstellt.
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Berührung anderer Figuren vollzieht, präsentieren die MATRIX-Filme eine natürliche Alternative zur sexuellen Fortpflanzung, nämlich die virale Ansteckung, die in ganz ähnlicher Weise auf einem direkten physischen Kontakt beruht und die Menge infizierter Körper in kürzester Zeit enorm anschwellen lassen kann. Ein drittes natürliches Fortpflanzungsprinzip, das der zellulären Abschnürung, Teilung und Abspaltung,11 bringt ein anderer Science FictionFilm, NEXT (L. Tamahori, USA 2007), bei der visuellen Vervielfältigung seiner Hauptfigur zum Einsatz: Als am Ende der Protagonist gemeinsam mit der CIA sämtliche Ebenen eines weit verzweigten Lagerhauskomplexes durchsucht, in dem sich eine Gruppe von Terroristen versteckt hat, lösen sich an allen Wegkreuzungen Kopien von seinem Körper ab, die jeweils eine eigene Etage erkunden.
Abb. 2: Kopieren als Klonen in COPY SHOP
Krankheit, Tod, Wiederkehr – Die dunkle Seite des Kopierens Nun stellen die Persönlichkeitsspaltung und die Schlaflosigkeit, die FIGHT CLUB mit dem Fotokopieren verbindet, Krankheiten dar, für die sich auch in BLUEPRINT und THE BELLY OF AN ARCHITECT Entsprechungen finden lassen. Denn so wie in dem einen Film das Klonen, soll in dem anderen die Zeugung des Kindes eine tödliche Krankheit kompensieren, an der sowohl die Pianistin als auch der Architekt leiden. Dabei wird der Magenkrebs des Letzteren gleich mehrfach auf das Fortpflanzungsmotiv bezogen: Der Bauch des korpulenten Architekten ist ähnlich voluminös wie derjenige seiner schwangeren Frau; so wie in dem einen Bauch das Kind, wächst in dem anderen das Krebsgeschwür heran; und als Louisa ihr Kind gebiert, nimmt sich Kracklite das Leben.12 Steht der Tod zur physischen Reproduktion in Kontrast, so wird er mit den beiden anderen in Greenaways Film präsentierten Reproduktions11 Zu dieser Reproduktionsform vgl. Birgit Mersmann: »Bild-Fortpflanzungen. Multiplikationen und Modulationen als iterative Kulturpraktiken in Ostasien«, in: Fehrmann u.a. (Hg.), Originalkopie, S. 224-241, hier S. 227. 12 Vgl. C. Petersen: Peter Greenaways Spielfilme, S. 66; David Pascoe: Peter Greenaway. Museums and Moving Images, London 1997, S. 122.
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formen gleichgesetzt. Denn zum einen gehören die Männer, mit denen sich Kracklite identifiziert, nicht nur zu den großen Gestalten der Geschichte, sondern sind zugleich allesamt längst tot13 (und litten teilweise ebenfalls an einem Magenleiden). Und zum anderen bilden Kracklites Bauchschmerzen den Grund für sein obsessives Fotokopieren der Bäuche. Dabei unterstreicht THE BELLY OF AN ARCHITECT den Zusammenhang zwischen den Fotokopien und der körperlichen Erkrankung des Architekten in ähnlicher Weise durch die Farbdramaturgie, wie diese in THE AVIATOR die Blaupause mit Hughes’ psychischen Störungen verknüpft. Bei Greenaway wird die Verbindung durch die Farbe Grün hergestellt. Grün ist nämlich nicht nur das Licht, das aus dem Fotokopierer dringt und auf die Fotokopien fällt. Grün sind vielmehr auch die Feigen, mit denen man Kracklite nach dessen Überzeugung zu vergiften versucht, Flavias Atelier, an dessen Wänden Fotografien seines Niedergangs hängen, das Innere des Vittorio-Emmanuelle-Gebäudes, aus dem sich Kracklite in den Tod stürzt, das Auto, auf das er fällt, und die Ein-PfundNote, die er dabei in der Hand hält.14 Beide Momente kommen zusammen, wenn das grüne Kopierlicht – wie in einem Horrorfilm – auch Kracklite von unten beleuchtet und dadurch als lebenden Toten kennzeichnet. Wenn also die natürliche Fortpflanzung in THE BELLY OF AN ARCHITECT durch andere Reproduktionsformen supplementiert wird, so bleibt sie diesen insofern überlegen, als nur sie dem Architekten die ersehnte Unsterblichkeit verleihen kann.15 Mit einer ähnlichen Ambivalenz versehen auch zwei jüngere Horrorfilme japanischer Herkunft die mediale Reproduktion. So lässt in RINGU (H. Nakata, J 1998) das Abspielen eines Videobandes das darin zu sehende tote Mädchen Sadako als bösen Geist wiederauferstehen, zugleich aber den Betrachter der Aufnahme binnen einer Woche sterben. Das Kopieren des Bandes kann diesen Fluch zwar vom Betrachter abwenden, lenkt ihn jedoch auf den Empfänger der Kopie um, mit der die tödliche Wirkung des Videos weitergereicht wird. Und nachdem in JU-ON: THE GRUDGE 2 (T. Shimizu, J 2003) der Fernsehmoderator Keisuke das Tagebuch einer anderen Toten namens Kayako fotokopiert hat, mit dem sich seine Sendung beschäftigt, schaltet sich das Kopiergerät plötzlich erneut ein und produziert unablässig Kopien. Da nichts auf dem Vorlagenglas liegt, handelt es sich zunächst um schwarze Seiten; aber als die Kamera heranzoomt, erscheint Blatt für Blatt das zunehmend schärfer werdende Antlitz Kayakos, die damit ebenfalls ihre Wiederauferstehung erlebt. Zugleich deutet das Übergehen des Kopiergeräuschs in dasjenige der Rasselatmung eines Sterbenden an, dass Keisuke, obwohl er die Gefahr durch das Ausschalten des Kopierers zunächst noch abwenden kann, später genauso durch Kayakos Geist hingerichtet werden wird, wie es vor ihm mit anderen Figuren geschehen ist. Wenn also Sigmund Freud in Wiederholungen von Entitäten, die eigentlich als einmalig gelten, darunter in der Wiederkehr von Toten in der Gestalt von Geistern, ein zentrales Motiv des Unheimlichen er-
13 Vgl. A. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 122. 14 Vgl. C. Petersen: Peter Greenaways Spielfilme, S. 73f.; D. Pascoe: Peter Greenaway, S. 137. 15 Vgl. C. Petersen: Peter Greenaways Spielfilme, S. 72; A. Lawrence: The Films of Peter Greenaway, S. 136.
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blickt hat,16 so heften THE BELLY OF AN ARCHITECT, RINGU und JU-ON: THE GRUDGE 2 diese Unheimlichkeit auch diversen Reproduktionsmedien an, indem sie diese mit gespensterhaften Erscheinungen koppeln. Ausschließlich die zweite Seite der Differenz von Leben und Tod greifen dagegen zwei Thriller heraus, welche die mediale Reproduktion mit dem Serienmord verknüpfen und diese Form des repetitiven Tötens mit weiteren Formen der Wiederholung ausstatten: In SE7EN (D. Fincher, USA 1995) fotokopiert der Kommissar Somerset in der Bibliothek Dantes Divina Commedia, Chaucers Canterbury Tales und ein Handbuch des Katholizismus, um sich genauer mit den sieben Todsünden vertraut zu machen, die der Serienmörder John Doe durch seine Taten zu bestrafen versucht. Dabei stellen die ersten vier Morde zugleich – mit großem inszenatorischem Aufwand betriebene – Reproduktionen der zu bestrafenden Sünden dar, die damit gegen die vermeintlichen Sünder selbst gewendet werden sollen. In dem Film COPYCAT (J. Amiel, USA 1995), der ähnlich wie BLUEPRINT bereits durch seinen Titel auf das Phänomen der Reproduktion anspielt, besteht die Besonderheit des Serienmörders Peter Foley wiederum darin, dass dieser die Taten früherer Serienmörder bis ins letzte Detail kopiert. Allerdings versucht Foley, den gescheiterten Mordversuch Daryll Lee Cullums an der Psychiaterin Helen Hudson in entscheidender Weise – nämlich dadurch, dass er ihn zu einem erfolgreichen Abschluss bringt – zu verändern. Zwar kommt es dann tatsächlich zu einer gänzlich anderen Modifikation, wenn Foley im Unterschied zu Cullum von der Polizei nicht bloß inhaftiert, sondern erschossen wird. Dennoch trifft auch auf Foley Hudsons – wieder auf die Fortpflanzungsform der Ansteckung Bezug nehmender – Vergleich der Serienmörder mit »viruses« zu, bei denen es immer »some new mutation« gebe. Ein Virus kommt aber auch bei den medialen Reproduktionen ins Spiel, mit denen COPYCAT aufwartet. Denn als Hudson von Foley über das Internet eine Videodatei erhält, die von seinem letzten zu seinem nächsten Mord überleitet, scheitert der Versuch, die Datei zu kopieren – anders als in den oben erwähnten Filmen – daran, dass der Mörder ein Computervirus mitgeschickt hat, welches das Video löscht. Besser geeignet für Zwecke des Kopierens scheint das Medium der Fotografie zu sein, vergleicht Hudson doch eine Aufnahme des Schauplatzes von Foleys erstem Mord mit einem beinahe identischen Bild vom Ort des kopierten Verbrechens, um die beiden ermittelnden Polizisten Monahan und Goetz vom reproduktiven Ansatz des Mörders zu überzeugen. Und doch finden die viralen Mutationen auch in den Fotografien ihren Niederschlag, da Foley selbst in die alten Tatortaufnahmen, die auch ihm zur Verfügung stehen, digital die Gesichter der neuen Opfer einfügt.
Wiederholungen en masse – Der Film als Reproduktionsmedium? Beobachtet der Film also Reproduktionsmedien, so beschränkt er sich nicht nur auf deren Operationsprozesse, sondern greift ihr grundlegendes Prinzip 16 Vgl. Sigmund Freud: »Das Unheimliche«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt/Main 1966, S. 229-268, hier S. 246ff.
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der Wiederholung auf und weitet es auf den gesamten filmischen Text aus. Auf diese Weise scheint er sich selbst in die Nähe der Reproduktionsmedien zu rücken. Die reproduktiven Strukturen, die er erzeugt, können, wie bei dem Beispiel der copykill-Filme, zunächst auf der narrativen Ebene liegen, was sowohl die Struktur jedes einzelnen Filmes als auch den Zusammenhang des gesamten Genres betrifft. Solche repetitiven Schemata schreiben sich auch in die Erzählstruktur anderer Filme ein, wenn bestimmte Handlungen oder Abläufe beständig wiederkehren, wie in O HOMEM QUE COPIAVA, wo Andrés Tätigkeit im Kopierladen, seine voyeuristischen Blicke zur Nachbarin oder das ritualisierte Zubettgehen seiner Mutter immer wieder ausgestellt werden. Die wiederholten Sequenzen gliedern dabei nicht nur den Film selbst, sondern auch das unbefriedigende Leben seines Protagonisten, aus dem dieser erst gegen Ende ausbricht – jener Moment beendet auch die filmischen Wiederholungsschleifen. Narrative Repetitionen finden sich mit dem wiederkehrenden Erscheinen des rachelüsternen Geistes auch in JU-ON: THE GRUDGE 2 und werden dort zugleich an Wiederholungen auf der auditiven Ebene gekoppelt, da sich jeder Mord durch das Geräusch der Rasselatmung ankündigt. Eine Zusammenführung von Kopiergerät und reproduktivem Prinzip auf narrativer sowie visueller Ebene demonstriert hingegen COPY SHOP, dessen Anfang nicht nur das Aufwachen und die morgendliche Hygiene des Kopierladeninhabers gleich mehrfach zeigt, sondern auch die Wiederholungslogik auf die Mise-en-scène auslagert, indem er das Rautenmuster von Kagers Pullunder sich in den Kacheln seines Badezimmers spiegeln lässt. Ähnlich agiert THE BELLY OF AN ARCHITECT: Hier erhalten die im Verlauf des Films erstellten Fotokopien ihr Korrelat unter anderem in der Bildgestaltung, nämlich in der wiederholten Verwendung symmetrisch komponierter Einstellungen, welche bewirken, dass jede Hälfte wie eine spiegelverkehrte Kopie der jeweils anderen erscheint. Daneben offenbaren sich die visuellen reproduktiven Strukturen in THE BELLY OF AN ARCHITECT auch in der großen Anzahl gleichförmiger Bildobjekte und verweisen so zugleich auf eine basale Zuschreibung des Films an Reproduktionsmedien: Diese stellen nicht nur einzelne Kopien, sondern wahre Fluten derselben her. Ob die zu Beginn erwähnten Mengen von Blaupausen aus THE AVIATOR, die Bögen mit Falschgeld, die André in O HOMEM QUE COPIAVA anfertigt, oder die unzähligen Kopien der Bäuche, die der Xerograf in THE BELLY OF AN ARCHITECT unaufhörlich ausspuckt und die schließlich den Bildraum zu erdrücken drohen (vgl. Abb. 3) – es regiert das Gesetz der Masse, und das nicht zufällig, rekurriert der Film damit doch auf die ursprüngliche Wortbedeutung von copia, das im Lateinischen »Fülle« oder »Überfluss« bezeichnet.17 Nicht selten wird jene Fülle durch rekursive Praktiken erzeugt, wenn etwa André nicht nur echte, sondern auch falsche Geldscheine vervielfältigt oder Kracklite Fotokopien von Fotokopien herstellt. Schließlich dehnt der Film das Prinzip der Masse auf jedes beliebige Bildobjekt oder -subjekt aus: In COPY SHOP und den MATRIX-Filmen setzt sich die Vervielfältigung Kagers bzw. Smiths so lange fort, bis die ganze Welt von den Replikaten überwuchert wird. Und in THE BELLY OF AN ARCHITECT gibt es nicht nur Fotokopien en masse, sondern auch eine große An17 Vgl. Marcus Boon: In Praise of Copying, Cambridge 2010, S. 41.
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häufung von identischen Postkarten, Geldscheinen in einem Koffer oder – ein Beispiel für Greenaways Neigung zu Skurrilitäten – abgeschlagenen Nasen antiker Skulpturen.
Abb. 3: Raumgreifende Anhäufung der Fotokopien in THE BELLY OF AN ARCHITECT
Spiel mit Variationen – Der Film als kreatives Medium Damit führt der Film vor, dass er alles in beliebiger Menge kopieren kann – selbst lebendige, mit Handlungsmacht ausgestattete Subjekte –, und dass er im Gegensatz zu den anspruchslosen herkömmlichen Reproduktionsmedien komplexe Vervielfältigungen auf verschiedensten Ebenen zu generieren vermag. Dabei sind seine Kopien noch originalgetreuer als diejenigen, die auch der beste Xerograf zu erzeugen in der Lage ist: Wenn das fotokopierte falsche Geld in O HOMEM QUE COPIAVA für uns Zuschauer nicht von echtem zu unterscheiden ist, dann ist dies ausschließlich eine Leistung des filmischen Bildes – in der Diegese werden die Blüten relativ schnell enttarnt. Der Film stellt also klar, dass er sämtliche Aufgaben von Reproduktionsmedien übernehmen und ihre Ausführung optimieren kann. In einer Gegenbewegung zur augenscheinlichen Annäherung an die Reproduktionsmedien grenzt er sich folglich im selben Zuge von ihnen ab und demonstriert seine Überlegenheit durch Gesten der Überbietung – aber auch durch das kreative Potential, das dem bewegten Bild innewohnt. Denn wo Blaupause oder Fotokopie mit der gleichartigen Vervielfältigung statischer Einzelbilder an ihre medialen Grenzen stoßen, dort bringt der Film durch seine Sequenzialität Variationen ins Spiel. Mag er auch, wie oben beschrieben, reproduktive Strukturen auf narrativer oder bildlicher Ebene in Szene setzen, so zeigt er diese niemals als reine Wiederholungen, sondern versieht sie durch seine eigenen formalästhetischen Stilmittel stets mit Differenzen. Obwohl die Sequenzen in O HOMEM QUE COPIAVA narrativ gleich sind, unterscheiden sie sich in Bildauswahl oder -gestaltung: Wenn Silvia, Andrés Nachbarin und Objekt seiner Begierde, in Unterwäsche vor dem Fenster vorbeiläuft, dann wird diese Szene aus der Perspektive des Jungen zwar gleich dreimal gezeigt; doch springt bei jeder Wiederholung die Kamera ein Stück näher an das Mädchen heran. Und wenn der Fotokopierer in O HOMEM QUE COPIAVA oder auch in THE BELLY OF AN ARCHITECT seinen
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endlos scheinenden Strom von immer gleichen Duplikaten produziert, dann sorgt der Film für visuelle Abwechslung, indem er den Kadrierungswinkel ändert, die Kamera über die Kopien schwenken oder heranzoomen lässt und so verschiedene Teile desselben Motivs in den Blick nimmt.18 Indem er auf diese Weise die Monotonie der Wiederholung transzendiert und seine besondere Dynamik und Kreativität exponiert, betont der Film, dass er mehr ist als ein bloßes Reproduktionsmedium. Ins Extrem gewendet, kann er sogar versuchen, seine eigene technische Reproduzierbarkeit durch Variation zu subvertieren – ebendies geschieht im Fall von DER TOD DES EMPEDOKLES (J.-M. Straub/D. Huillet, F/D 1987), von dem Jean-Marie Straub und Danièle Huillet vier verschiedene Fassungen erstellten.19 Des Weiteren demonstriert der Film seine Überlegenheit auch durch die intermediale Inkorporation visueller Charakteristika der Reproduktionsmedien: THE AVIATOR simuliert für kurze Momente, in denen nur monochrome blaue Bildflächen mit weißen Linien zu sehen sind, den Bildtypus der Diazotypie; COPY SHOP bedient sich während seiner gesamten Laufzeit durch Risse, Knitterspuren, grobe Körnung, hohe Kontraste und Wischblenden, die an den Leseschlitten eines Xerografen erinnern, einer Kopierästhetik. Und zu guter Letzt kann der Film nicht nur auf solche Weise seine Bilder Fotokopien angleichen, sondern auch umgekehrt aus Fotokopien Filmbilder machen, wie das experimentelle Beispiel CHOREOGRAPHY FOR COPY MACHINE (PHOTOCOPY CHA CHA) (C. White, USA 1991) zeigt: Wenn hier in Fortführung der copy art20 einzelne Fotokopien von Gesichtern, Händen und Körpern in erstarrten Posen durch die filmische Bewegung zum Leben erwachen, bizarren Verformungen unterworfen werden und zum Rhythmus von elektronischer Musik einen grotesken Tanz aufführen, dann versichert sich der Film selbst, nicht nur ein kreatives und potentes, sondern auch ein äußerst vitales Medium zu sein.
18 Hier fallen die ›kreative‹ visuelle und die ›reproduktive‹ akustische Ebene auseinander: Auf der Tonspur ertönt bei jeglicher bildlichen Variation beständig das gleiche Geräusch des Fotokopierers. 19 Filmisch reflektiert wird dieser Versuch wiederum in HÉLAS POUR MOI (J.-L. Godard, F/CH 1993), wo ein Kunde einer Videothek nach der Berliner Fassung von DER TOD DES EMPEDOKLES sucht, in welcher in der 18. Minute eine Eidechse durch das Bild läuft. Als Verfilmung des Amphitryon-Stoffs, in dem Jupiter in der Gestalt Amphitryons dessen Gemahlin Alkmene erscheint, setzt Godards Werk die kinematografische in ein Verhältnis zur interpersonalen Reproduktion. 20 Die gegen Ende der 1960er Jahre entstandene copy art versuchte, vom Fotokopierer einen schöpferischen Gebrauch zu machen, indem Vertreterinnen wie Sonia Sheridan oder Pati Hill am Original Größen-, Gestalt- und Farbveränderungen vornahmen. Dabei wurde auch die fehlerhafte Kopie zum eigenständigen Kunstwerk erklärt; so kopierte Timm Ullrichs 100 (De-)Generationen des Originaltitelblattes von Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Vgl. H. Schwartz: Déjà vu, S. 250ff.
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Literatur Benjamin, Walter: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt/Main 1996, S. 7-44. Boon, Marcus: In Praise of Copying, Cambridge 2010. Cohen, Tom: Hitchcock’s Cryptonymies, Bd. 1, Secret Agents, Minneapolis 2005. Drügh, Heinz J./Mergenthaler, Volker: »Ästhetik des Spionagefilms. Überlegungen zu einem Genre«, in: Dies. (Hg.), Ich ist ein Agent. Ästhetische und politische Aspekte des Spionagefilms, Würzburg 2005, S. 7-50. Fehrmann, Gisela, u.a. (Hg.): Originalkopie. Praktiken des Sekundären, Köln 2004. Freud, Sigmund: »Das Unheimliche«, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917-1920, Frankfurt/Main 1966, S. 229-268. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie, Frankfurt/Main 1997. Lawrence, Ann: The Films of Peter Greenaway, Cambridge 1997. Mersmann, Birgit: »Bild-Fortpflanzungen. Multiplikationen und Modulationen als iterative Kulturpraktiken in Ostasien«, in: Fehrmann u.a. (Hg.), Originalkopie (2004), S. 224-241. Panofsky, Erwin: »Original und Faksimilereproduktion«, in: Idea 5 (1986), S. 111-123. Pascoe, David: Peter Greenaway. Museums and Moving Images, London 1997. Petersen, Christer: Peter Greenaways Spielfilme. Strukturen und Kontexte, Kiel 2009. Schwartz, Hillel: Déjà vu. Die Welt im Zeitalter ihrer tatsächlichen Reproduzierbarkeit, Berlin 2000. Wirth, Uwe: »Original und Kopie im Spannungsfeld von Iteration und Aufpropfung«, in: Fehrmann u.a. (Hg.), Originalkopie (2004), S. 18-33.
»It’s not about money, it’s about sending a message.«1 Geld und seine Äquivalente im Film RALF ADELMANN/JAN-OTMAR HESSE/JUDITH KEILBACH/MARKUS STAUFF
Ist Geld ein Medium? Diese Frage steht am Anfang aller Überlegungen über Medienreflexionen im Film am Beispiel dieses universellen Tauschmittels. Anders als beim Geld tritt diese grundlegende Frage nach dem Mediencharakter bei Fernsehen, Postkarte oder Telefon nicht in dieser Massivität auf. Ihre Bestimmung als Medien lösen jene ein, da sie spezifische Materialitäten besitzen, eine Kulturtechnik ausstellen, ästhetische Implikationen oder bestimmte Rezeptionsmodi evozieren, die mit denen des Films/Kinos in einem Spannungsverhältnis stehen. Inwieweit sich diese Eigenschaften ebenso beim Geld finden lassen und Geld im Film nicht vielmehr nur als ein Objekt unter vielen anderen auftaucht, wird die folgenden Betrachtungen zu Geld und seinen Äquivalenten im Film beeinflussen. Im Unterschied zu (anderen) Medien macht die Universalität des Geldes es zu einer Grundvoraussetzung der Filmproduktion. Film ist in der Herstellung ein sehr kostenträchtiges Medium und die Produktionskosten amortisieren sich erst nach geraumer Zeit, so dass die Herstellung von Filmen umfangreiche, üblicherweise als Geldkapital zur Verfügung gestellte Kredite erfordert; monetäre Transaktionen sind zentral für das Zustandekommen von Filmen und in alle Prozesse der Pre-Production – vom Casting bis zum Drehbuchschreiben – verwoben. In GET SHORTY (B. Sonnenfeld, USA 1995) zeigt sich diese Universalität des Geldes in der Filmproduktion. Weil die Verwendungsregeln des Geldes überall gleich sind, analogisiert die Story des Films das Mafia- und das Filmgeschäft. In vielen anderen Filmen, die das Filmemachen zum Thema haben, sind Konflikte um Geld – etwa zwischen Regisseur und Produzent wie in LE MÉPRIS (J.-L. Godard, F/I 1963) – zentrale Motive der Handlung. Das deutlichste (und wiederum von der Reflexion anderer Medien im Film abweichende) autoreflexive Potential von Geldszenen im Film besteht somit in der Möglichkeit, ganz explizit die finanziellen Aspekte der Filmproduktion ins Bild zu setzen – so etwa in THE PLAYER (R. Altman, USA 1992), BARTON FINK (J. Coen, USA/GB 1991), DER STAND DER DINGE (W. Wenders, D/P/USA 1982), ED WOOD (T. Burton, USA 1994) u.v.a. Nicht zuletzt gibt es Filme, die mit ihrer Form und ihrem Stil darauf zielen, das in sie investierte Kapital – die production values – auszustellen. In all diesen Fällen bleiben aber die Geldform und ihre Medialität im Hintergrund. 1
Joker in THE DARK KNIGHT (C. Nolan, USA/GB 2008).
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Für Marshall McLuhan ist Geld ein Medium, weil es »wie die Schrift die Macht [hat], menschliche Energien zu spezialisieren und in neue Kanäle zu lenken und Funktionen zu trennen, genauso wie es eine Art von Arbeit auf eine andere überträgt und zurückführt.«2 Der Vergleich zur Schrift macht es nicht einfacher, die medialen Qualitäten des Geldes zu bestimmen. Geld beinhaltet schon eine gewaltige Abstraktionsleistung, deren Materialisierung in Münzen, Scheinen, Schecks, Edelmetallen oder virtuellem Geld (Kontoguthaben, Überweisungen, Kreditkarten etc.) nur die Wandelbarkeit des Mediums unterstreicht. Wenn also McLuhans Definition die Frage aufwirft, welche Funktionen von Geld im Film thematisiert werden (bzw. welche Funktionen der Film dem Geld zuspricht), so stellt sich zugleich die Frage, welche materiellen Formen von Geld der Film zur Diskussion stellt und entwirft. Während diese beiden Fragen sicher für die filmische Reflexion aller Medien gestellt werden können, muss im Fall des Geldes zusätzlich diskutiert werden, welche Äquivalenzbeziehungen des Geldes der Film in besonderer Weise artikuliert. Für alle drei Fragen – nach Funktion, Materialität und Äquivalenz – dürfte deutlich sein, dass sie weit über die Wirtschaft im engeren Sinne hinausweisen. Geld wird im Film in höchst vielfältigen Formen thematisiert; es lässt sich entsprechend kaum so etwas wie eine spezifisch filmische Perspektive auf Geld feststellen (wie auch in der historischen Abfolge kaum bestimmte Phasen filmischer Geldreflexion zu unterscheiden sind). Mehr als andere Medien kommt Geld im Film nur zu häufig als indirektes Thema vor, ohne visuelle Prägnanz zu erhalten (etwa in der Gegenüberstellung von Arm und Reich oder in zahllosen Kaufakten, die unmittelbar auf Geldtransaktionen verweisen, auch wenn das Geld selbst nicht gezeigt wird). Geld entfaltet somit in den selteneren Fällen seiner (nahezu allgegenwärtigen) filmischen Thematisierung eine Eigenqualität und ein spezifisches visuelles oder narratives Potential. Dies schließt nicht aus, dass einzelne filmische Szenen interessante Einsichten in die Materialität oder die Tauschfunktion des Geldes bieten könnten; vielmehr ist auffällig, dass Filme ganz unterschiedliche Aspekte (und somit unterschiedliche mediale Qualitäten) von Geld in den Fokus nehmen können und dementsprechend auch ganz unterschiedliche autoreflexive Effekte produzieren. Geld kann, wie etwa in GREED (E. von Stroheim, USA 1924), in seinen haptischen Qualitäten erscheinen und so in Differenz zur filmischen Immaterialität treten; ebenso gut kann Geld aber auch abstraktes Zirkulationsmittel sein (wie in zahllosen Börsenszenen), wodurch seine Immaterialität in Differenz zur filmischen Sichtbarmachung der materiellen Welt gerät: Nicht nur kann die Materialität des Geldes auf sehr unterschiedliche Weise filmisch kodiert und definiert werden (die einzelne Münze, der Goldvorrat, Börsenticker usw.), Geld kann darüber hinaus, wohl im Unterschied zu allen anderen filmischen Medieninszenierungen, zentrales Thema eines Films sein, ohne dass seine Materialität und Sichtbarkeit im Mittelpunkt stehen. Angesichts dieser eigenartigen Vielgestaltigkeit von Geld erscheint es sinnvoll, einleitend kurz wirtschaftswissenschaftliche Interpretationen des Geldes zu referieren; dies zielt nicht darauf, anschließend die Filme danach 2
Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle, Düsseldorf u.a. 1992, S. 157.
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zu unterscheiden, ob sie diesen Einsichten entsprechen oder nicht. Vielmehr wollen wir so verdeutlichen, dass auch in den Wirtschaftswissenschaften variierende Bestimmungen der Eigenqualitäten des Geldes (als Medium) zur Diskussion stehen, die zum Teil andere, zum Teil aber auch ähnliche Fragen aufwerfen wie die filmische Medienreflexion. Geld wird in der Wirtschaftswissenschaft klassisch als eine Ware interpretiert, die »als Wertmaß« aller anderen Waren – und deshalb auch als »Zirkulationsmittel« – fungiert.3 Hierfür muss es lediglich einige minimale Anforderungen erfüllen: Es muss im ökonomischen Sinne knapp sein, »homogen«, beliebig teilbar und als Zahlungsmittel allgemein anerkannt.4 Geld kann – wie Karl Marx es ausdrückte – materiell, in seiner »goldnen (resp. silbernen) Leiblichkeit«, erscheinen, wie auch nur durch Stellvertreter und in Form von Repräsentationen.5 In den Wirtschaftswissenschaften gibt es seit langem zwei widerstreitende Interpretationen der Funktionen des Geldes: Die klassische Interpretation ist die »Quantitätstheorie« des Geldes, die für die moderne Wirtschaftswissenschaft von Irving Fisher kurz vor dem Ersten Weltkrieg formuliert wurde.6 Ihr zufolge legt sich das Geld wie ein ›Schleier‹ über die realen ökonomischen Transaktionen, kann diese also nicht beeinflussen, sondern dient nur als Transaktionsmedium. Die Wirtschaft zerfällt in dieser Vorstellung in einen »realen« und einen »monetären« Bereich, wobei der monetäre den realen abbildet oder repräsentiert. Würde die Geldmenge verändert, so änderte sich in der realen Wirtschaft hiernach nichts. Lediglich das Preisniveau stiege, und zwar im Durchschnitt genau um den Wert der Geldmengenerhöhung.7 Dabei ist es unerheblich, in welcher physischen Form das Geld tatsächlich auftaucht (als Währungsgold, Geldschein oder Bankguthaben). Allerdings wurde die Quantitätstheorie während der Währungsturbulenzen im Deutschland der frühen 1920er Jahre und global während der Großen Depression von unterschiedlichen Seiten als empirisch nicht mehr angemessen kritisiert. John M. Keynes formulierte in der General Theory schließlich eine andere Geldinterpretation, die als »Liquiditätspräferenztheorie« der Quantitätstheorie gegenüber gestellt wurde: Die Wirtschaftssubjekte seien in den ökonomischen Krisen seit dem Ersten Weltkrieg dazu übergegangen, Bargeld zu halten (beispielsweise weil sie mit sinkenden Güterpreisen rechneten, so dass ein Produkt morgen weniger kosten könnte als heute). Wenn 3 4
5 6
7
Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1890), Berlin 1993, S. 143. Vgl. Dieter Duwendag u.a.: Geldtheorie und Geldpolitik. Eine problemorientierte Einführung. 4. überarb. Aufl., Köln 1993, S. 79. »Homogen« ist ein Gut, wenn eine seiner Einheiten exakt denselben Wert hat wie die nächste Einheit desselben Gutes. K. Marx: Das Kapital, S. 144. Die Quantitätstheorie wurde bereits im 16. Jahrhundert in der spanischen Spätscholastik formuliert; vgl. Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens. Erster Band, Frankfurt/Main 1992, S. 69f., S. 633-641. Die erste mathematische Bestimmung und empirische Untersuchung lieferte Irving Fisher: The Purchasing Power of Money, New York 1911. M (Geldmenge) v (Umlaufgeschwindigkeit) = p (Preisniveau) Y (Gütermenge). Vgl. hierzu: D. Duwendag u.a.: Geldtheorie und Geldpolitik, S. 86.
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das Geld aber als Bargeld gehalten würde, sei es dem Wirtschaftskreislauf entzogen und könne nicht ›nachfragewirksam‹ werden. Der Anpassungsmechanismus der Quantitätstheorie wäre unterbrochen.8 Größere Bargeldbestände, wie sie in Filmen häufig in Erscheinung treten, verweisen mithin auf eine zentrale geldtheoretische Paradoxie und werden entsprechend meist auch als Problem inszeniert: illegale Schatzbildung, begehrtes Objekt von Raub etc.9 Keynes dachte allerdings weniger an einzelne große Bargeldbestände, sondern vielmehr an ein massenhaftes Konsumentenverhalten. Er war der Meinung, dass die Geldnachfrage nicht nur einem Transaktionsmotiv entspringt, wie es die Quantitätstheoretiker angenommen hatten, sondern daneben auch einem Vorsichts- und einem Spekulationsmotiv folgt. Die Geldnachfrage wurde damit in der keynesianischen Geldtheorie unabhängig von der Güterproduktion; die strikte Trennung zwischen realer und monetärer Wirtschaft in der Theorie wurde aufgelöst und damit dem Geld die Fähigkeit zugesprochen, die Güterproduktion zu beeinflussen. Im Film spielen diese geldtheoretischen Diskussionen der Wirtschaftswissenschaften keine explizite Rolle, schon alleine weil der akkumulative Effekt von verteiltem Handeln selten in den Blick genommen wird. Zwar wird Geld sehr häufig dazu verwendet, um auf die Existenz ökonomischer Prozesse zu verweisen, während die Abbildung ›der Wirtschaft‹ seltener ist; die Frage nach der ökonomischen Eigenqualität von Geld tritt aber in der Regel gegenüber den kulturellen und sozialen Effekten des Film-Geldes in den Hintergrund.10 Für die Reflexion des Mediums Geld im Film lässt sich also überspitzt formulieren: Der Film produziert weitestgehend sein eigenes FilmGeld, das mit besonderen Äquivalenzen ausgestattet wird. Mit dem Geld der Ökonomie und seinen volkswirtschaftlichen Funktionen hat dieses Film-Geld meist nichts gemein.
Funktionen des Geldes im Film In der Eingangsszene von CASINO (M. Scorsese, USA/F 1995) wird die systematische Transformation von Münzen zu Scheinen, die in Koffern transportiert werden und sich schließlich in einen Scheck verwandeln, verfolgt. Dies ist einer der eher seltenen Momente, in denen sowohl die ökonomische Figur der unablässigen Zirkulation als auch diejenige der fortlaufenden Transformation in den Vordergrund treten. Das geschieht ansonsten nur, wenn von der ›dunklen Seite der Ökonomie‹, dem Geldwaschen, die Rede ist.11 Die 8
Vgl. Karl Pribram: Geschichte des ökonomischen Denkens. Zweiter Band, Frankfurt/Main 1992, S. 879-890. 9 Um ein reales ökonomisches Problem auszulösen, müssten die Bargeldbestände allerdings schon sehr groß sein. 10 Dies betrifft zumindest den konventionellen Spielfilm, der Bezugspunkt für den gesamten Beitrag ist; in Dokumentarfilmen wird demgegenüber die ökonomische Dynamik des Geldes – d.h. auch der Institutionen des Sparens, der Darlehen etc. – durchaus diskutiert; vgl. etwa CAPITALISM – A LOVE STORY (M. Moore, USA 2009) oder LET’S MAKE MONEY (E. Wagenhofer, A 2008). 11 Nicht selten wird hier mit dem Missverständnis gespielt, dass ›Geldwaschen‹ ein materieller Prozess des Reinigens (statt ein immaterieller des Legalisie-
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ökonomische Eigenqualität von Geld und sein spezifischer Beitrag zur Ökonomie werden filmisch recht selten reflektiert. Geld hat im Film vorwiegend kulturelle Funktionen: Es macht auf effiziente Weise Charaktere unterscheidbar und stellt Ausgangsmotive für die handelnden Figuren dar. In diesen Fällen lässt sich kaum von einer filmischen Reflexion des Geldes sprechen; der Film profitiert hier vielmehr von der interdiskursiven Prägnanz der Motive, die weit über den Film hinaus reproduziert werden. Während visuelle Medien im Film häufig eine Spannung zwischen unterschiedlichen Bildformen provozieren (bewegtes vs. unbewegtes, filmisch realistisches vs. gemaltes oder televisuell pixeliges Bild etc.), ist dies beim Geld selten der Fall – auch wenn der haptische Umgang mit Geld, insbesondere auch mit seinen erotischen Aspekten, häufig inszeniert wird.12 Eine ähnliche Spannung zwischen gezeigtem und zeigendem Medium ergibt sich eher auf der Ebene der Narrativität: Die Funktion des Geldes, Menschen auf anonyme und versachlichte Weise zueinander in Beziehung zu setzen, wird gerade dadurch auffällig, dass die dominanten filmischen Formen in der Regel persönliche, affektive Beziehungen und kausale Relationen favorisieren. In Filmen wie DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINES (B. Viertel, D/USA 1926), L’ARGENT (R. Bresson, F/CH 1983) und KOMEDIE OM GELD (M. Ophüls, NL 1936), die in ganz unterschiedlicher Weise das Geld zum Antriebspunkt der narrativen Entwicklung machen, wird das Beziehungsgeflecht der Figuren auffällig ausgeweitet und ein erhebliches Maß an Kontingenz in die Handlung eingeführt. In KOMEDIE OM GELD etwa verliert ein Bankangestellter, weil ein hungriger Junge auf Suche nach etwas Essbarem ein Loch in dessen Tasche geschlitzt hat, Geld; er verliert daraufhin auch seine Anstellung und in einer verdichtenden Montage zeigt der Film, wie der Gemüsejunge, die Krankenversicherung, der Radioverkäufer, der Arbeitgeber der Tochter des Angestellten u.a. Leistungen verweigern oder Forderungen erheben. Das soziale Beziehungsnetz wird also weit über die affektiven Beziehungen hinaus sichtbar und zugleich in seiner Sachlichkeit deutlich. Dass der entlassene Bankangestellte dann zum Direktor einer Baufirma ernannt wird, weil alle vermuten, dass er das Geld eigentlich gestohlen hat und mit diesem Reichtum die marode Firma retten könnte, führt zusätzlich das spekulative Moment von Geld als weitere Kontingenzsteigerung ein. Andere, narrativ konventionellere Filme reflektieren diese mit Geld verbundene Form der Kontingenz, indem sie Figuren zeigen, welche die ›Macht des Geldes‹ in Dienst zu nehmen oder zu zähmen suchen – und meist daran scheitern. THE COLOR OF MONEY (M. Scorsese, USA 1986) ist hier – wie auch sein Vorgänger THE HUSTLER (R. Rossen, USA 1961) – besonders rens) ist – etwa in der Fernsehserie THE WIRE (Diverse, USA 2002-2008), in welcher der Drogenhändler Marlo, von seinem Kontaktmann aufgefordert, sauberes Geld zu bringen, tatsächlich den Koffer mit gebrauchten Scheinen wieder mitnimmt und mit völlig neuen Geldscheinen zurückkommt. Während die Filme dies ihren Figuren als Naivität zurechnen, ist es doch zugleich Ausweis der Notwendigkeit, anstelle der abstrakten ökonomischen Prozesse sichtbare Verwandlungen zu zeigen. 12 Vgl. hierzu Wolf Donner/Jürgen Menningen: Signale der Sinnlichkeit. Filmerotik mit anderen Augen, Düsseldorf u.a. 1987, S. 24-31.
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prägnant, da ein Nachwuchspoolspieler von einem alternden Profi weniger in der Technik des Poolbillards als vielmehr im richtigen Umgang mit Geld unterwiesen wird. Gleich zu Beginn des Films überfordert der Profi die Freundin des undisziplinierten Talentes, indem er statt 20 gleich 500 Dollar Wetteinsatz vorschlägt – und sich zugleich über ihre Unsicherheit, ob sie darauf eingehen soll, lustig macht: »It’s too much money«. Im gesamten Film geht es darum, Situationen einschätzen zu lernen, die eigene Gier zu zügeln und sich nicht von enormen Geldsummen beeindrucken zu lassen. Über die grüne Farbe des Dollarscheins und des Tischbezugs sind die Herausforderungen des Geldes und des Poolbillards visuell miteinander verknüpft. Narrativ zeigen Filme Geldzirkulation somit als eine alternative Form sozialer Beziehungen, die Kontingenzen und Gefahren mit sich bringt; Geld figuriert als eine der Herausforderungen, an denen Charaktere sich beweisen müssen.
Materialität und Sichtbarkeit In Differenz zu anderen Medien kann Geld im Film nicht immer eine eindeutige Materialität zugewiesen werden. Ein Fernseher im Film ist ein Fernseher, ein Fernsehbild wird ästhetisch als Fernsehbild umgesetzt, aber Geld im Film erreicht häufig nicht dieselbe Schwelle der Sichtbarkeit. In WALL STREET (O. Stone, USA 1987) taucht kaum Geld als visuelles Zahlungsmittel auf. Dennoch gelangt dieser Film auf Platz eins der Liste The Ten Best Movies About Money der Zeitschrift Forbes.13 In dem Artikel wird die berühmte »Greed is good«-Rede des Protagonisten Gordon Gekko als Grund für den Spitzenplatz angeführt. An diesem Beispiel zeigt sich, dass die Unsichtbarkeit des Geldes oft darauf zurückzuführen ist, dass »Geld eine Metapher ist, eine Überweisung, eine Brücke.«14 In WALL STREET versteckt sich das Geld in den Börsenkursen und -charts, den Telefonaten mit den Anlegern, den Räumen der Anlagefirmen oder den Hosenträgern von Gekko. Das unsichtbare Geld in WALL STREET ist eine Metapher für Gier, die zweite der sieben Todsünden – und damit Begründung für das zweite Opfer des Serienkillers in SE7EN (D. Fincher, USA 1995) und Titel des Stroheim-Klassikers GREED. Nicht selten stellt der Film zwischen »der ›Ökonomie‹ der Affekte und der Ökonomie der Bedürfnisse […] eine rein analoge Beziehung«15 her, wie dies in der Hauptfigur von AMERICAN PSYCHO (M. Harron, USA 2000) allzu deutlich verwirklicht ist. Während in WALL STREET das Geld unsichtbar bleibt, wird es in THE DARK KNIGHT (C. Nolan, USA/GB 2008) und GOLDFINGER (G. Hamilton, GB 1964) als materieller Exzess, als Verausgabung inszeniert. In THE DARK KNIGHT verbrennt Joker einen Berg von Geldscheinen, um eine Botschaft zu senden16 und in GOLDFINGER sollen die Goldreserven von Fort Knox radioaktiv verseucht werden, um das internationale Währungssystem zu destabilisie13 Vgl. David M. Ewalt: The Ten Best Movies About Money 2006, online: http://www.forbes.com/2006/02/11/best-money-movies_cx_de_money06_ 0214movies.html [letzter Zugriff am 11.04.2010]. 14 M. McLuhan: Die magischen Kanäle, S. 160. 15 Pierre Klossowski: Die lebende Münze, Berlin 1998, S. 22f. 16 Vgl. das Eingangszitat.
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ren. In beiden Fällen überträgt die opulente Vernichtung von Geld bzw. Gold den jeweiligen ›Wert‹ auf das Medium selbst: Jemand oder eine Nation soll durch die materielle Auslöschung von Geld gedemütigt werden.17 Während also Filme Geld häufiger nur indirekt – etwa über die Gegenüberstellung von Arm und Reich – thematisieren, ohne es direkt zu zeigen, ist zugleich doch deutlich, dass Filme, die Geld zeigen, seine Materialität gegenüber seiner Tauschfunktion und seinen verschiedenen Repräsentationsformen bevorzugen oder sogar übertreiben. Dies ist ein struktureller Konservatismus der filmischen Narrationen: Geldkoffer und Goldbarren werden tendenziell gegenüber bargeldlosem Zahlungsverkehr präferiert.18 Die einzelne Geldmünze ist ebenfalls ein attraktives und bedeutungsevokatives Motiv: etwa wenn die Münze vertikal aufgerichtet sich dreht und so abwechselnd ihre zwei immer schon symbolisch aufgeladenen Seiten zeigt – wie zu Beginn von LAGAAN: ONCE UPON A TIME IN INDIA (A. Gowariker, IND 2001), in dem es um die erpresserische Steuer der Kolonialmacht geht – oder wenn sie geworfen wird und dann, was wiederum den Zusammenhang zwischen Geld und Kontingenz verdeutlicht, schicksalhafte Entscheidungen fällt.19 Wenn der Film von seinen Produktionsformen her ebenso wie – Jacques Derrida zufolge – der Roman einer »genauen Epoche innerhalb d[er] Geschichte des Geldes«20 angehört, so lässt sich dies kaum von den Darstellungs- und Reflexionsformen von Geld im Film sagen. Die verschiedenartige Materialität von Geld (und seinen Äquivalenten) erlaubt an sich schon prägnante Bilder, die durch den Wert des Geldes noch zusätzlich mit Spektakel wie auch mit moralischem Affekt aufgeladen werden. Koffer voller Geldscheine, Tresore voller Goldbarren, aber auch massenhaft rollende Münzen sind schon alleine visuell – auf der Ebene der Signifikanten – attraktiv; gleichzeitig profitieren diese Bilder von der Evidenz des Signifikats ›unglaublicher Wert‹. Diese Spannung wird zugespitzt, wenn Massen von Geld in unangemessenen Behältnissen (Plastiktüten, Sporttaschen etc.) transportiert werden – z.B. in LOLA RENNT (T. Tykwer, D 1998) – und erst recht, wenn das Geld spektakulär vernichtet wird, wenn etwa Scheine vom Wind verweht – wie zu Beginn und am Ende von BLACK DAY BLUE NIGHT (J. S. Cardone, USA 1995) oder am Ende von THE KILLING (S. Kubrick, USA 1956) – oder verbrannt werden – z.B. in A SIMPLE PLAN (S. Raimi, F/GB/D/USA/J 1998). Visuelle und moralisch-narrative Prägnanz fallen hier zusammen. 17 Spektakulärer ist es für die filmische Inszenierung von Geld somit, wenn dessen Manipulation tatsächlich Konsequenzen für die gesamte Ökonomie besitzt. 18 Gerade neuere Fernsehserien thematisieren aber auch die trügerische Leichtigkeit des elektronischen Zahlungsverkehrs: In der ersten Staffel von 24 (Diverse, USA 2001-heute) erpresst eine Auftragsmörderin einen höheren Lohn, der ihr durch eine elektronische Überweisung zugesichert wird. In der vierten Staffel von THE WIRE erhält der Drogenboss Marlo von seinem Anwalt einen Tipp für eine Geldanlage im Ausland; er traut den elektronischen Transaktionen allerdings so wenig, dass er extra eine Reise unternimmt, um vor Ort sein Konto einzusehen. 19 Diesen Hinweis verdanken wir Alexandra Schneider. 20 Jacques Derrida: Falschgeld – Zeit geben 1, München 1993, S. 146.
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Die Materialität des Geldes wird in Filmen vorwiegend in zwei Dichotomien reflektiert: zum einen in der Gegenüberstellung von Präsenz vs. Absenz, zum anderen in der Gegenüberstellung von echt vs. falsch. Die überwältigende Präsenz des Geldes in Form von Goldbarren, Geldkoffern etc. ermöglicht den Schock des plötzlichen Verschwindens dieser Geldmengen: das Entdecken des leeren Tresors oder das Entsetzen darüber, dass sich unter einer Schicht von Banknoten nur Zeitungspapier befindet.21 Diese Entdeckung ist fast immer die Einsicht nicht nur in einen Verrat und eine Intrige, sondern in die eigene Dummheit und Naivität. Der evidente Wertcharakter des Geldes wiederum geht mit dem Verdacht seiner Wertlosigkeit einher: An die Stelle der schockhaften Entdeckung eines leeren Koffers tritt dann die Einsicht, gefälschtes Geld akzeptiert zu haben (so beispielsweise in L’ARGENT). Der Film, der schon qua Technologie, aber auch in vielen der von ihm erzählten Geschichten die zentrale Frage nach der visuellen Täuschung und der Täuschbarkeit des menschlichen Auges stellt, hat hier im Geld ein privilegiertes Objekt: Es kann im Bild sein, in all seinen visuellen Eigenschaften, und doch unecht sein. Geldscheine werden hier zum Inbegriff des technisch Reproduzierten; nicht nur die Unterscheidung zwischen echt und falsch, sondern auch die zwischen den individuellen Exemplaren und ihrer austauschbaren Funktion wird immer wieder von Filmen herausgearbeitet, wenn es etwa um die Markierung von Geldscheinen geht, die ihre Nachverfolgung und Authentifizierung ermöglichen soll. JACKIE BROWN (Q. Tarantino, USA 1997) verdichtet viele dieser Motive, wenn in einer von der Titelheldin subtil geplanten Geldübergabe Polizei und Waffenhändler gegeneinander ausgespielt werden:22 Jackie erhält von der Polizei markierte Scheine, um damit ihre ehemaligen Auftraggeber, für die sie als Stewardess die Bezahlung von Waffen aus dem Ausland einschmuggelte, zu überführen; durch eine skurrile Zirkulation von identischen Einkaufstüten und das Umschichten von Geld in ihre Handtasche trickst sie die anderen Parteien aus, nicht aber ohne wenigstens symbolische Anteile des Geldes bei der Übergabe zur Schau zu stellen. Als der Waffenhändler schließlich unter einigen wenigen Scheinen nur Bücher findet, erschießt er seinen Zwischenhändler – er versteht wiederum diese wenigen Scheine als triumphierende Botschaft von Jackie Brown. Wie in vielen anderen Filmen geht hier somit die materielle Präsenz (und dann Absenz) des Geldes, wie auch die Frage der Echtheit oder Markiertheit, mit einer Unterbrechung der reibungslosen Zirkulation einher. Geld wird dann zu einer gewöhnlichen Medienreflexion, wenn der Film es vor allem anhand der Störungen seiner üblichen Funktionen sichtbar macht. Die mit dem filmischen Bild verbundene Problematisierung von Sichtbarkeit akzentuiert nicht nur die Frage nach An- und Abwesenheit, nach 21 Bezeichnend für den Äquivalenzcharakter von Geld ist, dass es die gleichen Szenen auch mit Kokainbeuteln anstelle der Geldscheine gibt. 22 PULP FICTION (Q. Tarantino, USA 1994) wiederum spielt mit der Austauschbarkeit des wertvollen Guts, das die Handlung antreibt, wenn ein Koffer nur so weit geöffnet wird, dass ein geheimnisvolles Leuchten sichtbar wird, nicht aber der tatsächliche Inhalt, welcher die überraschten Gesichter im Gegenschuss erklären könnte.
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Echtheit und Falschheit des Geldes, sondern zugleich auch die nach der sozialen Sichtbarkeit. Filme greifen hier die Tatsache auf, dass nicht nur das (Nicht-)Haben, sondern auch das (Nicht-)Zeigen von Geld sozial und kulturell reguliert ist: Ob und wie filmische Charaktere das Geld, das sie haben, zeigen, wird so oft zu einem entscheidenden narrativen Wendepunkt. Die erfolgreichen Gangster, die sich selbst verraten, weil sie nicht diszipliniert genug mit dem erbeuteten Reichtum umgehen, sind ein einschlägiges Beispiel. Darüber hinaus zeigen Filme eine große Vielfalt an geldgebundenen Gesten: die Bündel von Scheinen, aus denen Mafiosi nonchalant ihre Bestechungsgelder ziehen, oder die verachtende Geste, mit der Geldscheine in Essensreste geworfen werden (z.B. in THE COLOR OF MONEY). Korrespondierende Motive sind die wenigen schäbigen Münzen, welche die Armut und Verzweiflung einer Figur verdeutlichen, das achtlose Werfen einer Münze in den Hut eines Bettlers etc. Mit solchen Szenen koppelt die filmische Inszenierung die Materialität des Geldes (Scheine vs. Münzen, Scheinbündel vs. einzelner Schein etc.) an prägnante Gesten der Handhabung von Geld, die nahelegen, dass nicht das Geld allein, sondern die Haltung dazu die Menschen definiert. Der Film reflektiert (aber produziert auch zugleich) Geld als symbolisch codiertes Artefakt. In A CORNER IN WHEAT (D. W. Griffith, USA 1909) wird beispielsweise zu Beginn der Mangel an Saatkörnern dramatisiert, indem diese ganz wörtlich durch die Finger rinnen; später wird als direkte Konsequenz davon gezeigt, wie eine Frau mit Kind beim Bäcker den jetzt verdoppelten Preis des Brotes nicht aufbringen kann, das Brot zurückgeben muss und dafür ihr einziges Geldstück wieder zurück erhält; am Ende des Films stehen Mann und Frau, sich gegenseitig die leeren Hände zeigend, einander gegenüber. Es ist bezeichnend, dass diese Geld-Gesten alleine in Filmen wie L’ARGENT eine nüchterne Neutralität aufweisen – in Filmen also, die nicht die materielle Prägnanz, sondern die Zirkulation des Geldes in den Mittelpunkt stellen. Die Fokussierung der Materialität des Geldes, vor allem großer Geldmengen, häufig aber auch einzelner Geldmünzen, betont die lokale Interaktionssituation; der anonyme Prozess der Zirkulation und somit auch die Funktion des Geldes als Tauschwert geraten in den Hintergrund: Die Zirkulation wird entweder (wie im Falle von gescheiterten Geldübergaben oder Geldvernichtungen) unterbunden oder zumindest (wie im Falle der prägnanten Gesten) durch symbolische und moralische Aufladung in ihrem reibungslosen Funktionieren bedroht. Die Reflexion auf die Zirkulationsprozesse benötigt zwar ebenfalls eine gewisse Sichtbarkeit des Geldes und der mit ihm verbundenen Gesten, diese werden aber – wie auch am Anfang von CASINO – nicht problematisiert.
Die Frage der Äquivalenz Ob das Geld in seiner Materialität inszeniert wird oder nur thematisch und symbolisch zur Sprache kommt – es wird von den Filmen mit allen denkbar möglichen Äquivalenten in einen Vergleichszusammenhang gebracht, meist um seiner scheinbar unbeschränkten Äquivalenz Grenzen zu setzen: Geld schneidet dabei immer schlecht ab (meistens allerdings so, dass weder Kapitalismus noch Marktwirtschaft prinzipiell zur Diskussion stehen).
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Das Geld verliert im Vergleich, da die Filme Charaktere zeigen, die lernen müssen, dass es falsch war, das Geld der Familie, der Liebe, der Gesundheit etc. vorzuziehen. Geld wird mithin genutzt, um in der Abwägung gegen andere, meist nicht quantifizierbare Gegenstände diese mit einem umso nachhaltigeren Werteversprechen zu versehen. Die Frage, ob Geld glücklich macht, ist eine im Film immer wieder neu gestellte. In TRADING PLACES (J. Landis, USA 1983) müssen die beiden Protagonisten die Rollen des Armen und des Reichen tauschen, um ihr Glück zu finden. In IT COULD HAPPEN TO YOU (A. Bergman, USA 1994) und SLUMDOG MILLIONAIRE (D. Boyle/ L. Tandan, GB 2008)23 steht der Geldgewinn in einem brüchigen Zusammenhang mit dem Gewinn einer Frau; häufig wird die Käuflichkeit von Sex gegen den immateriellen Erwerb von Liebe ausgespielt – z.B. in PRETTY WOMAN (G. Marshall, USA 1990) und INDECENT PROPOSAL (A. Lyne, USA 1993). Die Gleichwertigkeit von Geld gegenüber immateriellen Werten wird im Film in Frage gestellt. Die Frage nach der Gleichwertigkeit wird durch die Beliebigkeit des Wertes von Geld nicht einfacher. Der Wert des Geldes »ist an sich selbst nichts als ein Phantasma, das einem Phantasma antwortet.«24 Die Äquivalenzfunktionen, die der Film reflektiert, werden von keiner Instanz mit einer ähnlichen Funktion, wie etwa der Zentralbank oder dem internationalen Währungsfond, verbürgt. Die Äquivalenz des Geldes muss in jeder Filmgeschichte neu ausgehandelt werden. Die Beziehung zwischen Wert und Geld ist arbiträr, so dass in Filmen die Beziehung von Geld zu Affekten, Status, Beziehungen usw. immer wieder neu hergestellt werden muss. »Geld [ist] nur Mittel, Material oder Beispiel für die Darstellung der Beziehungen, die zwischen den äußerlichsten, realistischsten, zufälligsten Erscheinungen und den ideellsten Potenzen des Daseins, den tiefsten Strömungen des Einzellebens und der Geschichte bestehen.«25 Diese Reflexion auf die Grenzen der universalen Äquivalenz des Geldes ist vor allem dort interessant, wo nicht von vornherein feststeht, auf welcher Seite sich die Moral befindet. In C’ERA UNA VOLTA IL WEST (S. Leone, I/USA 1968) wird beispielhaft Geld gegen Gewalt, werden Scheine gegen den Colt gestellt. Der Eisenbahnmagnat ist durch seine Krankheit weitgehend bewegungsunfähig, so dass er (in Zeiten vor mobiler, digitaler Kommunikation) remote control nur durch Geld ausüben kann. Er lässt seine Gehilfen 23 David Bordwell hat sehr zutreffend am Beispiel von SLUMDOG MILLIONAIRE gezeigt, dass Geld (und zwar je mehr es visuell, materiell sichtbar wird) immer schon als moralisch verwerflich gilt: Geld soll, so auch die implizite Logik der Geldinszenierungen, da sein, aber nicht sichtbar werden müssen (oder eben nur in den production values des Films sichtbar, nicht als Gold, Scheine, Münzen usw., deren Auftauchen meist Unheil verheißt). »Money is filthy, associated with blood, death, and commercial corruption. The beggar barracks, the brothel, the call center, and the quiz show lie along a continuum. So to stay pure and childlike one must act without concern for cash. The slumdog millionaire doesn’t want the treasure, only the princess, and we never see him collect his ten million rupees.« (David Bordwell: Slumdogged by the Past 2009, online: http://www.davidbordwell.net/blog/?p=3592 [letzter Zugriff am 11.04.2010], o.S.) 24 P. Klossowski: Die lebende Münze, S. 79. 25 Georg Simmel: Philosophie des Geldes, Köln 2001, S. VII.
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das Land für den Eisenbahnbau kaufen; zugleich ist er auf die Hilfe von Frank und seiner Bande angewiesen, welche die Leute zumindest so einschüchtern sollen, dass sie zum Verkauf ihres Landes bereit sind. Schließlich kommt es mit Frank zum Disput, weil dieser, statt sie zu verängstigen, die Landeigentümer gleich erschossen hat. Der Disput betrifft die Äquivalenz von Waffen und Geld. Zunächst fragt der Eisenbahnmagnat Frank, wie es sich anfühlt, hinter seinem Schreibtisch zu sitzen, dieser antwortet: »It’s almost like holding a gun«. Wenig später, wenn sie die Plätze wieder getauscht haben, zielt Frank mit dem Revolver auf den ›Krüppel‹, dieser zieht aus seiner Schublade ein dickes Bündel Banknoten mit der Bemerkung, dass es viele Waffen gäbe. Schließlich bezahlt er die Männer von Frank, damit diese ihren Anführer erschießen. Wenig später mischt sich »Mundharmonika« in eine von Frank durch Gewalt manipulierte Versteigerung ein und bietet 5000 Dollar für ein Farmhaus, das zu einem Bahnhof werden soll; die 5000 Dollar bringt er allerdings nicht als Geld, sondern in Form von Cheyenne, einem Outlaw, auf, auf dessen Ergreifung diese Summe als Belohnung ausgesetzt ist. Dies bringt ihm sofort die Beschimpfung als Judas ein. Geld, das machen diese Szenen deutlich, wird von der filmischen Narration als extrem flexibles Medium reflektiert, das Tauschprozesse und Wertbestimmungen quantifiziert, Unvergleichliches vergleichbar macht und dabei zusätzlich moralische Evidenz – oder wie im Gegenmodell von C’ERA UNA VOLTA IL WEST: Zynismus – produziert.
Fazit Aus dem Zusammenspiel der Funktionen, Materialitäten und Äquivalente des Geldes in Filmen wird die besondere Stellung dieses Mediums offensichtlich: Geld ist ein universelles ›Schmiermittel‹ der filmischen Erzählung, das Handlungsmotive, Kausalitäten und moralische Hierarchien stiftet. Die Materialität und Sichtbarkeit des Geldes wird in einer großen Bandbreite filmisch umgesetzt, so dass sich hier kaum von einer spezifisch filmischen Reflexion dieser Materialität sprechen lässt. Nicht anders als Drogen, Computerchips mit einem machtvollen Code oder radioaktive Substanzen dramatisiert Geld das Haben und Nicht-Haben, das Verlieren und Gewinnen. In diesem Sinne hat Jokers Aussage aus THE DARK KNIGHT für einen Großteil der Filme, die Geld inszenieren, Gültigkeit: »It’s not about money, it’s about sending a message.« Geld ist in einem gewissen Sinne zu universell und materiell zu flexibel, um in ein reflexives Spannungsverhältnis mit den filmischen Bildern und der filmischen Narration zu treten. Dennoch taucht das Geld in Filmen in verschiedener Hinsicht als Medium auf. Zunächst wird es, wie andere Medien, vor allem hinsichtlich der Störung seines medialen Funktionierens thematisch. Darüber hinaus wird es aber auch als vermittelnder Mechanismus deutlich, der im Unterschied zur filmischen Narration gerade keine tieferen Gründe und Motivationen benötigt, um Beziehungen herzustellen – Beziehungen, die weit über die zwischenmenschlichen hinausgehen. Noch in der moralischen oder zynischen Aufladung von Geld zeigt sich letztlich dessen eigentliche Gleichgültigkeit, die zugleich die strukturelle Voraussetzung für die Universalität des Mediums Geld darstellt.
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Literatur Bordwell, David: Slumdogged by the Past 2009, online: http://www.davidbordwell.net/blog/?p=3592 [letzter Zugriff am 11.04.2010]. Derrida, Jacques: Falschgeld – Zeit geben 1, München 1993. Donner, Wolf/Menningen, Jürgen: Signale der Sinnlichkeit. Filmerotik mit anderen Augen, Düsseldorf u.a. 1987. Duwendag, Dieter u.a.: Geldtheorie und Geldpolitik. Eine problemorientierte Einführung. 4. überarb. Aufl., Köln 1993. Ewalt, David M.: The Ten Best Movies About Money 2006, online: http://www.forbes.com/2006/02/11/best-money-movies_cx_de_money 06_0214movies.html [letzter Zugriff am 11.04.2010]. Fisher, Irving: The Purchasing Power of Money, New York 1911. Klossowski, Pierre: Die lebende Münze, Berlin 1998. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1890), Berlin 1993. McLuhan, Marshall: Die magischen Kanäle, Düsseldorf u.a. 1992. Pribram, Karl: Geschichte des ökonomischen Denkens. 2 Bände, Frankfurt/Main 1992. Simmel, Georg: Philosophie des Geldes, Köln 2001.
FIKTIONALE MEDIENREFLEXION
Futurische Medien im Kino. Die Darstellung nicht-existenter Medien als Medialitätsreflexion THOMAS WEBER
Was sind futurische Medien? Medien, die es – noch – nicht gibt, die man sich aber vorstellen, wünschen oder vor denen man sich fürchten kann: Im Kino erscheinen sie als eigenartige Apparaturen, mit denen man intimste Wahrnehmungen, Gefühle, Erinnerungen oder Träume speichern und wieder auslesen kann, mit denen Blinde sehen können, mit denen man andere überwacht, eine simulierte Realität erzeugt oder sich in andere Personen hineinversetzen kann. Im Kino finden sich futurische Medien seit den 1980er Jahren verstärkt in Filmen wie z.B. VIDEODROME (D. Cronenberg, CDN 1983), STRANGE DAYS (K. Bigelow, USA 1995) oder THE MATRIX (A. Wachowski/L. Wachowski, USA/AUS 1999); sie bilden kein eigenes Genre, allenfalls ein Subgenre der Science-Fiction und bearbeiten – filmhistorisch betrachtet – tatsächlich ein neues Thema, das im Kino in dieser Form (von einzelnen Ausnahmen abgesehen) zuvor noch nicht behandelt wurde: ›Neue Medien‹. Futurische Medien entspringen Visionen oder Projektionen, die mehr mit der Realität von Ansprüchen, Träumen und Bedürfnissen, von Nöten und Ängsten der Zeitgenossen zu tun haben als mit einer (prospektiven) wissenschaftlichen Exploration von zukünftigen Entwicklungen. Man könnte sie daher auch als ›Wunschmedien‹ bezeichnen (so wie schon bei Sigmund Freud ein Wunschtraum eine Angstvorstellung kaschieren kann). So entfernt und abseitig die Vorstellungen von Wunschmedien dabei bisweilen scheinen, so realistisch sind sie als Wünsche, die auf eine bestimmte materielle, soziale, technologische und kulturelle Konstellation zeitgenössischer Mediensysteme reagieren. Dabei transformiert ihre Darstellung nicht einfach nur bestehende Mediensysteme in ein futurisches Design, sondern nimmt eine Position zu ihnen ein.
Das Paradoxon der Medialitätsinszenierung Dies zeigt sich insbesondere in der Form der spezifischen Medialitätsdarstellung, die mit einem doppelten Paradoxon konfrontiert ist:
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Geht man von einem gängigen medientheoretischen Postulat aus, dann haben Medien, die gut funktionieren, die Tendenz, unsichtbar zu sein, d.h. aus dem Bewusstsein der Zuschauer zu verschwinden. Jay David Bolter und Richard Grusin z.B. nennen dieses Phänomen immediacy und meinen damit, dass jedes Medium versucht, die Illusion der eigenen Abwesenheit zu erzeugen.1 Vor allem im klassischen Hollywood-Kino gab es bis in die 1960er Jahre hinein das Bemühen, eine ›Transparenz‹-Illusion zu bewirken, bei der das Medium selbst ›unsichtbar‹ wurde – sich also der Aufmerksamkeit der Zuschauer entzog –, um ein ungebrochenes narratives Kontinuum, also den Eindruck der Unmittelbarkeit der erzählten Geschichten, zu schaffen.2 Das medientheoretische Postulat wird jedoch im Hinblick auf die Darstellung von futurischen Medien mit der Frage konfrontiert: Wie stellt das populäre Kino (also ein gut funktionierendes, d.h. unsichtbares Medium) ein anderes Medium dar (das meist auch unsichtbar wäre), das – und hier liegt das doppelte Paradoxon – überhaupt nicht existiert? Sinnvoll lässt sich diese Frage vor allem im Rahmen neuerer Medientheorien beantworten, die nicht mehr die besonderen Eigenschaften einzelner Medien – und auch nicht Inter- oder Intramedialität – fokussieren, sondern Ästhetisierungsstrategien aus dem Blickwinkel einer »negativen Medientheorie«, wie sie in Ansätzen z.B. von Dieter Mersch formuliert wird: »Dem Paradox des Medialen, seinem Verschwinden im Erscheinen, ist somit allein mittels ›medialer Paradoxa‹ beizukommen, die seine Medialität buchstäblich aus der Reserve locken, herausfordern und aufbrechen und jene Umrisse dekuvrieren, die sich im Schein der nicht nur technischen Perfektionen hartnäckig ver3 hüllen.«
Dies gelingt besonders durch negative Praktiken wie »Eingriffe, Störungen, Hindernisse, konträre Konfigurationen. Sie beruhen auf Strategien der Differenz [Herv. i. O.].«4 Zentrales Moment der Darstellung von Medialität sind daher inszenierte mediale Dysfunktionen, also Störungen, die sich nicht einfach ereignen, sondern einkalkuliert und arrangiert werden, um die Aufmerksamkeit auf die Medialität des Mediums zu lenken und im besonderen Fall der Inszenierung von futurischen Medien eine ästhetische Differenz zwischen zwei Medien zu simulieren. Denn innerhalb ein und desselben Mediums muss es zumindest einen wahrnehmbaren Unterschied geben – und sei es eine simulierte Differenz –, um die Präsenz von zwei verschiedenen Medien überhaupt markieren zu können (ein Problem, das sich schon bei der Intermedialitätsinszenierung stellte5). 1 2 3 4 5
Vgl. Jay David Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge/Massachusetts, London 2001. Vgl. David Bordwell/Janet Staiger/Kristin Thompson: The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, London 1985. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 224f. Ebd., S. 226. »Intermedialität ist […] eine spezifische Form medialer Differenz […]« (Joachim Paech: »Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes, Berlin 1998, S. 14-30, hier S. 22.
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Das Kino wählt zur Inszenierung von futurischen Medien drei verschiedene Modi der Darstellung: 1) Die – meist verbal vorgetragene – Behauptung, dass es sich um ein futurisches und neuartiges Medium handelt, dessen Funktionsweise entsprechend erläutert wird; 2) Eine apparative Darstellung, d.h. die äußere Gestalt einer Apparatur wird ins Bild gerückt, was aber nur einen oberflächlichen Eindruck eines futurischen Mediums hinterlässt; 3) Eine ›Innensicht‹ des futurischen Mediums, also das, was die Protagonisten sehen könnten, wenn sie das futurische Medium benutzen würden. Letzteres ist besonders wichtig für die Plausibilisierung des futurischen Mediums, da man als Zuschauer des populären Kinos eine visuelle Bestätigung der verbalen Behauptungen erwartet (da behauptete und dargestellte Funktionsweisen einander widersprechen können). Für die Inszenierung der Innensicht sind nun zumindest für die Markierung des Übergangs von einem in ein anderes Medium ›inszenierte Dysfunktionen‹ erforderlich, Störungen aller Art also, welche die TransparenzIllusion stören und damit – und sei es nur für Momente – das narrative Kontinuum aufbrechen. Die Inszenierung von Dysfunktionen generiert ein polyvalentes Bedeutungsangebot, das über die sinngarantierende narrative Ordnung des Films hinausgeht. Die Störung kann auf einer semantischen Ebene ganz unterschiedlich aufgefasst werden: 1) Schlicht und einfach als Störung; 2) Als psychische Dysfunktion des Protagonisten, also als Zustand geistiger Verwirrtheit, der die Folge von tieferliegenden psychischen Zerrüttungen, Drogenkonsum oder körperlichen Defekten sein kann; 3) Als Einbruch des Phantastischen – einer fremdartigen Ordnung, deren Gesetzmäßigkeiten man nicht kennt – in die Ordnung des narrativen Kontinuums, also als Möglichkeit, dass es eine andere Welt mit Regeln gibt, die sich nicht mit den herkömmlichen Regeln der dargestellten Welt erklären lässt; 4) Als Medialitätsreflexion, die hors cadre geführte Diskurse über Medien strukturell, wenn auch graduell unterschiedlich, in die verschiedenen Formen der Darstellung von futurischen Medien einschreibt. Diese konnotative Lesart des Dargestellten kann sich im populären Kino nur als ungewisse Möglichkeit entfalten, die sich immer zugleich zu einer der drei anderen Lesarten hin auflösen ließe, also innerhalb des narrativen Kontinuums erklärbar bliebe. Dabei gibt der Einsatz der Mittel zur Inszenierung der Innensicht im Zusammenhang der Konstruktion des Films Aufschluss über die jeweiligen Vorstellungen einer von Medien geprägten Gesellschaft – darüber, wie neue Medien auszusehen haben und welche Wünsche bzw. vielmehr Ängste sich mit ihnen verbinden.
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Futurische Medien als Thema im Kino Medialitätsreflexionen zeigen sich vor allem in der emphatischen Inszenierung von futurischen Medien, bei der diese in den Mittelpunkt der Handlung rücken, mithin selbst zum zentralen ›Akteur‹ des Geschehens werden. Davon lassen sich in den 1980er und 1990er Jahren6 noch zwei andere Darstellungsweisen von futurischen Medien unterscheiden, die hier nur kurz erwähnt werden sollen: Zum einen Satiren und Grotesken, die sich mehr oder weniger unmittelbar als Kommentare zu zeitgenössischen Medienentwicklungen zu erkennen geben. Dazu zählen bereits in den 1970er Jahren Filme wie etwa NETWORK (S. Lumet, USA 1976) oder CAPRICORN ONE (P. Hyams, USA/GB 1977) und in den 1990er Jahren dann Filme wie WAG THE DOG (B. Levinson, USA 1997), EDTV (R. Howard, USA 1999) oder THE TRUMAN SHOW (P. Weir, USA 1998), in denen vorhandene Mediendispositive in ihrer Applikation satirisch überspitzt oder ins Groteske überzogen dargestellt werden. In den Filmsatiren haben die Menschen Angst, von den Medien manipuliert zu werden, sie fürchten den Verlust ihrer sozialen Identität oder zumindest um ihre soziale Integrität. Der futurische Aspekt der meist nur behaupteten oder apparativ dargestellten Mediendispositive spielt in diesen Filmen nur eine untergeordnete Rolle und dient der karikaturalen Überzeichnung einer von den Medien geformten zeitgenössischen gesellschaftlichen Realität, wenn z.B. in WAG THE DOG der US-Präsident einen Krieg nur medial inszenieren lässt oder in THE TRUMAN SHOW das bisherige Leben des Protagonisten ohne sein Wissen zum Gegenstand einer gigantischen Daily Soap wird. Zum anderen Filme, die Computer noch nicht als Medium, sondern als Problem der Künstlichen Intelligenz (KI) thematisieren, was die Debatte über digitale Technologien bis in die 1980er Jahre hinein geprägt hat.7 Dabei zeigen sich strukturell verwandte Muster in der Darstellung von Künstlicher Intelligenz und futurischen Medien: Während die KI-Darstellung dramaturgisch von der Frage ›Wer bin ich?‹ geleitet wird, welche die Selbstzweifel der Protagonisten in den Mittelpunkt stellt, werden bei der Darstellung der Medialitätsproblematik für die Protagonisten epistemologische Fragen dramaturgisch relevant, also ›Was ist die Welt? Wie kann ich sie erkennen?‹. Beide Fragen hängen eng miteinander zusammen und berühren sich in der Identitätsproblematik ihrer Protagonisten. Beide greifen auch auf ähnliche Darstellungsformen – etwa bei der Inszenierung einer Innensicht – zurück, die im Falle der KI die Subjektivität des Protagonisten hervorheben, im Falle
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Ich konzentriere mich hier auf diesen Zeitraum, da er Gegenstand einer systematischen Untersuchung war; für weitere Informationen zu Filmen und Literatur vgl. Thomas Weber: Medialität als Grenzerfahrung. Futurische Medien im Kino der 80er und 90er Jahre, Bielefeld 2008. Seit 2000 hat es zahlreiche weitere Filme gegeben, die das Thema aufgegriffen haben, wie z.B. VANILLA SKY (C. Crowe, USA 2001), MINORITY REPORT (S. Spielberg, USA 2002), THE FINAL CUT (O. Naim, USA/CDN/D 2004) oder selbst AVATAR (J. Cameron, USA/GB 2009), um nur einige zu nennen. Vgl. Norbert Bolz/Friedrich Kittler/Christoph Tholen: Computer als Medium. 2. Aufl., Paderborn 1999.
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von Medialitätsinszenierungen Ansichten des futurischen Mediums darstellen. In den 1980er Jahren8 sind es Filme wie BLADE RUNNER (R. Scott, USA/HK 1982), die hier die Maßstäbe setzen: Die KI, gar der künstliche Mensch in Form der von den Menschen gejagten Replikanten, ist dabei das durch Technik verzerrte Ebenbild des Menschen, das unter Verdacht gestellt wird, weil es eine eigene Subjektivität entwickelt. Es ist nicht nur eine dienende Maschine, sondern es wird sich seines eigenen Ichs bewusst, indem es an sich selbst zweifelt. Dies zeigt sich selbst noch in Filmen wie z.B. TRON (S. Lisberger, USA/RC 1982) – trotz seiner naiven Darstellungsform mit als Elektronen verkleideten Menschen – oder in den 1990er Jahren in Filmen wie z.B. THE LAWNMOWER MAN (GB/USA/J 1992) oder VIRTUOSITY (USA 1995) von Brett Leonard, in denen die KI an die Grenze von neuen Mediendispositiven – und hier vor allem des sogenannten Cyberspace – gelangt. Bei Filmen, in denen die Darstellung der KI thematisch gegenüber der Medialitätsproblematik dominiert, wird das Thema der futurischen Medien vor allem im Kontext der Erweiterung des menschlichen Körpers verhandelt, indem das Medium zur Prothese für den fehlenden oder gestorbenen Körper oder zum neuen Organ wird, das den bestehenden Körper erweitert und ihm neue, ungeahnte Kräfte verleiht.
Wunschmedien als Medialitätsreflexion Lässt man einmal eine Gruppe von Filmen außer Acht, die albtraumhafte Visionen des radikalen Zweifels inszenieren (›Wer bin ich und was ist die Welt?‹), welche mit Medien direkt nichts zu tun haben (aber sehr wohl strukturelle und damit auch dramaturgische Parallelen aufweisen) – z.B. THE GAME (D. Fincher, USA 1997) oder DARK CITY (A. Proyas, AUS/USA 1998) –, dann stößt man seit den 1980er Jahren rasch auf eine relativ übersichtliche Zahl von Filmen, in denen Medien als futurische Vision, als Wunschmedien thematisch in den Mittelpunkt rücken und als Medien selbst unter Verdacht geraten. Bei allen Unterschieden der Filme im Einzelnen lassen sich jedoch einige Gemeinsamkeiten benennen, die sie von anderen Kinofilmen, welche sich mit Medien beschäftigen, unterscheiden: 1) Die von ihnen vorgestellten Medien haben eine futurische Form. 2) Die vorgestellten Medien stehen im Mittelpunkt der Handlung, bilden ihr eigentliches Thema, indem sie den Handlungsraum der Figuren prägen und nicht nur den Hintergrund oder die Kulisse stellen. 3) Die einzelnen Medien oder Medientechniken sind Teil eines umfassenderen Mediensystems. 4) Die Filme zeigen nicht nur eine andere, neuartige Medientechnik, sondern nutzen auch verschiedene mediale Darstellungstechniken, um ihr 8
Zur Genealogie der KI-Darstellung vgl. Georg Seeßlen: »Traumreplikanten des Kinos. Passagen durch alte und neue Bewegungsbilder«, in: Rolf Aurich/Wolfgang Jacobsen/Gabriele Jatho (Hg.), Künstliche Menschen. Manische Maschinen. Kontrollierte Körper, Berlin 2000, S. 13-42.
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Thema zu gestalten; die Darstellungstechnik ist dabei konstitutiv für die Bedeutung der Filme. Vor allem diese seltsame Hybridität von Thematisierung der Medien und medientechnischer Darstellung verleiht den hier erwähnten Filmen einen besonderen Charakter, der auf das Problem der Medien-Technik verweist, welche im Sinne von Boris Groys grundsätzlich unter Verdacht steht.9 Die Gestaltung der Filme orientiert sich dabei nicht nur plakativ an der Medienthematik, sondern fokussiert jeweils andere Aspekte, von denen hier nur drei hervorgehoben werden sollen.
SCHAULUST UND VERLUST VON INTIMITÄT Den Filmen LA MORT EN DIRECT (B. Tavernier, F/D/GB 1980), VIDEODROME und BIS ANS ENDE DER WELT (W. Wenders, D/F/AUS 1991) ist gemeinsam, dass sie Medialität als finale Grenze darstellen.10 In ihnen geht es um die Logik der Schaulust, die immer weiter in intime Lebensbereiche der Protagonisten eindringt und sie damit zerstört. Dabei fungieren Medien zwar auch als Prothesen, welche die Körper erweitern, doch liegt der Fokus der Beobachtung weniger auf der apparativen Darstellung dieser Erweiterung als vielmehr auf der Inszenierung der ästhetischen Differenz zwischen futurischen und konventionellen Medien. LA MORT EN DIRECT erzählt die Geschichte des Kameramanns Roddy (Harvey Keitel), der sich eine Miniaturkamera in den Kopf einpflanzen lässt, welche alle Bilder, die er mit seinen Augen sieht, live in ein Fernsehstudio überträgt. Mit dieser Technik wird es ihm möglich, sich in die Privatsphäre der todkranken Katherine (Romy Schneider) einzuschleichen und ihre intimsten Stunden zu begleiten. Doch er zahlt mit seiner Erblindung und dem von ihm mitverschuldeten Selbstmord der Protagonistin einen hohen Preis. Der ästhetische Kontrast zwischen den Kinobildern, den vergleichsweise qualitativ schlechteren Fernsehbildern und dem durch zunehmende ästhetische Mängel – Unschärfen, schlechte Auflösung etc. – simulierten Kamerablick von Roddy ist zugleich auch Ausdruck der Konkurrenz von (nicht zuletzt auch moralischen) Wertmaßstäben von Kino und Fernsehen. In VIDEODROME treibt die eigene Schaulust den Protagonisten über das Sexuelle und Perverse hinaus in einen Zustand psychischer Gestörtheit. Max Renn, Mitbesitzer eines kleinen Privatsenders, ist ständig auf der Suche nach neuem pornographischem Material. Dabei stößt er auf den geheimnisvollen Sender Videodrome, der nicht nur ungewöhnliche S/M-Praktiken zeigt, sondern beim Betrachter auch eine physisch-psychische Reaktion auslöst. Das Medium verursacht bei Max das Wuchern eines Hirntumors, der halluzinogene Wirkungen hat und zugleich eine neue Ebene der Realität zeigt, die ihn schließlich mit dem von Videodrome repräsentierten »neuen Fleisch« verschmelzen lässt. Das futurische Medium wird nicht direkt zur Prothese, bewirkt aber zerstörerische Erweiterungen des Körpers (vgl. Abb. 1). ›Störun9
Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München, Wien 2000. 10 Vgl. auch BRAINSTORM (D. Trumbull, USA 1983).
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gen‹ zur Inszenierung der Innensicht werden hier als körperliche Deformationen innerhalb der halluzinogenen Visionen vorgestellt, wie man sie aus dem Horrorfilm kennt; sie können ebenso Ausdruck einer psychischen Störung wie ironischer Kommentar zur zeitgenössischen Mediendebatte sein.
Abb. 1: Max Renn und sein ›Bauchschlitz‹ für Videokassetten in VIDEODROME
1991 lädt BIS ANS ENDE DER WELT zu einer Reise zu den in dieser Zeit zwar möglichen, aber noch nicht gebräuchlichen Medientechnologien ein, die sich allgemein unter dem Schlagwort Digitalisierung zusammenfassen lassen und die Darstellungsgrenzen zukünftiger audiovisueller Bilder ausloten. Im Mittelpunkt steht dabei ein neues Mediensystem, das Blinden einen visuellen Eindruck von der Welt vermitteln kann. Mittels einer Kopfkamera können die visuellen Eindrücke eines Sehenden aufgezeichnet und die dabei auftretenden Hirnströme des Kameramanns so wiedergegeben werden, dass der Blinde daraus ein eigenes Bild erhält. Schließlich wird dieses Gerät zur Aufzeichnung und Wiedergabe von Träumen weiterentwickelt, was die Protagonisten allerdings in einen apathisch-narzisstischen Zustand der nicht enden wollenden Traumbetrachtung bannt. Wim Wenders hat für die Inszenierung der Innensicht auf für die damalige Zeit neueste HDTV-Technologien zurückgegriffen, die ihm von den japanischen Sony-Labors zur Verfügung gestellt worden waren.
Abb. 2: In der avanciertesten Medientechnik zeigen sich in BIS ANS ENDE DER WELT Bilder im Stil des Malers Jan Vermeer
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Dabei erscheinen ganz im Gegensatz zu den avancierten technischen Verfahren in der Innensicht Bilder, die leicht verschwommen, fehlfarben, pixelig und zugleich pointillistisch wirken und nicht zufällig an impressionistische Malerei – an Bilder eines Georges Seurat oder Jan Vermeer – erinnern (vgl. Abb. 2). Ästhetisch ältere Visionen werden mit neuen Techniken kombiniert, um die Innensicht eines futurischen Mediums zu inszenieren.
ERINNERN UND VERGESSEN Auch in Filmen wie TOTAL RECALL (P. Verhoeven, USA 1990), JOHNNY MNEMONIC (R. Longo, CDN/USA 1995) und STRANGE DAYS, die ihren thematischen Schwerpunkt stärker auf ›Erinnern‹ und ›Vergessen‹ legen, finden sich ähnliche Formen der Inszenierung der Innensicht, also der Kombination von ästhetisch älteren Medien und neuesten Darstellungstechniken in Form einer simulierten Störung, wobei Medialität auch hier wieder als finale Grenze erscheint: Als Problem wird nunmehr allerdings die Kontrolle – oder genauer gesagt: der Kontrollverlust – über die eigenen Erinnerungen begriffen. Technische Apparaturen zur Manipulation, Verbesserung oder Erweiterung des menschlichen Gedächtnisses drohen unter die Kontrolle von skrupellosen Konzernen oder mächtigen Kriminellen zu geraten und damit dem Individuum zu entgleiten. Was vorher als lebendige, persönliche Erinnerung konnotiert wurde, erstarrt in maschinellen Gedächtnisspeichern und führt zu einem Verlust der eigenen Identität, die an das persönliche, subjektive Erinnern gebunden scheint und damit eben auch an die subjektive Auswahl der Erinnerungen, d.h. auch an das Vergessen. TOTAL RECALL, vordergründig ein kommerzieller Science-Fiction-Film mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle, kann zugleich auch als Reflexion über ein futurisches Medium gesehen werden, das Erinnerungen manipuliert, die im Film sogenannte Recall-Technologie. Sie dient als billiges Surrogat, um Urlaubsreisen, die der Betroffene sich nicht leisten kann, und die damit verbundenen Erlebnisse durch ein Erinnerungsimplantat zu ersetzen. Doch die Technologie scheint außer Kontrolle zu geraten, ein Abenteuer-Trip beginnt, bei dem Wirklichkeit und manipulierte Erinnerung verschwimmen. Die Identität des Protagonisten wird ebenso in Frage gestellt wie seine Wahrnehmungsfähigkeit. Auch in JOHNNY MNEMONIC geht es um die Speicherkapazität einer digitalen Technologie, die außer Kontrolle gerät. Der Datenkurier Johnny übernimmt den Auftrag, mit einer cybertronischen Technologie ein Datenpaket mit Informationen über die illegalen Machenschaften eines Konzerns in seinem Gehirn zu speichern, was dessen Speicherkapazität jedoch übersteigt. Unmittelbar nachdem der Ladevorgang abgeschlossen ist, stürmt ein Greiftrupp des Konzerns den Ort des Geschehens. Johnny kann fliehen, wird aber von den Schergen des Konzerns verfolgt. Er hat nicht viel Zeit, da die Datenüberladung ihn zu töten droht. Auf der Flucht findet er Verbündete bei den sogenannten Lowtecs, Untergrundgruppen, die sich gegen die Macht der Konzerne zusammengeschlossen haben. Es gelingt ihnen, die Daten aus Johnnys Kopf herauszuladen und sie der Allgemeinheit im Kampf gegen die Konzerne zur Verfügung zu stellen. Die Innensicht der Datenpakete wird den persönlichen Erinnerungsfragmenten von Johnny gegenübergestellt, die –
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ähnlich wie zuvor schon in TOTAL RECALL – miteinander fusionieren, sich überlagern und gegenseitig stören. 1995 startet STRANGE DAYS – eine um wenige Jahre in die Zukunft verschobene Filmhandlung über eine SQUID genannte Technologie, mit der sich alle unmittelbaren sensorischen Eindrücke und die daran geknüpften Erinnerungen unauffällig von einer Person aufzeichnen und wieder abspielen lassen. Kathryn Bigelow spricht in ihrem Film gleich mehrere Themen an, die sich mit der neuen Technologie verbinden: von neuen Überwachungsmöglichkeiten der Polizei oder Möglichkeiten der Gegenaufklärung durch Dokumentation von Polizeiübergriffen über illegale Pornos oder Snuff-Clips bis hin zu den persönlichen Problemen der User, die sich in ihren eigenen Erinnerungen verlieren. Der Protagonist des Films, Lenny, der mit illegalen SQUID-Clips dealt, ist von den Aufzeichnungen an seine Ex-Geliebte Faith so besessen, dass er erst spät erkennt, dass Faith Teil einer mörderischen Intrige rings um ihn herum ist, die alte und neuartige Medien für die Manipulation gegen ihn, ja gegen eine ganze Gesellschaft einsetzt. Für die Inszenierung der Innensicht der SQUID-Technologie nutzt Bigelow verschiedene Verfahren, die Störungen von digitalen Medien imitieren, und kombiniert sie mit typischen Verfahren der Videoamateure der 1980er Jahre.
IMMERSION ALS STRATEGIE Ende der 1990er Jahre kommen Filme ins Kino, die sich dem Computer als Medium zuwenden, ihn aus der Perspektive von scheinbar bekannten Diskursmustern des Virtuellen, der Simulation und der Interaktion beschreiben und zu einem hollywoodtauglichen Spektakel verdichten. Die Welt erscheint darin als gigantische Computersimulation, nicht nur als Spiel, bei dem die moralischen Maßstäbe durch den Simulationscharakter fraglich werden, sondern als etwas, das sich von der Realität selbst kaum mehr unterscheiden lässt. Dabei zeigt sich, dass das vordergründige Spiel mit dem Zweifel an der Differenz von Sein und Schein eine Strategie ist, die vor allem auf die Immersion der Protagonisten und damit auch der Zuschauer zielt, welche möglichst lange an das performative Geschehen gebunden werden sollen. Die Protagonisten werden durch diesen Zweifel in das Spiel selbst hineingezogen, da der Zweifel Teil der dramaturgischen Konstruktion ist und nicht mehr deren Infragestellung. Damit wird der Zweifel der Protagonisten an der Realität (die vielleicht doch nur eine Simulation ist) zu einer Immersionsstrategie, d.h. ihre Aufmerksamkeit wird durch diese Arbeit am Zweifel gebunden. Die Inszenierung der Innensicht ist in den jeweiligen Filmen sehr unterschiedlich konstruiert. Von ostentativen Farbfiltern bis hin zu minimalen Verhaltensänderungen der Figuren reicht eine breite Palette von inszenierten Störungen, welche die ästhetische Differenz simulieren sollen. Eine Dramaturgie, die auf dem Changieren zwischen Sein und Schein basiert, findet sich etwa in NIRVANA (G. Salvatores, I/F 1997), der die Geschichte eines Entwicklers von Computerspielen erzählt, welcher entdeckt, dass eine seiner Figuren lebendig geworden ist und um Löschung bittet. Um diesen Wunsch zu erfüllen, unternimmt der Entwickler eine Reise durch düs-
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tere Stadtviertel seiner Welt und kämpft gegen einen mächtigen Softwarekonzern. 1999 starten gleich drei Filme, die ähnliche thematische Bezüge aufweisen: In EXISTENZ (D. Cronenberg, CDN/GB) begegnet man einer avancierten Form des Computerspiels, dessen Simulation von virtuellen Welten so perfekt erscheint, dass am Ende unklar bleibt, ob das Spiel nicht selbst Teil einer noch perfekteren Simulation ist. Eine ähnliche Problematik findet sich auch in THE THIRTEENTH FLOOR (J. Rusnak, D/USA), in dem die Protagonisten entdecken, dass sie nur Figuren innerhalb einer gigantischen Computersimulation sind.11 Als sie in die Realität auszubrechen versuchen, müssen sie feststellen, dass auch die ›wirkliche‹ Welt nur eine weitere Simulation auf höherer Ebene ist. Dieser Zweifel an der eigenen Realität steigert sich in THE MATRIX zum Misstrauen gegenüber einer Maschinenverschwörung in welthistorischem Maßstab. Die Maschinen haben die Weltherrschaft an sich gerissen und benötigen die Menschen nur noch als organische Energielieferanten. Um die Menschheit ruhigzustellen, wird sie in einen künstlichen Dämmerzustand versetzt, in dem man ihr mittels Computersimulation ein Leben in einer wirklichen Welt vorgaukelt – die sogenannte Matrix.
Medialitätsreflexion als Gesellschaftskritik? Auch wenn in allen filmischen Inszenierungen von futurischen Medien ein gewandeltes Bewusstsein von Medien in der Gesellschaft zum Ausdruck kommt, zeigen sich bei näherer Betrachtung zahlreiche Unterschiede, die – trotz des dystopischen Argwohns und der damit häufig verbundenen vergröberten Darstellung – differenzierte Aspekte der Medienentwicklung ansprechen. So geht es weit weniger um die Frage, ob die Medien nun eine Revolution, einen von den Medien bewirkten Umbruch der Gesellschaft herbeiführen, sondern sehr viel mehr um die Konsequenzen von neuartigen Medien für das einzelne Individuum, das in praktisch allen Filmen im Mittelpunkt steht und sich mit der Medialität seiner Wirklichkeit auseinandersetzen muss. Der Frage nach der Medienrevolution stehen so die Visionen von Innenwelten entgegen, die Zweifel der Gesellschaft an sich selbst oder an den von ihren Medien generierten Wirklichkeiten aufkommen lassen und selbst vielleicht Ausdruck eines Rückzugs in neue Formen von Innerlichkeit sind. Die einzelnen Filme entwickeln dabei höchst unterschiedliche Visionen. Daher ist bei diesen kinematografischen Projektionen neuartiger Medien die spannende Frage auch nicht, warum sie im Kino der 1980er und 1990er Jahre entstehen, sondern vielmehr die Frage, wie sie inszeniert werden. Denn dort, wo die Reflexion von Medialität den medial geformten Blick des Zuschauers thematisiert, schlägt die ästhetische Reflexion um in Gesellschaftskritik: Nicht zuletzt die Inszenierung der Innensicht als eine Form der Grenzerfahrung der Protagonisten offenbart zum einen die sichtbaren Codes des Sichtbaren, also die kulturellen Konventionen der Darstellung von Medien und ihrer Technik; zum anderen zeigt sie auch die Maßstäbe von Plausibilität und Glaubwürdigkeit, die sich als unsichtbare Codes in die Verhaltensweisen der Protagonisten und mehr noch in die spezifische ästhetische Anordnung 11 WELT AM DRAHT (R. W. Fassbinder, D 1973) kann hier als Vorläufer gelten.
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des Materials einschreiben. Diese prägen als ›Spielregeln‹ nun die gesellschaftliche Wahrnehmung von Realität mindestens ebenso wie vordergründige politische oder soziale Ideologien. Medialitätsreflexionen generieren insofern immer auch Kritik etwa am Glauben an die visuelle Evidenz des Bildes oder an technologische Möglichkeiten, die anstatt bestehende gesellschaftliche Probleme und Hierarchien zu überwinden, diese nur auf anderer Ebene reproduzieren oder gar neue, bisher nicht gekannte Probleme kreieren. So weit futurische Medien auch von der zeitgenössischen Medienrealität entfernt scheinen, so sehr führt ihre Darstellung zu einer Reflexion über Medien, welche die Maßstäbe unserer von Medien geprägten kulturellen Denkweise offenlegt.
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Autorinnen und Autoren
Adelmann, Ralf, Dr. phil., ist Akademischer Rat am Institut für Medienwissenschaften an der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Bild- und Medientheorien; Medienökonomien der Populärkultur.
Bartz, Christina, Jun.-Prof. Dr., ist Junior-Professorin für Fernsehen und digitale Medien am Institut für Medienwissenschaften der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Mediendiskurs; Massesemantik; Geschichte und Zukunft des Fernsehens.
Böhn, Andreas, Prof., ist Professor für Literaturwissenschaft/Medien am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Intertextualität und Intermedialität; Metareferenz in Literatur, Film und anderen Medien und Künsten; Erinnerung und Medialität; Komik und Normativität; Technik und Kultur.
Bohnenkamp, Björn, Dipl.-Kfm., Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Marketing und Medien an der Universität Münster. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Erfolgsfaktoren von Medienprodukten; Generation Studies; Zuschaueradressierung im Fernsehen; Consumer Culture Theory.
Diekmann, Stefanie, Prof. Dr., ist Inhaberin des Lehrstuhls für Medienkulturwissenschaft an der Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Intermediale Konstellationen; Geschichte und Theorie der Fotografie und des Films; Kino und Theater; Comics.
Distelmeyer, Jan, Dr., ist Professor für Mediengeschichte und -theorie im Kooperationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft der Fachhochschule Potsdam und Universität Potsdam. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Filmgeschichte und Filmtheorie; Ästhetik und Dispositive digitaler Medien.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Ernst, Christoph, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Fragen der Medientheorie/-philosophie; Theorie und Ästhetik analoger und digitaler Medien; Kulturanalyse und Kulturvergleich.
Fahle, Oliver, Prof. Dr., ist Professor für Filmwissenschaft mit dem Schwerpunkt Filmtheorie und Filmästhetik am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Geschichte, Theorie und Ästhetik der Bildmedien, insbesondere Film und Fernsehen; Moderner Film; Brasilianischer Film; Bildtheorie.
Glasenapp, Jörn, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls Literatur und Medien an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Literatur- und Medienkomparatistik; Literatur-, Medien- und Kulturtheorie; Filmgeschichte, -ästhetik und -theorie; Fotogeschichte, -ästhetik und -theorie.
Gotto, Lisa, Prof. Dr., ist Professorin für Filmgeschichte/Filmanalyse an der ifs, Internationale Filmschule Köln. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Filmgeschichte; Filmtheorie; Ästhetik populärer Medienkulturen.
Grampp, Sven, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Medientheorie; Space Race; Fernsehserien.
Grzeszyk, André, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Inkubator Digitale Medien an der Leuphana-Universität Lüneburg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Amok; serielles Erzählen; Film- und Fernsehgeschichte; Rezeptionsmodelle.
Hesse, Jan-Otmar, Prof. Dr., ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte des 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der Wirtschaftswissenschaften; Mediengeschichte.
Höltgen, Stefan, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Medientheorien des Fachgebiets Medienwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Archäologie des frühen Mikrocomputers; Programmiersprachen.
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Keilbach, Judith, Dr. phil., ist Assistant Professor für Fernsehgeschichte am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Universität Utrecht. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Geschichte und Theorie des Fernsehens; Verhältnis von Historiographie und Medien; Tiere; Flugzeuge; Archive.
Kirchmann, Kay, Prof. Dr., ist Professor für Medienwissenschaft am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Filmästhetik, -theorie und -geschichte, Medientheorie, Medialität und Historiographie, mediale Formen der Selbst- und Fremdreflexion, Fernsehen und Fest.
Meteling, Arno, Dr., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Deutsche Literatur des 18.-21. Jahrhunderts; Geschichte und Theorie des Films; Comicforschung; Geschichte und Theorie der Medien.
Meyer, Petra Maria, Prof. Dr. habil., ist Professorin für Kultur- und Medienwissenschaften an der Muthesius Kunsthochschule in Kiel. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Intermedialität; Medienphilosophie; Szenographie; Performance Art; Akustische Kunst.
Mielke, Christine, Dr., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Literatur und Luftkrieg; Gender im Film; Intermedialität; Erzählforschung; Fernsehgeschichte.
Nachreiner, Thomas, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Digitale Kultur; Mediengeschichte; Mediale Gedächtnisse.
Nohr, Rolf F., Prof. Dr., ist Professor für Medienästhetik/Medienkultur im Studiengang Medienwissenschaften an der HBK Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Game Studies; Evidenzverfahren; Fotofix.
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AUTORINNEN UND AUTOREN
Nowak, Lars, Prof. Dr., ist Juniorprofessor für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Visualität und Bildkulturen am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: amerikanische Filmgeschichte; Autoren- und Experimentalfilm; Intermedialität von Fotografie und Film; wissenschaftliche Foto- und Kinematografie; Kartografie.
Podrez, Peter, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität ErlangenNürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Film und Raum; Horrorfilm; Filmgeschichte; Mediale Erscheinungen der Apokalypse; Metal Studies; Game Studies.
Ruchatz, Jens, Prof. Dr., ist Professor für Medienwissenschaft mit dem Schwerpunkt Audiovisuelle Transferprozesse an der Phillips-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Medienvergleich und Medientheorie; Gattungsgeschichte des Interviews; Theorie und Geschichte der Fotografie; Zeitlichkeit der Serie; Medien und Gedächtnis; Diskursgeschichte der Medien.
Schmitz, Norbert M., Dr. phil., ist Professor für Ästhetik an der MuthesiusKunsthochschule in Kiel. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Intermedialität von bildender Kunst und Film; Ikonologie der alten und neuen Medien; Diskursgeschichte des Kunstsystems.
Schrey, Dominik, M.A., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Institut für Literaturwissenschaft des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT); Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Nostalgie und Medien; Animation Studies; Film- und Medientheorie.
Stauff, Markus, Dr. phil., ist Dozent am Department Media Studies der Universität Amsterdam. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Fernsehtheorie; Cultural Studies; Mediensport.
Thiele, Matthias, Dr. phil., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Fakultät Kulturwissenschaften der Technischen Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Portable & Mobile Media; Diskurs- und Medientheorie; Fernsehen und Normalismus; Medien und Rassismus.
AUTORINNEN UND AUTOREN
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Wagner, Hedwig, Jun.-Prof. Dr., ist Juniorprofessorin an der BauhausUniversität Weimar. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Schnittstellen von Geschlechtertheorie und Medienwissenschaft; Raumwissenschaft, insbesondere elektronische und territoriale Grenzen.
Weber, Thomas, Prof. Dr. habil., ist Professor am Institut für Medien und Kommunikation der Universität Hamburg und Projektleiter des Teilprojekts »Themen und Ästhetik« des DFG-Projekts »Geschichte des dokumentarischen Films in Deutschland 1945-2005«. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Europäische Mediengeschichte; Medienästhetik; Medientheorie; Erinnerungskultur.
Wiedenmann, Nicole, M.A., ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin und LfbA am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Fototheorie, -geschichte und -analyse; Medien und Kulturelles Gedächtnis; Politische Ikonographie; Visual History.
Wulff, Hans J., Prof. Dr., ist Professor für Medienwissenschaft an der Christian-Albrechts-Universität Kiel. Arbeitsschwerpunkte und Veröffentlichungen: Text- und Filmsemiotik; Psychologie des Films und des Fernsehens; kommunikative Strukturen der audiovisuellen Kommunikation; Gewaltdarstellung; Film und Psychiatrie; Spannungsforschung.
Film Bettina Dennerlein, Elke Frietsch (Hg.) Identitäten in Bewegung Migration im Film 2011, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1472-5
Tobias Ebbrecht Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis Filmische Narrationen des Holocaust 2011, 356 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1671-2
Christiane Hille, Julia Stenzel (Hg.) Cremaster Anatomies Medienkonvergenz bei Matthew Barney April 2014, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2132-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Film Daniel Kofahl, Gerrit Fröhlich, Lars Alberth (Hg.) Kulinarisches Kino Interdisziplinäre Perspektiven auf Essen und Trinken im Film 2013, 280 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2217-1
Niels Penke (Hg.) Der skandinavische Horrorfilm Kultur- und ästhetikgeschichtliche Perspektiven 2012, 320 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2001-6
Daniela Schulz Wenn die Musik spielt ... Der deutsche Schlagerfilm der 1950er bis 1970er Jahre 2012, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1882-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Film Micha Braun In Figuren erzählen Zu Geschichte und Erzählung bei Peter Greenaway
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Das Undenkbare filmen Atomkrieg im Kino
2012, 402 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2123-5
2013, 180 Seiten, kart., zahlr. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1995-9
Nicole Colin, Franziska Schössler, Nike Thurn (Hg.) Prekäre Obsession Minoritäten im Werk von Rainer Werner Fassbinder
Asokan Nirmalarajah Gangster Melodrama »The Sopranos« und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms
2012, 406 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1623-1
2011, 332 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1843-3
Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky, Fabian Tietke, Cecilia Valenti (Hg.) Spuren eines Dritten Kinos Zu Ästhetik, Politik und Ökonomie des World Cinema
Christian Pischel Die Orchestrierung der Empfindungen Affektpoetiken des amerikanischen Großfilms der 1990er Jahre
2013, 282 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2061-0
Henrike Hahn Verfilmte Gefühle Von »Fräulein Else« bis »Eyes Wide Shut«. Arthur Schnitzlers Texte auf der Leinwand März 2014, ca. 402 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2481-6
Hauke Haselhorst Die ewige Nachtfahrt Mythologische Archetypen und ihre Repräsentationen im Film »Lost Highway« von David Lynch
2013, 266 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2426-7
Keyvan Sarkhosh Kino der Unordnung Filmische Narration und Weltkonstitution bei Nicolas Roeg April 2014, ca. 450 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2667-4
Peter Scheinpflug Formelkino Medienwissenschaftliche Perspektiven auf die Genre-Theorie und den Giallo Februar 2014, 308 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2674-2
2013, 352 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2079-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Kathrin Audehm, Iris Clemens (Hg.)
GemeinSinn Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2013
2013, 136 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2322-2 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 14 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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