Mächte und Throne: Eine neue Geschichte des Mittelalters 9783406806261

Als das einst mächtige Römische Reich zerfiel und neue, «barbarische» Herrscher an die Macht kamen, begann im Westen Eur

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German Pages 826 Year 2023

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung
Erster Teil: Imperium (ca. 410 bis 750)
1. Römer
Klima und Eroberung
«Wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden»
Bürger und Fremde 36
Seelen zu verkaufen
Romanisierung
Von vielen Göttern zu einem Gott
Vermächtnis
2. Barbaren
«Der schrecklichste aller Krieger»
Das erste Blutvergießen
Der Sturm kehrt zurück
Ankunft der Tyrannen
Von Attila zu Odoaker
Endspiel
3. Byzantiner
Justinian und Theodora
Gesetze und Häretiker
Aufstände und Erneuerung
Die Vernichtung der Vandalen
«Gottes Prüfung»
Auflösungserscheinungen
Nach Justinian
4. Araber
Die Geburt einer Religion
Die «Rechtgeleiteten Kalifen»
Die Fitna
Die Umayyaden
Die schwarze Flagge wird gehisst
Zweiter Teil: Herrschaft (ca. 750 bis 1215)
5. Franken
Merowinger und Karolinger
«Der Vater Europas»
Von Königen zu Kaisern
Das Reich zerbricht
Die Ankunft der Nordmänner
Von den Wikingern zu den Normannen
6. Mönche
Von der Wüste auf den Berg
Auf dem Weg zu einem Goldenen Zeitalter
Wege in den Himmel
Compostela und Cluny III
Neue Puritaner
7. Ritter
Speere und Steigbügel
«El Cid»
Roland und Artus
Spannender als ein Roman
Das Vermächtnis des Rittertums
8. Kreuzfahrer
Urban II.
Der Erste Kreuzzug
Königreich des Himmels
Wiederkehr
«Ein Abscheu erregendes Unternehmen»
Feinde im Innern
Überall Kreuzfahrer
Dritter Teil: Wiedergeburt (ca. 1215 bis 1347)
9. Mongolen
Dschingis Khan
Marsch der Khane
Unter den «Tartaren»
Das Reich zerfällt
Der letzte Khan
10. Kaufleute
Ab- und Aufschwung
Aufstieg der Republiken
Weißes Gold
Geld und Macht
«Dick» Whittington
11. Gelehrte
Das Wort Gottes
Übersetzung und Renaissance
Der Aufstieg der Universitäten
«Wokeness» im Mittelalter
12. Baumeister
Die Eroberung von Wales
Festung Europa
Zwischen Himmel und Erde
Lincoln
Vom Turm zur Kuppel
Vierter Teil: Revolution (ca. 1348 bis 1527)
13. Überlebende
Eis und Keime
Nach der Flut
Würmer der Erde
Sommer des Blutes
«Weg mit den Verrätern, hinweg mit ihnen!»
14. Erneuerer
Der erste Humanist
The Good, the Bad and the Lovely
Das «Universalgenie»
Ein goldenes Zeitalter
15. Seefahrer
Heilige, Nordmänner und Seefahrer
Christoph Kolumbus
Nach Indien und darüber hinaus
Der vollendete Kreis
16. Protestanten
Der Skandal um den Ablasshandel
Die 95 Thesen
Das Urteil der Könige
«Mörderische und räuberische Rotten»
Der Sacco di Roma
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Bild- und Kartennachweis
Personenregister
Bildteil
Zum Buch
Über den Autor
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Mächte und Throne: Eine neue Geschichte des Mittelalters
 9783406806261

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Dan Jones

Mächte und Throne Eine neue Geschichte des Mittelalters

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer

C.H.Beck

Titel der englischen Originalausgabe: «Powers and Thrones. A New History of the Middle Ages» Copyright © 2021 Dan Jones Zuerst erschienen 2021 bei Head of Zeus Ltd, London

Mit 44 Abbildungen und 8 Karten 1. Auflage. 2023 Für die deutsche Ausgabe: © Verlag C.H.Beck oHG, München 2023 Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg Umschlagabbildung: Bamburgh Castle in Northumberland, England, © mauritius images/Loop Images/David J. Osborn Satz: Amann, Memmingen ISBN Buch 978 3 406 80625 4 ISBN eBook (epub) 978 3 406 80626 1 ISBN eBook (PDF) 978 3 406 80627 8

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie versandkostenfrei auf unserer Website www.chbeck.de. Dort finden Sie auch unser gesamtes Programm und viele weitere Informationen.

Für Anthony,

der an alles denkt

Was geschehen ist, eben das wird hernach sein. Was man getan hat, eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts Neues unter der Sonne. Geschieht etwas, von dem man sagen könnte: »Sieh, das ist neu«? Es ist längst vorher auch geschehen in den Zeiten, die vor uns gewesen sind. Prediger Salomo 1,9–10

Inhalt

Vorbemerkung Einleitung

13 14 Erster Teil:

Imperium (ca. 410 bis 750) 1. Römer – 20 – Klima und Eroberung  25  | «Wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden» 30  | Bürger und Fremde 36  | Seelen zu verkaufen 40  | Romanisierung 45  | Von vielen Göttern zu einem Gott 51 | Vermächtnis 55

2. Barbaren – 57 – «Der schrecklichste aller Krieger» 58  | Das erste Blutvergießen 65  | Der Sturm kehrt zurück 68  | Ankunft der Tyrannen 79  | Von Attila zu Odoaker  88 | Endspiel  97

3. Byzantiner – 103 – Justinian und Theodora 106  | Gesetze und Häretiker 109  | Aufstände und Erneuerung  116  | Die Vernichtung der Vandalen  124  | «Gottes Prüfung» 128  | Auflösungserscheinungen 132  | Nach Justinian 138

4. Araber – 143 – Die Geburt einer Religion  150  | Die «Rechtgeleiteten Kalifen»  157  | Die Fitna 163  | Die Umayyaden 170  | Die schwarze Flagge wird gehisst 183

Zweiter Teil:

Herrschaft (ca. 750 bis 1215) 5. Franken – 196 – Merowinger und Karolinger 198  | «Der Vater Europas» 205  | Von Königen zu Kaisern 217  | Das Reich zerbricht 220  | Die Ankunft der Nordmänner 227  | Von den Wikingern zu den Normannen 232

6. Mönche – 244 – Von der Wüste auf den Berg 248  | Auf dem Weg zu einem Goldenen Zeitalter 254  | Wege in den Himmel 263  | Compostela und Cluny III 266 | Neue Puritaner 276

7. Ritter – 283 – Speere und Steigbügel 288  | «El Cid» 296  | Roland und Artus 304  | Spannender als ein Roman 309  | Das Vermächtnis des Rittertums 322

8. Kreuzfahrer – 329 – Urban II. 333  | Der Erste Kreuzzug 338  | Königreich des Himmels  345  | Wiederkehr  354  | «Ein Abscheu erregendes Unternehmen»  365 | Feinde im Innern  373 | Überall Kreuzfahrer  377

Dritter Teil:

Wiedergeburt (ca. 1215 bis 1347) 9. Mongolen – 386 – Dschingis Khan 390  | Marsch der Khane 395  | Unter den «Tartaren»  402 | Das Reich zerfällt  412 | Der letzte Khan  422

10. Kauf leute – 429 – Ab- und Aufschwung  438  | Aufstieg der Republiken  442  | Weißes Gold  446 | Geld und Macht  456 | «Dick» Whittington  462

11. Gelehrte – 470 – Das Wort Gottes 479  | Übersetzung und Renaissance 486  | Der Aufstieg der Universitäten 496 | «Wokeness» im Mittelalter 507

12. Baumeister – 515 – Die Eroberung von Wales 517  | Festung Europa 526  | Zwischen Himmel und Erde  530 | Lincoln  538 | Vom Turm zur Kuppel  545

Vierter Teil:

Revolution (ca. 1348 bis 1527) 13. Überlebende – 554 – Eis und Keime  556  | Nach der Flut  565  | Würmer der Erde  572  | Sommer des Blutes 576  | «Weg mit den Verrätern, hinweg mit ihnen!» 583

14. Erneuerer – 590 – Der erste Humanist  597 | The Good, the Bad and the Lovely  604 | Das «Universalgenie»  614 | Ein goldenes Zeitalter  624

15. Seefahrer – 628 – Heilige, Nordmänner und Seefahrer 635  | Christoph Kolumbus  644  | Nach Indien und darüber hinaus  654  | Der vollendete Kreis 660

16. Protestanten – 663 – Der Skandal um den Ablasshandel 666  | Die 95 Thesen 675  | Das Urteil der Könige 681  | «Mörderische und räuberische Rotten»  688 | Der Sacco di Roma  694

Anhang

Anmerkungen Literatur Bild- und Kartennachweis Personenregister

707 751 777 779

Vorbemerkung

D

er Inhalt dieses Buches deckt über tausend Jahre ab und umfasst geografisch jeden Kontinent mit Ausnahme von Australien und der Antarktis. Beim Lesen werden Ihnen viele verschiedene Sprachen, Währungen und Kulturen begegnen. Einige werden Ihnen vertraut sein. Andere nicht. Um das Lesevergnügen nicht zu stören und nicht unnötig zu verwirren, habe ich auf ein strenges System der Währungsumrechnung oder Schreibweisen verzichtet. Stattdessen habe ich mich für das Vertraute entschieden, auch wenn das vielleicht nicht immer ganz korrekt oder stringent ist, und vor allem den gesunden Menschenverstand walten lassen. Ich hoffe, das ist in Ihrem Sinne.

Einleitung

I

m 16. Jahrhundert blickte der Historiker John Foxe auf den großen Bogen zurück, den die nahe und ferne Vergangenheit beschrieben hatte. Die Geschichte (oder Kirchengeschichte, denn ihr galt sein Hauptinteresse) konnte, so dachte Foxe, in drei große Abschnitte unterteilt werden. Sie begann mit der «primitiven Zeit», also der Antike, als sich Christen in Katakomben verstecken mussten, um der Verfolgung durch die ­bösen, heidnischen Römer zu entgehen, die sie kreuzigten oder ihnen womöglich noch Schlimmeres antaten. Und sie erreichte ihren Höhepunkt mit «unseren jüngsten Tagen», wie Foxe sie nannte – der Zeit der Reformation, als die Herrschaft der katholischen Kirche über das Leben der Menschen in Europa infrage gestellt wurde und westliche Seefahrer begannen, die Neue Welt zu erkunden. Zwischen diesen zwei Perioden lag ein sperriger Brocken von etwa tausend Jahren. Foxe nannte diese Zeit «the Middle Age», das Mittelalter. Es war per Definition weder Fisch noch Fleisch. Heute verwenden wir immer noch Foxes Bezeichnung, auch wenn sich im Englischen ein Plural-s dazugesellt hat. Für uns sind die Jahre zwischen dem Untergang des Weströmischen Reiches im 5. Jahrhundert und der Protestantischen Reformation «das Mittelalter» beziehungsweise die «Middle Ages». Alles, was mit dieser Zeit zusammenhängt, ist «mittel­ alterlich» – ein Adjektiv aus dem 19. Jahrhundert, das sich im wörtlichen Sinn auf diesen Zeitraum bezieht.1 Diese Einteilung ist praktisch unverändert geblieben. Das Mittelalter war (darin ist man sich allgemein einig) die Zeit, in der die antike Welt verschwunden war, die moderne Welt ­jedoch erst noch in die Gänge kommen musste; eine Zeit, in der die Menschen Burgen bauten und Männer in Ritterrüstungen und zu Pferd kämpften; als die Welt eine Scheibe war und weite Distanzen nur mühsam überwunden wurden. Im 21. Jahrhundert haben zwar einige global ­orientierte Historiker versucht, die Terminologie zu ändern und den Be-

Einleitung

15

griff «Middle Millennium» anstelle von Mittelalter einzuführen, sie konnten sich damit aber bislang nicht durchsetzen.2 Wörter sind häufig mit Bedeutungen überfrachtet. In dieser Hinsicht muss das Mittelalter viel aushalten, wird mit Herablassung und Spott bedacht. «Mittelalterlich» wird gern als negative Bezeichnung verwendet, vor allem von Zeitungsredakteuren, die den Begriff zusammenfassend für Dummheit, Barbarei und willkürliche Gewalt benutzen. (Eine ebenfalls beliebte Bezeichnung für diese Zeit ist «das Dunkle Zeitalter», die eine ähnliche Aufgabe erfüllt: die mittelalterliche Vergangenheit wird zur ­ewigen intellektuellen Nacht verkürzt.) Aus naheliegenden Gründen reagieren Historiker und Historikerinnen darauf ziemlich empfindlich. Verwenden Sie in ihrer Gegenwart «mittelalterlich» lieber nicht als Schimpfwort – es sei denn, Sie haben Lust auf einen Vortrag oder einen Schlagabtausch. Das Buch, das Sie vor sich haben, erzählt die Geschichte des Mittel­ alters. Es ist ein umfangreiches Buch, weil die Darstellung eines so langen Zeitraums eine umfangreiche Aufgabe ist. Wir springen über Kontinente und durch die Jahrhunderte, und das oft mit halsbrecherischer Geschwindigkeit. Wir treffen Hunderte Frauen und Männer, von Attila dem Hunnen bis zu Jeanne d ’ Arc. Und wir stürzen uns bei mindestens einem Dutzend verschiedener Themenfelder mitten ins Getümmel – von Krieg und Recht bis zu Kunst und Literatur. Ich werde einige komplexe Fragen stellen – und hoffentlich auch beantworten. Was ist im Mittelalter passiert? Wer herrschte damals? Wie sah Macht in jener Zeit aus? Welche Kräfte wirkten auf das Leben der Menschen ein? Und wie prägte das Mittelalter (wenn überhaupt) die Welt, die wir heute kennen? Das kann mitunter etwas überwältigend wirken. Aber ich verspreche Ihnen, es wird auch jede Menge Spaß machen. Das Buch ist in vier große chronologische Abschnitte unterteilt. Teil I beschäftigt sich mit dem, was ein brillanter Historiker als Inheritance of Rome, als das «Vermächtnis Roms» bezeichnet hat.3 Der Abschnitt beginnt mit dem zerfallenden Römischen Reich im Westen, das sich in einem Zustand des Niedergangs befindet, erschüttert von klimatischen Veränderungen und mehreren Wellen der Völkerwanderung, die sich über einige Generationen hinzog. Dann beschäftigen wir uns mit den sekundären

16 Einleitung

­ upermächten, die in der Nachfolge Roms entstanden – den sogenannten S «Barbarenreichen», die das Fundament für die europäischen Königreiche legten; mit dem oströmischen Superstaat Byzanz und den ersten islamischen Reichen – und gelangen so vom frühen 5. Jahrhundert bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts. Teil  II beginnt im Zeitalter der Franken, die im Westen ein christ­ liches, pseudoromanisches Herrschaftsgebiet auf den Überresten des Römischen Reiches aufbauten. Die Geschichte ist hier größtenteils, aber nicht ausschließlich politisch: Wir verfolgen nicht nur den Aufstieg der Dynastien, die in Europa christliche Königreiche aufbauten, sondern betrachten auch neue Formen der Macht; kulturelle Formen von «soft ­power», die um die erste Jahrtausendwende aufkamen. In diesem Teil des Buches wird auch gefragt, wie es dazu kam, dass Mönche und Ritter eine so wichtige Rolle in der mittelalterlichen Gesellschaft des Abendlands spielten – und wie die Fusion ihrer beiden Denkhaltungen die Kreuzzüge hervorbrachte. Teil III beginnt mit dem beeindruckenden Auftritt einer neuen globalen Supermacht. Der Aufstieg der Mongolen im 12. Jahrhundert war eine kurze, aber äußerst brutale Episode, in der ein östliches Reich – dessen Hauptstadt dort lag, wo sich heute Peking befindet – kurzzeitig die Hälfte der Welt beherrschte, auf Kosten von Millionen Menschenleben. Vor dem Hintergrund dieser dramatischen Verschiebung der globalen geopolitischen Kräfteverhältnisse betrachten wir in Teil III auch den Aufstieg anderer Mächte in einer Zeit, die als «Hochmittelalter» bezeichnet wird. Wir treffen auf Kaufleute, die außergewöhnliche neue Finanzmethoden erfanden, um sich und die Welt reicher zu machen; Gelehrte, die das Wissen der Antike wiederbelebten und einige der größten Universitäten von heute gründeten; und Architekten und Baumeister, die die Städte, Kathedralen und Burgen errichteten, die auch noch nach fünfhundert Jahren stehen und als Tor in die mittelalterliche Welt fungieren. Teil IV schließt das Mittelalter ab. Er beginnt mit einer globalen Pandemie, die die Welt heimsuchte und auf ihrem Weg von Ost nach West eine verheerende Zahl von Opfern forderte, Ökonomien neu gestaltete und die Art und Weise veränderte, wie die Menschen ihr Umfeld wahrnahmen. Anschließend sehen wir uns an, wie die Welt wiederaufgebaut

Einleitung

17

wurde. Wir treffen die Genies der Renaissance und reisen mit den großen Seefahrern, die ins Unbekannte aufbrachen, um neue Welten zu suchen – und fanden. Und zuletzt werden wir sehen, wie eine veränderte religiöse Lehre im Verbund mit neuen Kommunikationsmitteln die protestantische Reformation vorantrieb – ein Umbruch, mit dem (wie Foxe erkannte) der Vorhang für «the Middle Age» endgültig gefallen war. Das ist also die Grundstruktur meines Buches. Ich sollte jedoch noch einige Worte über seine thematischen Schwerpunkte verlieren. Wie der Titel schon sagt, geht es um Macht. Damit meine ich nicht nur politische Macht, sondern auch menschliche Macht. Wir werden vielen mächtigen Männern und Frauen begegnen (doch da es ums Mittelalter geht, werden es zwangsläufig mehr Männer als Frauen sein). Ich möchte jedoch auch Kräfte aufzeigen, die außerhalb des menschlichen Einflusses liegen. Klima­ wandel, Migration, Pandemien, technologischer Wandel und globale Netzwerke – das alles klingt sehr modern oder sogar postmodern. Doch diese Veränderungen formten auch die Welt des Mittelalters. Und da wir alle in gewisser Weise Kinder des Mittelalters sind, ist es wichtig zu erkennen, wie ähnlich wir den mittelalterlichen Menschen eigentlich sind  – ohne dabei die sehr realen und profunden Unterschiede aus den Augen zu verlieren. Mein Buch konzentriert sich hauptsächlich auf Europa und betrachtet die Geschichte anderer Teile der Welt aus einem westlichen Blickwinkel. Ich will das nicht entschuldigen. Ich bin fasziniert von der Geschichte ­Asiens und Afrikas und versuche immer wieder aufzuzeigen, wie eng der mittelalterliche Westen mit dem globalen Osten und Süden verwoben war. Doch bereits das «Mittelalter» an sich ist eine ureigene Vorstellung der westlichen Geschichtsschreibung. Zudem schreibe ich im Westen, wo ich studiert und den Großteil meines Lebens verbracht habe. Eines Tages werde ich  – oder aller Wahrscheinlichkeit nach jemand anderes  – eine ­ergänzende Geschichte des Mittelalters schreiben, die die bisherige Per­ spektive auf den Kopf stellen und die Epoche «von außen» betrachten wird.4 Aber noch ist es nicht so weit. Nun wissen Sie, was Sie erwartet. Und wie bereits erwähnt, ist es ein dickes Buch. Und doch ist es eigentlich viel zu kurz. Ich beschreibe über tausend Jahre Geschichte auf weniger als tausend Seiten. Jedes Kapitel ist

18 Einleitung

einem kompletten Themenbereich gewidmet. (Die Anmerkungen und die Bibliografie werden Ihnen helfen, tiefer in die Bereiche einzutauchen, die Sie besonders interessieren.) Es gibt also viel zu erfahren, aber leider auch vieles, das nicht berücksichtigt werden konnte. Ich kann nur sagen, dass ich mit all meinen Büchern das Ziel verfolge, meine Leser nicht nur zu informieren, sondern auch zu unterhalten. Wenn dieses Buch ein bisschen von beidem schafft, würde mich das sehr freuen. Dan Jones Staines-upon-Thames Im Frühjahr 2021

Erster Teil

Imperium Ca. 410 bis 750

1.

Römer «Überall … geht der Name des römischen Volkes mit Bewunderung und Staunen einher» Ammianus Marcellinus, römischer Historiker und Soldat

S

ie ließen die sichere Straße hinter sich und marschierten in die Wildnis. Zu zweit schleppten sie die schwere Holztruhe. Vermutlich spürten sie die Anstrengung auf den 2 Meilen, die sie im unebenen Gelände zurücklegten, bei jedem Schritt – die Truhe maß zwar weniger als einen Meter in der Länge, war aber solide gebaut, bis zum Rand vollgepackt und mit einem großen silbernen Riegelschloss versehen. Zum Tragen benötigte man auch über kurze Strecken mindestens zwei Leute oder einen kleinen Karren, denn die Truhe wog samt Inhalt so viel wie ein halber Mensch.1 Doch der Inhalt war weit mehr wert. Ein aus Gallien importierter Sklave, über die Britische See (Oceanus Britannicus – heute der Ärmelkanal) transportiert und auf dem Markt in London (Londinium) zu Geld gemacht, kostete damals um die 600 denarii – vorausgesetzt, er oder sie war körperlich fit, jung und entweder fleißig oder gut aussehend. Das war nicht wenig: etwa doppelt so viel wie der jährliche Sold eines gewöhnlichen Legionärs.2 Also viel und dennoch verschwindend wenig für einen Angehörigen der römischen Elite im 5. Jahrhundert. In der Eichentruhe, die beim Transport durch das leicht ansteigende Gelände leise knarrte, befand sich ein Vermögen, das ausgereicht hätte, um einen ganzen Haushalt an Sklaven zu bezahlen. Die kostbare Fracht umfasste fast 600  Goldmünzen, sogenannte ­solidi. Sie klirrten gegen 15 000 silberne siliquae und mehrere Handvoll

Römer

21

Bronzemünzen. Auf den Münzen waren die Porträts verschiedener Kaiser aus drei Dynastien abgebildet, der aktuellste war Konstantin  III . (reg. 407/409–411), der sich von seinen Truppen in Britannien zum Kaiser hatte ausrufen lassen, sich aber nicht lange halten konnte. Geborgen zwischen den Münzen lagen noch größere Schätze: prächtige goldene Halsketten, Ringe, Armreifen und modische Brustketten, die die Kurven einer schlanken jungen Frau schmücken sollten; Ohrringe mit geome­ trischen Mustern oder eingravierten Jagdszenen; silberne Teller und Löffel sowie Pfefferstreuer in Form wilder Tiere, antiker Helden und Kaiserinnen; elegante Artikel zur Körperpflege, wie silberne Ohrreiniger und Zahnstocher in Form langhalsiger Ibisse; Schalen, Becher und Krüge und ein Döschen aus Elfenbein – die Art von Schmuck, die reiche Männer wie Aurelius Ursicinus, dessen Name auf vielen Gegenständen eingraviert ist, für edle Damen wie Juliane (Iuliane) kauften. Ein hübsches goldenes Armband trägt eine liebevolle Inschrift, die Buchstaben bestehen aus schmalen gehämmerten Goldstreifen zwischen geschlungenen Ranken: VTERE FELIX DOMINA IVLIANE, also etwa «Der Herrin Juliane zum glücklichen Gebrauch». Zehn Silberlöffel künden vom Glauben ihrer Besitzer, einer jungen, aber in jener Zeit stark um sich greifenden Religion: Sie zeigen das Symbol Chi-Rho  – das Christus­ monogramm aus den beiden ersten griechischen Buchstaben im Wort «Christus». Ihre Glaubensbrüder und -schwestern – als Teil einer Gemeinschaft, die sich von Britannien und Irland (Hibernia) bis nach Nordafrika und in den Nahen Osten erstreckte – hätten das Symbol sofort erkannt.3 Der Schatz aus Münzen, Schmuck und Haushaltsgegenständen war keineswegs das Gesamtvermögen der Familie. Aurelius und Juliane waren Mitglieder einer kleinen, unglaublich reichen christlichen Elite in Britannien, einer High Society, die ähnlich komfortabel und prunkvoll lebte wie die übrigen Mitglieder der römischen Elite in ganz Europa und im Mittelmeerraum. Doch für einen «Notgroschen» war der Schatz sehr beachtlich – und die Familie hatte sich einige Mühe bei der Auswahl gemacht. Mit gutem Grund, denn der Schatz war als ihre Lebensversicherung gedacht. Die Familie hatte die Anweisung erteilt, ihn an einem geheimen Ort zu

22

Erster Teil: Imperium

vergraben, weil die politische Lage in Britannien immer instabiler wurde und zu befürchten war, dass es zum Zusammenbruch der Regierung, ­einem Aufstand in der Bevölkerung oder noch Schlimmerem kommen könnte. Nur die Zeit würde zeigen, was das Schicksal für die Provinz ­bereithielt. Einstweilen war das Vermögen einer wohlhabenden Familie am besten unter der Erde aufgehoben. Das geschäftige Treiben der Straße – die die im Osten gelegene Stadt Caister-by-Norwich (Venta Icenorum) mit der Hauptroute von London nach Colchester (Camulodunum) verband – war längst in der Ferne verklungen, und die kleine Gruppe, die die Truhe schleppte, war allein und allen Blicken entzogen. Die Träger waren so weit gegangen, dass die nächste Stadt  – Scole  – über 3  Kilometer entfernt war. Zufrieden mit ­ihrem Standort setzten sie die Truhe ab. Vielleicht rasteten sie eine Weile, vielleicht warteten sie sogar bis zum Einbruch der Dunkelheit. Doch irgendwann stießen sie ihre Schaufeln in die Erde – eine Mischung aus Lehm und sandigem Schotter – und hoben eine Grube aus.4 Sie mussten nicht allzu tief graben – kein Grund, sich unnötig zu verausgaben, damit würden sie sich später nur mehr Arbeit machen. Als das Loch etwa einen ­Meter tief war, ließen sie die Truhe vorsichtig hinab und bedeckten sie wieder mit Erde. Die massive Eichentruhe, die Aurelius ’ Löffel und Silberschalen, Julianes kunstvollen Schmuck und viele wertvolle Münzen enthielt, verschwand im Boden: wie Grabbeigaben, kostbare Besitztümer der Toten, die vor vielen Generationen, an deren Zeit man sich nur dunkel erinnerte, zusammen mit ihren Eigentümern zur letzten Ruhe gebettet worden ­waren. Die Grabenden prägten sich die Stelle gut ein und brachen dann auf, erleichtert im doppelten Wortsinn. Sie würden, so dachten sie wahrscheinlich, zurückkehren. Wann? Das war schwer zu sagen. Doch wenn die politischen Stürme, die über Britannien hinwegfegten, nachgelassen hatten, wenn die barbarischen Eindringlinge, die die Ostküste mit ermüdender Regelmäßigkeit attackierten, endgültig vertrieben waren und die römischen Soldaten von ihren Kriegen in Gallien zurückkehrten, dann würde ihr Herr Aurelius sie sicher wieder hierher schicken, um die Truhe mit ihrem kostbaren Inhalt auszugraben. Im Jahr 409 wussten sie nicht – und konnten es sich vermutlich auch nicht vorstellen –, dass der Schatz

Römer

23

von Aurelius Ursicinus fast tausendsechshundert Jahre lang im Boden verborgen bleiben würde.* Zu Beginn des 5. Jahrhunderts war Britannien der äußerste nördliche Zipfel des Römischen Reiches, einer Supermacht mit einer über tausendjährigen ruhmreichen Geschichte. Rom begann als Monarchie in der ­Eisenzeit – laut Überlieferung wurde Rom 753 v. Chr. gegründet –, doch nach der Herrschaft von sieben Königen (die sich den römischen Sagen zufolge immer mehr zu Tyrannen entwickelten) wurde der letzte König 509 v. Chr. vom Volk vertrieben und Rom wurde zur Republik. Noch später, im 1. Jahrhundert n. Chr., wurde auch die Republik beseitigt, und Rom wurde fortan von Kaisern regiert: Zunächst herrschte ein einzelner Kaiser in Rom, doch später regierten bis zu vier Kaiser gleichzeitig in verschie­ denen Hauptstädten, darunter Mailand, Ravenna und Konstantinopel. Der vierte römische Kaiser, Claudius (reg. 41–54  n. Chr.), begann im Jahr 43 mit der Eroberung Britanniens und griff die Einheimischen mit einer ­Armee von zwanzigtausend römischen Legionären und einer entsprechenden Kriegsmaschinerie an, zu der auch Kriegselefanten gehörten. ­Gegen Ende des 1. Jahrhunderts war ein Großteil Südbritanniens erobert, das Gebiet der Römer reichte bis hinauf zu einer militarisierten Zone im Norden, die schließlich durch den Hadrianswall abgegrenzt wurde. Fortan war Britannien keine geheimnisumwobene Region mehr an den Grenzen der bekannten Welt, sondern ein Territorium, das weitgehend befriedet und einem mediterranen Superstaat einverleibt worden war. In den folgenden dreieinhalb Jahrhunderten wurde Britannien in das Römische Reich eingegliedert: ein politisches Monstrum, mit dessen Größe, Entwicklungsniveau, militärischer Stärke und Langlebigkeit es nur die persischen Reiche der Parther und Sassaniden und das Reich der chinesischen Han-Dynastie aufnehmen konnten. Ammianus Marcellinus, ein in Antiochia geborener Geschichtsschreiber, der im 4. Jahrhundert n. Chr. lebte

* Der Schatz ist heute als Hortfund von Hoxne [«Hoxon» ausgesprochen] bekannt. Er wurde 1992 mit einem Metalldetektor gefunden, weil ein Landwirt auf der Suche nach seinem verlorenen Hammer war, und befindet sich heute im British Museum in London.

24

Erster Teil: Imperium

und arbeitete, bezeichnete Rom als «eine Stadt, die vom Schicksal dazu erkoren wurde, fortzubestehen, solange es Menschen gibt». Derweil hatte die ehrwürdige Stadt «die stolzen Nacken wilder Stämme gebeugt, Gesetze erlassen und damit ewige Grundlagen und Stützen der Freiheit geschaffen».5 Das klingt nach Übertreibung – allerdings weniger, als man annehmen würde. Ammianus Marcellinus war keineswegs der einzige seriöse römische Geschichtsschreiber, der angesichts von Rom und dem Römischen Reich eine lange Reihe von Triumphen sah, die vom Dämmerlicht der Frühgeschichte bis in alle Ewigkeit reichten.6 Dichter und Historiker wie Vergil, Horaz, Ovid und Livius betonten die Überlegenheit der römischen Bürger und beschrieben epochale Persönlichkeiten der kaiserlichen Geschichte. In Vergils Aeneis, die den Römern einen magischen Gründungsmythos gab, ist die Rede von einem Reich, dem «Herrschaft ohn End ’ verliehn» wurde, und vom römischen Volk, «den Beherrschern der Welt, den toga-umwallten».7 Livius wiederum schrieb: «Einen Römer bezeichnen große Thaten und große Leiden.»8 Vier Jahrhunderte später konnte Marcellinus, obwohl das Reich zwischenzeitlich von Bürgerkriegen, Usurpatoren, Attentaten, Invasionen, politischen Spaltungen und Epidemien heimgesucht worden und beinahe bankrottgegangen war, immer noch behaupten: «Rom wird über alle Küsten und Erdteile hin als Herrin und Königin anerkannt, überall hält man das mit Würde gepaarte Greisenalter der Senatoren in Ehren, und des Römervolkes Name genießt Achtung und Auszeichnung.»9 Doch bereits eine Generation, nachdem Marcellinus diese Lobeshymnen verfasst hatte, stand das Reich kurz vor dem Zusammenbruch: Überall gaben römische Garnisonen und politische Herrscher Gebiete auf, die sie und ihre Vorfahren seit Beginn des Jahrtausends besetzt und beherrscht hatten. In Britannien verloren die Römer in den Jahren 409/410 die Kon­ trolle und konnten sie nie wieder herstellen. Der Schock über das abrupte Ausscheiden Britanniens aus dieser paneuropäischen Union war der Auslöser dafür, dass Angehörige der Elite wie Aurelius Ursicinus und Juliane ihre Reichtümer zusammenpackten und im Boden vergruben, eine finanzielle Absicherung, die unbeabsichtigt zur Zeitkapsel wurde, in der das Ende einer Ära erhalten blieb. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts war das

Römer

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­Römische Reich im Westen Geschichte. Sein Zerfall und Untergang brachten, wie der große, im 18. Jahrhundert lebende Historiker Edward Gibbon schrieb, eine «Umwälzung, die immer im Gedächtnis der Nationen dieser Erde bleiben wird und dessen Einfluss sie noch heute spüren».10 Der Nieder- und Untergang des Weströmischen Reiches ist ein historisches Phänomen, das moderne Historiker seit Jahrhunderten beschäftigt, denn das Vermächtnis Roms ist auch heute noch jeden Tag präsent, in unserer Sprache, unserer Landschaft, im Recht und in der Kultur. Und wenn Rom noch im 21. Jahrhundert zu uns spricht, dann war seine Stimme im Mittelalter noch viel lauter zu hören – der Epoche, die wir in diesem Buch erkunden wollen. Im nächsten Kapitel werden wir das Ende des ­Römischen Reiches genauer betrachten. Doch zunächst sollten wir uns mit seinem Aufstieg (oder vielmehr seiner Verwandlung von der Republik zum Weltreich) im 1. Jahrhundert v. Chr. beschäftigen. Denn wenn wir die Geschichte des Abendlands im Mittelalter verstehen wollen, müssen wir zuerst fragen, wie und warum es dem Ewigen Rom (Roma aeterna) gelang, über ein Reich zu herrschen, das drei Kontinente miteinander verband und unzählige Völker mit ganz unterschiedlichen Religionen und Traditionen und einer ähnlichen Unzahl von Sprachen zusammenbrachte; ein Reich aus umherziehenden Stämmen, Bauern auf dem Land und Eliten in der Stadt; ein Reich, das sich von den pulsierenden Zentren der antiken Kultur bis zu den Rändern der bekannten Welt erstreckte.

Klima und Eroberung Die Römer erzählten einander gern, dass die Götter es besonders gut mit ihnen meinten. Tatsächlich waren sie über einen Großteil ihrer Geschichte mit gutem Wetter gesegnet. Von 200 v. Chr. bis 150 n. Chr. – der Blütezeit Roms als Republik und dann als Reich  – herrschten im Westen sehr angenehme und für die Landwirtschaft günstige klimatische Verhältnisse. Fast vier Jahrhunderte lang gab es keine massiven Vulkanausbrüche, die von Zeit zu Zeit zu einem weltweiten Temperaturrückgang führen; auch die Sonnenaktivität war in jener Periode hoch und stabil.11 Westeuropa und der Mittelmeerraum profitierten von einer Reihe

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Erster Teil: Imperium

ungewöhnlich warmer und angenehmer Jahrzehnte, die noch dazu aus­ reichend Niedersachlag boten.12 Pflanzen und Tiere gediehen: Elefanten streiften durch die Wälder des Atlasgebirges, während Rebstöcke und Olivenbäume so weit im Norden kultiviert werden konnten, wie man es in der Geschichte der Menschheit noch nicht erlebt hatte. Landstriche, die zu anderen Zeiten karg und kaum zu bewirtschaften waren, konnten unter den Pflug genommen werden; und die Ernten auf traditionell «gutem» Boden steigerten sich enorm. Diese segensreichen Jahre, in denen die ­Natur ihre Gaben großzügig all jenen schenkte, die bereit und in der Lage waren, die Gelegenheit zu nutzen, wird heute Klimaoptimum der Römerzeit (Roman Climate Optimum, RCO ) oder Römische Warmzeit genannt. Offiziell zum Kaiserreich wurde Rom am 16. Januar 27 v. Chr., als der Senat Octavian – einem Adoptivsohn Julius Cäsars – den Titel Augustus verlieh. Davor hatte die Republik zwei Jahrzehnte lang unter blutigen Bürgerkriegen gelitten, in deren Verlauf Cäsar 49 v. Chr. die Macht errungen und dann als militärischer Diktator geherrscht hatte. Doch Cäsar war als Autokrat zwar ein Geschöpf seiner Zeit, ihr aber auch gleichzeitig ­voraus. Am 15. März 44 v. Chr. – den Iden des März – wurde er ermordet, eine unmittelbare Folge, wie der römische Schriftsteller und Verwaltungsbeamte Sueton (um 70–130 n. Chr.) schreibt, seines grenzenlosen Ehrgeizes, in dem viele Römer den Wunsch sahen, die Monarchie wiederzubeleben. «Die ständige Ausübung der Macht gab Cäsar die Liebe dazu», schrieb Sueton und wiederholte ein Gerücht, das besagte, Cäsar habe als junger Mann davon geträumt, seiner eigenen Mutter Gewalt anzutun, was Wahrsager als eindeutiges Zeichen dafür interpretierten, dass damit «seine Herrschaft über die ganze Welt prophezeit werde».13 Cäsars Bestimmung war der Ruhm, doch wahre Größe erreichte erst Octavian. «Imperium» stand ihm quasi ins Gesicht geschrieben: Seine strahlenden Augen und sein gutes Aussehen wurden durch seine zerzauste und etwas ungepflegte Erscheinung sogar noch betont. Man könnte meinen, er sei gänzlich uneitel gewesen, allerdings trug er Schuhe mit ­hohen Sohlen, um größer als seine natürlichen 1,70  Meter zu wirken.14 Octavian hatte dort Erfolg, wo Cäsar gescheitert war: Er rächte den Tod seines Vaters, besiegte seine Feinde in der Schlacht und wurde schließlich zum alleinigen, unangefochtenen Herrscher Roms. Als Augustus zog er

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die ursprünglich aus gutem Grund voneinander getrennten politischen Ämter der Republik auf sich und war Senator, Konsul und Tribun, pontifex maximus (Hohepriester) und oberster militärischer Befehlshaber in ­einer Person. Bei der Beurteilung seines Charakters waren sich schon die Römer nicht einig – war er ein Visionär mit den besten Absichten und ein unvergleichlicher Soldat und Politiker in Personalunion oder ein korrupter, blutrünstiger und verräterischer Tyrann, fragte etwa der Historiker Tacitus (um 58–116 n. Chr.), ohne sich selbst auf ein Urteil festzulegen.15 Doch seine Leistungen als Kaiser  – oder als «Erster Bürger» (princeps ­civitatis*), wie er sich selbst gerne nannte – sind nicht von der Hand zu weisen. Mit seiner Machtübernahme beendete er den immer wieder aufflackernden kräftezehrenden Bürgerkrieg in der späten Republik. Dank grandioser Bauprojekte (einige davon waren bereits unter Cäsar in Auftrag gegeben worden) entwickelte sich Rom unter Augustus zu einer prächtigen Stadt. Das 250 Hektar große Marsfeld (Campus Martius), ein ehemaliges militärisches Übungsgelände, auf dem verstreut einige Tempel und Monumente standen, wurde radikal umstrukturiert. Neue Theater, Aquädukte und Straßen wurden in Auftrag gegeben. Nur die besten Baumaterialien waren gut genug: Auf seinem Totenbett soll Augustus sich gerühmt haben, er habe eine Stadt aus Ziegeln vorgefunden, aber eine Stadt aus Marmor hinterlassen.16 Er führte grundlegende Reformen durch, entzog dem Senat Macht, um sie in seinen eigenen Händen zu konzentrieren, und förderte einen Personenkult von imperialer Pracht, der sich unter ­seinen Nachfolgern weiterentwickelte, bis einige Kaiser als Halbgötter verehrt wurden. Als Augustus am 19. August 14 n. Chr. im hohen Alter von 75 Jahren starb, hatte sich das Römische Reich enorm ausgedehnt, war befriedet und reformiert worden. Britannien war immer noch eine unerschlossene Wildnis (Cäsar war bei seinem Besuch 55 bis 54 v. Chr. vor einer vollstän­ digen Eroberung zurückgeschreckt, und auch sein Adoptivsohn ließ die

* Die ersten 300 Jahre des Römischen Reichs werden nach dem von Augustus bevorzugten Titel auch als Prinzipat bezeichnet.

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Das Römische Reich in seiner größten Ausdehnung

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Erster Teil: Imperium

Britannier in Ruhe). Das frühe Römische Reich umfasste ganz Italien und die Iberische Halbinsel, Gallien (das heutige Frankreich), Südosteuropa bis zur Donau, einen Großteil des Balkans und Kleinasiens, einen breiten Abschnitt der Levantinischen Küste von Antiochia im Norden bis nach Gaza im Süden, die immens reiche Provinz Ägypten (Aegyptus), die Augus­tus im berühmten Krieg gegen die letzte Herrscherin des Ptolemäer­ reiches Kleopatra und ihren Geliebten Marcus Antonius erobert hatte, und einen weiteren Teil der Küste Nordafrikas Richtung Westen bis ­Numidien (das heutige Algerien). Darüber hinaus war der Boden bereitet für eine noch größere Expansion im darauffolgenden Jahrhundert. Rom war die einzige Macht in der Geschichte, die über jede Küste des Mittelmeers herrschte und dieses Gebiet zusätzlich um einen breiten Saum erweiterte, der viele Kilometer weit ins Inland reichte. Auf dem Höhepunkt seiner Ausdehnung unter Kaiser Trajan (um 98–117 n. Chr.), der Dacia eroberte (das heutige Rumänien), erstreckte sich das Römische Reich über 5 Millionen Quadratkilometer, vom Hadrianswall im Norden Englands bis zu den Ufern des Flusses Tigris. Ein Viertel der Weltbevölkerung lebte unter römischer Herrschaft. Dieses riesige Gebiet wurde nicht nur erobert, sondern neu organisiert und mit den entscheidenden Merkmalen der römischen Zivilisation versehen. Ein kolossales Gebilde, zentral gelenkt, an den Rändern erbittert verteidigt und innerhalb seiner Grenzen akkurat verwaltet, technisch fortschrittlich und mit effizienten Verbindungen innerhalb des Reiches und zur übrigen Welt ausgestattet (wenn auch nicht gerade ­tolerant und frei) – das war Rom auf dem Höhepunkt seiner Macht.

«Wo sie eine Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden» Was waren nun die charakteristischen Merkmale des Römischen Reiches? Außenstehenden fiel zunächst Roms außergewöhnliche und anhaltende militärische Stärke auf. Die Kriegerkultur prägte auch die Politik. Zur Zeit der Republik war die Wahl in ein Amt mehr oder weniger vom geleisteten Militärdienst abhängig; umgekehrt musste man, um ein mili­ tärisches Kommando zu erhalten, zuvor ein politisches Amt innegehabt haben. Es überrascht daher kaum, dass viele der größten historischen

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Leistungen Roms auf dem Schlachtfeld errungen wurden. Der Staats­ apparat stützte sich auf ein professionelles stehendes Heer (und bestand nicht zuletzt auch wegen des Militärs). Dieses Heer zählte am Ende der Regierungszeit des Kaisers Augustus etwa eine Viertelmillion Mann und konnte zu seinen Glanzzeiten im frühen 3. Jahrhundert n. Chr. vierhundertfünfzigtausend Soldaten im gesamten Reich aufbieten. Die Legionen, die jeweils aus fünftausend Soldaten der schweren Infanterie bestanden und aus der römischen Bürgerschaft rekrutiert wurden, wurden von Hilfstruppen (auxilia) der großen nichtrömischen Bevölkerung in den Provinzen und von Söldnern (numeri) unterstützt, die bei den «Barbaren» außerhalb der Reichsgrenzen angeworben wurden. (In der Spätzeit des Reiches sollten diese barbarischen Kontingente dann das römische Heer dominieren.) Die römische Flotte umfasste weitere fünfzigtausend Mann. Der Unterhalt der Truppen, die über Millionen Quadratkilometer von der Nordsee bis zum Kaspischen Meer stationiert waren, verschlang jedes Jahr zwischen 2 und 4  Prozent des Bruttoinlandsprodukts; über die Hälfte des Staatshaushalts wurde für das Militär ausgegeben.* Es gab Zeiten – in den letzten Tagen der Republik im 1. Jahrhundert v. Chr. und unter den vielen unrühmlichen Kaisern, die während der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts regierten –, in denen das römische Militär gegen das Prinzip der imperialen Harmonie arbeitete. Doch ohne das ­römische Militär hätte es überhaupt kein Reich gegeben.

* Zum Vergleich: Derzeit verfügen die USA über den mit Abstand größten Sicherheits- und Verteidigungshaushalt der Welt, und im Verhältnis zum BIP liegen die amerikanischen Militärausgaben auf einer Höhe mit denen des Römischen Reiches: rund 3,1 Prozent. Das ist zwar eine Menge Geld, das für Drohnen, Panzer und Truppen ausgegeben wird, doch 3,1  Prozent des amerikanischen BIP entsprechen nur etwa 15 Prozent des jährlichen Bundeshaushalts. Mit anderen Worten: Die römischen Kaiser gaben drei- oder viermal so viel ihres verfügbaren Einkommens für das Militär aus wie die amerikanischen Präsidenten der letzten Jahre. Was jedoch die ­relative Einsatzfähigkeit und das Eskalationspotenzial betrifft – wenn man so will: die Fähigkeit, einen Raketenwerfer zu einem Faustkampf mitzubringen –, nehmen die modernen USA eine ähnliche Stellung in der Welt ein wie das Römische Reich im 1. Jahrhundert n. Chr. Mit solchen Mächten sollte man sich also lieber nicht ­anlegen.

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Erster Teil: Imperium

«Dein sei, Römer», schrieb Vergil (70–19 v. Chr.), «das Amt, als Herrscher die Völker zu zügeln. Dies ist die Kunst, die dir ziemt, die Gesetze des Friedens zu schreiben, dem, der gehorcht, zu verzeihn, Hoffärtige niederzukämpfen!»17 Mit der Größe des römischen Militärs, seiner Schnelligkeit, technischen Überlegenheit, seinem taktischen Geschick und seiner gefürchteten Disziplin konnte keine andere Macht der damaligen Zeit mithalten, weshalb Vergils hochgesteckte Ziele durchaus möglich schienen. Der typische römische Soldat verpflichtete sich für mindestens zehn Jahre zum Militärdienst; vor dem 3. Jahrhundert n. Chr. erhielt man, wenn man fünfundzwanzig Jahre bei den Hilfstruppen gedient hatte, das volle römische Bürgerrecht. Der Sold war angemessen, die möglichen Aufgaben zahlreich und vielseitig. Neben der Infanterie, die für den Kampf mit dem Kurzschwert, dem langen, gebogenen Schild und dem Speer ausgebildet war, verfügte das römische Militär auch über Reiter, Artillerie, Sanitäter, Musiker, Verwaltungsbeamte und Ingenieure. Es herrschte eine ausgeprägte Kultur der Belohnungen und Ehrungen für herausragende Leis­ tungen, aber auch eine brutale, strenge Disziplin, die mit Prügelstrafen, Hungern und gelegentlichen Hinrichtungen aufrechterhalten wurde. Der griechische Geschichtsschreiber Polybios, der im 2. Jahrhundert  v. Chr. eine detaillierte Geschichte Roms verfasste, berichtete, dass Soldaten, die in der Schlacht die Flucht ergriffen, mit einem fustuarium supplicum bestraft werden konnten: dabei wurde ein Soldat von den Kameraden seiner Einheit mit Knüppeln zu Tode geprügelt oder gesteinigt.18 Wenn eine ganze Einheit der Feigheit oder des Ungehorsams bezichtigt wurde, drohte die sogenannte Dezimierung (decimatio): Dabei wurde jeder zehnte Soldat ausgewählt und von seinen Kameraden mit Knüppeln erschlagen. In republikanischer Zeit hatten die Legionen die römische Hegemonie im Mittelmeerraum mit einer Reihe von Kriegen für die kommenden Jahrhunderte dauerhaft gesichert – sie hatten die Makedonier, die Seleukiden und (in den vermutlich berühmtesten Schlachten) die Karthager besiegt, deren großer General Hannibal 218 v. Chr. mit Elefanten über die Alpen gezogen war und der größten Armee, die Rom je aufgeboten hatte, 216 v. Chr. in der Schlacht von Cannae eine vernichtende Niederlage beigebracht hatte. Die Republik konnte er am Ende aber trotzdem nicht besiegen. Später sollten die Karthager Hannibals Vorstoß noch bitter be-

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reuen: Dafür, dass sie es gewagt hatten, Rom die Stirn zu bieten, wurde ihre geschichtsträchtige Hauptstadt Karthago nach dem Dritten Punischen Krieg 146 v. Chr. dem Erdboden gleichgemacht. (Im gleichen Jahr wurde auf einem anderen Kriegsschauplatz die antike griechische Stadt Korinth geplündert und geschleift.) Zusammengenommen zeigen diese Kriege die langfristige Überlegenheit des römischen Militärs, die auch während der Kaiserzeit fortbestand. Einer römischen Armee im Feld gegenüberzustehen, erforderte auf jeden Fall Mut – wie ein Beispiel aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zeigt, als die römische Armee bei der Invasion und Unterwerfung Britanniens ihre Schlagkraft unter Beweis stellte. Julius Cäsar unternahm 55 und 54 v. Chr. die ersten militärischen Vorstöße zur Erkundung der Britischen Inseln. Britannien war für die Römer ein attraktives Ziel, das im Südosten fruchtbaren Ackerboden und im Westen reiche Zinn-, Kupfer-, Blei-, Silber- und Goldvorkommen versprach. Die Insel bot jedoch auch rebellischen Galliern Zuflucht, die sich der römischen Herrschaft entziehen wollten; außerdem war allein schon die Aussicht, eine Inselgruppe zu erobern, die damals am Rand der navigierbaren Welt lag, mit großem Prestige verbunden. Cäsars Vorstöße wurden von der Kampfbereitschaft der Einheimischen und dem schlechten Wetter vereitelt, doch ein Jahrhundert später, im Jahr 43 n. Chr. unter der Herrschaft des Kaisers Claudius, führten vier Legionen eine Invasion zu Lande und zu Wasser durch und brachen damit einen Besatzungskrieg vom Zaun, der immer wieder aufflackerte und fast ein halbes Jahrhundert andauerte. Stämme wie die Icener, die unter Führung der Kriegerkönigin Boudicca 60 und 61 n. Chr. rebellierten, wurden nach ihrer Niederlage mit extrem harten Vergeltungsmaßnahmen bestraft und praktisch ausgelöscht. Andere konnten mit den Römern verhandeln und schlossen Abkommen. Für Britannien und seine Bewohner brach nun eine neue Zeit an. Die Unbarmherzigkeit, mit der das römische Militär Britannien eroberte und befriedete, machte die Römer stolz. Tacitus fasste ihre Haltung lakonisch in einer berühmten Rede zusammen, die er dem kaledonischen Heerführer Calgacus vor einer Schlacht gegen eine römische Armee unter Gnaeus ­Julius Agricola (der zufällig auch Tacitus ’ Schwiegervater war) in den Mund legte:

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Erster Teil: Imperium Plünderer des Erdballs, durchstöbern sie, nachdem den alles Verwüstenden die Länder fehlten, jetzt auch noch das Meer: Ist der Feind begütert, sind sie habgierig, ist er arm, sind sie ehrsüchtig; sie, die nicht der Orient, nicht der Okzident gesättigt hat. Als einzige von allen begehren sie Schätze und Mangel mit der gleichen Leidenschaft. Stehlen, Morden, Rauben nennen sie mit falschem Namen Herrschaft, und wo sie Einöde schaffen, sprechen sie von Frieden.19

Kurz nachdem Calgacus ’ Männer diese Ansprache gehört hatten, flohen sie Hals über Kopf vor Agricolas Legionären, Hilfstruppen und Reitern – «ein großartiges und blutiges Schauspiel», wie Tacitus schrieb. «Scharen von Bewaffneten» hätten dem Feind den Rücken gekehrt. «Überall ­Waffen, Leichen, zerfetzte Gliedmaßen, blutiger Boden.» In der Nacht zogen die römischen Soldaten ab, doch: «Die Britannier, umherstreifend, schleppten unter dem vermischten Wehklagen von Männern und Frauen die Verwundeten weg, riefen die Unversehrten, verließen ihre Häuser … Der nächste Tag legte den Anblick des Sieges in voller Breite offen: Stille und Wüste überall, verlassene Hügel, in der Ferne rauchende Häuser …»20 Calgacus hatte das Schicksal seiner Kampfgefährten präzise vorhergesagt und dabei die Erfahrungen gemacht, die im Laufe der Jahrhunderte schon unzählige andere Anführer am Rand des Römischen Reiches gemacht hatten. Selbst wenn die Legionen in einen Hinterhalt gerieten oder besiegt wurden – was gelegentlich vorkam, ob in Britannien, Gallien, Germanien, Dacia, Palästina oder anderswo  –, reichten die Verluste selten aus, um die Römer komplett zu vertreiben. Die militärische Hegemonie der Römer basierte nicht zuletzt auch auf der Fähigkeit, Niederlagen wegzustecken, Konflikte zu eskalieren und gnadenlos Rache zu nehmen; Rom verlor viele Schlachten, aber sehr wenige Kriege. Zusätzlich errang das römische Militär viele Siege, bei denen kein Schwert geführt, kein Speer geschleudert und kein Blut vergossen wurde. Der Vorteil einer unerreichbaren Übermacht auf dem Schlachtfeld lag damals – wie so häufig in der Geschichte – in einem kampflosen Sieg. Die Stärke des römischen Militärs basierte nicht nur auf seiner aktiven Kampfkraft, sondern auch auf der abschreckenden Wirkung; da es keine andere Macht in der westlichen Welt mit den Ressourcen der römischen

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Truppen aufnehmen konnte, genügte bereits die bloße militärische Stärke als politisches Instrument, damit sich potenzielle Gegner unterwarfen.21 Diese Lektion haben die meisten Supermächte im Lauf der Weltgeschichte verinnerlicht. Das Goldene Zeitalter der militärischen Überlegenheit Roms begann mit Augustus ’ Aufstieg zum Princeps 27 v. Chr. Die darauffolgenden zweihundert Jahre sind auch als Pax Romana bekannt – eine Zeit, in der Rom (nach den damaligen Maßstäben) außergewöhnliche Stabilität, Frieden und Chancen auf Wohlstand für all diejenigen bieten konnte, die unter ­römischer Herrschaft lebten. Das war möglich, weil die Römer ihren Schutz durch eine der schlagkräftigsten Armeen der Welt kollektiv finanzierten. Nach dem Tod des Philosophenkaisers Marcus Aurelius 180 n. Chr. begann die Pax Romana zu bröckeln und sich aufzulösen. Die Krise des 3. Jahrhunderts hielt das Reich mehrere Jahrzehnte lang in Atem, in denen es sich zeitweise in drei Blöcke aufspaltete, sich Dutzende Kaiser abwechselten und die staatliche Ordnung fast zusammengebrochen wäre – eine bedrohliche Situation, in der die Entschlossenheit und die Fähigkeiten des römischen Militärs auf eine harte Probe gestellt wurden. Dennoch konnten die Römer im 4. und frühen 5. Jahrhundert immer noch mit Stolz auf ihre bewaffneten Truppen blicken. Sie waren mittlerweile professionalisiert und hielten an den Grenzen des Reiches (dem ­«Limes») die Stellung, um die Ränder der Zivilisation vor den Einfällen barbarischer Stämme zu schützen und so dafür zu sorgen, dass das Reich trotz seiner Teilungen und Zersplitterung, seiner Machtkämpfe und ­internen Fehden weitgehend standhielt. In seiner Blütezeit war Rom also ein Kriegsstaat, der seinesgleichen suchte und jeden Gegner in seinem Einflussbereich zunichtemachen konnte. Selbst während der Krise des 3. Jahrhunderts, als die Sassaniden im Osten und die Barbaren im Westen dem Reich schwer zu schaffen machten, stellte Rom eine beeindruckende Macht dar. Doch es waren nicht allein die überwältigende militärische Stärke und Reichweite, die Rom von anderen Supermächten der damaligen Zeit abhoben. Im 4. Jahrhundert v. Chr. hatte sich das makedonische Imperium Alexanders des Großen von den Ionischen Inseln im Mittelmeer bis zum Himalaja erstreckt. Die verschiedenen persischen Reiche der Antike umfassten ein

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ähnliches Gebiet. Um das Jahr 100  n. Chr. herrschte die Östliche HanDynastie in China über 6,5  Millionen Quadratkilometer Land und 60 Millionen Menschen. Was Rom im Mittelmeerraum und darüber hi­ naus so dominant machte, war die Tatsache, dass seine überwältigende militärische Macht mit einem ausgeklügelten Verwaltungsapparat ein­ herging: einem Geflecht hochmoderner gesellschaftlicher, kultureller und rechtlicher Systeme, die von den Römern als Zeichen ihrer überlegenen Moral gewertet wurden. Heute hätten wir daran durchaus unsere Zweifel, immerhin sprechen wir von einer Gesellschaft, die die Rechte von Millionen Frauen und Armen beschnitt und Menschen, die von der Norm ab­ wichen, brutal verfolgte, die blutigen Sport und andere Formen der Gewalt verherrlichte und auf die massenhafte Versklavung von Menschen angewiesen war. Dennoch muss man anerkennen, dass die römische Lebensweise in den eroberten oder verbündeten Gebieten sehr schnell übernommen wurde und überall, wo sie praktiziert wurde, tiefe und oft dauerhafte Spuren hinterließ.

Bürger und Fremde Einige Jahre, nachdem Kaiser Claudius seine Kriegselefanten nach Britannien geführt hatte, um die Stämme am Ende der Welt zu unterwerfen, stand er vor dem Senat und sprach vor einer lärmenden Gruppe der führenden Würdenträger Roms über die beiden eng miteinander verfloch­ tenen Themen Bürgerrecht und politische Macht. Man schrieb das Jahr 48 n. Chr., und die Frage, über die debattiert wurde, lautete ganz konkret: Sollten die reichsten und angesehensten Bürger aus den römischen Provinzen Galliens in den Senat gewählt werden können? Claudius – ein gelehrter, wenn auch körperlich schwächlicher und kurzsichtiger Enkel von Augustus, der zufällig in Gallien geboren war, genauer gesagt in Lyon (Lugdunum) – war dafür. Um seinen Standpunkt zu unterstreichen, erinnerte er seine Zuhörer an die Frühgeschichte Roms, denn bereits damals war auf den Gründer und ersten König Romulus ein Anführer von außen gefolgt: Numa der Sabiner. Rom, so argumentierte Claudius, sei stets ein Ort gewesen, der Außenstehende mit besonderen Qualitäten integriert

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habe. «Ich bin der Meinung, dass die Männer aus der Provinz nicht ab­ gelehnt werden sollten, solange sie ein Gewinn für den Senat sind», erklärte er. Nicht alle Senatoren teilten diese Ansicht. Einige argumentierten, es sei eine Schande für Rom, sich «Ausländer in ganzen Scharen» aufzwingen zu lassen, vor allem, da sich die fraglichen Ausländer – Gallier – einst erbittert und in blutigen Kämpfen gegen die Eroberung durch die Römer gewehrt hätten.22 Diese Debatte war nicht neu, in Rom wurde sie seit zwei Jahrhunderten geführt, generell beschäftigt sie die Herrscher mächtiger Reiche seit Beginn der Zeit und ist auch heute noch Thema: Wie geht ein Staat mit seinen früheren Feinden um? Und stärkt oder verwässert die Aufnahme von Nicht-Einheimischen das Wesen und den Charakter eines Staates oder einer Gesellschaft? Die Diskussion zog sich durch all die Jahrhunderte, in denen das Römische Reich bestand, und war in ihren Auswirkungen auch noch im Mittelalter und darüber hinaus zu spüren. Claudius hatte sich auf seine Rede vor dem Senat 48 n. Chr. gut vorbereitet. Denjenigen, die die Loyalität der Gallier anzweifelten, sagte er: «Wenn jemand sich auf die Tatsache konzentriert, dass die Gallier dem göttlichen Julius [Cäsar] zehn Jahre lang im Krieg widerstanden, sollte er bedenken, dass sie hundert Jahre lang loyal und vertrauenswürdig waren und diese Loyalität, als wir in Gefahr waren, aufs Äußerste strapaziert wurde.» Gegen die allgemeineren Einwände, Nicht-Italiker als Römer zu klassifizieren, führte er Beispiele aus dem antiken Griechenland an: «Was war denn trotz ihrer kriegerischen Erfolge das Verhängnis der Lazedämonier [Spartaner] und Athener? Nichts anderes, als dass sie die Unterworfenen als Ausländer sich fernhielten.» Der leidenschaftliche Vortrag hatte die Senatoren entweder überzeugt oder eingeschüchtert, jedenfalls gaben sie ihre Zustimmung. Von da an konnten Gallier nicht nur das römische Bürgerrecht erlangen, sondern auch die höchsten politischen Ämter im Reich anstreben. Einer der wichtigsten sozialen Unterschiede in Rom  – in der Stadt selbst, auf der Italienischen Halbinsel und (schließlich) auch in den eroberten Gebieten – war der zwischen den römischen Bürgern (cives romani) und der restlichen Bevölkerung. Die römische Gesellschaft war besessen von Rang und Ordnung, und die Unterschiede zwischen der Oberschicht der

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Senatoren (senatores) und Ritter (equites), dem mittleren Stand der Ple­ bejer und den landlosen Armen, den sogenannten proletarii, wurden sehr ernst genommen. Doch am wichtigsten war das Bürgerrecht. Ein Bürger Roms zu sein bedeutete im Grunde Freiheit. Für Männer war damit ein ganzes Paket beneidenswerter Rechte (aber auch Pflichten) verbunden: Als Bürger durfte man wählen, politische Ämter bekleiden, die Gerichte nutzen, um sich selbst und den eigenen Besitz zu verteidigen, bei Zere­ monien und offiziellen Anlässen die Toga tragen und seinen Militärdienst in den Legionen und nicht bei den Hilfstruppen ableisten, außerdem war man vor den meisten Formen körperlicher Strafen und vor Hinrichtungen geschützt, darunter Auspeitschen, Folter und Kreuzigung. Das Bürgerrecht war nicht auf Männer beschränkt: Frauen blieben zwar viele Rechte verwehrt, sie konnten den Bürgerrechtsstatus jedoch an ihre Kinder weitergeben, zudem war das Leben einer Bürgerin meist angenehmer und zeichnete sich durch höheren Wohlstand aus. Das Bürgerrecht war sehr geschätzt, weshalb der römische Staat es auch den Hilfstruppen, die ein Vierteljahrhundert in der römischen Armee dienten, als Belohnung in Aussicht stellen konnte. Und Sklaven leisteten ihre Arbeit in dem Wissen, dass sie, falls sie von ihrem Herrn freigelassen wurden, das ein­ geschränkte Bürgerrecht erhielten. Der Verlust des Bürgerrechts  – als Strafe für sehr schwere Verbrechen wie Mord oder Fälschung  – kam ­einer rechtlichen Enthauptung gleich: für die Gesellschaft war man damit praktisch tot. Rom war keineswegs das einzige Reich, das dieses Konzept der rechtlichen und sozialen Privilegien pflegte; auch im antiken Griechenland, in Karthago und zahlreichen anderen Staaten im Mittelmeerraum gab es in jener Zeit das Bürgerrecht. Einzigartig war nur, dass das Konzept des ­römischen Bürgerrechts im Laufe seiner langen Geschichte weiterentwickelt und ausgedehnt wurde, um die Vorherrschaft des Reiches zu bewahren. Der eigentliche Zweck des Reiches bestand darin, den Reichtum aus den eroberten Gebieten nach Rom zu leiten. Es ging also im Grunde um hemmungslose Ausbeutung. Doch durch das Versprechen des Bürgerrechts – und damit die Aussicht, einen Teil der Beute zu bekommen – konnte die Oberschicht in den eroberten Gebieten in der Regel auf die Seite Roms gebracht werden. Dementsprechend wurde das Bürgerrecht

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in den ersten beiden Jahrhunderten des Römischen Reiches mit der Ausdehnung der Provinzen nach und nach auch außerhalb Italiens an die ­Angehörigen höherer Schichten vergeben. Aristokraten und Amtsträger, Soldaten, die ihren Dienst bei den Hilfstruppen geleistet hatten, Beamte im Ruhestand und ihre freigelassenen Sklaven, sie alle konnten das Bürgerrecht erlangen – entweder in seiner vollen Form oder in einer der zahlreichen Varianten, die eine begrenzte, aber immer noch begehrte Auswahl an Rechten boten.23 Und schließlich brachte Kaiser Caracalla 212 n. Chr. zum Abschluss, was Claudius begonnen hatte, und verfügte, dass alle Freien in den Provinzen eine Form des Bürgerrechts für sich beanspruchen konnten. Die gesamte Bevölkerung, verkündete Caracalla, solle «an diesem Sieg teilhaben. Dieses Edikt wird die Würde des römischen Volkes vergrößern.»24 Viele Historiker betrachten Caracallas Verordnung (auch Constitutio Antoniniana genannt) als Wendepunkt in der Geschichte des Römischen Reiches, weil diese Entscheidung das imperiale System im Kern betraf, die Motivation von Nicht-Römern, den Hilfstruppen beizutreten, schwächte, und weil sie dem Bürgerrecht das Prestige nahm. Das mag sein. Andererseits waren Offenheit und die Bereitschaft, andere Völker zu integrieren, wesentliche historische Vorzüge des Römischen Reiches,* denn dadurch wurden die Werte des römischen Systems über alles andere gestellt und es wurde offen und ohne Einschränkungen erklärt, dass Menschen mehr als eine einzige kulturelle Identität haben können. Wer sich Römer nannte, musste nicht mit Blick auf die sieben Hügel der Ewigen Stadt geboren worden sein: Er oder sie konnten Nordafrikaner oder Griechen, Gallier, Germanen oder Britannier sein, Spanier oder Slaven. Nicht einmal die Kaiser mussten ethnische «Römer» sein. Trajan und Hadrian stammten aus Spanien. Caracallas Vater Septimius Severus, der 193 n. Chr. die Macht

* Mit seiner Aufnahmebereitschaft übertraf das Römische Reich sogar die Vereinigten Staaten auf dem Höhepunkt der Einwanderung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Historisch betrachtet, zeigte wohl nur das Mongolenreich im 12. und 13. Jahrhundert (siehe Kapitel 9) eine ähnlich pragmatische Haltung bei der Integration einer Vielzahl von Völkern.

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ergriff und sich bis 211 halten konnte, wurde in Libyen (Leptis Magna) geboren und hatte einen nordafrikanischen Vater und eine syrisch-arabische Mutter; seine Nachfolger (bekannt als die Dynastie der Severer) waren demnach ebenfalls afrikanisch-arabischer Herkunft. Caracalla mag gute politische Gründe für sein Edikt von 212 gehabt haben – wer das Bürgerrecht hatte, musste auch Steuern zahlen: In einer für die öffentlichen ­Finanzen schwierigen Zeit war daher eine Erhöhung der Zahl der Steuer­ pflichtigen höchst willkommen. Doch es ist wohl nicht allzu anachronistisch, zu vermuten, dass sich seine Erfahrungen als Kaiser mit nord­ afrikanischen Wurzeln auf seine Haltung auswirkten.

Seelen zu verkaufen Caracalla war nicht der Einzige, dessen Herkunft seine Herrschaft prägte. Ein gutes Jahrhundert vor seiner Geburt wurde Rom zehn Jahre lang von Vespasian regiert, dem Begründer der flavischen Dynastie. Vespasian kam 69 n. Chr. an die Macht, er hatte sich nach einem kurzen, aber hässlichen Bürgerkrieg durchgesetzt, in dem vier Männer in einem einzigen Jahr* Anspruch auf die Kaiserwürde erhoben hatten. Doch bevor Vespasian Kaiser wurde, hatte er sich in Nordafrika für kurze Zeit als ­sogenannter «Maultiertreiber» betätigt, wie man damals Sklavenhändler euphemistisch nannte. Es heißt, Vespasian habe Knaben die Hoden abschneiden lassen, um sie zu einem besseren Preis als Eunuchen verkaufen zu können.25 Er hatte deshalb einen gewissen Ruf, der allerdings in einer anderen historischen Epoche deutlich schlechter ausgefallen wäre. Denn in Rom waren Sklaverei und die brutale Behandlung versklavter Menschen nicht nur weitverbreitet, sondern allgegenwärtig. Sklaverei war in der gesamten Antike ein fester Bestandteil des Alltags. Sklaven – Menschen, die als Eigentum betrachtet, zur Arbeit gezwungen und ihrer Rechte beraubt wurden und die damit gesellschaftlich «tot»

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Die Rede ist vom sogenannten Vierkaiserjahr. Bei den vier Männern handelte es sich um Galba, Otho, Vitellius und Vespasian.

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­ aren – fand man praktisch in jedem bedeutenden Reich der damaligen w Zeit. In China setzten die Qin-, Han- und Xin-Dynastie verschiedene Formen der Sklaverei durch, ebenso wie die Herrscher in Ägypten, Assyrien, Babylonien und Indien.26 «Willst du aber Sklaven und Sklavinnen haben, so sollst du sie kaufen von den Völkern, die um euch her sind», sagte Gott den Israeliten und verlangte von ihnen nur, sich nicht gegen­ seitig zu versklaven.27 Doch Rom ging noch weiter. Es gibt einige wenige Beispiele in der Geschichte für echte «Sklavenstaaten», in denen die Sklaverei alle Bereiche der Gesellschaft durchdrang und die Grundlage für die gesamte Wirtschaft und Kultur bildete. Rom war einer davon.* Wie viele Sklaven es in Rom gab, ist unter Historikern umstritten, da keine verlässlichen Quellen vorliegen. Man schätzt, dass zur Zeit von Augus­tus um die zwei Millionen Sklaven auf der Apennin-Halbinsel lebten, die vielleicht ein Viertel der damaligen Bevölkerung stellten – wobei es in den anderen Provinzen noch viele weitere Sklaven gab.28 Sklaven übernahmen jede Art von Aufgabe mit Ausnahme der Herrschafts­ ausübung. Sie arbeiteten in großen, auf Massenproduktion ausgerichteten landwirtschaftlichen Betrieben, den sogenannten latifundia, und auf kleinen Höfen, wo die Bauernfamilie einen oder zwei Sklaven besaß. Die Haushalte der reichen Römer wurden von Dutzenden, wenn nicht gar Hunderten Sklaven versorgt, die als Reinigungskräfte, Köche, Bäcker, Servierer, Pförtner, Kammerdiener, Ammen, Gouvernanten, Gärtner, Wachen, Torwächter, Lehrer, Schreibkräfte, Musiker, Rezitatoren, Tänze­ rin­nen, Konkubinen oder schlicht Sexobjekte tätig waren. Für einige wenige Sklaven, die für die reiche Oberschicht arbeiteten und die Möglichkeit hatten, sich im mittleren oder hohen Alter freizukaufen, war das Leben vielleicht ganz angenehm, mitunter sogar luxuriös. Als Pompeij 79 n. Chr. unter einem vulkanischen Ascheregen begraben wurde, blieb der goldene Armreif einer Sklavin erhalten: In Form einer Schlange gestaltet, einem traditionellen Schutztier, trägt er die Inschrift «Vom Herrn für sein Sklavenmädchen» (DOM[I]NUS ANCILLAE SUAE). Aller-

* Die anderen sind das antike Griechenland, Brasilien und die Karibik während der Kolonialzeit sowie die amerikanischen Südstaaten vor dem Sezessionskrieg.

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dings waren Geschenke, die Sklaven das Dasein versüßten, alles andere als üblich. Das zeigt etwa ein ganz anderes Sklaven-Accessoire, der ­sogenannte Zoninus-Halsring aus dem 4. oder 5. Jahrhundert n. Chr., der heute in den Diokletianthermen in Rom ausgestellt ist. An einem grob gearbeiteten ­Eisenring baumelt ein großer – vermutlich lästiger und schmerzhafter – Anhänger, wie man ihn heute verwendet, um entlaufene Hunde zu identifizieren. Die Inschrift informierte jeden, der dem Träger oder der Trägerin begegnete, dass es sich um einen Sklaven handelte, und versprach demjenigen, der ihn oder sie zurückbrachte, eine Goldmünze (solidus).29 Sklaven, ob in die Sklaverei verkauft oder hineingeboren, waren per Definition Arbeitstiere. Wir können nicht wissen, wie es war, ein römischer Sklave zu sein, da die meisten so gut wie keine Spuren in der Geschichtsschreibung hinterließen. Doch das, was wir aus anderen Epochen wissen, sagt uns, dass das Sklavendasein Jahre der Qual und des Leids bedeutete, mit Misshandlungen, die von erschütternd bis geradezu höllisch reichten. In afrikanischen Getreidemühlen oder spanischen Minen schufteten die Sklaven unter entsetzlichen, oft tödlichen Bedingungen. Der im 2. Jahrhundert lebende Schriftsteller Apuleius liefert in seinem Roman Der goldene Esel (Asinus aureus, auch als Metamorphosen bekannt) mehrere groteske Schilderungen der Misshandlung von Sklaven. Obwohl seine Darstellung des Sklavenlebens fiktiv ist und die Geschichte immer wieder fantastische, obszöne und satirische Züge trägt, sagt sie doch viel über die unschöne Realität der Sklaverei aus. So beobachtet sein Protagonist, der zu Beginn der Geschichte noch ein Schäferstündchen mit der hübschen Haussklavin eines Freundes genießt, wie Sklaven in einer Mühle schuften müssen: «Die ganze Haut mit blauen Striemen gezeichnet, den verprügelten Rücken mit ein paar verschlissenen Fetzen mehr betupft als bedeckt, einige nur mit einem winzigen Lendenschurz – alle jedenfalls so angezogen, dass die Knochen durch die Lumpen zu sehen waren! Die Stirn gezeichnet, der Kopf halbrasiert, die Füße beringt; weiter, von Geisterblässe entstellt, die Lider vom Qualm und Dunst in der Stockfinsternis entzündet bis zur Trübung des Augenlichts …»30 Als Apuleius seinen Roman verfasste, war Rom seit einem halben Jahrtausend eine Sklavengesellschaft. Die Sklaverei war seit dem 2. Jahr-

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hundert v. Chr., als die Republik mit ihrer massiven Expansion im Mittelmeerraum begann, zu einem wesentlichen Bestandteil des römischen Lebens geworden. Die glänzenden militärischen Siege  – auf dem Balkan, den griechischen Inseln, in Nordafrika und anderswo – boten auch immer die Gelegenheit zum Plündern und Beutemachen, und zu dieser Beute gehörten auch Menschen. Ein Jahr wie 146 v. Chr., in dem sowohl Karthago als auch Korinth in Schutt und Asche gelegt wurden, brachte dem Reich Zehntausende Gefangene. Die Sklaven, die übers Meer transportiert wurden, wodurch ihnen eine Flucht unmöglich war, waren überall verfügbar und wurden so zur treibenden Kraft des rapiden römischen Wirtschaftswachstums: kostenlose Arbeitskräfte für die Republik (und später die Kaiser), um Tempel, Aquädukte, Straßen und öffentliche Gebäude zu errichten, um in den Minen zu schuften oder als Handelsware für wohlhabende Römer herzuhalten, die sie nach Belieben kauften und verkauften und in ihren prächtigen städtischen Villen oder auf ihren landwirtschaftlichen Gütern einsetzten. Die Vorteile der Zwangsarbeit waren offensichtlich. Die Eigentümer konnten ihre Sklaven so hart arbeiten lassen, wie es ihnen gefiel, willkürlich auf sie einprügeln, sie wie Schweine halten, sie wie Vieh züchten und sie, wenn sie zu alt oder zu krank waren, um weiter zu arbeiten, entweder freilassen oder einfach vor die Tür setzen. Tausende Kilometer von ihrem Heimatland entfernt, traumatisiert und anfangs meist nicht in der Lage, die fremde Sprache zu sprechen, veränderten die Sklaven durch ihre ­Anwesenheit die Stadt, die Republik und später das Reich. Da sich die Expansion Roms in der Kaiserzeit fortsetzte, gerieten auch Gallier, Britannier, Germanen und andere in das System der Sklaverei. Die Gefangennahme und Verschleppung von Menschen war ein Fluch für ganz ­Europa und den Mittelmeerraum. Der griechische Geschichtsschreiber und Geograf Strabo beschrieb im 1. Jahrhundert v. Chr., wie Sklavenräuber Gebiete in Armenien und Syrien terrorisierten, Zivilisten jagten und sie verschleppten, um sie profitabel zu verkaufen. Der Export von Sklaven sei «überaus gewinnbringend», wie er schrieb, «sie waren ja leicht zu fangen, und gar nicht weit gab es einen großen und geldreichen Handelsplatz.» Mit dem Markt ist Delos auf den Kykladen gemeint, einer der Haupt­umschlagplätze für Sklaven, auf dem laut Strabo jeden Tag zehn-

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tausend Sklaven gehandelt wurden: Sie alle wurden von dort verschifft, um irgendwo in der Fremde zu leben, zu arbeiten und zu sterben.31 Die Sklaverei in Rom war nicht per se rassistisch (ein wichtiger Unterschied zur Sklaverei in der Karibik und in den amerikanischen Südstaaten), man hielt es jedoch für selbstverständlich, dass die «Barbaren» aus den Gebieten außerhalb des Reiches erheblich besser für die Sklaverei geeignet seien als die Römer selbst. Daher wurden, während das Reich immer weiter wuchs, Millionen Menschen versklavt und damit zutiefst gedemütigt, wie der Autor und Rhetoriker Libanios im 4. Jahrhundert n. Chr. kurz und bündig schrieb: «Der Sklave ist jemand, der irgendwann jemand anderem gehört und dessen Körper verkauft werden kann. Und was könnte demütigender sein … Denn wurde dieser Körper nicht verstümmelt und die Seele völlig zerstört?»32 Doch obwohl es gelegentlich zu Sklavenaufständen kam  – der berühmteste war die Revolte des Spartacus 73 v. Chr. –, gab es in Rom keine allgemeine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei. Nur gelegentlich wurden Versuche unternommen, Sklaven vor den schlimmsten Misshandlungen zu schützen: So versuchte Kaiser Hadrian (reg. 117– 138  n. Chr.), wenn auch erfolglos, Sklavenhändler davon abzuhalten, ­afrikanische Jungen zu kastrieren, während Konstantin I . (306–337) Gesichtstätowierungen verbot  – ein Edikt, das sehr wahrscheinlich auf übereifrige Sklavenhalter abzielte. Doch weitreichendere Maßnahmen – oder gar der Gedanke an eine Welt ohne Sklaven – wären den Römern unsinnig erschienen. Aus philosophischer Sicht galt Sklaverei als notwendig für eine freie Gesellschaft  – als ein natürliches Phänomen, ohne das die Freiheit der wahren und edlen Römer nicht möglich gewesen wäre. Wirtschaftlich betrachtet, basierten Rom und das Römische Reich auf der massenhaften Versklavung von Menschen, die über dieselben langen und komplexen Handelsnetzwerke herbeigeschafft wurden wie lebensnotwendige Güter und Luxusartikel. Letzten Endes war Rom eine patriarchale Gesellschaft, in der die untergeordnete Position der Sklaven schlicht als deren Schicksal betrachtet wurde. Johannes Chrysostomos, ein christlicher Prediger Ende des 3. Jahrhunderts, beschrieb seinen Zuhörern diese Hierarchie folgendermaßen: Selbst im Haus eines armen Mannes, erklärte er, «herrscht der

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Mann über die Frau, die Frau über die Sklaven, die Sklaven über ihre eigenen Frauen, und die Männer und Frauen wiederum über die Kinder».33 Im anschließenden Mittelalter nahm das Ausmaß der Sklaverei ab, blieb jedoch im gesamten Abendland präsent. Und selbst an Orten, an denen die Sklaverei auszusterben schien, wurde ihre Funktion als Stütze der Wirtschaft und Kultur oft einfach durch die Leibeigenschaft ersetzt – ein System des Frondienstes, bei dem die Menschen an das Land und ihren Grundherrn gebunden waren. Es war zwar nicht ganz dasselbe wie die Sklaverei, doch für die Betroffenen dürfte der Unterschied nicht groß ­gewesen sein. Dass der Westen so eng an die unfreie Arbeit gebunden war, ist sicher auch darauf zurückzuführen, dass die Sklaverei nicht vom alles überstrahlenden Glanz des Römischen Reiches zu trennen war.

Romanisierung Das Bürgerrecht und die Sklaverei waren nicht das einzige Vermächtnis, das Rom der Welt hinterließ und bis ins Mittelalter hineinwirkte. Über die simple Tatsache seiner Legionen und Institutionen hinaus besaß Rom etwas, was man als starke kulturelle Marke bezeichnen könnte. Praktisch überall, wo die Römer hinkamen, erhielten Recht, Sprache und Landschaft einen «römischen Stempel». Dazu gehörte ab dem 4. Jahrhundert auch die Religion, da das Reich enorm dazu beitrug, eine der beiden ersten großen monotheistischen Glaubensvorstellungen zu verbreiten, die sich im 1. Jahrhundert herausbildete: das Christentum. Dieser Prozess verlief nicht gleichmäßig, und die Vermischung römischer Sitten und Bräuche mit den Praktiken der Einheimischen auf der Iberischen Halbinsel, in Nordafrika, Gallien, Britannien, auf dem Balkan, in Griechenland, der Levante und anderen Regionen ließ ein breites Spektrum unterschiedlicher Subkulturen entstehen, die alle gemeinsam unter dem Banner des Römischen Reiches existierten. Noch wichtiger war jedoch, dass die Romanisierung die herrschenden Schichten deutlich stärker betraf als die breite Bevölkerung und sich auf Städte und Stützpunkte konzentrierte und nicht auf ländliche Gebiete. Doch trotz dieser Einschränkungen war die Übernahme römischer Institutionen, Werte, Tech-

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nologien und Weltanschauungen in den Jahrhunderten nach dem Zusammenbruch des Reiches von grundlegender Bedeutung. Immerhin war Rom ein gut vernetzter Superstaat gewesen, dessen verschiedenartige Bevölkerungen durch hervorragend gebaute Straßen, effektiv überwachte Seewege und bis ans Ende der damals bekannten Welt reichende Handelsrouten miteinander verbunden waren. Doch die Verbindungen im Reich waren nicht nur physischer Art. Sie waren kulturelle Konstanten, die die sogenannte romanitas über Dutzende Generationen und mehrere Millionen Quadratkilometer Reichsfläche überhaupt erst möglich machten. Und sie sorgten dafür, dass in den alten römischen Gebieten auch noch lange nach dem Untergang des eigentlichen Reiches ein Gefühl der Verbundenheit herrschte. Ein wohlhabender Reisender, der im 4. Jahrhundert n. Chr. in einer fremden Stadt im Römischen Reich ankam, wusste trotz der unbekannten Umgebung ziemlich gut, was ihn erwartete. Die Straßen waren gitterförmig angelegt. In den besseren Vierteln der Stadt erhellten oft Fackeln die Innenhöfe der weitläufigen Villen, in denen die Reichen wohnten: ­elegante Häuser aus Ziegel- oder Naturstein, ausgestattet mit Fußboden­ heizung und Wasserversorgung, Böden und Wände, die im typisch mediterranen Stil mit Reminiszenzen an das klassische Griechenland und ­antike Rom gestaltet waren. Im Zentrum der Stadt gab es einen offenen Platz, das Forum, auf dem der Markt stattfand und der von Regierungsund Verwaltungsgebäuden, Läden und Tempeln für verschiedene Götter gesäumt war. Die Ladeninhaber und Marktbeschicker boten Waren an, die aus dem gesamten Reich und weit entfernten Regionen herbeigeschafft worden waren: Wein, Öl, Pfeffer und andere Gewürze, Salz, Getreide, Pelze, Keramik, Glas und Edelmetalle. Bezahlt wurden sie mit den gängigen römischen Münzen aus Gold, Silber oder Bronze, auf denen meist ein römischer Kaiser abgebildet war. In der Stadt waren die ausgeklügelten Wasserversorgungssysteme zu sehen – und zu riechen. Aquädukte brachten frisches Wasser in die Stadt, die öffentlichen Toiletten waren an ein städtisches Abwassersystem angeschlossen. Wer Sauberkeit, Hygiene und Entspannung suchte, konnte ein öffentliches Badehaus aufsuchen; die Thermen in Städten wie Bath (Aquae Sulis), Trier (Augusta Treverorum)

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und Beirut (Berytus) waren prächtige Gebäudekomplexe mit unterschiedlich beheizten Badekammern, die eine umfangreiche Auswahl für alle ­boten, die sich mit Düften, Ölen, Massagen und anderen Ritualen verwöhnen lassen wollten (und sich das leisten konnten). Eine große Stadt konnte meist ein Theater und vielleicht auch eine Arena für Wagenrennen oder blutrünstige Gladiatorenkämpfe vorweisen. Die Spiel- und Wettkampfstätten hatten natürlich nicht die gewaltigen Ausmaße des Kolosseums in Rom, das 80  n. Chr. von Kaiser Titus er­ öffnet wurde und Sitzplätze für fünfzig- bis fünfundachtzigtausend Zuschauer bot. Ebenso wenig konnten es die Badehäuser in den Provinz­ städten mit den imposanten Diokletiansthermen aufnehmen, die um 306 n. Chr. in Rom eröffnet wurden. Jede Stadt im Reich spiegelte in ihrer Architektur und in ihren Bauten, selbst wenn sie die typisch römischen Merkmale wie elegante Säulen und farbenprächtige Mosaiken aufwiesen, auch den lokalen Geschmack und Stil wider. Und man sollte nicht vergessen, dass der Einfluss Roms auf das tägliche Leben außerhalb der Städte deutlich geringer war. Rom war in erster Linie ein Reich der Städte, in den ländlichen Gebieten waren die römischen Innovationen und auch die politischen Einflüsse weniger zu spüren. Dennoch erinnerten die öffentlichen Bauten im ganzen Reich an das Leben der Bürger in Rom, und die Männer und Frauen, die dort arbeiteten, verkehrten oder ihre Götter verehrten, fühlten sich als Teil des Römischen Reiches, wann immer sie über die Schwelle dieser Gebäude traten. Wie wir noch sehen werden, verschwand der prägende Einfluss Roms auf den Städtebau im westlichen Teil mit dem politischen Zusammenbruch des Reiches. Langfristig gesehen spielte er jedoch eine große Rolle. In der Renaissance im 14. und 15. Jahrhundert wurden die römische Architektur und Kunst wiederentdeckt und als Höchststand der Zivilisation verehrt, den man, wenn möglich, wieder erreichen wollte. Ein weiterer Bereich, den Rom während des gesamten Mittelalters nachhaltig prägte, war die Sprache. Tatsächlich ist die gemeinsame Sprache des Römischen Reiches eines seiner dauerhaftesten Vermächtnisse, das nicht nur im Mittelalter, sondern auch heute noch zu spüren ist, wie viele Schülerinnen und Schüler bezeugen können. Die offizielle Sprache, die im gesamten Römischen Reich verwendet

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wurde, war Latein. Das bedeutete nicht, dass jeder Mensch von Antiochia bis St. Albans (Verulamium) die Epigramme Martials deklamierte: Das klassische Latein der großen römischen Dichter, Philosophen und Historiker kam im Alltag genauso wenig zum Einsatz wie die Syntax und der Wortschatz von Shakespeares Sonetten im elisabethanischen England; auch damals sprachen Tavernenwirtinnen oder Ziegenhirten eine ganz andere Sprache. Im Osten konkurrierte das Lateinische vor allem nach der Reichsteilung im 4. Jahrhundert mit dem Griechischen um den Rang der gängigsten, bewundernswertesten und nützlichsten Sprache. Im west­ lichen Teil wurde Latein weiterhin verwendet, doch allmählich angepasst und mit den lokalen Sprachen vermischt – ein Prozess, in dessen Verlauf die modernen romanischen Sprachen entstanden. Latein war also nicht unbedingt eine universale Sprache, aber auf jeden Fall die offizielle Geschäfts- und Verwaltungssprache im Reich, die es gebildeten Römern erlaubte, überall miteinander zu kommunizieren und ihre Kultiviertheit h ­ erauszustellen. Das Erlernen der lateinischen Sprache – einschließlich ihrer Grammatik und Rhetorik – war ein wesentlicher Bestandteil der Erziehung der Elite. An eine Karriere in der Politik oder Verwaltung war ohne ausreichende Lateinkenntnisse gar nicht erst zu denken. Und auch für die Priester, Äbte, Kanzler, Scholaren, Juristen, Vögte, Lehrer, Adligen und Könige des Mittelalters war Latein unverzichtbar.* Doch selbst ohne umfassende literarische Bildung konnte man mit ein bisschen Latein, das man hier und da aufgeschnappt hatte, weit kommen. Graffiti, die in Herculaneum gefunden wurden – einer der Städte in Süditalien, die beim Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. zerstört wurden –, vermitteln uns einen Eindruck von den banalen und profanen Gefühlen, die Römer manchmal in Latein auf Wände kritzelten. In einer Taverne neben den öffentlichen Bädern schrieb ein Geschwisterpaar: «Apelles Mus und sein Bruder Dexter hatten hier jeweils zweimal erfreulichen Sex mit zwei Mädchen.» In Pompeji prahlte

* Das mittelalterliche Latein unterschied sich stark vom klassischen Latein – so stark, dass Mittellatein mehr oder weniger eine eigene Sprache ist. Die Verwandtschaft zum klassischen Latein ist jedoch offensichtlich.

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ein Bewohner auf einer Säule in der Nähe der Gladiatorenunterkünfte: «Celadus der thrakische Gladiator ist der Freudenquell aller Mädchen.» Neben Prahlereien über sexuelle Leistungen und Eroberungen fand das Lateinische als lingua franca – die sich bis weit ins Mittelalter halten sollte – vor allem im Römischen Recht Anwendung. Die Römer waren stolz auf die lange Tradition ihrer Gesetzgebung, die angeblich bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. zurückreichte, als die Gesetzessammlung der sogenannten Zwölf Tafeln in Bronze graviert wurde. Auf Bronzetafeln wurden die römischen Traditionen und Gepflogenheiten im Bereich Schuldrecht, Erbrecht, Familienrecht, beim Grundbesitz, der Religionsausübung und im Strafrecht festgehalten, von Mord und Verrat bis Diebstahl und Meineid; zusammen bildeten die Zwölftafelgesetze fast tausend Jahre lang die Grundlage des Römischen Rechts. Natürlich entwickelte sich das Römische Recht in diesen tausend Jahren erheblich weiter. Die Zwölf Tafeln wurden durch Statuten und offi­ zielle Verlautbarungen von Magistraten und Kaisern ergänzt. Generationen von Rechtsgelehrten, die als Juristen bezeichnet wurden, widmeten ihr Leben dem Studium der verschiedenen Bereiche des Rechts und gaben ihre professionelle Meinung zu Rechtsfällen ab. Im Lauf der Zeit entstand dadurch ein umfangreiches und ausgeklügeltes Gesetzeswerk, das sich vor allem mit den Interessen der Mächtigen befasste: Eigentum, Vermögen, Besitz, Verträge und Handel. In Rom selbst durften nur Bürger Anklage erheben, doch das Spektakel eines römischen Prozesses konnte eine faszinierende Wirkung für ein breites Publikum entfalten. Magistrate hielten Vorsitz in öffentlichen Gerichtsverhandlungen, in denen sich Dutzende «Richter» (im heutigen Sinn die Geschworenen) die Argumente geschickter Rhetoriker anhörten – alle offiziell in ihre Toga gewandet – und dann ihr Urteil auf Stimmtafeln abgaben, auf denen entweder ein C (für condemno, ich spreche schuldig) oder ein A (für absolvo, ich spreche frei) stand. Noch heute berühmte Römer wie Cicero oder Plinius der Jüngere traten als Anwälte und Richter bei Gerichtsprozessen auf; Cicero hielt 70  v. Chr. eine sehr berühmte Anklagerede (und veröffentlichte später noch mehrere andere) gegen einen reichen und korrupten Statthalter ­namens Gaius Verres, der sich während seiner Amtszeit in Sizilien grausam und tyrannisch aufgeführt hatte. Plinius bekleidete im ausgehenden

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1. und frühen 2. Jahrhundert n. Chr. unter mehreren Kaisern hochrangige juristische Ämter im gesamten Reich; seine Schriften geben uns noch heute einen Einblick in das Rechtswesen im Goldenen Zeitalter des Römischen Reichs. Die «reinste» Form des Römischen Rechts bestand natürlich in Rom selbst, doch während der Kaiserzeit wurde das Rechtssystem in verschiedenen Formen in die Provinzen exportiert. Die Statthalter der Provinzen bereisten die Städte ihres Zuständigkeitsbereichs und hielten dort Gericht. Ihr Urteil sprachen sie anhand der Gesetze und Fallbeispiele, die am besten zur vorliegenden Causa passten. Streitigkeiten zwischen römischen Bürgern  – beispielsweise römischen Veteranen, dies sich in den Provinzen niedergelassen hatten – unterstanden dem Römischen Recht. Dispute zwischen Nicht-Bürgern konnten den bestehenden lokalen Gesetzen überlassen werden, wodurch den Provinzen ein bedeutendes Maß an Selbstbestimmung blieb.34 Eine der berühmtesten Äußerungen zum Geltungsbereich des Römischen Rechts stammt von Cicero aus den letzten Tagen der Republik: «Es wird in Rom kein anderes Gesetz sein als in Athen, kein andres jetzt als später, vielmehr wird das eine und ewige und unveränderliche Gesetz alle Völker zu allen Zeiten umfassen.»35 Sein Standpunkt war so philosophisch wie pragmatisch, doch man darf nicht vergessen, dass Cicero als einer der berühmtesten Römer seiner Zeit die Anliegen anderer reicher und mächtiger Männer in Worte fasste und nicht die Erfahrungen vieler Millionen einfacher Menschen, die im ganzen Reich lebten und die allenfalls dann mit dem Gesetz in Berührung ­kamen, wenn sie dagegen verstießen und ihnen brutale Strafen drohten. Andererseits kann man durchaus von einem starken und lang anhaltenden Einfluss des Römischen Rechts sprechen. Dieses gedieh nicht nur zu Lebzeiten Ciceros während der Republik, sondern auch im Kaiserreich, und sein Einfluss war im gesamten Mittelalter und bis in die Neuzeit deutlich zu spüren. In dieser Hinsicht verhielt es sich mit dem Römischen Recht ähnlich wie mit der lateinischen Sprache. In seiner historischen Beständigkeit ließ es sich auch mit der römischen Religion vergleichen – oder zumindest der Religion, die ab dem 4. Jahrhundert n. Chr. im gesamten Reich eingeführt wurde: dem Christentum.

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Von vielen Göttern zu einem Gott In den ersten zweihundertfünfzig Jahren nach Jesu Geburt, Leben und Tod war das Römische Reich nicht gerade ein besonders angenehmer Ort für Christen. Die Römer waren traditionell begeisterte Sammler von Göttern und Religionen einschließlich der griechischen Götterwelt und verschiedener Mysterienkulte aus dem Osten. Anfangs herrschte jedoch wenig Begeisterung für die seltsame jüdische Sekte, ­deren Mitglieder versuchten, die Erinnerung an den Sohn eines Zimmermanns wachzuhalten, der in Jerusalem unter der Statthalterschaft von Pontius Pilatus kurzzeitig für Unruhe gesorgt hatte. Die ersten Genera­ tionen von Christen lebten verstreut in den Städten des Mittelmeerraums und hielten sporadisch Kontakt untereinander, waren aber nicht in der Lage, deutlich zu wachsen. Eifrige Gläubige wie der Apostel Paulus reisten viel umher, um zu predigen und die Botschaft ihrer Religion zu verbreiten. Paulus verfasste seine berühmten Briefe für alle, die zuhören wollten (oder auch nicht), und beschrieb darin das wundersame Opfer, das Christus ­gebracht hatte. Doch in einem Reich, in dem aus allem eine Gottheit ­gemacht wurde, von der Sonne und den Planeten bis zu den eigenen Kaisern, und in dem man sich großzügig der religiösen Praktiken der ­eroberten Gebiete bediente, waren Männer wie Paulus nichts Neues. Zu seinen Lebzeiten im 1. Jahrhundert n. Chr. deutete wenig darauf hin, dass seine enthusiastischen Reisen und Schriften schließlich dazu führen würden, Jesu Namen in den kommenden zweitausend Jahren in die Herzen von buchstäblich Milliarden Menschen zu pflanzen. Im Jahr 112 schrieb Plinius der Jüngere als Statthalter der Provinz ­Bithynien (in der heutigen Türkei) an Kaiser Trajan über Prozesse gegen örtliche Christen, die nach Beschwerden der Bevölkerung aufgenommen worden waren. Um mehr zu erfahren, ließ er sie foltern, darunter auch zwei junge Mädchen. Daraus, so Plinius, habe er geschlossen, dass es sich um einen «verschrobenen … maßlosen Aberglauben» handle, der sich «wie eine Seuche ausbreitet».36 In der Frühzeit des Christentums wurden Gläubige hin und wieder auf diese Weise misshandelt. Damit waren sie ­jedoch nicht allein. Auch die Anhänger anderer neuer Religionen wurden gelegentlich verfolgt und gefoltert, etwa die «Manichäer», die den Lehren

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des im 3. Jahrhundert n. Chr. lebenden persischen Propheten Mani an­ hingen. Doch in der Zeit von etwa 200 bis 350 n. Chr. veränderte sich der Umgang mit dem Christentum. Zunächst wurden Christen als Gruppe ernst genommen. Dann wurden sie im 3. Jahrhundert massenhaft verfolgt. Die systematische Christenverfolgung begann unter Kaiser Decius (reg. 249– 251), der Anstoß an der generellen Weigerung der Christen nahm, sich an heidnischen Opferritualen zu beteiligen, die er während der Krise des 3. Jahrhunderts zum Wohl des Reiches angeordnet hatte. Unter Decius – und später unter Valerian (reg. 253–260) und Diokletian (reg. 284–305) – wurden Christen ausgepeitscht, ihnen wurde die Haut abgezogen, sie wurden wilden Tieren vorgeworfen und auf andere kreative Weise zu Märtyrern gemacht. Diokletian ging als Sadist in die Geschichte ein, seine Grausamkeit lieferte christlichen Autoren wie Eusebius von Caesarea, der die Leiden früher christlicher Märtyrer sammelte und in einer Chronik erfasste, Material für reißerische Geschichten. Eine Passage, die typisch für Eusebius ist, lautet: Frauen wurden an einem der beiden Füße festgebunden und, den Kopf nach abwärts, mit gewissen Maschinen hoch in die Luft gezogen und boten so mit ihren völlig nackten und unbekleideten Körpern allen, die zusahen, den schändlichsten und allergrausamsten und unmenschlichsten Anblick. Andere wurden an Bäume und Stämme gebunden und fanden auf diese Weise den Tod. Man zog nämlich die stärksten Äste mittels gewisser Maschinen hart aneinander, befestigte an jedem je ein Bein der Märtyrer und ließ die Äste wieder in ihre natürliche Lage zurückschnellen. Dadurch sollten mit einem Male die Glieder der Unglücklichen, gegen die man so vorging, auseinandergerissen werden.37

Menschen bei lebendigem Leib die Haut abziehen, ihnen Brandmale und Verbrennungen durch Rösten über dem offenen Feuer zufügen  – diese und noch viele weitere entsetzliche Grausamkeiten wurden den Anhängern Christi im ausgehenden 3. Jahrhundert angetan. Doch zu Beginn des 4. Jahrhunderts fand ihr Leiden ein Ende. Zunächst wurden sie toleriert, dann wurden sie akzeptiert, und schließlich wurden ihr Glaube und ihre Präsenz sogar gefördert. Als das Weströmische Reich im frühen 5. Jahr-

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hundert endgültig zusammenbrach, war das Christentum offizielle Staatsreligion und seine Zukunft als eine der großen Weltreligionen war ge­ sichert. Das alles war überwiegend Kaiser Konstantin I . zu verdanken. Konstantin – geboren in Niš (Naissus) auf dem Balkan – wurde im Jahr 306 Kaiser. Zuvor hatte er bereits als Feldherr sein Talent unter Beweis gestellt. Beim Tod seines Vaters Constantius hielt er sich gerade in York (Eboracum) auf; Konstantin wurde also in der nordenglischen Stadt von seinen Truppen zum Kaiser ausgerufen. Unglücklicherweise – oder vielleicht auch nicht – herrschten zu der Zeit Zwietracht und Uneinigkeit im Reich. Vier Herrscher teilten sich den Kaisertitel im Rahmen einer ­sogenannten Tetrarchie, die Diokletian etabliert hatte. Dabei sollten zwei Herrscherpaare (jeweils ein Senior- und ein Juniorkaiser) den westlichen und östlichen Teil des Reiches im Geist der Kooperation und der Kompromissbereitschaft regieren. Das konnte natürlich nicht gut gehen. Es kam zu einem anhaltenden Bürgerkrieg, der jedoch am Ende den Durchbruch des Christentums mit sich brachte. Im Herbst 312, als sich Konstantin gerade auf den Kampf gegen seinen Rivalen Maxentius an der Milvischen Brücke über den Tiber vorbereitete, blickte er zum Himmel und sah ein flammendes Kreuz über der Sonne, begleitet von den griechischen Worten «durch dieses siege!» (En touto nika). Er deutete das Zeichen als Botschaft des christlichen Gottes: ein Gott, der offenbar mehr Interesse an Schlachten und Politik hatte, als man angesichts des Programms der Nächstenliebe, Vergebung und Versöhnung erwarten würde, das sein Sohn Jesus verkündet hatte. Wie auch immer, Konstantin konnte seine Feinde vernichtend schlagen: Maxentius ertrank im Tiber und wurde posthum enthauptet. Für Konstantin war damit der Weg frei, die Tetrarchie abzuschaffen und sich selbst zum alleinigen Kaiser zu machen, der über alle anderen herrschte. Von diesem Moment an stellte er christliche Bischöfe und Gläubige unter seinen kaiserlichen Schutz. Seine Soldaten zogen mit den Zeichen Chi-Rho auf den Schilden in die Schlacht. Beamte im gesamten Reich wurden angewiesen, ein neues kaiserliches Edikt umzusetzen, das 313 in Mailand erlassen worden war und den Christen die freie Ausübung ihres Glaubens gewährte. Im Rom begann man mit der Errichtung von Gebäuden, die später zur Basilica San Giovanni in Laterano beziehungs-

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weise zum Petersdom werden sollten. In Jerusalem wurde der Bau der ersten Grabeskirche in Auftrag gegeben, um die Stelle zu kennzeichnen, an der Christus gekreuzigt und begraben worden war. (Ein später aufkommendes Gerücht, das im Mittelalter enorme Bedeutung gewann, besagte, dass Konstantins Mutter Helena bei einem Besuch im Jahr 327 dort Holz vom Kreuz Christi gefunden habe.) Und 330 gründete Konstantin offiziell die Stadt Konstantinopel: eine neue kaiserliche Residenz in der bereits bestehenden Stadt Byzantium (Byzantion, heute ein Teil Istanbuls), in der er zahlreiche monumentale christliche Kirchen errichten ließ. Das Christentum wurde nun im gesamten Reich gefördert, und obwohl dem christlichen Gott anfangs kein Exklusivstatus eingeräumt wurde, hatte er schon bald eine Vorrangstellung unter den anderen Göttern inne. Konstantin wurde auf dem Sterbebett getauft, danach war nur ein römischer Kaiser ( Julian «der Apostat», reg. 361–363) kein Christ. Im 5. Jahrhundert war das Christentum die offizielle Staatsreligion im Reich. Die Kaiser nahmen auch die theologischen Feinheiten ernst – vor allem, wenn es um die Verfolgung von Häretikern und Schismatikern ging. Im Gegenzug erlebte das Christentum eine erste Phase der Romanisierung, in der sich ein eigener militärischer Ton entwickelte, Latein als Sprache der Exegese bevorzugt wurde und ein Netzwerk aus «Diözesen» entstand (der Begriff leitet sich ironischerweise von Diokletian ab, der das Reich im Rahmen einer Verwaltungsreform in säkulare Diözesen aufgeteilt hatte). Aus dieser Phase stammt auch die Vorliebe für monumentale Architektur und prunkvolle Rituale sowie – mit besonders dauerhafter Wirkung – die Spaltung in eine östliche und westliche Kirche, die die Teilung des Römischen Reiches seit Konstantin widerspiegelt.38 Konstantin war ein nüchtern denkender Feldherr, dessen Versuche, sein höfisches Umfeld zu bekehren, bestenfalls hölzern und aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich unbeholfen wirkten. Er erscheint als eine denkbar ungeeignete Figur, um das Christentum auf den Weg zu bringen, und seine Beweggründe, sich mit einem Mal so eng an den christlichen Glauben zu binden, sind bis heute umstritten. Über viele Generationen hielten die meisten Römer an ihrer Praxis fest, neben dem christlichen Glauben weiter ihre lieb gewordenen traditionellen Götter und heidnischen Rituale zu pflegen. Dennoch lässt sich die Tragweite von Konstan-

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tins Entscheidung im 4. Jahrhundert nicht von der Hand weisen. Davor wurden Christen verfolgt, gehasst und wilden Tieren in der Arena zum Fraß vorgeworfen. Nach Konstantins Entscheidung entwickelte sich das Christentum von einer unpopulären obskuren Sekte zum zentralen Kult im Reich. Man könnte – vielleicht ganz passend – fast von einem Wunder sprechen.

Vermächtnis «Jenes eilt ins Dasein, dieses aus dem Dasein, und von dem, was im Werden begriffen ist, ist manches bereits wieder verschwunden», schrieb der stoische Philosoph und römische Kaiser Marcus Aurelius (reg. 161– 180  n. Chr.).39 Wenn wir nach «Wendepunkten» in der Geschichte des Reiches, über das er herrschte, suchen müssten, gäbe es viele Optionen. Von bleibendem Wert und damit ein Wendepunkt war sicher das erwähnte Edikt des Kaisers Caracalla, die sogenannte Constitutio Antoniniana aus dem Jahr 212, mit der das Bürgerrecht auf alle freien Bewohner der ­römischen Provinzen ausgedehnt wurde. Ein anderer Meilenstein wäre die Reichskrise des 3. Jahrhunderts, als Rom taumelte, sich verschiedene Teile abspalteten, das Reich fast auseinanderbrach und sich dann reformierte. Ein dritter Meilenstein wäre Konstantins Herrschaft, unter der der christliche Glaube übernommen wurde und die neue Hauptstadt Konstantinopel dafür sorgte, dass das Zentrum und die Zukunft des Reiches fortan im östlichen Mittelmeerraum und nicht mehr im Westen lagen. Und ein vierter Wendepunkt (über den wir im nächsten Kapitel mehr erfahren werden) trat 370 n. Chr. ein, als nomadische Steppenvölker Europa erreichten, ein Vorgang, der enormen Druck auf die römischen Institutionen, Grenzen und Machtstrukturen ausübte, dem sie am Ende nicht standhielten. Auf welchen dieser  – oder vieler anderer  – Faktoren man nun den ­Zusammenbruch des Römischen Reiches zurückführt, hat für unsere ­Geschichte keine unmittelbare Bedeutung. Wichtig ist jedoch, dass das Römische Reich bis zu seinem Zusammenbruch an der Wende zum 5. Jahrhundert fast tausend Jahre lang eine politische, kulturelle, religiöse und militärische Macht im Westen verkörpert hatte. Die Eigentümer des

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Schatzfundes von Hoxne, die in dieser Zeit ihre Wertsachen vergruben, waren in den Genuss sämtlicher Früchte der römischen Zivilisation gekommen: Christentum, Bürgerrecht, städtischer Komfort, eine gemeinsame Sprache, das Römische Recht und die Möglichkeit, diese Vorteile dank der Zwangsarbeit von Sklaven auch zu nutzen. Und wie diesen Bürgern war es vielen anderen ergangen, von Britannien im Westen bis zu den Gebieten an der Grenze zum Sassanidenreich im Osten. Was zu Beginn des 5. Jahrhunderts noch niemand erahnen konnte, war, wie viel Römisches überleben würde. Das würde die Zeit zeigen. In einigen Regionen – besonders in der alten griechischen Welt des östlichen Mittelmeerraums – sollte Rom über viele Jahrhunderte in aktualisierter, aber nicht radikal veränderter Form weiterleben. In anderen Gebieten – etwa in Britannien, wo dieses Kapitel begann – verschwanden die offensichtlichen Zeichen des römischen Einflusses schon bald nach dem Abzug der Legionen; ein Großteil des römischen Vermächtnisses wurde mit­ unter im wahrsten Sinne des Wortes verschüttet, als neue Wellen von Siedlern eintrafen. Für manche kam der Zusammenbruch des Weströmischen Reiches einem Erdbeben gleich, in dessen Folge sie ihr Hab und Gut zusammenpackten und es entweder im Boden vergruben oder abtransportierten, um andernorts ein neues Leben anzufangen. Andere nahmen davon – wenn überhaupt – kaum Notiz. So, wie kein einzelnes Leben im ­Römischen Reich beispielhaft für alle stand, gab es auch kein typisches Beispiel für ein Leben ohne das Reich. Sich etwas anderes vorzustellen, wäre naiv. Doch keine dieser Relativierungen soll besagen, dass der Zusammenbruch des Römischen Reiches im Westen keine Rolle spielte oder dass man ihn nicht als Schlüsselmoment der westlichen Geschichte betrachten sollte. Das lange Bestehen der römischen Herrschaft, die Kultiviertheit Roms, seine Fähigkeit, Schönes zu schaffen, aber auch entsetzliche Grausamkeiten zu begehen – all diese Dinge sind in unterschiedlichem Maße in die kulturelle und politische Landschaft des Westens eingebettet. Und sie alle sollten auch in der Zeit, in der sich aus der Antike das Mittelalter entwickelte, weiterhin eine Rolle spielen. Selbst als Rom verschwunden war, war es nicht vergessen. Das Römische Reich bildete die historische Grundlage, auf der das Mittelalter aufbaute.

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Barbaren «Wer hätte geglaubt, dass das auf Triumphe über den ganzen Erdkreis gegründete Rom zusammenstürzte? Dass es, die Mutter der Nationen, ihnen auch zum Grabe würde?» Hieronymus, Kommentar zu Ezechiel

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ür all jene, die auf Vorzeichen achten, kündigte sich der Zusammenbruch des Römischen Reichs durch eine Reihe von Omen an. In Antiochia antworteten Hunde auf das Geheul der Wölfe, Nachtvögel ließen ihre traurigen Klagerufe vernehmen, und die Menschen murrten, dass der Kaiser bei lebendigem Leib verbrannt werden solle.1 In Thrakien lag ein Mann «reglos wie ein Toter» auf der Straße und fixierte Passanten mit seinem unheimlichen Blick, als ob er noch am Leben wäre, bis der Leichnam nach einigen Tagen plötzlich verschwunden war.2 Und in der Stadt Rom bestanden die Bürger darauf, weiter ins Theater zu gehen; ein ungeheuerlicher und schändlicher Zeitvertreib, der, so ein christlicher Autor, den Zorn des Allmächtigen geradezu heraufbeschwor.3 Die Menschen waren zu allen Zeiten abergläubisch, und im Rückblick sind wir natürlich besonders gut darin, Vorzeichen zu erkennen. Oder wie der Geschichtsschreiber ­Ammianus Marcellinus erklärte, als er auf das 4. Jahrhundert zurückblickte: «Glück und Unglück lässt Fortunas Flügelrad unaufhaltsam einander ­folgen.»4 In den 370er Jahren, als sich in Rom fatale Auflösungserscheinungen zeigten, hatte der römische Staat – als Monarchie, Republik und Reich – über ein Jahrtausend lang bestanden. Doch gut hundert Jahre später, gegen Ende des 5. Jahrhunderts, waren sämtliche Provinzen westlich des Balkans der römischen Kontrolle entglitten. Im Kernland des Reiches

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­ aren römische Institutionen, Steuersysteme und Handelsnetzwerke in w Auflösung begriffen. Die äußerlichen Merkmale der römischen Kultur – palastartige Villen, billige importierte Konsumgüter, fließendes und warmes Wasser, die jedoch nur einer kleinen Elite vorbehalten waren – ­fanden sich im Alltag immer seltener. Die Ewige Stadt war mehrfach geplündert worden, die Krone des Weströmischen Reiches hatte zwischen Narren, Usurpatoren, Tyrannen und Kindern hin und her gewechselt, bis sie schließlich abgeschafft worden war. Das Gebiet, das einst den Kern eines mächtigen Megastaates gebildet hatte, war unter Völkern aufgeteilt worden, die von den stolzen römischen Bürgern zur Blütezeit des Reiches als Wilde und Untermenschen verachtet worden waren. Gemeint sind die ­sogenannten «Barbaren» – eine abwertende Bezeichnung, die eine große Bandbreite an Menschen und Völkern umfasste: von umherwandernden nomadischen Stämmen, die relativ neu im Westen waren und nichts von den römischen Gebräuchen wussten oder nichts dafür übrighatten, bis zu seit Langem existierenden Nachbarvölkern, deren Leben stark von Rom beeinflusst worden war, die jedoch nicht in den Genuss des römischen Bürgerrechts gekommen waren. Der Aufstieg der Barbaren war ein komplizierter Prozess, der Wanderungen über kurze und lange Distanzen umfasste, den Zusammenprall politischer Systeme und Kulturen und einen allgemeinen Zusammenbruch der Institutionen des Reiches. Während Rom im Osten fast un­ berührt weiterbestand und in veränderter Form als griechischsprachiges ­Byzanz zu neuer Blüte gelangte, lag die Zukunft des römischen Westens nun in den Händen der Neuankömmlinge. Das Zeitalter der Barbaren war angebrochen.

«Der schrecklichste aller Krieger» Wenn man eine Zeit und einen Ort nennen wollte, dann brach die antike Welt im Jahr 370 am Ufer der Wolga zusammen – und das Mittelalter begann. In jenem Jahr tauchten dort große Gruppen von Menschen auf, die kollektiv als Hunnen bekannt waren. Sie hatten ihre Heimat verlassen, die Tausende Kilometer entfernte Graslandschaft (oder Steppe) im Nor-

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den Chinas, und waren bis an die Wolga gezogen. Die Ursprünge der Hunnen werden wohl für immer im Dunkeln bleiben, ihr Einfluss auf die Geschichte des Westens ist jedoch nicht zu verkennen. Bei ihrem ersten Auftauchen waren sie, wie wir heute sagen würden, Klimamigranten oder sogar Flüchtlinge. Doch im 4. Jahrhundert kamen sie nicht mit der Hoffnung auf Solidarität und freundliche Aufnahme in den Westen. Sie kamen zu Pferd, ausgestattet mit großen, starken Kompositbogen, mit ­denen sie Pfeile zielsicher und mit einer außergewöhnlichen Reichweite von 150 Metern abfeuern konnten. Die Durchschlagskraft war so enorm, dass die Pfeile eine Rüstung auch noch auf 100 Meter Entfernung durchbohrten. Derartige Waffen überstiegen das handwerkliche Können jedes anderen damaligen nomadisch lebenden Volkes. Dazu brachte ihre überlegene Kampftechnik zu Pferd den Hunnen den Ruf einer brutal mordenden Truppe ein  – dem sie ganz offenkundig nachkamen. Ihre Zivilisation gründete auf dem Nomadenleben, sie wurden angeführt von einer Kriegerkaste und verfügten über eine revolutionäre Militärtechnologie: ein Volk, das über unzählige Generationen durch das Leben in der gnaden­ losen eurasischen Steppe abgehärtet worden war, das im Umherziehen die einzig mögliche Lebensweise und Gewalt als festen Bestandteil des Überlebens sah. Dieses Volk sollte die römische Welt bis in die Grundfesten ­erschüttern. Die Hunnen waren vermutlich mit einer nomadischen Gruppe verwandt, die seit dem 3. Jahrhundert v. Chr. in der asiatischen Steppe lebte und dort ein Stammesreich gebildet hatte.5 Diese Nomaden kämpften ­gegen die chinesische Qin- und Han-Dynastie, und chinesische Schreiber gaben ihnen den Namen «Xiongnu» oder «heulende Sklaven».6 Die Bezeichnung blieb hängen und wurde als «Xwn» oder «Hun» transkribiert. Das Xiongnu-Reich ging zwar im 2. Jahrhundert n. Chr. unter, doch die verstreuten Nachkommen der überlebenden Stämme trugen den Namen weiter, sodass er auch noch zweihundert Jahre später existierte. Xiongnu, Xwn oder Hunnen: Wer wen wann und wo wie nannte, ist aufgrund der lückenhaften Quellenlage nur zu erahnen. Doch unabhängig von den Trägern vermittelte der Begriff auch immer Furcht und Schrecken: Angst gepaart mit Verachtung, die sesshafte Zivilisationen gegenüber allen fremden Nomaden hegen.

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Gegen Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. herrschten die Hunnen nicht mehr länger über ein eigenes Reich, waren aber immer noch eine poli­ tische Kraft. Und nicht nur die chinesischen Beobachter äußerten sich mit scharfer Zunge über sie. Um das Jahr 313 berichtete ein Kaufmann namens Nanaivande aus Zentralasien über den furchtbaren Schaden, den eine Gruppe Hunnen im nördlichen China angerichtet hatte, unter anderem auch in der Stadt Luoyang, wo der kaiserliche «Palast niedergebrannt und die Stadt zerstört» wurde.7 Eine Generation später – als eine Splittergruppe der Hunnen in neue Teile der Welt vordrang und sich nach Europa aufmachte – verfassten auch westliche Geschichtsschreiber umfangreiche Werke über deren Untaten. Ammianus Marcellinus nannte sie «über alle Maßen wild». Sehr wahrscheinlich unterschieden sie sich schon rein äußerlich von den sesshaften Völkern. Oft wurden die Köpfe der Kinder gebunden, damit sie eine längliche, konische Form erhielten. Mit ihren gedrungenen, behaarten Körpern, an das Leben im Sattel und unter freiem Himmel gewohnt, so erklärte Ammianus Marcellinus, unterstünden die Hunnen nicht der Autorität eines Königs, sondern «begnügen sich vielmehr von Fall zu Fall mit der Führung durch Häuptlinge und durchbrechen auf diese Art alle Hindernisse, die sich ihnen in den Weg stellen».8 Was die Hunnen veranlasste, im 4. Jahrhundert nach Westen zu ziehen, beschäftigt seit Langem die Historiker. Leider hatten die Hunnen wie viele Nomadenvölker ihrer Zeit keine Schrift – und damit auch keine Kultur der schriftlichen Überlieferung oder Chroniken. Sie können uns in ihrer Sprache nichts über sich erzählen, daher werden wir nie ihre Seite der Geschichte erfahren. Der Großteil der Informationen über sie stammt von Autoren, die die Hunnen hassten. Geschichtsschreiber wie Ammianus Marcellinus betrachteten sie als Geißel der Götter; ihr Auftauchen im Westen war in seiner Darstellung ein Zeichen für «den Zorn des Mars». Mit der Frage, welche menschlichen Faktoren ihren Aufstieg bedingten, hielt er sich nicht lange auf; falls die Hunnen in seinen Augen überhaupt einen eigenen Willen hatten, so schrieb Ammianus Marcellinus, dann würden sie «von entsetzlicher Gier nach Raub fremden Gutes» brennen.9 Weder er noch andere Geschichtsschreiber der damaligen Zeit dachten daran, sich mit den Gründen zu beschäftigen, warum die Hunnen

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370 n. Chr. an der Wolga auftauchten. Es bleibt nur die Tatsache, dass sie es taten. Es gibt jedoch eine Quelle, die uns einen Hinweis darauf geben kann, was die Hunnen aus ihrer Heimat in der asiatischen Steppe vertrieb und sie veranlasste, Richtung Westen zu ziehen. Dabei handelt es sich nicht um einen Chronisten oder einen Händler an der Seidenstraße, sondern um einen struppigen, schmalen chinesischen Gebirgsbaum, eine Koniferenart, die auch Przewalski-Wacholder (Juniperus przewalskii) genannt wird. Der immergrüne Baum oder Strauch, der besonders gut im Gebirge gedeiht, wächst langsam, aber stetig und kann bis zu 20 Meter hoch werden. Einzelne Bäume werden oft über tausend Jahre alt und bewahren in ihren Jahresringen wichtige Informationen über die Vergangenheit. Im Fall der Hunnen gibt uns der Przewalski-Wacholder Auskunft über die Niederschlagsmenge, die im 4. Jahrhundert n. Chr. im Osten fiel.10 Aus den Jahresringen des Przewalski-Wacholders in der Provinz Qinghai auf der Tibet-Hochebene geht hervor, dass Ostasien in der Zeit von 350 bis 370 n. Chr. offenbar eine «Mega-Dürre» durchmachte – die schlimmste Dürre, die aus den vergangenen zweitausend Jahren bekannt ist. Aus dem Himmel fiel schlicht kein Regen. In Nordchina herrschten mindestens ebenso schlimme Zustände wie in der amerikanischen «Dust Bowl» in den 1930er Jahren oder während der chinesischen Dürre in den 1870er Jahren, bei der etwa 9 bis 13  Millionen Menschen verhungerten. Während der Dürre im 19. Jahrhundert zeichnete ein Missionar namens Timothy Richards ein entsetzliches Bild der damaligen Bedingungen für die Landbevölkerung: «Die Menschen reißen ihre Häuser nieder, verkaufen ihre Frauen und Töchter, essen Wurzeln und Aas, Lehm und Blätter … Und als ob das noch nicht genügte, um Erbarmen zu wecken, liegen Männer und Frauen hilflos auf der Straße oder werden, wenn sie bereits tot sind, von hungrigen Hunden und Elstern zerfleischt, und die Nachricht … dass Kinder gekocht und gegessen werden, ist so entsetzlich, dass man beim bloßen Gedanken daran schaudert.»11 Ähnliche Zustände herrschten vermutlich bei den Hunnen im 4. Jahrhundert. Gras und Buschwerk der Steppe hatten sich in beißenden Staub verwandelt. Für die Hunnen, die darauf angewiesen waren, dort ihr Vieh zu weiden, das sie

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mit Fleisch, Milch und Kleidung versorgte und als Transportmittel diente, war das eine existenzielle Katastrophe, die sie vor eine harte Wahl stellte: abwandern oder sterben. Sie entschieden sich für den Aufbruch ins Ungewisse. 370 begannen verschiedene Gruppen von Hunnen, die Wolga zu überqueren, die an der Grenze zwischen dem heutigen Russland und Kasachstan ins Kaspische Meer fließt. Das war an sich noch keine unmittelbare Bedrohung für Rom. Als der junge Cäsar 49 v. Chr. den Rubikon überschritten hatte, war er etwa 350 Kilometer von der Hauptstadt entfernt gewesen; die Hunnen an der Wolga waren etwa zehnmal so weit von Mittelitalien und über 2000 Kilometer von Konstantinopel entfernt. Es sollte noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis sie sich als ernst zu nehmende Macht in der römischen Welt etablierten. In den 370er Jahren waren es auch nicht die Hunnen, die den Römern Probleme bereiteten. Es waren die Völker, die sie vertrieben hatten. Nach der Überquerung der Wolga kamen die Hunnen (in einem Gebiet, das heute ungefähr der Ukraine, Moldau und Rumänien entspricht) in Kontakt mit anderen Stämmen: zunächst mit den Iranisch sprechenden Alanen, dann mit den germanischen Stämmen, die kollektiv als ­Goten bekannt waren. Was genau sich zwischen den Gruppen beim ersten Aufeinandertreffen abspielte, ist nicht zuverlässig überliefert. Doch der griechische Geschichtsschreiber Zosimos vermittelt in groben Zügen ein Bild der Lage. Nach dem Sieg über die Alanen fielen die Hunnen im Gebiet der Goten ein, «mit ihren Frauen, Kindern, Pferden und Wagen», wie er schreibt. Nach Zosimos ’ Auffassung waren die Hunnen so raue und unzivilisierte Gesellen, dass sie nicht einmal wie Menschen auf zwei Beinen gingen, sie «verstanden sich aber wohl auf Umzingelungen, Vorstöße und geschickte Rückzüge und richteten so, indem sie selbst von ihren Pferden aus mit Pfeilen schossen, … ein riesiges Blutbad an». Die Goten mussten ihre Heimat verlassen und zogen ins Römische Reich, wo sie «mit flehentlich erhobenen Händen den Kaiser um Aufnahme baten».12 Mit anderen Worten: Eine Klimakatastrophe in Zentralasien löste eine sekundäre Migrationskrise in Osteuropa aus. Die Dürre vertrieb die Hunnen, und die Hunnen vertrieben die Goten, weshalb im Jahr 376 große

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Gruppen aufgescheuchter Goten am Ufer eines anderen wichtigen römischen Grenzflusses auftauchten: der Donau. Es waren insgesamt vielleicht 90 000 oder 100 000  Flüchtlinge, allerdings ist eine seriöse Schätzung schlicht unmöglich. Manche waren bewaffnet, die meisten verzweifelt. Und alle suchten Zuflucht im Römischen Reich. Es bot, wenn schon nicht das Paradies, so doch ein hunnenfreies Gebiet, in dem Stabilität die Norm war und das Militär den Bürgern und Untertanen Schutz in Krisenzeiten gewährte. Humanitäre Krisen sind nie schön, und die Krise im Jahr 376 war keine Ausnahme. Die Aufgabe, den Zustrom der Goten zu bewältigen – zu entscheiden, wer ins Reich durfte, zu welchen Bedingungen und wo man diejenigen dann ansiedeln sollte –, fiel dem östlichen Kaiser Valens (364–378) zu. Er war ein nervöser Mann, der seine Position als Herrscher von Konstantinopel seinem verstorbenen Bruder (und ursprünglichem Mitkaiser – senior augustus) Valentinian  I . verdankte. Valens verbrachte einen Großteil seiner Regierungszeit in dem Bemühen, seine schier grenzenlosen militärischen Verpflichtungen mit begrenzten Ressourcen in den Griff zu bekommen. Ständig war er entweder mit einer internen Rebellion beschäftigt oder in einen Konflikt mit den Sassaniden an der Grenze zu Armenien oder anderswo verwickelt. Die Perser waren bis dahin bei Weitem die größte Bedrohung für die Sicherheit Roms im Osten gewesen, und die Rivalität zwischen den beiden Reichen dominierte die Politik im Nahen Osten. Dennoch konnte Valens die Ankunft einer großen Gruppe mittelloser Außenseiter aus den Gebieten der Barbaren nicht ignorieren. Er befand sich in einem moralischen wie praktischen Dilemma. Sollte er die bedrängten Goten ins Reich lassen oder sie abwehren und ihrem Schicksal überlassen, was bedeutete, dass sie von den Hunnen abgeschlachtet oder versklavt wurden? Wenn er ihnen erlaubte, die Donau zu überqueren, stünde das Römische Reich vor großen Herausforderungen: Es wäre keine leichte Aufgabe, die öffentliche Ordnung zu wahren, die ­Lebensmittelversorgung aufrechtzuerhalten und den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern. Andererseits bedeuteten verzweifelte Migranten auch billige Arbeitskräfte, zudem konnte das römische Militär stets neue Rekruten gebrauchen. Wenn Valens die Goten ins Reich ließ, konnte er ihre Männer vielleicht zum Militärdienst gegen die Perser verpflichten

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und die übrigen mit hohen Steuern belegen. Die Situation war heikel – bot jedoch auch Chancen. 376 suchten gotische Gesandte Valens in Antiochia auf und baten offiziell um die Aufnahme ihrer Leute. Der Kaiser ließ sich die Angelegenheit durch den Kopf gehen und erklärte dann, er würde einigen Goten erlauben, die Donau zu überqueren; sie könnten sich mit ihren Familien in Thrakien (im heutigen Bulgarien und Osten Griechenlands) ansiedeln, wenn sich ihre Männer zum Militärdienst verpflichteten. An die Grenze wurde der Befehl gesandt, dem Gotenstamm der Terwingen die Passage über die Donau zu erlauben, doch einem rivalisierenden Stamm, den Greutungen, wurde der Übergang verwehrt.* Valens hielt diese Anordnungen offensichtlich für eine schlaue Lösung; laut einigen Quellen, etwa der Darstellung von Ammianus Marcellinus, war er über das Ergebnis ­sogar erfreut: «Die Angelegenheit weckte indessen anfänglich mehr Freude als Angst.»13 Anscheinend hatte er aus einer Tragödie noch Profit geschlagen. An der Donau begann die römische Flotte mit einer Rettungsaktion, bei der vielleicht fünfzehn- bis zwanzigtausend Goten «auf Booten, Flößen und auch auf Einbäumen» übergesetzt wurden.14 Doch der vermeintliche Vorteil, den Valens aus der Krise gezogen hatte, schlug schnell ins Gegenteil um. Im Rückblick kann man leicht behaupten, dass Valens mit dieser Entscheidung einen katastrophalen historischen Fehler machte. Doch eine solche Situation hätte vielleicht auch einen Augustus oder Konstantin überfordert. Und eins war klar: Sobald der erste Schritt getan war und Flüchtlingsscharen ins Reich gelassen wurden, ließ er sich nicht mehr rückgängig machen.

* Unter Historikern ist man sich nicht ganz einig, ob die Goten selbst mit diesen Stammesnamen etwas anfangen konnten oder ob es sich dabei nur um unzureichende Etiketten handelt, die ihnen die Römer verpasst haben. Man denke nur an die Schwierigkeiten, die weiße Siedler auf dem amerikanischen Kontinent mit der Beschreibung der indigenen Völker und ihrer Strukturen im 19. Jahrhundert bei der Eroberung des Landesinneren hatten.

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Das erste Blutvergießen Die Römer und Goten hatten bereits eine gemeinsame Vorgeschichte. Von 367 bis 369 hatte Valens eine Reihe von Kriegen gegen gotische Stämme geführt. Die Konflikte waren am Ende durch Verhandlungen beigelegt worden, doch die Schäden, die römische Truppen im Gebiet der Goten angerichtet hatten, hinterließen in Kombination mit wirtschaft­ lichen Sanktionen ungute Gefühle auf beiden Seiten. (Tatsächlich ist es sehr wahrscheinlich, dass der Krieg gegen die Römer einen wesentlichen Anteil daran hatte, die Goten schon vor der Ankunft der Hunnen zu schwächen.)15 Daher brauchte es nicht viel, dass aus einem staatlichen Programm zur Ansiedlung von Flüchtlingen üble Ausbeutung wurde, bei der «unerhörte Verbrechen aus gemeinsten Erwägungen heraus … gegenüber den damals ungefährlichen fremden Einwanderern» begangen ­wurden.16 Laut Ammianus Marcellinus nutzten die römischen Generäle – Lupicinus und Maximus mit Namen –, die mit dem Transport über die Donau beauftragt waren, die Lage der hungernden terwingischen Familien schamlos aus und zwangen sie, ihre Kinder als Sklaven im Austausch für Hundefleisch zu verkaufen. Zu dieser Grausamkeit kam auch noch Un­ fähigkeit. Lupicinus und Maximus beuteten nicht nur die terwingischen Goten aus, sondern versäumten es zudem, andere Flüchtlinge, die nicht willkommenen Barbaren, am Eindringen ins Reich zu hindern. Durch Guerillaaktionen, bei denen die römischen Flusspatrouillen umgangen wurden, kamen in den Jahren 376 und 377 Tausende vertriebene und geschundene Goten nach Thrakien. Einige ließen sich legal, andere illegal nieder. Ihre alte Heimat hatten sie verloren, doch für die neue hatten sie meist nicht viel übrig. Eine geeignete Infrastruktur, um Zehntausende Neuankömmlinge in Schach zu halten, umzusiedeln und mit Lebensmitteln zu versorgen, war nicht vorhanden. Das Hauptaugenmerk des Kaisers galt immer noch dem Grenzgebiet zu Persien, daher hatte Valens die Gotenfrage an Männer delegiert, die ihrer Aufgabe offenkundig nicht gewachsen waren. Der Balkan wurde zum Pulverfass. 377 brach unter den Goten innerhalb des Römischen Reiches eine Reihe von Aufständen aus. Aus Raubzügen und der Plünderung reicher

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thrakischer Dörfer und Landgüter entwickelte sich schon bald ein regelrechter Krieg, in dem die Goten mit einer Kombination aus Verzweiflung und «wilderregtem Sinn» gegen das römische Militär kämpften.17 Bei ­einem Zusammenstoß nahe Ad Salices, nicht weit von der Küste des Schwarzen Meeres, griffen die Goten die römischen Truppen «mit großen, feuergehärteten Keulen» an und «rammten den allzu heftigen Wider­ stand leistenden Gegnern das Schwert in die Brust … Allüberall deckten die Leichen der Gefallenen das Schlachtfeld … Einige waren von einer Schleuderkugel oder einem eisenbewehrten Pfeil getroffen, während die Häupter anderer von einem Schwertstreich mitten durch Stirn und Scheitel gespalten waren, sodass sie  – ein grauenvoller Anblick  – auf beide Schultern herabhingen.»18 Das erste große Kräftemessen mit den Goten kam im Hochsommer 378. Mittlerweile hatten sich die gotischen Stämme im Römischen Reich zusammengeschlossen und kämpften mit vereinten Kräften. Auf dem Schlachtfeld wurden sie zusätzlich von Alanen und sogar einigen Hunnen unterstützt, die ebenfalls die unzureichend gesicherte Flussgrenze überquert hatten und nun die Gegend unsicher machten. Gemeinsam hatten sie den breiten Korridor zwischen der Donau und dem Balkangebirge (montes haemus) in eine rauchende, versengte Einöde verwandelt. Einmal war sogar ein berittener Kriegertrupp in Sichtweite der Mauern von Konstantinopel aufgetaucht. Aus einem marginalen Problem in den Rand­ gebieten war eine ausgewachsene Krise geworden, die die Integrität und Ehre des ganzen Reiches bedrohte. Valens blieb keine Wahl, er musste handeln. Als es an der persischen Front eine kleine Atempause gab, zog er persönlich an der Spitze einer ­Armee auf den Balkan. Außerdem informierte er den Kaiser im Westen, seinen neunzehnjährigen Neffen Gratian, und bat um Unterstützung. An sich war das ein kluger Schachzug, denn Gratian konnte bereits eine Reihe beeindruckender militärischer Siege gegen germanische Stämme am Oberlauf der Donau vorweisen. Allerdings hatte es Valens einige Überwindung gekostet, seinen viel jüngeren und erfolgreicheren Mit­ kaiser um Hilfe zu bitten. Sein Stolz und seine Berater drängten ihn, die Angelegenheit ohne fremde Hilfe zu erledigen. Daher wartete Valens nicht auf Gratians Eintreffen. Nachdem seine Armee den Sommer bisher

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untätig im Lager verbracht hatte, kam Anfang August die Nachricht, dass sich eine große Zahl Goten in der Nähe von Adrianopel (heute Edirne in der Türkei) unter dem Kommando ihres Anführers Fritigern versammelt habe. Die Späher schätzten ihre Zahl auf etwa zehntausend. Valens beschloss, sie allein anzugreifen. Am Morgen des 9. August wurden mehrere Abteilungen «eiligst in Marsch gesetzt».19 Valens führte seine Männer aus dem befestigten Lager bei Adrianopel über schwieriges Gelände etwa 14  Kilometer durch die glühende Vormittagshitze. Als die römischen Legionäre bei den Goten anlangten, setzten diese das trockene Land in Brand. «Außerdem sollte die Sommersglut die Kehlen unserer erhitzten Soldaten noch weiter ausdörren», schrieb Ammianus Marcellinus. «Die Kriegsgöttin Bellona, rasend wie nie zuvor, ließ schauerlich die Trompeten zur Vernichtung der Römer erklingen.»20 Als Valens auftauchte, näherten sich ihm Gesandte der Goten und behaupteten, sie wollten einen Waffenstillstand aushandeln. Doch tatsächlich wollten sie nur Zeit gewinnen, während ihre Anführer eine Falle vorbereiteten. Nach ergebnislosen Verhandlungen verlor Valens am frühen Nachmittag die Kontrolle über seine müden und durstigen Soldaten, die nun die Goten auf eigene Faust angriffen. Es kam zur Schlacht. «Nun ge­ rieten die beiden Schlachtreihen wie geschnäbelte Schiffe aneinander und wurden dabei, indem sie sich wechselseitig hin und her stießen, gleich Meereswogen infolge ihrer Bewegungen umhergeworfen», berichtet ­Ammianus Marcellinus. «[Unsere] Abteilungen waren so dicht zusammengedrängt, dass kaum ein Mann sein Schwert zücken oder die Hand zurückziehen konnte. Infolge des aufwirbelnden Staubs war auch schon der Himmel nicht mehr zu sehen und hallte nur noch vom grässlichen Geschrei wider. So trafen denn die von allen Seiten fliegenden tödlichen Geschosse mit furchtbarer Sicherheit ihren Mann und schlugen tiefe Wunden; man konnte sie ja nicht kommen sehen und sich vor ihnen decken.»21 Leid­ tragende dieser ungünstigen Situation waren vor allem die Römer. Die römischen Späher, die die Zahl der Goten auf nur zehntausend geschätzt hatten, lagen falsch. Es waren viel mehr: Genug, um es problemlos mit einer römischen Armee von etwa dreißigtausend Mann aufzunehmen.22 «Wie nun die Barbaren, in unermesslichen Scharen sich ergießend,

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Mann und Ross niederstampften, ließ sich für die zusammengepressten Abteilungen nirgendwo Raum zum Rückzug finden, raubte dichte Ballung jede Möglichkeit des Entkommens», fuhr Ammianus Marcellinus fort.23 Hinzu kam, dass die Goten einen Teil ihrer Reiterei vor den römischen Spähern verborgen hatten. In einem entscheidenden Moment der Schlacht tauchten die Reiter unerwartet auf – mit verheerender Wirkung. Valens war überlistet worden, seine Männer wurden überwältigt. «Schließlich färbte sich alles dunkelrot von Blut, und wohin auch die Augen sich richteten, lagen die Gefallenen zu Bergen aufgetürmt», schrieb Ammianus Marcellinus. «All diesen ewig unersetzlichen Verlusten, die den römischen Staat so teuer zu stehen gekommen waren, machte schließlich die Nacht ein Ende, und nicht einmal der Mond gab seinen Schein.»24 Ein besonders schwerwiegender Verlust war Valens selbst. Das genaue Schicksal des Kaisers ist nicht bekannt: In einem Bericht heißt es, er sei von einem Pfeil getroffen worden und sofort tot gewesen. Andere erzählen, er sei von seinem Pferd abgeworfen worden und im Sumpf ertrunken. Wiederum andere behaupten, Valens sei mit einigen Leibwächtern und Eunuchen vom Schlachtfeld entkommen und habe in einem Landhaus Zuflucht gesucht. Da seine Verfolger die Tür nicht aufbrechen konnten, «schleppten sie […] Stroh- und Reisigbündel zusammen, legten Feuer ­daran und brannten so das Haus mit allen nieder, die darinnen waren».25 Was auch immer damals geschehen sein mag, Valens ’ Leichnam wurde nie gefunden. In der Schlacht von Adrianopel fielen zehn- bis zwanzigtausend Römer einschließlich des östlichen Kaisers. Rom war schwer getroffen – und die Wunden sollten ihm mit der Zeit noch schwer zu schaffen machen.

Der Sturm kehrt zurück Aufgrund der Krise von 376 bis 378 hatten zwar das Ansehen des ­Römischen Reiches und die Schlagkraft der Armee im Osten erheblich gelitten, doch die Niederlage stürzte das Imperium nicht sofort ins Verderben. Dies war das Verdienst eines Kaisers, der beide Hälften des Reiches in den letzten Jahrzehnten des 4. Jahrhunderts noch einmal stabili-

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sierte. Theodosius I. gelangte in Konstantinopel nach Valens ’ Tod an die Regierung und übernahm nach einem Machtkampf im Westen 392 auch die Herrschaft in Mailand (Mediolanum) – seit dem späten 3. Jahrhundert die Hauptstadt des westlichen Reiches. Er einigte sich mit den Goten ganz pragmatisch, indem er sie offiziell in Thrakien ansiedelte und ihre Krieger dazu nutzte, die Lücken zu füllen, die sie selbst in die Reihen der römischen Armee geschlagen hatten. Außerdem erließ er Maßnahmen, um im gesamten Reich das überkommene römische Heidentum zu unterdrücken, und griff aktiv beim Schisma zwischen Arianismus und Katho­ lizismus ein, das die sich entwickelnde christliche Kirche zu spalten drohte. Vor allem aber sorgte er dafür, dass die traditionellen Grenzen des Reiches in Europa – im Grunde die Flüsse Rhein und Donau – nicht wieder überrannt wurden. Theodosius ’ Herrschaft verlief nicht ohne Pro­ bleme, doch im Rückblick erscheint sie wie ein (wenn auch nur kurzes) Goldenes Zeitalter – was nicht zuletzt auch daran liegt, dass er der letzte Kaiser war, der über beide Reichshälften herrschte. Doch als Theodosius an einem trüben und verregneten Januartag im Jahr 395 starb, überließ er die Führung des römischen Staats seinen Söhnen, die gemeinsam regieren sollten.26 In Konstantinopel gelangte so ein Siebzehnjähriger namens Arcadius auf den Kaiserthron. In Mailand wurde der neunjährige Honorius zum augustus ernannt. Man hielt weder den einen noch den anderen für reif genug, um allein zu regieren, daher wurde die Herrschaft von ihren jeweiligen Beratern übernommen. Die ­eigentliche Macht hinter dem östlichen Thron übte ein energischer brutaler Gallier namens Rufinus aus. Im Westen beanspruchte ein charisma­ tischer General namens Stilicho diese Position für sich. Stilichos Zeit­ genossen wiesen zwar immer wieder darauf hin, dass er zur Hälfte ein Barbar war – sein Vater gehörte dem germanischen Stamm der Vandalen an –, doch er sollte sich als wackerer Verteidiger Roms erweisen, selbst als das Reich ins Wanken geriet und sich an den Rändern auflöste. In dieser Hinsicht war Stilicho der lebende Beweis für die durchlässigen Grenzen zwischen Römern und Barbaren, deren Welten eben nicht nur im Widerstreit miteinander lagen, sondern sich auch überschnitten. «Seit der Mensch den Erdball bewohnt, wurde niemals einem Mann ein Schicksal zuteil, das ausschließlich aus Gutem besteht», schrieb der Dichter

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Claudian, der als persönlicher Propagandist des Regenten fungierte, über dessen Situation.27 Allerdings brachte Stilichos Machtübernahme im Westen (zu der auch gehörte, dass er seine Tochter Maria mit dem jungen Kaiser Honorius verheiratete) ihm zahlreiche Feinde innerhalb und außerhalb des Reiches ein – und er musste sich um das Wiederanschwellen der Völkerwanderung kümmern, die den Westen des Römischen Reiches auf eine harte Probe stellen und schließlich seinen Untergang einleiten sollte. Als Stilicho 395 n. Chr. an die Macht gelangte, war die Erinnerung an die Gotenkrise der 370er Jahre, die nun eine Generation zurücklag, bereits am Verblassen. An den Ursachen für die Invasion der Goten hatte sich ­jedoch kaum etwas verändert. Tatsächlich sollte die Situation in fast identischer Form wiederaufleben, denn in den 390er Jahren wurden die Hunnen wieder aktiv. Die Belege sind zwar nicht eindeutig und bieten Raum für Interpretationen, doch es ist klar, dass die Hunnen in der Zeit zwischen Mitte der 380er und Mitte der 420er Jahre aus irgendeinem Grund ihren Zug nach Westen wieder aufnahmen.28 Ihre Reise, die in der dürregeplagten Steppe nördlich von China begonnen hatte, führte sie nun über eine Strecke von etwa 1700 Kilometern vom Kaukasus in die Große Ungarische Tiefebene. Und wie zuvor veranlasste der Zug der Hunnen, die in großer Zahl unterwegs waren, andere Stämme zur Flucht.* Als die Hunnen in den 370er Jahren nördlich des Schwarzen Meeres aufgetaucht waren, hatten sie die Goten vertrieben. Als sie nun in die ­Ungarische Tiefebene strömten, scheuchten sie andere Gruppen der Barbaren auf: Alanen, Vandalen, einen germanischen Stamm namens Sueben und einen anderen namens Burgunder, die die römischen Geschichtsschreiber nicht nur wegen ihrer Pausbäckigkeit verspotteten, sondern

* In den 390er Jahren genügte bereits die Erwähnung der Hunnen, um die Römer in Angst und Schrecken zu versetzen. Als sich entlaufene Sklaven und Deserteure in jener Zeit auf dem Balkan zu einer Räuberbande zusammentaten, nannten sie sich selbst «die Hunnen», obwohl sie so gut wie sicher keine Hunnen waren. Die Nachahmung war eine Form der Ehrbezeugung (mit todernstem Hintergrund): Die Räuber machten sich etwas zunutze, was wir heute als «Terror-Marke» bezeichnen würden, die sich im 4. Jahrhundert gerade herausbildete.

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auch wegen der unangenehmen Angewohnheit, sich die Haare mit ran­ ziger Butter zu glätten. Einige oder sogar alle Gruppen hatten Ende des 4. Jahrhunderts schon Kontakt mit einzelnen Hunnen gehabt, weil unternehmungslustige Hunnenkrieger hin und wieder gen Westen gezogen ­waren, um sich dort als Söldner zu verdingen. (Manche Hunnen boten ihre militärischen Fähigkeiten auch im Römischen Reich an: Sowohl ­Rufinus in Konstantinopel als auch Stilicho in Mailand hatten Hunnen unter ihren persönlichen Leibwächtern, den sogenannten bucellarii.) Doch lokal begrenzte Begegnungen mit Söldnern konnten den Westen nicht auf die Auswirkungen eines zweiten Hunnensturms vorbereiten. Wieder einmal drängten die Hunnen gegen die Grenzen des Imperiums, lösten Panik aus und trieben andere Völker in unkontrollierten Wanderungsbewegungen vor sich her, wodurch es in den Jahren 405 bis 410 zu einer Reihe verheerender Angriffe auf die römischen Grenzen kam. Das Unheil nahm in den östlichen Ausläufern der Alpen seinen Anfang, als in der zweiten Hälfte des Jahres 405 ein gotischer Heerführer ­namens Radagaisus mit der ungeheuren Zahl von hunderttausend Menschen (von denen etwa zwanzigtausend kämpfende Männer waren) auftauchte und sich den Weg nach Italien freikämpfte. Laut Zosimos (der seine Informationen von einem Geschichtsschreiber namens Olympiodoros von Theben bezog) sorgte die Nachricht von Radagaisus ’ bevorstehendem Einfall für große Verunsicherung. «Die Städte gaben jede Hoffnung auf, und auch Rom selbst geriet in Panik.»29 Und es gab auch durchaus Grund zur Sorge. Stilicho, der den Auftrag hatte, die Eindringlinge abzuwehren, hatte eigentlich mehr als genug Soldaten, allerdings standen sie nicht sofort zur Verfügung. Er musste sie aus dem Rheinland abziehen, Verstärkung aus den Reihen der Alanen und Hunnen holen, die sich als Söldner verdingten, und die gesamten Streitkräfte Italiens für eine groß angelegte Militäroperation mobilisieren. Als er schließlich bereit war, gegen Radagaisus anzutreten, war es Mitte des Jahres 406. Inzwischen hatten die G ­ oten fast sechs Monate lang nach Herzenslust plündern können, und Radagaisus war Richtung Süden bis nach Florenz vorgedrungen, das er belagert hatte, bis die Einwohner am Rand des Hungertods standen. Die Goten und ihr Heerführer wurden schließlich für ihre Untaten bestraft. Stilicho «brachte dem feindlichen Heer eine vernichtende Nie-

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derlage bei», wie Zosimos schrieb. «so daß sich fast keiner der Gegner zu retten vermochte, außer ganz wenigen, welche Stilicho selbst unter die ­römischen Hilfsvölker aufnahm.» Radagaisus wurde gefangen genommen und am 23. August vor den Stadtmauern von Florenz enthauptet. Stilicho war natürlich «mit Recht stolz auf seinen Sieg» und «trat mit seinem Heer so zu sagen von allen bekränzt, den Heimweg an; hatte er doch ­wider alle Erwartung Italien von den befürchteten Gefahren befreit».30 Die Schlacht war relativ schnell und überzeugend gewonnen worden. Doch da Stilicho so viele Truppen aus anderen Teilen des Reiches abgezogen hatte, waren weite Teile des Westens schlecht geschützt und dadurch verwundbar. Zudem hatte er die eigentliche Quelle des Problems nicht beseitigt. Der Krieg – in dem es weniger um einen einzelnen Heerführer oder ein einzelnes Volk ging, sondern um Demografie und massive Wanderungsbewegungen im Allgemeinen – hatte gerade erst begonnen. Welche Folgen der Abzug der römischen Truppen am Rhein hatte, zeigte sich noch im selben Jahr. Am 31. Dezember 406 überquerte ein großer Zug aus Vandalen, Alanen und Sueben den Fluss und drang in Gallien ein.31 Ob der Rhein im tiefen Winter zugefroren war oder einfach nur schlecht verteidigt wurde, ist für uns heute nicht mehr zu ermitteln – doch die Überquerung stürzte Gallien und die angrenzenden Provinzen mitsamt Britannien ins Chaos. Der Kirchenvater Hieronymus berichtet in einem Brief, gewalttätige Eindringlinge hätten die Stadt Mainz geplündert und dabei Tausende Kirchgänger niedergemacht. Anschließend hätten sie Worms belagert und dem Erdboden gleichgemacht. Auch in Reims, Amiens, Arras, Thérouanne, Tournai, Speyer, Straßburg, Lyon und Narbonne hätten sie ihr Unwesen getrieben. «Und diese [Orte] vernichtet von außen das Schwert, im Innern aber wütet der Hunger», schrieb Hieronymus. «Wer sollte es für möglich halten? Welches Geschichtswerk wird es in angemessener Sprache der Nachwelt überliefern? Rom musste innerhalb seiner Grenzen kämpfen, nicht zur Mehrung seines Ruhmes, sondern zur Rettung seiner Existenz.»32 Der christliche Dichter Orientius ­erklärt in ähnlichem Ton: «Ganz Gallien war erfüllt vom Rauch eines einzigen Scheiterhaufens.»33 Bis zu dreißigtausend Krieger und hunderttausend weitere Migranten waren nun in der Provinz unterwegs. Die Rhein-

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grenze war überwunden, ein Schock, von dem sich die umliegenden Gebiete nicht mehr erholen sollten. Nun geriet die Situation schnell außer Kontrolle. Die Krisen in Italien und Gallien hatten an fast allen Grenzen im westlichen Teil des Reiches für tiefe Verunsicherung gesorgt. In Britannien befanden sich die Soldaten der römischen Armee, nachdem sie viele Monate lang keinen Sold erhalten hatten, mehr oder weniger ständig am Rand einer Meuterei. Im Verlauf des Jahres 406 ernannten sich zwei Feldherren, zunächst Marcus, dann Gratian, selbst zum Kaiser. Jeder «regierte» wenige Monate, bevor er von seinen Männern ermordet wurde. Anfang 407 probierte ein dritter Usurpator sein Glück. Konstantin III . übernahm die Kontrolle über die Legionen in Britannien, verkündete, dass er nun der Herrscher des westlichen Reiches sei, und begann mit dem fatalen Abzug aller Militäreinheiten aus Britannien. In den darauffolgenden Monaten ließ Konstantin Tausende Soldaten von Britannien nach Gallien verlegen, um die Rheingrenze zu retten. Die Einwohner waren fortan sich selbst überlassen: Obwohl sie offiziell immer noch Teil des Römischen Reiches waren, hatte man sie praktisch aufge­ geben, womit sie den Überfällen germanischer Stämme, die kühn genug waren, über die Nordsee zu kommen, schutzlos ausgeliefert waren. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Britannien nicht mehr römisch war. Die Überfälle hielten unvermindert an. 408 griffen die Hunnen das Reich zum ersten Mal direkt an, als ein Krieger namens Uld (oder Uldin), einst Söldner und Verbündeter Stilichos, die Donau in der Nähe von C ­ astra Martis (heute an der Grenze zu Serbien und Bulgarien) überschritt und verkündete, er sei bereit, jeden Ort der Erde zu erobern, der von den Strahlen der Sonne berührt werde. Tatsächlich aber wurde Uld von seinen eigenen Männern verraten und besiegt. Anschließend verschwand er; entweder wurde er in die Sklaverei verkauft oder, was wahrscheinlicher ist, direkt getötet. Wie auch immer – das Römische Reich wurde schwer bedrängt. Einer der gefährlichsten Anführer der Barbaren – ein un­ bedeutender König, der sich für Stilicho jedoch als echte Plage erweisen sollte – war ein Heerführer namens Alarich. Zu Beginn seiner Karriere hätte Alarich als Musterbeispiel für eine gelungene Integration der Goten und ihre Anpassung an die römische Lebensweise gelten können. Er war

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Christ. Er führte eine Kriegertruppe aus Goten und anderen nichtrömischen Soldaten, die in der römischen Armee dienten. Tatsächlich schien er sich während seiner gesamten Laufbahn nichts mehr zu wünschen als eine legitime Position in der politischen und militärischen Hierarchie des ­Römischen Reiches. Dennoch brach er 395 die freundschaftliche Beziehung zu Rom ab und ließ sich von einer gotischen Koalition, die heute als Westgoten bezeichnet werden, zum König wählen. Dadurch konnte er über eine militärische Gefolgschaft gebieten, die in die Zehntausende ging. Zweimal, 401/402 und 403, nutzte Alarich diese Streitmacht, um in Italien einzufallen. In beiden Fällen wurde er von Stilicho geschlagen, der die Westgoten in den Schlachten von Pollenza (Pollentia) und Verona besiegte. «Lernt, ihr wahnwitzigen Völker, dass ihr Rom nicht unterschätzen dürft», lautete Claudians Fazit in seiner Schilderung von Alarichs Niederlage gegen Stilicho.34 Doch am Ende war es Alarich, der zuletzt lachte. Alarich schien nach seinen Niederlagen auf dem Schlachtfeld versöhnt mit dem westlichen Reich, doch 406 weigerte er sich, den Römern zu Hilfe zu kommen, als sein Landsmann Radagaisus einen eigenen gotischen Überfall auf Italien anführte. Und als Gallien 408 im Chaos versank und Britannien von Usurpatoren beherrscht wurde, stürzte sich Alarich freudig ins Getümmel. Da er immer noch über Zehntausende Krieger verfügte, ließ er dem westlichen Kaiser Honorius  – dessen Hof inzwischen von Mailand nach Ravenna umgezogen war, um näher am Oströmischen Reich zu sein – mitteilen, er werde erneut in Italien einmarschieren, wenn man ihm nicht sofort 3000  Pfund Silber zahlen würde. Der Senat sträubte sich, doch Stilicho, dem bewusst war, dass das römische Militär ohnehin überfordert war und unmöglich an einer weiteren Front kämpfen konnte, überzeugte die Senatoren, Alarichs Forderungen zu erfüllen. Die Entscheidung stieß auf allgemeinen Unmut; ein Senator namens Lampadius murmelte sogar: «Dieses heißt nicht den Frieden, sondern Sklaverei zu er­ kaufen.»35 Der Unmut verdichtete sich schon bald zur politischen Revolte. Im Sommer 408, als es im Reich überall brannte und die Westgoten nur da­ rauf warteten zuzuschlagen, erhoben sich Stilichos Feinde im Senat gegen ihn. In Anspielung auf Stilichos vandalische Vorfahren wurde das Gerücht verbreitet, der Heermeister habe sich heimlich mit Alarich verbün-

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det, um seinen Sohn im Oströmischen Reich, wo Arcadius vor Kurzem ­gestorben war, zum Kaiser zu machen. Stilichos Autorität schwand so ­rapide, dass er nicht einmal mehr seine eigene Haut retten konnte. Im Mai 408 wurden mehrere seiner loyalen Offiziere bei einer Meuterei umgebracht. Honorius stellte die Zahlungen an Alarichs Westgoten ein. Und drei Monate später wurde Stilicho in Ravenna festgenommen und eingesperrt. Am 22. August richtete man ihn wegen Verrats hin. Er hatte sich dem Urteil widerspruchslos gefügt. Laut Zosimos beugte Stilicho «gewissermaßen selbst den Nacken unter das Schwert – ein Mann, von fast allen Gewalthabern jener Zeit der maßvollste!».36 Ohne einen Finger zu rühren, war Alarich seinen gefährlichsten Widersacher losgeworden. Und er wusste diese Gelegenheit bestmöglich zu nutzen. Bereits wenige Wochen nach Stilichos Hinrichtung marschierten ­Alarich und die Westgoten durch Italien in der festen Absicht, im Kernland des Reichs fette Beute zu machen. Da zu den allgemeinen Vergeltungsmaßnahmen nach Stilichos Tod auch mehrere Wellen xenophober Angriffe auf Migranten gehörten, schwoll der Zug immer weiter an. Tausende Barbarensoldaten in der römischen Armee waren entsetzlich misshandelt, ihre Familien gefoltert oder getötet worden. Vielen, die sich nun Alarich anschlossen, ging es daher nicht nur ums Plündern, sondern um persönliche Rache. Und so steuerten sie direkt auf das Ziel zu, von dem sie wussten, dass sie damit das Reich besonders schmerzlich treffen würden: das symbolische Herz des Imperiums, die Stadt Rom selbst. Im November begann Alarich mit der Belagerung der Ewigen Stadt. Er kappte alle Lebensmittellieferungen und verlangte sämtliches Gold, das die Einwohner besaßen, als Lösegeld. Mit etwa einer dreiviertel Million hungriger Einwohner konnte Rom nicht lange ohne Nahrungsmittel auskommen. Nach zwei Monaten versprach der Hof in Ravenna Alarich 5000 Pfund Gold und 30 000 Tonnen Silber, dazu Lebensmittel und Kleidung für seine Armee – wenn er abzog. Ein stolzer Preis, doch der mittlerweile vierundzwanzigjährige Kaiser Honorius wusste, dass er keine andere Wahl hatte, als Stilichos alte Strategie wiederaufzunehmen und die geforderte Summe zu zahlen. In Gallien gewann der Gegenkaiser Kon­ stantin täglich neue Unterstützer. Das römische Umland war verwüstet – wirtschaftlich für Jahre am Boden. Überall entwickelten sich neue Krisen.

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Doch nach seinem Abzug aus Rom erhob Alarich weitere Forderungen. Immerhin wollte er sich komplett aus Italien zurückziehen. Sein neuer Wunsch ging zurück auf die eigentliche Ursache, deretwegen die Goten überhaupt die Donau überquert hatten: der Verlust ihrer eigenen Heimat, nachdem Osteuropa von den Hunnen überrannt worden war. Alarich bat den Kaiser um die Erlaubnis, sich mit seinen Westgoten in ­einem Gebiet niederzulassen, das grob dem heutigen Österreich, Slowenien und Kroatien entspricht. Und er forderte ein hohes militärisches Amt: Er wollte Stilicho als Heermeister nachfolgen. Dafür versprach er «zwischen ihm und den Römern Freund- und Waffenbrüderschaft gegen jedermann, der sich wappne und Krieg mit dem Kaiserreich beginne».37 Das Angebot war nicht unvernünftig. Doch Honorius schreckte davor zurück, weigerte sich zu verhandeln und forderte so Alarich dazu heraus, sich zu nehmen, was er durch Verhandlungen nicht erreichen konnte. 409 führte Alarich seine Armee zurück nach Rom und belagerte die Stadt ein zweites Mal. Nun versuchte er, Honorius mit einer Absetzung zu drohen, und brachte den römischen Senat dazu, einen Gegenkaiser zu ernennen, einen gewissen Attalus, als eine Art gotische Marionette. Alarich verließ Rom für kurze Zeit und führte seine Armee durch mehrere italienische Städte, wo er den Bürgern riet, Attalus ’ Herrschaft anzuerkennen, wenn sie nicht die scharfen gotischen Schwerter zu spüren bekommen wollten. Doch Honorius blieb in Ravenna und verweigerte sich einem Kompromiss. In der Hoffnung, Alarich zu unterwerfen, wollte er auf Verstärkung für seine Truppen aus Konstantinopel warten. Das war jedoch eine katastrophale Fehleinschätzung der Lage. Im August beendete Alarich Attalus ’ Pseudoherrschaft, kehrte nach Rom zurück und griff seinen ursprünglichen Plan wieder auf. Am zweiten Jahrestag von Stilichos Enthauptung standen die Barbaren vor den Toren der Stadt. Zwei Tage später, am 24. August 410, öffneten sich die Tore. Mit einer List oder durch simple Einschüchterung hatte Alarich die Einwohner dazu gebracht, seine Männer einzulassen. Einer Plünderung Roms stand nichts mehr im Wege. Achthundert Jahre waren seit der letzten Plünderung Roms vergangen – damals waren es Kelten aus Gallien gewesen, die sogenannten Senonen, die die Stadt überfielen, nachdem sie eine römische Armee in einer

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Schlacht mehrere Kilometer vor den Toren der Stadt besiegt hatten. Die schreckliche Erinnerung an jenen Tag im Juli 387  v. Chr. war fester Bestandteil der römischen Überlieferung und Geschichtsschreibung und wird unter anderem von Livius in einer Passage beschrieben, die vor Melodramatik nur so strotzt. «Keine Gnade wurde gezeigt: Häuser wurden ­geplündert und die leeren Hüllen in Brand gesteckt.»38 Allerdings gibt es keine archäologischen Belege für ein größeres Inferno in jenem Jahr; es war wohl eher so, dass die Senonen kamen, nahmen, was sie tragen konnten, und nach einiger Zeit von einer Entsatzarmee wieder vertrieben wurden.39 Dennoch war es für die Römer von großer Bedeutung, dass ihre Stadt einmal – aber nur einmal – erobert worden war. Nun sollte sich die Geschichte nach langer Zeit wiederholen. Die Eroberung Roms durch die Westgoten im Jahr 410 hieß nicht, dass die Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde; schließlich waren Alarich und viele seiner Gefolgsleute Anhänger des christlichen Glaubens. Nach Herzenslust geplündert wurde aber trotzdem. Nachdem sie durch die Porta Salaria gestürmt waren, zogen die Goten durch die Stadt und ­suchten in Schreinen, Monumenten, öffentlichen Gebäuden und Privat­ häusern nach Wertgegenständen, sie ließen jedoch die meisten Gebäude intakt und die meisten Menschen unbehelligt. Die gewöhnlichen Bürger konnten in den großen Basiliken von St. Peter und St. Paul Zuflucht ­suchen, die als christliche Heiligtümer verschont wurden. Auf dem Forum tobten sich die Westgoten allerdings aus, sie brannten das Senatsgebäude nieder und zerstörten mehrere große Gebäude, doch abgesehen davon blieb der Großteil der berühmten römischen Sehenswürdigkeiten unbeschädigt. Einige besonders kostbare Gegenstände, darunter ein 2000 Pfund schwerer Tabernakel aus Silber, wurden geraubt, zudem wurden reiche Bürger bedroht und festgehalten. Das alles war sicher furchtbar, und die Geschichten, die über die wild gewordenen Barbaren kursierten, wurden mit jeder Erzählung apokalyptischer. Sie fanden ihren Niederschlag in Schilderungen wie der des ­Hieronymus, der in Antiochia darüber schrieb und für seinen Bericht vom Schicksal Roms auf Begriffe und Wendungen aus dem Alten Testament zurückgriff, etwa auf Psalm 79, in dem die Zerstörung Jerusalems durch die Babylonier beklagt wird:

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Erster Teil: Imperium O Gott, Heiden kamen in dein Erbe und haben deinen heiligen Tempel entweiht. … Die Leichen Deiner Heiligen haben sie den Vögeln des Himmels zur Speise gegeben, die Leiber Deiner Diener den Tieren der Erde … Sie, die Jahrhunderte lange geherrscht, die heilige Stadt, fällt, Und es häufen die Straßen entlang sich Hügel von Leichen Allerwärts, und es herrscht das Gespenst, der Tod, in den Häusern.40

In Nordafrika wurde Augustinus von Alarichs Plünderung zu mehreren Predigten inspiriert, die die Grundlage für sein monumentales Werk Der Gottesstaat bildeten, in dem er die Ansprüche Roms auf ein ewiges Reich verspottete und argumentierte, das einzig wahre ewige Königreich sei im Himmel zu finden. Hier ging es um Theologie, nicht um die Berichterstattung wahrer Ereignisse. In strategischer Hinsicht änderte sich durch den Überfall auf Rom kaum etwas: Nach drei Tagen des Raubens und Plünderns rief ­Alarich seine Westgoten zurück und zog mit ihnen Richtung Süden mit Sizilien als Ziel. Im Herbst war Alarich tot, vermutlich war er an Malaria gestorben, und das Kommando über die Westgoten ging an seinen Schwager Athaulf. Auf römischer Seite sorgte ein General namens Flavius Con­ stantius allmählich wieder für so etwas wie Ruhe im Westen, indem er ­Athaulf überzeugte, die Westgoten dauerhaft ins Römische Reich einzubinden, und sie in Aquitanien im Südwesten Galliens ansiedelte. Constantius gelang es auch, den Gegenkaiser Konstantin III . gefangen zu nehmen und zu töten. Obwohl im Jahr 418 etwa die Hälfte der Einwohner die Stadt Rom verlassen hatte (und nicht zurückkehren würde), hatte sich die Situation im Weströmischen Reich deutlich verbessert. Trotz allem vermitteln die wortgewaltigen Reaktionen von Autoren wie Hieronymus oder Augustinus auch heute noch den tiefen Schock, den die Einnahme Roms durch Alarich ausgelöst hatte. Wie der Fall der Berliner Mauer oder die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA war die symbolische Bedeutung eines Angriffs auf eine Supermacht bei Weitem größer als die tatsächlichen unmittelbaren Auswirkungen. Alarichs Goten hatten das Römische Reich mitten ins Herz getroffen und Narben hinterlassen, die sich im Laufe der Zeit weiter verhärteten und vertieften.

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Ankunft der Tyrannen Obwohl Alarich im Zentrum zugeschlagen hatte, begann der Zerfall des Weströmischen Reiches an der Peripherie. Wenn wir uns ­einen Überblick über die Barbarenreiche verschaffen wollen, die an seiner Stelle entstanden, müssen wir also an den Rändern beginnen. Und nirgends erfolgte der Zusammenbruch so rasch wie in Britannien: Die Provinz, die von den Römern zuletzt erobert worden war, ging auch als erste wieder verloren. In den Krisenjahren 406 bis 411 schmolz die römische Verteidigung in Britannien immer mehr zusammen. Die dortige Armee hatte drei Usur­ patoren hervorgebracht: Marcus, Gratian und Konstantin III . Doch dabei wurden die militärischen Verteidigungskräfte der Provinz systematisch ausgedünnt. Zu Beginn des 5. Jahrhunderts hatten die Soldaten in Britannien schon lange keinen Sold mehr erhalten und waren vermutlich ziemlich missmutig. Doch schon bald sollte es dort keine Männer mehr geben, die sich über die Zustände beschweren konnten. Bis zum Jahr 407 waren alle abgezogen worden, um Gallien und die Rheingrenze gegen die Einfälle der Barbaren zu verteidigen und Konstantins Ansprüche auf den kaiserlichen Purpur zu unterstützen. Und nach den Soldaten zogen schon bald die zivilen römischen Verwaltungsbeamten ab. Es gibt einige – wenn auch umstrittene – Hinweise, dass Kaiser Hono­ rius, als er von Alarich in Ravenna unter Druck gesetzt wurde, 410 an die wichtigen römischen Städte in Britannien schrieb und ihnen mitteilte, sie seien nun allein für ihre Verteidigung verantwortlich. Falls er diesen Brief tatsächlich verschickte, war das nicht mehr als ein Eingeständnis der Realität. Ohne Armee und ohne finanzielle oder administrative Unterstützung durch das Zentrum des Reiches brachen die Verbindungen Britanniens zum römischen Staat praktisch sofort ab. In den 440er Jahren war fast alles, was das Römertum ausmachte – prächtige Gebäude, ein kultiviertes städtisches Leben, das Gefühl, einer Elite und internationalen Kultur anzugehören –, im Schwinden begriffen. Landgüter wurden aufgegeben. Handelsnetzwerke schmolzen zusammen und lösten sich schließlich ganz auf. Städte schrumpften. Politische Einheiten – Steuer- und Verwaltungsbezirke – zerfielen in alarmierendem Tempo, je weiter sich die Pro-

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vinz auflöste. Die Silberlöffel, der kunstvolle Goldschmuck und die Berge an römischen Münzen, die im Hortfund von Hoxne* vergraben wurden, künden vom übereilten Wegzug der römischen Herrscherklasse aus Britannien. Überall auf den Britischen Inseln verließen reiche Familien die sich auflösende Provinz mit allem, was sie tragen konnten. Den Rest ließen sie zurück oder vergruben zumindest einen Teil davon. Das Ausscheiden Britanniens aus dem Römischen Reich wurde nicht nur durch die turbulenten Zustände in Gallien und Italien beschleunigt, sondern auch durch das Eintreffen einer großen Zahl von Kriegern und ihrer Familien aus einem anderen Teil Europas, der nicht zum römischen Imperium gehörte. Die Ostküste Britanniens bot seit Langem eine verführerische Einfallschneise für die Raubzüge der Pikten, Skoten und Mitglieder germanischer Stämme, die allgemein (wenn auch ungenau) unter dem Begriff Angelsachsen zusammengefasst werden. 367/368 hatte es bereits eine ernste Krise aufgrund der Überfälle gegeben, die als die «Große Verschwörung» bekannt wurde. Damals war es nach einer Meuterei der römischen Truppen am Hadrianswall an der Küste zu einer Reihe massiver Überfälle durch nordbritische Stämme gekommen, die offenbar mit den Sachsen und anderen Völkern außerhalb der Provinz verbündet waren. Nun stand dieses Einfallstor wieder offen. Ab dem frühen 5. Jahrhundert wurde Britannien kontinuierlich von Krieger- und Migrantengruppen aus den Randgebieten des Nordseeraums besiedelt. Das war keine einzelne, koordinierte militärische Invasion wie die der Römer unter der Herrschaft des Claudius oder der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer 1066; vielmehr vollzog sich die Invasion in Etappen und über viele Jahre. Den Völkern, die damals nach Britannien ­kamen, gab man später Namen wie Sachsen, Angeln und Jüten. Doch die ethnischen Bezeichnungen waren den Britanniern im 5. Jahrhundert sicher gleichgültig angesichts dessen, was sie direkt erlebten: Kaum waren die ­römischen Funktionäre und Soldaten in die eine Richtung über das Meer abgezogen, kamen aus der anderen Richtung germanische Siedler, die neue Sprachen, eine neue Kultur und neue Glaubensvorstellungen mitbrachten.

* Siehe Kapitel 1.

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Um das Jahr 450, während der Herrschaft Valentinians III ., sandten die bedrängten Häuptlinge Britanniens, die versuchten, sich den Überfällen der Sachsen zu widersetzen, ein Bittschreiben, das als gemitus Britannorum («das Wehklagen der Britannier») bekannt wurde, an den west­römischen Heermeister Aëtius. Aëtius war ein Kriegsheld der altmodischen Sorte, der sich darauf spezialisiert hatte, für die Ehre des Reiches zumindest in einer Art Nachhutgefecht Widerstand gegen die Barbaren zu leisten. Die britannischen Häuptlinge sahen in ihm eindeutig ihre letzte Hoffnung. «Die Barbaren treiben uns zum Meer, das Meer treibt uns zu den Barbaren», klagten sie. «Zwischen diesen beiden Todesarten sind wir gefangen und werden entweder getötet oder ertränkt.»41 Doch Aëtius lehnte es ab, ihnen zu Hilfe zu kommen. Britannien war für die Römer bereits aus dem Blickfeld verschwunden. Der Geschichtsschreiber, der die Klage der Britannier überlieferte, war ein im 6. Jahrhundert lebender Mönch namens Gildas. Sein Bericht über diese turbulente Zeit, De Excidio et Conquestu Britanniae («Über den Untergang und die Eroberung Britanniens»), schildert einen epischen Kampf um die Herrschaft zwischen den einfallenden Sachsen und den einheimischen Inselbewohnern, der in ein halb legendäres bewaffnetes Aufei­ nandertreffen mündet, die Schlacht von Mons Badonicus, die möglicherweise Ende des 5. Jahrhunderts stattfand. Dabei wird gern erzählt, in die Schlacht habe ein «König Artus» eine entscheidende Rolle gespielt, der manchmal als Neffe eines Legionärs namens Ambrosius Aurelianus bezeichnet wird und «der vielleicht als der einzige von allen Römern die Erschütterung dieses bemerkenswerten Sturmes überlebt hatte», wie Gildas schreibt.42 Die fruchtlose Debatte, ob Ambrosius Aurelianus der «wahre» Artus war, muss uns hier nicht weiter beschäftigen. Wichtig ist, dass Britannien nach der Schlacht – oder zumindest zu dem Zeitpunkt, als Gildas sein Werk verfasste  – entlang einer diagonalen Linie, die von Nordost nach Südwest verlief, geteilt war. Die Königreiche der Sachsen, die sich auf der östlichen Seite dieser Linie herausbildeten, waren eng in das Kultur- und Handelsnetz eingebunden, das sich über die Nordsee nach Skandinavien erstreckte. Die Stämme auf der anderen Seite dieser Linie konzentrierten sich auf den Ärmelkanal, die Irische See und sich selbst. «Bis zum heu­

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tigen Tag sind die Städte unseres Landes nicht so bewohnt wie einst, sondern liegen, nachdem sie verlassen und zerstört wurden, immer noch wüst», schrieb Gildas. «Unsere Kriege in der Fremde sind zu Ende, doch unsere Schwierigkeiten im Land bleiben erhalten.»43 Letzten Endes betrachtete Gildas das Leid der Britannier nach dem Abzug der Römer als eine gerechte Strafe Gottes. Die dortigen Herrscher, erklärte er, hätten das alles verdient, denn «sie berauben und terrorisieren die Unschuldigen, verteidigen und schützen die Schuldigen und Diebischen, sie haben viele Frauen, Huren und Ehebrecherinnen, schwören falsche Eide, erzählen Lügen, belohnen Diebe, sitzen mit Mördern zusammen [und] verachten die Demütigen».44 Die Sachsen hielt er für Teufel. Natürlich war Gildas ein Mann der Kirche, der dazu neigte, überall den Zorn Gottes und die Schlechtigkeit der Menschen zu sehen. (Das berühmteste Zitat von ihm lautet: «Britannien hat Könige, doch sind sie ­Tyrannen, und Richter, doch sind sie pflichtvergessen.»45) Seine einseitige Darstellung täuscht darüber hinweg, dass die säch­ sischen Barbaren über eine beeindruckende Hochkultur verfügten. Ein Beispiel ist der berühmte Helm, der im Schiffsgrab von Sutton Hoo in Suffolk gefunden wurde: ein Helm römischen Stils mit einer gespenstisch wirkenden Gesichtsmaske, gefertigt aus Gold- und Bronzeplatten und verziert mit Drachenköpfen. Man vermutet, dass er König Rædwald von East Anglia gehörte. Ein unschätzbar wertvolles Kunstwerk, auf das auch jeder römische Soldat stolz gewesen wäre. Trotzdem kann man das Entsetzen verstehen, das Gildas empfand, als er eine Epoche so verwirrender demografischer Veränderungen und politischer Umbrüche zusammenfasste.* Massive Wanderbewegungen ganzer Bevölkerungsteile wecken, ob zu Recht oder Unrecht, Angst und Abneigung, denn sie können, wie die Geschichte des Weströmischen Reiches zeigt, eine bisher gewohnte Welt völlig auf den Kopf stellen.

* Auch heutige Polemiker und Politiker sind nicht immun gegen diese Form der Rhetorik; es fallen einem schnell Äußerungen ein, in denen Migranten, die vermeintlich die soziale und kulturelle Ordnung stören, als Kakerlaken, Ungeziefer, Vergewaltiger oder krankhafte Perverse diffamiert werden.

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Während sich Britannien vom römischen Westen abspaltete, kam es in einem anderen Teil des Reichs zu einem noch schwerwiegenderen Bruch. In diesem Fall waren die Vandalen die Unruhestifter. Von den Hunnen aufgescheucht, hatten sich viele Vandalen dem großen Barbarenzug über den Rhein 406 bis 408 angeschlossen. Doch damit war ihre Reise noch lange nicht zu Ende. Vom Rheinland zogen die Vandalen durch die geplagten gallischen Provinzen nach Süden, überquerten die Pyrenäen und drangen bis auf die Iberische Halbinsel vor. Auf ihrem Treck kämpften sie gegen andere barbarische Stämme wie die Westgoten und die ­Sueben, mit denen sie sich 428 bei der reichen und mächtigen Stadt ­Mérida eine Schlacht lieferten und so ihren Zug zum Stillstand brachten. Von dort zogen sie weiter zur Südspitze der Iberischen Halbinsel. Zu dem Zeitpunkt zählten die Vandalen insgesamt etwa fünfzigtausend Personen, darunter etwa zehntausend erfahrene Krieger. Ihr Anführer war ein außergewöhnlich einfallsreicher und ehrgeiziger Mann namens Geiserich. Geiserich war intelligent und hatte nichts für Luxus ­übrig. Er hinkte, seit er in seiner Jugend vom Pferd gefallen war. Wichtig für die Vandalen war vor allem, dass er eine Vorliebe für die Seefahrt und die Seekriegsführung hatte und auch über die entsprechenden Kenntnisse verfügte. Im Mai 429 bestieg Geiserich zusammen mit seinen Anhängern und deren Besitz mehrere Schiffe und überquerte mit ihnen die Straße von ­Gibraltar. Über seine Beweggründe wurde viel spekuliert, vermutlich hatte ihm der Statthalter der römischen Provinz Nordafrika, Bonifatius – ein enger Verbündeter von Galla Placidia, Mutter des Kaisers Valentinian  III . und die eigentliche Macht hinter dem Thron in Ravenna –, die Erlaubnis dazu erteilt. Wenn dem so war, dann machte Bonifatius einen kolossalen Fehler. Nach ihrer Ankunft an der nordafrikanischen Küste begaben sich die Vandalen umgehend auf einen Raubzug durch römisches Gebiet und überfielen jede wichtige Stadt, die auf ihrem Weg lag. Der griechische Gelehrte Prokopios von Caesarea, der sich sehr für die Geschichte der Vandalen interessierte, schreibt, Bonifatius habe seinen Fehler erkannt und versucht, ihn wiedergutzumachen: «Er suchte sie [die Vandalen] daher unablässig und unter zahllosen Versprechungen auf gütliche Weise für eine Räumung Afrikas zu gewinnen. Die Vandalen

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wollten indessen nichts davon wissen, fühlten sich vielmehr durch seine Worte nur beschimpft.»46 Im Juni 430 erreichten sie die Hafenstadt Hippo Regius (heute Annaba in Algerien) und begannen mit der Belagerung. Augustinus, der in Hippo lebte, lag beim Eintreffen der Vandalen gerade auf dem Krankenbett. Der Angriff bedrückte ihn in doppelter Hinsicht, denn die Vandalen waren nicht nur Barbaren, sondern auch noch arianische Christen, anstatt wie Augustinus dem Bekenntnis von Nicäa zu folgen.* Augustinus schrieb einem anderen Geistlichen, wer den Vandalen in den Weg komme, suche sein Heil am besten in der Flucht, bis die ­Bedrohung vorüber sei.47 Augustinus selbst konnte seinem eigenen Rat ­allerdings nicht mehr folgen: Er starb im Sommer 430, noch während die Barbaren vor den Stadtmauern von Hippo campierten. Die Stadt fiel schließlich im August 431 und wurde von Geiserich zur Hauptstadt eines neuen barbarischen Königreichs gemacht, das er aus ehemaligen römischen Kolonien entlang der Küste der heutigen Länder Algerien, Tunesien und Libyen errichtete.48 Hippo war nur wenige Jahre die Hauptstadt der Vandalen, die 439 Karthago einnahmen. Die größte Stadt an der nordafrikanischen Küste fiel ihnen praktisch in den Schoß. Theoretisch herrschte in jenem Jahr Frieden zwischen den Vandalen und Römern. Doch am 19. Oktober marschierte Geiserich mit seiner Armee in der Stadt ein, als der Großteil der Einwohner gerade eine Veranstaltung im Hippodrom besuchte. Der Angriff kam unerwartet, daher blieb jede Gegenwehr aus. Im Grunde war er unvorstellbar dreist. Dennoch hatte er Erfolg. An einem einzigen Tag

* Die meisten germanischen Barbaren waren arianische Christen. Der Arianismus lehnte die Trinitätslehre (die Wesenseinheit Gottes in drei Personen – Gottvater, Gottes Sohn und der Heilige Geist) ab und erklärte, dass der Gottessohn eine eigene Einheit sei, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erschaffen worden sei. Die nicänischen Christen waren anderer Meinung. Das Bekenntnis von Nicäa lautet: «Ich glaube an den einen Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer alles Sichtbaren und Unsichtbaren. Und an den einen Herrn Jesus Christus, den Sohn Gottes, der als Einziggeborener aus dem Vater gezeugt ist.» Die Doktrin wurde beim Konzil von Nicäa 325 formuliert, daher der Name.

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hatte das Römische Reich die mächtige Stadt, die in den Punischen Kriegen von 264 bis 146 v. Chr. so hart umkämpft war, verloren. Hier ging es um mehr als nur um verletzten Stolz. Die gesamte römische Wirtschaft war auf die Getreideexporte aus Karthago angewiesen, die nun ausblieben. Die Vandalen hatten, als sie Karthago und einen Großteil Nordafrikas der römischen Kontrolle entrissen, eine Lebensader des Weströmischen Reiches durchtrennt. Und sie sollten ihre Herrschaft im südlichen Mittelmeerraum in den folgenden Jahren konsolidieren. Geiserich baute eine Flotte auf, die er immer weiter verstärkte. So konnte er eine Art Piratenstaat errichten, mit Überfällen den lokalen Schiffs­ verkehr stören und die regen Handelsbeziehungen, die für das wirtschaft­ liche Wohlergehen Westeuropas unerlässlich waren, durcheinanderbringen. Er ging in Sizilien auf Raubzug und gewann die Kontrolle über Malta, Korsika, Sardinien und die Balearen. 455 führte er sogar eine Armee bis nach Rom und plünderte die Ewige Stadt – nach Alarichs Überfall ein zweites Mal in einem knappen halben Jahrhundert. Von diesem Abenteuer kehrte er mit vollen Taschen zurück, wie Prokopios berichtet: Geiserich «brachte eine außergewöhnliche Menge von Gold und anderen ­kaiserlichen Besitztümern an Bord seiner Schiffe und fuhr damit nach Karthago. Dabei ließ er weder Erz noch sonst etwas im Kaiserpalast zurück. Auch den Tempel von Jupiter Capitolinus plünderte er aus und nahm die Hälfte des Daches mit, das … mit einer dicken Goldschicht überzogen war.»49 Besonders skandalös war in seinen Augen, dass zu Geiserichs Beute auch die weströmische Kaiserin Licinia Eudoxia und ihre beiden Töchter gehörten. Sie sollten sieben Jahre lang als hochrangige ­Gefangene in Karthago bleiben, eines der Mädchen wurde mit Geiserichs Sohn und Erbe Hunerich verheiratet. Für Rom war der Überfall eine Katastrophe. Für die Vandalen war er ein Triumph, der ihre wildesten Träume überstieg. Geiserich hatte ein Königreich etabliert, das nach seinem Tod an seinen Sohn Hunerich überging und anschließend an eine Dynastie von Vandalenkönigen. Die ost­ römischen Kaiser versuchten, das Westreich zu unterstützen, und sandten 460 und 468 eigene Flotten, um Karthago zurückzuerobern und dem Ungeheuer den Kopf abzuschlagen, doch ohne Erfolg. Der römische Westen blieb dezimiert und entscheidend geschwächt.

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Diejenigen, die auf der Seite der Römer standen, sparten nicht mit v­ ernichtenden Urteilen über die vandalischen Eroberungen und die allgemeinen Zeitumstände. Ein besonders gnadenloser Kritiker war ein Geistlicher namens Quovultdeus, der Bischof von Karthago war und mit ­Augustinus in brieflichem Austausch stand. Nachdem sich Quovultdeus öffentlich vom Arianismus distanziert hatte, wurde er gefangen genommen, in einen morschen Kahn ohne Segel und Ruder gesetzt und ins Meer hinausgeschoben. Er wurde schließlich bei Neapel angespült und verbrachte dort sein restliches Leben im Exil. In seinen Briefen beschrieb Quovultdeus die Vandalen als Häretiker, Teufel und Wölfe.50 War Quovultdeus fair? Gewiss waren die Vandalen wilde und gewalttätige Besatzer, die bei der Eroberung Nordafrikas viel Blut ver­ gossen. Andererseits waren Gewalt und Blutvergießen damals bei einer Besatzung üblich. 146 v. Chr. war die römische Armee unter Scipio Aemilianus in Karthago alles andere als zimperlich verfahren: Die römischen Legionäre hatten die Stadt niedergebrannt, die Bürger in ihren Häusern verbrennen lassen, das umliegende Land besetzt und bis zu fünfzigtausend Sklaven genommen. Und bevor die römischen Kaiser zum Christentum konvertierten, hatten sie immer wieder brutale Christenverfolgungen in den Provinzen unterstützt, zu deren Opfern unter anderem die sogenannten scilitianischen Märtyrer gehörten, die 180 n. Chr. aufgrund ihres Glaubens und ihrer Weigerung, dem damaligen Kaiser Marcus Aurelius Gehorsam zu schwören, in Karthago hingerichtet wurden. Die Vandalen verfolgten die nicänischen Christen mit großer Härte, doch die Gewalt in Nordafrika hatte an sich nichts Barbarisches  – so war die Welt damals. Man könnte sogar noch weiter gehen, denn es gibt Hinweise, dass das Vandalenreich in Nordafrika alles andere als ein Land von Piraten und Teufeln war, sondern vielmehr ein relativ stabiles Gemeinwesen, dessen Herrscher keineswegs von allen als Tyrannen betrachtet wurden. Obwohl die Vandalen die lebenswichtigen Getreidelieferungen von Karthago nach Rom kappten, gab es keine komplette wirtschaftliche Blockade: Der Handel mit dem beliebten nordafrikanischen Tongeschirr (terra sigillata) lief im gesamten Mittelmeerraum weiter. Die Vandalen prägten ihre eigenen Münzen nach römischem Vorbild und kamen offenbar gut mit der (zah-

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lenmäßig weit überlegenen) einheimischen Bevölkerung aus, denn von Aufständen ist nichts bekannt.51 In die internen Abläufe der römischen Verwaltung griffen sie wohl nicht ein, und die erhaltenen Mosaiken aus der Vandalenzeit lassen auf eine gehobene und luxuriöse materielle Kultur schließen. Ein Mosaik, das bei Bord-Djedid ausgegraben wurde und heute im British Museum zu sehen ist, zeigt einen nordafrikanischen Mann zu Pferd, der von einer großen ummauerten Stadt wegreitet. Selbst Prokopios, der ausführlich über die Vandalen und ihre Beziehungen zu Rom schrieb, gab zu, dass diese Barbaren zu leben wussten. Es lohnt sich, seine Schilderung im Ganzen zu lesen: Von allen uns bekannten Völkern sind ja die Vandalen am meisten verweichlicht … denn seit der Eroberung Libyens nahmen ja sämtliche Vandalen Tag für Tag warme Bäder und hatten ihre Tafel mit den schmackhaftesten und besten Speisen besetzt, was Land und Meer eben bieten. Sie trugen reichsten Goldschmuck, dazu medische Gewänder, die man jetzt serische [seidene] heißt, und brachten ihre Tage in Theatern, auf Rennbahnen und bei sonstigen Lustbarkeiten, am meisten aber mit Jagden zu. Außerdem gab es bei ihnen Tänzer und Schauspieler sowie zahlreiche Darbietungen für Aug ’ und Ohr, kurz alles, was bei Menschen Musik heißt und sonst als sehenswert gilt. Die Mehrzahl von ihnen wohnte in gutbewässerten und mit Bäumen reich bestandenen Lustgärten; bei jeder Gelegenheit veranstalteten sie Trinkgelage und übten sich eifrig in allen Arten von Liebesgenuß.52

Die Vandalen sollten diesen Zustand der Sinnesfreuden und sexuellen Freiheiten nicht lange genießen können.* Doch solange sie es taten, waren sie womöglich römischer als die Römer selbst, in deren Reich sie, anders, als die heutige Redewendung suggeriert, so gar nicht wie Vandalen hausten.

* Siehe Kapitel 3.

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Von Attila zu Odoaker Der Verlust Karthagos und die Gründung eines neuen Königreichs in Nordafrika, das die politischen Verhältnisse destabilisierte, wäre zu ­jeder Zeit seit dem Ende der Punischen Kriege ein massives Problem für den römischen Westen gewesen. Mitte des 5. Jahrhunderts war die Lage jedoch besonders ernst, weil die Kaiser in Ravenna auch noch mit dem Aufkommen eines weiteren Rivalen an einer verwundbaren Grenze fertigwerden mussten. Die Rede ist von der kurzlebigen, aber überaus zerstörerischen Herrschaft Attilas des Hunnen. Attila, eine wirklich überlebensgroße Persönlichkeit, deren Name noch heute berüchtigt ist, übernahm Mitte der 430er Jahre das Kommando über die Hunnen, kurz bevor Karthago an die Vandalen fiel. In den beiden Jahrzehnten seiner Herrschaft trieb er das Weströmische Reich noch näher an den Abgrund. Der griechische Diplomat und Geschichtsschreiber Priskos berichtet, dass Attila ein Mann von gedrungener Statur gewesen sei, mit flacher Nase und schmalen Augen in einem großen, dunklen Gesicht. Sein dünner Bart sei mit grauen Strähnen durchsetzt gewesen, seine Haltung in Gegenwart seiner Höflinge stolz, er «rollte die Augen hierhin und dorthin, so dass sich die Macht seines stolzen Geistes in den Bewegungen seines Körpers zeigte». Er war ein überlegter, selbstbeherrschter Anführer, doch wenn er provoziert wurde, konnte er sehr zornig werden. «Er war ein Mann, der dazu geboren war, die Völker zu erschüttern, die Geißel der Welt», glaubte Priskos und merkte an, dass schon Attilas Ruf genüge, um die meisten Männer in Angst und Schrecken zu versetzen.53 Der west­ römische Kaiser Valentinian  III . ging noch weiter. Für ihn war Attila ein «universaler Despot, der die ganze Erde versklaven will … [er] braucht keinen Grund für eine Schlacht, sondern denkt, was immer er tut, sei gerechtfertigt … Er verdient jedermanns Hass.»54 Attila wurde im ersten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts als Sohn eines hunnischen Anführers namens Rua geboren. Sein Vater starb 435, vermutlich durch einen Blitzschlag. Zu der Zeit waren die Hunnen bereits seit zwei Generationen zwischen dem Kaukasus und der Ungarischen Tiefebene unterwegs, doch als Attila das Mannesalter erreichte, waren sie keine Nomaden mehr. Ihre Stämme hatten sich in einem Gebiet nieder-

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gelassen, das sich vom Rheinland bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Eine einzelne Dynastie hatte sich als Herrscher etabliert, mit einem ­königlichen Hof, der teilweise sesshaft und in verschiedenen Gebäuden untergebracht war, anstelle eines umherreisenden Hofs, der seinem König im Sattel folgte, wo immer er sich aufhielt. Das Zentrum des Hunnen­ landes war die Große Ungarische Tiefebene  – das einzige Grasland in ­Europa, das groß genug war, um ausreichend Futter für die vielen Pferde zu bieten, auf die sich die hunnische Kriegsmaschine stützte.55 Doch wie Valentinian zu Recht bemerkte, gaben sich die Hunnen nicht mit dem Grasland zufrieden. Ihr politisches System basierte darauf, andere Völker und Stämme zu unterwerfen, anstatt fest umrissene Gebiete zu erobern. Während sie also versuchten, ihr Einflussgebiet zu erweitern, ihre Nachbarn zu dominieren und Tributzahlungen von ihnen zu erpressen, musste eine große Zahl germanischer Stämme wie die Goten, Alanen, Sarmaten, Sueben und Gepiden ebenso wie die Skiren, Heruler und Rugier die hunnische Herrschaft akzeptieren. Mitte des 5. Jahrhunderts waren die Hunnen zu einer echten Plage für die Römer geworden. Der Aufstieg der Hunnen beruhte ursprünglich auf ihren heraus­ ragenden Reitkünsten und ihrer überlegenen Militärtechnik in Form des Kompositbogens. Sie verschafften ihnen einen enormen taktischen Vorteil gegenüber den Nomadenvölkern, die sie vor sich hertrieben, waren aber weniger von Nutzen gegen eine Macht wie das West- oder Oströmische Reich, dessen Bevölkerung in ummauerten Städten lebte und dessen Truppen über Festungen aus Holz oder Stein verfügten. Doch um die Zeit von Attilas Thronbesteigung ergänzten die Hunnen ihr Waffen­ arsenal um eine entscheidende Neuerung – die Belagerungstechnik. Sie konnten es zwar nicht mit den Ressourcen der Großmächte aufnehmen, deren Reiche an ihr Gebiet angrenzten – vor allem die sassanidischen Perser und die Römer –, dennoch stellten sie eine ernste Bedrohung dar. Ihre Feldzüge hatten nun eine deutlich verheerendere Wirkung als ihre Überfälle zu Pferd, denn bei der Einnahme von Städten konnten sie Hunderte oder Tausende Gefangene auf einmal erbeuten, die sie dann in hunnisches Gebiet zurücktrieben und versklavten, wenn sie nicht für teures Geld freigekauft wurden. Im frühen 5. Jahrhundert gab es lange Phasen, in denen die Hunnen

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Bündnisse mit den Römern eingingen und ihr militärisches Können in deren Dienst stellten. Doch in den 440er Jahren begann Attila, Vorstöße gegen Städte des Oströmischen Reichs zu unternehmen. Seine Reiter – und Belagerungsspezialisten – hinterließen in Städten wie Belgrad (Singidunum), Niš (Naissus) und Sofia (Serdica) rauchende Trümmerhaufen und Leichen, die sich in den Straßen türmten, während die Überlebenden in langen Kolonnen als Gefangene abgeführt wurden. Weite Gebiete wurden entvölkert, vor allem auf dem Balkan, wo Attila möglicherweise hundert- bis zweihunderttausend Gefangene nahm.56 Sein Preis, den er für einen Frieden forderte, war Gold – und zwar in großen Mengen. In besonders lukrativen Jahren nahmen Attila und seine Truppen bis zu 9000 Pfund an römischem Gold durch private Lösegeldzahlungen und offizielle Friedensabkommen ein, weit mehr als die Steuereinnahmen vieler römischer Provinzen in Friedenszeiten.57 Er schaffte es außerdem, den oströmischen Kaisern einen Generalsrang ehrenhalber in der römischen Armee abzuringen, mit einem jährlichen Sold als Dreingabe.58 Nicht lange, nachdem Attila zum alleinigen Herrscher der Hunnen aufgestiegen war, änderte er seine Strategie und nahm statt des Oströmischen Reichs den Westen ins Visier. 450 brach er die guten Beziehungen zum Hof Valentinians  III . in Ravenna ab, überschritt die Rheingrenze und begann einen Raubzug in Gallien, der so grausam und entsetzlich war, dass er sich über anderthalb Jahrtausende tief ins kollektive Gedächtnis einbrennen sollte.* Als Vorwand für die Invasion wurde später ein ­direkter Hilferuf von Valentinians Schwester Honoria angeführt, die ­Attila bat, sie aus einer unehrenhaften Gefangenschaft zu befreien, zu der sie wegen einer Liebelei mit einem Untergebenen verurteilt worden war. Das mag stimmen oder auch nicht. Jedenfalls fiel Attila 451 mit einer großen Armee, zu der auch Goten, Alanen und Burgunder gehörten, in Nordfrankreich ein. Nachdem sie den Rhein überquert hatten, drangen sie rau-

* Nicht von ungefähr erhielten die Deutschen, nachdem sie Frankreich im Ersten Weltkrieg überfallen hatten (und ihr Kaiser Wilhelm II. einige Jahre zuvor in seiner berüchtigten «Hunnenrede» zu einem gnadenlosen Vorgehen seiner Truppen aufge­rufen hatte), den Spitznamen «Hunnen».

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bend und plündernd bis zur Loire vor. In einer späteren Chronik hieß es, die Hunnen «töteten das Volk mit der Spitze des Schwertes, und mordeten selbst die Priester des Herrn vor den geweihten Altären». Als Attila Orléans erreichte, «berannte [er] es mit Sturmböcken, denn so gedachte er es zu erobern».59 Das war sicher ein schwerer Schlag für das römische Ehrgefühl. Attila konnte nur durch eine gewaltige Kraftanstrengung aufgehalten werden; einem gemeinsamen römisch-westgotischen Heer unter Führung des mächtigen Generals Aëtius gelang am 20. Juni 451 in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern ein seltener und blutiger Sieg über die Hunnen. «Das Gemetzel unter all jenen, die dort starben, war unermesslich – denn keine Seite wollte zurückweichen», schrieb der Dichter Prosper von Aquitanien.60 Die römisch-gotische Armee konnte sich knapp durchsetzen, Attilas Feldzug so den Schwung nehmen und ihn wieder zurück über den Rhein treiben. Der Anführer der Hunnen, der eine solche Demütigung noch nicht erlebt hatte, beendete daraufhin die Feldzugsaison – angeblich soll er angesichts der Schmach sogar einen Selbstmord erwogen haben. Doch er war mit dem Weströmischen Reich noch nicht fertig. 452 startete er einen neuen Angriff, diesmal auf der Italienischen Halbinsel. Von einer schweren Hungersnot geschwächt, hatte Italien Attila wenig entgegenzusetzen. Die Städte Forum Iulii (das heutige Cividale), Padua, Pavia und Mailand kapitulierten vor seinen Belagerungsmaschinen und Schwertern. Aquileia, eine der reichsten und prestigeträchtigsten Städte Italiens an der Oberen Adria, wurde im Sturm genommen und dem Erdboden gleichgemacht  – ein Ereignis mit gravierenden und lang anhal­ tenden Folgen, weil erst dadurch der spätere Aufstieg Venedigs möglich wurde. Ganz Italien schien den Hunnen schutzlos ausgeliefert, sie brauchten nur zuzugreifen, bis – so die spätere Legende – der Bischof von Rom, Papst Leo I . der Große, seine ganze Heiligkeit und Majestät in die Waagschale warf und Attila zum Abzug überredete. In einem Bericht über ihr wundersames Zusammentreffen wird behauptet, Attila habe bei der Begegnung mit Leo schweigend dessen prächtige Gewänder gemustert, «als ob er tief nachdenken würde. Und oh, plötzlich waren die Apostel Petrus und Paulus zu sehen, gekleidet wie Bischöfe standen sie neben Leo, der eine zur Rechten, der andere zur Linken. Jeder hielt ein Schwert über sei-

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nen Kopf und drohte Attila mit dem Tod, wenn er die Anweisung des Papstes nicht befolgte.»61 Das war natürlich nur eine schöne Legende. Wahrscheinlicher ist wohl, dass die schwindenden Ressourcen im ausgeplünderten Italien, Krankheiten unter Attilas Truppen und die Aussicht auf Verluste durch die oströmische Armee im Kernland der Hunnen Attila davon überzeugten, dass es Zeit für eine Rückkehr in die Heimat war. 453 starb Attila, angeblich erstickte er an seinem eigenen Blut nach ­einem heftigen Trinkgelage, das zu einem ebenso heftigen Nasenbluten führte, noch dazu am Abend seiner Hochzeit mit der schönen Ildico. Was auch passiert sein mag, jedenfalls löste sich das Hunnenreich, über das ­Attila geherrscht hatte, erstaunlich schnell auf. Doch für Rom waren das nicht unbedingt gute Nachrichten. Sicher, ein Tyrann und Peiniger, der das Weströmische Reich heimgesucht hatte, war tot. Doch der Zusammenbruch des Hunnenreichs als geeinter Staat hatte gravierende Folgen. Weitere große Gruppen heimatloser germanischer Stämme, die nun von der Herrschaft der Hunnen befreit waren, zogen kreuz und quer durch Europa. Die Geschichte wiederholte sich. Zwanzig Jahre nach Attila sorgten sie erneut für Unruhe. Die Hunnen waren zerstreut und operierten nicht mehr als politische und militärische Einheit, doch ihr Vermächtnis lebte weiter. Die Folgen von Attilas Tod zu bewältigen, war eine gewaltige Aufgabe. Und sie wurde nicht einfacher durch die neue politische Krise, die zur selben Zeit in Ravenna ausgebrochen war. Im September 454 wurde Aëtius, der siegreiche Feldherr in der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, ermordet. Und der Mörder war niemand Geringeres als Kaiser Valentinian, der von gewissen Kreisen am Hof aufgestachelt worden war, seinen besten General, der dem Weströmischen Reich dreißig Jahre lang gedient hatte, als Rivalen um den Thron zu sehen. Bei einem Gespräch über die finanzielle Situation des Reiches sprang Valentinian plötzlich auf und tötete Aëtius mit seinem Schwert. Später fragte Valentinian seine Höflinge lobheischend, ob das eine gute Tat gewesen sei. Einer antwortete: «Ich kenne, Herr, weder Eure Beweggründe noch den unmittelbaren Anlass; aber das weiß ich gewiss, dass Ihr gehandelt habt wie einer, der sich mit seiner linken Hand die rechte abgeschlagen hat.»62

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Die Rache ließ nicht lange auf sich warten. Im März 455 wurde Valentinian von zwei Leibwächtern des Aëtius ermordet, die ihm bei einem Wettbewerb im Bogenschießen auflauerten. (Priskos berichtet, ein Schwarm Bienen habe das Blut aufgesogen, das aus den tödlichen Wunden des Kaisers strömte.)63 Damit begann ein Teufelskreis aus Staatsstreichen und Attentaten, in dessen Verlauf neun Kaiser innerhalb von zwanzig Jahren den Thron des Weströmischen Reichs bestiegen. Nur wenige starben friedlich im Bett. Die Politik am Hof von Ravenna wurde von Machtkämpfen dominiert  – in denen der germanischstämmige Flavius Ricimer eine große Rolle spielte  –, während gleichzeitig Barbaren von ­allen Seiten in das zusammenbrechende Reich einfielen. Mit den Vandalen in Afrika, den Westgoten und Sueben, die Aquitanien, Iberien und Südgallien unter sich aufteilten, und neuen Mächten wie den Franken* und Burgundern, die ebenfalls auf dem Vormarsch waren, gab es für Generäle wie Ricimer viel zu tun. Doch sie standen auf verlorenem Posten. Im Westen war das von Rom kontrollierte Territorium nun so klein wie seit über tausend Jahren nicht mehr: Es umfasste gerade einmal die Italienische Halbinsel zwischen den Alpen und Sizilien sowie einige Teile in Gallien und Dalmatien. Steuer- und Versorgungssysteme waren in Auflösung begriffen. Die Armee war stark geschrumpft, unterfinanziert und neigte zur Meuterei. Die starken Bande politischer Loyalität, die einst im gesamten Westen zwischen den verschiedenen Völkern und dem römischen Kaiser oder dem Reich an sich bestanden hatten, waren verschwunden; nun galt die Bindung an einen Stamm, einen Feldherrn oder einen aktuell im Aufstieg begriffenen Warlord. Landbesitzer in allen Provinzen hatten dem Römischen Reich Tribut gezahlt (und Ämter bekleidet), in dem Wissen, dass das römische Militär ihr Leben verteidigen konnte, die römischen Gesetze ihr Eigentum schützten und die römische Kultur sie mit ihren Nachbarn verband. Nun war all das dahin. Der Konsens im ­Römischen Reich – seine kollektive Identität – war zerstört. Das Ende war absehbar.

* Siehe Kapitel 5.

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Als letzter Kaiser des Weströmischen Reiches gilt traditionell Romulus Augustus, der den Spitznamen Augustulus, «kleiner Kaiser», erhielt – ein Marionettenherrscher, der im Oktober 475 mit etwa fünfzehn Jahren als Stellvertreter seines Vaters, des Feldherrn Orestes (der einst als Sekretär von niemand Geringerem als Attila gedient hatte) auf den Thron gehoben wurde. Inmitten der Wirren der damaligen Zeit war ein junger Kaiser wie Romulus ein leichtes Opfer. Zudem hatte er einen Konkurrenten um den Titel, Julius Nepos, den ehemaligen Statthalter Dalmatiens, der den Segen des oströmischen Kaisers Zenon hatte. Der glücklose Teenager konnte sich elf Monate halten, bevor er durch eine von den Barbaren ausgelöste Krise zu Fall kam. Dieses Mal war eine Koalition gotischer Stämme die Ursache  – ­Heruler, Rugier und Skiren –, die nach dem Zusammenbruch von Attilas Reich als foederati in römische Dienste getreten waren. Allerdings waren sie der Meinung, dass sie für ihren Einsatz nicht genügend Anerkennung erhielten, weshalb sie 476 unter einem Anführer namens Odoaker rebellierten: ein gewiefter und einfallsreicher Offizier, der sich durch seine Körpergröße und seinen buschigen Schnurrbart auszeichnete sowie durch seine Überzeugung, zu Höherem berufen zu sein (der Auslöser dafür war eine Begegnung, die er als Jugendlicher mit dem katholischen Heiligen ­Severin von Noricum gehabt hatte).64 476 marschierte Odoaker mit einem beachtlichen Heer Richtung ­Ravenna. Am 2. September besiegte er Orestes, den Vater von Romulus Augustulus, in der Schlacht von Pavia und ließ ihn anschließend töten. Zwei Tage später musste der sechzehnjährige Kaiser abdanken und wurde zu Verwandten geschickt, wo er seinen vorzeitigen Ruhestand verbringen sollte. An seiner Stelle herrschte nun Odoaker über Italien – jedoch nicht als Kaiser, sondern als König (rex). Er akzeptierte ausdrücklich die Oberhoheit Konstantinopels – der oströmische Kaiser Zenon blieb jedoch unbeeindruckt und weigerte sich, das neue Arrangement anzuerkennen. Odoaker erwies sich als standhafter Anführer in Italien und Umgebung, der sich darauf beschränkte, das zu verteidigen, was vom römischen Westen noch übrig war, und stillschweigend über die Ermordung des Julius Nepos hinwegsah, des einzigen verbliebenen ernsthaften Thronanwärters. Nach Julius Nepos ’ Tod sandte Odoaker die kaiserlichen Regalien  –

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Krone und Mantel – nach Konstantinopel, wodurch es praktisch unmöglich wurde, einen weiteren weströmischen Kaiser zu krönen. Damit war der Kaisertitel Vergangenheit. Ein historischer Wendepunkt, der jedoch nur das logische Ergebnis des steten Zerfalls römischer Netzwerke, Machtstrukturen und der politischen Einheit war, so wie er sich in den vergangenen siebzig Jahren vollzogen hatte.

Endspiel Im Jahr 494 regierte König Odoaker seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten in Italien – weit länger als all die unbedeutenden Herrscher in den Jahren zuvor. Doch das Festhalten an der Macht war nicht einfach gewesen, und sein Verhältnis zu Konstantinopel schwankte zwischen unbehaglich und angespannt. In einer Zeit der unerbittlichen Veränderung und des enormen Drucks, bedingt durch die Völkerwanderung und schwindende politische Gewissheiten, schlug er sich wacker. Doch am Ende fiel er den Kräften zum Opfer, denen er seinen Aufstieg zu verdanken hatte. Der Todesstoß kam, vielleicht unausweichlich, von einem anderen gotischen Anführer. Ende des 5. Jahrhunderts waren Goten aller Art in Europa zu finden. Die Westgoten – beziehungsweise der Zweig, der im Jahr 410 unter Alarichs Kommando Rom erstürmt hatte – hatten ein Königreich mit der Hauptstadt Toulouse geschaffen. Auf dem Höhe­ punkt ihrer Macht reichte ihre Herrschaft von der Loire in Zentralfrankreich bis zur Südspitze der Iberischen Halbinsel. Weit im Osten, auf dem Balkan, war der andere bedeutende Zweig der Goten zugange: eine lose Föderation verschiedener germanischer Stämme, die als Ost­ goten bekannt sind. Gegen Ende des 5. Jahrhunderts wurden sie von ­einem gewissen Theoderich aus dem Herrschergeschlecht der Amaler angeführt. Theoderich hatte eine sehr konventionelle klassische Erziehung genossen. Er entstammte einer führenden gotischen Familie im Hunnenreich und wurde um 454 geboren, also vermutlich in dem Jahr, in dem Attila starb. Nach dem Zerfall des Hunnenreichs wurde der siebenjährige Theoderich nach Konstantinopel geschickt. Offiziell war er eine Geisel und da-

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mit ein menschlicher Garant für die Einhaltung der Friedensbedingungen zwischen dem oströmischen Kaiser und den Ostgoten. Doch während seines Aufenthalts in der Hauptstadt des Oströmischen Reiches erhielt Theoderich eine hervorragende Erziehung, die ihn zu einem belesenen, kultivierten jungen Aristokraten machte – ein gebürtiger Barbar, der umfassend romanisiert worden war. Als Theoderich etwa sechzehn war, näherte sich seine Zeit in Kon­ stantinopel dem Ende. Er kehrte zu seinem Stammesverband zurück und war zu Beginn der 470er Jahre bereits zu dessen König aufgestiegen. Dadurch geriet er zunächst in Konflikt mit einem Rivalen von einem anderen gotischen Stamm  – mit Theoderich Strabo, dem «Schieler»  –, den er ­jedoch besiegte und tötete. In den 480er Jahren befanden sich Theoderichs Goten in einem anhaltenden Konflikt mit dem oströmischen Kaiser Zenon, der 487 eskalierte, als Theoderich eine Armee nach Konstantinopel führte, um die Stadt zu belagern, die ihm so viel gegeben hatte. Mittlerweile hatte Zenon genug von Theoderichs Eskapaden  – er erkannte aber auch eine Gelegenheit, wenn sie sich ihm bot. Von Italien aus hatte König Odoaker aggressive Vorstöße in oströmische Gebiete unternommen. Zenon entschied, beide Probleme auf einen Schlag zu lösen: Er schloss Frieden mit Theoderich und sandte ihn nach Westen. Der Handel, den er Theoderich in Aussicht stellte, war denkbar einfach: Wenn Theoderich Odoaker entmachten konnte, durfte er Italien für sich behalten. Nun wandten sich also Barbaren gegen Barbaren. Im Sommer 489 brach ein erbitterter Krieg zwischen Theoderich und Odoaker aus. Im August lauerten Odoakers Männer am Fluss Isonzo (wo fast fünfzehn Jahrhunderte später, im Ersten Weltkrieg, weitere furchtbare Schlachten stattfanden) Theoderichs Truppen auf, sie wurden jedoch geschlagen, in alle Richtungen zerstreut und nach Italien zurückgedrängt. 490 umzingelte Odoaker Theoderichs Armee in Pavia. Auch danach stießen die beiden Armeen wiederholt aufeinander. Und langsam, aber sicher wandte sich das Kriegsgeschehen zu Theoderichs Gunsten. 493 hatte er Odoaker zurück nach Ravenna getrieben, wo er mit der endgültigen Be­ lagerung der Stadt begann. Als es nach mehreren Monaten der Blockade Winter wurde, befanden sich beide Seiten immer noch in einer Pattsituation. Da Odoaker nicht mehr weiterkämpfen konnte, bat er um Frieden,

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und die beiden Parteien einigten sich darauf, das Königreich zwischen sich aufzuteilen. Für den 15. März 493 wurde ein großes Festmahl angesetzt, um das glückliche Ende nach einem grausamen Krieg zu feiern. Doch für Odoaker sollte es das letzte Bankett sein. Während er beim Festmahl saß, wurde er von Theoderichs Männern überwältigt. Odoaker war in einen Hinterhalt geraten und konnte nur entsetzt und hilflos beobachten, wie Theoderich mit gezogenem Schwert auf ihn zuging. «Theoderich sprang nach vorn und schlug [Odoaker] mit dem Schwert auf das Schlüsselbein, während Odoaker rief: ‹Wo ist Gott?›», berichtete später ein griechischer ­Geschichtsschreiber namens Johannes von Antiochia. «Der Streich war ­tödlich, denn er durchdrang Odoakers Körper bis zum unteren Teil des Rückens.» Anschließend verhöhnte Theoderich seinen gefallenen Rivalen: «Dieser Schurke hat nicht einmal einen Knochen im Leib.»65 Dann stürmten er und seine Kumpane in die Stadt, um Odoakers Familie und Getreue zu töten. Nach wenigen Stunden war der Staatsstreich vollzogen. Theoderich hatte dreieinhalb Jahre gebraucht, doch nun war er König von Italien. Nach 493 siedelten sich die Ostgoten um Ravenna und mehrere andere norditalienische Städte an. Theoderich setzte in den folgenden drei Jahrzehnten ein kühnes Programm zum Aufbau eines neuen Staates in bester römischer Tradition um. Seine Feldzüge in Italien waren erbarmungslos gewesen und sein endgültiger Griff nach der Macht ruchlos und blutig, dennoch hatte Theoderich nicht die Absicht, innerhalb der ohnehin bedrängten Elite für einen weiteren Aderlass zu sorgen. Er verzichtete auf eine Säuberungsaktion unter den Aristokraten und Verwaltungs­ beamten seines neuen Reiches und schickte Gesandte nach Konstantinopel, damit der dortige Kaiser seine Legitimität bestätigte, wobei er seine römische Erziehung herausstellte und seine eigene Herrschaft als «eine Kopie des einen Reiches» bezeichnete.66 Um 497 trug sein eifriges Buhlen schließlich Früchte, als Zenons Nachfolger Anastasios I . seine Herrschaft zögerlich anerkannte. Obwohl noch viele Auseinandersetzungen mit Konstantinopel vor ihm lagen, hatte Theoderich erst einmal die Bestätigung, dass ihn das römische Establishment akzeptierte. Entsprechend begann er, möglichst viel Römi-

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sches zu übernehmen. Auch wenn er arianischer Christ war, bemühte er sich, den nicänischen Bischöfen entgegenzukommen und die Kirche von Rom zu akzeptieren. Er legte Wert auf die Einhaltung der bestehenden römischen Gesetze, anstatt seine eigenen zu erlassen, wie es in vielen der entstehenden Barbarenstaaten des Westens üblich war, nicht zuletzt in den Königreichen der Franken und Burgunder. Durch Feldzüge und Heiratsbündnisse sicherte er den Frieden mit den Vandalen in Nordafrika und knüpfte enge politische Beziehungen zum expandierenden Reich der Westgoten. Dort installierte er 511 einen eigenen König (seinen Enkel Amalrich) und schuf so ein riesiges pangotisches Königreich, das sich vom Atlantik bis zur Adria erstreckte. Theoderich war geradezu prädestiniert für den Beinamen «der Große» und führte sein Leben so, als ob er es gewusst hätte. In Vorzeigestädten wie seiner Hauptstadt Ravenna gab er enorme Summen für Verteidigungsanlagen, Paläste, Basiliken, Mausoleen und öffentliche Bauten aus und beauftragte dafür die Meister ihres Fachs. Selbst heute noch erlebt man bei ­einem Besuch in Ravenna die beeindruckende künstlerische Vision des ostgotischen Königs: Die Mosaiken in der Basilica di Sant ’ Apollinare Nuovo – die weitgehend im Auftrag Theoderichs entstand – sind atemberaubend. Sie und andere Bauten in der Stadt, darunter auch Theoderichs Mausoleum, künden vom überraschenden Glanz der neuen Ära der Barbaren. Theoderich gestaltete sein Königtum selbstbewusst nach dem Vorbild der spätrömischen Kaiser. Doch sein Reich war kein römisches Reich. Im gesamten Westen hatten sich die Dinge für immer geändert. Egal, wie prächtig und konventionell sich Theoderichs Herrschaft gab, und trotz der Tatsache, dass er über dreißig Jahre lang regierte – die Welt hatte sich, als der König der Ostgoten schließlich 526 starb, radikal gewandelt. Nicht nur die ethnische Identität der Herrscher und Grundbesitzer hatte sich verändert, sondern auch ihr politischer Horizont und ihre Regierungssysteme. Das Römische Reich bestand in Konstantinopel weiter, wo es in den kommenden Jahrhunderten vor vielen neuen Herausforderungen stand – neue Religionen, neue Technologien, neue Netzwerke und neue Krankheiten  – und sich entsprechend anpasste. Doch im Westen verdrängten Könige und Königreiche rasch die Herrschaft der römischen Kaiser und ihres Imperiums und läuteten ein Zeitalter ein, das, wenn

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wir uns erneut damit befassen, deutlich «mittelalterlicher» wirken wird als die bislang beschriebene Welt der umherziehenden Barbaren und Kindkaiser. Was für eine seltsame, im Taumeln begriffene Zeit diese etwas mehr als hundert Jahre doch bieten, seit die Hunnen 370 die Wolga überquert hatten. Alles war auf den Kopf gestellt worden, in Bewegung versetzt durch unbeeinflussbare Kräfte wie Klimaveränderungen und menschliche Wanderungsbewegungen im Verbund mit den üblichen unberechenbaren historischen Faktoren wie Zufall, Ehrgeiz und individuelles Handeln. Den Menschen, die damals lebten, muss das Leben ziemlich verwirrend erschienen sein, daher überrascht es nicht, wenn die Geschichtsschreiber des 4., 5. und 6. Jahrhunderts auf eine Metapher zurückgriffen, die im gesamten mittelalterlichen Abendland sehr populär werden sollte: das Rad der Fortuna. Ammianus Marcellinus hatte die Ereignisse im 4. Jahrhundert unter diesem Aspekt betrachtet, ebenso wie ein weiterer bemerkenswerter Autor am anderen Ende dieses Zeitalters, der unter Theoderich in Ravenna lebte und arbeitete: Anicius Manlius Severinus Boëthius – meist einfach nur Boëthius – entstammte einer angesehenen römischen Familie und wurde ein Jahr, bevor der letzte weströmische Kaiser, der junge ­Romulus Augustulus, von Odoaker abgesetzt wurde, in Italien geboren. Boëthius hatte einen brillanten Verstand und konnte eine makellose aristo­ kratische Legitimation vorweisen, daher war er bereits mit zweiundzwanzig Jahren Senator in Theoderichs Königreich, das in fast allen Belangen dem römischen Vorbild nacheiferte. Ein Vierteljahrhundert später, 522, war Boëthius, nun im mittleren Alter, ins höchste Amt der Reichsverwaltung aufgestiegen, als magister officiorum. Doch aus so großer Höhe konnte man auch tief fallen. 523 näherte sich Theoderich dem Ende seines Lebens. In seinem Reich mehrten sich die Probleme. Das Verhältnis zum oströmischen Kaiser Justin I . war angespannt, und es ging das Gerücht, im Senat gebe es Verräter, die in Kontakt mit Konstantinopel stünden. Während einer hitzigen ­Debatte in dieser Angelegenheit wurde Boëthius plötzlich vorgeworfen, er schütze die Feinde des Staates. Er wurde verhaftet, ins Gefängnis geworfen, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt.

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Während seines gesamten Lebens hatte Boëthius über eine Vielzahl von Themen geschrieben, zu seinen Interessensgebieten gehörten Mathematik, Musik, Philosophie und Theologie. Aber sein berühmtestes Werk verfasste er im Gefängnis, während er auf seine Hinrichtung wartete. Die Consolatio philosophiae (Der Trost der Philosophie) versucht, irdische Pro­ bleme in einen göttlichen Kontext zu setzen. In Form eines Dialogs zwischen Boëthius und der allegorischen Philosophia werden die Leser aufgefordert, die Tatsache zu akzeptieren, dass hinter den Wechselfällen des flüchtigen Menschenlebens höhere Mächte stehen. Im Lauf seiner Überlegungen wendet er sich der Vorstellung vom Rad der Fortuna zu. «Hast du also das Glück dir zum Herrn erwählt, so füge dich seinen Launen!», schreibt Boëthius. «Willst du es wagen, das rollende Rad im Lauf aufzuhalten? Wahrlich, [so bist] du der Thörichtste aller Sterblichen.»67 Kurz nachdem er sein Werk beendet hatte, wurde der große Philosoph brutal gefoltert und anschließend totgeprügelt. Zwei Jahre später hatte auch der große ostgotische König Theoderich seinen letzten Atemzug ­getan. Auf sie sollte eine fremde neue Welt folgen.

3.

Byzantiner «O Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit.» Gelimer, König der Vandalen

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ohannes von Ephesos wurde vom Kaiser nach Kleinasien gesandt, um dort Heiden zu taufen. Doch er musste feststellen, dass er durch eine Todeszone reiste. In einer Stadt nach der anderen taumelten die Kranken und Siechen durch die Straßen, mit geschwollenen Bäuchen und blut­ unterlaufenen Augen und mit Mündern, aus denen Eiter lief. Prächtige Häuser, in denen ganze Familien und ihre Diener gestorben waren, standen stumm, in jedem Raum lagen Leichen. Entstellte Körper lagen unbestattet herum, mit verrottenden Eingeweiden, die in der Hitze des Tages aufquollen, das Fleisch von Hunden angenagt. Wege und Straßen waren menschenleer, das übliche geschäftige Treiben von Handel und Verkehr war zum Erliegen gekommen. In den verlassenen Dörfern war niemand mehr da, um das Getreide von den Feldern oder das Obst von den Bäumen zu ernten; Tiere strichen unbehütet über das Land, wie es ihnen gefiel. Wer noch lebte, hatte große Angst. Das Ende der Welt schien gekommen. Auf seiner Reise begegnete Johannes Menschen, die selbst gemachte Erkennungsmarken am Arm trugen. «Ich bin der und der, Sohn von dem und dem, und aus diesem Viertel: Wenn ich sterbe, benachrichtigt diejenigen in meinem Haus, um Gottes Willen und als Zeichen seiner Gnade und Güte, lasst meine Leute kommen und mich begraben.»1 Er hörte Geschichten, dass in den großen Städten jeden Tag Tausende – wenn nicht sogar Zehntausende – starben, ihre Leichen würden sich auftürmen, bis sie in Massengräber geworfen werden konnten. Johannes hielt die Schrecken, die er erlebte, schriftlich fest, nach dem Vorbild der Klagelieder

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J­ eremias im Alten Testament: «Der Tod ist zu unseren Fenstern hereinge­ stiegen und in unsere Häuser gekommen, unsere Paläste sind verwaist», schrieb er.2 «Nun sind alle zugrunde gegangen, weil sie sich nicht an den Namen des Herrn erinnerten.»3 Die apokalyptischen Szenen, die Johannes in seinen Schriften heraufbeschwor, sind ein Augenzeugenbericht von der ersten globalen Pandemie seit Beginn der Geschichtsschreibung. Die Krankheit, eine Form der Beulenpest, verursacht vom Bakterium Yersinia pestis und verbreitet von Flöhen, die von kleinen Säugetieren, vor allem Ratten, auf Menschen überspringen, breitete sich Mitte des 6. Jahrhunderts über alle drei Kontinente der bekannten Welt aus und tobte in Afrika südlich der Sahara, in Persien und dem Nahen Osten, in China und Zentralasien, im Mittelmeerraum und Nordwesteuropa. Prokopios von Caesarea schreibt, «keine Insel, keine Höhle, kein Berggipfel, wo Menschen ihre Heimstätte hatten, wurde von ihr geschont»; und «wenn sie an einem Lande vorbeigezogen war und dabei die dortige Bevölkerung nicht befallen oder nur leicht berührt hatte», dann sei sie zu einem späteren Zeitpunkt in die betreffende Gegend zurückgekehrt.4 Moderne archäologische Untersuchungen bestätigen das Vorkommen von Yersinia pestis im Westen bis Britannien, Gallien und Spanien sowie in Süddeutschland.5 Wo immer die Krankheit auftrat, zählten große, schwarze beulenartige Schwellungen der Lymphknoten in den Achselhöhlen und der Leistengegend zu den Symptomen, dazu kamen Delirium, Koma, blutiges Erbrechen und bei schwangeren Frauen auch Fehlgeburten. Die genauen Zahlen wird man zwar nie erfahren, aber vermutlich brachte die furchtbare Epidemie – die Justinianische Pest genannt wird,* da sie in der Regierungszeit des oströmischen Kaisers Justinian auftrat –

* Einige moderne Historiker, die strikte Fairness der Poesie vorziehen und glauben, dass die Krankheit am besten ohne Bezug auf einen einzelnen Herrscher zu betrachten sei, bevorzugen die Bezeichnung Frühmittelalterliche Pandemie (Early Medieval Pandemic, EMP). Siehe zum Beispiel, Peregrine Horden, «Mediterranean Plague in the Age of Justinian», in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian, Cambridge: 2005, S. 134.

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Millionen Menschen den Tod, womöglich liegen die Opferzahlen sogar in zweistelliger Millionenhöhe. Der Großteil davon kam innerhalb weniger Jahre, zwischen 541 und 543, ums Leben. Vor Kurzem argumentierten ­einige Historiker, Autoren wie Johannes von Ephesos hätten die Ausbreitung, Mortalität und Bedeutung der Epidemie stark übertrieben. Sie plädieren für eine größere Skepsis gegenüber der Gesamtzahl der Opfer.6 Vielleicht sind ihre Zweifel berechtigt. Gleichwohl gab es im 6. Jahrhundert sehr viele Menschen, die das Gefühl hatten, in einer historisch bedeutsamen Epoche voller sprunghafter Veränderungen zu leben. Sie hatten recht. Die Justinianische Pest allein veränderte nicht die Welt. Doch sie war Teil einer viel größeren Transformation, einer Zeit der Reformen, Neuausrichtung und der Machtkämpfe, die sich von den 520er Jahren, mit denen das vorige Kapitel endete, bis in die 620er Jahre erstreckte, die den Anfang des nächsten Kapitels bilden. Nicht nur für den römischen Rumpfstaat waren diese hundert Jahre eine prägende Zeit, auch die Beziehungen zwischen dem östlichen und westlichen Mittelmeerraum veränderten sich, das kulturelle Gleichgewicht zwischen den «griechischen» und «lateinischen» Einflusssphären und das Verhältnis zwischen dem Römischen Reich und dem Perserreich. Darüber hinaus entwickelte sich das Recht in jener Zeit maßgeblich weiter, ebenso die großen Religionen, der Städtebau und die Kunst. In einem Zeitalter, das nicht nur von der ersten globalen Pandemie, sondern auch von einem weltweiten Klimaschock erschüttert wurde, bildeten sich politische Realitäten und Denkmuster heraus, die die mediterrane Welt fast tausend Jahre lang beeinflussen sollten. Um all das zu verstehen, müssen wir die Geburt  – oder Wieder­ geburt – des Oströmischen Reiches im 6. Jahrhundert näher betrachten. Das ist die Zeit, in der Historiker nicht mehr von Rom und dem Römischen Reich sprechen, sondern von Byzanz: dem griechischsprachigen Nachfolgerstaat, der als Puffer zwischen Ost und West diente und jahrhundertelang überlebte, bis er von den Kreuzfahrern verwüstet und später von den Osmanen erobert wurde – ein Ereignis, das das Ende des Mittelalters einläutete. Und es gibt keine geeignetere Persönlichkeit, mit der man diese Reise beginnen könnte, als Justinian selbst. Justinian, der oft als der letzte wahre Römer bezeichnet wird, hatte

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viele Kritiker, denn es kümmerte ihn nicht, wen er bei seinen Bemühungen, sein Reich nach den Eroberungen der Barbaren wieder aufzubauen, vor den Kopf stieß. Prokopios nannte ihn einen Dämon in Menschen­ gestalt, an dessen Händen das Blut von tausend Milliarden* klebe und der «im Handumdrehen» «den Reichtum aus dem Römischen Reiche» verbannt und allen Armut geschaffen habe.7 Viele hätten dem zugestimmt. Doch für andere, vor allem für jene, die nicht direkt mit Justinian zu tun hatten, war er die perfekte Verkörperung des Kaisermythos, der in einem Atemzug mit Augustus und Konstantin genannt werden sollte. Für sie war er ein Titan, der in all seiner Pracht und Furchtbarkeit weit über seine eigene Zeit hinaus strahlte – so kraftvoll, dass ihn Dante Alighieri viele Jahrhunderte später als den Archetypus des Römers in seiner Schilderung des Paradieses verwendete: ein unvergleichlicher Gesetzgeber und strahlender, hochbegabter Cäsar, der im Jenseits in einem Licht erschien, das so hell und leuchtend war wie die Sonne.8

Justinian und Theodora Am 1. August 527 starb der betagte römische Kaiser Justin infolge eines entzündeten Geschwürs am Fuß und hinterließ den Thron von Konstantinopel nach einer neunjährigen Regierungszeit seinem Neffen und Adoptivsohn Justinian. Die Machtübergabe verlief reibungslos, denn Justin hatte Justinian bereits zum Mitkaiser ernannt, und der jüngere Mann hatte sich in den östlichen Provinzen schon einen Namen gemacht: Er erließ rechtliche Anordnungen (Reskripte), um Unruhen in aufrührerischen Städten zu beschwichtigen, gründete Kirchen in Jerusalem und kam für Reparaturen und humanitäre Hilfen in der syrischen Stadt Antiochia auf,

* Wörtlich: «10 000 mal 10 000 mal 10 000». Unnötig zu erwähnen, dass die Angabe nicht als konkrete Zahl zu verstehen ist. Prokopios ’ Talent, große Zahlen aufzu­ blähen und aus dem Unwahrscheinlichen das Unmögliche zu machen, ist unerreicht und wurde selbst im Mittelalter nicht übertroffen, obwohl die damaligen Chronisten die poetische Übertreibung zu einer Kunstform machten.

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die im Frühjahr 526 von einem massiven Erdbeben zerstört worden war. Zuvor hatte Justinian bereits als Konsul gedient und dabei extravagante Spiele finanziert, damit seine Amtszeit bei der Bevölkerung in guter Erinnerung blieb. Schon vor der offiziellen Thronbesteigung hatten viele im Reich vermutet, dass Justinian die eigentliche Macht im Reich ausübte. Und ab 527 hatte er dann offiziell das Sagen. Als Justinian zum alleinigen Kaiser aufstieg, war er Mitte vierzig. In einem berühmten goldgesprenkelten Mosaik über dem Hochalter der ­Basilica di San Vitale in Ravenna ist Justinian als rundgesichtiger Mann mit leicht gerötetem Teint, schweren Lidern, großen braunen Augen und geschürzten Lippen dargestellt. Seine Haare sind über den Ohren abgeschnitten, doch man erkennt einzelne längere Strähnen, in die Perlen geflochten sind. Das passt zur Beschreibung des griechischen Chronisten Johannes Malalas von Antiochia, der schreibt, Justinian sei in Bederiana (im heutigen Nordmazedonien) geboren und gut aussehend, wenn auch etwas untersetzt gewesen, mit dünnem Haar und hoher Stirn. Er sprach Latein und stammte wie sein Onkel vom Balkan und aus eher bäuerlichen Verhältnissen. Er bevorzugte die chalcedonische Form des Christentums in einer Zeit, in der in seinem Reich ein religiöses Schisma zwischen dem Chalcedonismus und dem Miaphysitismus (oder Monophysitismus)* bestand, und Kaiser ermutigt wurden, sich offensiv zur einen oder anderen Seite zu bekennen. Malalas beschrieb Justinian als «hochgemut und ein richtiger Christ».9 Doch es sollte während seiner fast vier Jahrzehnte währenden Herrschaft viele geben, die anders dachten. Der Chronist Prokopios von Caesarea war einer der eifrigsten Schmeichler des Kaisers  – und einer seiner schärfsten Kritiker. Er war viele Jahre lang in der kaiserlichen Verwaltung tätig und verfasste mehrere

* Bei diesem Schisma ging es wie bei vielen anderen Schismen der Kirchengeschichte um die Natur Christi. Die vereinfachte Version dieses furchtbar komplexen Themas lautet: Die Chalcedonier stimmten der Schlussfolgerung des Konzils von Chalcedon (einer Stadt, die heute ein Teil von Istanbul ist) aus dem Jahr 451 zu, wonach Christus zwei Naturen hatte, eine menschliche und eine göttliche, die in einem einzigen Wesen vereint sind. Die Miaphysiten glaubten, dass Christus nur eine Natur habe: die göttliche.

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überschwängliche Berichte über Justinians Errungenschaften im Krieg und in der Regierung, die erzählte Geschichte mit unverblümter Propaganda mischten. Doch im Laufe der Jahre begann er seinen Herrn zu hassen. Mit einer kuriosen Schmähschrift, der in den 550er Jahren verfassten Geheimgeschichte (Historia Arcana), auch Anekdota genannt, bewies Prokopios, dass es keinen schlimmeren Feind gibt als einen ehemaligen Freund. Er spottete, in Justinians feisten Wangen stecke sicher eine gewisse natürliche Genialität, er ähnle jedoch sehr der berühmten Statue des Kaisers Domi­ tian aus dem 1. Jahrhundert, die nach dessen Ermordung angefertigt worden war. Der Vergleich sollte politischen Schaden anrichten, aber auch einfach gemein sein: Prokopios nannte Justinian außerdem einen «Meister der Verstellung, tückisch, heuchlerisch, unergründlich in seinem Zorne, zweideutig … ein unbeständiger Freund und unversöhnlicher Feind, leidenschaftlich verliebt in Mord und Geld, maßlos streit- und neuerungssüchtig, leicht zu allen Schandtaten zu gewinnen … scharfsinnig im Ausdenken und Ausführen des Schlechten; schon bloß vom Guten zu hören, deuchte ihn bitter». Man müsse fast den Eindruck gewinnen, so Prokopios weiter, «als habe die Natur die Schlechtigkeit aller anderen Menschen zusammengenommen und in die Seele dieses Mannes eingeschlossen».10 Eine durchaus erfrischende, wenn auch dreiste Darstellung, aber noch kein Vergleich zu den Schmähungen, mit denen Prokopios Justinians Frau bedachte, die Kaiserin Theodora. Wie Justinian hatte Theodora einen langen gesellschaftlichen Aufstieg hinter sich, bevor sie im kaiserlichen Palast anlangte. Ihr Vater war Bärendompteur im Zirkus gewesen und ihre Mutter eine Schauspielerin. Theodora verbrachte ihre Jugend mit Auftritten im Theater und – wenn man ihren Kritikern Glauben schenken darf  – mit weit Schlimmerem. Im ­Mosaik von San Vitale ist sie gegenüber von ihrem Ehemann zu sehen, sie wirkt schlank und elegant, mit einem porzellanenen Teint, einem kleinen Mund und dunklen Augen, die unter einem opulent mit Juwelen besetzten Kopfschmuck heiter auf den Betrachter blicken. Malalas beschrieb sie als wohltätig und fromm.11 Prokopios hingegen wiederholte hämisch Gerüchte, dass sich die junge Theodora als «Hetäre zu Fuß» verdingt und auf Analsex spezialisiert habe, sie sei ein scharfzüngiger Teenager gewesen, habe schmutzige Witze gerissen und ihren Körper an große Gruppen von

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Männern verkauft, eine Tänzerin, die Gänse trainiert habe, damit diese Körner aus bestimmten Körperöffnungen pickten, und schließlich eine Kurtisane, die kaiserliche Beamte ins Verderben getrieben habe. In dieser Funktion habe auch Justinian sie kennengelernt.12 Ein Großteil davon ist auf Prokopios ’ frauenfeindliche Haltung zurückzuführen, ein Teil auch darauf, dass Theodora den Miaphysiten angehörte, der Rest ist wohl schlicht Gehässigkeit. Sicher musste Justinian die Gesetze des Reiches ändern, um Theodora heiraten zu können, da sie aus einer gesellschaftlich niedrigen Schicht stammte. Doch Prokopios ’ bös­ artige Darstellung, die einem Rufmord gleichkam, ignorierte die Tatsache, dass Theodora während ihres gesamten Lebens eine wesentliche Rolle bei der Regierung des Reichs spielte und Justinian half, ein Gleichgewicht zwischen den theologischen Splitterfraktionen herzustellen, die sich im Reich spirituell und manchmal auch ganz handfest bekämpften. Doch wie jeder halbwegs talentierte Klatschreporter von heute wusste Prokopios, dass Sex, Verleumdung und Häme stets ein bereitwilliges Publikum finden, für das die Wahrheit weit hinter der Sensationslust rangiert. Justinian und Theodora waren ein Paar, dessen Lebensumstände und Prominenz einfach zu schön waren, um sie zu ignorieren.

Gesetze und Häretiker Als Justinian und Theodora im Sommer 527 an die Macht kamen, gab es im Reich zahlreiche Probleme. Konstantinopel hatte zwar die Barbarenkrise überlebt, die zum Untergang des Westens beigetragen hatte, und die Angriffe der Hunnen und Goten abgewehrt, und auch die Finanzen waren noch relativ solide; doch Justinian war im ersten Jahrzehnt seiner Regierung gezwungen, größere Kriege an zwei Fronten zu führen, ­einen Aufstand niederzuschlagen, der ihn zu stürzen drohte, und wichtige Teile seiner Hauptstadt wiederaufzubauen. Trotzdem dachte er bei seiner Thronbesteigung, die dringlichste Aufgabe, die angegangen werden müsse, sei eine Gesetzesreform. Er war ein leidenschaftlicher Gesetzgeber, dessen Haltung zur Herrschaft in einem seiner Gesetzestexte zusammengefasst ist: «Die kaiserliche Majestät soll nicht allein mit Waffen geschmückt,

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sondern auch mit Gesetzen bewaffnet werden, damit eine gute Regierung sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten besteht.»13 In seiner Vorstellung war eine Ordnung der Gesetze eng mit Göttlichkeit verbunden und damit auch mit einer göttlichen Billigung seiner Herrschaft. Und so befahl Justinian sechs Monate nach seinem Regierungsantritt die Reform und Neuordnung des gesamten römischen Rechts.14 Die Kommission, die Justinian mit dieser Herkulesaufgabe betraute, stand unter der Führung eines jungen, energiegeladenen griechischen ­Juristen namens Tribonian. Zusammen mit seinen Mitarbeitern, zu denen einige der klügsten Rechtsgelehrten Konstantinopels zählten, sichtete er Millionen Zeilen kaiserlicher constitutiones  – gesetzliche Anordnungen der Kaiser, die bis zu Augustus zurückreichten. Nur zwanzig Monate nach Justinians Regierungsantritt hatten sie die Erlasse studiert, bearbeitet und zu einer einzigen, definitiven Ausgabe des Römischen Rechts ­zusammengestellt, das heute als Codex Justinianus bekannt ist. Dieser Codex trat am 7. April 529 in Kraft und wurde in jede Provinz des Reichs geschickt, wo er automatisch alle anderen gesetzlichen Regelwerke ersetzte. Er war natürlich nicht vollkommen: Im Dezember 534 war eine zweite Version erforderlich, um Widersprüche und Unklarheiten zu beseitigen. Das Römische Recht war auch nicht in Stein gemeißelt; es galt nicht als bis in alle Ewigkeit festgelegt, denn das Recht entwickelt sich ständig weiter, das liegt in seiner Natur – und es lag in Justinians Natur, ständig neue Erlasse herauszugeben, die von den Gelehrten als Nachtragsgesetze oder Novellae constitutiones gesammelt wurden. Trotz allem war der Codex eine phänomenale Leistung. Er umfasste zwölf Bücher mit ­Zivilrecht, Kirchenrecht, Strafrecht und öffentlichem Recht – ein Meisterwerk, das Gesetzestexte straffte und klarer formulierte und damit den Standard für konstitutionelle Reformen im Mittelalter setzte. «Außerdem übernahm er auch die Gesetze infolge ihrer unnötigen Vielzahl verdunkelt und deutlich verwirrt durch die gegenseitigen Widersprüche. Indem er sie nun vom Wust haarspalterischer Worte reinigte und ihre Abweichungen wirkungsvoll beseitigte, gab er ihnen dauerhaften Bestand», schrieb Prokopios.15 Für einen Chronisten, der sich auf haarspalterische Worte spezialisiert hatte, war das tatsächlich ein großes Lob. Der Codex war jedoch nur eine von mehreren Rechtsreformen in den

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ersten Regierungsjahren Justinians. Ein Jahr nach seiner Veröffentlichung wurde Tribonian mit einer weiteren Mammutaufgabe betraut. Nachdem er sich mit den Feinheiten der römischen Gesetzeswerke befasst hatte, sollte er nun zusammen mit Experten die Rechtsprechung, wie sie in den gesammelten Schriften der großen klassischen Juristen enthalten war, schlüssig interpretieren. Die meisten großen Rechtsgelehrten der Kaiserzeit – Männer wie Gaius, Papinian, Ulpian und Paulus – hatten in vorchristlicher Zeit gelebt und gearbeitet. Ihre Texte waren daher nicht nur häufig widersprüchlich, sondern auch religionsfern. Da sie Heiden gewesen waren, fehlte ihren Meinungen naturgemäß die christliche Grund­ haltung. Doch für Unfrömmigkeit hatte Justinian nichts übrig. Also wurde Tribonian beauftragt, die juristischen Kommentare zu vereinheitlichen und dabei die großen Werke der Antike nicht nur zu systematisieren, sondern durch Verweise auf den allmächtigen Gott auch noch zu verbessern. Dieses Projekt erfolgte in zwei Schritten: zunächst kamen die sogenannten Fünfzig Entscheidungen (quinquaginta decisiones), dann die Digesten oder Pandekten vom Dezember 533. Und auch hier leistete Tribonian hervorragende Arbeit und lieferte dem Kaiser eine elegante Lösung für ein bürokratisches Chaos. Über Generationen hatten die Römer die archaische Komplexität, Schwerfälligkeit und Korruption im Rechtswesen beklagt. Nun war alles in Form gebracht worden. Die letzte Rechtsreform Justinians, die direkt auf die Veröffentlichung der Digesten folgte, waren die sogenannten Institutionen (Institutiones ­Iustiniani), die im Grunde ein Index der Digesten waren, dazu gedacht, ­angehende Juristen in den offiziellen kaiserlichen Rechtsschulen von Beirut und Konstantinopel auszubilden. Der Text diente als praktisches Lehrbuch für das neue Recht und sorgte dafür, dass angehende Juristen lernten, genau so zu denken, wie Justinian es wünschte. In einer der Kon­ stitutionen Justinians heißt es: «Unsere Untertanen obliegen unserer ständigen Sorge, ob tot oder lebendig.» Es war die Präambel zu einem Gesetz zur Regelung von Bestattungen, doch die Worte lassen sich auch leicht als allgemeine Äußerung zu den Ambitionen des Kaisers lesen: jedem Aspekt des römischen Lebens seinen Stempel aufzudrücken, ob in der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft – und zwar sowohl mit dem Wort als auch mit dem Schwert.

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Denn die Reform des Römischen Rechts im 6. Jahrhunderts fand ­ atürlich nicht in einem Vakuum statt. Auch in den Barbarenreichen des n Westens  – bei den Franken, Burgundern und Westgoten  – waren die Herrscher damit beschäftigt, eigene Gesetzessammlungen in Auftrag zu geben. Doch einem Vergleich mit der erfolgreichen und anhaltenden Überholung des gesamten römischen Systems hielten sie nicht stand. In Konstantinopel und im gesamten Oströmischen Reich markierten Justinians Rechtsreformen den Beginn einer neuen Ära in der Gesetzgebung und einer besonders «griechischen» Phase der Rechtsprechung. Und im Westen sollte das Römische Recht, wie es im Zeitalter Justinians festgelegt worden war, zur Grundlage vieler Rechtssysteme werden. Im 12. Jahrhundert wurde es an den mittelalterlichen Universitäten, die in Bologna, Paris, Oxford und anderen Städten entstanden waren,* geradezu wie ein Fetisch verehrt. Noch im 19. Jahrhundert wurde der Code Napoléon – die große Reform des französischen Zivilrechts 1804  – ausdrücklich nach ­Justinianischem Vorbild gestaltet.16 Tatsächlich könnte man argumentieren, dass heute jedes Land der Welt, das über ein kodifiziertes Recht verfügt (im Gegensatz etwa zum Common Law, das im Vereinigten Königreich vorherrscht) in Justinians und Tribonians Schuld steht. Auch wenn das nicht die ursprüngliche Absicht war, ist es eine unglaubliche Leistung. In etwas mehr als fünf Jahren intensiver administrativer Tätigkeit hatte Justinian die rechtliche Grundlage des Reichs neu geordnet und das Rechtsdenken in einer Weise umgestaltet, die noch fünfzehn Jahrhunderte später spürbar sein sollte. Und dabei war das erst der Anfang. Während sich Tribonian um Justinians Rechtsreform kümmerte, beschäftigte sich der neue Kaiser mit den komplizierten und miteinander verflochtenen Bereichen Häresie, Unorthodoxie, Unglauben und sexuelles Fehlverhalten. Auch hier gab es viel zu tun. Eine der schwierigsten Aufgaben bestand darin, eine Lösung für das Schisma und die Häresien in der Reichskirche zu finden. Bei Justinians Regierungsantritt waren die Auseinandersetzun-

* Siehe Kapitel 11.

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gen zwischen den arianischen und nicänischen Christen, die dem West­ lichen Reich bereits während der Barbareninvasionen im 5. Jahrhundert zugesetzt hatten, noch durch eine weitere Streitfrage verkompliziert worden: den Konflikt zwischen den Chalcedoniern und Miaphysiten, bei dem es um die Natur Christi und um das Verhältnis zwischen seinen menschlichen und göttlichen Eigenschaften ging.17 Heute wirken solche Fragen undurchsichtig und allenfalls für Kirchenhistoriker mit dem entsprechenden Spezialgebiet verständlich. Doch im 6. Jahrhundert war ihre Bedeutung so groß, dass sie Aufstände in der Bevölkerung und inter­ nationale diplomatische Krisen auslösten. Bischöfe wurden von aufgebrachten Menschenmengen getötet, weil sie Ansichten geäußert hatten, die denen ihrer Gemeinde widersprachen; zwischen 484 und 518 war es wegen des Streits sogar zu einem offiziellen Schisma gekommen.* Und während die Hauptstadt standhaft chalcedonisch blieb, hielten weite Gebiete im Reich ebenso überzeugt am Miaphysitismus fest. Dazu gehörte auch Ägypten, die Kornkammer des Reichs. Die Aussicht, die Provinz wegen einer Glaubensfrage zu verlieren, war alles andere als verlockend, aber sehr real. Justinian musste daher während seiner gesamten Herrschaft einen ­Balanceakt zwischen den Chalcedoniern und Miaphysiten vollführen. Von Vorteil war dabei, dass seine Frau Theodora selbst eine überzeugte Miaphysitin war und alles daran setzte, Mitglieder der Sekte zu schützen, wodurch der Eindruck entstand, die Regierung sei bis zu einem gewissen Grad unparteiisch. Doch Justinian ging das Problem nie mit der Entschlossenheit an, die er bei der Reform des Römischen Rechts gezeigt hatte. Positiv formuliert könnte man sagen, dass er eine Eskalation vermied, die zu einem weiteren offiziellen Schisma in der christlichen Welt geführt hätte. An anderer Stelle waren Justinians Machtinstinkt und sein Streben nach Orthodoxie deutlicher zu spüren. Sexuelles Fehlverhalten wurde ­unter seiner Herrschaft besonders streng verfolgt. Abweichungen von der

* Das Akakianische Schisma, benannt nach dem Patriarchen Akakios von Konstantinopel.

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Moral störten Justinians Vorstellungen von Zucht und Ordnung – und offenbar gab es reichlich Anlass zur Besorgnis. Besonderen Anstoß nahm der Kaiser an Sodomie und Pädophilie, und er zögerte nicht, die Praktizierenden zu bestrafen. Johannes Malalas berichtet ausführlich über eine Kampagne innerhalb des römischen Klerus. Im Jahr 528, schrieb er, «wurden einige Bischöfe aus verschiedenen Provinzen denunziert. Sie trieben einen schlechten Lebenswandel in fleischlicher Hinsicht, dazu auch Homo­ sexualität. Unter ihnen befand sich auch Isaias, der Bischof von Rhodos … und [ein Bischof ] in Thrakien; er hieß Alexander.» Diese beiden Geist­ lichen wurden zusammen mit anderen nach Konstantinopel gebracht, wo sie vom Stadtpräfekten verhört wurden. Traurigerweise hatten sie keine guten Erklärungen parat. «Den Isaias unterzog er einer harten Folter und schickte ihn in die Verbannung, dem Alexander dagegen ließ er den Penis abschneiden und zeigte ihn auf einer Bahre im Triumphe vor.» Anderen Verdächtigen wurden Strohhalme in den Penis eingeführt, um sie auf dem Forum öffentlich zu demütigen. Das war nicht einfach nur ein grausamer römischer Zeitvertreib, sondern kaiserliche Politik. Justinian erließ anschließend das Dekret, dass Homosexuelle und jene, die «der Päderastie überführt» wurden, kastriert werden sollten. Viele starben einen qualvollen Tod. «Und es trat von da an Angst und Schrecken ein bei denen, die an der Begier nach Männern erkrankt waren», schrieb Malalas.18 Hier zeigt sich die grausame Anwendung von Vorurteilen, die während des gesamten Mittelalters anhalten sollte. Neben dem sexuellen Fehlverhalten sorgten auch religiöse Abweichler für Probleme, vor allem die Tatsache, dass es in einem offensichtlich christlichen Reich (ungeachtet der Streitigkeiten über die reine Lehre) noch ­immer einige hartnäckige Bastionen altmodischen Heidentums gab. Seit Konstantins Edikt von Mailand im Jahr 313 war viel Zeit vergangen, in der es zusehends schwieriger geworden war, die Liebe zu heidnischen Göttern mit dem Leben als Römer zu vereinbaren. Abgesehen von Julian, der 363 gestorben war, hatte kein Kaiser mehr heidnische Religionen unterstützt. Die Olympischen Spiele waren unter Theodosius  II . in den 390er Jahren verboten worden. Nichtchristen durften weder beim Militär noch in der Verwaltung des Reiches dienen. Wie bereits festgestellt, sollte Tribonian bei der Systematisierung und Überarbeitung des Römischen Rechts auch

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das Ziel verfolgen, den in den Digesten gesammelten Schriften der heidnischen römischen Juristen eine ausdrücklich christliche Note zu verleihen. Das war nicht nur Schönfärberei. Schon bald sollte die Zeit kommen, in der heidnische Vorstellungen nicht nur an den Rand gedrängt, sondern verboten wurden.19 Unter den zahlreichen Gesetzen, die im ersten Jahrzehnt von Justi­ nians Herrschaft erlassen wurden, befand sich auch ein Dekret, das es Heiden verbot zu unterrichten. An sich unterschied sich das Gesetz nicht von den anderen gegen Heiden gerichteten Erlassen in Justinians Gesetzessammlungen, allerdings hatte es weitreichende Auswirkungen auf eine ganz besondere Institution. Johannes Malalas erkannte diesen Zusammenhang. In einem Eintrag zum Jahr 529 schrieb er, der Kaiser «erließ eine Novelle und übersandte sie nach Athen: Er ordnete an, niemand dürfe Philosophie oder Astronomie lehren.»20 Der Chronist Agathias berichtet, der letzte Leiter der Schule von Athen sei gezwungen worden, nicht nur die Schule und die Stadt, sondern auch das Reich zu verlassen. (531 flohen er und mehrere Lehrer nach Persien.) Dabei ging es um mehr als um einen Standortwechsel. Tatsächlich bedeutete Justinians Erlass das Ende der berühmten Schule in der antiken griechischen Stadt – der Stadt von Platon und Aristoteles –, wo Schülern über viele Generationen die Erkenntnisse der klassischen Philosophie und Naturwissenschaften vermittelt worden waren. Die Schließung der Schule von Athen ist ein wichtiger Wendepunkt. Zwar wurde damit nicht auf einen Schlag die gesamte nichtchristliche Wissensvermittlung im Oströmischen Reich beendet.21 Und es entstand auch nicht sofort eine intellektuelle Wand zwischen dem klassischen Zeitalter und der sich abzeichnenden Hegemonie des christlichen Denkens in Europa und im Westen. Trotzdem war die Schließung nicht nur von symbolischer Bedeutung. Denn während die Gelehrsamkeit in Persien und anderen Teilen des Ostens blühte und Bibliotheken in Bagdad und anderen Städten die Werke von Aristoteles und weiteren nichtchristlichen Größen bewahrten und vervielfältigten, muss man für Justinians Herrschaft und generell das 6. Jahrhundert feststellen, dass sich die christliche Welt selbst Scheuklappen anlegte. Dogmatische Feinheiten erhielten eine immer größere und oft fatale Bedeutung, während alles Nichtchristliche

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mit zunehmendem Misstrauen betrachtet wurde. Einst hatte das Römische Reich wesentlich zur Verbreitung klassischen Wissens in seinen Terri­ torien beigetragen. Aber als das Reich im Westen zerfiel und sich im Osten immer dogmatischer entwickelte, wurde die Weitergabe antiken Wissens über Jahrhunderte aktiv blockiert, sodass es immer mehr verschwand. Ein Grund, warum die Bezeichnung «dunkles Zeitalter» so hartnäckig am Mittelalter klebt, liegt darin, dass die wissenschaftlichen und ­rationalen Erkenntnisse der Antike über Hunderte von Jahren  – vom 6. Jahrhundert bis zu den Anfängen der Renaissance Ende des 13. Jahrhunderts – im Westen vergessen oder unterdrückt wurden. Diese Entwicklung war nicht nur ein bedauerliches Symptom einer schleichenden kulturellen Demenz. Sie gründete in der gezielten Politik oströmischer Kaiser wie Justinian, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, die selbst ernannten, aber leider unchristlichen Hüter kostbaren Wissens aus ihrer Welt zu vertreiben.

Aufstände und Erneuerung Angesichts des Ausmasses der Reformen im Reich und der Geschwindigkeit, mit der Justinian den Wandel in den ersten Jahren seiner Regierung vorantrieb, überrascht es kaum, dass es schon fünf Jahre nach seinem Regierungsantritt zu massiven Unruhen kam. Diese Unruhen nahmen in den ersten winterlichen Tagen des Jahres 532 in den Straßen von Konstantinopel ihren Anfang, und obwohl die Ursachen auf spezielle Probleme in der Stadt zurückzuführen sind, waren die materiellen Auswirkungen des Aufstands noch lange zu spüren und sind in Istanbul auch heute noch zu erkennen. Bevor wir also die Betrachtung der ersten Phase von Justinians Herrschaft abschließen, die eine ganze Epoche prägen würde, sollten wir uns mit dem sogenannten Nika-Aufstand befassen: ­einem Ausbruch massiver Gewalt, durch den Byzanz an den Rand der Anarchie geriet. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts zählten Wagenrennen zu den beliebtesten und mit großer Begeisterung besuchten Veranstaltungen in Kon­ stantinopel und anderen großen Städten des Oströmischen Reiches. In

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der Hauptstadt fanden die Rennen im Hippodrom statt, einer riesigen, U-förmigen Rennbahn in einem Stadion, das direkt an die Bauten des ­Palastviertels grenzte. Vier Pferdestatuen aus massiver Bronze krönten eine der Zuschauertribünen und verwiesen auf die Unterhaltung, die auf der Rennbahn geboten wurde, wo die Wagen der Rennställe mit buchstäblich halsbrecherischer Geschwindigkeit über die Piste donnerten.* Die Rennen waren aufregende, gefährliche Wettbewerbe, und die schnellsten und geschicktesten Wagenlenker waren Stars mit einer begeisterten Anhängerschaft. Im Lauf der Zeit hatten sich die besonders eifrigen Fans in Parteien organisiert. In Konstantinopel gab es vier: die Grünen, die Blauen, die ­Roten und die Weißen. Die mit Abstand größten und mächtigsten Parteien waren die Grünen und die Blauen, deren fanatische Anhänger in Blöcken im Hippodrom saßen und ihre Mannschaften anfeuerten. Sie vertraten die Haltung ihrer «Mannschaft» auch in religiösen und poli­ tischen Angelegenheiten und erwarteten, dass ihre geeinte Stimme in der Politik Gewicht hatte. Die Fraktionen im Hippodrom hatten mit den ­modernen europäischen Fußball-Ultras die überzogene Selbsteinschätzung gemein, den Hang zur Gewalt und die kollektive Fixierung auf einen bestimmten Kleidungs- und Frisurenstil.** Sie waren leicht reizbar und neigten schnell zur Gewalt, wenn sie das Gefühl hatten, sie wären gekränkt oder ignoriert worden.

* Die Bronzepferde der Quadriga sind heute im Markusdom von Venedig zu sehen, wohin sie nach der Plünderung Konstantinopels beim Vierten Kreuzzug gebracht wurden. Siehe Kapitel 8. ** Bei den Mitgliedern der Hippodrom-Fraktionen waren in den 630er Jahren lange Schnauz- und Vollbärte schwer angesagt, dazu eine Art «Vokuhila»-Frisur, also vorne kurz und hinten lang, sowie teure «Designer»-Kleidung, die für ihren sozialen Stand viel zu kostspielig und knallig waren, darunter Tuniken, die an den Schultern absurd weit geschnitten und an den Handgelenken eng waren. Der Look wurde als «hunnisch» bezeichnet. Die geistige Haltung entsprach wohl der des umherreisenden englischen Fußball-Hooligans, den man in den 1990er bis 2010er Jahren auf den Tribünen der Stadien sah, in einer Stone-Island-Jacke für 800 Pfund und den Kopf zum Skinhead geschoren oder in neuerer Zeit mit Fade-Cut im Stil der Alt-RightBewegung.

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Als junger Mann, der im Dienst seines Onkels verschiedene Ämter im Palast bekleidet hatte, war Justinian ein begeisterter Anhänger der Blauen gewesen. Doch nachdem er Kaiser geworden war, änderte er seine Haltung und behandelte fortan alle Fraktionen mit Herablassung.22 Beide ­Positionen waren problematisch: Ein Kaiser, der eine Fraktion zu stark bevorzugte, befeuerte die Rivalität zwischen den Gruppen, doch ein Kaiser, der seine Unterstützung völlig einstellte, trieb die Gruppen dazu, sich gegen ihn zu verbünden. Genau das passierte Justinian im Winter 531/532. Und es hätte ihn fast den Thron gekostet. Die Tumulte begannen im Januar, als Anhänger der Blauen und Grünen bestraft werden sollten, weil sie nach einem Rennen randaliert und mehrere Personen getötet hatten. Jeweils ein Anführer der Grünen und Blauen wurde wegen Mordes zum Tode verurteilt, doch der Galgen brach unter ihrem Gewicht zusammen. Beide konnten fliehen und fanden kurzzeitig Zuflucht in einer nahe gelegenen Kirche, wurden jedoch schon bald wieder gefasst und im Haus des Stadtpräfekten, dem Prätorium, festgehalten. Unter anderen Umständen hätte man darin vielleicht einen etwas dramatischer verlaufenen Hinrichtungstag gesehen. Doch in diesem speziellen Fall entwickelte sich daraus ein Aufstand, in dessen Verlauf die ­öffentliche Ordnung komplett zusammenbrach. Laut Johannes Malalas wurden die Gefangenen drei Tage lang von den Truppen des Stadtpräfekten bewacht. In dieser Zeit setzten sich die Grünen und Blauen für ihre Begnadigung und Freilassung ein. Am Dienstag, dem 13. Januar, wollte Justinian von der kaiserlichen Loge aus die ­Wagenrennen im Hippodrom verfolgen. Den ganzen Tag über skandierten die Grünen und Blauen gemeinsam die Namen der Verurteilten und baten den Kaiser um Gnade. Justinian  – der wie immer pedantisch an Recht und Ordnung festhielt  – beachtete sie nicht. Und weil es schon schlimm genug ist, wenn eine Bitte nicht erhört wird, es aber noch viel schlimmer ist, wenn man komplett ignoriert wird, wandten sich die Anhänger schließlich, als sich die Rennen dem Ende näherten, gegen Justinian selbst. «Der Teufel gab ihnen einen schlimmen Ratschluß ein, sie schrien sich zu: ‹Mögen die menschenfreundlichen Grünen und Blauen lange leben›», schrieb Malalas. Dann zogen sie durch die Straßen rund um das Hippodrom, brüllten «nika!» (griechisch für «Siege!») – ein populärer

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Schlachtruf bei den Wagenrennen – und steckten Gebäude in Brand. Als es dunkelte, schlugen Flammen aus dem Prätorium. Die beiden Gefan­ genen wurden befreit und verschwanden in der Menge, man hörte nie ­wieder etwas von ihnen. Damit hatten die «Nika»-Randalierer ihr Ziel ­erreicht. Aber inzwischen waren zu ihren ursprünglichen Forderungen viele weitere Beschwerden hinzugekommen. Bei den meisten handelte es sich um die üblichen Klagen von Stadtbewohnern, die in der Geschichte immer wiederkehren: zu hohe Steuern, Korruption und die Bevorzugung bestimmter religiöser Gruppen.23 (Laut Prokopios hegten sie eine besondere Abneigung gegen den Prätorianerpräfekten Johannes von Kappa­ dokien, der seine Tage angeblich mit Betrügereien und Festmählern ­verbrachte, bei denen er sich bis zum Erbrechen vollstopfte.)24 Die Aufständischen waren vielleicht nicht sonderlich originell, aber auf jeden Fall gefährlich. Und sie waren in Rage. Für Justinian kam der Nika-Aufstand zu einem denkbar unpassenden Zeitpunkt. Neben seinen umfangreichen Gesetzesreformen und Maßnahmen gegen Heiden und Häretiker befand er sich mitten in heiklen Verhandlungen mit einem neuen persischen Großkönig, Chosrau  I ., um einen blutigen Krieg zu beenden, der zwischen beiden Reichen in ihrem Grenzgebiet im Mittleren Osten ausgebrochen war. Die Außenpolitik ­befand sich also in einer kritischen Phase, daher war es äußerst ungünstig, dass ausgerechnet in diesem Moment die Hauptstadt des Reichs von unzufriedenen Bewohnern, die sich über Justinians unnachgiebige Haltung aufregten, in Brand gesteckt wurde. Doch genau das passierte. Am Morgen des 14. Januar, einem Mittwoch, kündigte Justinian einen weiteren Tag mit Wagenrennen in der Hoffnung an, die Aufständischen abzulenken und wieder zur Vernunft zu bringen. Doch damit wurde nur zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Anstatt sich an den Wettkämpfen zu erfreuen, legten die Aufständischen Feuer im Hippodrom und verlangten die Absetzung verschiedener Beamter, zu denen auch Justinians genialer Rechtsexperte Tribonian gehörte. Zögernd willigte der Kaiser ein. Doch es half nichts. Mittlerweile hatte der Aufstand eine Eigendynamik entwickelt und konnte nur noch auf unerfreuliche Art beendet werden. In den folgenden fünf Tagen verlor Justinian die Kontrolle über seine Hauptstadt. Am Mittwoch wechselte er von Beschwichtigung zu Vergel-

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tung und befahl dem aufsteigenden Mann in seiner Armee – einem kompromisslosen General namens Belisar, der in den letzten Perserfeldzügen eine wichtige Rolle gespielt hatte  –, mit Unterstützung einer Gruppe ­gotischer Söldner hart durchzugreifen. «Es kam zu einem Zusammenstoß, und viele aus den Parteigängern wurden niedergestochen», schrieb Johannes Malalas. «Der Pöbel aber wurde erzürnt, steckte auch an anderen Stellen Feuer an und brachte zuchtlos manche um.»25 Zweiundsiebzig Stunden lang war ein wesentlicher Teil des Stadtzentrums von Flammen eingeschlossen. Zwei Neffen eines früheren Kaisers – Hypatius und Pompeius – wurden unabhängig voneinander anstelle von Justinian zum Kaiser ausgerufen. Obwohl zahlreiche Soldaten aus Thrakien als Verstärkung für Belisars Männer in die Hauptstadt beordert wurden, war die Stadt am Abend des 17. Januar, einem Samstag, immer noch in Aufruhr. Am folgenden Tag spitzte sich die Lage sogar noch zu. Schon bald nach Sonnenaufgang erschien Justinian mit einer Bibel in der Hand in den verkohlten Trümmern des Hippodroms. Als die Menge ihn niederbrüllte, zog er sich in den Palast zurück und dachte sogar daran, mit seiner Flotte aus der Stadt zu fliehen. Laut Prokopios rettete ihn Theodora aus seiner misslichen Lage. Sie schimpfte mit ihm und sagte, jedem, «der einmal den Kaiserpurpur trug, [muss] ein Flüchtlingsdasein unerträglich ­erscheinen», sie jedenfalls wolle «jenen Tag nicht erleben, an dem jene, die vor mich hin treten, mich nicht mehr als Herrin ansprechen werden».26 Justinian hörte ihr zu. Und ihm wurde klar, dass es praktisch nur noch ­einen Ausweg gab. Nur mit extremen Mitteln würde er sein Volk wieder gefügig machen. Tausende Aufständische hatten sich im Hippodrom versammelt und riefen Hypatius ’ Namen. Eine Schlacht stand unmittelbar bevor. Belisar war bereit, die Truppen zum Angriff zu führen. Als die kaiserlichen Truppen an jenem Sonntag ins Hippodrom stürmten, standen dort Zehntausende dicht an dicht. Die Soldaten hatten Anweisung, sie zu massakrieren. Und das taten sie auch. Sie strömten von zwei Seiten ins Stadion, «ein Teil schoss mit Pfeilen, andere stachen die Leute nieder».27 Laut Prokopios wurden zweitausend Gefangene gemacht und dreißigtausend Zivilisten getötet. Wenn diese Zahlen stimmen, dann wurden etwa 7  Prozent der Einwohner Konstantinopels an einem ein­ zigen Tag umgebracht. Und selbst wenn sie übertrieben waren, so wurde

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der Aufstand doch ungeheuer blutig niedergeschlagen – eine schreckliche Warnung an alle, wie mächtig der Kaiser war und wie grausam er sein konnte. Hypatius, der Kandidat der Aufständischen, wurde gefangen genommen und am folgenden Tag hingerichtet, seine Leiche wurde ins Meer geworfen. Für Konstantinopel galt fast eine Woche lang eine Ausgangssperre, alle Geschäfte mit Ausnahme der Lebensmittelläden waren geschlossen. Unterdessen sandte Justinian, dem die Schmach der Niederlage erspart geblieben war, Nachricht an alle nahe gelegenen Städte im Reich, um seinen Sieg zu verkünden und zu erklären, dass er Konstan­ tinopel noch großartiger als zuvor wiederaufbauen würde. Er hatte sich mit seinem harten Durchgreifen keine Freunde gemacht. Aber er hatte überlebt. Um von der entsetzlichen Brutalität bei der Niederschlagung des Nika-Aufstands abzulenken, griff Justinian zu einer Maßnahme, die vielen Autokraten in der Geschichte bekannt sein dürfte: Er beschloss, mit prächtigen Bauten wieder zu Ruhm und Ehre zu gelangen. Zu den besonders bedauerlichen architektonischen Verlusten des Nika-Aufstands zählte die Hauptkirche der Stadt, die der Hagia Sophia (der heiligen Weisheit) gewidmet war: ein lebendiges Wahrzeichen im bürgerlichen wie imperialen Zentrum der Stadt an einer Straße, die Mese (Mittelstraße) genannt wurde. Das Gebiet, zu dem auch das Hippodrom gehörte, war durch die Brände beim Aufstand schwer beschädigt worden, daher beschloss Justinian, dass dessen Wiederaufbau Vorrang hatte. Die Basilika war ein schönes, lang gestrecktes Gebäude mit Holzdach und ­einer rechteckigen Grundfläche von etwa 5000 Quadratmetern gewesen. Doch nun war die hölzerne Dachkonstruktion komplett zerstört und laut Prokopios nur noch eine «verkohlte Ruine». Andererseits boten die Trümmer auch große Chancen. «Der Kaiser», schrieb Prokopios, «scheute keine Ausgaben, er machte sich mit allem Eifer ans Werk und berief sämtliche Fachleute aus der ganzen Welt.»28 Er hatte vor, die größte Kirche der Welt zu bauen. Die Männer, die Justinian für sein Projekt anheuerte, gehörten zu den klügsten Köpfen der damaligen Zeit. Der eine war Isidor von Milet, der Geometrie und Mechanik unterrichtete, Texte von Archimedes bearbeitet

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hatte und in einem Atemzug mit antiken Genies wie Euklid als Autorität genannt wurde. Er hatte außerdem einen speziellen Zirkel zum Zeichnen von Parabeln entwickelt. Der andere war Anthemios von Tralleis, ein ­Experte für Linsen, Prismen und mechanische Werkzeuge. Anthemios entstammte einer erstaunlichen Familie, zu seinen Geschwistern zählten ein Literaturlehrer, ein berühmter Jurist und ein großer Physiker. In ihrer gemeinsamen Wirkung haben moderne Historiker Isidor und Anthemios schon mit Christopher Wren und Leonardo da Vinci verglichen.29 Ob das nun zutrifft oder nicht, mit der neuen Hagia Sophia schufen sie jedenfalls ein Meisterwerk. Prokopios schrieb: «Es war aber auch dies ein Zeichen der Gnade Gottes für unseren Kaiser, daß er ihm die zu seinen Unternehmungen geeignetsten Männer an die Hand gab. Und auch die Klugheit des Kaisers selbst dürfte natürlich Bewunderung finden, deshalb weil er aus der ganzen Menschenschar die passendsten Helfer für die wichtigsten Werke auszuwählen verstand.»30 Die Hagia Sophia, die Isidor und Anthe­ mios in nur fünf Jahren, von 532 bis 537, fertigstellten, zählt zu den prächtigsten Gebäuden, die je errichtet wurden. Die neue Kirche ragte hoch in den Himmel von Konstantinopel. Sie nahm ungefähr die gleiche Fläche ein wie die ursprüngliche Basilika, doch während die alte Kirche lang und schmal war, hatte ihre Nachfolgerin ­einen fast quadratischen Grundriss, gekrönt von einer beeindruckenden Kuppel, die fast unermesslich schien und noch größer war als die Kuppel des Pantheon in Rom. Prokopios erklärte, die große Kuppel der Hagia ­Sophia wirke so anmutig, als ob sie «als goldene Kugel am Himmel hängen» würde. Ihre Schönheit wurde noch betont durch die anderen, kleineren Kuppeln, die sich mit ihr verbanden und eine wunderbare Abfolge von Formen bildeten, alle in natürliches Licht getaucht, das durch sorgfältig positionierte Öffnungen eintrat. «Alle die Bauglieder, die sich da – es ist kaum zu glauben – hoch droben ineinander gefügt gegenseitig in Schwebe halten und nur auf ihre nächste Umgebung stützen, leihen dem Werk eine einzigartige, ganz ausgezeichnete Harmonie, lassen aber das Auge des Betrachters nicht lange an einer Stelle, sondern jeder Einzelteil zieht den Blick ab, um ihn schnellstens auf sich zu lenken», schwärmte er. Obwohl Prokopios ’ Schriften über Architektur von Schmeicheleien für Justinian durchdrungen sind (im Gegensatz zu seinem vernichtenden Enthüllungs-

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buch, den Anekdota, handelt es sich bei den Bauten um offizielle Propaganda), waren die Superlative in diesem Fall gerechtfertigt. Im Innern wetteiferten die natürliche Maserung im weißen Prokonnesischen Marmor, der aus den Steinbrüchen der Insel Marmara stammte, mit prächtigen Mosaiken um die Aufmerksamkeit der Betrachter. Die ­Innenseite der Kuppel war dicht mit goldenen Mosaiksteinchen besetzt – Tesserae aus Glas, die mit Blattgold belegt waren –, sodass man den Eindruck hatte, sie sei komplett mit Gold ausgekleidet worden.31 «Wer [könnte] die Pracht der Säulen und Steine aufzählen, mit denen die Kirche geschmückt ist? Man könnte sich in eine Blumenwiese zur Frühlingszeit versetzt fühlen», schrieb Prokopios. «Wenn einer das Heiligtum zum Beten betritt, so wird ihm alsbald bewußt, daß nicht menschliche Kraft oder Kunst, sondern Gottes Hilfe dieses Werk gestaltet hat … sein Sinn aber erhebt sich zu Gott und wandelt in der Höhe und glaubt daran, daß der Herr nicht ferne ist.» Natürlich hatte dieser Eindruck von Transzendenz ihren Preis. Allein die Ornamente und Kunstwerke im Altarraum hatten einen Wert von 40 000 Pfund Silber. Doch der Effekt war sensationell. Die Hagia Sophia war das Prunkstück einer einzigartigen Wiederaufbau- und Verschönerungskampagne, die mit der gleichen Energie und Geschwindigkeit vorangetrieben wurde wie Justinians Reform des Römischen Rechts. Dabei war die Neugestaltung Konstantinopels nur ein Teil des kaiserlichen Monumentalbauprogramms: Es umfasste Wunderwerke wie die vier riesigen Säulen der Johanneskirche von Ephesos, die mit Statuen der Evangelisten gekrönt waren, und eine im heutigen Serbien gegründete Stadt, um an den Geburtsort des Kaisers zu erinnern und eine angemessene Residenz für das neue Erzbistum «Justiniana Prima» zu schaffen. Die Pracht dieser Bauwerke sollte viele Jahrhunderte überdauern. Etwa vierhundert Jahre nach Fertigstellung der Hagia Sophia (deren Kuppel durch Erdbeben geschädigt, aber in einer noch beeindruckenderen Höhe wieder aufgebaut wurde) besuchten zwei Diplomaten aus Kiew Konstantinopel in beruflichen Angelegenheiten. Bei einer Besichtigungstour wurden sie durch die Kirche geführt, die mittlerweile eine heraus­ ragende Sammlung christlicher Reliquien beherbergte.32 Sie konnten kaum ihren Augen trauen. Voller Staunen kehrten die Botschafter in ihre Hei-

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mat zurück und priesen die Griechen in Hinblick auf die Religion als weit überlegen im Vergleich zu den Germanen oder Bulgaren. In der Hagia ­Sophia, erklärten sie, «wussten wir nicht, ob wir im Himmel oder auf der Erde waren … wir können diese Schönheit nicht vergessen».33

Die Vernichtung der Vandalen Der Wiederaufbau der Hagia Sophia war für Justinian die direkteste und offensichtlichste Methode, sich von der Schmach des Nika-Aufstands zu erholen. Doch das war nicht seine einzige Reaktion. Deutlich weiter von seiner Hauptstadt entfernt sicherte sich der Kaiser in den frühen 530er Jahren das, was er später als herausragende Leistung seiner langen Herrschaft betrachten sollte. Gemeint ist die Eroberung – oder vielmehr Rückeroberung – Nordafrikas von den Vandalen. Die Provinz und ihre prestigeträchtige Hauptstadt Karthago waren den Römern in den Wirren der Völkerwanderung entrissen worden. Angesichts des anhaltenden Wohlstands der Region unter der Herrschaft der Vandalen war ihre Rück­ eroberung ein lukratives Unterfangen, das zudem dem Stolz der Römer Auftrieb geben würde. Justinians Karthago-Projekt wurde möglich, weil der Kaiser im September 532 ein Abkommen mit dem persischen Großkönig Chosrau I . geschlossen hatte. Der Sassanidenherrscher war im Herbst 531 mit gerade einmal achtzehn Jahren an die Macht gekommen. Er brauchte Zeit, seine wacklige Position im eigenen Land zu festigen, und erklärte sich daher ­bereit, einen erbitterten Krieg zu beenden, den sich Rom und Persien seit vier Jahren um Armenien lieferten. Das Abkommen, das Justinians Gesandte mit Chosrau aushandelten, war als der Ewige Friede bekannt. Der Titel war pompös und übertrieben, denn eigentlich handelte es sich um einen Waffenstillstand, für den Justinian Chosrau 11 000  Pfund Gold zahlte. Aber immerhin konnte sich der Kaiser dadurch auf Feldzüge im Westen konzentrieren. Und er verschwendete keine Zeit. Nur neun ­Monate nach dem Ende der Kampfhandlungen in Persien wurde im Sommer 533 eine große Invasionsflotte in den Gewässern vor Konstantinopel zusammengezogen. Sie umfasste Hunderte Transportschiffe mit fünf-

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zehntausend Soldaten der Infanterie und Kavallerie sowie zweiundneunzig Kriegsschiffe, sogenannte Dromonen, die mit je zwei Ruderreihen aus­ gestattet waren. Befehligt wurde die Expedition von Belisar, der in den Perserkriegen erste Glanztaten vollbracht und seine eisenharte Loyalität beim Nika-Aufstand unter Beweis gestellt hatte, als er mit seinen Truppen die Aufständischen im Hippodrom niedergemetzelt hatte. Eine wahrhaft Furcht einflößende Armada. Im Sommer 533 verließ die Flotte Konstantinopel und nahm Kurs auf das Vandalenreich in etwa 1500  Kilometern Entfernung. Nach einigen Wochen auf See legte sie in Sizilien an, wo sich Belisar über die aktuelle Entwicklung in Karthago informierte. Die Nachrichten waren vielsprechend. Der jetzige Vandalenkönig hieß Gelimer. Er hatte drei Jahre zuvor seinen Cousin Hilderich abgesetzt und selbst die Herrschaft übernommen. Justinian hatte Gelimer damals geschrieben und ihn für seine Impertinenz getadelt; als Antwort hatte er einen mit Ironie gespickten Brief ­erhalten, in dem ihm Gelimer mitteilte, er sei völlig im Recht, und ihm riet, sich nicht in anderer Leute Angelegenheiten einzumischen. «Jeder Herrscher aber soll sich  – und das ist die Ordnung  – um sein eigenes Reich und nicht um fremde Sorgen kümmern!», schrieb Gelimer. «Daher steht auch dir als Kaiser nicht an, dich anderweitig zu betätigen. Solltest du … uns angreifen, so werden wir dir mit aller Macht entgegentreten.»34 Doch 533 war von dieser Macht Gelimers nicht viel zu spüren. Der Vandalenkönig wurde von Belisars Ankunft kalt erwischt: Er war gar nicht in Karthago, und ein Großteil seiner besten Truppen befand sich auf einem Feldzug gegen Sardinien. Als Belisar davon auf Sizilien erfuhr, stach er sofort in See, landete in Tunesien und marschierte Anfang September auf Karthago zu. Er vernichtete eine vandalische Armee, die sich ihm bei Ad Decimum in den Weg gestellt hatte, und tötete deren Kommandeur Ammata, Gelimers Bruder. Am 14. September zog er in die Hauptstadt der Vandalen ein. Belisar stürmte Gelimers Palast auf dem Byrsa-Hügel, setzte sich auf seinen Thron und bediente sich an den Speisen, die Gelimers Köche am Vortag für diesen zubereitet hatten.35 «Belisar aber erntete an jenem Tag Ruhm wie kein Zeitgenosse je oder irgend ein Mann der Vergangenheit», schrieb Prokopios, der dabei war, als das Essen aufgetragen wurde.36

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Selbst wenn man Prokopios ’ Neigung zur Übertreibung berücksichtigt, bleibt festzuhalten, dass Belisar einen großen Coup gelandet hatte. Justinian war so begeistert über die Nachricht vom Fall Karthagos, dass er sich selbst die Beinamen Vandalicus und Africanus gab. Und es sollten noch größere Siege folgen. Gelimer leistete kurzzeitig Widerstand gegen die oströmische Besatzungsarmee und bot Goldmünzen für jeden Kopf eines römischen Soldaten, den die Bauern und Hirten auf dem Land ihm brachten. Doch der Guerillakrieg war schon bald beendet. Im Dezember wurden die Vandalen in einer zweiten großen Schlacht bei Tricamarum geschlagen. Gelimer suchte in der Nähe der antiken Stadt Medeus im ­Atlasgebirge Zuflucht. Dort wurde er von Belisars Truppen umzingelt und im Winter nach einer mehrmonatigen Belagerung zur Kapitulation gezwungen. Zu dem Zeitpunkt legte der Vandalenkönig eine bemerkenswerte Gelassenheit an den Tag. Während der abschließenden Verhandlungen über ein Ende der Belagerung erklärte er, seine einzigen Wünsche seien ein Laib Brot, ein Schwamm, um seine Augen zu reinigen, und eine Leier, um einen Klagegesang zu komponieren. Später, als klar war, dass er eine Festnahme nicht länger vermeiden konnte, schrieb er: «Daher will ich mich nicht weiterhin dem Schicksal widersetzen und gegen mein Los ­ankämpfen, sondern dorthin folgen, wohin es ihm beliebt, mich zu führen.»37 Das Schicksal hatte in Gestalt Belisars entschieden, ihn nach Konstantinopel zu führen, wo er Justinian als Kriegsbeute übergeben wurde. Im Sommer 534 fand im Hippodrom ein offizieller Triumphzug statt, um den Abschluss des Afrikafeldzugs zu feiern, den Prokopios als den größten Sieg seit den Tagen von Titus und Trajan bezeichnete. Der Höhepunkt war erreicht, als Gelimer den Zuschauern zusammen mit zweitausend weiteren hochgewachsenen und stattlichen vandalischen Gefangenen präsentiert wurde. Gelimer wurde, seiner königlichen Gewänder entkleidet, vor den Kaiser geführt, und musste sich vor ihm in den Staub werfen. Doch selbst in diesem demütigenden Moment blieb der Vandalenherrscher gelassen. «Als nun Gelimer in der Rennbahn stand und den Kaiser auf hohem Thron sitzen und die Volksmassen auf beiden Seiten sich drängen sah, da ließ ihn dieser Anblick die ganze Größe seines Unglücks erkennen; er brach darüber aber nicht in Tränen aus und ließ auch keinen Seufzer hören», schrieb Prokopios.38 Wieder und wieder rezitierte Geli-

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mer die Worte des Predigers Salomo zu Beginn des Buchs Ekklesiastes im Alten Testament: «O Eitelkeit der Eitelkeiten, alles ist Eitelkeit.»39 Dieses rätselhafte Verhalten genügte, um Justinian gnädig zu stimmen. Gelimer hatte seine Funktion erfüllt und sich tapfer den Zuschauern präsentiert, nun erhielt er ein Landgut in Kleinasien, wo er zusammen mit seiner Familie einen langen und angenehmen Ruhestand verbrachte. Seine Krieger hingegen wurden in die byzantinische Armee gezwungen und in den Osten an die persische Front geschickt, wo sich der Ewige Frieden schon bald als nicht sonderlich ewig erweisen sollte. Das Bild des gedemütigten Barbaren wurde zum festen Bestandteil der Justinianischen Propaganda – verewigt in kunstvollen Mosaiken an der Decke des Haupteingangs zum kaiserlichen Palast, und viele Jahre später bei seiner Beisetzung buchstäblich in die Grabtücher gestickt. Die Propaganda hatte einen guten Grund. Die Rückeroberung Nordafrikas war mit erheblichen Belastungen für das Byzantinische Reich verbunden. Die byzantinische Besatzungsmacht stand vor großen politischen Problemen, weil sie in der Provinz den Arianismus ausrotten und einen dauerhaften Ausgleich zwischen Chalcedoniern und Miaphysiten herstellen musste. Zudem erforderten Einfälle maurischer Stämme im Süden eine konstante militärische Wachsamkeit. Andererseits konnten durch den Sieg über die Vandalen die Handelsverbindungen zwischen Nord­ afrika und dem östlichen Mittelmeerraum wiederaufleben; ein Vorteil, der sich auf lange Sicht bewähren sollte: Die byzantinische Präsenz in Karthago blieb bis zum Ende des 8. Jahrhunderts bestehen. Und ganz unmittelbar lieferte der Vandalenfeldzug eine Blaupause für weitere Eroberungen im zentralen Mittelmeerraum. Justinians nächstes Ziel war das Reich der Ostgoten in Italien, wo die «andere» Hauptstadt des Römischen Reichs lag, die wie Karthago in die Hände der Barbaren gefallen war. Die Wiederherstellung des alten Römischen Reiches erwies sich jedoch als nicht ganz so einfach wie der Regimewechsel in einer ehemaligen Provinz. Und das lag nicht nur an den enormen Kosten. Justinians Traum von der Rückeroberung Roms wurde durch das Auftauchen eines Feindes erschwert, der deutlich widerstandsfähiger und tödlicher sein sollte als jede Barbarenarmee, so groß sie auch sein mochte. Die Rede ist von Yersinia pestis, dem Erreger der Beulenpest.

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«Gottes Prüfung» Im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft hatte Justinian das Oströmische Reich auf eine Art und Weise umgestaltet, die ihn um viele Jahr­ hunderte überleben sollte und die Grundlage für eine unverkennbar neue «byzantinische» Ära in der Geschichte des Reichs legen sollte. Und noch zeigte er keine Ermüdungserscheinungen. Nach Gelimers Niederlage und der Besetzung des Vandalenreichs in Nordafrika sandte der Kaiser Belisar erneut nach Westen. Dieses Mal sollte es gegen die Ostgoten in Ravenna gehen, die nun als Könige von Italien über das Land von Romulus, Julius Cäsar und Augustus herrschten. Wie üblich leistete Belisar hervorragende Arbeit und erstürmte auch noch Sizilien, bevor er sich auf das italienische Festland konzentrierte. Allerdings waren nun ominöse Vorzeichen zu beobachten, die anzudeuten schienen, dass sich nicht nur das Römische Reich, sondern das gesamte Universum verändern und unter qualvollen Windungen eine neue Gestalt annehmen würde. Das erste Anzeichen kam 536, als sich plötzlich die gesamte Atmosphäre veränderte. Auf der ganzen Welt verblasste die Sonne, der Himmel verdunkelte sich zu einem düsteren Grau, und die Temperaturen fielen deutlich, ähnlich wie bei einer Sonnenfinsternis. Doch im Gegensatz zu einer Sonnenfinsternis verschwanden diese unheimlichen Zeichen nicht nach wenigen Minuten, sondern hielten achtzehn Monate lang an. Es war, schrieb Prokopios, «ein gar furchtbares Zeichen», denn «die Sonne, ohne Strahlkraft, leuchtete das ganze Jahr hindurch nur wie der Mond und machte den Eindruck, als ob sie ganz verfinstert sei».40 Die tödliche Finsternis war vermutlich die Folge eines gewaltigen Vulkanausbruchs, vielleicht in Nordamerika, vielleicht in Island, vielleicht im Pazifischen Feuerring, auf jeden Fall wurden dabei gigantische Mengen Asche und Staub freigesetzt. 539/40 folgte ein weiterer heftiger Vulkanausbruch, vermutlich in Ilopango im heutigen El Salvador.41 Bei diesen beiden natürlichen Explosionen wurden mehrere Kubikkilometer Felsen ausgespien und über eine Million Tonnen Schwefel und Asche in die Atmosphäre gestoßen. Die Folge war eine der größten globalen Umweltkrisen in der Geschichte der Menschheit, bei der sich das Klima für ein ganzes Jahrzehnt veränderte. Die Temperaturen fielen weltweit um mindestens 2 Grad Celsius;

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einen Sommer gab es praktisch nicht mehr. Von Irland bis China verkümmerte die Saat, und die Ernten fielen komplett aus. Die landwirtschaftliche Produktion brach zusammen. Das Wachstum der Bäume verlangsamte sich – in einigen Fällen starben Bäume auch komplett ab. Prokopios war überzeugt, dass diese Vorgänge einen bedeutenden und historischen Umbruch in der Geschichte des Reichs markierten. «Seitdem aber das Zeichen zu sehen war», erklärte er, «hörte weder Krieg noch Seuche noch sonst ein Übel auf, das Menschen den Tod bringt.»42 In der ersten Todesrunde war der Mensch die Ursache. Unter einem bleiernen Himmel führte Belisar die byzantinischen Truppen auf ihrem Weg der Verwüstung durch Italien, eroberte Reggio und Neapel und zog dann ohne Blutvergießen in Rom ein, dessen Einwohner sich entschieden hatten, keinen Widerstand zu leisten. Im Mai 540 hatte er sich bis nach Ravenna vorgekämpft, der Hauptstadt des Ostgotenreichs. Schließlich ­einigten sich die Kriegsparteien auf einen Waffenstillstand und teilten Italien unter sich auf; das Gebiet nördlich des Po blieb bei den Ostgoten, die Byzantiner erhielten den Süden. Witichis, der König der Ostgoten, wurde zwar abgesetzt und nach Konstantinopel gebracht, doch die Bedingungen für sein Volk waren erstaunlich mild. Das war allerdings auch nötig, denn im Juni desselben Jahres fiel eine persische Armee unter Chosrau I . in das byzantinische Syrien ein und eroberte Antiochia. Die Stadt wurde geplündert und niedergebrannt, die Einwohner wurden massakriert. Es drohte ein weiterer langer Krieg zwischen dem Römischen Reich und Persien, und tatsächlich stand dem Oströmischen Reich ein kräftezehrender Zweifrontenkrieg bevor: Die Kämpfe in Italien dauerten bis in die 560er Jahre an, der Konflikt mit Persien zog sich sogar über zwei weitere Generationen. Und zu allem Übel kam nun auch noch die Pest hinzu. Ihre Ursprünge lassen sich nicht genau ermitteln, doch man nimmt an, dass die Krankheit zuerst im Tianshan ausbrach, einem Gebirge, das die heutige Volksrepublik China von Kirgisistan und Kasachstan trennt, und dann auf der Seidenstraße, dem damaligen Super-Highway für den Handelsverkehr, nach Westen gelangte. Die Pest war im 6. Jahrhundert keine unbekannte Krankheit – es hatte auch schon in den 520er Jahren Ausbrüche im Römischen Reich gegeben –, doch sie war selten mehr als ein intensives lokales

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Phänomen gewesen. Irgendwann zwischen den 520er und 540er Jahren muss es zu einer Mutation des Erregers gekommen sein, vermutlich in Südostafrika im Umfeld der Elfenbeinmärkte im heutigen Sansibar, wodurch eine deutlich tödlichere Variante entstand. Dazu kamen Umwelt­ bedingungen, die ideal für eine schnelle Ausbreitung waren  – auch die Klimakrise von 536 trug dazu bei, indem sie die menschliche Bevölkerung und die Rattenpopulation schwächte und sie zu einem engeren Zusammenleben als üblich zwang.43 Zudem verbreitete sich die Krankheit über die seit Langem bestehenden und rege genutzten Handelsnetzwerke im ­gesamten Mittelmeerraum. Im Juli 541 wurden die Einwohner der kleinen Stadt Pelusium im ägyptischen Nildelta (heute Tell-el-Farama) in Scharen dahingerafft. Ihre Achselhöhlen und Leistenregion waren schwarz und angeschwollen, und vor ihren gequälten Augen spielten sich albtraumhafte Fiebervisionen ab. Der Ausbruch in Pelusium fungierte als Inkubator, von dort verbreitete sich die Krankheit rasant in zwei Richtungen: nach Nordosten mit den Handelsschiffen und Karawanen, die entlang der palästinischen Küste Richtung Kleinasien unterwegs waren; und nach Westen über die geschäftigen Häfen Nordafrikas. Fast zwei Jahre lang drang die Seuche weiter und immer weiter vor, verbreitete unter den Zeitgenossen Angst und Schrecken und stellt Historiker auch heute noch vor Rätsel.* Entsetzliche Szenen spielten sich ab, wenn die Seuche an einem Ort ausbrach. Geschichtsschreiber wie Prokopios, Johannes von Ephesos und der syrische Gelehrte Evagrius Scholasticus berichten von leeren Straßen und aufeinandergetürmten Leichen, aus denen Körperflüssigkeiten wie Saft aus Weintrauben rann, von verbarrikadierten Läden und hungrigen Kindern, tobenden Kranken, die im Delirium vor eingebildeten Geistern

* Noch immer sind viele Fragen unbeantwortet. Wie konnte eine Beulenpest, die auf der Übertragung von Rattenflöhen auf Menschen beruhte (und sich offenbar nicht effektiv von Mensch zu Mensch verbreitete), mit so verheerender Geschwindigkeit um die Welt rasen, insbesondere in einer Zeit vor der Motorisierung und dem Massentransport? Eine gute Zusammenfassung bietet Peregrine Horden, «Mediterranean Plague in the Age of Justinian», in: Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian (Cambridge 2005), S.134–160.

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flohen, trauernden Hinterbliebenen, die versuchten, sich anzustecken, um selbst zu sterben, Frauen, die Fehlgeburten erlitten, und von Hunderttausenden verlorenen Seelen. In Konstantinopel, wo auf dem Höhepunkt der Pandemie laut Prokopios zehntausend Menschen am Tag starben, und das über vier Monate lang, infizierte sich auch Justinian und litt unter gefährlichen Schwellungen rund um einen Flohbiss am Oberschenkel. Er erholte sich jedoch einigermaßen, und seine Hauptstadt kehrte wieder zu einem Anschein von Normalität zurück; am 23. März 543 erklärte der Kaiser «Gottes Prüfung» für beendet. Dahinter steckte jedoch dasselbe Wunschdenken, das traditionell jede politische Erklärung zu einer Pandemie begleitet, die mit einer gewissen Autorität vorgebracht wird. Tatsächlich suchte die Beulenpest den Mittelmeerraum noch das gesamte Jahrzehnt über heim und flackerte bis 749 auf der ganzen Welt immer wieder auf. Wie viele Menschen in diesen Pestjahren starben, wird in der heutigen Geschichtsschreibung lebhaft diskutiert – wobei es sich größtenteils um Spekulationen handelt, die von fast keinen Opfern bis zu hundert Millionen reichen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen waren jedoch sehr real: stark schwankende Weizenpreise, eine massive Inflation bei den Löhnen aufgrund fehlender Arbeitskräfte, ein überfordertes System bei den Erbschaften und ein nahe­zu vollständiger Einbruch im Bauwesen. Justinians Steuereinnahmen, die aufgrund seiner militärischen Abenteuer ohnehin stark beansprucht worden waren, flossen nur noch spärlich. Die Steuersätze schossen in die Höhe und blieben dort viele Jahre lang.44 Und zu all dem kamen natürlich die entsetzlichen Dinge, die sich in den Berichten von Augenzeugen wie Johannes von Antiochia widerspiegeln. Die Schilderungen der Überlebenden künden nur zu deutlich von den Narben, die die Pandemie in der ­Psyche der Menschen hinterließ.

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Auflösungserscheinungen 547 wurde die Basilica di San Vitale in Ravenna offiziell geweiht. Die massive, imposante Kirche aus Ziegeln und Marmor mit einem oktogonalen Grundriss wurde nach über zwanzig Jahren Bauzeit fertiggestellt; der Grundstein war bereits zu Beginn der Herrschaft von Theoderichs Tochter Amalasuntha gelegt worden, die die Regentschaft für ihren Sohn übernommen hatte. Doch als Maximian, der Erzbischof von Ravenna, die Kirche weihte, waren die Ostgoten bereits aus Ravenna vertrieben und befanden sich offensichtlich in ganz Italien auf dem Rückzug. Der Ehrenplatz unter den beeindruckenden Mosaiken, die die prachtvolle neue Basilika schmückten, gebührte daher den Porträts des byzan­ tinischen Kaisers und der Kaiserin, Justinian und Theodora. Justinian blickt bedrohlich von der Wand, flankiert von barbarischen Söldnern und einer Reihe Geistlicher mit ernster Miene, einige mit Tonsur, andere mit ungeschnittenen Haaren und Bärten. Theodora wiederum ist mit einem eigenen Gefolge dargestellt: Zwei männliche Geistliche assistieren ihr, während sie eine exquisite goldene Schale in Richtung eines sprudelnden Brunnens hält, beobachtet von Frauen in kostbaren Gewändern, die sittsam die Haare bedeckt haben. Selbst heute ist man beim Besuch der Basilika hingerissen von der Majestät, die Justinians und Theodoras Porträts ausstrahlen, und lässt sich, obwohl man es eigentlich besser wissen müsste, von der Kraft ihres politischen Narrativs beeindrucken. Dass die Bilder 547 in Ravenna überhaupt zu sehen waren, war an sich schon eine Leistung. Über fünfzig Jahre waren seit dem Verlust der Reichshauptstadt an die Ostgoten vergangen, doch der Kaiser hatte nicht akzeptieren wollen, dass Rom für immer verloren war. Der große General Belisar – den das Mosaik an Justinians Seite zeigt – hatte den Feldzug ­geführt und sich mit seiner Armee von Sizilien bis nach Ravenna gekämpft, das 540 gefallen war. Damit war der Krieg um Italien aber noch lange nicht beendet – selbst als die Basilica di San Vitale geweiht wurde, war Belisar weiter im Südwesten beschäftigt und kämpfte mit einem beharrlichen und mächtigen Ostgotenkönig namens Totila um die Stadt Rom. Trotzdem war nun der Moment gekommen, um zu feiern, immerhin hatten die Byzantiner in Europa das Kriegsglück wieder auf ihrer

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Seite, vielleicht war sogar der erste Schritt getan worden, das Römische Reich im Westen zumindest in Teilen wiederherzustellen. Die Weihe der Basilika mag ein Anlass zum Feiern gewesen sein – und die byzantinischen Mosaiken im Innern zählen immer noch zu den schönsten Sehenswürdigkeiten Italiens  –, doch die Tragödie ließ nicht lange auf sich warten. Ein Jahr später, im Juni, starb Theodora, vermutlich an Krebs. Sie war etwa fünfzig Jahre alt geworden, und ihr Tod traf Justinian, der mittlerweile über fünfundsechzig war, sehr. Die beiden waren echte politische Partner gewesen, und es war Theodora, die das Paar beim Nika-Aufstand vor dem Untergang bewahrt hatte. Sie hatte einen erstaunlichen Weg zurückgelegt, von ihren wilden Tagen im zwielichtigen Umfeld des Hippodroms bis zu ihrer Position als augusta, deren Zehen Bittsteller am Kaiserhof küssen mussten, bevor sie ihr Anliegen vorbringen durften.45 Bei ihrer Beisetzung weinte Justinian, und man kann sich gut vorstellen, dass seine Tränen nicht nur Schau, sondern echt waren. Theodoras Tod war nicht nur in persönlicher Hinsicht ein schwerer Verlust. Im Rückblick markiert er einen Wendepunkt in Justinians Schicksal oder geht zumindest mit ihm einher. Seine Leistungen und auch die mühsam errungenen Siege in der ersten Hälfte seiner Herrschaft  – die umfassende Rechtsreform, sein politisches Überleben im Nika-Aufstand, der Bau der Hagia Sophia, die Rückeroberungen in Nordafrika und Italien  – gehörten fortan der Vergangenheit an. Vor ihm lagen nun mehr Probleme als Triumphe. Eines der grössten und kompliziertesten Probleme, mit denen Justinian während seiner Herrschaft zu kämpfen hatte, betraf die Religion. Sosehr er sich auch mühte, er fand nie eine zufriedenstellende Lösung für die gewalttätigen theologischen Auseinandersetzungen, die das Reich und die Kirche während des gesamten 6. Jahrhunderts heimsuchten. Die Kluft zwischen den Chalcedoniern und Miaphysiten war nach Theodoras Tod noch schwieriger zu überbrücken, da ihre Unterstützung der Miaphysiten einen Ausgleich zu Justinian geschaffen und seine Religionspolitik in gewisser Weise abgefedert hatte. Ohne Theodora war er gefährlich geschwächt. Darüber hinaus sorgten viele seiner Maßnahmen für zusätzliche Probleme. Seine Versuche, ehemalige römische Gebiete zurückzu-

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erobern, sind dafür ein gutes Beispiel. Fast überall, wohin die byzantinischen Truppen ihren Fuß setzten, begegneten ihnen verschiedene christliche Sekten. Und mit seinem Anspruch auf das Gebiet der Barbaren – wie etwa Karthago  – wurde Justinian immer stärker in den hässlichen Streit hineingezogen, der zwischen Arianern und Katholiken tobte. Justinian war keineswegs blind gegenüber diesen Schwierigkeiten. Aber ihm fehlte einfach eine Möglichkeit, sie zu beheben. Sein großer Versuch zur religiösen Versöhnung  – eine Versammlung von Kirchen­ leuten, bekannt als das Fünfte Ökumenische Konzil, das im Frühsommer 553 in Konstantinopel abgehalten wurde  – war ein kostspieliger Miss­ erfolg, den noch dazu alle mitbekamen. Aus dem Westen nahmen kaum Bischöfe teil, und am Ende hob das Konzil nur die Spaltung innerhalb der Kirche hervor und die offensichtliche Unmöglichkeit, sich bei der Natur Christi auf eine gemeinsame Position zu einigen. Hier deutete sich bereits an, dass die Kirchen von Konstantinopel und Rom, ähnlich wie die beiden römischen Reiche, in denen sie zur Blüte gelangt waren, einmal getrennte Wege gehen würden. Eine Generation später sprach der große Gelehrte Isidor von Sevilla den Beschlüssen des Fünften Konzils jede Gültigkeit ab. Isidor hielt Justinian für einen Tyrannen und Häretiker. In der komplizierten theologischen Gemengelage des 6. Jahrhunderts reichte es einfach nicht, wenn man sich nur bemühte. Außenpolitisch lief es auch nicht besser. Auf die Weihe von San Vitale in Ravenna folgte weder die Befriedung noch die vollständige ­Eroberung Italiens; im Gegenteil, die Gewalt und der ostgotische Widerstand erreichten einen neuen Höhepunkt. Der Ostgotenkönig Totila erwies sich als äußerst hartgesottener Gegner. Prokopios, der ihn persönlich erlebte, beschrieb ihn als hervorragenden Reiter, der mit einem Helm mit goldenen Wangen in die Schlacht ritt, den Speer hoch in die Luft warf und ihn, wenn er herabwirbelte, mal mit der rechten, mal mit der linken Hand fing, während sein Pferd voranpreschte, «wie einer der von Jugend auf die Künste der Reitbahn geübt hat».46 Im Januar 550 errang er einen über­ wältigenden Sieg, als seine Männer durch Rom stürmten und jeden umbrachten, der ihnen in die Quere kam. Prokopios berichtete von einem großes Gemetzel und beschrieb anschließend die Straßensperren, die ­Totila auf allen wichtigen Straßen errichten ließ, die von Rom wegführten,

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um die byzantinischen Soldaten abzufangen und zu töten, wenn sie versuchten, dem Blutbad zu entkommen. Immer wieder zogen Justinians ­Generäle gegen die Ostgoten den Kürzeren, und es brauchte wiederholt die Verlegung von Zehntausenden Soldaten nach Italien, um zu verhindern, dass die Ostgoten die gesamte Halbinsel zurückeroberten. Erst 552 wurde Totila endgültig besiegt. 554 erließ Justinian eine so­ genannte Pragmatische Sanktion, mit der er Italien zu einer Provinz des Reiches mit der Hauptstadt Ravenna erklärte. (Für die Inselstaaten Sardinien, Sizilien und Korsika wurden separate Regierungssysteme geschaffen.) Doch selbst danach blieb Italien instabil. Das Reich der Ostgoten war zwar zerstört, aber leider auch ein Großteil des Landes. Tausende ­waren bei den Kämpfen gestorben, Städte durch Belagerungen dem Erdboden gleichgemacht, Landgüter der Aristokraten verwüstet, Sklaven geflohen. Italien war erheblich ärmer als vor dem Ausbruch des Krieges. Die byzantinische Armee hatte so verbissen um den Sieg gekämpft, dass die eroberten Gebiete am Ende kaum noch einen Wert besaßen. Theoretisch gehörte das Land nun zu Byzanz, doch die Kontrolle darüber war bestenfalls lückenhaft. Und so war die Regierung in Konstantinopel gezwungen, ihre Macht über eine Entfernung von fast 2000 Kilometern auszuüben. In der Zwischenzeit begann eine Barbarengruppe auf der anderen Seite der Alpen, die Lombarden  – von denen einige als Söldner in der ­byzantinischen Armee gedient hatten  –, Pläne für eine eigene Invasion Italiens zu schmieden. Bereits drei Jahrzehnte nach der Verkündigung der Pragmatischen Sanktion waren viele der mühsam errungenen Gebiete in Italien wieder bedroht, da die Kolonie zu schwach war, um sich gegen den Angriff einer andere Macht selbst zu verteidigen. Das Byzantinische Reich ­behielt zwar bis zum 10. Jahrhundert ein Interesse an Italien und seinen Inseln, doch nach Justinian schien die Vision, die beiden früheren Hälften des Römischen Reiches wieder zu vereinen, mit jeder weiteren Generation mehr zu verblassen. Einer der Gründe, warum Justinian Schwierigkeiten hatte, die Ost­ goten in Italien zu besiegen, war der, dass ihm die Perser im Osten immer wieder Probleme bereiteten. Sein Hauptgegner in jener Region war Chosrau I . Der persische König war ein hochintelligenter, überlegt handelnder

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Herrscher mit einer unstillbaren Neugierde, einem besonders großen ­Interesse an Philosophie und einer rigorosen Haltung bei der Durchführung rechtlicher Reformen. Obwohl in Persien der Zoroastrismus als Religion dominierte, wusste Chosrau andere Religionen zu schätzen und bot Andersdenkenden Schutz – etwa den Gelehrten der Schule von Athen und den stark wachsenden christlichen Gemeinschaften in den wichtigen Städten seines Reichs. Wie Justinian war auch Chosrau ein eifriger Bauherr, der für die Errichtung riesiger Festungsmauern in seinem Land berühmt war. Sein Meisterwerk, genauso prächtig wie die Hagia Sophia, war Taq-e Kisra, ein Palast, dessen wichtigstes architektonisches Merkmal ein riesiger, aus Ziegelsteinen gebauter Bogen war; seine Ruinen sind die einzigen sichtbaren Überreste der einst mächtigen Stadt Ktesiphon im heutigen Irak. Chosraus Bauprojekte waren Ausdruck seines Selbstbildes: Er hielt sich für den neuen Kyros den Großen.* Eine ausführliche Darstellung der Kriege Justinians mit Chosrau würde den Rahmen dieses Kapitels sprengen. Hier genügt die Feststellung, dass die beiden benachbarten Reiche nicht nur um ihre Stellung und die Vorherrschaft rangen, sondern auch ein starkes wirtschaftliches Inte­ resse an den lukrativen Handelsrouten entlang der Seidenstraße hatten, die durch ihre Grenzgebiete führten. Diese wirtschaftlichen und geografischen Umstände waren der Hauptgrund, warum der «Ewige Friede» der 530er Jahre nicht einmal zehn Jahre hielt. 540 fiel Chosrau in Syrien ein und erbeutete und verschleppte Zehntausende Gefangene und Sklaven. Es folgte eine scheinbar endlose Serie von Kriegen und Friedensschlüssen; darunter ein Waffenstillstand 545, der 548 wieder gebrochen wurde; ein Waffenstillstand von 551, der bis 554 hielt, dann der «Fünfzigjährige» Friede von 562, der sich als deutlich kurzlebiger erwies. Und so weiter. Die Reiche finanzierten Stellvertreterkriege zwischen rivalisierenden arabischen Stämmen an ihren Grenzen oder bekämpften sich an umstritte-

* Kyros  II., genannt der Große, war Begründer der Achämeniden-Dynastie und machte das Persische Reich zum größten Reich, das die Welt bis dahin erlebt hatte. Bei seinem Tod 530 v. Chr. erstreckte sich sein Reich von Nordindien bis Kleinasien, weshalb er auch als «Herrscher der vier Erdteile» bekannt war.

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nen Stellen direkt, etwa in einem keilförmigen Gebiet namens Lasika an der Ostküste des Schwarzen Meeres. Atempausen gab es kaum, die finanziellen und militärischen Anforderungen, die der Krieg an Konstantinopel stellte, schienen kein Ende zu nehmen. In den 540er Jahren hatte Justinian zu Ehren seiner selbst eine gewaltige Säule errichten lassen, im Zentrum seiner Hauptstadt, auf einem Platz namens Augustaion,* der zwischen der Hagia Sophia und dem ­Palast lag. Gekrönt wurde die hoch aufragende, aus Backstein gemauerte und mit Marmorplatten verkleidete Säule von einem Reiterstandbild aus Bronze. In der linken Hand hielt der Kaiser eine Kugel – die Welt mit ­einem Kreuz obenauf – die rechte Hand hob er grüßend gen Osten, Richtung Persien. («Mit ausgestreckten Fingern weist er die Barbaren an fernzubleiben», schrieb Prokopios.47) Der Kopfschmuck mit üppigen Federn war ein nicht gerade subtiler Verweis auf den antiken Achilles. Doch ungeachtet der brachialen Propaganda musste Justinian am Ende feststellen, dass die Rivalität mit den Persern ein genauso unlösbares Problem war wie sein Ringen mit der Kirche. Byzanz und Persien schienen zu einem endlosen Krieg verdammt – zumindest, bis eine weitere Großmacht in der Region Fuß fasste. Dazu sollte es auch kommen – wie wir im nächsten Kapitel erfahren werden –, aber erst nach Justinians Tod. Das alles forderte natürlich auch von Justinian seinen Tribut, der wie viele große Herrscher mitansehen musste, wie sein Lebenswerk Risse zeigte und schließlich im wahrsten Sinne des Wortes zerfiel. 557/558 stürzte die Kuppel der Hagia Sophia nach einer Reihe von Erdbeben und Erschütterungen ein. Ein Jahr später überrannte eine Koalition von Barbaren, die ursprünglich aus einem Gebiet am Schwarzen Meer stammten – ein Stamm namens Kutriguren – die Verteidigungslinien des Reichs und gelangte bis vor die Mauern Konstantinopels. Sie wurden zwar ab­ gewehrt, doch das Entsetzen in der Hauptstadt war groß. Justinian musste den mittlerweile über fünfzigjährigen Belisar aus dem Ruhestand zurückholen, um die kutrigurischen Reiter zu verjagen. Es war die letzte Tat des

* Heute der Platz der Hagia Sophia (Ayasofya Meydani) in Istanbul.

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Generals: Zwei Jahre, nachdem er die Stadt gerettet hatte, wurde er mit einer Verschwörung gegen den Kaiser in Verbindung gebracht und vor Gericht gestellt. Obwohl er bei einem demütigenden öffentlichen Prozess für seine angeblichen Verbrechen begnadigt wurde, war sein Ruf ruiniert, als er im Frühjahr 565 starb. Der Kaiser starb bald nach Belisar am 14. November 565. Er wurde mit herrschaftlichem Prunk im Palast aufgebahrt, zu seinem Nachfolger hatte er seinen Neffen Justin  II . ernannt. Seine Totenbahre war mit Reminiszenzen an seine Großtaten geschmückt: wie Gelimer vor ihm im Staub lag, angstvoll beobachtet von den Barbaren. Das war der Kaiser der 530er Jahre, wild entschlossen, Rom wieder zu altem Glanz zu führen und dabei sogar das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Doch wie Gelimer gewarnt hatte, ist für irdische Könige alles eitel. Schon bald nach Justinians Tod waren viele seiner Errungenschaften in Auflösung begriffen. Angesichts der Verunsicherung in den 560er Jahren muss Justinians Glanzzeit sehr fern gewirkt haben.

Nach Justinian An Justinians Herrschaft anzuknüpfen, wäre in jedem Zeitalter eine Mammutaufgabe gewesen. Seine direkten Nachfolger hatten schwer mit seinem Erbe zu kämpfen. Sein Neffe Justin II . regierte dreizehn Jahre lang und stabilisierte zunächst einmal die prekäre Finanzlage, erwarb sich aber auch einen Ruf als Tyrann und Geizhals, der mit den Lombarden in Italien, den Überfällen verschiedener Stämme aus der Donauregion und ständigen Schwierigkeiten an der persischen Grenze zu kämpfen hatte. Offenbar (und vielleicht auch nachvollziehbar) war das zu viel für Justins geistige Gesundheit. Nach einem katastrophalen Rückschlag an der persischen Front, bei dem Chosrau die wichtige byzantinische Grenzfestung Dara eingenommen hatte, baute Justin immer mehr ab. Von 574 bis zu seinem Tod 578 war er zeitweise so verwirrt, dass sich seine Frau Sophia und sein Adoptivsohn Tiberius, der Kommandeur der Palastwache, die Macht in Konstantinopel teilten, auch wenn das nicht ohne Probleme ablief. Tiberius wurde schließlich selbst Kaiser, hatte jedoch auch nicht viel

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mehr Erfolg als Justin. Sein größtes historisches Vermächtnis ist vielleicht, dass er griechischer Muttersprachler war, der Latein zwar verstand, aber als Fremdsprache betrachtete. Nach ihm wurde Griechisch im Palast und im Reich zur Amtssprache. Stück für Stück kappte Konstantinopel seine kulturellen Bindungen an das «alte» Rom und die Welt des westlichen Mittelmeerraums. Abgesehen davon ist an Tiberius vor allem sein bizarres Ableben bemerkenswert: Er starb im August 582, so wurde es zumindest behauptet, als er ein Gericht aus vergifteten Maulbeeren aß. Tiberius ’ Nachfolger war sein Schwiegersohn Mauricius, ein Feldherr, der aus einem ganz ähnlichen Holz geschnitzt war wie der verstorbene Belisar. Mauricius war der Verfasser eines Militärhandbuches, des Strategikon, das fast tausend Jahre lang die Grundlektüre aufstrebender Offiziere im gesamten Abendland bildete. Dass sich Mauricius gut mit der Planung von Schlachten auskannte, war kein Wunder, an militärischen Auseinandersetzungen herrschte während seiner zwanzigjährigen Herrschaft kein Mangel. In Persien gelang Mauricius ein bedeutender Coup, als er in einen Streit um die Thronfolge eingriff und nach dem Sturz Hormizds IV . dessen Sohn Chosrau  II . unterstützte. Mauricius adoptierte Chosrau sogar offiziell und handelte einen neuen «ewigen» Frieden mit Persien aus. In Italien, wo er das byzantinische Territorium zum Exarchat von Ravenna zusammengefasst hatte,* lief es jedoch nicht so gut. Die Lombarden ließen sich einfach nicht vertreiben. Mauricius geriet mehrfach mit Papst Gregor I ., genannt der Große, aneinander, der den Anspruch des Patriarchen von Konstantinopel ablehnte, der «ökumenische» Führer der gesamten Kirche zu sein. Und auf dem Balkan hatte Mauricius während seiner gesamten Herrschaft Mühe, die Awaren im Zaum zu halten. 602 hatte es den Anschein, als hätte er sie endgültig über die Donau zurückgedrängt. Doch der vermeintliche Erfolg verkehrte sich schon bald ins Gegenteil. Mauricius ’ Beharren, dass seine Truppen nördlich der Donau überwintern sollten, führte in Kombination mit seiner seit Langem bestehenden Neigung, beim Sold zu sparen, dazu, dass seine Soldaten unter Führung

* Das byzantinische Territorium um Karthago wurde entsprechend zum Exarchat von Afrika.

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des Offiziers Phokas meuterten. Im November zogen die rebellierenden Soldaten nach Konstantinopel, die Bevölkerung schloss sich ihnen an, und Mauricius musste fliehen. Er wurde jedoch gefangen und zusammen mit seinen Söhnen hingerichtet. Sein Leichnam wurde verstümmelt und ­öffentlich zur Schau gestellt. Damit hatte die Gewalt auf erschreckende Weise Einzug in die Reichspolitik gehalten, die Methode sollte jedoch schon bald zu einer byzantinischen Spezialität werden: Nachfolger auf den Kaiserthron wurden nicht nur per Erbmonarchie bestimmt, sondern häufig auch durch Mord. Phokas wurde nach einer achtjährigen Herrschaft, in der er sich nicht sonderlich kompetent zeigte, im Jahr 610 ebenfalls abgesetzt und ermordet. Phokas ’ Mörder Herakleios war in gewisser Weise der wahre Erbe Justinians. Das lag nicht nur an seiner skandalträchtigen Ehe: Seine zweite Frau war seine Nichte Martina, was als inzestuöse Verbindung galt, die eigentlich verboten war. Während seiner über dreißigjährigen Herrschaft konnte er viele der zermürbenden Konflikte beenden, die fast ein Jahrhundert zuvor begonnen hatten. Unter seiner Herrschaft wurden die byzan­ tinischen Träume von einer Eroberung Italiens stillschweigend begraben, stattdessen beschränkte man sich darauf, das zu halten, was man bereits besaß. Die Balkanfront wurde stabilisiert. Nordafrika wurde gesichert, der kleine byzantinische Vorposten im westgotischen Spanien jedoch aufgegeben, womit Byzanz auch endgültig auf die ehemalige römische Provinz Hispania verzichtete. Der Konflikt mit Persien wurde hingegen spektakulär zu Gunsten des Reiches beigelegt – allerdings unter enormen, beinahe fatalen Kosten auf beiden Seiten. Mit anderen Worten: Nach Herakleios ’ Herrschaft war die territoriale Umwandlung vom Römischen ins Byzan­ tinische Reich abgeschlossen. Das Reich war nun griechischsprachig und konzentrierte sich auf die Dominanz im östlichen Mittelmeerraum mit Konstantinopel als Machtzentrum, dessen größte geopolitische Rivalen im Süden und Osten lagen. Und so sollte es mehr oder weniger achteinhalb Jahrhunderte lang bleiben. Doch die Geschichte nimmt noch eine allerletzte Wendung. Die Auseinandersetzung, die Herakleios ’ Herrschaft entscheidend prägen sollte, war der Krieg mit Persien. Kurz nach Herakleios ’ Usurpation stand

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­ yzanz am Abgrund. In den 610er Jahren sandte Chosrau  II . – der wohl B verdrängt hatte, dass er nur mit der Unterstützung von Byzanz auf den Thron gekommen war – seine Soldaten aus, um römisches Gebiet zu erobern. Sie nahmen Mesopotamien, Syrien, Palästina, Ägypten und Kleinasien ein. Beim Fall Jerusalems 614 erbeuteten die Perser die kostbarste Reliquie des Christentums: ein Fragment des Wahren Kreuzes, an dem Jesus gestorben war. Und als ob das alles nicht schon schlimm genug wäre, nutzten Stämme wie die Awaren das von den Persern verursachte Chaos im Osten, um auf dem Balkan einzufallen. Im folgenden Jahr wurden ­bereits persische Militärmanöver auf dem Bosporus gesichtet, und Hera­ kleios schmiedete verzweifelt Pläne, die Hauptstadt seines Reiches nach Karthago zu verlegen und Konstantinopel seinem Schicksal zu überlassen. Noch nie war das Römische Reich der Zerstörung so nahe gewesen. Wenn Herakleios nicht um einen teuren und verzweifelten Frieden gebeten hätte, wäre vielleicht schon 615 das Ende dieser Geschichte erreicht worden. Doch es kam anders. Nachdem Herakleios seine Stadt gerettet hatte, verwendete er die nächsten sieben Jahre darauf, seine Streitkräfte wieder aufzubauen und erneut gegen Chosrau in den Kampf zu ziehen. Und er erzielte damit in den 620er Jahren spektakuläre Ergebnisse. Dass er seine Armeen hinter Bannern mit christlichen Symbolen marschieren ließ und damit seinen Rückeroberungsfeldzug als heiligen Auftrag erscheinen ließ, sollte mehrere Jahrhunderte später von den Kreuzfahrern nachgeahmt werden. Und wie später beim Ersten Kreuzzug schienen die Symbole Wirkung zu zeigen, denn die byzantinischen Soldaten konnten beeindruckende Erfolge erzielen. In vier Feldzugsaisons vernichteten sie ihre persischen Gegner in Armenien und Mesopotamien. Nach einem gewaltigen Sieg in der Schlacht bei Ninive 628 hätte Herakleios beinahe die Hauptstadt Ktesiphon ein­ genommen. Er gewann das Wahre Kreuz zurück, das im Triumph nach Jerusalem zurückgesandt wurde. Im selben Jahr wurde Chosrau  II . bei ­einer Palastrevolte gestürzt und ermordet. Sein Sohn Kavadh  II ., der die Verschwörung angeführt hatte, nahm sofort Friedensverhandlungen auf und gab alle Territorien zurück, die sein Vater erobert hatte. Damit kam es endlich zu einem dauerhaften «ewigen» Frieden. Mit dem Tod Chos-

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raus  II . waren auch sechs Jahrhunderte eines immer wieder aufflammenden Krieges zwischen dem Römischen und dem Persischen Reich endlich Geschichte. Herakleios nahm einen neuen Titel an: Er war nicht länger augustus, sondern basileus – ein griechischer Begriff, der die gleiche Majestät wie die der persischen Großkönige implizierte. Jeder byzantinische Kaiser nach ihm sollte dieser Tradition folgen. Obwohl der Sieg über die Perser überwältigend war und großen Nachhall fand, bedeutete er nicht, dass das Byzantinische Reich nun zu seiner alten Rolle der regionalen Vorherrschaft zurückkehren konnte. Denn trotz allem, was er erreicht hatte, musste Herakleios am Ende feststellen, dass er genau wie Justinian dem Rad der Fortuna unterworfen war. Eitelkeit, hatte Gelimer gewarnt. Alles war eitel. Kaum waren die Perser besiegt, erhob eine neue Macht ihr Haupt. Die Araber kamen.

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Araber «Allahu Akbar!» Traditionelle islamische Formel und Schlachtruf

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wischen den Jahren 634 und 636* traf das Schwert Gottes (Sayf Allah) im Hochsommer vor dem Osttor von Damaskus ein.1 Der Mann, der diesen Namen trug, hieß Chalid ibn al-Walid und war ein Feldherr, der nicht lange fackelte: ein Veteran vieler Schlachten, hoch motiviert durch Wüstenkriege und Beute. Er zählte zu den ranghöchsten Offizieren in einer Armee, die vor Kurzem von der Arabischen Halbinsel gekommen war, ausgestattet mit nichts anderem als scharfen Schwertern und einem starken neuen Glauben. Chalid war Muslim – ein Mitglied des Quraisch-Stammes und einer der ersten Anhänger des Islam. Tatsächlich hatte er seinen Beinamen vom Propheten Mohammed persön-

* Eine genaue Datierung der frühen arabischen Eroberungen ist schwierig beziehungsweise praktisch unmöglich. Die Quellen, auf die sich die Darstellungen (einschließlich dieser) stützen, sind widersprüchlich, unzureichend oder haben kein ­Interesse an einer peniblen Reihenfolge der Ereignisse, wie sie von der modernen Geschichtsschreibung erwartet wird. Bei der Lektüre sollten Sie damit rechnen, dass praktisch jeder Satz in diesem Kapitel hinterfragt werden könnte und dass die verschiedenen Vermutungen zu Daten und Ereignissen in vielen Fällen theologische Auswirkungen haben, die Gelehrte und Gläubige noch heute beschäftigen. Lassen Sie sich von dieser Ankündigung aber nicht entmutigen. Gerade die langwierigen und erbitterten Auseinandersetzungen über die Ursprünge des politischen Islam und der arabischen Eroberungen machen diesen Teil der mittelalterlichen Geschichte in vielerlei Hinsicht so interessant – und so wichtig für heute.

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lich erhalten, dem Mann, dem das Wort Gottes (Allahs) offenbart worden war. Mohammed war am 8. Juni 632 gestorben, und Chalid hatte sein Militärkommando von Mohammeds irdischem Nachfolger (chalifa oder Kalif ) und Führer der Gläubigen (amir al-mu ’ minin) Abu Bakr erhalten, einem älteren ehemaligen Kaufmann, schlank, mit eingesunkenen Wangen und einem dünnen gefärbten Bart.2 Mit der Beförderung Chalids hatte der Kalif die treuen Dienste des Feldherrn in den vergangenen Jahren honoriert. Chalid hatte sich zwar in der Frühzeit, als der Islam begann, sich zu einer politischen Kraft und spirituellen Bewegung im westlichen Arabien zu entwickeln, gegen Mohammed gewandt und dem Propheten sogar eine schmerzhafte militärische Niederlage beigebracht, doch in den 620er Jahren war er konvertiert und hatte sich seitdem in seinen Diensten hervorgetan. In Arabien hatte er gegen rivalisierende Stämme und andere Anführer gekämpft, die ebenfalls gern Kalif geworden wären. Darüber hinaus war er im Irak eingefallen und hatte die persischen Streitkräfte geschlagen. Um nach Damaskus zu kommen, hatte er seiner Truppe einen höllischen sechstägigen Marsch durch die trockene syrische Wüste zugemutet. Die einzige Möglichkeit, sich dabei mit Wasser zu versorgen, hatte darin bestanden, dass sie etwa zwanzig alte fette Kamelkühe dazu gebracht hatten, enorme Wassermengen zu trinken, und ihnen dann die Mäuler zugebunden hatten, um sie am Wiederkäuen zu hindern. Unterwegs hatten sie mehrere pro Tag getötet und das Wasser aus ihren Mägen getrunken.3 Als Chalid nun vor Damaskus stand, erhob er die Waffen gegen seinen bislang gefährlichsten Gegner. Damaskus war eine der bedeutendsten Städte im byzantinischen ­Syrien: eine prestigeträchtige Festung am Rand der Wüste, eine Stadt so alt wie einige der ältesten biblischen Geschichten, durchzogen von Straßen und schönen Wasserläufen, mit einer breiten Verkehrsachse, die «Gerade Straße» (via recta) genannt wurde, zahlreichen Kirchen und einer prächtigen Reliquie, dem Kopf Johannes des Täufers. Die massiven steinernen Festungsmauern der Stadt  – ursprünglich in rechteckiger Form von mehreren römischen Kaisern im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. erbaut – zogen sich an ihrer längsten Seite über 1500 Meter und waren an der kürzesten Seite etwa halb so lang. Die sieben Stadttore waren streng

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bewacht, und eine Festung im nordöstlichen Teil der Stadt war mit einer griechisch-armenischen Garnison besetzt, die sich verpflichtet hatte, die Stadt im Namen des Kaisers Herakleios zu verteidigen. Darüber hinaus hielten sich in der Stadt die Überreste einer byzantinischen Feldarmee auf, die vor Kurzem von den Arabern im Jordantal besiegt worden und nach Damaskus geflohen war, um sich dort neu zu formieren. Um Damaskus einzunehmen, musste Chalid nicht nur mit voller Wucht angreifen, sondern auch clever sein. Zunächst schienen die Erfolgsaussichten der Araber gering, obwohl sie einige ihrer besten Feldherren und erfahrensten Truppen mobilisiert hatten – darunter Amr ibn al-As, der genauso kampferprobt wie Chalid war und der westlich von Damaskus, vor dem Thomastor, Stellung bezogen hatte. Im kleinen Dorf Barza, das an der Route lag, die von Norden nach Damaskus führte, hatten sie eine Straßensperre errichtet. Doch die arabischen Truppen verfügten weder über Belagerungsmaschinen noch über spezielle Waffen. Sie hatten sogar nahe gelegene Klöster überfallen, um sich Leitern zu beschaffen. Unter diesen Umständen bestand die einzige Möglichkeit zur Eroberung der Stadt darin, ihre Bewohner einzuschüchtern, auszuhungern oder so zu langweilen, bis sie sich er­ gaben. Das bedeutete normalerweise die Errichtung einer Blockade: ­Jedes Tor zur Stadt wurde abgeriegelt, und niemand durfte hinein oder hinaus, die einzige Ausnahme waren Boten für die Verhandlungen. Vor allem aber musste man sich ins Denken der Belagerten drängen – und sie dazu bringen, zu glauben, dass ihre Chancen, mit dem Leben davonzukommen, besser stünden, wenn sie die Angreifer einließen, anstatt sie abzuwehren. Wie lange Chalid, Amr und ihre Kameraden vor Damaskus ausharrten, kann man nur vermuten. Die Berichte reichen von vier Monaten bis zu über einem Jahr. Sicher war es lange genug, um die Einwohner davon zu überzeugen, dass sie nicht auf die Unterstützung ihres Kaisers Hera­ kleios zählen konnten. Nach einer Reihe von Niederlagen gegen die Araber  – darunter der Verlust der prächtigen südsyrischen Stadt Bostra  – ­hütete sich Herakleios, allzu viel Energie gegen Feinde aufzuwenden, die zwar momentan auf dem Vormarsch waren, deren Ressourcen, Einsatz­ bereitschaft und Einheit jedoch schon bald wieder schwinden konnten.

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Die Araber waren nicht die Perser. Es war ja nicht so, dass sie bald die Welt erobern würden. Doch genau das taten sie. Wie so vieles im Zusammenhang mit den arabischen Eroberungen des 7. und 8. Jahrhunderts sind auch die zeitgenössischen (oder fast zeitge­ nössischen) Berichte über die Belagerung von Damaskus verwirrend und schwer miteinander abzugleichen. Immerhin können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass Chalid ibn al-Walid und die arabische Armee den ­Widerstand der Damaszener nach einer harten Geduldsprobe so stark ­geschwächt hatten, dass schließlich nichts mehr davon übrig war. In einer Erzählung heißt es, Chalid habe ein Netzwerk von Spionen etabliert, die ihn informierten, dass der Statthalter von Damaskus ein großes Fest zur Feier der Geburt seines Sohnes gab; als die Feier in vollem Gang war, warfen Chalids Männer Seile und Wurfanker und kletterten, Allahu Akbar (Gott ist groß*) rufend, an den Festungsmauern beim Osttor hinauf, überwältigten die kleine Rumpfmannschaft, die als Wache abgestellt worden war, und öffneten das Tor. In einer anderen Version hatten die Einwohner genug von der Belagerung und kamen einem Überfall zuvor, indem sie am Bab al-Amara («Paradiestor») Verhandlungen aufnahmen und sich zur Kapitulation bereit erklärten. Möglicherweise treffen beide Darstellungen zu.4 Was auch immer geschah, im Jahr 635 (oder 636) wurde die Stadt ­offiziell den Muslimen übergeben, nachdem die finanziellen Bedingungen bei Friedensverhandlungen in einem Basar im Stadtzentrum vereinbart worden waren. «Damaskus wurde erobert und seine Bewohner zahlten die Dschizya», schrieb der Chronist al-Tabari, der im frühen 10. Jahrhundert ein monumentales Werk über die Geschichte des Islam verfasste.5 (Mit der Dschizya meinte er die Kopfsteuer: die Steuer, die Juden, Christen und anderen nichtmuslimischen Anhängern monotheistischer Reli­ gionen unter islamischer Herrschaft auferlegt wurde, wenn sie unbehelligt leben und ihrem Glauben nachgehen wollten.) Die Eroberung versetzte dem Kampfgeist der arabischen Truppen einen enormen Schub. Und dem

* Oder vielleicht genauer: «Gott ist größer».

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byzantinischen Stolz einen herben Schlag. Doch damit war der Feldzug noch lange nicht zu Ende. Als Herakleios erkannte, dass er die Bedrohung durch die Araber nicht einfach in der Hoffnung ignorieren konnte, sie würde irgendwann von selbst wieder verschwinden, schickte er eine Armee nach Syrien, die laut späteren Berichten hundertfünfzigtausend Mann umfasste.6 (Wahrscheinlicher sind wohl zwanzigtausend Mann.) Dabei handelte es sich um eine bunte Mischung aus Griechen, Armeniern und christlichen Arabern, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Sprache, Zugehörigkeit zu verschiedenen christlichen Sekten oder ihrer politischen Meinung nicht ­immer untereinander verständigen konnten oder wollten. Die Araber beorderten eilig eine ähnlich große Anzahl in die Region, sodass die beiden riesigen Armeen im Tal des Flusses Jarmuk aufeinandertrafen, das sich im heute umstrittenen Grenzgebiet zwischen Syrien, Jordanien und den ­Golanhöhen befindet. Die Schlacht, die vermutlich im August 636 stattfand, zog sich über mehrere Wochen hin. Irgendwann während der Kämpfe hielt Chalid – der wieder einer der wichtigsten Kommandeure auf dem Feld war, obwohl er mittlerweile beim neuen Kalifen Umar in Ungnade gefallen war – eine mitreißende Rede. Er sagte seinen Soldaten, dies sei eine «Schlacht Gottes», und forderte sie auf, «ernsthaft zu kämpfen und Gott im Kampf zu suchen» und zu akzeptieren, dass sie womöglich ihr Leben für Allah geben würden.7 Der Appell an den Glaubenseifer der muslimischen Soldaten sorgte zusammen mit Chalids raffinierter Taktik, den chronischen internen byzan­tinischen Unstimmigkeiten, einem Ausbruch der Pest und einem gewaltigen Staubsturm für den Sieg der arabischen Herausforderer. Ein fränkischer Chronist, der aus mehr als 4000 Kilometern Entfernung über die Ereignisse berichtete, aber gut informiert über die Geschehnisse im Osten war, beklagte einige Jahrzehnte später, bei der Schlacht am Jarmuk «wurde in derselben Nacht das Heer des Herakleius vom Schwerte Gottes zerschmettert».8 Gott hatte sich für eine Seite entschieden, und offenbar galt seine Gunst den Armeen des Islam. Die Belagerung von Damaskus und die Schlacht am Jarmuk legten die Grundlage für die erstaunlich schnelle Eroberung Syriens, Palästinas und Ägyptens durch die Araber. 638 übergab der Patriarch Sophronius Jerusa-

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lem nach längerer Belagerung friedlich an die Araber, beklagte das Schicksal der Stadt jedoch später in seinen Predigten und sagte den Gläubigen, die Ankunft der «rachsüchtigen und Gott verachtenden Sarazenen» sei ein Zeichen für Gottes Zorn angesichts der Sündhaftigkeit der Christen.9 Doch es war offensichtlich zu spät für die christliche Herde, ihren Herrn zu besänftigen. 641 nahmen die Muslime nach mehreren Belagerungen die strategisch wichtige Hafenstadt Caesarea ein. Von den siebentausend Mann, die die Stadt verteidigten, konnten nur wenige per Schiff nach Konstantinopel evakuiert werden, die anderen wurden nach der Eroberung der Stadt hingerichtet.10 Herakleios starb im selben Jahr. Nach der schicksalsträchtigen Schlacht am Jarmuk hatte er Worte geäußert, die sich als prophetisch erweisen sollten: Sosou Syria  – «Ruhe in Frieden, ­Syrien».11 Die Eroberung Syriens durch die Araber in den Jahren 632 bis 642 war eine der erstaunlichsten Leistungen der damaligen Zeit. Der Ostflügel des Byzantinischen Reichs war damit endgültig und dauerhaft abgetrennt; ein Gebiet, das fast siebenhundert Jahre lang zum Römischen Reich gehört hatte. Die Grenze des Byzantinischen Reiches verlief nun im Amanosgebirge am südöstlichen Rand Kleinasiens und sollte im Verlauf des Mittelalters nur selten darüber hinausreichen. Doch noch wichtiger war, dass die Eroberung Syriens einer der ersten bedeutenden Triumphe einer neuen Macht war, die kurz davor stand, weite Teile der damals bekannten Welt zu erobern, nämlich ihr Gebiet bis zur chinesischen Grenze und zum europäischen Atlantik auszudehnen und einen islamischen Staat zu errichten, der über 12  Millionen Quadratkilometer umfassen sollte. Zwischen Mohammeds Tod und dem Zusammenbruch des UmayyadenKalifats 750 n. Chr. tauchten überall arabische Armeen auf, von Kleinasien über den Mittleren Osten und Nordafrika bis zum Reich der Westgoten auf der Iberischen Halbinsel und sogar in Südfrankreich. Die Araber in­ stallierten islamische Regierungen und führten eine neue Art zu leben, zu handeln, zu lernen, zu denken, zu bauen und zu beten ein. Die Hauptstadt des riesigen Kalifats war Damaskus, gekrönt von seiner beeindruckenden Großen Moschee – einem Meisterwerk der mittelalterlichen Architektur, das weltweit seinesgleichen suchte. In Jerusalem

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wurde an der Stelle, wo sich der Herodianische Tempel befunden hatte, der Felsendom erbaut, der mit seiner goldenen Kuppel zum Wahrzeichen der Stadt wurde. An anderen Orten entstanden aus arabischen Militärgarnisonen große neue Städte wie Kairo (Ägypten), Kairouan (Tunesien) und Bagdad (Irak); gleichzeitig wurden bereits bestehende Ansiedlungen wie Merw (Turkmenistan), Samarkand (Usbekistan), Lissabon (Portugal) und Córdoba (Spanien) zu wichtigen Handels- und Geschäftszen­ tren ausgebaut. Das von den arabischen Eroberern errichtete Kalifat war mehr als nur eine neue politische Föderation. Es war vor allem und ausdrücklich ein Reich des Glaubens – mehr, als es das Römische Reich je gewesen war; selbst nach Konstantins Bekehrung und Justinians Reformen und selbst nach einem Erlass gegen Ende von Herakleios ’ Regierungszeit, alle Juden in Byzanz zwangsweise zum Christentum zu bekehren. In diesem Kalifat waren eine alte Sprache – Arabisch – und eine neue Religion – der ­Islam – von zentraler Bedeutung für die Identität der Eroberer und sollten es im Lauf der Zeit auch für das Leben der Eroberten werden. Die Schaffung eines globalen dār al-Islām (Haus oder Gebiet des ­Islam) im 7. und 8. Jahrhundert sollte weitreichende Auswirkungen für das restliche Mittelalter und sogar für die Welt von heute haben. Mit Ausnahme Spaniens und Portugals (und später Siziliens) haben fast alle Gebiete, die von den islamischen Armeen im frühen Mittelalter erobert wurden, bis heute eine islamische Identität und Kultur bewahrt. Der Geist der wissenschaftlichen Erfindungen und intellektuellen Erforschung in den größeren und kosmopolitischen islamischen Städten sollte bei der ­Renaissance im Spätmittelalter eine wichtige Rolle spielen. Die Spaltungen, die sich in der Entstehungszeit des mittelalterlichen Islam herausbildeten, zogen sich durch das gesamte Mittelalter und be­ einflussen auch heute noch die internationale Politik. Die Ursprünge der Aufspaltung in Sunniten und Schiiten lassen sich bis zu den Tagen der ersten Kalifen zurückverfolgen, während die im 8. Jahrhundert aufgekommene Entfremdung zwischen Arabern und Persern in der heutigen geopolitischen Rivalität zwischen Saudi-Arabien und dem Iran weiterlebt. Auch das komplexe Vermächtnis an Konflikten und Koexistenz zwischen Muslimen, Juden und Christen ist zumindest in Teilen auf die muslimi-

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sche Expansion des Frühmittelalters zurückzuführen. Die Kämpfe, die stets auch unter dem Aspekt des Glaubens betrachtet werden müssen, ­toben oft an denselben Orten wie vor tausendfünfhundert Jahren: Palästina, Jerusalem, Syrien, Ägypten, Irak, Iran und Libyen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Stadt Damaskus wurde nicht nur in den 630er Jahren belagert, sondern auch von den Armeen des Zweiten Kreuzzugs in den 1120er Jahren angegriffen und im 13. und 14. Jahrhundert von muslimischen Mongolen und Truppen des Timuridenreiches erneut belagert. In den 1840er und 1860er Jahren kam es zu massiven religiösen Verfolgungen, in den 1920er Jahren wurde die Stadt von den Franzosen bombardiert und ist auch im derzeitigen syrischen Bürgerkrieg heftig umkämpft, gerade das Stadtviertel Jarmuk war dabei Schauplatz einer furchtbaren Belagerungsschlacht. Das ist ein unglaubliches Vermächtnis. Doch damit nicht genug. Die arabischen Eroberungen legten vor allem die Grundlage für den Aufstieg des Islam zu einer der größten Weltreligionen. 2015 gab es 1,8 Milliarden Muslime weltweit – etwa 80 bis 85 Prozent davon Sunniten und 15 bis 20 Prozent Schiiten. Im Mittleren Osten ist der Islam die mit Abstand ­dominierende Religion; seine Anhänger stellen jedoch auch die größte Glaubensgruppe in Nord- und Ostafrika, die zweitgrößte in Großbritannien und Kontinentaleuropa und die drittgrößte in den USA . Insgesamt folgt ein Viertel der Weltbevölkerung in irgendeiner Form dem Glauben, dem auch Chalid ibn al-Walid, Amr ibn al-As und ihre Mitstreiter anhingen, als sie in den 630er Jahren vor den Mauern von Damaskus standen.

Die Geburt einer Religion Die Stadt Mekka liegt in einem hitzegeplagten Tal im Westen der Arabischen Halbinsel mitten in einer Gebirgslandschaft namens Hedschas. Bis zum Roten Meer sind es etwa 80 Kilometer, zum Landesinneren hin schützt das Asir-Gebirge (jibal al-sirat oder al-sirawat) die Stadt vor den enormen Sandmassen.12 In den Wintermonaten herrscht in Mekka ein ­gemäßigtes Klima, doch in den langen Sommern ist es sehr heiß, am Tag steigen die Temperaturen dann oft über 45 Grad Celsius. Doch trotz der

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drückenden Hitze, die im Frühmittelalter eine ergiebige Landwirtschaft unmöglich machte, kommt der Stadt aufgrund ihrer Geografie und Spiritualität eine besondere Bedeutung zu. Im 7. Jahrhundert n. Chr. war Mekka als Station an einer wichtigen Karawanenroute eine blühende Handelsstadt. Kamele und ihre Treiber zogen mit ihrer schaukelnden Last von den betriebsamen Häfen am Roten Meer zu den geschäftigen Handelsplätzen im Norden. Parfüms, Gewürze, Sklaven und Tierhäute passierten Mekka auf dem Weg in größere arabische Oasenstädte wie ­Yathrib und weiter zu den lukrativen Märkten in Persien und Byzanz. Die erfolgreichsten Einwohner Mekkas im 7. Jahrhundert waren mehr als nur Händler: Sie waren umtriebige Kaufleute und Investoren – Frühkapitalisten, die wussten, wie man die Möglichkeiten nutzt, die ihnen die Geografie und der Zugang zu Finanzmitteln boten. Doch daneben gab es auch eine unzufriedene Unterschicht, die von den Gewinnen aus Handel und Finanzgeschäften abgeschnitten war und die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich immer deutlicher zu spüren bekam.13 Die durchziehenden Handelskarawanen waren nicht der einzige Pluspunkt, den Mekka zu bieten hatte. Mit der Kaaba, einem quaderförmigen Tempel aus schwarzem Vulkangestein, den, so die Überlieferung, der alttestamentarische Stammvater Abraham erbaut hatte, war die Stadt auch ein Wallfahrtsort.14 Pilger legten weite Strecken zurück, um den Göttern zu huldigen, deren Abbilder in und rund um die Kaaba angebracht waren, und um an der östlichen Ecke den seit alter Zeit verehrten Schwarzen Stein zu sehen. Dieser heilige Stein – bei dem es sich laut einigen Überlieferungen um einen Meteoriten handelt, der vom Himmel auf die Erde geschleudert worden sei – war noch älter als die Kaaba selbst. Von all den Göttern und Göttinnen, die an der Kaaba verehrt wurden, war Allah der wichtigste, doch im frühen 7. Jahrhundert gab es durchaus noch andere: etwa Hubal, der für den dort lebenden Stamm eine große Rolle spielte, aber auch die Göttinnen Manat, al-Lāt und al-Uzza.15 In der Kaaba gab es sogar ein Bild von der Jungfrau Maria und von Jesus. Laut Überlieferung befanden sich dreihundertsechzig Götterbilder in der Kaaba und deren Umfeld. Ob diese Zahl wörtlich zu nehmen ist, lässt sich unmöglich feststellen. Wir wissen jedoch, dass Arabien im Frühmittelalter ein Schmelztiegel für

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zahlreiche Kulte und Gottheiten war. In einigen Städten und Regionen (vor allem im heutigen Jemen) gab es blühende Gemeinschaften von arabischen Juden und Christen. An vielen weiteren Orten herrschte ein heidnischer Polytheismus vor. Und dann gab es auch noch diejenigen, die man als heidnische Monotheisten bezeichnen könnte – die an einen einzelnen Gott glaubten, der jedoch nicht den christlichen oder jüdischen Schriften entsprach. Es gab eine Fülle an Wüstenpropheten, Mystikern, Mönchen und Eremiten, von denen einige der Tradition der frühchristlichen «Wüstenväter» folgten und die Nähe zu Gott durch ein asketisches Leben in der Wüste suchten.* Kurz gesagt, waren die Religionen im arabischen Raum vielfältig, veränderten sich immer wieder und waren stark regional aus­ geprägt. Doch das war ganz natürlich. Die arabische Gesellschaft war eine Stammesgesellschaft, keiner der regionalen Supermächte – Byzanz und das zoroastrische Persien sowie das christliche Äthiopien  – war es bisher gelungen, die Araber lange genug unter ihre Herrschaft zu bringen, um eine feste «Staatsreligion» zu fördern oder zu erzwingen. Die Byzantiner und Perser hatten es allenfalls ­geschafft, zwei arabische Gruppen aus dem Norden, die Lachmiden und Ghassaniden, für ihre Stellvertre­ terkriege zu verpflichten. Das war kein Kolonialismus, sondern allenfalls Klientelismus. In Arabien sollte der Wandel von innen ­heraus kommen. Ab Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr. waren die Quraisch der wichtigste Stamm in Mekka – und zudem der Stamm, in den Mohammed um das Jahr 570 geboren wurde. Obwohl er einer relativ wohlhabenden Familie aus dem Clan der Banu Hashim angehörte, war seine Kindheit von persönlichen Verlusten gekennzeichnet. Mit acht verlor er seinen Vater Abd Allah und seine Mutter Amina. Er wurde von seinem Großvater und später von seinem Onkel Abu Talib großgezogen, dem Anführer der Banu

* Es wurde schon häufig darauf hingewiesen, dass die drei großen abrahamitischen Religionen – Judentum, Christentum und Islam – eine enge Verbindung zur Wüste haben, die sogar so weit reicht, dass man alle als «Wüstenreligionen» bezeichnen könnte. Die Vorstellung von einem einzelnen Gott kann bis in den Sand Ägyptens zurückverfolgt werden, in die Ära Echnatons (ca. 1351–1335 v. Chr.).

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Hashim. Mit etwa zwei Jahren war Mohammed einer Amme übergeben worden und hatte bei deren Beduinenstamm in der Wüste gelebt.* Eines Tages sah sein Stiefbruder aus der Pflegefamilie ganz in Weiß gekleidete Engel, die Mohammeds Herz entfernten, es mit Schnee wuschen und ­gereinigt wieder in seinen Körper setzten.16 Danach prophezeiten Mystiker und Mönche während seiner gesamten Jugend, er sei zu Großem bestimmt – oder zumindest sind das die Geschichten, die sie später erzählten, als er tatsächlich Größe erlangt hatte. Doch diese Größe stellte sich erst relativ spät in Mohammeds Leben ein. Er war als Kaufmann tätig und etwa vierzig Jahre alt (also um das Jahr 609/10), als sich ihm himmlische Wesen in Träumen, Visionen und Offenbarungen zeigten. Der Wendepunkt kam in einer Höhle auf dem Berg Hira am Stadtrand von Mekka, die er regelmäßig aufsuchte, um zu meditieren und nachzudenken. Eines Tages erschien ihm dort der Engel Gabriel, der ihn direkt ansprach und ihm zu rezitieren befahl. Mohammed erkannte schließlich, dass er als Allahs Prophet und Bote auserwählt worden war  – der letzte in einer langen Reihe, die über Jesus, Salomo, ­David, Abraham, Noah und Moses bis zum ersten Menschen Adam zurückreichte. Das war eine überwältigende Nachricht, doch Mohammed überwand seinen anfänglichen Schrecken und die Verwirrung. Bis zu seiner nächsten Offenbarung vergingen drei Jahre, doch von da an erhielt er regelmäßig Botschaften von Gott, manchmal in gesprochener Form, manchmal als Glockenläuten, das entschlüsselt werden musste. Der Engel zeigte ihm rituelle Waschungen und die beste Art, zu Allah zu beten. Das waren die grundlegenden Riten einer neuen Religion: des Islam. Mohammeds Offenbarungen wurden als Arabische Rezitationen schließlich im Koran gesammelt. Später wurden Fragmente der Reden des Propheten sowie mündliche Erinnerungen an seine Meinungen und Handlungen, die so genannten Hadithe, als Sunna zusammengestellt, die zur Bildung eines islamischen Rechtskodex und moralischen Rahmenwerks führten.

* Das war bei den Quraisch damals so üblich: Kleine Kinder wurden bei Nomaden in Pflege gegeben, um ihre Gesundheit zu verbessern und ihnen den Geist der Wüste zu vermitteln. Siehe Lings, Muhammad, S. 39 f.

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Natürlich ist eine neue Religion nichts ohne die dazugehörigen Anhänger. Mohammed war keineswegs der einzige Prophet im frühmittelalterlichen Arabien, und der monotheistische, auf Ritualen basierende Glaube, dessen Verbreitung er nun sein Leben widmete, war immer noch eins von mehreren Hundert Glaubenssystemen und Kulten der arabischen Stämme. Zunächst musste er also andere überzeugen, ihm bei der korrekten Verehrung Allahs zu folgen. Als kluger und intelligenter Mann, der für seine Vertrauenswürdigkeit, Besonnenheit und Selbstbeherrschung bekannt war, konnte Mohammed problemlos seine Familie und Freunde für die Sache gewinnen; zu seinen ersten Glaubensgefährten gehörten seine Frau Chadidscha, sein Cousin Ali, sein guter Freund Abu Bakr und sein Adoptivsohn Zaid. Bei anderen Arabern, unter anderem auch bei den Quraisch  – war etwas mehr Überzeugungsarbeit erforderlich. Mohammeds Botschaft – dass alle anderen Götter und Götzen abgelehnt werden sollten, um allein Allah anzubeten – fiel in einer Stadt, deren Wirtschaft stark auf die polytheistischen Pilger angewiesen war, nicht gerade auf fruchtbaren Boden. Einige Jahre zuvor war Mohammed maßgeblich daran beteiligt gewesen, den heiligen Schwarzen Stein an einer neuen Stelle der Kaaba anzubringen, die nach einem Brand in neuer Pracht wiederauf­ gebaut worden war. Und nun predigte er eine neue Religion, die alles zu untergraben drohte, wofür die Kaaba stand. Mohammeds Karriere als Prediger begann 613 und stieß zunächst auf gemischte Reaktionen. Sein Eintreten für Mildtätigkeit, Gebet und Monotheismus fand ein bereitwilliges Publikum und vor allem unter den Einwohnern Mekkas viele Anhänger, insbesondere – wenn auch nicht ausschließlich – unter den bedürftigen und Not leidenden Armen sowie unter vielen Arabern im gesamten Hedschas. Allerdings betrachteten die mächtigsten und einflussreichsten Gruppen in Mekka den Propheten im besten Fall als lästigen Störenfried, wenn nicht sogar als Bedrohung der öffent­ lichen Ordnung. Wie der andere große Prophet und Prediger Jesus von Nazareth sechshundert Jahre zuvor gezeigt hatte, brachte jeder charismatische und fromme Mensch, der sich gegen Armut und soziale Ungleichheit engagierte und in diesem Zusammenhang ein neues Glaubensbekenntnis schaffen wollte, schnell die Wohlhabenden und Mächtigen gegen sich auf. Schon bald war Mohammed in seinem eigenen Stamm isoliert.

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Zur ersten Krise kam es 619 – dem «Jahr der Trauer» –, als Chadidscha und Abu Talib starben. Dieser doppelte Verlust schwächte Mohammeds Position im Clan der Banu Hashim und bei den Quraisch erheblich. In den folgenden Jahren wurde die Bedrohung existenziell. Zunächst wurden Mohammed und die Muslime gehänselt und verspottet, dann aktiv verfolgt. Einige wurden zu Tode gefoltert, manche flohen und verließen den Hedschas, um jenseits des Roten Meers in Äthiopien Zuflucht zu suchen. Im Jahr 622 – es gilt als Gründungsjahr in der islamischen Geschichte und Beginn der islamischen Zeitrechnung  – verließ auch Mohammed Mekka. Stammesälteste aus Yathrib hatten sich an ihn gewandt und ihn gebeten, die Gemeinschaft der Muslime in ihre Stadt zu führen, wo sie ­einen besonderen Schutz und Stellenwert genießen sollten, außerdem erhielt Mohammed die Aufgabe, die seit Langem schwelende Fehde zwischen den heidnischen Stämmen und der beträchtlichen jüdischen Einwohnerschaft der Stadt zu schlichten. Und so verließ er zusammen mit seinen Anhängern Mekka im Juni, wodurch er knapp einem Mordkomplott entkam. Nach einer etwa achttägigen Reise über 320 Kilometer – die sogenannte Hidschra – erreichten sie Yathrib, das später in Medina um­ benannt wurde.* Mohammed formulierte einen Pakt, die sogenannte Gemeindeordnung von Medina, mit dem sich die zerstrittenen Stämme der Stadt zu einer Gemeinschaft oder umma vereinten, die durch den Glauben miteinander verbunden war – der Glaube hatte Vorrang gegenüber dem Blut, der Glaube hatte Vorrang gegenüber Stammesloyalitäten, der Glaube stand immer an oberster Stelle. Schon bald war Mohammed das Oberhaupt der Stadt und begann mit dem Aufbau einer spirituellen und rechtlichen Gemeinschaft, die weit mehr war als eine einfache Stammesföderation. Das war der erste islamische Staat, auch wenn er noch in der Entwicklung begriffen war. Innerhalb dieses Staates gingen politische ­Solidarität, Monotheismus und religiöser Gehorsam Hand in Hand. Der ­Islam durchdrang alles  – er war nicht nur eine Religion, sondern eine ­Lebensweise. Dieser Absolutismus, der sich in der frühmittelalterlichen

* Die Kurzform von Medinat an-Nabi (Stadt des Propheten) oder Madīna al-munawwara (die erleuchtete Stadt).

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Geschichte des Islam immer deutlicher herausbildete, sollte zu seinem wichtigsten Anziehungspunkt und seiner Stärke werden – und zur unausgesprochenen Drohung an all jene, die sich seinen Lehren noch nicht unterworfen hatten. Als die Muslime nach Medina kamen, hatten sie noch die Gewohnheit, Richtung Jerusalem zu beten, doch das änderte Mohammed schon bald nach ihrer Ankunft, und sie begannen, Richtung Mekka zu beten. Sie nahmen auch den dortigen Handel ins Visier und hielten sich mit Überfällen auf Karawanenzüge über Wasser. Das war natürlich riskant, und im März 624 entwickelte sich aus dem Überfall auf eine große Karawane eine ausgewachsene Schlacht – die Schlacht von Badr –, die trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit der Muslime mit einem Sieg für sie endete. Es folgten weitere Schlachten. Nicht alle gingen zugunsten der Muslime aus: In der Schlacht von Uhud 625 wurden sie von den Mekkanern besiegt, und in der sogenannten Grabenschlacht 627 hätten sie fast Medina ver­ loren. Doch als sich das Jahrzehnt dem Ende näherte, hatte Mohammed ausreichend Anhänger und Krieger um sich geschart, und die Bewegung hatte so an Dynamik gewonnen, dass er erwägen konnte, nach Mekka zurückzukehren und sich für die Kränkungen zu rächen, die man ihm dort zu Beginn seines Wirkens zugefügt hatte. 630 marschierte er mit zehntausend Mann hinter sich gegen seine einstige Heimatstadt, stürmte ins Zentrum, zerstörte die Götzenbilder in der Kaaba und übernahm die politische Herrschaft. Nachdem sich die Quraisch und die übrigen Einwohner Mekkas Mohammed lange widersetzt hatten, konvertierten sie nun zum Islam. Nur einige wenige hartnäckige Ungläubige weigerten sich und wurden hingerichtet. In kurzer Zeit führte Mohammed Stämme im gesamten Hedschas und darüber hinaus zum Glauben. Die Dynamik seiner Feldzüge und sein taktisches Geschick, die Reinheit und Klarheit seiner religiösen Botschaft und die praktische Erkenntnis, dass die Muslime nun Handelsrouten und wichtige Handelsplätze im gesamten westlichen Arabien kontrollierten, waren die wichtigsten Faktoren für seinen Erfolg. Als der Prophet 632 starb, schien er das Unmögliche erreicht zu haben: Die Araber hatten sich in der umma spirituell und politisch zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen. Dass ihre Einheit so lange währen sollte, hätte niemand gedacht.

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Die «Rechtgeleiteten Kalifen» Wenn die arabischsprachigen Bewohner der Wüste einander die Geschichte ihrer Herkunft erzählten, verfolgten sie ihre Abstammung bis zu Adam zurück. Sie waren die Hagarener: die Nachkommen von ­Abrahams Verbindung zu Hagar, der Sklavin seiner Frau Sara, die einen Sohn namens Ismael zur Welt brachte. Ismaels Existenz gab nicht nur Anlass zur Freude, denn mit der Geburt eines Sohnes machte sich Hagar Sara zur Feindin. Andererseits entstand damit  – so hieß es in den Geschichten – das Volk der Araber, das sich deutlich von den Nachkommen von Abrahams zweitem Sohn Isaak unterschied, der als Stammvater der zwölf Stämme Israels verehrt wurde. Eigentlich waren das alte Geschichten – die jedoch in gewisser Hinsicht von großer Bedeutung waren. Das Alte Testament prophezeite Ismaels Zukunft in eindringlichen Worten: «Er wird ein wilder Mensch sein: seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn …»17 Die Beschreibung passt auch gut zu seinen Nachkommen, den Muslimen in Arabien, die sich im 7. Jahrhundert unter dem Banner des Islam einten und sich dann daranmachten, ihre Nachbarn zu unterwerfen.* Nachdem Mohammed 632 gestorben und in Mekka beigesetzt worden war, wurde die Einheit der umma auf eine harte Probe gestellt. Abu Bakr beanspruchte als alter Freund des Propheten die Nachfolge für sich, doch viele arabische Stämme waren der Ansicht, ihre Loyalität habe Mohammed als Gottes Prophet gegolten und lasse sich nicht so ohne Weiteres auf einen Nachfolger übertragen. Andere Propheten, von Mohammeds Beispiel ermutigt, behaupteten nun ihrerseits, eine besondere Beziehung zu Gott zu haben, womit natürlich ihren eigenen Stämmen eine Sonder­ stellung zukam. Infolgedessen kam es zu einem kurzen, aber blutigen Konflikt, den sogenannten Ridda-Kriegen. Abu Bakr schickte, wenn auch wider­strebend, islamische Armeen gegen abtrünnige Araber in den Kampf,

* Ein ähnliches Gefühl vermitteln übrigens die Stadiongesänge der berüchtigten Fans des Millwall  FC, die seit den 1970er Jahren bei Fußballspielen erklingen: «No one likes us / We don ’ t care.» («Niemand mag uns / uns doch egal.»).

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um sie mit Gewalt zur Rückkehr zum Glauben zu bewegen und wieder in den Schoß der Gemeinschaft zu zwingen. Die Ridda-Kriege dauerten etwa neun Monate. Bei den Feldzügen auf der gesamten Arabischen Halbinsel zeigten die Kommandeure, darunter Chalid bin al-Walid und Amr ibn al-As, was in ihnen steckte. In weniger als einem Jahr gelang es den muslimischen Feldherren, die rebellischen Stämme zu besiegen und aufmüpfige arabische Städte wieder gefügig zu machen. Der Sieg sicherte die Einheit der umma und ihren Fortbestand auch über Mohammeds Tod hinaus. Und er setzte eine Militärmaschi­ nerie mit außergewöhnlichem Selbstvertrauen und enormer Dynamik in Gang, die bereit war, die dekadenten Reiche im Norden zu erobern.* Die Geografie gab den Weg der Eroberungen außerhalb Arabiens vor. Die natürlichen Ziele der Muslime bei ihrer Expansion waren die Regionen am Rand der großen syrischen Wüste: Südsyrien und der Irak. 633 drangen muslimische Armeen in beide Gebiete vor. Anfangs setzten sich die Truppen der Byzantiner und Perser zur Wehr. Doch beide Reiche ­waren von den jahrzehntelangen Kriegen, in denen sie sich gegenseitig ­bekämpft hatten, strukturell und materiell ausgelaugt. Den Kaisern in Konstantinopel fehlte es so sehr an Soldaten, dass sie gezwungen waren, den Großteil ihrer Truppen unter den Turkvölkern zu rekrutieren – einer neuen, nomadisch lebenden Macht in der Steppe, die seit dem 6. Jahrhundert rund ums Kaspische Meer aufgetaucht war.18 Die Muslime hingegen waren zwar schlachtenerprobt, aber noch nicht kriegsmüde. In rascher Folge durchbrachen ihre Armeen die Verteidigungslinien der beiden Reiche. In Syrien fiel Damaskus um 635/636 an die Muslime; 648 befand sich fast die gesamte levantinische Küste sowie das Landesinnere mit seinen

* Die Ridda-Kriege hatten noch eine weitere wichtige Auswirkung auf die Geschichte des Islam. In einer Schlacht bei Yamama im Zentrum der Arabischen Halbinsel wurden auch mehrere Dutzend Hāfiz getötet  – Gelehrte, die die 114  Suren des ­Koran mit ihren über 6000 Versen Wort für Wort auswendig gelernt hatten. Da­ raufhin gab Abu Bakr die Zusammenstellung einer definitiven Version von Mohammeds Offenbarungen in Auftrag, den sogenannten mushaf. Unter der Herrschaft der Kalifen Umar und Uthman wurde dieser Text dann kopiert und sein Arabisch standardisiert.

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Wüsten in ihrer Hand. Aber das war noch nicht alles. Nachdem Amr ibn al-As Südsyrien erobert hatte, führte er 639 eine Armee über die SinaiHalbinsel nach Ägypten in Richtung Nildelta. Innerhalb von drei Jahren waren alle wichtigen ägyptischen Städte, darunter auch die Hauptstadt an der Küste, Alexandria, unter muslimischer Besatzung. 641 gründete Amr eine neue Garnisonsstadt namens al-Fustat (in etwa «Zeltstadt») und ließ dort die erste Moschee Ägyptens bauen. Die Stadt wurde zur muslimischen Hauptstadt der neu eroberten Provinz; heute ist sie ein Vorort von Kairo. Ägypten, die Kornkammer des Mittelmeerraums, konnte das Byzan­ tinische Reich nicht mehr länger mit Getreide versorgen: Die Provinz unterstand nun den Kalifen in Medina. Im Irak schritt die Invasion zur gleichen Zeit ähnlich schnell voran. 636 (möglicherweise auch später  – die Chronologie ist umstritten) besiegte eine muslimische Armee ein riesiges persisches Truppenaufgebot samt Kriegselefanten in der dreitägigen Schlacht von al-Qādisīya. In den ersten Monaten des Folgejahres marschierten die muslimischen Truppen gegen Ktesiphon, die Residenzstadt der Sassaniden. Auf ihrem Zug konnten sie kurzzeitig von einer persischen Abordnung aufgehalten werden, die einen zahmen Löwen namens al-Mugarrat mit sich führte; zu seinem Pech waren seine Zähne und Krallen kein Hindernis für einen muslimischen Krieger namens Hashim ibn Utbah, der das Tier mit dem Schwert tötete. (Die Klinge erhielt daraufhin den Ehrennamen «die Starke».)19 Und wie der Löwe fiel auch die Stadt. Nach einem kurzen Beschuss durch Katapulte, einer erbitterten Schlacht mit den Verteidigungskräften der Stadt und einem gewagten Angriff, bei dem der Fluss Tigris durchquert werden musste, eroberten die Muslime im Frühjahr 637 die beiden Zentren der Doppelstadt. Die Schätze, die sie im prächtigen weißen Palast der sassanidischen Großkönige vorfanden, überstiegen beinahe ihre Vorstellungskraft: riesige Körbe voller Gold und Silber, Juwelen, Kronen und königlicher Gewänder, sowie Rüstungen, die einst dem byzantinischen Herrscher Herakleios gehört hatten und einige Jahre zuvor im byzantinisch-persischen Krieg erbeutet worden waren. Und so wurde Beute erneut zur Beute. Das Beste wurde an den Kalifen Umar in Medina geschickt, «damit die Muslime es sehen und die nomadischen Stämme davon hören konnten».20 Der herrliche Palast Taq-e Kisra wurde zur Moschee

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umfunktioniert. Und die arabische Kriegsmaschinerie rollte weiter. In der Schlacht von Jalula kurz nach dem Fall Ktesiphons schlug der Löwentöter Hashim ibn Utbah erneut ein persisches Heer in die Flucht. Die Dynastie der Sassaniden war in höchster Bedrängnis. Der Todesstoß kam 642. Der neue Großkönig Yazdegerd III . hatte seine Streitkräfte nach den furchtbaren Verlusten in den 630er Jahren mühsam wiederaufgebaut. Doch die neue Armee erlitt dasselbe Schicksal wie die alte: In der Schlacht bei Nehawand fielen Zehntausende Perser den muslimischen Schwertern zum Opfer. Im Gefolge der Niederlage brach Yazdegerds Staat zusammen. Die Nachricht vom muslimischen Sieg in Nehawand wurde in einem Brief übermittelt, der mit den Worten begann: «Freue dich, Befehlshaber der Gläubigen, über einen Sieg, mit dem Gott den ­Islam und seine Untertanen geehrt und den Unglauben und dessen Verfechter entehrt hat.»21 Als Umar den Brief las, in dem auch stand, wie viele Muslime als Märtyrer gefallen waren, brach er in Tränen aus. Umar war 634, nach Abu Bakrs Tod, der zweite der «rechtgeleiteten» (rashidun)* Kalifen. Mit seinen etwa dreiundfünfzig Jahren war er berühmt für seine körperliche Kraft, seine Sturheit und seine Belesenheit. Er führte die muslimischen Streitkräfte zwar nicht persönlich, war jedoch ein überaus fähiger Oberbefehlshaber, der von Medina aus, Hunderte von Kilometern von seinen Truppen entfernt, die militärische Strategie vorgeben konnte. Dabei vertraute er auf seine Feldherren, die wirksamsten Mittel zu finden, um die Ziele des expandierenden islamischen Staates zu verwirklichen. Als Kalif pflegte er sorgsam sein Bild von sich in der Öffentlichkeit: Vor der offiziellen Übergabe Jerusalems durch den Patriarchen Sophronius trug Umar beim Einzug in die Stadt zerlumpte und von der langen Reise verschmutzte Gewänder und stand mit seinem bescheidenen Auftreten in deutlichem Kontrast zum Prunk des Kirchenmanns.

* Die Bezeichnung Rashidun ist zwar der gängige Begriff für die ersten Kalifen vor den Umayyaden, wird jedoch von schiitischen Muslimen nicht verwendet, die Abu Bakr, Umar und Uthman als illegitime Nachfolger betrachten.

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Doch Umar war nicht nur aufgrund seines charismatischen Auftretens und seiner Fähigkeiten erfolgreich. Er war auch der Vorstand und geistige Führer einer Maschinerie, die für Eroberungen gebaut und von ihnen gespeist wurde und perfekt auf die damalige Zeit zugeschnitten war. Als die Muslime unter Mohammed und Abu Bakr ihre Herrschaft in Arabien ausdehnten und konsolidierten, war der Übertritt zum Islam das erklärte Ziel ihrer Eroberungen. Doch als sie sich über die Grenzen der arabischsprachigen Welt hinauswagten, versuchten sie nicht, einfach das altbekannte Modell zu wiederholen. Ob sie nun durch Wüstenregionen zogen, die von Nomaden bewohnt wurden, oder ihre Reiter und Belagerungs­ katapulte vor den großen Städten von Byzanz und Persien in Stellung brachten: Stets machten sie deutlich, dass sie nicht als dogmatische Armee gekommen waren, die es nur darauf abgesehen hatte, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind, die ihnen in den Weg kamen, zu bekehren oder zu töten. Sie verlangten nur, dass sich die Städte und Gemeinschaften zügig ergaben und sich der Regierung einer muslimischen Herrscherelite unterwarfen. Von Christen, Juden und anderen Monotheisten wurde nicht erwartet, dass sie Muslime wurden – in einigen Fällen wurden sie sogar eher abgehalten, weil sie als Ungläubige höhere Steuern einbrachten. Sie waren vom Militärdienst ausgenommen und mussten nur die Dschizya (Kopfsteuer) zahlen und ihre eigenen Gemeinschaften ordentlich und zivilisiert führen. Die muslimischen Soldaten der Eroberungsheere wurden von der Bevölkerung weitgehend ferngehalten. Sie lebten in eigenen Militärgarnisonen und erhielten einen Sold namens ata, der mit Steuermitteln finanziert wurde. Für ihren Militärdienst bekamen sie jedoch kein Land und auch keine konfiszierten Landgüter: eine Politik, die kurzfristig dazu beitrug, Spannungen mit der Zivilbevölkerung kleinzuhalten, und langfristig dafür sorgte, dass sich die muslimischen Soldaten nicht wie bei den Römern nach ein oder zwei Generationen mit der lokalen Bevölkerung vermischten. Die Toleranz gegenüber eroberten Völkern, die sich widerstandslos ergaben, war natürlich nicht neu: Im Grunde hatten bereits die Feldherren in der Römischen Republik und im frühen Römischen Reich derartige Angebote gemacht.22 Eine pragmatische Haltung gegenüber lokalen Gebräuchen und ihre Akzeptanz ist – zumindest kurzfristig – bei der mili­

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tärischen Expansion schon immer ein effektives Mittel gewesen, um langwierige Aufstände zu vermeiden. Doch im 7. Jahrhundert besaß das Angebot vielleicht eine besondere Anziehungskraft. Angesichts der sektiererischen Gewalt der christlichen Welt, die das Leben in Byzanz vergiftete, mag die Ankunft einer neuen Macht, die sich wenig um die quälenden ­Debatten über die spirituelle und menschliche Natur Christi kümmerte – eine Macht, die Ungläubige besteuerte, anstatt sie zu verfolgen –, wie ein Segen gewirkt haben. Das soll jedoch nicht heißen, dass die islamische Expansion herzensgut und friedlich war. Städte und Stämme, die sich den muslimischen ­Armeen widersetzten, verwirkten ihr Recht, in geordneter Manier in den Schoß des Islam aufgenommen zu werden. Während der Kriege in Arabien hatte Mohammed die Enthauptung Hunderter männlicher Mitglieder des jüdischen Banū-Quraiza-Stammes sowie die Versklavung ihrer Frauen und Kinder gebilligt.23 Auch die vielen Schlachten zwischen den Muslimen und ihren verschiedenen Gegnern aus dem Byzantinischen oder Persischen Reich waren blutige Angelegenheiten, und die Berichte darüber nennen Tausende, Zehntausende  – sogar (auch wenn das unwahrscheinlich ist) Hunderttausende erschlagene Krieger. Nach einer Schlacht in Persien, berichtet al-Tabari, «gingen die Jüngsten der [muslimischen] Armee aufs Schlachtfeld und inspizierten die Toten … den Muslimen, in denen noch der Atem des Lebens war, gaben sie Wasser, die Polytheisten, in denen noch Leben steckte, töteten sie … [Währenddessen hatten andere] die Verfolgung der geflohenen Perser aufgenommen … Sie töteten sie in jedem Dorf, in jedem Dickicht und an jedem Flussufer und kehrten dann rechtzeitig zum Mittagsgebet zurück.»24 Das war so üblich im Krieg, und zum Teil auch im Islam. Es gab zwar viele Beispiele, in ­denen Mohammed Toleranz und Frieden predigte, doch der Hadith, der während Umars Kalifat zusammengestellt wurde, enthielt auch auffallende Äußerungen, die zu Krieg und Gewalt aufriefen. Unter anderem soll Mohammed gesagt haben: «Allah garantiert, dass er den Mudschahid [heiligen Krieger] für seine Sache ins Paradies einlässt, wenn er getötet wird, andernfalls wird er ihn mit Belohnungen und Kriegsbeute sicher in seine Heimat zurückbringen.»25 Das Konzept des Dschihad (in der Bedeutung von Anstrengung, Kampf ) verlangt, dass sich alle Muslime für

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die Sache des Islam ins Zeug legen. Das bedeutete im Mittelalter sehr oft, dass man zu den Waffen greifen und in Erwartung einer Belohnung im Jenseits andere Menschen töten musste.

Die Fitna Die gewalttätige und unruhige Seite der arabischen Eroberungen trat 644 zutage, als der zweite Kalif Umar von einem versklavten ­persischen Soldaten namens Piruz Nahavandi (auch bekannt als Abu Lu ’ lu ’ a) ermordet wurde. Der Mann lief während der Morgengebete in der Prophetenmoschee (al-Masdschid an-Nabawi) in Medina Amok und schlug mit seinem Schwert um sich. Sieben Menschen wurden tödlich verletzt, darunter auch der Kalif, den er mindestens ein halbes Dutzend Mal in die Bauchgegend stach. Laut einem Bericht, der im Hadith erhalten ist, stöhnte Umar, als ihn die Klinge traf: «Der Hund hat mich getötet oder gefressen.»26 Er lebte noch vier Tage und erlag dann seinen Verletzungen. In diesen vier Tagen berief Umar auf dem Totenbett einen Rat der sechs ranghöchsten Muslime ein, die alle Gefährten des Propheten waren – die auserlesene und langsam kleiner werdende Gruppe der Menschen, die Mohammed zu seinen Lebzeiten gekannt hatten und ihm gefolgt waren. Er beauftragte sie, einen der Ihren zu seinem Nachfolger zu bestimmen. Sie entschieden sich für Uthman, einen Kaufmann aus der angesehenen Familie der Umayyaden vom Stamm der Quraisch.* Uthman war mittelgroß, untersetzt und stark behaart, mit krummen Beinen und einem ebenmäßigen, aber pockennarbigen Gesicht.27 Er war früh zum Islam konvertiert und genoss hohes Ansehen bei den Gläubigen. Er war Mitte sechzig und sehr reich, verfügte allerdings nicht über eine ähnliche militärische Reputation wie Umar. Er war ein seriöser und glaubwürdiger Kandidat. Doch mit Uthmans Wahl überging der Rat die Ansprüche von Moham-

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Die Banu Umayya waren ein Unterclan der Banu Abd-Shams, einer größeren Gruppe im Stamm der Quraisch.

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meds Cousin Ali – eine Entscheidung, die weitreichende Konsequenzen für die Geschichte des Islam und die Welt haben sollte. Während Uthmans zwölfjährigem Kalifat drangen die muslimischen Armeen immer weiter nach Osten und Westen vor und bauten vor allem im Westen ihre Schlagkraft weiter aus. In den späten 640er Jahren führten sie Krieg in Armenien und im östlichen Kleinasien. Im Osten eroberten sie das in Auflösung begriffene Perserreich und brachten es bis 651 fast vollständig unter ihre Kontrolle, sodass sich das von ihnen eroberte Gebiet bis ans heutige Afghanistan erstreckte. Gleichzeitig rückte im Westen eine Armee mit vierzigtausend Mann in Nordafrika vor und nahm dem Byzantinischen Reich im Exarchat Afrika ein immer größeres Territorium ab, bis sie eines Tages nur noch wenige Fußmärsche von Karthago entfernt war. Doch nicht nur zu Land, auch auf hoher See wurden Schlachten ausgetragen. Ein Befehlshaber, der sich in den Kriegen gegen Byzanz und Persien besonders hervorgetan hatte, war Muawiya ibn Abi Sufyan, ein hochgewachsener und glatzköpfiger Anführer, der hohes Ansehen genoss und bei der Eroberung Syriens eine herausragende Rolle gespielt hatte, wo er anschließend zwei Jahrzehnte lang Statthalter war. Da er an der langen Küstenlinie Syriens frei schalten und walten konnte, hatte er Zugang zu einigen der wichtigsten Seehäfen des östlichen Mittelmeers, von Beirut (im heutigen Libanon) über Palästina bis hinunter nach Alexandria in Ägypten. Wie der Kalif gehörte Muawiya der Familie der Umayyaden an, und mit Uthmans Unterstützung betrieb er im Eiltempo den Aufbau ­einer muslimischen Marine, die es mit der mächtigen byzantinischen Flotte aufnehmen konnte. Ende der 640er und Anfang der 650er Jahre eroberten muslimische Schiffe Zypern und überfielen Kreta und Rhodos. Um 654 nahmen sie sogar Kurs auf Konstantinopel. Vor der Küste Lykiens im Südwesten Kleinasiens siegten sie in einer erbittert geführten und sehr blutigen Seeschlacht über einen byzantinischen Flottenverband unter dem Kommando des Kaisers Konstans II . Nach der Schlacht von Phoinix verhinderten nur schwere Stürme (und die hohen Verluste bei den Kämpfen), dass die Muslime das Herz des Byzantinischen Reiches angriffen. Die zahlreichen Siege und Eroberungen zogen eine Phase des anhaltenden Wachstums nach sich. Doch man musste nur ein bisschen an der

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Oberfläche kratzen, um festzustellen, dass mit Uthmans Herrschaft nicht alles zum Besten stand. Unter seiner Führung erfolgten zwar mehrere wichtige geistliche und innenpolitische Reformen, darunter auch die Erstellung einer «autorisierten» Version des Korans, doch im viel zu schnell aufgebauten Kalifat brauten sich auch massive Spannungen und Rivalitäten zusammen. Im Sommer 656 brachen sie sich schließlich Bahn. Die Opposition gegen Uthmans Herrschaft richtete sich zu gleichen Teilen gegen seine Person und seine Politik. Im selben Maße, in dem der islamische Staat wuchs, wurden vor allem in Ägypten und im Irak Beschwerden laut, dass sich Einfluss und Wohlstand zu stark in den Händen der Quraisch konzentrieren würden. Das war natürlich ein schwerer Vorwurf: Die Quraisch waren der Stamm Mohammeds, aber eben auch diejenigen, die sich ihm anfangs erbittert widersetzt hatten. Sie hatten ­Kalifen und Feldherren vom Kaliber eines Chalid ibn al-Walid oder des syrischen Statthalters und Flottenadmirals Muawiya hervorgebracht. Falls man in dem Zusammenhang davon sprechen kann, dann stellten sie die muslimische Aristokratie dar. Dennoch hatten andere arabische Stämme, die in den Jahrzehnten der unablässigen militärischen Eroberungen mit vollem Einsatz gekämpft hatten, das Gefühl – ob zu Recht oder zu Unrecht –, ihnen sei der gerechte Lohn für ihre Anstrengungen verwehrt worden. Zudem missfiel ihnen die Arroganz, mit der sich hoch­ rangige Quraisch unter Uthman offenbar nach Belieben in den eroberten Gebieten bedienen konnten. Die bittersten Vorwürfe kamen von einem Stamm namens Qurra. Doch sie waren nicht allein. Ob aus Ignoranz oder Unfähigkeit, jedenfalls versäumte es Uthman in den 650er Jahren, auf die Anzeichen zu achten, die auf eine Revolte im Reich hindeuteten. Als er um 655 schließlich aktiv wurde, auf die Klagen reagierte und Konflikte schlichtete, war es bereits zu spät. Im Frühjahr 656 reisten Aufständische von Ägypten nach Medina und demonstrierten vor Uthmans Haus. Bis Ende Juni hatte sich dort eine große Menschenmenge versammelt, die seine Residenz praktisch abriegelte und belagerte, Steine schleuderte und Uthmans Kopf forderte.28 Am 17. Juni hatten sie ihr Ziel erreicht.29 Eine kleine Gruppe Rebellen konnte auf Uthmans Anwesen vordringen, das massive Wachaufgebot umgehen und den Kalifen in seinen Gemächern stellen. Nach kurzem

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Kampf wurde Uthman überwältigt, niedergeschlagen und erstochen. Auch eine seiner Frauen wurde angegriffen, sie verlor im Kampf zwei Finger und wurde bei ihrer Flucht am Hintern begrapscht.30 Anschließend plünderten die Rebellen Uthmans Haus und griffen seine Diener und weitere Frauen an. Als Uthmans Leiche einige Tage später beigesetzt wurde, war Medina immer noch in Aufruhr und ein Mob drohte, die Trauernden zu steinigen. Die entstandene Spaltung ließ sich nicht überwinden. Uthmans Nachfolger als Kalif war Mohammeds außergewöhnlich frommer und rechtschaffener Cousin Ali, ein bewährter Krieger und enges Familienmitglied, der mit dem Propheten aufgewachsen und mit seiner Tochter Fatima verheiratet war. Ali wurde weithin geachtet und galt als Mann von makelloser Frömmigkeit, dem die Ehre zuteilgeworden war, in der Kaaba selbst geboren zu sein, und der sich einen Ruf als der muslimischste aller Muslime erworben hatte – ein Muster an Tugendhaftigkeit, dessen Anhänger, die sogenannten Schiiten, von seiner Fähigkeit begeistert waren, die von Mohammed vermittelten Werte darzulegen und zu vertreten. Bei Uthmans Wahl war Ali übergangen worden. Doch nun, da seine Zeit endlich gekommen war, schien er vollkommen unfähig, die islamische Welt wieder in ihren ursprünglichen Zustand der Reinheit zurückzuversetzen, der die goldenen Anfangszeiten in den 630er und 640er Jahren geprägt hatte. Obwohl Ali Uthmans gewaltsamen Tod nicht gutgeheißen hatte, konnte er die Wogen nicht glätten und wurde schnell zu einer polarisierenden Figur. Die Einheit der umma zerbrach, und es kam zu einem Bürgerkrieg, der als die Erste Fitna bezeichnet wird. In den nur viereinhalb Jahren seines Kalifats wurde Ali in einen unablässigen Kampf gegen die aufgebrachten Anhänger Uthmans hineingezogen, zu deren Anführern so angesehene Muslime wie Mohammeds Witwe Aisha gehörten (die in einem Fall sogar persönlich Truppen in die Schlacht führte)* und

* Die nach Aishas Reittier benannte Kamelschlacht fand im November 656 in der Nähe von Basra im heutigen Irak statt.

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der weltlich gesinnte, kampferprobte Statthalter von Syrien, Muawiya. Viele Schlachtfelder dieses Krieges befanden sich im Irak, daher musste Ali den Hauptsitz des Kalifats von Medina nach Kufa verlegen, eine ­Garnisonsstadt am Ufer des Euphrat (im heutigen Irak). In der Großen Moschee der Stadt wurde Ali in den letzten Januartagen des Jahres 661 ­ermordet. Ein Mitglied einer radikalen fundamentalistischen Sekte, der Charidschiten, die der Ansicht waren, Ali sei zu viele Kompromisse eingegangen, stürmte in die Moschee und erstach Ali mit der mit Gift versetzten Klinge eines Schwertes. Später kursierten Geschichten, Ali habe seinen eigenen Tod prophezeit oder von einem Gefährten von einer derartigen Prophezeiung erfahren. Die Auswirkungen, die seine Ermordung über ein Jahrtausend später auf die Weltgeschichte haben würde, dürfte jedoch niemand vorherge­ sehen haben. In den chaotischen Monaten nach Alis Tod bekämpfte ­Muawiya die Truppen des Ermordeten und brachte ihren Vormarsch zum Stillstand. Außerdem setzte er Alis älteren Sohn Hasan  – einen Enkel Mohammeds – unter Druck, bis er im Austausch für seinen Anspruch auf den Kalifentitel eine große Summe Gold akzeptierte. Nachdem Hasan auf die Macht verzichtet hatte, verlangte Muawiya im Sommer 661 einen Loyalitätseid von den führenden regionalen Kommandanten der islamischen Welt, die er an den heiligen Stätten von Jerusalem empfing. Nun war er Kalif – der erste Herrscher einer Dynastie, die von der Geschichtsschreibung als die Umayyaden bezeichnet wird, nach seinem (und vor ihm Uthmans) Clan, den Banu Umayya. Mit Muawiyas Aufstieg vom Statthalter im islamischen Syrien zum Kommandanten aller muslimischen Gläubigen ging das Zeitalter der Rechtgeleiteten Kalifen zu Ende, und die Herrschaft der Umayyaden begann. Obwohl die Umayyaden nur ein knappes Jahrhundert an der Macht blieben, war ihre Herrschaft voller Aufregung und Umbrüche. Die Hauptstadt der islamischen Welt wurde von Medina nach Damaskus verlegt, während sich die Grenzen des dār al-Islām weit in den barbarischen Westen, bis nach Südfrankreich, erstreckten. Und in diesem immer weiter ­expandierenden Reich fand nichts Geringeres als eine kulturelle Revolution statt. Das Arabische und der Islam durchdrangen die Gesellschaften, auf die die Muslime Anspruch erhoben, gleichzeitig wurde das Kalifat

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weltlicher und weniger theokratisch. Die Umayyaden waren die Herrscher, die die arabischen Eroberungen auf Dauer festigten und aus einer Reihe von eroberten Staaten ein richtiges Reich schufen. Doch gleichzeitig brachen unter ihrer Herrschaft Spaltungen auf, die die islamische Welt auseinanderrissen. Die Ursache dafür lag darin, dass der Aufstieg der Umayyaden und die anschließende Konsolidierung ihrer Macht tiefe Risse im Gefüge der umma hinterließen. Alis Anhänger konnten und wollten seine Ermordung nicht hinnehmen, und während Muawiyas Regierung hetzten die «Aliden» gegen das in ihren Augen illegitime Regime. Am Ende von Muawiyas Herrschaft kam es zur Zweiten Fitna. Dieses Mal stritten Muawiyas Sohn und designierter Nachfolger Yazid und Alis überlebender jüngerer Sohn Husain um die Macht. Als Muawiya seine Absicht ­bekanntgab, das Kalifat an seinen Sohn zu übergeben, weigerte sich ­Husain, den Treueeid zu leisten. Er begab sich auf einen langen Protestmarsch, von Arabien Richtung Irak, wurde jedoch bei einem Gefecht in der Wüste getötet, anschließend wurde er enthauptet und sein Kopf als Trophäe nach Damaskus gesandt. Wieder einmal hatten die Umayyaden triumphiert. Das blutige Schauspiel sicherte zwar das Überleben der Umayyaden, zementierte jedoch auch eine Spaltung im Islam, die seit über tausenddreihundert Jahren besteht. Die Sekten und Fraktionen, die während der Ersten und Zweiten Fitna entstanden, bilden die Grundlage für die heutige Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten.* Die schiitischen Muslime weigerten sich, die Legitimation des Umayyaden-Kalifats und sogar die

* Die sunnitischen Muslime betrachten Ali als den vierten und letzten Rechtgelei­ teten Kalifen. Doch für die Schiiten ist er ein Mann, der in der Geschichte des Glaubens noch eine viel größere Bedeutung hat  – und gleich an zweiter Stelle nach ­Mohammed kommt. Laut dieser Interpretation der frühen islamischen Geschichte hätte Ali der direkte Nachfolger des Propheten sein müssen; die Herrschaft Abu Bakrs, Umars und Uthmans gelten als illegitim. Ali ist der erste Nachfolger aus ­Mohammeds unmittelbarer Familie, bekannt als der erste Imam. (Darüber hinaus betrachten fast alle Mitglieder der mystischen Sufi-Orden Ali als ihren Gründungsvater.)

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Legitimation der Herrschaft Abu Bakrs, Umars und Uthmans anzuerkennen. Stattdessen beharrten sie darauf, dass Ali der rechtmäßige Nachfolger Mohammeds sei: der erste Imam. Das wiederum bedeutete eine alternative Nachfolge mit Hasan und Husain und dann eine Reihe weiterer Imame, die von Mohammed abstammten. Bei diesem Disput ging es nicht nur um dynastische Fragen. Der schiitische Rahmen der islamischen Geschichte sah ein deutlich anderes Modell für die Organisation der umma vor und hatte auch andere Wertvorstellungen für einen Anführer. Die Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten sollte sich im späteren Mittelalter noch als sehr bedeutsam erweisen, vor allem zur Zeit der Kreuzzüge (wie wir noch sehen werden). Doch sie hat sich noch viel länger gehalten. Seit dem 20. Jahrhundert beeinflusst ein wiederbelebtes, ­giftiges Sektierertum, das sich zum Teil an den sunnitisch-schiitischen Trennlinien orientiert, die globale Geopolitik. Es spielte eine wichtige Rolle im Iran-Irak-Krieg, in den von den USA geführten Golfkriegen und im seit Langem bestehenden «islamischen Kalten Krieg», in dem SaudiArabien und der Iran seit 1979 um die regionale Vorherrschaft im Mittleren Osten kämpfen, sowie in weiteren schmerzlichen und fatalen Konflikten in Pakistan, Iran und Syrien.* Dass das alles auf das Handeln einiger mächtiger Männer im 7. Jahrhundert zurückgeht, mag auf den ersten Blick erstaunen – doch wie so oft bleibt uns das Mittelalter bis heute erhalten.

* Einige bekannte Journalisten der jüngsten Zeit deuten die Politik der USA im Mittleren Osten seit 2008 als ausdrücklich gegen die Schiiten gerichtet und als Ausweitung des tief sitzenden Misstrauens gegenüber dem Iran in der US-Regierung. Siehe zum Beispiel Seymour Hersh, «The Redirection», in: The New Yorker (Februar 2007); Vali Nasr, «The War for Islam», in: Foreign Policy ( Januar 2016); Erasmus, «Why Trump ’s pro-Sunni tilt worries human-rights campaigners», in: The Economist (Mai 2017).

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Die Umayyaden 691 wurde auf einem Felsplateau in Jerusalem, auf dem sich Jahrhunderte zuvor der Tempel des Herodes befunden hatte, ein außergewöhnliches Gebäude errichtet. Der berühmte Tempel war nach einer Belagerung im Jahr 70  n. Chr. dem Erdboden gleichgemacht worden. Damals war der römische Feldherr (und spätere Kaiser) Titus nach Jerusalem gekommen, um einen jüdischen Aufstand niederzuschlagen. Bei den heftigen Kämpfen waren Brände gelegt worden, denen die gesamte Stadt zum Opfer fiel. Der Verlust des Tempels war für die jüdische Bevölkerung eine nahezu apokalyptische Katastrophe; seine Zerstörung hatte dem jüdischen Aufstand das Genick gebrochen, das jüdische Volk im gesamten Nahen Osten zerstreut und in seinem kulturellen Gedächtnis eine tiefe Narbe hinterlassen. Der Tempel wurde nie wiederaufgebaut. Zu Beginn des Mittelalters war nur noch die riesige Plattform vorhanden, mit der Altstadt auf der einen Seite und dem Ölberg auf der anderen. In einer ­jüdischen Prophezeiung heißt es, dass eines Tages, wenn ein neuer Messias auf die Erde kommt und das Ende aller Tage erreicht ist, ein Dritter Tempel errichtet werden wird. Doch im 7. Jahrhundert schien das Ende aller Tage noch in weiter Ferne. Jerusalem stand unter der Herrschaft der Umayyaden, die ihr eigenes spektakuläres Bauwerk auf dem Tempelberg hinterlassen sollten. Sie bauten dort den Felsendom. Der Felsendom war – und ist bis heute – ein schöner, eleganter, achteckiger Schrein, der sich den Tempelberg (Muslimen als das «edle Heiligtum» oder al-haram asch-scharif bekannt) mit zwei anderen Bauwerken der Umayyaden teilt: der großen rechteckigen al-Aqsa-Moschee (al-masdschid al-aqsa) und einem kleineren Gebetshaus, dem Kettendom. Der Felsendom ist das faszinierendste dieser drei Bauwerke und genießt heute Kultstatus – ein Symbol für die supranationale arabische Brüderlichkeit, das auf Souvenirs, billigem Schnickschnack, Postkarten und Postern in der gesamten muslimischen Welt und darüber hinaus zu sehen ist. Er hat ­einen genauso hohen Wiedererkennungswert wie die Freiheitsstatue oder der Eiffelturm. Die vergoldete halbrunde Kuppel auf dem Dom misst an ihrem höchsten Punkt 25 Meter, glänzt im Sonnenlicht und ist schon aus

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vielen Kilometern Entfernung zu sehen, wenn sich Reisende auf der Straße durch die Judäischen Hügel Jerusalem nähern.31 Der gelbe Kalkstein im Innern, für den der Schrein erbaut wurde, wird mittlerweile als der Stein verehrt, von dem aus Mohammed 621 in den Himmel aufstieg, um in Begleitung des Engels Gabriel durchs Paradies zu reisen. Fromme Mosaikinschriften und Koranzitate in Kufi*, der arabischen Schrift, die im 7. Jahrhundert gängig war, ziehen sich auf einer Gesamtlänge von 240  Metern durch das Innere des Doms. Doch es gibt auch deutliche künstlerische Einflüsse aus Byzanz in den Mosaikarbeiten und Dekora­ tionsmotiven, die den Dom schmücken, dazu in einer Inschrift einen Verweis auf «Jesus, Sohn Marias», der respektvoll genannt wird, allerdings mit der Ermahnung, dass er nicht als Sohn Gottes betrachtet werden solle. Der Dom wird irrtümlich oft für eine Moschee gehalten. Aber er ist keine. Doch er ist auf jeden Fall ein seltsames und mysteriöses Gebäude, in dem es zahlreiche Verweise auf die vielfältigen und miteinander konkurrierenden kulturellen Strömungen im Jerusalem des 7. Jahrhunderts gibt. Fast alles, was wir heute beim Blick auf den Felsendom sehen, ist eine Kombination aus osmanischem Dekor des 16. Jahrhunderts und Restaurierungsarbeiten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch­ geführt wurden, doch die Substanz ist immer noch die, die vom Umayyaden­ kalifen Abd al-Malik in den 690er Jahren in Auftrag gegeben wurde.32 Die Kosten für den Bau des Schreins beliefen sich, so hieß es, auf die siebenfachen Jahreseinkünfte der Provinz Ägypten. Doch hier ging es nicht um haltlose Verschwendung. Die enormen Kosten für ein so monumentales Bauprojekt, die Sorgfalt und Handwerkskunst bei seiner Ausgestaltung und auch der Impuls, es überhaupt zu errichten, sagen viel über das Umayyaden-Kalifat aus und erzählen von neunzig entscheidenden Jahren, in denen sich der dār al-Islām von einer Militärmaschinerie zu einem mittelalterlichen Reich wandelte, das Elemente der Kulturen, mit denen es in Berührung kam, in sich aufnahm, aber trotzdem eigenständig blieb.

* Benannt nach der bereits erwähnten Garnisonsstadt Kufa im Irak.

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Nachdem die Erste Fitna mit einem Triumph Mohammeds geendet hatte, verlagerte sich der Dreh- und Angelpunkt des Kalifats von den heiligen Städten Medina und Mekka nach Damaskus, der Hauptstadt des muslimisch regierten Syriens. Diese Verlagerung stand auch für einen wichtigen Mentalitätswandel. Unter den Rechtgeleiteten Kalifen war der oberste Führer der umma per Definition nicht nur ein politischer und ­militärischer Befehlshaber, sondern auch ein spiritueller Anführer, der im historischen Kernland des Islam fest verwurzelt war. Doch nachdem die Umayyaden-Herrscher Arabien verlassen hatten, waren die beiden Rollen nicht mehr so leicht zu vereinen. Dem Kalifen wurde nicht urplötzlich seine religiöse Stellung genommen – doch im Gegensatz zu früher wirkte er nun mehr wie ein römischer Imperator. Diesen Prozess muss man sich als eine Art Osmose vorstellen. In Syrien grenzte das Territorium der Umayyaden direkt an das Byzantinische Reich. Als sich die Umayyaden-Kalifen in unmittelbarer Nachbarschaft zum ­alten römischen Staat niederließen, nahm ihre Herrschaft einiges von ­einem religiösen Imperium römischer Prägung an. Dieser Prozess verlief jedoch nicht friedlich. Die Umayyaden waren so darauf erpicht, Byzanz nachzuahmen, dass sie in den 660er und 710er Jahren wiederholt versuchten, den alten römischen Staat komplett zu schlucken. Die Folge war ein weiträumiger Krieg im Nahen Osten und südlichen Mittelmeerraum, der über ein Jahrhundert anhielt. Die beiden Großmächte gerieten auch häufig in Nordafrika aneinander, da die arabisch geführten Armeen Richtung Maghreb (heute Algerien und Marokko) drängten. Und es kam auch zu einer Reihe von Schlachten auf hoher See vor der Küste Kleinasiens, die mit zwei spektakulären Belagerungen Konstantinopels einen blutigen Höhepunkt erreichten. Die Schlachten waren für die damalige Welt nichts anderes als ein Krieg, denn die Umayyaden strebten danach, die prächtigste Stadt der westlichen Hemisphäre und das pulsierende Herz des ­Byzantinischen Reiches für den Islam zu erobern. Der Ausgang dieser Auseinandersetzungen sollte die Geopolitik in ganz Osteuropa und auf dem Balkan über Jahrhunderte prägen. Muawiya holte zu Beginn der 670er Jahre zum ersten direkten Schlag gegen Konstantinopel aus. Zwanzig Jahre nach der Schlacht von Phoinix war der zum Kalifen aufgestiegene Feldherr wild entschlossen zu beweisen,

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dass es die arabischen Schiffe mit den wegen ihrer Wendigkeit und Gefährlichkeit berüchtigten griechischen Schiffen aufnehmen konnten. Und so entsandte er Jahr für Jahr Schiffe, oft mit christlicher Besatzung unter muslimischen Kommandanten, um Inseln und Hafenstädte in der Ägäis anzugreifen, die Seewege rund um die byzantinische Hauptstadt unsicher zu machen und eine Kommandozentrale in Kyzikos zu errichten, einer Hafenstadt in Kleinasien, die direkt gegenüber von Konstantinopel lag. Laut dem griechischen Chronisten Theophanes nutzten die Muslime diesen Stützpunkt, um «jeden Tag von morgens bis abends militärische Gefechte zu führen» und die byzantinische Verteidigung Stück für Stück zu schwächen.33 Im Herbst 677 kam es schließlich zu einem massiven Angriff. Es war ein monumentaler, erbitterter Zusammenstoß. Das Byzantinische Reich war vielleicht nur noch ein Schatten des einst unbezwingbaren römischen Staates, verfügte jedoch in den 670er Jahren über eine Geheimwaffe. Militärtechniker im Dienst Kaiser Konstantins  IV . (reg. 654–685) hatten ­unter der Leitung eines Wissenschaftlers aus Südsyrien, eines gewissen Kallinikos, eine tödliche Waffe entwickelt, eine leicht entzündliche, gallertartige Flüssigkeit, die als Seefeuer, Römisches Feuer oder heutzutage vor allem als Griechisches Feuer bekannt ist.34 Wenn diese hoch brennbare Flüssigkeit unter Druck aus den Düsen am Bug der speziell ausge­ rüsteten byzantinischen Feuerschiffe wie bei einem Flammenwerfer versprüht wurde, verwandelte sie alles, an dem sie haften blieb, in einen öligen Feuerball. Das Griechische Feuer brannte in der Luft, und es brannte auf dem Wasser. Es konnte nur gelöscht werden, indem man es mit Sand erstickte oder mit Essig auflöste. Im Verlauf eines einzigen Gefechts konnte es ganze Flotten vernichten. Das Griechische Feuer war ein bahnbrechendes Waffensystem, das über den Ausgang einer Schlacht bestimmte. Die Zusammensetzung war Staatsgeheimnis und wurde vom Byzantinischen Reich fast fünfhundert Jahre lang gehütet; tatsächlich gelang das so gut, dass das Wissen um seine Herstellung und Handhabung mit dem Byzantinischen Reich unterging. Zuvor war es jedoch berüchtigt als eine der am meisten gefürchteten Waffen der mittelalterlichen Kriegsführung, vergleichbar mit dem Giftgas im Ersten Weltkrieg, den Napalmbomben im Vietnamkrieg oder aktueller den Phosphorbomben, die im syrischen Bürgerkrieg gegen Zivilisten eingesetzt wurden.

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Die Bewährungsprobe für das Griechische Feuer kam im Krieg gegen die Umayyaden. 678 setzte der byzantinische Kaiser das Griechische Feuer gegen muslimische Schiffe ein, woraufhin sie mit rauchenden Masten und brennenden Segeln den Rückzug antreten mussten. Kaum war die arabische Flotte auseinandergetrieben worden, geriet sie vor der Küste Kleinasiens in einen starken Sturm, der zahlreiche Schiffe zertrümmerte. Bis zu dreißigtausend Mann ertranken. Die Flotte wurde «in Stücke zerlegt und ging völlig unter», wie Theophanes schrieb.35 Ein Triumph für Byzanz, ein Wendepunkt in der Geschichte des Krieges und eine massive Demütigung für die Muslime. Die Zweite Fitna von 680 bis 692 unterbrach das Kräftemessen der Umayyaden mit Byzanz, allerdings nur vorübergehend. Eine Generation später unternahm Kalif Sulaiman 717 einen erneuten Versuch, Konstantinopel als Trophäe für die Muslime zu erobern. Ermutigt von politischen Unruhen und Umsturzversuchen im Byzantinischen Reich, schickte Sulaiman ein Heer in Richtung der massiven, zum Landesinneren gerichteten Mauern der Stadt, während gleichzeitig eine neu aufgebaute muslimische Flotte ihr Glück und ihr Geschick auf dem Wasser versuchte. In den Berichten über die zweite Belagerung Konstantinopels ist von einer noch dramatischeren Situation als bei der ersten Belagerung die Rede. An Land wurde die arabische Armee von Krankheiten und Hunger geplagt. Theophanes behauptet: «Sie aßen sämtliche toten Tiere, vor allem Pferde, Esel und Kamele. Es heißt, dass sie sogar tote Männer in ihren Öfen garten und aßen und sogar ihren eigenen vergorenen Dung.»36 Das ist vermutlich eher dichterische Freiheit als faktenorientierte Berichterstattung. Dennoch waren die Bedingungen einfach furchtbar. Und während zu Land der Hunger grassierte, wütete auf dem Wasser wieder das Griechische Feuer. «Ein Schwall von Feuer fiel auf [die arabischen Schiffe] und brachte das Wasser zum Kochen, und als sich das Pech zwischen den Planken am Kiel ihrer Schiffe auflöste, versanken sie in der Tiefe mitsamt den Mannschaften und allem anderen», schrieb Theophanes.37 Wieder war die byzantinische Hauptstadt der Eroberung entgangen. Und wieder einmal waren die Umayyaden einem Sieg erschreckend nahegekommen – und erneut vor den Toren Konstantinopels gescheitert. Anstatt den Kalifen auf den dortigen Thron zu bringen, half die Belage-

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rung von 717/718 nur einem intriganten byzantinischen General, Leo dem Isaurier, den amtierenden Kaiser Theodosius  III . abzusetzen und die Macht für sich zu beanspruchen. Die Niederlage machte die Ambitionen der Umayyaden in Kleinasien dauerhaft zunichte. Rückblickend sehen viele Historiker in der fehlgeschlagenen zweiten Belagerung Konstanti­ nopels einen Wendepunkt in der Geschichte des Abendlands: Der Vormarsch der ersten islamischen Armeen Richtung Balkan wurde gestoppt. Konstantinopel blieb bis zum Ende des Mittelalters in christlicher Hand, und der Islam drang erst mit den osmanischen Eroberungen im 15. und 16. Jahrhundert auf das ehemalige römische Reichsgebiet in Osteuropa vor.* Die uralte Frage «Was wäre wenn …?» führt uns in den Bereich der kontrafaktischen Geschichte mit einer alternativen Realität, in der Minarette und nicht Kirchtürme den Horizont im mittelalterlichen Europa ­dominiert hätten. Man nimmt üblicherweise an, dass die Ereignisse von 717/718 eine derartige Entwicklung verhinderten. Ob das tatsächlich so war oder nicht, lässt sich unmöglich sagen – unumstritten ist hingegen, dass das umayyadische Kalifat und der muslimische Nahe Osten von den beiden gescheiterten Belagerungen Konstantinopels 677 bis 678 und 717 bis 718 entscheidend geprägt wurden. Anstatt bis zur Küste Kleinasiens und zum Balkan vorzudringen, entwickelte sich der Islam unter den umayyadischen Kalifen des späten 7. und frühen 8. Jahrhunderts in östlicher und südwestlicher Richtung w ­ eiter und bildete zahlreiche Verästelungen. Nach der Eroberung Per­ siens erreichten die muslimischen Armeen schließlich das heutige Pakistan, ­Afghanistan und «Transoxanien» (die zentralasiatischen Stan-Staaten Usbekistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Kirgisistan). Sie marschierten auch durch Nordafrika und überrannten 698 schließlich das byzan­ tinische Karthago, was den Todesstoß für die byzantinische Herrschaft in der Region bedeutete. Dann stießen sie weiter durch Algerien ins heutige Marokko vor  – zur Westküste des afrikanischen Kontinents. 711 überquerten sie die Straße von Gibraltar und begannen mit der Eroberung der

* Siehe Kapitel 15.

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Iberischen Halbinsel. Mit der Ankunft des Islam entstand ein Gebiet, das über Jahrhunderte als al-Andalus bekannt war. Laut al-Tabari hatte der ermordete Kalif Uthman einst behauptet, die einzige Möglichkeit zur Einnahme von Byzanz bestehe darin, zuerst die Kontrolle über Spanien zu gewinnen.38 Doch es ist eher unwahrscheinlich, dass der umayyadischen Invasion von 711 eine so weitreichende Strategie zugrunde lag. Viel plausibler ist, dass Südeuropa mit seinem ge­ mäßigten Klima und fruchtbaren Böden den Muslimen, nachdem sie sich ihren Weg durch Nordafrika gebahnt hatten, deutlich vielversprechender für ihre weitere Expansion schien als die unbarmherzige Weite der Sahara. Und zweifellos war das auch die einfachere Aufgabe. Die alte römische Provinz Hispania stand unter der Herrschaft der Westgoten, die trotz ­ihrer Erfolge zur Zeit der Völkerwanderung nicht den Sprung zu einer bedeutenden regionalen Macht geschafft hatten. Die Einwohner Marokkos segelten seit Generationen über die Straße von Gibraltar und führten Beutezüge auf westgotischem Territorium durch; daher gab es allen Grund zu der Annahme, dass die umayyadische Kriegsmaschine, verstärkt durch marokkanische Truppen, denselben Weg einschlagen würde. Am Ende folgte sie tatsächlich diesem Weg, allerdings in einem rasanten Ritt von atemberaubendem Tempo. Unter der energischen Führung von Musa ibn Nusayr vertrieben die Truppen der Umayyaden die Westgoten in nur drei Jahren aus Spanien. In einem dramatischen Bericht, der in der sogenannten Mozarabischen* Chronik überliefert wurde, wird geschildert, wie Musa «schöne Städte mit loderndem Feuer vernichtete und die älteren Generationen kreuzigen ließ, während er die Jüngeren und die Kinder mit Dolchen abschlachtete».39 In der Schlacht am Río Guadalete 711 wurde der westgotische König Roderich getötet, sein Königreich stand

* Die Mozaraber waren die Christen, die im Mittelalter unter muslimischer Herrschaft in Südspanien lebten und viele arabische Bräuche übernahmen, darunter auch die arabische Sprache. Sie konvertierten nicht zum Islam, sondern bezahlten stattdessen die Dschizya und verehrten Gott weiterhin durch Jesus Christus, wenn auch mit einer eigenen iberischen Liturgie, die mitunter das Missfallen der römischen Päpste weckte.

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damit den Invasoren offen. «Selbst wenn alle Gliedmaßen in Zungen verwandelt würden, wird der Mensch niemals in der Lage sein, den gesamten Ruin Spaniens und all die großen Untaten zu erzählen, die das Land heimsuchten», wurde in der Mozarabischen Chronik geklagt.40 714 übernahm der letzte Westgotenkönig Ardo die Macht im kläglichen Rest des Reiches, das auf einen schmalen Streifen zwischen Béziers (im heutigen Frankreich) und Barcelona geschrumpft war. Er konnte sich dort etwa sieben Jahre lang halten, doch mit seinem Tod um 720/721 waren die Westgoten Geschichte. Die Frage, ob dieser rapide Niedergang einer Macht, die dreihundert Jahre lang bestanden hatte, auf der brüchigen Herrschaft der Westgoten oder der schieren Unbesiegbarkeit der angreifenden Muslime basierte, ist müßige Spekulation und angesichts der dürftigen Quellenlage im 8. Jahrhundert auch nicht leicht zu beantworten. Doch die Westgoten waren bei Weitem nicht die Einzigen, deren Regime angesichts der arabischen Schwerter in sich zusammenfiel, allerdings markierte ihr Rückzug eine Zeitenwende in der Geschichte der Iberischen Halbinsel. In den 720er Jahren herrschten die Umayyaden über die größte Ansammlung an Gebieten seit dem Zusammenbruch des Römischen Imperiums im 5. Jahrhundert. Und sie machten sich umgehend an die Umgestaltung ihres neu eroberten Reiches. Die wichtigsten Instrumente waren dabei die Sprache und die Architektur. Und die beiden einflussreichsten Figuren waren die Umayyaden-Kalifen Abd al-Malik (685–705) und sein Sohn al-Walid (705–715). Abd al-Malik wurde während der Zweiten Fitna Kalif, als sich Provinzen in der gesamten muslimischen Welt in einer offenen Revolte befanden. Seine erste Aufgabe bestand daher darin, die Einheit und Stabilität der Umayyaden-Herrschaft in der immer noch expandierenden ­islamischen Welt wiederherzustellen. Dazu zentralisierte und «imperialisierte» er seine Autorität und ernannte mächtige Provinzstatthalter, die seinem Hof in Damaskus direkt zur Rechenschaft verpflichtet waren. Zu diesen Statthaltern gehörten auch der überaus fähige al-Haddschādsch ibn Yusuf, der maßgeblich daran beteiligt war, die Autorität der Umayyaden im Irak zu wahren, und al-Maliks Bruder Abd al-Aziz, der Ägypten von Fustat aus mit ruhiger Hand regierte. Zusätzlich zu diesen klugen

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­ egelungen griff al-Malik auf revolutionäre Maßnahmen zurück, um der R Bevölkerung in seinem Herrschaftsbereich die Realität seiner Macht im Alltag vor ­Augen zu führen, und zwar nicht nur den muslimischen Gläubigen, sondern auch den Nichtmuslimen. Eine wichtige Reform al-Maliks war die Einführung eines islamischen Münzgeldes. Als die ersten Muslime von Arabien aus loszogen, haten sie darauf geachtet, das Handels- und Währungssystem der von ihnen eroberten Länder zu bewahren.41 Doch in den 690er Jahren hatten sich die Dinge geändert. Al-Malik wies die Münzstätten in seinen ehemals byzantinischen und persischen Provinzen an, eine Reihe von Münzen zu prägen, die unverkennbar von der Natur des neuen Umayyaden-Reiches kündeten. Anstelle des goldenen byzantinischen solidus – der seit Konstantin dem Großen die gängige Währung im gesamten Mittelmeerraum war  – brachten die von den Umayyaden kontrollierten Münzstätten nun eine Münze heraus, die dinar genannt wurde. Die ersten Dinare zeigten einen Kalifen in quasi kaiserlicher Pracht – ein deutlicher Hinweis, dass ­al-Malik den Kaiser in Konstantinopel übertrumpfen wollte. 697 wurde diese Darstellung – die nicht gut zu Mohammeds Äußerungen über Götzenbilder passte  – aufgegeben, die neu geprägten Dinare trugen Verse aus dem Koran und andere Gott verherrlichende Äußerungen in kufischer Schrift, die den Namen Allahs und seine Gnade und sein Mitgefühl priesen.42 Münzen dienten schon immer nicht nur dem Handel, sondern auch der politischen Propaganda, da bildete die umayyadische Münzreform keine Ausnahme. In der gesamten muslimischen Welt wurden die alten Goldmünzen auch mithilfe von Drohungen nach Damaskus zurück­ gerufen und in Dinare umgetauscht. Ihre Botschaft war rein und fromm und deckte sich mit der im Koran verkündeten Haltung, die sich auch auf die Numismatik anwenden ließ: «Und gib volles Maß, wenn du misst, und wiege mit gleichem Gewicht.»43 Zur gleichen Zeit, wenn auch nicht ganz so eilig, wurden Silber- und Kupfermünzen (Dirham) umgestaltet, umgeprägt und wieder in Umlauf gebracht. Silbermünzen wurden in der gesamten muslimischen Welt geschlagen, während Gold von Damaskus streng überwacht wurde. Die Dirham entsprachen daher oft dem Gewicht und der Form der Münzen, die bisher in den Regionen im Umlauf waren. Die grundlegende Umgestaltung ihres Aussehens blieb jedoch bei allen

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Münzen gleich. Die Porträts alter, ungläubiger Herrscher wurden getilgt. An ihre Stelle traten prägnante fromme Botschaften, die in Arabisch von Mohammeds Offenbarungen kündeten und bald täglich durch die Hände der Händler und Marktbesucher gingen, vom Ufer des Flusses Tagus (Tajo) in Spanien bis zum Indus im tiefsten Asien. Dieser Umbruch fand nicht in einem Vakuum statt. Als der Kalif ­al-Malik die islamischen Münzen einführte, war die Sprache, die seine Münzen zierte, selbst den Gebildeten, die sie als Zahlungsmittel verwen­ deten, größtenteils unbekannt. Wie bereits festgestellt, ließen die ersten ­Kalifen die Münzsysteme in den eroberten Gebieten unverändert und verzichteten darauf, der breiten Bevölkerung den Islam aufzuzwingen. Die Muslime hatten es damals vorgezogen, die Ungläubigen zu besteuern und ihre Kolonisten separat in neu gegründeten Garnisonsstädten unterzubringen. Das hatte zur Folge, dass die umma in der damals bekannten Welt zwar weitverbreitet, aber nicht tief verwurzelt war. Al-Malik wollte das ändern. Und dazu nutzte er – in altehrwürdiger Tradition – die Mittelschicht. Um das Jahr 700 verfügte al-Malik, dass alle, die im Herrschaftsgebiet der Umayyaden ein Amt bekleideten, nur noch eine Sprache verwenden durften: Arabisch. Unter den Nicht-Arabern, die die große Mehrheit der Bevölkerung im Kalifat stellten, waren Griechisch und Persisch die gängigsten Sprachen. Al-Malik verbot den Menschen nicht, in der von ihnen bevorzugten Sprache zu sprechen – doch er verfügte, dass sie damit aufhören mussten, wenn sie für ihn arbeiteten. Mit einem Mal standen Christen, Juden und Zoroastrier, die als Schreiber, mittlere Führungskräfte und Verwaltungsbeamte eine einträgliche Beschäftigung hatten, vor einer schweren Entscheidung. Wenn sie nicht schnell Arabisch lernten oder es nicht schon beherrschten, verloren sie ihre Stellung. Diese einfache administrative Maßnahme war für die Geschichte der islamischen Welt von entscheidender kultureller Bedeutung – sie gewährleistete, dass es auf Dauer eine islamische Welt geben würde und nicht nur einen kurzlebigen Zusammenschluss ehemaliger römischer und persischer Gebiete, die von einer kleinen monotheistischen Elite regiert wurden. Wie wir bereits in Kapitel 1 feststellten, war das Römische Reich in all seiner Pracht und Größe über Millionen Quadratkilometer auch dadurch verbunden, dass Latein als gemeinsame Sprache im kulturellen Dis-

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kurs und für die grundlegende Kommunikation gedient hatte. Al-Malik schuf nun die gleichen Voraussetzungen für das Arabische. Indem er die Verwendung als universale Sprache im gesamten Kalifat vorschrieb, machte er Arabisch zu einer globalen Sprache, die für sämtliche Aufzeichnungen sowie in Wissenschaft und Lehre verwendet wurde. Arabisch wurde wie Latein und Griechisch zur lingua franca mit einem vergleich­ baren Einfluss. Damit war es für Gelehrte genauso nützlich wie für Beamte. Im Mittelalter sammelten arabische Gelehrte Hunderttausende Texte aus der gesamten klassischen Welt, übersetzten sie und bewahrten sie so für spätere Generationen. Die arabischsprachige islamische Welt übernahm die Position der griechischen und lateinischen Welt als die damals fortschrittlichste intellektuelle und wissenschaftliche Gesellschaft. Ohne al-Maliks Beschluss in den 690er Jahren, Arabisch als Amtssprache im Umayyaden-Kalifat durchzusetzen, wäre das nicht möglich gewesen. Aber das war noch nicht alles. Arabisch war deutlich mehr als nur die Sprache der Bürokratie und Gelehrsamkeit. Im Gegensatz zum Lateinischen, um nur ein Beispiel zu nennen, war Arabisch die Sprache, in der Gott selbst gesprochen hatte. Der Koran war Mohammed auf Arabisch offenbart worden; er wurde in Arabisch schriftlich festgehalten; die ersten Muslime waren Araber und damit per Definition auch arabischsprachig; der Ruf zum Gebet (adhan), der von den Moscheen erklang, seit er nach der Eroberung Mekkas durch Mohammed im Jahr 630 von der Kaaba ertönt war, erfolgte in singendem, musikalischem Arabisch. Es war unmöglich, sich den Islam ohne die Sprache der ersten Gläubigen vorzustellen, und nachdem die Sprache verpflichtend für alle geworden war, die mit dem Staat interagieren wollten, ließ die Religion nicht lange auf sich warten. Ab dem frühen 8. Jahrhundert folgte in den von Muslimen beherrschten Gebieten auf die Arabisierung allmählich die Konversion – eine Veränderung, die auch im 21. Jahrhundert noch in fast jedem Teil des ehemaligen mittelalterlichen Kalifats zu sehen, zu spüren und zu hören ist.*

*

Eine bemerkenswerte Ausnahme ist der Iran, wo sich das Persische als deutlich hartnäckiger erwies, als al-Malik und seine Nachfolger gedacht hatten. Obwohl der Iran im Frühmittelalter eine lange Phase des Übergangs zum Islam durchlief, hielten die

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705 starb al-Malik. Auf ihn folgte sein Sohn al-Walid, der eine mit neuen Gold-Dinaren gut gefüllte Schatzkammer vorfand. Die Zentralisierungsbemühungen seines Vaters hatten ein hocheffizientes Finanzsystem geschaffen, um Steuereinnahmen und die Beute aus neuen Eroberungen nach Damaskus zu leiten. Sicher, einen Großteil dieser Einnahmen verschlang der Unterhalt der großen stehenden Heere und Flotten, die die Grenzen des dār al-Islām weiter nach Osten und Westen schoben, sowie der Kampf gegen die byzantinischen Feuerschiffe in den stürmischen Gewässern des Mittelmeers. Doch selbst nach diesen enormen Ausgaben stand al-Walid noch ein ordentlicher Überschuss im Staatshaushalt zur Verfügung, den er dazu nutzte, die Politik seines Vaters weiterzuführen, den Islam im Geflecht der frühmittelalterlichen Welt zu verankern. ­Al-Malik hatte seinem Sohn den Weg gewiesen, als er in den 690er Jahren den Bau des Felsendoms in Jerusalem in Auftrag gab und als der erste ­Kalif imperiale Monumentalbauten mit einer unverwechselbaren islamischen Note erstellen ließ. Al-Walid griff die Idee auf und setzte sie um. Dabei schuf er außergewöhnliche Bauten, wie man sie seit zweitausend Jahren nicht mehr gesehen hatte – und viele von ihnen stehen auch heute noch, und zwar nicht nur als historische Überreste, sondern als lebendige, aktiv genutzte Gebäude für muslimische Gläubige, die dort Zwiesprache mit Gott, untereinander und mit ihrer mittelalterlichen Vergangenheit halten. Im Zentrum dieses epochalen Projekts standen drei Moscheen in den neben Mekka wichtigsten drei Städten des Umayyaden-Reichs: die Große Moschee von Damaskus, die al-Aqsa-Moschee in Jerusalem und die Prophetenmoschee in Medina, die umfassend renoviert, vergrößert und umgestaltet wurde, um die Gräber Mohammeds und der Kalifen Abu Bakr und Umar aufzunehmen. Diese drei riesigen Versammlungs- und Gotteshäuser künden auf unterschiedliche Weise von entscheidenden Phasen in

Iraner unbeirrbar an der persischen Sprache und Kultur fest und schufen so eine ganz neue Form eines nicht-arabischen Islam, der dessen Entwicklung in der Region stark beeinflusste, darunter auch im heutigen Afghanistan, Pakistan, Indien und in der Türkei.

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der Geschichte der muslimischen Expansion und präsentieren gleichzeitig den Reichtum und das imperiale Selbstverständnis der Umayyaden-Kalifen. Die im Jahr 706 erbaute Große Moschee von Damaskus ist heute das Gebäude von den dreien, das am wenigsten verändert wurde, und ihre ­Besucher können immer noch erkennen, wie sich der Grundriss, Verwendungszweck und einzigartige dekorative Stil der islamischen Bauten in den ersten Jahren des 8. Jahrhunderts entwickelten. Die Moschee wurde an einer Stelle errichtet, an der ursprünglich ein heidnischer Tempel für Hadad und dann für Jupiter und anschließend eine christliche Basilika für Johannes den Täufer gestanden hatten, die die Umayyaden kauften und abrissen. Die Moschee, die auf diesem heiligen Boden errichtet wurde, wies den ersten bekannten konkaven Mihrab auf – eine Gebetsnische in der Wand, die die Gebetsrichtung gen Mekka anzeigt, heute ein wesent­ licher Bestandteil jeder Moschee weltweit. Allerdings befindet sich dieser Mihrab in einem Gebäude, dessen schmückende Mosaiken noch stark an die großen Kirchen der Byzantiner erinnern. Menschen sind nicht abgebildet, doch man sieht viele kunstvolle Darstellungen von Häusern, Palästen, Andachtsstätten, Bäumen, Flüssen und Blättern, die zugleich auf die Erde und auf das Paradies verweisen und eine Stilrichtung der islamischen Kunst verkörpern, die deutliche Anleihen bei der damaligen christlichen Tradition machte.44 Das mag exotisch und fremdartig wirken, doch im Lauf der Jahrhunderte kamen noch viele andere große Moscheen hinzu, die lokale Stilrichtungen aufgriffen und mit einzigartig islamischen Elementen kombinierten: Die prächtigen Moscheen im spätmittelalterlichen Osmanischen Reich mit ihren zahlreichen kunstvollen Kuppeln erinnern an die Basi­ liken der christlich-orthodoxen Kirche; die aus rotem Sandstein erbaute imposante Badshahi-Moschee aus der Mogulzeit in Lahore, Pakistan, ­verbindet nahtlos indische und persische Baustile, und die ultramoderne Istiqlal-Moschee in Jakarta in Indonesien, die 1978 fertiggestellt wurde, kündet vom Neuen Formalismus in der Architektur, der in den USA so bekannte Gebäude wie das World Trade Center in New York City, das John F. Kennedy Center for the Performing Arts in Washington D. C. und The Forum in Los Angeles hervorbrachte. Das architektonische Selbst­ vertrauen, Moscheen zu errichten, die den einzigartigen und bewusst aus-

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schließenden Charakter des Islam zum Ausdruck bringen und gleichzeitig großzügig Einflüsse aus ihrem Umfeld einbeziehen, lässt sich direkt zum Zeitalter der Umayyaden zurückverfolgen und vor allem zum Kalifat ­al-Walids. Als al-Walid 715 starb, standen die Umayyaden auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Die Eroberung des westgotischen Reichs in Spanien war in vollem Gang. Große Gotteshäuser waren gebaut worden. Im gesamten ­islamischen Staat wurde ein umfangreiches Bauprogramm umgesetzt, der Kalif investierte in neue Straßen und Kanäle, Straßenbeleuchtung in den Städten und Bewässerungsgräben auf dem Land. Arabisch war als Sprache des Handels und der Verwaltung und auch als Sprache des Gebets etabliert worden. Damit war der Boden bereitet für die Expansion des ­Islam, die das Leben von Millionen Menschen in der gesamten mittelalterlichen Welt prägen sollte. Die ärgerliche Niederlage bei der ersten Bela­ gerung Konstantinopels lag in der rasch verblassenden Vergangenheit, die zweite Belagerung von 717 bis 718 in der unbekannten Zukunft. Zog man nun Bilanz, kam man auf eine gewaltige Leistung, deren Auswirkungen noch Jahrhunderte später zu spüren sein würden. Unter den Umayyaden selbst hatte sie jedoch nicht lange Bestand. Nur fünfunddreißig Jahre ­später wurde die Dynastie vernichtet, und die Grenzen der Expansion ­waren erreicht. Wir müssen uns also nun mit dem Ende der Umayyaden befassen, wenn wir die Geschichte der arabischen Eroberungen zu ihrem Schluss führen wollen.

Die schwarze Flagge wird gehisst 732, genau hundert Jahre nach Mohammeds Tod, drangen umayyadische Krieger über die Pyrenäen vor und fielen im Gebiet der Franken ein. In Aquitanien zerstörten sie Paläste und plünderten Kirchen. In einer Schlacht am Ufer des Flusses Garonne vernichteten sie eine fränkische Armee. Ihre Raubzüge waren brutal, sie «nahmen männliche und weibliche Sklaven und siebenhundert der schönsten Mädchen, außerdem Eunuchen, Pferde, Arzneien, Gold, Silber und Gefäße».45 Die Muslime, die über die Berge geprescht waren, hatten sich für einen

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langen Feldzug gewappnet. Ihr Anführer Abd al-Rahman hatte eine prächtige Basilika in der unmittelbaren Umgebung der Stadt Tours vor Augen, etwa 750 Kilometer tief in einem Gebiet gelegen, das von der fränkischen Dynastie der Merowinger regiert wurde. Die Basilika war nach einem vor langer Zeit verstorbenen christlichen Helden, dem Heiligen Martin benannt, dessen Grab sich dort befand. Zu seinen Lebzeiten im 4. Jahrhundert hatte Martin die römische Armee verlassen, um «Soldat Christi» zu werden, und anschließend Wunder vollbracht, indem er etwa Dämonen aus wild gewordenen Kühen austrieb oder das Hinterteil des Kaisers Valentinian in Brand setzte.46 Nun wurde sein Mantel als heilige Reliquie verehrt, sein Schrein war ein Ort der christlichen Anbetung, und in der Basilika befanden sich natürlich zahlreiche kostbare – und leicht zu transportierende – Beutegüter.47 Doch bevor Abd al-Rahman die Basilika erreichte, stieß er auf ein Problem. Ein Problem in Gestalt von Karl Martell. Martell war zwar nicht König, aber einer der mächtigsten Adligen im Frankenreich. Eines Tages sollte er sogar als Gründer der Dynastie der Karolinger gelten, die so namhafte Herrscher wie Pippin den Jüngeren und Karl den Großen hervorbrachte. Doch beim Vormarsch der Umayyaden 732 hatte Karl Martell das wichtige Amt des fränkischen Hausmeiers von Austrasien.* Sein Spitzname Martellus bedeutete «der Hammer». Er war in den Worten eines Beinahe-Zeitgenossen «ein trefflicher Krieger», der «Kühnheit als Ratgeber» wählte.48 Anlässlich der Schlacht – die an einem Sonntag im Oktober stattfand – hatte er eine starke Armee auf­ gestellt, die Tours verteidigen und die südlichen Gebiete der Franken vor einer Eroberung schützen sollte. Nachdem er vom Herzog von Aquitanien von den Verwüstungen durch die Araber erfahren hatte, stellte Karl Martell Abd al-Rahman an der Römerstraße zwischen Tours und Poitiers. Sieben Tage lang belauerten

* Das merowingische Franken (ein Gebiet, das in etwa dem römischen Gallien entsprach) war in drei Herrschaftsgebiete unterteilt: Neustrasien, Austrasien und ­Burgund; dazu kamen verschiedene andere Gebiete, die mit dem Königreich verbunden waren, darunter das Herzogtum Aquitanien. Mehr dazu in Kapitel 5.

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sich die beiden Armeen, es kam nur zu einzelnen Geplänkeln. Als schließlich die Schlacht losbrach, formierte Martell seine Fußtruppen zu einem Schildwall, der so unbeweglich und zerklüftet war wie ein Gletscher, wie es in den Quellen hieß, und ließ sie so antreten, dass sie «die Araber mit großen Schwerthieben niederwarfen. Das Volk der Austrasier scharte sich in einem Ring um seinen Anführer und trieb alle vor sich her.»49 Die Chronisten, die auf Karl Martells Sieg zurückblicken (und dabei die übliche Kombination von Wunschdenken, dichterischer Übertreibung und kühner Prahlerei an den Tag legen, die so typisch ist für die mittelalter­ liche Beschreibung von Armeen und Massakern) berichten, in der Schlacht seien zwischen 300 000 und 375 000 Muslime getötet worden, darunter auch Abd al-Rahman selbst. Die fränkischen Verluste wurden mit gerade einmal tausendfünfhundert Mann angegeben. Die Schlacht von Tours (auch Schlacht von Poitiers genannt) war bei den Zeitgenossen allgemein bekannt und wurde von westlichen Geschichtsschreibern über tausend Jahre lang gefeiert. Die wichtigsten Fakten und die Moral, die sich exemplarisch daraus ableiten ließ, tauchen b­ ereits drei Jahre später bei zahlreichen Autoren auf, darunter auch Beda Venerabilis. Der schrieb in seiner Historia ecclesiastica gentis Anglorum («Kirchen­ geschichte des englischen Volkes» (die einige Jahre vor Bedas Tod im englischen Jarrow im Mai 735 fertiggestellt wurde), eine «furchtbare Plage von Sarazenen» habe Frankreich heimgesucht, mit «elendem Abschlachten, doch nachdem sie nicht allzu lange in dem Land waren, erhielten sie die gerechte Strafe für ihre Verderbtheit».50 Viele andere folgten Bedas Beispiel, im Mittelalter und sogar noch heute. Für den Chronisten von SaintDenis  – er schrieb über sechshundert Jahre später, als sich das sakrale ­Königtum der Franzosen im 13. Jahrhundert auf seinem Höhepunkt befand – rettete Karl Martell «die Kirche des Heiligen Martin, die Stadt und das ganze Land» vor «den Feinden des christlichen Glaubens». Für Edward Gibbon, der sein Hauptwerk The History of the Decline and the Fall of the Roman Empire («Verfall und Untergang des Römischen Reiches») zwischen 1776 und 1789 verfasste, wurde Europa durch den Tod Abd al-Rahmans vor der Islamisierung und einer Entwicklung bewahrt, bei der die arabischen Eroberer bis nach Polen und ins Schottische Hochland vorgedrungen wären – dann wäre die «Auslegung des Korans heute

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an den Schulen Oxfords gelehrt und dem beschnittenen Volk von der Kanzel aus die Heiligkeit und Wahrheit der Offenbarungen Mahomets [sic] gelehrt worden».51 Zweihundert Jahre später, in den 1970er Jahren, bildete sich in Frankreich die Groupe Charles Martel, eine rechtsextreme Terrororganisation, die sich mit Bombenanschlägen gegen algerische Einwanderer in Frankreich wandte. In den Vereinigten Staaten des 21. Jahrhunderts organisiert eine Gruppe namens Charles Martel Society weiße Nationalisten und bringt eine unverhohlen rassistische Zeitschrift heraus, in der pseudo­wissenschaftliche Artikel zu Themen wie Eugenik und «Rassentrennung» erscheinen.52 Demnach wird selbst heute noch Karl Martells Sieg als ­historischer Wendepunkt betrachtet: eine Schlacht, die den Lauf der Welt veränderte; der Moment, in dem der scheinbar unaufhaltsame Vormarsch der islamischen Expansion im Jahrhundert nach Mohammeds Tod zum Stillstand gebracht wurde. Doch wie wir bereits festgestellt haben, ist das eine viel zu einfache ­Interpretation. Zum einen ist es nicht völlig klar, ob Abd al-Rahman überhaupt das Frankenreich erobern wollte. Denn die nützlichsten Mittelmeerhäfen zwischen den Pyrenäen und der Rhône befanden sich in den 730er Jahren bereits in muslimischer Hand und waren mit dem wohlüberlegten Einsatz exemplarischer Gewalt gefügig gemacht worden (beispielsweise wurden Bischöfe gelegentlich bei lebendigem Leib in ihren Kirchen verbrannt, während sich gleichzeitig Gerüchte verbreiteten, die Berber­ soldaten hätten im westgotischen Spanien widerspenstige Christen gekocht und gegessen), parallel dazu hatte man wie üblich die Dschizya gefordert. Tours und die umliegenden Städte boten reiche Beute, es ist jedoch keineswegs sicher, dass die Muslime sie in den 730er Jahren in ihren Herrschaftsbereich eingliedern wollten. Darüber hinaus war die Schlacht von Tours nichts im Vergleich zu zwei früheren Niederlagen, die deutlich überzeugendere Beispiele für historische Wendepunkte bei der Expansion des Kalifats wären. Die erste war die bereits beschriebene gescheiterte Belagerung Konstantinopels von 717 bis 718. Die zweite ist die Schlacht von Aksu ebenfalls 717, bei der die Tang-Chinesen in der Region Xinjiang im heutigen China eine von Arabern geführte und durch Truppen der Türgesch (eine türkische Stammesföderation) und des Königreichs Tibet unterstützte Armee vernichtend

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schlugen. Die Niederlage war der Beginn eines allmählichen Nachlassens des muslimischen Vorstoßes nach Osten; in den 750er Jahren wurden dann die Grenzen zwischen der islamischen Welt und dem Reich der ­chinesischen Tang-Kaiser abgesteckt und verliefen durch Zentralasien, wo sich die beiden Mächte die Kontrolle über die Handelswege der Seidenstraße teilten. Die Mitte des 8. Jahrhunderts markiert den Zeitpunkt, an dem die islamische Expansion an ihre geopolitischen Grenzen stieß, und zwar nicht nur in Europa, sondern weltweit. Karl Martells Sieg 732 war nur ein kleiner Schritt in einem deutlich größeren Prozess. Tatsächlich ereignete sich der wichtigste Vorfall, der über die Zukunft Westeuropas im Mittelalter und den dortigen Stellenwert des Islam bestimmte, zwischen Juni 747 und August 750, als die UmayyadenDynastie in Damaskus gestürzt wurde. Die Ursachen und der Verlauf dieser Revolution sind komplex, doch kurz zusammengefasst verbündeten sich verschiedene Dissidentengruppen im Kalifat – darunter Schiiten und nicht-arabische muslimische Konvertiten (die sogenannten Mawali), die von vielen rechtlichen Privilegien der umma ausgenommen waren, unter der Führung einer mysteriösen und geheimnistuerischen Figur aus Ostpersien, Abu Muslim al-Churasani. Beginnend mit einer lokalen Rebellion in der zentralasiatischen Oasenstadt Merw, verbreitete sich die Revolutionsstimmung im gesamten Kalifat und sorgte für den Ausbruch der Dritten Fitna, die mit der militärischen Niederlage des Kalifen Marwan II . in der Schlacht am Zab (Irak) im Januar 750 endete. Drei Monate später fiel Damaskus, ­anschließend wurden die überlebenden Mitglieder der Dynastie verfolgt und nacheinander getötet. Marwan konnte nach Ägypten fliehen, wurde dort jedoch ermordet und durch einen jordanischen Araber namens Abu ­al-Abbas al-Saffah ersetzt – dessen Beiname übersetzt «der Blutvergießer» bedeutet. Al-Saffah war damit der Gründer der Dynastie der Abbasiden, die ihre ­Abstammung auf Mohammeds Onkel al-Abbas zurückführten; ihr Erkennungszeichen war eine komplett schwarze Flagge.*

* Diese schwarze Flagge hat heute einen Unheil verkündenden Beiklang, weil sie vom kurzlebigen «Kalifat» des irakischen Terroristen Abu Bakr al-Baghdadi nachgeahmt

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Erster Teil: Imperium

Die Abbasiden nahmen in dem islamischen Reich, das sie den Umayyaden abgenommen hatten, weitreichende Veränderungen vor. Sie verlegten die Hauptstadt von Damaskus 800 Kilometer weiter nach Osten in eine neue Stadt im Irak, nach Bagdad, und übertrugen im gesamten Kalifat weitreichende politische und rechtliche Befugnisse auf lokale Herrscher, die sogenannten «Emire». Die Abbasiden bemühten sich ­außerdem sehr darum, nicht-arabische Muslime zu etwa gleichen Bedingungen in die umma zu integrieren. Ihre Politik brachte eine Zeit der Umbrüche in der islamischen Welt, in der Emire zunehmend unabhängig von den Kalifen wurden und es zur Herausbildung eines sunnitischen und schiitischen Blocks kam sowie zu rivalisierenden Dynastien wie den Fatimiden in Ägypten und den Almoraviden und Almohaden in einem Gebiet, das dem heutigen Marokko entspricht. Nie wieder sollten die Kalifen eine so große politische und spirituelle Macht über ein so ausgedehntes Territorium ausüben wie zu den Glanzzeiten der Recht­ geleiteten Kalifen und der Umayyaden. Dennoch ging das Zeitalter der Abbasiden (das bis 1258 währte, als das Kalifat von den Mongolen zerstört wurde)* als das Goldene Zeitalter des Islam in die Geschichte ein, in dem Kunst, Architektur, Dichtung, Philosophie, Medizin und die ­Naturwissenschaften blühten. Im 8. Jahrhundert stahlen die Abbasiden das Geheimnis der Papierherstellung von den Tang-Chinesen, und im 13. Jahrhundert lernten sie von den Song-Chinesen die Zusammensetzung von Schießpulver. Sie trugen riesige Bibliotheken wie das Haus der Weisheit in Bagdad zusammen, wo Millionen Buchseiten zum Wohl der Gesellschaft übersetzt, kopiert und studiert wurden. Viele Fortschritte der europäischen Renaissance wären ohne die Bewahrung des klassischen Wissens und der Technologie aus allen Teilen der Welt in islamischen Einrichtungen wie dem Haus der Weisheit schlicht unmöglich ­gewesen.

wurde, dem Anführer des islamischen Staates (IS, ISIL oder Daesh), der fundamentalistischen islamistischen Terrororganisation, die aus al-Qaida hervorging und zwischen 2013 und 2019 weite Teile Syriens und des Irak kontrollierte. * Siehe Kapitel 9.

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Doch die Herrschaft der Abbasiden war auch eine Zeit, in der sich der Schwerpunkt der muslimischen Welt genau wie ihre Hauptstadt nach Osten verlagerte. Die Kalifen waren nun geografisch und kulturell weiter entfernt von den alten römischen Herrschaftsgebieten, die  – zusammen mit Arabien – den Kern der beiden ersten Kalifate gebildet hatten. Entwicklungen im dār al-Islām wirkten sich daher mit größerer Verzögerung auf die west­ liche Welt aus. Einer der großen dauerhaften Erzählstränge im Zusammenhang mit dem Mittelalter ist die zunehmende Unwissenheit und Feindschaft zwischen dem islamischen Osten und dem christlichen Westen – eine Unterscheidung, die wenig Sinn ergibt für den Zeitraum, als die Umayyaden genauso eng in das Geschehen im westlichen Mittelmeerraum eingebunden waren wie im Nahen und Mittleren Osten. Die angebliche zivilisatorische Kluft zwischen beiden Kulturen ist heute ein beliebtes Thema der Rechten und von Vertretern verschiedener extremer Weltanschauungen – und zumindest ein Teil davon hat seine Wurzeln in Ereignissen des 8. Jahrhunderts. Man sollte jedoch auch nicht vergessen, dass zwar die Dynastie der Umayyaden im Jahr 750 gestürzt wurde, die Umayyaden an sich jedoch weiterlebten und ihr Vermächtnis in einer bestimmten Region im Westen noch deutlich zu spüren ist: im südlichen Teil Spaniens und Portugals, der 711 bis 714 während al-Walids Herrschaft so rasch erobert worden war. In den Wirren der abbasidischen Revolution gelang einem Enkel des alten Kalifen al-Malik die Flucht aus Damaskus. Obwohl er von Attentätern verfolgt wurde, die die Liste der ermordeten Umayyaden gern um seinen Namen ergänzt hätten, konnte er entkommen und ging für sechs Jahre ins Exil. In dieser Zeit reiste er heimlich durch Nordafrika bis nach Süd­ spanien, wo er sich selbst zum Kalifen ernannte und ein unabhängiges Emirat in der Stadt Córdoba gründete – im heißesten Teil Spaniens, wo die Temperaturen der sengenden Hitze Arabiens durchaus Konkurrenz machen können. In den beiden folgenden Jahrzehnten brachte er nach und nach die muslimischen Gebiete auf der Iberischen Halbinsel unter seine Kontrolle und gliederte sie in sein Emirat ein. Wie Bagdad und die Stadt Kairouan in der Provinz Ifrīqiya (im heutigen Tunesien), die bis ins frühe 10. Jahrhundert Teil des Abbasiden-Kalifats blieb, genoss Córdoba im Mittelalter einen hervorragenden Ruf als Stadt der Gelehrsamkeit und einer außergewöhnlich reichen Kultur. Die

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Bevölkerung stieg auf etwa vierhunderttausend Einwohner – womit Córdoba auf Augenhöhe mit Konstantinopel oder sogar dem antiken Rom war. Das religiöse Leben der pulsierenden Stadt spielte sich rund um die Große Moschee* ab. Ihre Ausmaße konnten es mit dem Juwel des Umayyaden-Reichs aufnehmen, der Moschee von Damaskus, dazu kombinierte das Bauwerk römische Steinmetzarbeiten mit maurischen Dekorelementen. Finanziert wurde die Pracht mit der reichen Beute aus dem Sieg über die Westgoten und Raubzügen in die benachbarten fränkischen Gebiete. Etwa ein Jahrhundert lang konnten die Stadt Córdoba und das von ihr kontrollierte umayyadische Rumpf-Emirat von sich behaupten, der fortschrittlichste und am weitesten entwickelte Staat in Westeuropa zu sein. Das großartige Vermächtnis jener Zeit ist noch heute in der südspanischen und portugiesischen Kultur zu spüren. Bereits die Namen in der Region zeugen vom arabischen Einfluss: Lissabon (al-Usbuna), Gibraltar (Jabal Tariq), Málaga (Mālaqa), Ibiza (Yabisa), Alicante (al-Laqant) haben alle einen arabischen Anklang im Namen, genau wie viele andere bekannte iberische Städte, Orte und Touristenziele. Am bekanntesten ist wohl die Festung Alhambra mit ihren prächtigen Palästen in Granada, doch auch der Alcázar von Sevilla  – auch heute noch eine offizielle Residenz des ­spanischen Königshauses  – wurde auf den Grundmauern eines spät­ mittelalterlichen maurischen Forts erbaut. Die Arabischen Bäder in Jaén wiederum verweisen auf eine hochentwickelte Kultur der Körperpflege im islamischen Spanien, die dem Vergleich mit dem alten römischen ­Hispania gut standgehalten hätte. Während des gesamten Mittelalters lebten in Spanien Muslime, und obwohl die islamische Herrschaft ab dem 11. Jahrhundert im Rahmen der westlichen Kreuzzüge, der sogenannten Reconquista, stetig zurückgedrängt wurde, konnte der letzte muslimische Emir erst 1492 vom Festland vertrieben werden (er führte dann in Marokko ein Leben im Exil).** Damit war die Iberische Halbinsel über siebenhundert Jahre zumindest in Teilen

* Heute eine katholische Kathedrale, trotz der Bemühungen spanischer Muslime im 21. Jahrhundert, dort wieder beten zu dürfen. ** Siehe Kapitel 15.

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mit dem dār al-Islām verbunden, und diese lange Verbindung war ein ­lebendiger (und mitunter fataler) Bestandteil der Kultur und nationalen Geschichte Spaniens in der Neuzeit. Allerdings sieht darin nicht jeder ­einen Grund zur Freude: In einem heute stark katholisch geprägten Land gibt es viele, denen das islamische Erbe Spaniens unangenehm ist. Und natürlich waren keineswegs alle muslimischen Herrscher in Spanien aufgeklärte und weltoffene Intellektuelle, die sich allein der Aufgabe verschrieben hatten, Bibliotheken und öffentliche Bäder zu bauen: Die Berber-Dynastien, die auch als Almoraviden und Almohaden bekannt sind und vom 11. bis zum 13. Jahrhundert über al-Andalus herrschten, ­waren strenggläubige Fanatiker, die Nichtmuslime gewaltsam unterdrückten und verfolgten. Ein gewisses Maß an Vorurteilen und Misstrauen gegenüber den moros  – den Mauren oder spanischen Muslimen, die sich ­angeblich immer noch mehr mit Nordafrika als mit Spanien verbunden fühlen – zieht sich auch heute noch durch den politischen Diskurs Spaniens. Vage Vorstellungen von der mittelalterlichen Vergangenheit vermischen sich mit nicht allzu fernen Erinnerungen an den Spanischen Bürgerkrieg im 20. Jahrhundert, der in Marokko seinen Anfang nahm und an dem Zehntausende muslimischer Truppen aus Nordafrika beteiligt waren, die unter General Franco auf der Seite der Nationalisten kämpften. Die Situation ist daher kompliziert und heikel. Die Geschichte wirbelt weiterhin um uns herum, formt unsere Haltung, Einstellung, Vorurteile und Weltanschauungen. Und so kommt es, dass das Wort Gottes, das im 7. Jahrhundert in einer Höhle im Hedschas offenbart wurde, auch heute noch, im Zeitalter des Smartphones und der autonom fahrenden Autos, das Leben und den Alltag von Männern und Frauen bestimmt.

Zweiter Teil

Herrschaft Ca. 750 bis 1215

5.

Franken «O Eisen! Ach Eisen!» Verzweifelter Ruf der Langobarden beim Anblick der Frankenarmee

I

n der zweiten Hälfte des Jahres 751* kam Childerich III . ein Haarschnitt teuer zu stehen. Elf Jahre lang war er König der Franken gewesen, des Volkes, das die alten römischen Provinzen Galliens übernommen hatte, nachdem die Völkerwanderungen das Weströmische Reich zugrunde gerichtet hatten. Childerich hatte zwar nie konkret Macht ausgeübt – ein Chronist meinte abwertend, ihm sei nichts übrig geblieben, «als zufrieden mit dem bloßen Königsnamen … auf dem Throne zu sitzen und den Herrscher zu spielen» –, verfügte aber trotzdem über eine majestätische Ausstrahlung, die er dadurch zur Schau stellte, dass er seine Haare und seinen Bart so lang wachsen ließ wie möglich; in der altehrwürdigen Mode seiner königlichen Dynastie, der Merowinger.1 Diese Vorliebe für zerzauste Locken hatte den Merowingern den Namen reges criniti («lang­ haarige Könige») eingebracht, der mehr war als ein bloßer Spitzname oder Markenzeichen. Haare waren das grundlegende Symbol ihrer Macht. Wie Samson im Alten Testament verlor ein Merowinger, wenn man ihm einen Kurzhaarschnitt verpasste, auch all seine Macht. Childerich erhielt also 751 nicht einfach nur eine neue Frisur. Er wurde mit dieser Zeremonie ab-

* Oder vielleicht im zeitigen Frühjahr 752. Eine kurze und bündige Erklärung zum Problem der Datierung bieten Marios Costambeys, Matthew Innes und Simon MacLean, The Carolingian World (Cambridge 2011), S. 31–34.

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gesetzt. Sein Königreich befand sich mitten in einer Revolution, und der Haarschnitt war ihr symbolischer Höhepunkt. Der alte König erhielt eine Tonsur und wurde ins Kloster geschickt, wo er bei Saint-Omer nicht weit vom Meer und hoch im Norden des fränkischen Königreichs den Rest seines Lebens verbringen sollte. Er wurde durch den Mann ersetzt, der diese öffentliche Schmach angeordnet hatte: einen Krieger und Machtpolitiker namens Pippin der Jüngere. Laut einem Chronisten war Pippin der erlauchte König, «so wie es die Ordnung verlangt, durch die Wahl aller Franken … auf den Thron des Reiches gesetzt, wobei ihn die Bischöfe weihten und die Ersten des Reiches sich ihm unterwarfen».2 Allerdings stammt dieses Urteil aus den Annalen der Franken, die von Pippin und seinen Nachkommen finanziell unterstützt wurden und die sie daher in einem besonders schmeichelhaften Licht darstellten. Wie auch immer, das Jahr 751 steht für eine prägende Zeit in der europäischen Geschichte, mit der in Franken das karolingische Zeitalter begann. Die Karolinger wurden nach ihrem Patriarchen benannt, Pippins Vater Karl Martell (Carolus Martellus): dem Mann, der die Umayyaden in der Schlacht von Tours besiegt hatte. Es gibt jedoch mehr als nur einen berühmten Karl bei den Karolingern, unter anderem Karl den Kahlen, Karl den Dicken und Karl den Einfältigen. Doch der bekannteste von allen war Karl der Große (Carolus Magnus). Während seiner vierzigjährigen Regierung vereinte Karl der Große die Länder, die wir heute als Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande kennen, zu einem europäischen Superstaat unter seiner Herrschaft. Im Jahr 800 erhielt diese europäische Union vom Papst den Status eines Kaiserreichs – mit frankisierenden, heiligen und militanten Zügen, die alle auch von Karl persönlich verkörpert wurden, der als heroische und ähnlich sagenhafte Gestalt in Erinnerung blieb wie der legendäre britische König Artus.3 Karl der Große war einer der mächtigsten und einflussreichsten Herrscher des gesamten Mittelalters. Und er hinterließ Europa ein Vermächtnis, das seitdem deutlich zu spüren  – und zu ­hören  – ist.4 Sein lateinischer Name Carolus ist in der Bedeutung von «König» in einige moderne europäische Sprachen eingegangen, etwa ins Polnische (król), Bulgarische (kral), Tschechische (král) und Ungarische (király).5 Als ähnlich dauerhaft haben sich seine politischen Leistungen er-

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Zweiter Teil: Herrschaft

wiesen. Die Länder auf beiden Seiten des Rheins zu einem Superstaat mit dem heutigen Frankreich und Deutschland im Zentrum zu vereinen, erforderte gewaltige Anstrengungen. Sie zusammenzuhalten sollte, wie sich herausstellte, die Fähigkeiten seiner meisten Nachfolger übersteigen. Und auch spätere Staatsmänner waren davon weitgehend überfordert.* Doch so mächtig Karl der Große auch war und so weit sich sein Reich auch erstreckte, die karolingischen Franken waren nicht die einzige Großmacht, die in dieser Zeit ins Blickfeld rückte. Ab dem 8. Jahrhundert ­waren auch Banden von heidnischen Entdeckern, Händlern und Mördern aus Skandinavien auf dem Vormarsch, die wir heute unter der kollektiven Bezeichnung Wikinger kennen. Da Franken und Wikinger in denselben Regionen Nord- und Westeuropas aktiv waren, kam es bei ihrem Streben nach Macht und Ressourcen unweigerlich zu Zusammenstößen, aber auch zu Kooperationen. Und am Ende, in einem Prozess, der einer Kernfusion glich, entstand bei diesen Kollisionen ein drittes Volk, das in der Geschichte des Mittelalters eine eigene wichtige Rolle spielen sollte. Gemeint sind die Normannen, denen im Verlauf von Teil  II unseres Buchs noch große Bedeutung zukommen wird.

Merowinger und Karolinger Als wir den Franken in Kapitel 2 zum ersten Mal begegneten, waren sie ein Zusammenschluss von mindestens einem halben Dutzend kriegerischer germanischer Stämme, die zur Zeit der Völkerwanderungen über den Rhein vorgedrungen und räubernd und brandschatzend durch das ­römische Gallien gezogen waren, um sich dann zu einer Gruppe zu vereinen, die sesshaft wurde und sich nach und nach das wenige aneignete, das vom römischen Staat noch übrig war. Römische Autoren des 3. Jahrhunderts betrachteten die Franken daher als gewöhnliche umherziehende Barbaren. Doch im Lauf der Jahrhunderte waren die Franken in der Welt

* Die einzige Ausnahme bildet, zumindest bei der Abfassung des Buches, die Euro­ päische Union.

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aufgestiegen, und ihre Barden und Chronisten begannen, an einem eigenen Herkunftsmythos zu weben. Nach dem, was die Franken erzählten, hatten sie sich bereits in der Bronzezeit in Europa angesiedelt; ihre Vorfahren waren eine Gruppe Krieger, die nach dem Trojanischen Krieg Richtung Westen gezogen waren.6 Wo auch immer ihre wahren Wurzeln liegen, ab 460 waren sie eine Macht, mit der man rechnen musste. Nachdem sie sich westlich des Rheins niedergelassen hatten, rückten sie ihren Nachbarn – vor allem den Westgoten und den Burgundern – kontinuierlich zu Leibe, bis sie im 7. Jahrhundert das gesamte Territorium des heu­ tigen Frankreichs mit Ausnahme der Bretagne und des Küstenstreifens zwischen Arles und Perpignan (heute die Küste von Languedoc-Roussillon) besetzt hatten. Die Franken erhielten auch Tributzahlungen von germanischen Stämmen östlich des Rheins aus einem Gebiet, das sich bis nach Bayern, Thüringen und in Teile von Sachsen streckte. Ein Großteil dieser Expansion erfolgte in den zweieinhalb Jahrhunderten, in denen die Franken von den langhaarigen Merowingern regiert wurden.* Der erste Merowinger-König, über den wir jedoch nicht viel wissen, war ein Childerich – in diesem Fall Childerich I . Dieser Childerich nutzte sein militärisches Talent und scharte Mitte der 400er Jahre in einem Gebiet nördlich der Loire eine große Anhängerschaft um sich. Er kämpfte gegen die Westgoten und Sachsen und starb 481; bei seiner Bestattung in Tournai wurden ihm kostbare Grabbeigaben mitgegeben. Als sein Grab im 17. Jahrhundert geöffnet wurde,** enthielt es Gold- und Silbermünzen, ein prächtig verziertes Schwert mit einem goldenen Heft, große Mengen an goldenen Fibeln und Schnallen, Hunderte wunderschön gearbeitete goldene Anhänger in Bienenform, einen zeremoniellen Siegelring mit

* Auch die Merowinger haben eine fantasievolle Herkunftslegende: Sie behaupteten, von einer Königin abzustammen, die von einem «Quinotaurus» vergewaltigt worden war – einem fantastischen Seeungeheuer, das einem riesigen Walross glich. In der Fredegar-Chronik wird es als «Biest Neptuns» bezeichnet. ** Childerichs Grab wurde von einem taubstummen Steinmetz entdeckt, der auf einer Baustelle in der Nähe einer mittelalterlichen Kirche arbeitete. Leider ist ein Großteil der prächtigen Grabbeigaben mittlerweile verloren – sie wurden im 19. Jahrhundert in Paris gestohlen, und das Gold wurde eingeschmolzen.

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Zweiter Teil: Herrschaft

­einem stilisierten Porträt und der Umschrift CHILDIRICI REGIS, ­einen Speer, ein Wurfbeil, die Überreste eines Schildes und mindestens zwei menschliche Skelette. Das Grab befand sich inmitten eines großen fränkischen Gräberfeldes mit den Überresten von Männern, Frauen und teuren Schlachtrossen, die vermutlich bei Bestattungsriten der Elite ge­opfert worden waren.7 Zusammen hatten diese letzten Ruhestätten einen im wahrsten Sinne des Wortes monumentalen Friedhof gebildet, erbaut um einen königlichen Tumulus (Grabhügel), der kilometerweit zu sehen war. Das Grab Childerichs  I . sagt uns, dass die Franken mehr waren als umherziehende Kriegsherren. Bereits im 5. Jahrhundert waren ihre Anführer wie Könige ausgestattet und betrachteten sich selbst als Herrscher über ein Gebiet, das sich viele Tagesritte in alle Richtungen erstreckte. Die Merowinger befanden sich im 5. und 6. Jahrhundert auf dem Höhe­punkt ihrer Macht. Auf Childerich  I . folgte ein mächtiger König ­namens Chlodwig. Chlodwig formte die fränkischen Stämme zu einer zusammenhängenden politischen und kulturellen Einheit. Seine Frau, eine Burgunderprinzessin namens Chrodechild oder Clothilde,* bekehrte ihn zum Christentum. 486 besiegte er den letzten römischen Herrscher in der ehemaligen römischen Provinz in der Schlacht von Soissons. 507 fügte er den iberischen Westgoten in der Schlacht von Vouillé eine entscheidende Niederlage zu und beendete damit ihren Einfluss in Aquitanien, einer ­Region im südwestlichen Gallien. Infolgedessen übernahmen alle frän­ kischen Herrscher nach Chlodwig die Vorstellung, sie hätten ein Anrecht auf das gesamte Land zwischen den Pyrenäen und den Niederlanden. Auf Chlodwig geht wohl auch die Lex salica (Salisches Recht) zurück – ein Gesetzestext, der zwischen 507 und 511 erstellt wurde. Die Lex Salica war während des gesamten Frühmittelalters ein Grundbestandteil des frän­ kischen Rechts und wurde bei Streitigkeiten um die Thronfolge auch noch achthundert Jahre später im 14. Jahrhundert angeführt.8 Chlodwigs Herr-

* Heute die heilige Clothilde, Schutzpatronin der Bräute und adoptierten Kinder. Im 10. Jahrhundert verfasste der Benediktinerabt Adso von Montier-en-Der eine Hagiografie über sie, bekannter ist er jedoch für sein maßgebliches Werk über die Natur des Antichristen.

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schaft markiert den eigentlichen Beginn der kollektiven fränkischen Identität  – aus der sich später das französische Nationalbewusstsein entwickelte. Er wird daher oft als der erste echte Franzose bezeichnet. Allerdings zeigt die Geschichte der Merowinger nach Chlodwig, dass sich Größe und Ansehen im umgekehrten Verhältnis zur politischen Macht entwickeln können. Als Chlodwig 511 starb, wurde die Herrschaft, wie er es verfügt hatte, unter seinen vier Söhnen aufgeteilt. Die Teilung sollte eine starke Führung in allen wichtigen Teilen des Fränkischen Reichs gewährleisten, trug jedoch eher zu seiner Schwächung bei. Die Merowinger trugen zwar zweieinhalb Jahrhunderte lang die Krone – oder genauer, die Kronen – der Franken, doch kaum ein Nachkomme Chlodwigs konnte es mit seinen außergewöhnlichen Leistungen aufnehmen. Tatsächlich zeichnen sich die merowingischen Könige ab dem 7. Jahrhundert durch ihre politische Machtlosigkeit aus. Die schwachen späteren Merowinger wurden als rois fainéants («Müßiggänger-Könige») verspottet. In allen wichtigen Teilen des Frankenreichs (Austrasien, Neustrien, Aquitanien, Provence und Burgund) wurde die Macht nach und nach Verwaltern übertragen, den sogenannten Hausmeiern (maior palatii). Diese Hausmeier führten Armeen und bestimmten über militärische Maßnahmen und Strategien; sie schlichteten Konflikte und betrieben Außenpolitik. Sie waren eine Mischung aus Magnaten und Premierminister und verfügten über weitreichende politische Befugnisse, die ihnen im Laufe von Generationen von ihren Königen übertragen worden waren. Die Könige wiederum waren nur Schattenkönige, deren Macht bloßer Schein war. Der Chronist Einhard schrieb, ein typischer roi fainéant habe nichts zu tun gehabt, außer «die von überall her kommenden Gesandten anzuhören und ihnen bei ihrem Abgange die ihm eingelernten oder anbefohlenen Antworten wie aus eigener Machtvollkommenheit zu erteilen, da er außer dem nutzlosen Königstitel und einem unsicheren Lebensunterhalt, den ihm der Hausmaier nach Gutdünken zumaß, nur noch ein einziges, noch dazu sehr wenig einträgliches Hofgut zu eigen besaß … Überall, wohin er sich begeben mußte, fuhr er auf einem Wagen, den ein Joch Ochsen zog und ein Rinderhirte nach Bauernweise lenkte.»9 In der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts übernahm Karl Martell das Amt des fränkischen Hausmeiers und baute es zu einem umfassenden

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und öffentlich anerkannten Königtum aus. Während seines langen Lebens gewann er die politische Kontrolle über Neustrien und Austrasien und brachte anschließend sämtliche andere Regionen Frankens unter seine ­alleinige Herrschaft als «Herzog und Fürst der Franken». Der Chronist Einhard schrieb über Martells Errungenschaften bewundernd: Karl, «der die Unabhängigkeitsgelüste der Großen im ganzen Frankenlande unterdrückte und die Sarrazenen [sic; d. h. die Umayyaden] … in zwei großen Schlachten … schlug und zur Rückkehr nach Spanien nötigte, stand mit hoher Auszeichnung dem Amt vor, das ihm sein Vater … hinterlassen hatte».10 Im Gegensatz dazu war der Merowinger, von dem Martell seine Macht ableitete, ein gewisser Theuderich IV., ein Paradebeispiel für einen roi fainéant. Martell sorgte dafür, dass er seine gesamte sechzehnjährige Regierungszeit unter Hausarrest im Kloster verbrachte. 737 starb sein ­merowingischer Schattenkönig. Martell machte sich nicht die Mühe, ihn zu ersetzen, sondern übte seine quasi-königliche Macht lieber ungestört aus. Rein theoretisch waren die Franken also einige Jahre lang ohne König. Noch war das Ende der Merowinger nicht gekommen, allerdings wurde ihr Niedergang wesentlich beschleunigt. 743, als Karl Martell tot war und seine Söhne und Verwandten um sein Vermächtnis und ihr Erbe stritten, wurde der unglückselige Childerich  III . als Theuderichs Nachfolger auf den Thron gesetzt. Doch wie wir bereits festgestellt haben, war Childerich der letzte Merowingerkönig. 751 wurden ihm auf Anweisung von Martells Sohn Pippin dem Jüngeren die Haare geschoren. Und damit war der Sturz der Dynastie besiegelt. Der Schritt vom Hausmeier zum König war für Pippin nicht ganz einfach. Gleich von zwei Seiten drohten ihm Probleme. Zum einen hatte sein Vater ihn angewiesen, die Macht über die fränkischen Lande mit seinem jüngeren Bruder Karlmann zu teilen. Das Problem löste sich 747 weitgehend von selbst, da sich Karlmann aus der Politik zurückzog, um in der berühmten Benediktinerabtei auf dem Monte Cassino auf halbem Weg zwischen Rom und Neapel zu leben. Damit blieb jedoch ein anderes Pro­ blem: Mit der Absetzung Childerichs hatte Pippin nach damaligem Verständnis in den Plan des Universums eingegriffen. So nutzlos die Merowinger gewesen waren, ihr Königtum hatte jahrhundertelang bestanden und

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die Billigung Gottes in sich getragen. Es gehörte sich einfach nicht, die Mero­ winger aus dem Weg zu räumen. Pippin musste einen Weg finden, seine ­eigene Herrschaft vor den Menschen – und vor Gott – zu rechtfertigen. Auf der Suche nach einer Lösung wandte er sich an die Päpste in Rom. Bevor Pippin gegen Childerich aktiv wurde, hatte er Papst Zacharias (reg. 741–752) geschrieben und ihn gebeten, seinen Staatsstreich zu unterstützen. Pippin fragte Zacharias, «wegen der Könige in Franzien, die damals keine Macht als Könige hatten, ob das gut sei oder nicht». Das war eher eine Suggestivfrage, und tatsächlich hatte Pippin bereits eine ziemlich klare Vorstellung, was der Papst antworten würde. Zacharias war besorgt wegen der Langobarden, deren territoriale Ambitionen in Italien das Papsttum und seine übliche weltliche Schutzmacht bedrohten, die byzantinischen Exarchen in Ravenna. Zacharias brauchte Freunde, auf die er zählen konnte, wenn die Langobarden gegen ihn aktiv wurden. Pippin war gut aufgestellt und damit perfekt geeignet. Und so war Zacharias bereit, ihm hilfreiche Antworten auf vermeintlich unschuldige Fragen zur fränkischen Krone zu geben. Er schrieb Pippin, es sei viel besser, «den als König zu bezeichnen, der die Macht habe, als den, der ohne königliche Macht blieb». Die Fränkischen Reichsannalen erklärten: «Um die Ordnung nicht zu stören, ließ er kraft seiner apostolischen Autorität den Pippin zum ­König machen.»11 Nun war der Stein ins Rollen gebracht. Mit der theoretischen Unterstützung des Papstes im Rücken entschied Pippin, dass er Childerich nicht einfach nur ersetzen wollte. Seine Krönung sollte keine bloße poli­ tische Akklamation sein, sondern eine ausdrücklich theologische Note ­erhalten. Als Kind war Pippin von Mönchen im Kloster Saint-Denis bei Paris erzogen worden, wo ihm die biblische Geschichte vermittelt worden war, daher griff Pippin, als er vom päpstlichen Legaten Bonifatius, dem Erzbischof von Metz, zum neuen König der Franken gekrönt wurde, auf das Beispiel der Könige aus dem Alten Testament zurück. Bonifatius salbte ihn mit heiligem Öl  – er träufelte es dem knienden Pippin auf Kopf, Schultern und Arme –, bevor er ihm aufhalf und Pippin auf den Thron gesetzt wurde. Das war keine gewöhnliche Krönung. Teils Taufe, teils Priesterweihe war sie Bestandteil einer herausragenden öffentlichen Darbietung. Sie

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sollte die Unterstützung der Kirche und nicht nur die des fränkischen Adels bei Pippins Aufstieg zeigen. Und sie würde langfristige Folgen haben. Von da an galten die fränkischen Könige nur dann als «echt», wenn sie von einem Bischof oder Erzbischof gesalbt worden waren. Wie die römischen Kaiser in christlicher Zeit und die ersten Kalifen reklamierten die Frankenkönige für ihre Herrschaft einen sakralen Charakter. Damit war der Boden dafür bereitet, dass sich ein König in direktem Kontakt mit Gott sah: gebilligt und beschützt vom Allmächtigen und daher berechtigt, sich selbst als seinen Stellvertreter auf Erden zu sehen. Gleichzeitig hatte die Kirche das Recht erhalten, die Leistung der fränkischen Könige zu beurteilen. Die Auswirkungen dieses neuen Paktes sollten bis weit ins Mittelalter – und auch noch lange danach – zu spüren sein.12 Vielen Herrschern hätte vermutlich eine einzige Salbung genügt. Doch Pippin hatte einen Hang zum Theatralischen und offensichtlich auch eine Vorliebe für Salböl. Also ging er drei Jahre nach der Zeremonie von Soissons noch weiter. Zu der Zeit war Papst Zacharias bereits tot, doch sein Nachfolger Stephan  II . war ähnlich gefügig. Im Winter 753/54 überquerte der neue Papst die Alpen und erschien am Dreikönigstag, also am 6. Januar, in feierlichem Prunk im Palast der Franken in Ponthion, um den König um Unterstützung zu bitten: «dass er sich mit seiner Unterstützung ihrer [der langobardischen] Unterdrückung und Hinterlist entledigen und sich aus ihren Händen befreien könne», wie es ein Chronist formulierte.13 Ganz der würdevolle Papst, kam Stephan mit einem großen Gefolgen an Priestern, die Hymnen skandierten und sangen. Pippin trat ihnen feierlich entgegen. «Der freigebige Mann [d. h. der Papst] und all seine Gefährten lobten mit lauter Stimme den allmächtigen Gott und priesen ihn unaufhörlich», hieß es in der päpstlichen Chronik. «Und mit Hymnen und geistlichen Gesängen zogen sie alle gemeinsam mit dem König zum Palast.»14 Nach diesem melodramatischen ersten Zusammentreffen folgte eine Reihe ähnlich streng choreografierter Zeremonien. Dabei warfen sich Papst und König abwechselnd voreinander in den Staub, während ihre Gesandten im Hintergrund feilschten. Und so wurde schließlich ein weitreichender Pakt zwischen den römischen Päpsten und den fränkischen Königen geschmiedet. Der Papst konnte sich an die Franken als seine ­säkulare Schutzmacht wenden und im Gegenzug dafür seinen Einfluss

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geltend machen und der neuen karolingischen Monarchie Legitimität verleihen – wenn Pippin die enormen Kosten in Kauf nahm und ein erhebliches militärisches Risiko einging, über die Alpen nach Süden zog und das Papsttum vor seinen Feinden schützte. Für beide Seiten stand bei diesem Deal viel auf dem Spiel. Rückblickend betrachtet, war es ein Moment von enormer Tragweite für die abendländische Geschichte: Von da an blickten die Bischöfe von Rom nicht mehr länger gen Osten nach Konstan­ tinopel, wenn sie Unterstützung benötigten, sondern zu den von den Barbaren abstammenden Völkern des Westens.15 Es war auch das erste Mal, dass Pippins Sohn Karl – der künftige Karl der Große – einem Papst begegnete. Der kleine Karl war 754 erst etwa sechs Jahre alt, war jedoch fester Bestandteil der prunkvollen Inszenierung. Zunächst wurde er im eisigen Winter an der Spitze einer diplomatischen Eskorte losgeschickt, um Papst Stephan Anfang Januar auf den letzten 150 Kilometern seiner Reise zum königlichen Palast zu begleiten. Dann war er gut sechs Monate später, am 28. Juli 754, an der Seite seines Vaters, als der Papst seinen Besuch mit einer weiteren Salbung und Krönung in Saint-Denis abschloss. Eine dritte Zeremonie wirkt vielleicht ­etwas übertrieben, doch diesmal wurde nicht nur Pippin gesalbt und gekrönt, sondern auch Karl, sein Bruder Karlmann* und ihre Mutter Bertrada. Das war mehr als die Krönung eines Königs. Es war die sakrale ­Bestätigung einer ganzen Dynastie, der Dynastie der Karolinger – deren erste zwei Generationen die Landkarte Westeuropas neu gestalten sollten.

«Der Vater Europas» Nach seiner zweiten Krönung durch den Papst regierte Pippin noch siebzehn Jahre lang. In dieser Zeit vergrößerte er kontinuierlich das karolingische Territorium und hielt sich gewissenhaft an seinen Pakt mit dem Papst. In den Jahren direkt nach Papst Stephans Besuch eilte der

* Nicht zu verwechseln mit Pippins Bruder Karlmann, der uns bereits früher begegnet ist.

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fränkische König zweimal nach Italien, um die Langobarden zurückzudrängen und ihnen und ihrem König Aistulf eine Lektion zu erteilen. «[Er] verwüstete alles, was im Umkreis lag; dieses Gebiet Italiens brannte er großteils nieder, zerstörte die ganze Gegend, eroberte alle Festungen der Langobarden und brachte viele Schätze, Gold und Silber und noch viele andere Kostbarkeiten und all ihre Zelte in seine Gewalt», hieß es in den Fredegar-Chroniken.16 Angesichts dieses Ansturms zogen sich die Langobarden zurück. Ihr König Aistulf musste einige der von ihm eroberten Gebiete abtreten und dem Karolingerkönig eine hohe jährliche Summe zahlen. Pippin genoss seinen Triumph und sprach dem Papsttum Land zu, das er von den Langobarden erobert hatte und über das die Päpste als irdische Herren regieren sollten. Daraus wurde dann die sogenannte «Pippinsche Schenkung», die die Grundlage für die Existenz des Kirchenstaates bildete, der bis ins 19. Jahrhundert bestand. (Heute ist der Herrschaftsbereich des Papstes auf den winzigen souveränen Staat Vatikanstadt in Rom zusammengeschrumpft.) Der gedemütigte Aistulf lebte nicht mehr lange. 756 prallte er bei einem Jagdausflug mit seinem Pferd gegen einen Baum und starb. ­Pippin konnte sich daraufhin wieder dem Frankenreich widmen. Neben dem Langobardenreich hatte Pippin Aquitanien und Sachsen als geeignete Ziele für seine Eroberungen auserkoren. In Aquitanien machte Pippin ein widerspenstiger Herzog namens Waifar zu schaffen, mit dem er sich fast fünfzehn Jahre lang bekriegte. Aquitanien gehörte ­eigentlich nicht zum direkten Herrschaftsgebiet der fränkischen Könige, doch Pippin wollte das ändern und führte deshalb mehrere Kriege gegen Waifar mit allem, was dazugehörte: Brandstiftung, Belagerungen, Raubzüge zur Bestrafung und Feldschlachten. In diesem Zermürbungskrieg konnte Pippin jedoch erst 766 triumphieren, als die Brutalität, die über Aquitanien hereingebrochen war, dafür sorgte, dass kein Bewohner mehr bereit war, sein Leben für Waifar zu riskieren. Dazu kam, dass der Großteil der herzoglichen Familie getötet oder gefangen genommen worden war. 768 wurde auch Waifar ermordet, gut möglich, dass die Attentäter von Pippin bezahlt worden waren.17 Damit war der letzte Herrscher Aquitaniens gestorben, der glaubhaft behaupten konnte, unabhängig von einem König zu regieren.

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In Sachsen war die Lage anders. Das Land stellte Invasionsheere vor eine besondere militärische Herausforderung: Sumpfige Gebiete ohne Straßen machten eine systematische Eroberung schwierig, gleichzeitig gab es aufgrund der verstreut lebenden, in Stämmen organisierten Bevölkerung keinen Herzog wie Waifar, den man einfach töten und ersetzen konnte. Also entschied sich Pippin für einen anderen Ansatz. Er versuchte nicht, Sachsen zu erobern, sondern nutzte das Gebiet als Plünderungszone für seine Anhänger. Die Kriegsführung in der frühen Karolingerzeit war immer noch von den Methoden der Kriegsherren geprägt. Die alljährlichen Feldzüge in Grenzgebieten waren auf einen steten Zustrom bereitwilliger Teilnehmer angewiesen, die in der Hoffnung auf Gold, Silber, ­erbeutete Güter und Sklaven zu den Waffen griffen. Pippin nutzte diese Haltung und schickte fränkische Truppen Jahr für Jahr zum Plündern nach Sachsen. Dadurch schob sich die Grenze des Fränkischen Reichs zwar nicht unbedingt tief in die sächsische Wildnis hinein, doch immerhin konnte Pippin deren Bewohner und ihren Besitz für seine Zwecke nutzen. Und als er 768 nach einer kurzen Krankheit mit Mitte fünfzig starb, hinterließ er eine Kriegsmaschinerie, die für den Einsatz auf unterschiedlichem Terrain erprobt war, sowie politische Bündnisse und ein Herrschaftsgebiet, das sich in jeder Richtung über Hunderte, wenn nicht sogar Tausende Kilometer erstreckte. Sein Sohn Karl trat dieses Erbe an und wusste es zu nutzen. Von seinem Chronisten Einhard wird Karl der Große als hochgewachsen und kräftig beschrieben; als sein Grab im 19. Jahrhundert geöffnet wurde, maß man seine Körpergröße auf 1,90 Meter – eine beträcht­ liche Größe für die damalige Zeit. «Der obere Teil seines Kopfes war rund, seine Augen sehr groß und lebhaft. Die Nase ging etwas über das Mittelmaß hinaus, er hatte schönes graues Haar und ein freundliches und heiteres Gesicht», schrieb Einhard. Karl war ein guter Schwimmer und hielt sich gern sauber, viele Amtsgeschäfte erledigte er tatsächlich im Bad. «Auf dem Leib trug er ein leinenes Hemd und leinene Unterhosen; darüber ein Wams, das mit einem seidenen Streifen verbrämt war, und Hosen … und schützte mit einem aus Fischotter- oder Zobelpelz verfertigten Rock im Winter Schultern und Brust; dazu trug er einen blauen Mantel und stets ein Schwert, dessen Griff und Gehenk von Gold und Silber waren.»

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Nur an Festtagen oder bei seinen Treffen mit dem Papst in Rom trug er mit Gold durchwirkte Gewänder oder Juwelen, «an andern Tagen unterschied sich seine Kleidung wenig von der gemeinen Tracht des Volkes». Er war demonstrativ fromm und ein eifriger Leser, der auch Grundkenntnisse im Schreiben besaß, er hatte einen leichten Schlaf und war ein gesunder Esser, obwohl er nie betrunken war. Damit entsprach er, zumindest aus Einhards wohlwollender Sicht, dem Idealbild eines mächtigen Königs.18 Und bei seiner Thronbesteigung 768 hätte das Erbe, das er antrat, nicht vielversprechender sein können – mit einer Einschränkung. Diese Einschränkung war sein Bruder Karlmann. Gemäß der alten merowingischen Tradition hatte Pippin es abgelehnt, unter seinen Söhnen einen alleinigen Nachfolger zu bestimmen. Stattdessen bestand er ­darauf, dass Karl und Karlmann gemeinsam herrschen sollten. Es war absehbar, dass dieses Arrangement nicht lange halten würde. Doch auch Karlmann war nicht viel Zeit vergönnt. Er starb 771 an einem Nasen­ bluten, das Karl verdächtig gelegen kam. Karl konnte von da an allein und nach eigenem Gutdünken herrschen. Etwas lästig waren die überlebenden Söhne seines Bruders, allerdings nur für kurze Zeit: Vielleicht aus Furcht vor weiteren Fällen von Nasenbluten in der Familie flüchteten sie vor ­ihrem Onkel zu den Langobarden und ihrem neuen König Desiderius. Der hoffte, sie mit der Unterstützung des Papstes zu fränkischen Gegenkönigen zu machen, die er vielleicht besser kontrollieren oder denen er ­zumindest die Stirn bieten könnte. Das war sehr naiv. Karl zeigte sich alles andere als beunruhigt, sondern führte zu Ende, was sein Vater begonnen hatte. 773 und 774 zog er nach Italien und schlug die Langobarden so vernichtend, dass sie praktisch ausgelöscht wurden. Ein Chronist mit dem einprägsamen Namen Notker der Stammler verfasste folgende Beschreibung Karls des Großen an der Spitze seiner Armee: Und nun sah man den eisernen Karl selbst, mit einem Eisenhelm auf dem Kopf, mit Eisenspangen an den Armen und mit einem Eisenpanzer, der die eiserne Brust und die platonischen Schultern deckte, die hochaufgereckte Eisenlanze in der Linken, weil die Rechte immer nach dem unbesieglichen Stahl ausgestreckt war … Dieser Rüstung hatten sich alle, die ihm voran­ zogen, alle, die zu beiden Seiten ihn umgaben, alle, die ihm nachfolgten, und allgemein die ganze Streitmacht nach Möglichkeit angeglichen. Eisen erfüllte

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die Ebenen und Plätze. Des Eisens Glanz warf die Strahlen der Sonne zurück … vor dem glänzenden Eisen erblaßte der Schauer unterirdischer Gänge. O Eisen! Ach Eisen!, tönte das verworrene Geschrei der Bürger …19

776 war Desiderius gefangen genommen und eingekerkert, Karlmanns Söhne waren verschwunden: Die Klage «O Eisen! Ach Eisen!» war berechtigt. Zur Krönung seines Sieges erklärte sich Karl zum neuen Herrscher der Langobarden. Die langobardischen Herzöge, die sich um die tagtäglichen Regierungsgeschäfte kümmerten, wurden durch fränkische Grafen ersetzt.20 Dieser Griff nach der Macht war außergewöhnlich. In den vergangenen beiden Jahrhunderten hatte kein westlicher König den Thron eines anderen Königs mit Gewalt übernommen.21 Doch Karl hatte aus seinem Wunsch, über einen möglichst großen Teil des Westens zu herrschen, nie ein Geheimnis gemacht, zudem hatte er wie sein Vater eine Vorliebe für schöne Krönungszeremonien. Am Ende des Langobardenfeldzugs krönte er sich selbst mit der berühmten Eisernen Krone der Lango­bardenkönige. Das beeindruckende königliche Herrschaftszeichen, ein mit Emaillearbeiten verzierter und mit Granatsteinen, Saphiren und Amethysten besetzter Goldreif, war bereits damals mindestens zweihundertfünfzig Jahre alt. Der Name bezog sich auf ein dünnes Eisenband, das die Krone auf der Innenseite zusammenhält und angeblich aus einem ­Nagel vom Kreuz Christi gefertigt war.* Laut Überlieferung stammte die Krone aus der Zeit Konstantins des Großen, dessen Mutter Helena sie anfertigen ließ. Die Krone war also eine wundervolle Trophäe – ein Beute­ stück, das nicht nur Karls Vermögen, sondern auch seinen Ruf als frommer König und das Ausmaß seiner Macht steigerte. Doch damit waren seine Ambitionen noch lange nicht befriedigt.

* Die Eiserne Krone wird heute im Johannes dem Täufer geweihten Dom von Monza in Oberitalien aufbewahrt. Sie wurde im Mittelalter mehrfach restauriert und umgearbeitet, unter anderem auch von den Kunsthandwerkern Karls des Großen. Bei einer wissenschaftlichen Untersuchung in den 1990er Jahren zeigte sich, dass das «Eisenband», dessen Material angeblich von der Kreuzigung stammte, in Wirklichkeit aus Silber besteht.

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In den beiden folgenden Jahrzehnten nahm Karl die heidnischen Stämme Sachsens ins Visier, die er nicht nur wie sein Vater ausrauben, sondern erobern und bekehren wollte. Von 772 bis 804 führte er eine Reihe von Kriegen gegen sie, die zahlreiche Menschenleben kosteten und eine große finanzielle Belastung darstellten. Doch am Ende mussten sich die heidnischen sächsischen Stämme fast vollständig unterwerfen. Ihr Land wurde besetzt und kolonisiert, und in Gebieten, in denen das Wort Jesu bisher nicht verkündet worden war, wurden Bistümer eingerichtet und Abteien gegründet. Die Eroberung Sachsens war ein umfangreiches militärisches Unternehmen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sich Karl der Große zur gleichen Zeit mit unabhängig gesinnten Fürsten in Bayern anlegte, mit den unter muslimscher Herrschaft stehenden Basken im Nordosten Spaniens und mit den Awaren, Slawen und Kroaten in Osteuropa. Jahr für Jahr stellte er fränkische Armeen auf und schickte sie in die Grenzgebiete seines sich immer weiter ausdehnenden Reichs. Jahr für Jahr kehrten sie mit reicher Beute aus den Schlachten zurück. Er hatte selten Probleme, genügend Krieger zu rekrutieren. Karl der Große verfügte über eine charismatische Persönlichkeit und war ein hervorragender Stratege. Er wählte seine Ziele sorgfältig aus. Die Sachsen wurden angegriffen, weil sie Heiden waren. Die Awaren, ein nomadisches Steppenvolk und den Hunnen nicht unähnlich, wurden überfallen, weil sie reich waren. Und als Karl der Große ab 795 die muslimischen Herrscher in Spanien attackierte, gab er sich als Organisator eines Bollwerks, das einen angeblich geplanten islamischen Vormarsch verhindern sollte. Diese Pufferzone, die «Spanische Mark», sollte von den Pyrenäen bis zur Mittelmeerküste reichen.* Das heißt nicht, dass Karl der Große jede Schlacht gewann. Doch

* In diesem Zusammenhang sollte man jedoch festhalten, dass sich Karl der Große nicht generell gegen den Islam wandte. Tatsächlich unterhielt er freundschaftliche Beziehungen zum Abbasiden-Kalifen in Bagdad, der ihm zu Beginn des 9. Jahrhunderts ein fantastisches Geschenk sandte: einen asiatischen Elefanten namens AbulAbbas, der über Hunderte von Kilometern auf dem See- und Landweg in Begleitung eines Diplomaten namens Isaak der Jude zu Karl nach Aachen gebracht wurde.

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selbst seine Niederlagen wurden seltsamerweise zu Siegen. 778 führte Karl seine Armee nach einem Aufenthalt auf der Iberischen Halbinsel, wo seine Männer Barcelona und Girona überfallen und Saragossa belagert hatten, zurück ins Frankenreich. Bei der Überquerung eines PyrenäenPasses bei Roncesvaux (Roncesvalles) wurden sie von Feinden angegriffen, die sich an sie herangepirscht hatten. Die überrumpelten Franken wurden eingekesselt. Ihr Tross wurde erbeutet, die Nachhut umzingelt, vom übrigen Heer getrennt und nach einem langen harten Kampf vollständig vernichtet. Einhard schrieb, «dieser Unfall konnte für den Augenblick auch nicht gerochen [sic] werden», weil sich die Angreifer «nach Ausführung des Streichs» schnell wieder zerstreut hätten und in der Dunkelheit verschwunden seien.22 Diese Niederlage hätte eigentlich als Demütigung in die Geschichte eingehen sollen. Aber es kam anders. Denn unter den ­Toten in Karls Heer befand sich auch ein gewisser Roland. Obwohl er von den zeitgenössischen Chronisten, die über die Schlacht berichteten, kaum erwähnt wird, entwickelte er sich zu einer Art Meme und erlangte einen hohen Bekanntheitsgrad. Sein Name wurde zum Inbegriff des ­mutigen christlichen Ritters, der den Heldentod für seinen Herrn und ­seinen Glauben starb, in einer aussichtslosen Lage weiterkämpfte und dafür umso größeren Ruhm erwarb. Im 11. Jahrhundert wurde eine Version der zahlreichen Heldenlieder, die über Roland komponiert wurden, als Versepos unter dem Titel La Chanson de Roland (Rolandslied) niedergeschrieben. Heute gilt es als eines der ältesten erhaltenen Werke der franzö­ sischen Literatur, und auch wenn die darin beschriebene Welt wenig Ähnlichkeit mit dem karolingischen Frankenreich aufweist (dafür aber umso mehr mit dem französischen Königreich zur Zeit der Kreuzzüge), tat das der Popularität der Geschichte keinen Abbruch. Bei der Beschreibung der Höhepunkte der Schlacht von Roncesvaux schildert das Rolandslied, wie Roland sein mächtiges Horn bläst, um Karl den Großen auf die Notlage seiner Truppe aufmerksam zu machen. Er bläst so verzweifelt in sein In­ strument, dass ihm im wahrsten Sinne des Wortes die Adern im Schädel platzen und ihm das Blut aus dem Mund quillt.23 Im weiteren Verlauf des Liedes, als alle Gefährten bereits tot sind und auch Roland selbst im Sterben liegt, erschlägt er mit letzter Kraft einen Sarazenen, der sein Schwert stehlen will, sticht ihm die Augen aus und lässt ihn tot auf dem Boden

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l­ iegen. Schließlich stirbt Roland selbst, doch bevor er seine Sünden bereut und an den Händen der Erzengel Gabriel und Michael ins Paradies geleitet wird, gelten seine letzten Gedanken seinem Land – er denkt ans «süße Frankreich und die Blutsverwandten, an Karl, den lieben Herrn, der ihn erzog».24 Das ist natürlich alles frei erfunden. Vermutlich konnten sich weder Karl der Große noch der unglückselige echte Roland vorstellen, dass eine klägliche Niederlage am Pass von Roncesvaux als Inspiration für eine derart dramatische Schilderung herhalten würde – geschweige denn für eines der grundlegenden Werke der europäischen Literatur. Doch irgendwie war bei Karl dem Großen auch in der größten Niederlage bereits der spätere Triumph angelegt. Gegen Ende des 8. Jahrhunderts zeigten Karls unablässige jährliche Überfälle auf benachbarte Gebiete Erfolg: Die Grenzen des Franken­ reiches hatten ebenso wie die Macht der fränkischen Krone ein noch nie da gewesenes Ausmaß erreicht. Karl war zweifellos der mächtigste Herrscher in Westeuropa und korrespondierte nicht nur mit dem AbbasidenKalifen in Bagdad, mit dem er Geschenke austauschte,* sondern pflegte auch ein enges (jedoch nicht immer freundschaftliches) Verhältnis mit dem kaiserlichen Hof in Konstantinopel. Einmal wollte er sogar seine Tochter Rotrud mit dem byzantinischen Kaiser Konstantin VI . verheiraten, doch zum allgemeinen Bedauern kam die Ehe nie zustande. (Die Politik in Konstantinopel war so unsentimental wie eh und je; 797 ließ Irene, die Mutter des Kaisers, ihren Sohn absetzen und blenden, wodurch er für eine Ehe nicht mehr geeignet war.) Trotz der schwierigen Beziehungen zu Byzanz war Karl im eigenen Land die maßgebliche Macht. Er hatte die unabhängig gesinnten Großen in autonomen Regionen wie Aquitanien besiegt und alle in der fränkischen Welt gezwungen, eine neue Realität zu akzeptieren, in der das alte,

* Neben dem Elefanten berichtet Notker der Stammler auch von Affen, einem Löwen und einem Bären, die Karl vom Kalifen erhielt. Im Gegenzug sandte er spanische Pferde und Maultiere sowie Jagdhunde, die Tiger abschrecken sollten.

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dezentrale System der merowingischen Herrschaft durch eine Struktur ersetzt wurde, die auf einen einzelnen König im Zentrum der Politik ausgerichtet war. Wer diese neue Realität einer zentralisierten, europaweiten Union ablehnte oder Verschwörungspläne gegen den König schmiedete, musste mit brutalen Strafen rechnen; Verstümmelungen und Hinrichtungen im Schnellverfahren waren durchaus nichts Ungewöhnliches. Karl der Große herrschte über die Niederlande, den Großteil des heutigen Deutschlands, die Gebirgspässe, die ins muslimische Spanien führten, und über weite Teile Italiens. Dieses Reich konnte es sicher nicht mit der Größe der ersten islamischen Kalifate oder dem Römischen Reich auf seinem Höhepunkt aufnehmen. Trotzdem standen die Bewohner in einem Gebiet mit über 2,5 Millionen Quadratkilometern zumindest theoretisch unter Karls Herrschaft. Angesichts der Reichweite seiner Macht und seiner persönlichen Hingabe an ein explizit christliches Königtum begann Karl der Große, sich als ein neuer Konstantin der Große zu sehen. Und als sich seine Macht dem Höhepunkt näherte, ließ er entsprechende ­Gebäude errichten, die davon kündeten. Ein Werk, das Jahrhunderte überdauern sollte und dessen Überreste auch heute noch stehen, war ein prächtiger neuer Königspalast in Aachen, der von seiner Vision des König­ tums ­kündet. Die Pfalzkapelle der Aachener Kaiserpfalz, mit deren Bau in den 790er Jahren begonnen wurde, hatte einen achteckigen Grundriss. Der Baumeister Odo von Metz hatte für den Bau die mächtige Kuppel entworfen. Die Kapelle bildete das Herzstück einer Palastanlage, die die anderen karolingischen Pfalzen, Kathedralen und Klöster bei Weitem übertraf, die im 8. und 9. Jahrhundert im gesamten Frankenreich entstanden. (Zu den Bauten, deren Grundmauern heute noch sichtbar sind, gehören beispielsweise die Ruinen der Kaiserpfalz von Ingelheim und die Überreste der Abtei Lorsch.) Für seine Aachener Entwürfe übernahm Odo ­bewusst Elemente der berühmten spätrömischen Bauten. Die achteckigen Mauern der Kapelle erinnerten an die Basilica di San Vitale in Ravenna; die 125 Meter lange Königshalle orientierte sich an der Audienzhalle Konstantins des Großen in Trier. Ein langer gedeckter Gang war vom byzan­ tinischen Kaiserpalast in Konstantinopel inspiriert. Obwohl die heutige Innenausstattung eine Rekonstruktion des 20. Jahrhunderts ist, wissen

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wir dank Einhard, wie die Kapelle zu Beginn des 9. Jahrhunderts aussah: Das «herrliche Gotteshaus zu Aachen», stattete Karl aus «mit Gold und Silber, mit Leuchtern und mit ehernen Gittern und Türen». Ein Großteil dieser Pracht war aus großer Entfernung herbeigeschafft worden. «Da er die Säulen und Marmorplatten für die Kirche anderswoher nicht be­ kommen konnte, ließ er sie aus Rom und Ravenna herbeischaffen.»25 Eine Attraktion in Aachen waren die Thermalquellen, deren Wasser lange mit der heidnischen Gottheit Granus in Verbindung gebracht worden war – der römische Name Aachens, Aquis Granum, geht darauf zurück. Wenn Karl der Große nicht gerade in den heißen Quellen entspannte, sah man ihn oft in seiner schönen Kirche, hoch oben in der königlichen Loge, von der aus er hinunter zum Altar oder hinauf zu einem kunstvollen Mosaikbild Christi im Inneren der großen Kuppel schauen konnte.26 Die Aachener Kaiserpfalz war jedoch nicht nur ein Ort, um zu baden, zu beten und Konstantin dem Großen nachzueifern. Karl war ein gebildeter Mann, und unter seiner Führung wurde die Pfalz zu einem Königshof, an dem sich der Adel zeigen musste. In den Jahren 786/787 war Karl über 3500 Kilometer gereist, um persönlich dafür zu sorgen, dass sein Reich so regiert und verteidigt wurde, wie er es für richtig hielt. Ein rekordverdächtiges Reiseprogramm, mit dem vermutlich kein anderer mittelalterlicher Herrscher mithalten konnte. Auf Dauer ließ sich das jedoch nicht durchhalten. Schon bald beschloss Karl, dass der Berg zum Propheten kommen müsse.27 Er hatte viele Kinder (mindestens neun von seiner zweiten Frau Hildegard), in den 790er Jahren waren seine älteren Söhne erwachsene Männer. Also delegierte Karl einen Großteil der militärischen Verantwortung bei Feldzügen an seine Söhne, während er Besucher in seinen Pfalzen einschließlich der Aachener Pfalz empfing. Da er nun nicht mehr ständig unterwegs war, konnte er sich auf die umfangreichen anderen Aufgaben eines Königs konzentrieren: Gesetze machen, ein massives Programm zum Bau von Kirchen vorantreiben und seine Untertanen ermahnen, ein christlicheres Leben zu führen, wie er es oft in Briefen an seine treuen Franken tat. Darin forderte er sie auf, «Gott den Allmächtigen mit eurem ganzen Kopf und all euren Gebeten zu lieben und stets das zu tun, was ihn erfreut».28 Der Inhalt dieser Briefe war vielleicht nicht sonderlich originell, wich-

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tig war jedoch vor allem, dass Karl sie schrieb. Denn mit seinen Erlassen, mit denen er von seinen Pfalzen in Aachen oder anderen Orten das Fränkische Reich regierte, übernahm er nicht nur die Verantwortung für die weltliche Politik, sondern auch für eine Reform der Kirche. Das bedeutete eine erhebliche Ausweitung der königlichen Aufgaben. Doch sie war eine logische Folge der Beziehung zwischen den Karolingern und der römischen Kirche, die sich während Pippins Herrschaft entwickelt hatte. Die fränkischen Könige hatten durch die Päpste die Zustimmung Gottes ­erhalten. In Karls Augen hatte er dadurch das Recht, sich mit besonderer Autorität zu Themen zu äußern, die das Seelenleben seiner Untertanen betrafen. Da Karl der Grosse mit großem Eifer Urkunden, Briefe und Anweisungen in jeden Winkel seines Reiches und darüber hinaus versandte (oft in Dokumenten enthalten, die Historiker als «Kapitularien» bezeichnen), wurde seine Pfalz in Aachen auch zum Zentrum für die Erstellung von Manuskripten und allgemein ein Ort der intellektuellen Betätigung. Einer der berühmtesten Gelehrten am Hof, der auch als Karls Berater fungierte, war ein englischer Geistlicher und Dichter namens Alkuin von York, der sich mit praktisch allen Themen befasste, von der Dialektik bis zu Gedichten über den Gestank von Latrinen.* Ein Chronist bezeichnete ihn als ­einen in allen Fächern gelehrten Mann.29 Unter Alkuins Leitung wurden an der Aachener Domschule Rhetorik, Theologie und die freien Künste vermittelt. Dabei ermunterte der Meister seine Schüler, es ihm nachzutun und in Karl dem Großen einen neuen «König David» zu sehen. Die Herstellung von Manuskripten war in Aachen genauso wichtig wie die Lektüre. Im frühen 9. Jahrhundert wurde mit einem umfangreichen Programm zur Erhaltung von Wissen begonnen, um in einer Art

* Alkuins Tafel für eine Latrine ist es wert, hier zitiert zu werden, denn sie kombiniert vulgären Humor mit christlichen Ermahnungen: «O Leser, verstehe die Zügellosigkeit deines verschlingenden Bauches, denn das ist es, was du jetzt in deiner stinkenden Scheiße riechst. Sieh deshalb davon ab, die Völlerei deines Bauches zu befriedigen, und lass zu, dass das enthaltsame Leben bald zu dir zurückkehrt.»

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­ uperarchiv das überlieferte Wissen der Antike zu sammeln und zu beS wahren. Im Verlauf des 9. Jahrhunderts wurden in Aachen um die hunderttausend Manuskripte angefertigt, die heute oft die frühesten erhaltenen Kopien von Texten antiker Autoren und Denker darstellen und so die Werke von Cicero über Julius Cäsar bis zu Boëthius für uns bewahrten. Für die gewaltige Aufgabe, diese mittelalterlichen «Big Data» zu organisieren und zu speichern, entwickelten die Schreiber von Aachen eine neue Schrift, die sogenannte karolingische Minuskel. Diese Schrift – besonders schlicht und mit klaren Abständen zwischen den einzelnen Buchstaben und einer für die damalige Zeit ungewöhnlich großzügigen Verwendung von Groß- und Kleinbuchstaben und Satzzeichen – sollte Manuskripte einheitlicher und für die Gebildeten im gesamten Reich leichter lesbar machen, ähnlich, wie heute bestimmte Schriftarten und Programmiersprachen so konzipiert sind, dass sie für alle gängigen Computer und Smartphones lesbar sind. Doch die Kopisten und Schreiber von Aachen waren nicht nur dazu da, unermüdlich nützliche Texte in klarer Schrift zu produzieren. Sie ­arbeiteten auch an Meisterstücken wie dem Krönungsevangeliar, einer Bilderhandschrift auf Vellum (einem besonders feinen Pergament aus Kalbshaut) mit ganzseitigen Porträts der Evangelisten, gekleidet in Togen römischen Stils und mit Ledersandalen an den Füßen. Die Buchmalerei des Krönungsevangeliars ist stark von der byzantinischen Kunst beeinflusst und sehr wahrscheinlich das Werk eines griechischen Meisters namens Demetrius, der in den Westen gereist war, um für Karl den Großen zu ­arbeiten. Das Buch ist so kunstvoll, dass es zu einem der kostbarsten Besitztümer Karls wurde – nach seinem Tod wurde er sitzend und mit dem Buch auf dem Schoß bestattet.* Ganz eindeutig wusste Karl der Große schöne Dinge zu schätzen, und das Wort Gottes war ihm ohnehin wichtig.

* Heute ist das Krönungsevangeliar Teil der Kaiserlichen Schatzkammer und befindet sich in der Wiener Hofburg. Das Buch wurde vermutlich um das Jahr 1000 aus Karls Grab entfernt und im frühen 16. Jahrhundert mit einem imposanten Einband aus vergoldetem Silber versehen, eine Arbeit des Aachener Goldschmiedes Hans von Reutlingen.

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Doch neben der wunderbaren Handwerkskunst hatte er noch einen weiteren Grund, das Evangeliar als seinen kostbarsten Besitz zu betrachten. Denn auf dieses Buch hatte er am Weihnachtstag des Jahres 800 einen heiligen Eid geschworen. Dieser Tag sollte den Höhepunkt der karolingischen Herrschaft markieren und den Verlauf der europäischen Geschichte ein ganzes Jahrtausend lang prägen. An jenem Tag fand die dritte wichtige Krönung seines Lebens statt: ein Ritual, durch das Karl der Große vom mächtigen König zum Kaiser wurde.

Von Königen zu Kaisern Das Frühjahr 799 war für Leo  III . voller Missgeschicke. Leo war vier Jahre zuvor, nach dem Tod des eigenwilligen Hadrian I ., Papst geworden. Zu seinem Amtsantritt hatte Karl der Große Leo großzügig mit Gold und Silber beschenkt, das er von den Awaren erbeutet hatte. Doch der Reichtum brachte auch Probleme mit sich. Denn Leo hatte zwar dank Karls Freigebigkeit wohltätige Werke und luxuriöse Bauprojekte finanzieren können, aber auch den Neid derjenigen auf sich gezogen, die seinem Vorgänger Hadrian nahegestanden hatten. Dieser Fraktion gefiel die Idee von einem starken fränkischen Einfluss in Rom ohnehin nicht. Und nun war sie entschlossen, etwas dagegen zu unternehmen. Am 25. April führte Leo gerade eine Prozession durch die Straßen der Stadt, als mehrere Ganoven über ihn herfielen. Sie rangen ihn zu Boden, rissen ihm die Gewänder vom Leib und versuchten, ihm die Augen auszustechen und die Zunge abzuschneiden. Anschließend schleiften sie den ­armen Leo zu einem nahe gelegenen Kloster, wo sie, wie es in einem Bericht heißt, «zum zweiten Mal auf grausame Weise versuchten, ihm die Augen auszustechen und die Zunge abzuschneiden. Sie schlugen ihn mit Prügeln und fügten ihm mehrere Verletzungen zu, bis er halbtot und blutüberströmt liegenblieb.»30 Sie verkündeten, Leo sei abgesetzt, und sperrten ihn ein. Qualvolle vierundzwanzig Stunden vergingen, bis einige Anhänger, angeführt vom fränkischen Gesandten in Rom, ihn fanden und retteten. Nach dieser Erfahrung war Leo sehr verängstigt, doch durch einen glücklichen Zufall (oder wie andere es sahen, durch das wunderbare Ein-

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greifen Gottes) starb er nicht an seinen Verletzungen und erblindete auch nicht vollständig. Sobald er wieder reisefähig war, floh er über die Alpen zu Karl dem Großen, der sich gerade in Paderborn aufhielt, etwa eine ­Wochenreise von Aachen entfernt, in einer Region, die Karl von den ­Sachsen erobert hatte.31 Dass Leo Schutz bei Karl suchte, war vernünftig. Karl der Große war nicht nur für seine Frömmigkeit und sein Interesse an einer Kirchenreform bekannt, sondern auch der mächtigste Herrscher im Abendland, der laut dem Verfasser eines zeitgenössischen Gedichts, des sogenannten Paderborner Epos (oder Karolus Magnus et Leo papa) die Beinamen «erhabener Leuchtturm» und «Vater Europas» trug.32 So, wie sich Leos Vorgänger an Pippin gewandt und ihn gebeten hatten, sie vor den Langobarden zu beschützen, flehte Leo nun Pippins Sohn an, seine Würde – und sein Amt – zu retten. Leos Eintreffen in Paderborn wurde gebührend gefeiert. Vielleicht wurde Karl an seine Kindheit erinnert und an den Besuch Papst Stephans 754 bei seinem Vater. Jedenfalls beherbergte Karl den Papst «einige Zeit lang mit großen Ehren», wie ein Chronist schrieb.33 Der Autor des Paderborner Epos zeichnete ein lebendigeres Bild: Sowie der Gottesdienst nach Gebühr vollendet, bittet Karl Papst Leo zu sich in den hohen Palast. Herrlich erstrahlt darin mit gewebten Teppichen die Halle, von Gold und Purpur reich geschmückt sind überall die Sitze … So feiert man das Festmahl drinnen in der Pfalz, und auf den Tischen bauchen sich die goldnen Krüge mit Falerner.* Der König Karl und Leo, der höchste Bischof auf Erden, speisen zusammen, trinken aus Schalen schäumenden Wein …34

Das klingt schon fast nach einer vergnügten Feier. Karl der Große konnte es sich auch leisten, fröhlich zu feiern. Er hatte den Papst zu seiner Verfügung. Was sich neben dem guten Wein und anderen Annehmlichkeiten an

* Der berühmteste Wein im alten Rom. Vermutlich hier als Metapher verwendet, um auf den Kaisertitel hinzudeuten, den Papst Leo Karl verleihen sollte – es ist aber auch möglich, dass Leo tatsächlich feinsten römischen Wein mitbrachte, um den fränkischen König zu beeindrucken.

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hoher Politik zwischen Karl und Leo 799 in Paderborn abspielte, ist nicht verlässlich überliefert. Auf jeden Fall handelten die beiden einen Deal aus, der deutlich weiter ging als der bisherige Pakt zwischen Papsttum und Karolingern. Darin wurde anerkannt, dass die Karolinger seit den 750er Jahren nicht nur Herrscher über das Frankenreich waren, sondern über weite Teile Mittel- und Westeuropas. Die Franken und nicht die Byzantiner waren nun die weltliche Schutzmacht der Päpste. Und der neue Pakt belohnte Karl dafür, dass er die Beute aus seinen Kriegen gegen Ungläubige – die Muslime in al-Andalus, die Awaren und Sachsen – für sein Programm zum Bau von Kirchen und Klöstern nutzte. Kurz gesagt, das neue Abkommen verlieh dem Frankenkönig einen Status, den er seit Langem ersehnt hatte – einen Titel, der ihn mit seinem Helden Konstantin dem Großen gleichsetzte. Karl der Große erklärte sich bereit, Leo bei seiner Rückkehr nach Rom mit fränkischen Truppen zu unterstützen und seine Feinde zu vernichten. Als Gegenleistung wurde Karl eine weitere Krönung versprochen. Allerdings würde er sich danach nicht als König er­ heben, sondern als «Kaiser und Augustus».35 Und so wurde Karl Ende November des Jahres 800 mit größtem päpstlichen Pomp in Rom empfangen. Bei seiner Ankunft ritt Leo ihm entgegen und begrüßte ihn über 30  Kilometer vor der Stadt. Später ­empfing er ihn offiziell auf den Stufen zur Basilika Sankt Peter. Mehrere Wochen lang war Karl damit beschäftigt, die Papstgegner aus der Stadt zu vertreiben. Schließlich besuchte er am Weihnachtstag eine Messe, ­gekleidet in altrömischer Tracht samt «Langer Tunika» und Sandalen.36 Dabei krönte Leo ihn öffentlich zum Kaiser und ehrte ihn mit einem Kniefall. Einhard behauptete später – wenig überzeugend –, Karl habe nichts von Leos Plänen gewusst und sei von der großen Ehre überrascht gewesen.37 Doch das ist Unsinn: Einhards Heuchelei zielte auf die byzantinischen Leser ab, die Karls Griff nach dem Kaisertitel missbilligten. Tatsächlich war Karls Krönung zum Kaiser alles andere als eine Überraschung, sondern sorgfältig geplant und ein bewusster, wenn auch revolutionärer Schritt. Damit wurde in West- und Mitteleuropa das Reich wiederher­ gestellt, das dort seit mehreren Jahrhunderten nicht mehr existierte und nun selbst in Konstantinopel zu wanken schien, wo  – Gott bewahre  –

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eine Frau, die Kaiserin Irene (797–802), auf dem byzantinischen Thron saß. Was an Weihnachten in Sankt Peter stattfand, war nichts Geringeres als die Wiederbelebung des Römischen Reiches. Zumindest sah Karl der Große das so. Im Februar 806, als er offiziell seine Pläne bekanntgab, sein Reich an seine drei Söhne Karl, Pippin und Ludwig zu übergeben, bezeichnete er sich selbst als Serenissimus Augustus a deo coronatus magnus, pacificus imperator, Romanum gubernans imperium, qui et per misericordiam Dei rex Francorum et Langobardorum  – der erlauchteste Erhabene, von Gott gekrönter, großer, Friede bringender Kaiser, der das Römische Reich regiert und durch Gottes Barmherzigkeit auch König der Franken und Langobarden ist.38 Vier Jahrhunderte später, während der Herrschaft Friedrichs I . Barbarossa, entstand eine Tradition, nach der Kaiser, die offiziell vom Papst gekrönt worden waren, den Titel Kaiser des «Heiligen Römischen Reichs» führen konnten, und diese Bezeichnung für ihr Herrschaftsgebiet hielt sich bis zu den Napoleonischen Kriegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts.

Das Reich zerbricht Mit zunehmendem Alter wurde Karls Gesundheit immer schlechter. Seine Gefährten erkannten erste Vorzeichen für seinen nahenden Tod. «In den drei letzten Jahren seines Lebens gab es sehr viele Sonnen- und Mondfinsternisse, und an der Sonne bemerkte man sieben Tage lang einen schwarzen Flecken», erinnerte sich Einhard. Die Balken im Palast in ­Aachen schienen geisterhaft zu knarren, als ob sie wüssten, dass ihr Bauherr litt, und sie seine Schmerzen spüren würden; die Kirche, in der Karl begraben werden wollte, wurde von einem Blitzschlag getroffen. Obwohl Karl die Vorzeichen abtat und sich benahm, «als ginge ihn keines von ­ihnen irgend etwas an», waren andere überzeugt, dass sein Ableben unmittelbar bevorstand.39 Und so war es dann auch. Ende Januar 814, im 47. Jahr seiner Regierung, bekam er plötzlich hohes Fieber und Schmerzen in der Seite. Er versuchte, die Krankheit mit strengem Fasten zu ­kurieren, doch dadurch verschlechterte sich sein Zustand weiter. Der Kaiser starb am 28. Januar um 9 Uhr morgens, er wurde feierlich in Aachen

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beigesetzt. «Die Franken, die Römer, alle Christen spüren eine brennende Sorge und große Trauer», schrieb ein anonymer Mönch im norditalienischen Kloster Bobbio. «Junge und Alte, ruhmreiche Adlige und Matronen, sie alle beklagen den Verlust ihres Cäsaren.»40 Während seines langen Lebens hatte Karl der Große viele Nachkommen gezeugt. Mit vier Ehefrauen und mindestens sechs Konkubinen hatte er achtzehn Kinder (oder auch mehr), darunter seine drei legitimen Söhne Karl, Pippin und Ludwig. Man hatte erwartet, dass die karolingischen Gebiete bei seinem Tod unter ihnen aufgeteilt werden würden und der eine Sohn die Eiserne Krone der Langobarden, der andere das große zentrale Reich und die nördlichen Königreiche Austrasien und Neustrien und ein dritter Sohn Aquitanien und die spanischen Marken erhalten würde. Karl hing der altmodischen merowingischen Illusion an, dass seine Söhne sein christliches Reich im Geist christlichen Friedens und familiärer Harmonie regieren würden: dass sie hart gegen die verschiedenen Feinde an ihren gemeinsamen Grenzen durchgreifen, aber friedlich miteinander umgehen würden, verbunden durch Blutsbande und gegenseitigen Respekt für das große europäische Projekt. Doch es sollte nicht lange dauern, bis sich erste Schwächen dieser Vision zeigen würden.*

* Der Vergleich ist zwar etwas weit hergeholt, doch mir fällt in diesem Zusammenhang die Landkarte Europas am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein: eine große Zahl von Königreichen, deren Herrscher fast alle miteinander verwandt waren (und tatsächlich stammten fast alle von Karl dem Großen ab) und die sich der Täuschung hingaben, dass ihre Blutsverwandtschaft stärker sein könnte als ihre Rivalitäten und ihre Gegnerschaft. Besonders deutlich (und mit verheerenden Folgen) kommt das in den berühmten «Willy-Nicky-Telegrammen» vom September 1914 zum Ausdruck, in denen die beiden Cousins Zar Nikolaus II. von Russland und Kaiser Wilhelm II. von Deutschland gegenseitig versuchten, sich den Krieg mit dem Hinweis auf ihre persönlichen Beziehungen auszureden. («Ich [bitte] Dich im ­Namen unserer alten Freundschaft, alles Dir mögliche zu tun, um Deinen Bundesgenossen davon zurückzuhalten, zu weit zu gehen. gez. Nikolaus»). Zitiert in: Die Deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch, hg. von Max Montgelas und Walter Schücking, Bd. 4 (Charlottenburg 1919), Dokument Nr. 332.

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Sardinien TYRRHENISCHES MEER IONISCHES MEER Sizilien

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Zweiter Teil: Herrschaft

In Karls Todesjahr 814 war von den Brüdern nur noch Ludwig (bekannt als «der Fromme») am Leben. Er war im Vorjahr in Erwartung seiner Nachfolge zum Mitkönig gekrönt worden und übernahm nun das komplette Karolingerreich mit Ausnahme des Langobardenreichs, das an einen Neffen Ludwigs, einen gewissen Bernhard, ging. Allerdings hatte Ludwig Mühe, das zusammenzuhalten, was sein Vater zusammengefügt hatte. ­Einige seiner Probleme waren auf die schiere Größe seiner Aufgabe zurückzuführen, es kostete viel Kraft, ein Territorium von 2,5  Millionen Quadratkilometern zu verwalten und gegen Angriffe zu verteidigen. Doch viel problematischer war die eigene Familie. Von Anfang an musste Ludwig nach Mitteln und Wegen suchen, die Ambitionen seiner männlichen Verwandtschaft im Zaum zu halten, darunter auch die seiner eigenen vier Söhne. Alle wollten einen Anteil am Reich, und keiner war bereit, geduldig zu warten, bis er an der Reihe war. Bereits drei Jahre nach Ludwigs Machtantritt rebellierte Bernhard, König der Langobarden und der illegitime Sohn Karlmanns, der unter dem Namen Pippin König von Italien war. Auslöser war eine 817 erlassene Erbfolgeregelung, die Ordinatio imperii. Darin versuchte Ludwig, die Hierarchie im Karolingerreich zu klären und eine Nachfolgeregelung nach seinem Tod zu finden. Ludwig implizierte (auch wenn er es nicht ausdrücklich so formulierte), dass Bernhard nach seinem Tod die Oberhoheit seines ältesten Sohns Lothar anerkennen sollte. Das war eigentlich ganz vernünftig. Doch Bernhard war in seinem Stolz verletzt.41 Verärgert betrachtete er seine Verbindung mit dem paneuropäischen Imperium nicht mehr als eine für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaft, sondern als Sackgasse, in der ihm nur die Wahl blieb zwischen Unabhängigkeit und Unterwerfung.* Schon bald ging das Gerücht, Bernhard schmiede Pläne, sich mit seinem italienischen Königreich von der Union loszusagen und die vermeintlichen Früchte seiner Unabhängigkeit zu genießen. Als Ludwig von den Gerüchten hörte, ließ er Bernhard verhaften, er wurde vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Ludwig zeigte zwar, wie er behauptete, Milde, indem er das Todesurteil aufhob und Bernhard stattdessen

* Siehe auch: Brexit.

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blenden ließ, doch dabei wurde so brutal vorgegangen, dass Bernhard seinen Verletzungen erlag – vermutlich eine Kombination aus Blutverlust, Infektion und Schock. Bernhards Verschwörungspläne und sein Tod zeigten nicht nur, wie brüchig das europäische Reich war, das nur durch gemeinsame Werte und, wie es in der Ordinatio imperii hieß, «gemeinsamen Nutzen oder ­dauerhaften Frieden in wechselseitiger brüderlicher Liebe» zusammen­ gehalten wurde, sondern brachten Ludwig auch massive Kritik ein.42 Im Sommer 822 bekannte er öffentlich seine Sünden und tat Buße bei einem Reichstag und großen karolingischen Familientreffen, an dem auch Papst Paschalis  I . teilnahm. Die pro-königlichen Fränkischen Annalen zeigen sich hinsichtlich der Details der Buße bemerkenswert zurückhaltend, betonen jedoch, dass sich Ludwig für mehr entschuldigte als nur für Bernhards Tod. Der Kaiser legte «ein öffentliches Bekenntnis ab und tat deswegen Buße. Dies geschah auf dem Reichstag … im Beisein seines ganzen Volkes, wo er auch, was er sonst noch dieser Art von ihm und seinem ­Vater begangen finden konnte, mit der größten Demut gut zu machen besorgt war», heißt es darin.43 Doch Entschuldigungen und rituelle Buße konnten das Grundproblem nicht aus der Welt schaffen: Ludwig war ein Reich hinterlassen worden, das zu groß war, als dass er es hätte zusammenhalten können. Zwischen 830 und 840 kam es zu einer Reihe größerer Aufstände, bei denen sich Ludwigs Söhne in verschiedenen Bündnissen zusammentaten, um ihren Erbanteil am Reich zu vergrößern. Wie bei den Karolingern ­üblich, wurden viele grausame, mörderische und schändliche Taten begangen, Gegner wurden geblendet, ertränkt und ins Exil geschickt, Ludwigs Frau, Kaiserin Judith, wurde der Hexerei und des Ehebruchs bezichtigt, und allgemein hatte jeder nur den blanken eigenen Vorteil im Sinn. Im Juni 833 standen sich Ludwigs Heer und das seines ältesten Sohnes Lothar auf dem Rothfeld bei Colmar gegenüber. Lothar hatte aufmerksam die ­karolingische Familiengeschichte studiert und Papst Gregor  IV . überzeugt, ihn als Herrscher zu unterstützen. Lothars Ränkespiel scheint Ludwigs Anhänger schwer beeindruckt zu haben; fast alle ließen ihn im Stich und liefen zu seinem ältesten Sohn über: ein Akt kollektiver Rückgratlosigkeit, der dem Ort des Aufeinandertreffens den Beinamen «Lügen-

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feld» einbrachte. Ludwig blieb nichts anderes übrig, als sich zu ergeben. Er war nun ein Gefangener, und Lothar trug die Reichskrone. Noch dazu schleppte der Sohn seinen Vater durch ganz Europa, während er sich als Herrscher versuchte. Dieser absurde Zustand hielt jedoch nicht lange an, was womöglich auch daran lag, dass er auf Frevel gründete. Ludwig wurde ein Jahr später bei einem weiteren Aufstand innerhalb der Familie wieder als Kaiser ­restituiert. Das Schicksal von Karls Reich war trotzdem besiegelt. Wie Alexander der Große hatte auch Karl der Große ein Reich errichtet, das allein durch ihn als politische Person zusammengehalten wurde. Als Ludwig 840 starb, waren drei seiner Söhne noch am Leben. Nach einigen weiteren Kriegen entschieden sie 843, den europäischen Traum zu begraben. Das Karolingerreich wurde mit dem Vertrag von Verdun offiziell in drei Königreiche aufgeteilt: das Westfränkische Reich, das Mittelreich und das Ostfränkische Reich. (Ganz grob entsprachen die drei Teile dem heutigen Frankreich, Norditalien mit Burgund und Westdeutschland.) Im Verlauf des 9. Jahrhunderts kam es zu weiteren Aufteilungen und zu zeitweiligen Kriegen zwischen den Reichen, deren karolingische Herrscher sich als Nachfahren Karls des Großen für wesentlich mächtiger ­hielten, als sie es tatsächlich waren. Gegen Ende des Jahrhunderts konnte Karls Urenkel, der unglückliche, untätige und von Epilepsie geplagte Karl III ., auch der Dicke genannt, Anspruch auf alle fränkischen Gebiete erheben. Doch mit seinem Tod 888 zerfiel das Reich wieder in seine Bestandteile Ostfränkisches und Westfränkisches Reich, Deutschland, Burgund, die Provence und Italien. Im Mittelalter träumten viele davon, die Bruchstücke wieder zusammenzufügen, doch es sollten fast tausend Jahre vergehen, bis ein Herrscher wieder das gesamte karolingische Erbe in Händen hielt. Sein Name war Napoleon Bonaparte – ein weiterer großer Krieger und Ländersammler, dem man sich nur schwer widersetzen konnte, dessen Karriere jedoch nur hervorhob, was Karl der Große ge­ leistet hatte: In jedem Jahrtausend war es nur ein- oder zweimal möglich, ­Europa zu einen, und selbst dann nicht für sehr lange.

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Die Ankunft der Nordmänner Im Frühjahr 845, als der jüngste Sohn Ludwigs des Frommen, Karl der Kahle, über das Westfrankenreich herrschte, führte ein dänischer Kriegsherr namens Ragnar eine Flotte von hundertzwanzig Schiffen die Seine hinauf. Gelegentlich wird behauptet, dieser Ragnar sei das Vorbild für den legendären Ragnar Lodbrok («Lodenhose») gewesen, Star dänischer Chroniken, isländischer Sagen und einer überaus erfolgreichen Fernsehserie des 21. Jahrhunderts: ein körperlich gewaltiger, sexuell poten­ter und äußerst geschickter Seemann, der die Hochsee ebenso befahren hatte wie tückische Flüsse, und der mit seinen Männern bis nach England und in die baltischen Länder der Kiewer Rus vorgedrungen war.44 Was davon wahr ist und was nicht, lässt sich nur schwer sagen. Doch wie auch immer: Der Ragnar, der 845 die Franken angriff, war sehr gefährlich. Nachdem Ragnar und seine Leute etwa 120 Kilometer die Seine hi­ naufgefahren waren, sprangen sie von ihren schlanken Schiffen und gingen auf Raubzug. «Unzählige Schiffe fahren die Seine hinauf, und in der gesamten Region macht sich das Böse breit», heißt es verzweifelt in einer Chronik. «Rouen ist verwüstet, geplündert und niedergebrannt …».45 Damit waren Ragnars Männer aber noch lange nicht erschöpft  – im ­Gegenteil, aufgeputscht und auf weitere Raubzüge aus, fuhren sie weiter den Fluss hinauf, bis sie gegen Ostern in Paris eintrafen. Mit damals nur ­wenigen Tausend Einwohnern war Paris noch lange nicht das Machtund Wirtschaftszentrum, das es im Spätmittelalter werden sollte. Doch die Stadt war damals schon reich. Vor allem die Schätze in der könig­ lichen Abtei von Saint-Denis waren verlockend. Und wenn sich Ragnar mit etwas auskannte, dann war es das Ausrauben von Gotteshäusern. Als König der Westfranken konnte Karl der Kahle nicht tatenlos mitansehen, wie dieser dänische Grobian sich die Taschen füllte. Zusammen mit anderen «Nordmännern» – oder Wikingern, was entweder «Piraten» oder «Buchtbewohner» bedeutete – versetzten die Dänen die Karolinger seit Jahrzehnten in Angst und Schrecken. Doch in den letzten Jahren hatten die Reichweite und das Ausmaß ihrer Raubzüge auf fränkischem Terri­torium massiv zugenommen. Also stellte Karl der Kahle ein Heer

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auf, teilte es in zwei Gruppen – eine für jedes Seineufer – und machte sich daran, Ragnar zu verjagen. Allerdings verlief die Aktion ganz anders als geplant. Während die Langobarden vor langer Zeit beim Anblick der Franken «O Eisen! Ach Eisen!» gerufen hatten, zeigten Ragnar und seine Nordmänner die Zähne. Sie isolierten eine Gruppe fränkischer Krieger, nahmen sie gefangen und ruderten mit ihnen auf eine Insel mitten in der Seine, wo Karl der Kahle und der Rest seiner Truppe sie sehen, aber ihnen nicht helfen konnten. Nach der Landung auf der Insel ließ Ragnar hundertelf Gefangene hängen. Da Karl der Kahle die Nordmänner nicht vertreiben konnte, sondern sogar befürchten musste, dass sie wenig von Paris übrig lassen würden, erklärte er sich bereit, Ragnar 7000 Pfund Silber und Gold zu zahlen, wenn er wieder abzog. Das war eine astronomisch hohe Summe, und allein ihre Höhe war eine schwere Demütigung für den fränkischen König. Karls einziger Trost war, dass er nicht der einzige Herrscher war, dem die Nordmänner Schande bereiteten. Im selben Jahr griffen skandinavische Flotten Hamburg (im Ostfränkischen Reich Ludwigs des Deutschen) an, Friesland (im Mittelreich Lothars) und Saintes in Aquitanien. Einst waren die Franken die gefürchtete Militärmacht im Westen gewesen. Jetzt waren es die Nordmänner. Von den Nordmännern – oder Wikingern – wird oft gesagt, sie seien Ende des 8. Jahrhunderts plötzlich von ihren Siedlungen an den Küsten im heutigen Schweden, Norwegen und Dänemark aufgebrochen, um in anderen Ländern einzufallen. Die berühmteste Schilderung ihrer Ankunft auf christlichem Gebiet stammt aus England. 793 tauchten Krieger an der Küste von Northumbria auf, sprangen von ihren Schiffen und raubten die Insel Lindisfarne aus, entweihten das dortige Kloster und ermordeten die Mönche. Dieser brutale Überfall erschütterte das gesamte Abendland. Als die Nachricht den Hof Karls des Großen in Aachen erreichte, schrieb Alkuin von York dem König von Northumbria und drückte sein Bedauern aus, dass die «Kirche des Heiligen Cuthbert mit dem Blut der Priester Gottes bespritzt ist, all ihrer Einrichtung beraubt, der Plünderung durch Heiden ausgesetzt».46 Er schlug dem König vor, als Reaktion auf den Vorfall seine Gewohnheiten zu überdenken, was sich

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etwa darin äußern könne, dass er und seine Adligen christlichere Frisuren tragen und sich gottgefälliger kleiden sollten. Doch es war zu spät, Gott milde zu stimmen. Die Nordmänner würden ihre Stärke noch in der gesamten westlichen Welt unter Beweis stellen. Im darauffolgenden Jahr, 794, führten sie ihre Raubzüge auf der ­anderen Seite der Britischen Inseln durch, auf den Hebriden. 799 überfielen die Wikinger das Kloster Saint-Philibert auf der Insel Noirmoutier südlich der Loiremündung an der Atlantikküste. Sechzig Jahre später gehörten die Raubzüge der Wikinger nicht nur an der Nordsee und Irischen See zum Alltag, sondern auch an so weit entfernten Orten wie Lissabon, Sevilla und Nordafrika. Die Nordmänner legten sich mit ­jedem an, ob Angelsachsen, Iren, Umayyaden oder Franken. 860 segelte eine Gruppe Krieger, die von den Wikingern abstammte, vom nord­ westlichen Russland sogar über den Dnepr und das Schwarze Meer bis nach Konstantinopel und belagerte die Stadt. Der Chronist von Noirmoutier hatte zwar nur einen Überfall von vielen miterlebt, brachte aber dennoch das gesamte Zeitalter auf den Punkt: «Die Zahl der Schiffe wächst, der endlose Strom der Wikinger steigt unaufhörlich an … die Wikinger erobern alles, was ihnen in den Weg kommt, niemand kann sich ihrer erwehren.»47 Die Skandinavier tauchten im späten 8. Jahrhundert jedoch nicht einfach aus dem Nichts auf. Über tausend Jahre zuvor, etwa 325 v. Chr., unternahm der griechische Seefahrer und Entdecker Pytheas eine berühmte Reise in den eiskalten Nordwesten der damaligen bekannten Welt und kam in Kontakt mit einem Ort namens «Thule», der Norwegen oder ­Island gewesen sein könnte (oder auch nicht).48 Etwa zur selben Zeit ­waren die Bewohner Dänemarks in der Lage, geklinkerte* Plankenboote zu bauen. Das sogenannte Hjortspring-Boot, das in den 1920er Jahren auf der dänischen Insel Als in einem Sumpf ausgegraben wurde, zeigt, dass

* Bei der Klinkerbauweise werden die Planken des Schiffsrumpfs überlappend angebracht  – eine deutliche Verbesserung zu früheren Techniken des Kanubaus, bei ­denen ein einzelner Baumstamm ausgehöhlt wurde.

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die damaligen Bewohner Skandinaviens mit bis zu zwanzig Mann an Bord auf dem Meer unterwegs waren. Auch in den nachfolgenden Jahrhunderten war die Präsenz der Nordmänner am Rand der bekannten Welt allgemein anerkannt. Zur Zeit von Augustus erkundete das römische Militär Jütland. 515 überfiel ein dänischer Herrscher namens Chochilaicus fränkisches Gebiet in Friesland. (Chochilaicus lieferte eventuell das Vorbild für Hygelac, den König der Gauten und Onkel von Beowulf, dem Helden des gleichnamigen früh­ mittelalterlichen Gedichts.) Doch bis ins 8. Jahrhundert hatte man die weit entfernt lebenden Nordmänner nur selten, und wenn, dann nur flüchtig zu Gesicht bekommen. Der Norden war zwar über Handelsrouten ­erschlossen, die bis zur Seidenstraße reichten, doch die Verbindungen ­waren nicht sehr ausgeprägt und durch die Völkerwanderungen im 5. und 6. Jahrhundert stark beeinträchtigt worden. Und nicht zuletzt sorgte die Geografie für eine zusätzliche Isolation. Es ist schon aufschlussreich, dass bis zum frühen Mittelalter weder das Christentum noch der Islam die nördliche Welt erreicht hatte, die noch bis zum ersten Jahrtausend von den monotheistischen Wüstenreligionen und der Verehrung des Buches und des Wortes abgeschnitten war. Da die Kultur der Wikinger sich selbst überlassen blieb, entwickelte sie sich eigenständig und war überwiegend von der einzigartigen Landschaft und den Bedingungen der arktischen Randgebiete beeinflusst. Das Weltbild der Wikinger wurde vor allem vom Klima geprägt. Möglicherweise sind die Vulkanausbrüche, die in den 530er und 540er Jahren zu einem globalen Temperatursturz und Ernteausfällen führten, der Grund dafür, dass sich die Geschichten der Wikinger über die Schöpfung und den Weltuntergang um das Leben der Bäume und das Eintreffen des Fimbulwinters drehten, bei dem die Erde gefrieren und alles Leben enden würde. Die Nordmänner verehrten eine bunte Schar von Göttern, wie Odin, Ull, Balder, Thor und Loki. Sie lebten mit der Vorstellung, dass ihr Leben von übernatürlichen Wesen beeinflusst wurde, etwa den Walküren und Fylgjur, aber auch Elfen, Zwergen und Trollen. In einer vielfältigen und oft extremen Natur, die eng mit dem «anderen» verbunden war, entdeckten sie überall etwas Magisches oder Mystisches.49 Sie interagierten mit diesem unsichtbaren Reich auf eine Art und Weise, die weit von den

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liturgischen, institutionalisierten Religionen wie dem Christentum, Islam und Judentum in Europa und im Nahen Osten entfernt war und sich etwa darin äußerte, dass sie den Göttern und Geisterwesen Lebensmittel an­ boten oder rituelle Menschenopfer darbrachten. Historiker rätseln seit Jahrzehnten, warum die Wikinger plötzlich, im Verlauf von nur zwei Generationen, ihre relative Isolation aufgaben und loszogen, um den Westen zu terrorisieren  – und zu kolonisieren. Poli­ tische Umbrüche, eine kulturelle Revolution, Klimaveränderungen und ­demografischer Druck wurden schon als Gründe genannt.50 Doch wie bei allen großen Fragen gibt es keine klare, einfache Antwort. Für unsere Zwecke ist wohl vor allem interessant, dass genau in dem Moment, in dem sich die wirtschaftlichen Bedingungen und die allgemein verfügbare Technik in der skandinavischen Welt änderten, die fränkische Welt und ihre etablierte Ordnung Auflösungserscheinungen zeigten. Seit dem 5. Jahrhundert hatte sich die Bootstechnik in Skandinavien kontinuierlich verbessert, vielleicht begünstigt durch die Möglichkeiten, die der Handel im Nordseeraum und entlang der ausgedehnten, von Fjorden zerklüfteten und über 1600  Kilometer langen norwegischen Westküste bot.51 Die Boote wurden größer und schneller, mit starken Kielen und mächtigen Segeln, einem tiefen, flachen Rumpf von über 20 Metern Länge und einer Besatzung, die so groß war, dass sie sich 24 Stunden lang abwechseln konnte.52 Gleichzeitig stieg der Druck auf junge Wikingermänner, in die Welt hinauszuziehen und auf Raubzug zu gehen. In einer Gesellschaft, die es Männern immer noch erlaubte, mehr als eine Frau zu heiraten (und womöglich auch weibliche Säuglinge zu töten), mussten Männer ein «Brautgeld» für eine prestigeträchtige Ehe zahlen und etwas für ihr soziales Ansehen tun. Und das ging am besten mit Handel oder ­Piraterie – oder ein bisschen von beidem. Vor diesem Hintergrund ereigneten sich nun die von den Karolingern herbeigeführten weitreichenden Veränderungen in Europa. Unter Karl dem Großen wurden die Franken für die Nordmänner zunehmend interessant. Zum einen verlagerte sich die Grenze des Frankenreiches durch Karls Kriege gegen die Sachsen nach Norden, bis sie die Gebiete der Wikinger berührte. (Ab 810/11 gab es eine «Dänische Mark» im Norden des Reichs, die als militarisierte Pufferzone gegen die nördlichen Heiden diente.) Zum

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anderen gründeten die Karolinger viele Klöster und andere christliche Stätten, die sie noch dazu reich ausstatteten. Bewegliches Vermögen wurde in großen Mengen in die Hände der Mönche gelegt: den körperlich schwächsten Männern in der Gesellschaft. Dazu kam, dass viele Klöster  – wie ­Saint-Philibert auf Noirmoutier, einer kleinen Insel südlich der Loire­ mündung  – an der Küste oder an Flüssen oder anderen Orten fern des welt­lichen Treibens errichtet worden waren, um die Mönche von Gewalt aus der Gesellschaft fernzuhalten – zumindest war das die Absicht. Den hochmobilen Kriegergruppen, die mit den besten Schiffen außerhalb des Mittelmeerraums ausgestattet waren, müssen diese Früchte überaus verlockend und zum Greifen nah erschienen sein. Albuin von York hatte ihre Brutalität mit der der alten Goten und Hunnen verglichen.53 Als sich die fränkischen Herrscher in den 830er und 840er Jahren in ­einem zerstörerischen Bürgerkrieg gegenseitig schwächten und das einst unangreifbar wirkende Reich schließlich in drei Teile zerfiel, war es an der Zeit, die Früchte zu ernten.

Von den Wikingern zu den Normannen Seit der Mitte des 9. Jahrhunderts mussten die Franken mit der Tatsache klarkommen, dass sie in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer nach außen hin mobilen Gesellschaft lebten, deren räuberische Ambitionen sich auf die gesamte westliche Welt erstreckten. Es gab nur wenige Orte, die für die Wikinger nicht erreichbar waren. Mit den immer weiteren Strecken, die sie zurücklegten, änderte sich auch die Art ihrer Angriffe. An die Stelle der kleinen Raubüberfälle auf Ziele an der Küste im 8. Jahrhundert, nach denen sie so schnell wieder verschwunden waren, wie sie ­gekommen waren, traten im 9. Jahrhundert große Feldzüge mit Belagerungen, die das Ziel verfolgten, andere Völker zu unterwerfen und sich selbst in deren Heimat niederzulassen. Fast überall mühten sich die etablierten Mächte, die Angriffe der Wikinger einzudämmen. In England fiel 865 das «Große Heidnische Heer» der Wikinger ein, vermutlich unter der Führung von vier Söhnen Ragnar Lodbroks, darunter auch Ivar der Knochenlose oder der Beinlose, der sei-

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nen Namen vielleicht aufgrund eines Handicaps am Bein hatte. Frühere Generationen der Wikinger hatten Klöster und reiche Städte wie London, Canterbury und Winchester ausgeraubt. Doch das Große Heidnische Heer war eine vollständig ausgerüstete Eroberungsarmee, die es darauf abgesehen hatte, die Macht der angelsächsischen Könige zu brechen, die über die Kleinkönigreiche Northumbria, Mercia, Wessex und East Anglia herrschten. Mit dem Heer reisten Siedler, darunter auch viele Frauen; sie waren nach England gekommen, um dort zu leben, nicht bloß das Land auszurauben. Und sie hatten Erfolg. 869 wurde Edmund, der König von East Anglia, von den Wikingern im Kampf getötet.* In den 880er Jahren befand sich dann halb England unter skandinavischer Kontrolle oder unter ihrer direkten Herrschaft; der Vormarsch der Wikinger wurde erst nach einem langen Kampf unter der heroischen Führung von Alfred, dem König von Wessex, beendet. Zwischen 878 und 890 wurde irgendwann ein Vertrag geschlossen, der die Teilung Englands offiziell machte, wobei der größere Teil im Norden und Osten des Landes zum «Wikingergebiet» wurde, zum sogenannten Danelag. Im Danelag galt ein anderes Recht, eigene Münzen waren im Umlauf (darunter auch solche, auf die Thors Hammer geprägt war), neue Sprachen kamen in Gebrauch, und die Ortsnamen änderten sich.** Alte und neue Götter vermischten sich, weil die neuen Siedler ihre nordischen Gottheiten mitbrachten, aber auch christliche Riten übernahmen. Die skandinavischen Interessen an England oder Teilen davon bestanden bis 1042 und endeten erst mit dem Tod Hardiknuts, der König von England und Dänemark war.

* In der hagiografischen Legende, begeistert gefördert von den Mönchen, die den Zugang zum königlichen Grab in Bury St. Edmund ’s kontrollierten, hieß es, König ­Edmund habe sich geweigert, sein Königreich aufzugeben, wenn die Wikinger nicht zum Christentum übertraten; daher wurde er an einen Baum gefesselt und mit Pfeilen beschossen und anschließend enthauptet. ** In York, einst ein bedeutendes Zentrum der nordischen Besiedelung Englands, finden sich in den Straßennamen heute noch Hinweise auf die skandi­navische ­Besetzung: Coopergate, Stonegate und Micklegate leiten sich etymologisch vom altnorwegischen Wort «gata» ab.

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Doch England war nur ein Aspekt. Die Wikinger handelten, kämpften und siedelten sich auch auf den irischen und schottischen Inselkönig­ reichen an: den Orkney-Inseln, den Hebriden, der Isle of Man und auf ­Anglesey. In Irland gründeten Wikinger ein bedeutendes Königreich rund um Dublin, das sich bis ins 11. Jahrhundert halten konnte. (Das Königreich Dublin profitierte von einem blühenden Sklavenhandel: Die Sklaven, sogenannte «thralls», wurden im Landesinneren gefangen und konnten bis nach Island verkauft werden. Auf den Sklavenmärkten wurden sie zusammen mit anderen Pechvögeln gehandelt, die in der gesamten westlichen Welt erbeutet worden waren, unter anderem auch in Nordafrika oder im Baltikum.) Tausende Kilometer weit entfernt in Osteuropa machten sich Skandinavier (bekannt als die Rus) in immer größerer Zahl nach Konstantinopel auf. Mitte des 10. Jahrhunderts schätzten die byzantinischen Kaiser die kriegerischen Fähigkeiten der Nordmänner so sehr, dass sie eine Leib­ wache, die sogenannte Warägergarde, unterhielten, die nur mit «Wikingern» bestückt war. (In der Hagia Sophia findet man heute noch Graffiti aus nordischen Runen, die vermutlich von den Gardemitgliedern Halfdan und Ari eingeritzt wurden.) Von Byzanz aus gelangten einige unerschrockene Nordmänner sogar bis ins abbasidische Persien; der arabische Gelehrte und Geograf Ibn Chordadbeh berichtete, die Wikinger-Rus hätten in den 840er Jahren in Bagdad Handel getrieben. Sie hätten Waren auf dem Kamelrücken über Land transportiert und sich als Christen ausgegeben, um von einer Steuerregelung zu profitieren, die von «Leuten der Schrift» (Ahl al-kitāb) niedrigere Raten als von Heiden verlangte.54 Schon bald wurden Seide und Sklaven in Rekordmengen zwischen der Wikingerwelt und dem abbasidischen Kalifat gehandelt, und silberne Dirham flossen nach Skandinavien.* Die Wikinger schienen ihre globalen Netz-

* Auch Berichte über die seltsamen und oft sadistischen Gepflogenheiten der Wikinger waren im Umlauf. Der Abbasidenbotschafter Ibn Fadlan, beinahe ein Zeit­ genosse Ibn Chordadbehs, beschreibt in erschreckend lebendiger Prosa eine ganz andere Seite der Wikinger-Rus, die er bei der rituellen Beisetzung einer ihrer Großen beobachtete – eine Zeremonie, bei der eine junge Sklavin mit Drogen gefügig

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werke ebenso unaufhaltsam auszudehnen wie die Gebiete, in denen sie sich niederließen. Um das Jahr 1000 umfasste der skandinavische Westen Siedlungen in Island, Grönland und sogar «Vinland» – Neufundland im heutigen Kanada, wo bei L ’ Anse aux Meadows eine aufgegebene Wikingersiedlung ausgegraben wurde.* Doch kehren wir zu den Nordmännern zurück, die in der Welt der Franken einfielen. Ragnar hatte 845 zwar eine beträchtliche Summe erhalten, damit er Paris in Ruhe ließ, doch damit waren die Ambitionen der Wikinger in den fränkischen Königreichen noch lange nicht befriedigt. Tatsächlich hatten viele Franken den Eindruck, dass die Nordmänner schon bald die größte Macht im Land stellen würden: 857 schloss Pippin von Aquitanien, der sich mit seinem Onkel Karl dem Kahlen um die Herrschaft in der Region stritt, einen Pakt mit den Wikingern, weil er ihre militärische Stärke in seinen Kriegen um die Kontrolle über das Loire­tal nutzen wollte; es hieß sogar, Pippin habe vor seinem Tod 864 dem christlichen Glauben abgeschworen und sich dem Heidentum zugewandt. Doch im Großen und Ganzen zogen es die fränkischen Herrscher vor, die Wikinger zu bekämpfen, anstatt gemeinsame Sache mit ihnen zu machen. Im selben Jahr, in dem Pippin starb, erließ der westfränkische König und spätere Kaiser Karl der Kahle das Edikt von Pîtres. Neben verschiedenen Regelungen wie Vorschriften zur Münzprägung, Arbeitsleistungen und Äußerungen zur Not von Flüchtlingen enthielt das Edikt auch die Anweisung an die fränkischen Untertanen, ihren Anteil im Kampf gegen die Wikinger zu leisten. Dazu gehörte beispielsweise ein ­königliches Brückenbauprogramm, mit dem Wasserwege wie die Seine in ihrem Verlauf regelmäßig mit Brücken ausgestattet werden sollten, bewacht von Forts, um theoretisch die Boote der Normannen aufzuhalten.55 Das funktionierte eine Zeit lang, allerdings zogen die Nordmänner nicht in ihre Heimat ab, sondern richteten ihre Aufmerksamkeit auf

gemacht, vergewaltigt und dann getötet wurde, um sie neben ihrem toten Herrn zu bestatten. * Siehe Kapitel 15.

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a­ ndere Gebiete in der Region, sowohl auf fränkischem Gebiet als auch in England. Die Menschen in anderen Teilen der fränkischen Welt, die nicht von Brückenbarrieren geschützt wurden, müssen das Gefühl gehabt haben, sie würden ständig angegriffen werden. Ein Chronist in einem Kloster, der ungefähr zu jener Zeit schrieb, klagte: «Die Nordmänner aber hörten nicht auf, das christliche Volk in Gefangenschaft zu führen und zu töten, die Kirchen zu zerstören, die Mauern niederzureißen und die Dörfer zu verbrennen. Auf allen Straßen lagen die Leichen von Geistlichen, von ­adligen und anderen Laien, von Weibern, Jugendlichen und Säuglingen; es gab keinen Weg und Ort, wo nicht Tote lagen; und es war für jedermann eine Qual und ein Schmerz zu sehen, wie das christliche Volk bis zur Ausrottung der Verheerung preisgegeben war.»56 Natürlich fragten sich die Mönche, warum Gott mit ihnen zürnte und die Wikinger gesandt hatte. Ein anderer Chronist überlegte, es müsse an der Sündhaftigkeit der Franken liegen: «Das fränkische Volk … strotzte nur so vor Unanständig­ keiten … Verräter und Meineidige verdienen es, verurteilt zu werden, und Ungläubige und vom Glauben Abgefallene werden zu Recht bestraft.»57 In den 880er Jahren war Karl der Kahle bereits tot, seine Brückenbarrieren waren gescheitert, und die Wikinger nahmen ihre Überfälle mit neuer Wucht wieder auf. Und dieses Mal schlugen sie im symbolischen Herzen des Karolingerreichs zu. 882 segelte eine Wikingerflotte, die den Winter mit der Plünderung Frieslands verbracht hatte, den Rhein hinauf und nahm Aachen ins Visier, die Stadt mit der Kaiserpfalz Karls des Großen. Sie eroberten den Palast und nutzten Karls geliebte Kapelle als Pferde­ stall.58 Im gesamten Rheinland «brachten sie die Diener des göttlichen Wortes durchs Schwert oder durch Hunger um oder verkauften sie übers Meer».59 Für die Chronisten (die fast alle in Klöstern lebten und daher die Überfälle direkt mitbekamen) hatte es den Anschein, als ob die Verwüstungen niemals enden würden. Für die skandinavischen Abenteurer hingegen lief das Geschäft prächtig. Ein Historiker der Neuzeit schätzt, dass die Wikinger, die im 9. Jahrhundert auf fränkischem Gebiet aktiv waren, etwa 7 Millionen Silber-Pfennige stahlen oder als Löse- und Schutzgeld erhielten, was etwa 14 Prozent der Gesamtsumme der geprägten Münzen entsprach. Die Karolinger waren reich und mächtig geworden und hatten

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mit dem Geld, das sie durch ihre Überfälle auf die Ungläubigen im Grenzgebiet eingenommen hatten, wohlhabende Abteien gegründet und ausgestattet. Nun verkehrte sich dieser Vorgang ironischerweise und sehr zum Leidwesen der Bevölkerung ins Gegenteil. Die Jäger waren zu Gejagten geworden. 885 kehrte ein Wikingerheer nach Paris zurück, wo Ragnar vier Jahrzehnte zuvor so leichte Beute gemacht hatte. Dieses Mal war die Stadt besser vorbereitet, doch die Nordmänner begannen eine Belagerung und quälten die Einwohner fast ein Jahr lang. In seinem berühmten Bericht Bella Parisiacae urbis berichtet der Mönch Abbo von Saint-Germain über das damalige Chaos: «Es zittert die Stadt  – die Bürger lärmen und schreien, laut schallend rufen die Hörner alle Bürger … Kämpfend suchen die Christen dem Ansturm zu widerstehen.»60 Elf Monate hielten die Einwohner von Paris stand, häufig auf Kosten ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihres Wohlergehens. Schließlich erschien im Oktober 886 der damalige karolingische König, Karl der Dicke, mit ­einer Entsatzarmee vor der Stadt. Doch zum Entsetzen und Ärger der Einwohner nutzte Karl seine Truppen nicht, um die Wikinger zu vernichten, sondern folgte dem Beispiel seines Vorgängers Karls des Kahlen und bot ihnen Geld, damit sie Paris verschonten. Die Wikingerüberfälle in den fränkischen Königreichen wurden im Laufe des Jahrzehnts weniger. Doch die Ereignisse der 880er Jahre hinterließen bei allen Beteiligten tiefe Spuren. Für die Karolinger erwies sich ein halbes Jahrhundert voller Wikingerangriffe am Ende als fatal. Das Ansehen Karls des Dicken hatte aufgrund seiner feigen Reaktion bei der Belagerung von Paris erheblich gelitten. Odo, der Graf von Paris, wurde hingegen als Held gefeiert, weil er den Widerstand gegen die Angreifer organisierte und kämpfte. Und so wurde Odo nach dem Tod Karls des Dicken 888 zum König des Westfranken­ reiches gewählt. Damit war er der erste Nicht-Karolinger, der seit den Lebzeiten Karl Martells über ein fränkisches Königreich herrschte. Heute gilt er als der erste König aus dem Geschlecht der Robertiner – der Name der Dynastie bezieht sich auf seinen Vater Robert den Tapferen. Nach Odo kam zwar ein weiterer Karolinger auf den Thron – und die verschie-

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denen Zweige der Karolinger brachten bis Mitte des 10. Jahrhunderts weiterhin Nachkommen hervor, die Anspruch auf den Thron im west- und ostfränkischen Reich erhoben –, doch kein Herrscher sollte je wieder zu dem in der Lage sein, was Karl der Dicke kurzzeitig gelungen war: über das komplette Reich zu regieren, das einst Pippin und Karl der Große ­geschaffen hatten. Aufgrund ihrer eigenen familiären Rivalitäten, der Herausforderung, ein so großes und kulturell vielfältiges Territorium mit seinen unterschiedlichen Bevölkerungen zusammenzuhalten, und der Überfälle der Nordmänner (und anderer Feinde an den östlichen Grenzen, etwa der magyarischen Stammesgruppen, die begonnen hatten, umfangreiche Raubzüge in den Teilen des Reiches zu unternehmen, die dem heutigen Ungarn entsprechen) büßten die Karolinger nach und nach, von einer Generation zur nächsten, ihre Vormachtstellung ein, bis sie schließlich in der Bedeutungslosigkeit versanken. Doch sie hinterließen mehrere Staatsgebilde, die über das Mittelalter hinaus Bestand hatten. Aus dem Westfrankenreich wurde das Königreich Frankreich. Aus dem Ostfrankenreich wurde ein Reich mit Deutschland und Norditalien im Zentrum, das mit der Zeit als Deutsches Reich oder Heiliges Römisches Reich deutscher Nation bekannt werden sollte. (Das Mittelreich, manchmal auch Lotharingien genannt, wurde allmählich zwischen den beiden anderen Reichen zerrieben.) Im Spätmittelalter und auch noch in der frühen Neuzeit waren Frankreich und das Deutsche Reich über lange Zeiträume die dominierenden Mächte auf dem europäischen Festland. Ihre Nachfolgerstaaten Frankreich und Deutschland beanspruchen denselben Status im frühen 21. Jahrhundert. Aus dem Zeitalter der Karolinger und Wikinger ging noch ein weiteres politisches Gebilde hervor. Im Lauf der Zeit entwickelten sich aus den ­räubernden skandinavischen Wikingerhorden konventionellere christliche Staatgebilde wie die Königreiche Schweden, Norwegen und Dänemark. Auch an der Nordsee und Irischen See gab es von Wikingern beherrschte Königreiche (vom kleinen Inselkönigreich Orkney und dem irischen Königreich Dublin bis zum großen Danelag, das einen Großteil des heutigen Englands umfasste) und die Kiewer Rus, ein weites Sammelsurium an Gebieten im heutigen Russland, Belarus und der Ukraine, das von der Wikingerdynastie der Rurikiden regiert wurde, die ihre Wurzeln im östlichen

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Schweden hatte. Doch kein Reich war so einflussreich und für den weiteren Verlauf der mittelalterlichen Geschichte so prägend wie das Reich, das die Nordmänner vom fränkischen Reich abteilten: das Reich der Nordmänner oder Nordmannia – heute als Normandie bekannt. Die Entstehung der Normandie stand in direktem Zusammenhang mit der dramatischen Belagerung von Paris 885/886. Unter den Anführern des damaligen Feldzugs war auch ein gewisser Rollo (oder Hrólfr), der vermutlich in Dänemark geboren wurde und dessen Laufbahn von ­einem späteren Biografen, Dudo von Saint-Quentin, idealisierend, aber auch für uns heute noch faszinierend beschrieben wurde. Dudo schilderte Rollo als außerordentlich harten und zähen Soldaten, «geübt in der Kunst des Krieges und völlig rücksichtslos», der üblicherweise «mit einem Helm, wundervoll mit Gold geschmückt, und einem Kettenhemd» zu sehen war.61 Rollo war einer der gewalttätigsten Männer in einer ohnehin blutrünstigen Zeit: Einmal konnte er sich in einer Schlacht behaupten, weil er seinen Männern befahl, alle Tiere zu töten, ihre Kadaver zu halbieren und daraus eine behelfsmäßige Barrikade zu bauen. Doch er war auch ein geschickter Verhandlungsführer. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts verdiente Rollo seinen Lebensunterhalt sehr gut mit dem, was alle stürmischen jungen Nordmänner taten: Städte und Dörfer in Brand setzen oder dem Erdboden gleichmachen, und ihre Einwohner ausrauben und töten. In den ersten Jahren des 10. Jahrhunderts hatten er und seine Wikinger­ kameraden die fränkischen Herrscher an den Rand der Verzweiflung getrieben. Laut Dudos Schilderung sandten die kriegsmüden Untertanen des westfränkischen Königs Karls des Einfältigen* ihrem Herrscher 911 eine Petition, in der sie klagten, das fränkische Reich sei «nicht besser als eine Wüste, denn seine Bevölkerung ist entweder dem Hunger oder dem Schwert zum Opfer gefallen oder in Gefangenschaft verschleppt». Sie drängten ihn daher, das Reich zu schützen, «wenn nicht durch Waffen, dann durch guten Rat».62

* Karl der Einfältige war der letzte karolingische König des Westfrankenreichs. Seine Herrschaft liegt genau zwischen den Regierungszeiten des ersten und zweiten Rober­tiner-Königs: Odo (888–898) und Robert I. (922–923).

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Dass sich Karl tatsächlich zu Verhandlungen bereit erklärte, sollte sein Schicksal besiegeln. In einem Vertrag, der in Saint-Clair-sur-Epte unterzeichnet wurde, auf halber Strecke zwischen Rouen und Paris, wurde Rollo mit offenen Armen aufgenommen, wenn er «einem Bündnis der Liebe und unverbrüchlichen Freundschaft» mit den Franken zustimme. Genauer gesagt hieß das, dass er auf seine Raubüberfälle verzichten, die Königstochter Gisla heiraten und zum Christentum übertreten sollte. Ob die Heirat mit Gisla stattfand, ist nicht klar – was auch daran liegt, dass Rollo zuvor eine andere junge Frau namens Poppa von Bayeux geraubt und entweder zu seiner Konkubine gemacht oder geheiratet hatte. Taufen ließ sich Rollo aber auf jeden Fall. Er war «erfüllt vom katho­lischen Glauben der heiligen Dreifaltigkeit», schrieb Dudo, und «veranlasste seine eigenen Grafen und Krieger und seine gesamte bewaffnete Mannschaft, sich taufen und durch Predigten über den Glauben der christlichen Religion belehren zu lassen». Außerdem änderte er seinen Namen und nahm den seines Paten Robert an, der als Robert I . König des Westfrankenreichs werden sollte. Das war eine ziemliche Kehrtwende für einen Mann, der sich mit Raubüberfällen auf Kirchen einen Namen gemacht hatte. Doch der Sinneswandel sollte sich lohnen. Im Gegenzug überließ Karl der Einfältige Rollo das komplette Gebiet vom Seinetal bis zur Küste, das wir heute als Normandie kennen. Der frisch getaufte christliche Wikinger kontrollierte nun den Zugang nach Paris vom Wasser aus und darüber hinaus Gebiete, die für ihre Fruchtbarkeit berühmt waren, sowie eine Küste gespickt mit strategisch nützlichen Häfen, von denen der vorbeiziehende Schiffsverkehr und auch die Schiffe, die ins nahe gelegene England übersetzten, überwacht werden konnten. Zumindest für Dudo war klar, wer das bessere Geschäft gemacht hatte, wie der Chronist anhand einer Anekdote aufzeigte: Als sich Rollo zur Besiegelung des Vertrags Karl offiziell unterwerfen sollte, erklärte er: «Ich werde niemals vor den Knien eines anderen niederknien, geschweige denn dessen Füße küssen.» Stattdessen befahl er einem seiner Gefolgsmänner, die Aufgabe zu übernehmen. Der Krieger, berichtet Dudo, «griff sofort nach dem Fuß des Königs, hob ihn an seinen Mund und setzte ­einen Kuss darauf, blieb dabei aber stehen, [weshalb] der König rücklings

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zu Boden fiel. So erhob sich ein großes Gelächter und ein großer Aufschrei unter den Menschen.»63 Und so entstand mit einer absurden Szene, in der ein fränkischer ­König auf den Hintern plumpste und damit sicher keinen vorteilhaften Anblick bot, das Wikingerherzogtum der Normandie. Rollo – oder Robert – herrschte von 911 bis zu seinem Tod 928. Sein Nachfolger wurde sein Sohn Wilhelm «Langschwert», der sein Herrschaftsgebiet mit militärischen Kampagnen gegen seine Nachbarn erweiterte, bevor er 942 umgebracht wurde. Zu der Zeit hätte man annehmen können, dass das «Wikingerische» bei den neuen Herrschern der Normandie verschwunden war, immerhin waren seit Rollos Taufe zwei Generationen ins Land gegangen. Aber ganz so schnell ging es dann doch nicht. Unter der neuen Herrschaft strömten skandinavische Siedler in die Normandie, und obwohl sich die Normannen im Lauf der Zeit mit der einheimischen Bevölkerung vermischten, betrachteten sie sich bis weit ins Mittelalter als eigenes Volk. Die Rivalität zwischen den Herzögen der Normandie und den französischen Königen sollte die politische Landschaft im 11. und 12. Jahrhundert maßgeblich prägen, vor allem nach dem Jahr 1066, als Rollos Urururenkel Wilhelm «der Bastard» mit einer Flotte den Ärmelkanal überquerte, in England einfiel, seinen Rivalen, den angelsächsischen König Harald Godwinson, tötete und so die englische Krone errang.* (In den Stickereien des berühmten Wandteppichs von Bayeux, der wie ein Comicstrip die Eroberung Englands durch die Normannen schildert, wirken Wilhelms Schiffe mit ihrem geschnitzten, hochgezogenen Bug und den großen rechteckigen Segeln sehr wikingerhaft.) Die normannischen Herzöge regierten England bis 1204 und konnten mit dem Reichtum und den militärischen Ressourcen der eng­lischen Krone im Rücken den französischen Königen gewaltige Probleme bereiten. Vermutlich verfluchten viele am französischen

* Wilhelm von der Normandie war einer von zwei «Wikingernachkommen», die 1066 Anspruch auf die englische Krone erhoben. Der andere war Harald Hardrada, ­König von Norwegen und ehemaliges Mitglied der Warägergarde, der Leibwache des byzantinischen Kaisers.

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Hof den Tag, an dem Karl der Einfältige ein großes Gebiet seines Reichs einer Bande abgebrühter Nordmänner überlassen hatte, ohne zu ahnen, welche Folgen das einmal haben würde. Es gab jedoch einen Bereich, in dem die normannischen Herzöge komplett von ihren Wikingerwurzeln abwichen, und das war ihr christ­ licher Glaube. Die Franken waren schon Jahrhunderte zuvor zum Christentum übergetreten, und wie wir bereits festgestellt haben, hatten ihr Prestige und ihre «Soft Power» von der engen politischen und rituellen Verbindung zur Kirche enorm profitiert. Im Unterschied dazu hatte das Christentum in der skandinavischen Welt noch einen weiten Weg vor sich. Selbst zu Beginn des neuen Jahrtausends mischten sich bei den konservativeren Stämmen in Schweden noch heidnische Vorstellungen mit den sich auf dem Vormarsch befindlichen christlichen Riten.64 Die Wikinger, die die Normandie besiedelten, waren da ganz anders. Sie waren früh konvertiert und blickten nie zurück. Ein besonders faszinierendes Beispiel ist vielleicht der normannische Herzog Richard  II ., der von 996 bis 1026 regierte. Richards Großmutter war eine bretonische Frau namens Sprota, die Richards Großvater Wilhelm Langschwert bei einem Überfall in der Bretagne gefangen genommen und zur Heirat gezwungen hatte, was man damals euphemistisch mit more danico («nach dänischer Sitte») bezeichnete. Richard hatte in seiner Kindheit und Jugend regelmäßig Kontakt zu seinen fernen Cousins in der skandinavischen Welt und zeigte keine Bedenken, bei seinen Feldzügen Wikinger-Söldner einzusetzen. Als Herzog hatte er beide Seiten im Blick. Einerseits lebte er im selben Jahrhundert wie Rollo: durch seine Adern floss nordisches Blut. Doch Richard  II . war zweifellos auch ein Kind der fränkischen Welt: ein Christ und der erste normannische Herrscher, der den Titel dux (Herzog) verwendete und der Dudo von Saint-Quentin ­beauftragte, die Geschichte seiner Familie niederzuschreiben, dank der wir von Rollos Taufe und seiner Machtübernahme in der fränkischen Welt erfahren. Richard  II . war also weit davon entfernt, Mönche auszurauben, im ­Gegenteil, er förderte und beschützte sie – und das nicht nur in der Normandie. Der Mann, der Wikingererbe und fränkisches Temperament in

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sich vereinte, war für seine fromme Großzügigkeit so bekannt, dass jedes Jahr Mönche aus der Wüste Sinai in Ägypten die fast 5000  Kilometer lange Reise in die Normandie auf sich nahmen, um bei Richard um Almosen für ihren Unterhalt zu bitten.65 Der Bock war quasi zum Gärtner geworden und dafür weithin bekannt. Die Normannen sollten auf ihrem Weg von einer Plage für die Kirche zu ihren leidenschaftlichen Verteidigern noch weitere Stationen einlegen – wie wir beim Thema Kreuzzüge in Kapitel 8 noch erfahren werden. Doch vorher ist es an der Zeit, sich mit einigen anderen aufstrebenden Mächten zu beschäftigen, die das Abendland zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert prägten. Anders als bisher handelt es sich dabei nicht um Reiche oder ­Dynastien, sondern um supranationale Bewegungen, die auf religiöser oder militärischer Expertise gründeten. Die Gruppen, mit denen wir uns in den nächsten beiden Kapiteln beschäftigen, bilden die Grundtypen, die man sofort vor Augen hat, wenn man ans Mittelalter denkt – und deren Kleidung und Ausstattung fester Bestandteil von jedem Kostümfundus sind: Mönche und Ritter.

6.

Mönche «Die Welt ist voller Mönche.» Bernhard von Clairvaux, ca. 1130

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m das Jahr 909 oder 910 musste Wilhelm, der Herzog von Aquitanien, eine neue Unterkunft für seine Jagdhunde suchen. Er hatte ­beschlossen, ein neues Kloster zu gründen, und deshalb einen der ange­ sehensten Mönche seiner Zeit um Rat gebeten, einen gewissen Berno. Berno war früher selbst Adliger gewesen, hatte jedoch dem weltlichen Komfort den Rücken gekehrt, um sein Leben dem Lob Gottes zu widmen und sich in seinen Dienst zu stellen.1 Er hatte mit eigenen Mitteln eine Abtei bei Gigny (im Osten Frankreichs) erbaut und war anschließend ­abgeworben worden, um ein Kloster im nahe gelegenen Baume-les-­ Messieurs zu übernehmen. Unter Bernos Leitung entwickelten sich beide ­hervorragend und waren schon bald bekannt für ihre ausgezeichnete Führung und die geordnete Lebensweise der Mönche – und für ihre strenge Disziplin. Die Mönche in Bernos Obhut wurden bereits wegen kleiner Vergehen geschlagen, in ihren Zellen eingesperrt oder mussten Hunger leiden. Das sah man damals jedoch nicht unbedingt negativ; tatsächlich stieg damit Bernos Ansehen als kompromissloser geistlicher CEO mit ­einer hervorragenden Bilanz. Als Wilhelm Berno um Rat fragte, wandte er sich also an eine der führenden klösterlichen Autoritäten auf fränkischem Gebiet. Doch kaum war Berno in der Angelegenheit konsultiert worden, stellte er den Herzog vor ein Problem, zumindest wurde die Geschichte später so erzählt. Denn der beste Ort, den er für den Standort des neuen Klosters ausgewählt hatte, war eine Jagdhütte bei Cluny auf einem der vie-

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len ausgedehnten Landgüter, die Wilhelm in Burgund besaß. Der Herzog hegte eine besondere Vorliebe für diese Region und die Landschaft rund um seine Jagdhütte; er hielt dort große Hundemeuten, mit denen er zur Jagd ging. Und nun sagte ihm Berno, dass Cluny der einzige Ort sei, der für seine Abtei infrage komme – und dass die Hunde weichen müssten. «Unmöglich», erklärte Wilhelm laut einer späteren Chronik, in der dieser Wortwechsel beschrieben ist. «Ich kann meine Hunde nicht um­ siedeln.» «Vertreibt die Hunde», antwortete der Abt, «und setzt Mönche an ihre Stelle. Ihr wisst sehr gut, welchen Lohn Gott für Hunde bietet und welchen für Mönche.»2 Zögernd willigte Wilhelm ein. Für eine fromme Stiftung, die seine unsterbliche Seele retten könnte, erklärte er sich bereit, auf seine Jagdhütte zu verzichten. Mit dem Einverständnis seiner Frau Engelberga setzte er Urkunden auf, in denen er das Kloster den Heiligen Petrus und Paulus anvertraute und in deren Abwesenheit auf Erden direkt dem Papst in Rom unterstellte. Berno sollte den praktischen Umbau zu einer Unterkunft für seine Mönchsgemeinschaft leiten. Die Mönche von Cluny ­sollten von dem leben, was die klostereigenen Wälder und Weiden, Weinberge und Fischteiche, Dörfer und Leibeigenen (unfreie Bauern, die rechtlich verpflichtet waren, das Land zu bearbeiten) hergaben. Zum Dank sollten sie in unermüdlichem Gebet und Hingabe an Gott leben, Reisende gastfreundlich aufnehmen, in Keuschheit leben und der Regel des heiligen Benedikt folgen – einem Verhaltenskodex für klösterliche Gemeinschaften, den der Mönch Benedikt von Nursia im 6. Jahrhundert in Süditalien erstellt hatte. Das Kloster wurde dem direkten Schutz des Papstes unterstellt. Berno war sein erster Abt. Die finanziellen Gönner und irdischen Beschützer vor Ort sollten Herzog Wilhelm und seine Nachfolger sein. Auf den ersten Blick wirkt die Entstehungsgeschichte des Klosters nicht sonderlich ungewöhnlich. In der Karolingerzeit gründeten viele reiche Franken Klöster, und es gab jede Menge angehende Mönche und Nonnen, die sie anschließend bewohnten.3 Doch das Ungewöhnliche an Cluny war, dass die Abtei im Vergleich zu vielen anderen zeitgenössischen Klöstern frei von äußerlicher Einmischung war. Herzog Wilhelm hatte für

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sich und seine Nachfahren kaum Kontrollmöglichkeiten verlangt. Er hätte auf dem Recht bestehen können, dass seine Familie die zukünftigen Äbte von Cluny bestimmen sollte, um Einfluss auf die Leitung des Klosters zu nehmen. Doch das tat er nicht. Stattdessen versprach er Berno und allen zukünftigen Mönchen von Cluny, dass sich das Kloster selbst verwalten konnte, frei von der Einmischung weltlicher Mächte und sogar lokaler ­Bischöfe. Wer versuchte, sich in die Angelegenheiten Clunys einzumischen, war laut Gründungsurkunde dazu verdammt, im ewigen Fegefeuer zu schmoren und von den Würmern der Hölle aufgefressen zu ­werden. Und ganz direkt drohte eine Strafe von 100 Pfund.4 Falls es im Mittelalter überhaupt möglich war, Mönche vor Schaden zu schützen und sich selbst zu überlassen, dann war das bei den Brüdern von Cluny der Fall. Mit dem Bau der Abtei wurde 910 begonnen. Es war ein großes, kostspieliges Projekt. Berno und die Mönche, die er nach Cluny eingeladen hatte, benötigten eine Kirche, Gemeinschaftsräume, ein Dormitorium, Refektorium und eine Bibliothek, einzelne Zellen und Studierzimmer, dazu Küchen, Ställe und Unterkünfte für die Laienbrüder. Die Bauarbeiten zogen sich über viele Jahre und waren noch lange nicht abgeschlossen, als Wilhelm 918 starb und Berno ihm 927 folgte. Obwohl die Gründung Clunys nur langsam vonstattenging und zunächst keine glanzvolle, sondern eine eher staubige Angelegenheit war, war sie ein Ereignis mit weitreichender Bedeutung für die Geschichte des Mittelalters. In den folgenden zweihundert Jahren boomten Klöster und mönchisches Leben, und es entstanden verschiedene Orden, die zahlreiche ­Ableger bildeten: Neben den Benediktinern gab es die Zisterzienser, Kartäuser, Prämonstratenser, Trinitarier, Gilbertiner, Augustiner, Pauliner, Cölestiner, Dominikaner und Franziskaner sowie viele Ritterorden wie die Templer, Johanniter und der Deutsche Orden. Doch Cluny mit seinem Sitz in Burgund überragte alle anderen und beeinflusste nicht nur die Entwicklung in ganz Frankreich, sondern strahlte auch nach England, ­Italien, auf die Iberische Halbinsel und in den Westen Deutschlands aus. Ab Mitte des 10. Jahrhunderts wurde Cluny zur Schaltzentrale einer internationalen Organisation, die auf ihrem Höhepunkt Hunderte von Filialen beziehungsweise «Tochterklöstern» haben sollte. Sie alle waren

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dem Abt von Cluny verantwortlich, der erstaunliche Reichtümer und wirtschaftliche Ressourcen verwaltete. Im späten 11. Jahrhundert standen die Äbte von Cluny auf einer Stufe mit Königen und Päpsten und waren an den wichtigsten Verhandlungen und Konflikten ihrer Zeit beteiligt. Ähnlich wie heute McDonald ’s-Filialen fand man die Tochterklöster fast überall westlich des Rheins und vor allem entlang der internationalen Routen, die Pilger für den Besuch heiliger Stätten wie Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens nutzten. Sicher, der Einfluss Clunys ­erstreckte sich nur auf einen kleinen Teil Deutschlands und war auch in den christlichen Teilen Ost- und Mitteleuropas nicht bestimmend, geschweige denn in Byzanz, wo sich eine spezielle «östliche» Form des Mönchtums entwickelte. Dennoch besaß Cluny über mehrere Generationen hinweg eine seltene Form von «Soft Power», die über alle rechtlichen Zuständigkeiten und Grenzen hinweg ausstrahlte.* Dazu kam, dass das System von Cluny nur die Spitze einer breiten monastischen Bewegung war, die das Verhältnis zwischen Kirche und Staat veränderte, das kulturelle Leben in der christlichen Welt umgestaltete und mit neuen Impulsen versah und sich nicht nur auf die Religionsausübung, sondern auch auf die Bereiche Bildung, Architektur, Kunst und Musik auswirkte. Cluny selbst war dafür das beste Beispiel. Heute gibt es bei einem Besuch, abgesehen von ein paar kleineren Gebäuden, die von der Sprengung durch antiklerikale Fanatiker während der Französischen Revolution verschont blieben, enttäuschend wenig zu sehen, doch damals hatte das Kloster eine der großartigsten Kirchen der Welt zu bieten, die es mit dem ­Petersdom in Rom und der Hagia Sophia in Konstantinopel aufnehmen konnte. Anstelle der Jagdhütte mit Hundezwinger erhob sich die Abteikirche mit einer Länge von 187 Metern und war damit eins der größten Gebäude in Europa. Die Abtei war Standort einer Bibliothek von Weltrang und Zentrum der Kunst, Heimat einer prestigeträchtigen elitären Gemeinschaft religiöser Männer und Nervenzentrum eines Geflechts von

* Ein  – zugegeben weit hergeholter  – Vergleich wären der Reichtum und Einfluss nichtstaatlicher Konzerne und Social-Media-Unternehmer wie Jeff Bezos von Amazon oder Mark Zuckerberg von Facebook.

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Niederlassungen im Goldenen Zeitalter der Klöster. Die Geschichte ­Clunys führt uns in eine Zeit, die geprägt war von intensiven monastischen Aktivitäten, Erfindungen und Entwicklungen. Der Einfluss Clunys und der allgemeine Einfluss der monastischen Orden und Lebensformen waren in der gesamten lateinischen Welt bis zum Ende des Mittelalters zu spüren.*

Von der Wüste auf den Berg Nichts fasst das Leben eines Mönchs besser zusammen als Jesu Worte in der Parabel vom reichen jungen Mann aus dem Matthäus-Evangelium. «Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was du hast, und gib ’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!»5 Der junge Mann, an den Jesus seine Worte richtete, wollte nicht hören. Er ging und klagte, es sei unmöglich für ihn, all sein Geld aufzugeben. ­( Jesus antwortete mit seinem berühmten Satz über Kamele und Nadel­ öhre.)** Doch mehrere Hundert Jahre später hatte sich die Einstellung geändert. Ab dem 3. Jahrhundert waren fromme Männer (und einige Frauen) in der christlichen Welt des römischen Nahen Ostens zu dem Schluss ­gekommen, dass sie, um ihre Seele zu retten, in ihrem Leben auf Luxus, unnötigen Schnickschnack und Versuchungen verzichten mussten. Sie ­gaben ihren Besitz auf, kehrten der Welt den Rücken und zogen sich in die Wildnis zurück, um in ärmlichen Verhältnissen, aber moralischer Reinheit zu leben: Sie wollten beten, über die Welt nachdenken und sich von Almosen und Resten ernähren. Wie so viele wichtige Entwicklungen im westlichen Monotheismus

* Mit der lateinischen Welt meine ich den Teil der Welt, in dem Latein die vorherrschende allgemeine Sprache war – im Gegensatz zu Griechisch oder Arabisch oder einer anderen im Mittelalter üblichen Sprache. ** «Und weiter sage ich euch: Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher ins Reich Gottes komme.» Matthäus 19:24.

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während des ersten Jahrtausends n. Chr. entstand der Trend zum sogenannten «Asketismus» in den Wüsten des Nahen Ostens und in Ägypten. Zu den berühmtesten ägyptischen Asketen zählt der Heilige Antonius, auch Antonius der Große genannt. Antonius war tatsächlich ein reicher junger Mann – Sohn und Erbe einer wohlhabenden Familie, der mit etwa zwanzig Jahren beim Gottesdienst Jesu Aufforderung zur Armut hörte und prompt «alles verkaufte, was er besaß, den Erlös den Armen gab und von da an als Einsiedler lebte».6 Seine Hingabe und Selbstverleugnung waren legendär und wurden zum Vorbild für nachfolgende Generationen von Mönchen. Antonius ’ Zeitgenosse Athanasius, der Bischof von Alexandria, berichtete über die inneren Kämpfe des Einsiedlers und dessen Taten in einer unterhaltsamen (und lange populären) Heiligenvita. Ihr zufolge wurde Antonius in seiner Höhle regelmäßig von Dämonen heimgesucht, die als kleine Kinder verkleidet waren, von wilden Bestien, angehäuften Schätzen und riesigen Ungeheuern.* Doch dank seiner Duldsamkeit und seines Glaubens konnte er allen widerstehen. Für die anderen Einsiedler war er ein leuchtendes Beispiel, sie fühlten sich von ihm angezogen, inspiriert von seinem Leben der harten körperlichen Arbeit, des ­rigorosen Betens und der strengen Selbsterforschung. Trotz der sparta­ nischen Bedingungen wurde Antonius hundertfünf Jahre alt – zumindest wurde das so berichtet  – und nach seinem Tod als Vater aller Mönche ­bekannt.7 Doch er war keineswegs der einzige prominente Asket seiner Zeit. In einem Zeitalter, in dem sich das Christentum noch herausbildete, gab es eine ganze Reihe von «Wüstenvätern» und «Wüstenmüttern». Dazu gehörten Antonius ’ bedeutendster Schüler Macarius; ein römischer Soldat namens Pachomius, der das «Zönobitentum» begründete, das Zusammenleben von Asketen in einer abgeschotteten Gemeinschaft, aus dem später die Klöster entstanden; ein bekehrter Räuber namens Moses der Äthiopier; eine Einsiedlerin namens Syncletica aus Alexandria und

* Die grotesken und bizarren Qualen des Heiligen Antonius befeuerten die Fantasie vieler späterer Künstler, von spätmittelalterlichen Meistern wie Hieronymus Bosch über Michelangelo bis zu modernen Künstlern wie Dorothea Tanning und Salvador Dalí.

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eine Theodora, ebenfalls aus Alexandria, die sich einer Gemeinschaft männlicher Asketen anschloss und bis zu ihrem Tod unentdeckt als Mann lebte. Diese frühen Asketen waren eine bunt zusammengewürfelte Truppe frommer Pioniere – experimentierfreudig, oft (aus unserer Sicht) exzen­ trisch, aber verbunden durch den bemerkenswerten Wunsch, extreme körperliche Entbehrungen an abgelegenen und unwirtlichen Orten zu ­erleben. Gemeinsam schufen sie die Grundlage für das mittelalterliche Mönchtum, und Generationen von Mönchen und anderen Asketen sollten in den folgenden elf Jahrhunderten immer wieder auf ihr Beispiel zurückgreifen. Nach den Anfängen in der Wüste wuchs die monastische Bewegung vom 3. bis zum 6. Jahrhundert stetig weiter und breitete sich von Ägypten in alle Teile des christlichen Ostens und Westens aus. Frühe Zentren entstanden in Caesarea in Kappadokien (das heutige Kayseri in der Türkei), Aquileia (Italien) und Marmoutier (Frankreich) – Marmoutier war auch der Standort eines besonders berühmten Heiligen namens Martin, ein Offizier der römischen Reiterei, der das Licht Christi sah und das Leben im Sattel und auf dem Schlachtfeld aufgab, um Einsiedler und schließlich Bischof von Tours zu werden.8 Stark vereinfacht gab es zwei Arten von Mönchen. Die Eremiten ­lebten allein. Einige zogen sich von der Welt zurück und lebten in der Wildnis – extreme Anhänger des Eremitentums entschieden sich mitunter sogar für ein Leben als «Säulenheilige» und lebten auf dem Kapitell einer Säule, während andere Eremiten durch die Städte und über Land zogen und beteten, für ihren Unterhalt bettelten und spirituelle Führung für die Laien boten. Dann gab es noch die Zönobiten, die gleichgeschlechtliche Gemeinschaften bildeten und normalerweise an einem festen Ort mit einzelnen Zellen und Gemeinschaftsräumen lebten, um ihre Tage mit Beten, Studieren und Arbeiten zu verbringen. Beide Formen des Mönchtums (das Wort stammt vom altgriechischen mónos und verweist auf das Alleinsein oder Einssein mit Gott) bestanden im gesamten Mittelalter nebeneinander und sind auch heute noch zu finden. Und beide Formen sorgten bei der etablierten Kirche für Beunruhigung. Die

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Asketen setzten sich über die traditionellen sozialen Hierarchien hinweg. In den meisten Fällen waren sie Laien, keine geweihten Priester. Sie unterstanden nicht der Autorität eines Bischofs, konnten aber die Autorität der «offiziellen» Vertreter schmälern und karitative Mittel für sich beanspruchen. Beim Konzil von Chalcedon, das 451 in Byzanz stattfand, wurde der Versuch unternommen, die Mönche dazu zu zwingen, im Kloster zu leben und das Wandern aufzugeben, doch ohne dauerhaften Erfolg.9 Zum einen war es schwierig, individuelle Frömmigkeit zu kontrollieren. Zum anderen waren die kulturellen Netzwerke im Frühmittelalter bereits groß und stark genug, damit Männer und Frauen ein monastisches Leben fern der Kontrolle durch Konstantinopel führen konnten: Im 5. Jahrhundert waren christliche Eremiten bereits an so fernen Orten wie Irland oder Persien zu finden. Überall, wo der christliche Glaube Fuß gefasst hatte, gab es auch Mönche und Eremiten, und lange Zeit schien es sehr wenige Mittel zu geben, eine Art Ordnung oder Disziplin in diesen spontan entstehenden, intensiven lokalen Subkulturen durchzusetzen. Die wichtigste Person, die dem Mönchtum Form und Beständigkeit gab, war zweifellos – zumindest im Westen – ein Italiener namens Benedikt von Nursia. Die Einzelheiten seines Lebens sind keineswegs gesichert,* denn wie der Heilige Antonius war er Thema einer umfangreichen Heiligenvita, verfasst von Papst Gregor I ., dem «Großen», und nicht dazu gedacht, modernen Ansprüchen an historische Glaubwürdigkeit zu genügen. Doch nach allem, was man weiß, wurde Benedikt um das Jahr 480 geboren. Er hatte eine Zwillingsschwester namens Scholastika und stammte aus einer wohlhabenden Familie. Benedikt lebte eine Zeit lang in Rom, verließ die Stadt jedoch als junger Mann: «Er wandte sich also vom Studium der Wissenschaften ab und verließ das Haus und die Güter seines Vaters. Gott allein wollte er gefallen.» Laut Gregor dem Großen suchte Benedikt nach «einem einsamen Ort, wo er seinem Wunsch und heiligen

* Einige Historiker halten es sogar für möglich, dass Benedikt gar kein realer Mensch war, sondern eine Kunstfigur, die die Eigenschaften des «idealen» Abts verkörperte und von Gregor dem Großen zu didaktischen Zwecken geschaffen wurde.

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Zweck dienen konnte». Er fand ihn in der Nähe von Subiaco in Latium.10 Dort führte ihn ein erfahrener Asket namens Romanus von Subiaco in das Leben eines Eremiten ein. Doch der Schüler übertraf schon bald ­seinen Lehrer und war aufgrund seiner Frömmigkeit hoch angesehen. Schließlich wurde er «abgeworben», um ein nahe gelegenes Kloster zu ­leiten. Trotz anfänglicher Bedenken, die Einsamkeit seiner Höhle gegen das gemeinschaftliche Leben einzutauschen, blühte er schon bald auf. Gregor der Große berichtet in der Heiligenvita, Benedikt habe zahlreiche Wunder vollbracht. Er entkam mehreren Giftattacken verärgerter Mönche, die sein strenges Regime ablehnten. Er konnte einen jungen Mönch wiederbeleben, der unter einer einstürzenden Mauer begraben worden war. Er überlistete einen Goten namens Riggo, der sich als Barbarenkönig ­Totila ausgab, und versetzte den echten Totila in Unruhe, indem er seinen Todestag voraussagte. (Der dann tatsächlich so eintraf.) Er schien einen sechsten Sinn dafür zu besitzen, wenn die Mönche in seiner Obhut heimliche Weinvorräte angelegt hatten, Geschenke entgegennahmen (Mönchen war persönlicher Besitz verboten) oder auch nur eitle Gedanken hegten. Er trieb Dämonen aus, ließ Tote auferstehen und heilte eine Frau vom Wahnsinn. Einmal im Jahr besuchte er seine Schwester Scholastika, die in einem Konvent* lebte. Sie konnte ebenfalls Wunder vollbringen, unter anderem konnte sie Gott dazu bewegen, Unwetter niedergehen zu lassen. Von besonderer Bedeutung waren jedoch die zwölf Klöster, die Benedikt in Süditalien gründete, darunter eins in herrlicher Lage auf dem Monte Cassino auf halber Strecke zwischen Rom und Neapel, an einer Stelle, an der sich ein verlassener heidnischer Tempel für den römischen Gott Jupiter befunden hatte. Damit seine strengen Standards in Monte Cassino und den anderen Klöstern eingehalten wurden, verfasste Bene-

* Also einer Gemeinschaft zönobitisch lebender Frauen – diese Gemeinschaften hatten eine genauso lange Tradition wie Männerklöster. Es heißt, Scholastikas Kloster habe sich im heutigen Piumarola befunden, doch die archäologischen Befunde sind nicht eindeutig.

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dikt «eine Regel für Mönche, ausgezeichnet durch maßvolle Unterscheidung und wegweisend durch ihr klares Wort».11 Darin legte er die Prinzipien fest, damit die Mönche «ihrem Eigenwillen widersagten», wie Benedikt es formulierte, wenn «du für Christus, den Herrn und wahren König, kämpfen willst und den starken und glänzenden Schild des Gehorsams ergreifst».12 Die Regel des heiligen Benedikt (Regula Sancti Benedicti) war keineswegs einzigartig. Sie war auch nicht die erste schriftlich niedergelegte ­Regel für das monastische Leben: Augustinus von Hippo hatte um das Jahr 400 in Nordafrika eine Regel verfasst, und Caesarius von Arles hatte 512 eine Regel speziell für Frauen niedergeschrieben (die regula virginum). Sie war auch nicht besonders originell, sondern stützte sich auf die Schriften des im 5. Jahrhundert lebenden Asketen Johannes Cassianus und einen anonymen Text aus dem 6. Jahrhundert, die sogenannte Magisterregel (Regula Magistri). Doch Benedikts Regel erlangte aufgrund ihrer Schlichtheit und Eleganz großen Einfluss. Über viele Generationen hinweg diente sie als Blaupause für das abendländische Mönchtum. Die Mönche, die nach dieser Regel lebten, wurden Benediktiner genannt oder mit Bezug auf die vorgeschriebene Farbe ihrer Kutten «Schwarze Mönche». Die Regel des heiligen Benedikt mit ihren dreiundsiebzig Kapiteln bildete die Grundlage für das Leben von Mönchen in einer Gemeinschaft unter Führung eines Abts. Die grundlegenden Prinzipien waren Gebet, Studium und körperliche Arbeit, ergänzt durch ein frugales Leben, persönliche Armut, Keuschheit und Speisevorschriften. Die Regel legte die Hierarchie im Kloster fest und bestimmte, welche Speisen gegessen (oder nicht gegessen) werden durften und zu welchem Zeitpunkt. Auch die Schlafenszeiten, die Kleidung und die Bedingungen, zu denen die Mönche ihre Produkte verkaufen durften, wann und wie Mönche reisen durften und sogar, wie oft sie lächeln sollten, wurden ausgeführt. Strafen bei Verstößen gegen die Regel reichten von Ermahnungen bis zur Exkommunikation, allerdings waren bei Kranken Ausnahmen erlaubt. Die Regel war konkret genug, um von Äbten übernommen zu werden, die bei der Leitung ihrer Häuser Orientierung suchten oder Gewissheit benötigten, aber auch so flexibel, dass sie den Klöstern eine gewisse Individualität ermöglichte. Kurz gesagt, ein elegantes und durchdachtes Werk, das Gregor der

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Große begeistert lobte und in die Lebensbeschreibung Benedikts aufnahm. Wer sich an die Regel halte, schrieb Gregor, könne in den Weisungen und der Disziplin dieser Regel «alles finden, was er als Meister vor­ gelebt hat».13 Man konnte nach Vollkommenheit streben, indem man sich an Vorgaben hielt, die man heute als eine Art heiliger Algorithmus bezeichnen könnte. Wie der Heilige Antonius in der Wüste Vorbild für die frühen Asketen im Römischen Reich gewesen war, so hatte Benedikt auf seinem Monte Cassino eine Schritt-für-Schritt-Anleitung für das Leben im Kloster erstellt. Im Laufe der folgenden Generationen verbreitete sich diese Anleitung im gesamten christlichen Westen.

Auf dem Weg zu einem Goldenen Zeitalter In der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts, etwa hundert Jahre nach Benedikts Tod, wurden seine Gebeine zusammen mit denen seiner Zwillingsschwester Scholastika ausgegraben und aus seiner letzten Ruhestätte auf dem Monte Cassino entfernt. Damals waren vom Kloster nur noch Ruinen übrig, nachdem es von den Langobarden im Jahr 580 in Schutt und Asche gelegt worden war; erst 718 sollte es wieder aufgebaut und von Mönchen genutzt werden. Die Grabräuber dachten daher, so hieß es in einer späteren Erzählung, sie würden eine gute Tat vollbringen. Es waren Mönche aus Zentralfrankreich, die Hunderte Kilometer weiter nördlich lebten und das Grab dank einer Kombination aus heiligen Visio­ nen beim Fasten und den Ortskenntnissen eines Schweinehirten ge­ funden hatten. Nach einigen Anstrengungen – sie mussten beim Graben zwei dicke Marmorplatten durchstoßen – fanden sie die Überreste Benedikts und seiner Schwester Scholastika, sammelten sie ein, wuschen sie und «legten sie auf sauberes feines Leinen … um sie in ihr Heimatland zu tragen».14 Genauer gesagt handelte es sich um ein Kloster bei Fleury (später bekannt als Saint-Benoît-sur-Loire, etwa 150 Kilometer südlich von Paris). Der dortige Abt Mommolus erkannte einen Schatz, wenn er ihn vor sich hatte. Das Leinen, in das die Gebeine gewickelt waren, schien mit wundertätigem heiligen Blut getränkt: Mommolus erklärte, dies sei ein sicheres Zeichen für ihre Echtheit. Also wurden die Skelette ehrenvoll in

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einem Schrein beigesetzt, der die Abtei von Fleury schlagartig berühmt machte.* Die posthume Verlegung des heiligen Benedikt von Italien ins Fränkische Reich war nicht nur eine spannende Geschichte oder ein gelungener Coup. Der Raub sollte langfristige Auswirkungen haben, denn im Lauf des Jahrhunderts wuchs dort die wiederbelebte Begeisterung für Benedikt und seine Regel stetig. Im Frühmittelalter fand sich im merowingischen Gallien ein breites Spektrum an monastischen Praktiken. Besonders groß war der Einfluss des irischen Mönchtums – das persönliche Entbehrungen und die Wandertätigkeit als Missionar betonte, wie es die missionierenden Heiligen Columban und Columbanus** vorgelebt hatten.15 Es gab jedoch ganz unterschiedliche Ansichten, wie man ein Kloster führen, und keine Einigkeit, wie der beste Weg aussehen sollte. Entsprechend befolgten die Mönche und Nonnen in ihren Gemeinschaften ein Sammelsurium verschiedener Regeln, die von ihren Äbten je nach Bedarf erlassen oder zusammengestellt worden waren. Oft konnte man nur schwer zwischen einem Haus mit Mönchen und einer Gruppe Kanoniker unterscheiden – Priestern und Klerikern, die gemeinsam nach einer eigenen Regel lebten,

* Der mittelalterliche Reliquienschrein ist nicht mehr vorhanden, doch die Gemeinschaft der Benediktinermönche von Fleury unterhält auch heute noch einen kleinen Schrein. Allerdings würden die Mönche von Monte Cassino fast alles, was ich hierzu geschrieben habe, anders sehen. Sie bestreiten die Geschichte über die Entnahme der Gebeine Benedikts und Scholastikas und haben deshalb einen eigenen Schrein mit einer Platte aus schwarzem Marmor. Sie trägt die Inschrift, dass die Zwillinge unter dem Hochaltar der Kathedrale liegen, die im 20. Jahrhundert nach einem Luftangriff der Alliierten neu aufgebaut werden musste. ** Der Heilige Columban von Iona brachte das Wort Christi von Irland nach Schottland, wo er beeindruckende Taten vollbrachte. Unter anderem soll er ein wildes Ungeheuer, das im Fluss Ness sein Unwesen trieb, in die Tiefen von Loch Ness verbannt haben – die Geschichte gilt als Ursprung für die Legende vom Ungeheuer von Loch Ness. Columban wurde 597 auf der Insel Iona begraben, doch seine Gebeine wurden während der Wikingerüberfälle entfernt und an verschiedenen Orten auf beiden Seiten der Irischen See bestattet. Sein Zeitgenosse Columbanus (Columban von Luxeuil) reiste deutlich weiter und war im Merowingerreich und jenseits der Alpen bei den Langobarden als Missionar unterwegs.

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aber persönlichen Besitz behalten durften und folglich auch mit der Welt und ihren Mitmenschen interagierten. Das alles sollte sich mit der Ankunft der Gebeine Benedikts ändern.16 Vorangetrieben wurde der Wandel, wie so oft im frühmittelalterlichen Frankenreich, von den Karolingern. Wie in Kapitel 5 beschrieben, er­ weiterte und zentralisierte Karl der Große die Autorität der fränkischen Herrscher, indem er die Vorstellung einer christlichen imperialen Macht im Westen wiederbelebte und gleichzeitig Wissenschaft, Bildung und den Kirchenbau förderte. Wenig überraschend gefiel ihm auch der Gedanke, den Mönchen in seinem Reich eine einheitliche Regel zu geben. Karl der Große und sein Sohn Ludwig der Fromme betrachteten die Benediktregel als Gelegenheit, Ordnung in die christliche Praxis zu bringen und ihre kaiserliche Macht auch im Leben ihrer gewöhnlichen Untertanen auszuüben. Besonders dringend war eine Regelung im Fall der Mönche, die sich in einer heiklen Position befanden, der direkten Kontrolle durch die Kirche entzogen waren und weder Bischöfen noch weltlichen Herren unterstanden. Zudem war die Gründung von Benediktinerklöstern in neu eroberten heidnischen Gebieten eine zuverlässige Methode, die christliche Religionsausübung auch an den Rändern des Reiches zu etablieren – eine praktische Kombination aus Kolonisierung und Missionierung. Und schließlich hatten die Karolinger erkannt, dass Klöster die einzige seriöse Möglichkeit für die Vermittlung von Bildung darstellten, weil intelligente Jungen (und Mädchen) lernen konnten, christliche Schriften zu analy­ sieren und lateinische und heidnische Texte zu studieren, die aus der ­Antike erhalten geblieben waren.17 Karl der Große und Ludwig stellten sich daher mit ihrer gesamten Autorität hinter die Benediktregel  – ein entscheidender Moment für die Geschichte der westlichen Kirche. Der Mann, der mit der praktischen Umsetzung dieser Politik betraut wurde, war ein weiterer Benedikt – Benedikt von Aniane. Er erhielt weitreichende Vollmachten für eine Reform im Fränkischen Reich und kam dieser Aufgabe mit großer Energie nach. Seine Tätigkeit mündete gegen Ende seines Lebens in einer Reihe von Kirchenkonzilen in der prächtigen Aachener Kaiserpfalz in den Jahren 816 und 819. Bei diesen Versammlungen verkündeten Ludwig und Benedikt von Aniane, dass alle fränkischen Klöster von nun an standardisierte Praktiken befolgen sollten. Es sollte

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festgelegte Vorgehensweisen bei der Initiation geben, der Gehorsam gegenüber dem Abt wurde betont, und der Schwerpunkt im Leben der Mönche sollten Gebet, Arbeit und Studium sein. Vor allem aber sollte die Regel des heiligen Benedikt befolgt werden, die nur durch Maßnahmen erweitert werden konnte, die im Einklang mit dem Geist dieser Mönchsregel standen. Mönche, die das Gefühl hatten, den harten Anforderungen nicht gerecht zu werden, sollten Kleriker werden  – und damit in die ­Reihen der institutionalisierten Kirche treten und rechtlich dem örtlichen Bischof unterstehen. Damit gab es im Fränkischen Reich zwei Möglichkeiten: Entweder gehörte man der eigentlichen Kirche an, oder man unterwarf sich der vom Reich gebilligten Benediktregel. Natürlich verlief nicht sofort jeder Aspekt des christlichen Lebens im riesigen Herrschaftsgebiet der Karolinger in einheitlichen Bahnen. Doch es war dafür gesorgt, dass die Benediktr­ egel in weiten Teilen Europas zur Norm wurde. Von da an orientierte sich jede bedeutende monastische Bewegung am benediktinischen Standard – auch die Cluniazenser im 10. Jahrhundert, zu denen wir nun zurückkehren. Als Herzog Wilhelm von Aquitanien seine Jagdhütte in Cluny Abt Berno überließ, um dort ein Kloster errichten zu lassen, hatte er ein klares Bild von seiner zukünftigen Stiftung vor Augen: eine gut geführte benediktinische Einrichtung unter der strengen Leitung eines Abtes, abgeschirmt von jedem irdischen Einfluss mit Ausnahme des Papstes. Dennoch kann Wilhelm unmöglich vorhergesehen haben, wie erfolgreich Cluny werden würde – und wie mächtig. Nach Bernos Tod 927 ging die Leitung an einen neuen Abt namens Odo über, der als Junge in Herzog Wilhelms Haushalt zum Krieger ausgebildet worden war, jedoch gegen Ende seiner Teenagerjahre in eine Glaubenskrise geriet und davonlief, um als Einsiedler in einer Höhle zu leben. Später wurde Odo Mönch unter Bernos strengem Regime in Baume, wo er für seine uneingeschränkte Demut bekannt war. Als Bernos Nachfolger in Cluny konnte er die erste Bauphase abschließen. Er erreichte die königliche und päpstliche Bestätigung der Bedingungen in Wilhelms Gründungsurkunde, erbettelte erfolgreich Land und Geld von

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anderen Adligen, die das Projekt unterstützten, und setzte Bernos Tradition fort, die Benediktregel streng umzusetzen. Dabei ging er nicht g­ erade behutsam vor: Beispielsweise wurden die Brüder von Cluny hart bestraft, wenn sie es versäumt hatten, die Krümel von ihren Tellern bei den Mahlzeiten aufzusammeln und zu essen. Doch vor allem exportierte Odo die hohen Standards von Cluny in ­andere Klöster. Er besuchte Benediktinerabteien in Zentralfrankreich als eine Art freiberuflicher Qualitätsprüfer und beriet sie bei der Verbesserung ihres Gemeinschaftslebens. Das lief fast immer darauf hinaus, dass sie zu den grundlegenden Prinzipien der harten Arbeit und des unablässigen Gebets zurückkehren sollten. Odo achtete peinlich genau auf die Einhaltung des Schweigegebots und erlaubte Ausnahmen nur, wenn sie absolut notwendig waren. Er bestand auf einem rigorosen Speiseplan, bei dem auf jedes Fleisch verzichtet wurde. Beim Ordensgewand war er geradezu pedantisch. Seine Hauptinteressen galten, wie sein Biograf Johannes von Salerno berichtet, «der Verachtung der Welt und danach dem Eifer der Seele, der Reform der Klöster und der Kleidung und den Speisen der Mönche».18 Odos Maßnahmen mögen heute hart klingen, doch offensichtlich war eine Reform dringend notwendig. Trotz wiederholter Forderungen karolingischer – und anderer – Herrscher, dass die Klöster gut geführt und die Regeln Benedikts eingehalten werden müssten, finden sich in Quellen aus der damaligen Zeit drastische Schilderungen, die zeigen, dass der Standard in vielen Klöstern zu wünschen übrig ließ, weil Mönche und Nonnen offenbar beschlossen hatten, ein wenig zu entspannen und ihre Weltabgeschiedenheit zu genießen. Beda, ein im 8. Jahrhundert in Nordengland ­lebender Mönch und Geschichtsschreiber mit dem Beinamen Venerabilis («der Ehrwürdige»), hinterließ eine wenig schmeichelhafte Beschreibung eines Doppelklosters (ein Haus unter Leitung eines einzelnen Abtes oder einer Äbtissin mit zwei getrennt lebenden Gemeinschaften von Mönchen und Nonnen) bei Coldingham (im heutigen Berwickshire in Schottland). Dort, so behauptete Beda, würden die Mönche und Nonnen den halben Tag «regungslos in faulem Schlaf» verbringen, manchmal sogar miteinander. Die Häuser, die zum Beten und Lesen errichtet wurden, seien «nun in Stätten für Feste, Trinkgelage, Geschwätz und andere Verlockungen um-

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gewandelt» worden, und die Nonnen würden sich, «so oft sie freie Zeit haben, dem Weben feiner Gewänder» widmen, «mit denen sie sich wie Bräute unter Gefahr für ihren Stand schmücken oder die Freundschaft fremder Männer verschaffen».19 Selbst wenn man Bedas natürliche Feindseligkeit gegenüber Frauen berücksichtigt und davon ausgeht, dass jeder, der in Klöstern nach Fehlern und Versäumnissen suchte, sie auch fand, zeichnet seine Anekdote doch ein lebendiges Bild von der laschen Moral unter den sogenannten Asketen.* Odo kam nie auf die Britischen Inseln – die dortige Reform erfolgte eine Generation später aus der etablierten ­Kirche heraus und wurde von Dunstan, dem Erzbischof von Canterbury, durchgeführt, sowie von Aethelwold, dem Bischof von Winchester, und Oswald, dem Erzbischof von York. Doch es war genau die von Beda beschriebene Form des Fehlverhaltens, die Odo ausrotten wollte. Das Beispiel aus Coldingham hätte an sich schon als düstere Warnung für vom rechten Weg abgekommene Mönche und Nonnen dienen können, denn laut Beda ließ Gott zu, dass die Abtei in Brand geriet und «durch die Verderbtheit der dortigen Bewohner» niederbrannte.20 Je länger Odo in Europa unterwegs war, um das cluniazensische Programm für das Klosterleben zu verbreiten, desto häufiger musste er feststellen, dass es viel zu tun gab. Natürlich waren nicht alle Mönche glücklich über seinen Besuch. Als Odo nach Fleury kam – die letzte Ruhestätte der Gebeine

* Natürlich muss man bei literarischen Schilderungen lasterhaften Klosterlebens immer vorsichtig sein, denn der «sündige Mönch» war im gesamten Spätmittelalter ein fester Bestandteil der Literatur, vor allem in humorvollen Werken oder Beschwerden. Geoffrey Chaucer und Giovanni Boccaccio, die viel später als Beda schrieben, machten sich fröhlich lustig über das Stereotyp des gierigen, faulen, sexuell unersättlichen «Asketen» und sparten dabei nicht mit Anzüglichkeiten. In Boccaccios Decamerone findet sich eine sehr unterhaltsame Geschichte über einen Laien, der sich als Taubstummer ausgibt, um in einem Nonnenkloster unterzukommen, am Ende aber als Sexsklave von allen neun Nonnen einschließlich der Äbtissin herhalten muss. Der Plot (und die karikaturhafte Überzeichnung der Protagonisten) erinnert an die Sexfilme der 1970er Jahre wie Ohne Hemd und ohne Höschen – Der Fensterputzer. Zu Boccaccio siehe Sita Steckel, «Satirical Depictions of Monastic Life», in: Alison  I. Beach und Isabelle Cochelin (Hg.), The Cambridge History of Medieval Monasticism in the Latin West II, Cambridge: 2020, S. 1154–1170.

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­ enedikts und Scholastikas –, bedrohten ihn die Mönche mit Schwertern B und Speeren. Später behaupteten sie, sie seien von den Wikingerüberfällen traumatisiert und daher argwöhnisch gegenüber jeglichen Eindring­ lingen. Wie auch immer, es gelang Odo, sie zu beruhigen. Anschließend knöpfte er sie sich vor, sorgte für mehr Gehorsam und reiste dann weiter. Im Lauf des folgenden Jahrzehnts brachte er die cluniazensische Reform bis in die Normandie und nach Süditalien, wo er unter anderem auch das berühmte Kloster Monte Cassino reformierte. Zu Odos Spezialitäten gehörte, dass er Mönche in Klöster zurückbrachte, die nach Überfällen durch Nichtchristen – vor allem durch Wikinger, Muslime in Nordspanien oder Slawen in Mittel- und Osteuropa – aufgegeben worden waren. Wenn er ein Kloster besuchte, um es zu reformieren, ließ er normalerweise einen erfahrenen Vertrauten zurück, um sicherzustellen, dass seine Maßnahmen auch umgesetzt wurden.21 In vielen Fällen fungierten diese Männer nicht als Abt, sondern als Prior und unterstanden direkt Odo in Cluny. Diese Methode wurde schon bald zum System, und so erweiterte der Abt von Cluny mit jedem Kloster, das er reformierte, seinen Einflussbereich. Er war damit mehr als nur der Leiter eines einzigen Klosters oder ein umherziehender Krisenmanager für andere Klöster: Er gliederte frisch reformierte Häuser aktiv in die Ordensgemeinschaft von Cluny ein. Bei seinem Tod 942 hatte Odo den Namen und die «Marke» Cluny durch die cluniazensische Reform in ganz Westeuropa bekannt gemacht. Mitte des 10. Jahrhunderts wurde Cluny also berühmt. Doch es kam noch besser, denn Cluny wurde genau zur richtigen Zeit bekannt, als reichlich Geld und Besitztümer an die Klöster gingen, vor allem im Westen, und gemeinschaftliche Spiritualität ein boomendes Geschäft war. Benediktinerklöster wie die bedeutende Abtei Gorze in der Nähe von Metz im Nordosten Frankreichs hatten nach dem Vorbild Clunys eigene Reformbemühungen unternommen und dienten als Zentren für eine monastische Erneuerungsbewegung in ihrer Region. Die deutschen Könige übernahmen eine führende Rolle als Gründer und Förderer von Benediktinerabteien in ihrem Reich. Gleichzeitig drang das Christentum weiter in Europa vor und brachte die Mönche gleich mit. Die Herrscher von Böhmen (in der heutigen Tschechischen Republik), Ungarn, Polen und Däne-

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mark konvertierten alle im 10. und 11. Jahrhundert und gründeten aus diesem Anlass oft auch Klöster in ihrem Reich. (Einige der ersten polnischen Mönche kamen als Siedler/Missionare aus der Gegend von Ravenna und gründeten unter dem Schutz des polnischen Herzogs Bolesław des Tapferen ein Kloster. Unglücklicherweise wurden sie alle von Räubern ermordet.)22 Etwas später, zur Zeit der Kreuzzüge, wurden westliche Benediktinerklöster in Palästina und Syrien gebaut, an heiligen Stätten in Jerusalem und in der Küstenstadt Antiochia.23 Doch es war Cluny – das agile Startup mit dem Ziel, eine internationale Marke zu werden –, das das in den Markt strömende Geld am besten zu nutzen wusste. Über die Gründe für das explosionsartige Wachstum des klösterlichen Lebens um die Wende zum ersten Jahrtausend wird von Historikern eifrig debattiert. Viele Faktoren spielten damals eine Rolle. Ein wesentlicher Grund könnte der Klimawandel gewesen sein. Zwischen den Jahren 950 und 1250 stieg die Durchschnittstemperatur auf der Nordhalbkugel an, und obwohl dieser Anstieg keineswegs gleichmäßig verteilt war, sorgte er im Westen für die längste anhaltende Periode günstiger Klimabedingungen seit dem Klimaoptimum der Römerzeit.24 Diese mittelalterliche Warmzeit sollte nicht über das gesamte Mittelalter anhalten, schuf jedoch über einen bestimmten Zeitraum relativ günstige Bedingungen für die Landwirtschaft. Dazu kamen Entwicklungen wie etwa das Kummet und große Eisenpflüge (Eisenschar mit Streichbrett), die eine deutlich effizientere großflächige Bodenbearbeitung ermöglichten.25 Aufgrund dieser technischen Fortschritte in Kombination mit den veränderten klimatischen Bedingungen wurde Landbesitz immer rentabler, und die Land­besitzer verfügten über steigende Einnahmen, die sie ausgeben konnten. Aber wofür? Eine sehr gute Antwort lautete damals: für ihr Seelenheil. Wie bereits festgestellt, veränderte der Aufstieg der Karolinger die politische Zusammensetzung Europas. Die Vereinigung zahlreicher Bruchstücke des einstigen Römischen Reiches und «barbarischer» Gemeinwesen zu einem wiederbelebten christlichen Reich führte zu einer strafferen zentralen Regierung und sorgte dafür, dass sich die Kriegsschauplätze an die Ränder des organisierten christlichen Westens verlagerten – ins heidnische Mitteleuropa, muslimische Spanien und (schließlich) nach Skandinavien. Doch damit waren auch die Voraussetzungen für kleinräumigere

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Konflikte innerhalb dieser Strukturen geschaffen. Die fränkischen Eliten waren zunehmend an ihre Herrscher gebunden und wurden für ihre ­Loyalität mit Land belohnt. Verteidigen mussten sie ihre Territorien nun gegen die Mitglieder ihres eigenen Standes. Mit dieser veränderten aristokratischen Kriegerkultur werden wir uns später noch eingehender beschäftigen. Vereinfacht ausgedrückt, führte diese Entwicklung zu einem deutlichen Anstieg tödlicher Gewalt und dem damit einhergehenden Wunsch der christlichen Krieger, Vorsorge zu treffen, um nicht wegen ­ihrer Sünden in der Hölle zu landen. Die Klöster boten eine elegante Lösung. Zur Wiedergutmachung von Sünden empfahl die Kirche Buße und Gebet. Aber das war zeitraubend, unbequem und unpraktisch für Menschen, die damit beschäftigt waren, zu kämpfen und sich gegenseitig umzubringen. Zum Glück zeigte sich die Kirche offen, was die Verrichtung der Buße anging, und die kirchlichen Autoritäten hatten kein Problem damit, wenn reiche Menschen andere ­dafür bezahlten, an ihrer Stelle Buße zu tun. Mit der Gründung von Klöstern  – wie Herzog Wilhelm mit Cluny  – konnte der Land besitzende Kriegerstand die eigenen Sünden ausgleichen, indem er Mönche dafür bezahlte, in Form von Messen in ihrem Namen um Vergebung zu bitten.* Und so kam es, dass die Gründung von Klöstern, ihre Unterstützung und Ausstattung ab dem 9. Jahrhundert zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung von reichen Männern und Frauen wurde. Und wie alle Freizeitbeschäftigungen der Reichen wurde daraus schon bald ein Trend, bei dem es darum ging, sich gegenseitig zu übertrumpfen und auszustechen. Klöster, die sich durch besonders strenge Standards, die prächtigsten Kirchen und Bibliotheken, die größten und frömmsten Gemeinschaften und das höchste internationale Ansehen auszeichneten, standen besonders hoch im Kurs. Sie wurden von den Superreichen gegründet. Und von den Reichen unterstützt. Und die Wohlhabenden und diejenigen, die gerade so durchkamen,

* Ähnlich, wie heute Unternehmen und Einzelpersonen den Schaden, den sie mit ­ihrem CO2-Verbrauch aufgrund von Fernreisen, Frachtverkehr, übermäßigem ­Heizen usw. anrichten, mit bestimmten Programmen und Klimaschutzprojekten kompensieren wollen.

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eiferten ihnen nach.26 Hunderte neue Klöster wurden gegründet. Im Rückblick wird dieses explosionsartige Wachstum, das vom 10. bis 12. Jahrhundert währte, auch als das «Goldene Zeitalter» der Klöster bezeichnet.

Wege in den Himmel Als Odilo, der fünfte Abt von Cluny, noch ein kleiner Junge war, waren seine Beine aufgrund einer Krankheit verkrüppelt. Seine Familie war wohlhabend und in der Auvergne im Südwesten Frankreichs allgemein bekannt. Auf Reisen trugen Diener den kleinen Odilo auf einer Trage. Das war natürlich ein Luxus, der nur den wenigsten Kindern im Mittel­ alter vergönnt war. Trotzdem litt der kleine Odilo unter seinem Schicksal und würde seine Beine wohl nie gebrauchen können. Doch eines Tages geschah etwas Seltsames. Die Familie war unterwegs und kam an einer Kirche vorbei, an der Odilos Träger eine kleine Rast einlegten. Sie stellten die Trage in der Nähe der Tür ab und ließen den Jungen kurz allein. Als sie zurückkamen, stellten sie überrascht fest, dass der Junge von seiner Trage gerollt und in die Kirche gekrochen war, sich seitlich am Altar hochgezogen und sich aufgerichtet hatte und nun fröhlich herumsprang. Es war ein Wunder, und noch dazu eins, das Odilos gesamtes Leben verändern sollte. Seine Eltern waren überglücklich und gaben den Jungen als Zeichen ihrer Dankbarkeit an ein Kanonikerstift in der Auvergne, wo er auf eine Laufbahn im Dienst Gottes vorbereitet werden sollte. Kinder in ein Kloster oder Stift zu geben – als «Oblaten», wörtlich «Dargebotene» –, war bei Aristokraten damals durchaus üblich, immerhin erhielt das Kind so eine Ausbildung, während gleichzeitig die Zahl der potenziellen Erben in einer großen Familie verringert wurde. Uns mag das heute grausam erscheinen, doch manchen Oblaten bekam das ganz gut. Odilo blühte unter den Klerikern auf und ging mit Ende zwanzig nach Cluny, um Mönch zu werden. Er beeindruckte seine Mitbrüder dort so sehr, dass sie ihn 994 nach dem Tod des vierten Abts zu ihrem neuen Oberen wählten.27 Er steuerte das Haus sicher durch die beunruhigende Jahrtausendwende, als viele fürchteten, das Ende der Welt sei gekommen. Und er leitete die Geschicke des Klosters auch in den folgenden fünfzig

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Jahren, als das Prestige, die Präsenz und die Ressourcen der cluniazen­ sischen Bewegung immer weiter wuchsen. Odilo wird in einer Chronik als «Erzengel der Mönche» bezeichnet. Zu seinen Vertrauten zählten nicht nur mehrere aufeinanderfolgende Päpste, sondern auch einige fränkische Könige und Kaiser, die ihn an Weihnachten und anderen hohen Feiertagen als Gast zu sich einluden. Als Heinrich  II ., König der Ostfranken (oder der Deutschen, wie wir sie nun nennen können), 1004 zum Kaiser gekrönt wurde, überließ er Odilo ein Geschenk, das er vom Papst zur Krönung erhalten hatte – einen goldenen Apfel mit einem Kreuz obenauf. Der Apfel wurde nach Cluny geschickt, wo er zusammen mit anderen kostbaren Schmuckstücken und ­Juwelen die reichlich bestückte Schatzkammer füllte. Aber Odilo war kein Mensch, der es nur auf Schätze abgesehen hatte und beim Adel schmarotzte. Er überzeugte seine mächtigen Freunde, Cluny und seine Filialklöster vor ihren skrupellosen Nachbarn zu schützen, die dem Kloster Land abtrotzen oder seine Unabhängigkeit beschneiden wollten. Und er nutzte den dank ihrer Geschenke angesammelten Reichtum, um Cluny baulich weiterzuentwickeln. Die Abteikirche war während seiner ersten Jahre als Mönch umgestaltet worden (Mittelalterarchäologen nennen diese zweite Kirche «Cluny II »). Nun machte sich Odilo daran, mit enormem Aufwand die Gemeinschaftsräume der Mönche umzubauen – mit der Anweisung, Marmor zu verwenden und die Gebäude mit außergewöhnlichen Skulpturen zu schmücken. Er verglich sich gern mit Augustus zu Roms Glanzzeiten und erklärte, als er nach Cluny kam, sei die Abtei aus Holz gebaut gewesen, doch er werde sie in Marmor hinterlassen.28 Doch nicht nur das Baumaterial wurde zu Odilos Zeiten zusehends prächtiger. Im Innern der Gebäude fanden täglich immer spektakulärere Lobpreisungen statt – in Form gemeinschaftlicher Gebete, Psalmrezita­ tionen, Lesungen und Hymnen, die zusammen officium («Dienst») oder Stundengebet genannt wurden. Das Officium wurde achtmal am Tag verrichtet und begann bereits in den frühen Morgenstunden mit Matutin und Laudes, gefolgt von der Prim etwa bei Tagesanbruch, der Terz am Vormittag, der Sext am Mittag, den Nones in der Mitte des Nachmittags sowie Vesper und Komplet gegen Ende des Tages. (Die Länge der Stundengebete war jahreszeitenabhängig, je nach Tageslicht.) Außerdem gab es

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eine tägliche Messe. Das Stundengebet bestimmte den Tagesablauf im Kloster und wurde als opus Dei («Werk Gottes») bezeichnet. Zudem bildete es den Dreh- und Angelpunkt des mönchischen Lebens: Das Stundengebet war der Beitrag der Mönche zur Gesellschaft und zu einer Ökonomie, in der die Seele eine ebenso große Rolle wie der Körper spielte. Folglich widmeten benediktinische Mönche dem Stundengebet den Großteil ihrer Zeit. Man erwartete von ihnen, ihre Pflicht nach bestem Wissen und Gewissen zu erfüllen. Das bedeutete auch, dass viel gesungen wurde. Die Benediktregel räumte der Musik einen hohen Stellenwert ein, da beim Singen, so Benedikt, «Herz und Stimme in Einklang stehen».29 Die Mönche mussten ­einen Chor bilden und darauf achten, dass nur die besten Sänger einen wichtigen Part erhielten.30 Benedikt empfahl das Erlernen des melodischen einstimmigen Choralgesangs, der zu seiner Zeit in den Kirchen Roms populär gewesen war: Der Gregorianische Gesang war nach Papst Gregor dem Großen benannt, Benedikts Freund und Vorbild, dem oft (aber vermutlich zu Unrecht) nachgesagt wurde, er habe ihn erfunden. Darüber hinaus legte sich Benedikt beim Gesang jedoch nicht fest, daher blieb während des monastischen Booms im 10. und 11. Jahrhundert viel kreativer Freiraum. In Cluny war Musik ein wesentlicher Bestandteil des Klosterlebens. Leider ist es aufgrund der Zerstörung der Mutterabtei und ihrer Archive heute nicht mehr möglich, den Gesang der Mönche wiederaufleben zu lassen, doch die Bedeutung der Musik ist dort buchstäblich in Stein ­gemeißelt. Auf erhaltenen Originalpfeilern findet man Musiker und ­Inschriften zur Bedeutung der Musik für das Lob Gottes.31 Seit Odilo scheint man dort intensiv mit verschiedenen Psalmgesängen experimentiert zu haben, bei denen ein feines und harmonisches Gleichgewicht zwischen dem Vortrag eines einzelnen Solisten und dem Chor geschaffen wurde.32 Und natürlich gab es jede Menge Gelegenheiten zum Üben. An einem normalen Tag war ein gewöhnlicher Mönch in einem der zahlreichen Benediktinerklöster in ganz Europa bis zu neunzehn Stunden wach und verbrachte davon vierzehn Stunden mit einer Form des liturgischen Dienstes. Doch in Cluny ging man sogar noch weiter. In praktisch jeder Minute fand eine Prozession vor, nach oder während einem Gottes­dienst

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statt oder ein Officium, das bestimmten Feiertagen oder den Seelen der Verstorbenen gewidmet war, oder eine Zeremonie der rituellen Demut, bei der etwa Bettlern die Füße gewaschen wurden. Als der berühmte Mönch, Reformer und Kardinal Petrus Damiani im 11. Jahrhundert Cluny besuchte, stellte er überrascht fest, dass die Mönche so mit dem Officium beschäftigt waren, dass sie pro Tag nicht einmal eine halbe Stunde Pause vom Chor hatten.33 Spätere Klosterreformer bemängelten, der heilige Benedikt hätte die Marmorsäulen im Refektorium sicher nicht gutgeheißen, genauso wenig wie das ständige Singen, das den Mönchen keine Zeit zu harter körper­ licher Arbeit lasse. Doch in Cluny verstand man die opulenten Bauwerke als Mittel, um die Macht der Lobpreisung Gottes, die dort stattfand, noch zu verstärken.

Compostela und Cluny III Im Hochmittelalter* hatten die Klöster einen Großteil dessen übernommen, was wir heute als die Grundfunktionen des Sozialstaates betrachten. Sie waren Zentren der Schriftlichkeit, Bildung und Gastfreundschaft, sie boten medizinische Behandlung, Informationen für Touristen, soziale Betreuung für Alte und spirituellen Rat – und das alles zusätzlich zu ihrer eigentlichen Funktion als Rückzugsort für jene, die Gott nahe sein wollten. Damit hatten sie einen langen Weg zurückgelegt von ihren Ursprüngen als spartanische Zuflucht vor dem weltlichen Treiben. Nun waren die Verbindungen zur Außenwelt eng und lukrativ. Dass Cluny und seine Tochterhäuser ein fester Bestandteil der säkularen Gesellschaft geworden waren, zeigt sich besonders deutlich an ihrer Monopolisierung der Pilgerrouten, die zu den heiligsten Stätten West­ europas führten. Der berühmteste dieser spirituellen Superhighways mündete an der nordwestlichen Spitze der Iberischen Halbinsel, im Wallfahrtsort Santiago de Compostela in Galizien. Dort hatte ein Eremit

* Grob gesagt die Zeit vom 11. bis zum 13. Jahrhundert.

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­ amens Pelagius im Jahr 814 tanzende Lichter im Himmel gesehen, die n ihn auf wundersame Weise zu den Gebeinen des Apostels Jakobus führten.* Und nach dem Fund der Gebeine wurde Jakobus in der westlichen Welt fleißig vermarktet. Eine Kirche wurde gebaut, die seine letzte Ruhestätte markieren sollte; dort steht heute eine der spektakulärsten Kathe­ dralen der Welt, die romanische, gotische und barocke Stilelemente zu ­einem monumentalen Prachtbau vereint. Für christliche Pilger, die fit genug für den weiten Weg waren, war (und ist) Compostela ein unwiderstehliches Ziel. Fern des Heiligen Landes konnte nur der Petersdom in Rom mit den Überresten eines Apostels aufwarten. Die Verpflichtung, einmal im Leben an einem so ehrwürdigen Wallfahrtsort zu beten, war für gläubige Christen zwar nicht so groß wie etwa der Haddsch für Muslime, trotzdem hatte das Pilgern eine besondere Bedeutung. Verfolgt man auf einer Karte die wichtigsten mittelalterlichen Routen nach Compostela, hat man ein Arteriensystem vor sich, mit Wegen, die in Italien, Burgund, im Rheinland, in Nordfrankreich und Flandern beginnen und an einigen wenigen Gebirgspässen in den Pyrenäen zusammenlaufen, bevor ein religiöser Superhighway von Ost nach West parallel zur Nordküste der Iberischen Halbinsel bis nach Santiago führt. Im 12. Jahrhundert entstand ein mittelalterliches Handbuch für Pilger, die diesen Weg antreten wollten. Darin fand der unerschrockene Reisende viele praktische Ratschläge und Informationen darüber, wo der Wein gut und die Menschen ehrbar waren. Der Pilgerführer warnte aber auch vor den Gefahren der Reise: vor riesigen Wespen und Pferdebremsen um Bordeaux, vor der Gier und Trunkenheit der Gascogner, dem Risiko, von schurkischen Fährleuten beim Überqueren von Flüssen übers Ohr gehauen oder sogar ins Wasser geworfen zu werden, und vor der absoluten Sittenlosigkeit der Einwohner Navarras, die wie bellende

* Zu Jakobus gibt es verschiedene christliche Überlieferungen. Als Jünger Christi predigte und missionierte Jakobus nach Jesu Tod und Auferstehung und kam dabei bis in die Provinz Hispania. Nach seiner Rückkehr in den Osten wurde er auf Anweisung des Königs von Judäa, Herodes Agrippa, ermordet und dann auf die Iberische Halbinsel zurückgebracht und dort bestattet.

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Hunde sprechen und nachts mit Maultieren und Pferden kopulieren würden.34 Die Gefahren und Unannehmlichkeiten einer so langen Reise waren natürlich Teil der Buße. Die Vergebung Gottes zu erlangen war nicht so einfach. Andererseits boten Pilger auch eine wunderbare Gelegenheit, sich eine goldene Nase zu verdienen. Viele Jahrhunderte zuvor, als das Römische Reich auf dem Höhepunkt seiner Macht stand, waren die römischen Straßen, die das Reich durchzogen, von eigens zu diesem Zweck errich­ teten mansiones gesäumt gewesen – im Grunde Rasthöfe für die Beamten des Reichs –, mit Ställen, Übernachtungsmöglichkeiten und Restaurants. Nun bestand entlang der Pilgerrouten ein ähnlicher Bedarf.35 Die Cluniazenser erkannten die Gelegenheit und packten sie beim Schopf. Die Klöster wurden zu den neuen mansiones und kümmerten sich um die Versorgung der Gläubigen auf ihrem Weg in den Nordwesten Spaniens. Die treibende Kraft in dieser Phase der cluniazensischen Entwicklung war Abt Hugo «der Große», der Odilos Nachfolger wurde, als dieser im gesegneten Alter von siebenundachtzig Jahren am 1. Januar 1049 starb. Wie Odilo war Hugo ein Mann mit dem Charakter eines Heiligen: mit vierzehn wurde er Mönch, mit zwanzig wurde er zum Priester geweiht und mit vierundzwanzig zum Abt gewählt. Ein Zeitgenosse – Arnulf von Soissons (der übrigens auch Schutzpatron eines belgischen Biers ist)  – schrieb, er sei «im Denken und Handeln von vollkommener Reinheit … der Förderer und perfekte Hüter der monastischen Disziplin und eines geregelten Klosterlebens … [und] ein eifriger Streiter und Verteidiger der Heiligen Kirche».36 Wie Odilo sollte sich auch Hugo als erstaunlich ­langlebiger Abt erweisen und sein Amt sechzig Jahre lang ausüben. In dieser Zeit setzte er fort, was Odilo begonnen hatte: Auch er verbreitete den Eindruck, dass der Abt von Cluny Königen und Päpsten von Natur aus gleichgestellt sei, indem er seine politische Macht in ganz Europa ausübte und dafür sorgte, dass Cluny als Institution reich blieb. Er war ein brillanter Verwalter mit Sinn fürs Geschäft. Unter Hugos Leitung wuchs das cluniazensische Netzwerk weiter und erreichte schließlich mit tausendfünfhundert Häusern seinen Höhepunkt. Auch entlang der Pilgerrouten nach Santiago de Compostela ent­ standen unter Hugos Führung monastische Häuser, die entweder direkt

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Cluny unterstellt waren oder deren Regelwerk von Cluny beeinflusst war. Ein Pilger, der im 11. Jahrhundert in der sanften Hügellandschaft Süd­ englands aufbrach, um Hunderte Kilometer entfernt den Schrein des Heiligen Jakob zu besuchen, begann seine Reise vielleicht im Priorat St. Pancras in der Nähe von Lewes in Sussex, der ersten cluniazensischen Niederlassung in England. Lewes wurde vom Earl of Surrey, einem gewissen William de Warenne, und seiner Frau Gundrada gegründet und entwickelte sich zu einem der größten und bestausgestatteten Klöster im englischen Königreich. Wenn unser Pilger nun den Ärmelkanal überquert und die Pilgerroute südlich von Paris genommen hätte, wäre er oder sie an Dutzenden cluniazensischen Häusern vorbeigekommen, ob in größeren Städten wie Tours, Poitiers und Bordeaux oder an kleineren Stationen dazwischen. Auch nach den Gebirgspässen hätte unser Pilger festgestellt, dass die ­spanischen Wege von weiteren cluniazensischen ­Filialhäusern gesäumt waren  – in Pamplona, Burgos, Sahagún (einem ­herausragenden, reich ausgestatteten Haus, das auch als «spanisches Cluny» bekannt war) und León. Die prächtigsten Filialen sollten Cluny heraufbeschwören, sowohl in architektonischer Hinsicht als auch in Hinblick auf die Atmosphäre und Routine des monastischen Lebens. Viele konnten mit den sterblichen Überresten von Heiligen aufwarten. Die große Abtei Vézelay behauptete erstaunlicherweise, die Gebeine von Maria Magdalena zu besitzen. In Poitiers hüteten Nonnen ein Stück des Wahren Kreuzes, das der byzantinische Kaiser Justinian vor langer Zeit der merowingischen Königin Radegund als Geschenk gesandt hatte. Sahagún brüstete sich mit den Gebeinen der lokalen Märtyrer Facundus und Primitivus, die um das Jahr 300 aufgrund ihres Glaubens enthauptet worden waren und aus ­deren Hälsen beim Sterben Milch und Blut gesprudelt waren.37 All diese sterblichen Überreste konnten von den Pilgern bestaunt werden, als eine Art Aufwärmprogramm für den Schrein des Heiligen Jakobus in Compostela. Seltsamerweise hatte das Mutterhaus in Cluny keine vergleichbaren Reliquien. Dafür wurde Cluny jedoch in der Zeit, in der das Mutterhaus an der Spitze einer gewaltigen Pyramide reformierter Klöster stand, also im 10. und 11. Jahrhundert, enorm reich. Zu den üppigen direkten Zuwen-

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dungen seiner Gönner und den Einnahmen, die auf seinen großen Gütern erwirtschaftet wurden, kam der Gewinn aus seinen Investitionen entlang der Pilgerrouten nach Compostela. Ein Teil stammte von den Beiträgen, die jedes Filialkloster in Form von einigen Pfund Silber alljährlich ans Mutterhaus sandte. Deutlich mehr kam jedoch von den direkten Zahlungen der christlichen Könige im Norden der Iberischen Halbinsel, zu denen Abt Hugo aufgrund ihrer großzügigen Spenden gute Beziehungen pflegte. 1062 versprach König Ferdinand von León und Kastilien Hugo jedes Jahr 100  Pfund Gold für die cluniazensische Bewegung. 1077 erhöhte sein Sohn Alfons VI . den Betrag auf 2000 Pfund. Das waren gigantische Summen, weitaus höher als das gesamte Einkommen, das Cluny als Abtei aus Gütern und Ländereien bezog.38 Gleichzeitig zeugten die Zuwendungen von der hohen Meinung, die die spanischen Könige von Hugo hatten – und davon, wie sehr sie das schätzten, was Hugo ihnen im Gegenzug bieten konnte. Die Cluniazenser sorgten nicht nur dafür, dass die einträglichen Pilgerströme reibungslos durch die spanischen Königreiche geleitet wurden, sondern boten Ferdinand und Alfons auch etwas, was man als elitären Seelenreinigungsdienst bezeichnen könnte. Das 11. Jahrhundert markiert auch den Beginn der Reconquista – der Kriege zwischen christlichen Mächten im Norden der Iberischen Halbinsel und muslimischen Mächten im Süden (al-Andalus). In den Kämpfen, die schließlich zum Zusammenschluss der beiden Königreiche León und Kastilien führen sollten, wurde viel Blut vergossen. Sie brachten allerdings auch viel Gold ein, in Form von Kriegsbeute oder ­Tributzahlungen nach der Eroberung muslimischer Städte, die mitunter zu jährlichen Tributzahlungen bereit waren, um den Frieden zu wahren. Diese reiche Ernte erlaubte es den christlichen Königen, Wiedergutmachung für die schweren Sünden zu leisten, die sie durch die Feldzüge auf sich geladen hatten. Die Wiedergutmachung erfolgte in Form der ­hohen Summen, die sie nach Cluny transferierten. Zum Dank für ihre großzügigen Spenden erklärte sich Hugo bereit, dass die cluniazensischen Mönche praktisch rund um die Uhr für das Seelenheil der spanischen ­Könige, ihre Vorfahren und – besonders beeindruckend – für ihre noch ungeborenen Nachkommen – sangen und beteten. In Cluny wurde sogar ein spezieller Altar errichtet, an dem Messen nur für Alfons ’ persönliche

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Errettung abgehalten wurden.* Das war ein «Angel Investment» im wahrsten Sinne des Wortes, und Hugo von Cluny nutzte das Geld, um sein Mutterhaus und die cluniazensische Bewegung an sich mit einer Kirche auszustatten, die über mehrere Generationen hinweg als wahres Wunder der westlichen Welt galt. Mit den Arbeiten an Cluny  III, um Hugos neuer Abtei den un­ romantischen Namen zu geben, den moderne Historiker verwenden, wurde in den frühen 1080er Jahren begonnen. Laut einer späteren Überlieferung wurden die Pläne von niemand Geringerem gezeichnet als von den Heiligen Petrus, Paulus und Stefan, die eines Nachts gemeinsam einem verkrüppelten Mönch namens Gunzo, dem ehemaligen Abt von Baume, im Traum erschienen. In Gunzos Traum präsentierten die Heiligen die Pläne für die neue Kirche mit präzisen architektonischen Angaben. Sie sagten Gunzo, er solle die Einzelheiten an Abt Hugo weitergeben. Wenn er die Botschaft überbringe, könne er seine Beine wieder gebrauchen. (Sie drohten auch, Hugo zu lähmen, wenn er ihrem Auftrag nicht nachkam.)39 Doch weder Gunzo noch Hugo mussten weiter gedrängt werden. Hugo übertrug die Aufgabe, die Pläne der Heiligen umzusetzen, einem brillanten Mathematiker aus Lüttich, das nicht weit von der alten Kaiserpfalz in Aachen entfernt liegt. Er hieß Hezelo und scheint sich gut mit mathematischen Proportionen ausgekannt zu haben, wie sie der große römische Ingenieur und Architekturtheoretiker Vitruvius beschrieben hatte  – ­dessen Werk wiederum viele andere Genies im Mittelalter und darüber hinaus faszinierte, unter anderem auch Leonardo da Vinci.40 Hezelos Entwürfe sahen eine Kirche von fast 200  Metern Länge vor, die theo­ retisch groß genug war, nicht nur die dreihundert in Cluny ansässigen

* Ein typisches Kennzeichen spätkapitalistischer Angst äußert sich darin, sich über eine digitale Wirtschaft aufzuregen, in der Geld für Dienstleistungen und Produkte verschwendet wird, die außerhalb von Computerservern überhaupt nicht existieren, aber eine kleine Gruppe von Unternehmen und deren Führungsriege enorm reich machen. Vielleicht ist es ganz tröstlich, zu wissen, dass es bereits im Mittelalter eine vergleichbare Ökonomie gab.

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Pilgerwege nach Santiago de Compostela (um 1000) Plymouth

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Mönche zu beherbergen, sondern, so sagte man, jeden Mönch und jede Nonne der cluniazensischen Welt. Cluny  III war mehr als doppelt so groß wie Justinians Hagia Sophia und erheblich größer als die viel ­gerühmte Umayyaden-Moschee von Damaskus. Kein religiöses Bauwerk, egal welcher Art, konnte es im mittelalterlichen Westen mit der Größe der Abteikirche aufnehmen – nicht einmal Santiago de Compostela oder der «alte» Petersdom in Rom.* Die Kirche hatte einen langen, kreuzförmigen Grundriss, mit einem extralangen Schiff, zwei Querschiffen und elf Säulenjochen, und drei Stockwerke.41 Über der Apsis und den Querschiffen erhoben sich mehrere quadratische und achteckige Türme. Im Lauf der Jahrhunderte wurde das Hauptgebäude noch durch andere Gebäude und Türme ergänzt. Auf der Südseite der Kirche erstreckten sich Kreuzgänge, Innenhöfe, Schlafsäle, ein Spital und andere Außengebäude auf einer mindestens ebenso großen Fläche. Der lange Grundriss in Form eines Kreuzes (mit zwei Querbalken) hob die Abteikirche deutlich von früheren Monumentalbauten wie der Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen oder den gedrungenen frühmittelalterlichen Basiliken von Ravenna und anderen Städten ab. Cluny  III war ein Meisterwerk in einem architektonischen Stil, der als ­romanisch bekannt wurde, weil er Elemente der antiken römischen Architektur und die damit verbundenen Theorien aufgriff, die sie ermöglichten. Der Bau war kraftvoller Ausdruck des gewaltigen Vermögens, das um die erste Jahrtausendwende im Westen zirkulierte – und der Bereitschaft von Männern wie Abt Hugo und seinen Unterstützern, in langfristige Bau­ projekte zu investieren. Doch auch Cluny III musste in mehreren Schritten erbaut werden, was unter anderem daran lag, dass die Finanzierung ins Stocken geraten war, als das Kriegsglück die spanischen Könige während der Reconquista verließ. Erst 1130 konnte die Abteikirche geweiht werden  – fast ein Jahrhundert nach dem ersten Spatenstich. Zu der Zeit ­waren alle, die das Projekt geplant und begonnen hatten, schon lange tot,

* «Alt-St. Peter» wurde im frühen 16. Jahrhundert abgerissen und war etwa 110 Meter lang. Der heutige Petersdom, der die bisherige Basilika ersetzte, ist heute die größte christliche Kirche der Welt und misst 186 Meter – fast identisch mit Cluny III.

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und auch der Stellenwert des Mönchtums hatte sich verändert. Doch Hugos Vision war nie aufgegeben worden. Leider ist von Cluny  III heute nur noch ein Bruchteil erhalten – der Südarm eines Querschiffes –, doch es gibt immer noch Hinweise darauf, welches Erstaunen dieses gigantische Gebäude einst hervorgerufen haben muss. 10 Kilometer südlich von Cluny liegt in Berzé-la-Ville die Chapelle des Moines, deren Wände praktisch vom Boden bis zur Decke mit üppigen, farbenprächtigen Fresken bedeckt sind, die Szenen aus dem Neuen Testament und dem Leben der Heiligen zeigen. Diese beeindruckenden Malereien wurden mit großer Sicherheit von Abt Hugo in Auftrag gegeben. Cluny  III war mit ganz ähnlichen, noch viel prächtigeren und großflächigeren Fresken geschmückt. Quellen aus dem frühen 12. Jahrhundert berichten zudem von einer opulenten Ausstattung der Abtei: Die Familie Heinrichs  I . von England stiftete Cluny Silberleuchter und schöne Glocken. Cluny  III war ein Meisterwerk, und seine Einflüsse auf die Architektur sind in den erhaltenen romanischen Bauwerken von England bis nach Polen und Ungarn zu sehen. Cluny war ein Wunder der neuen monastischen Welt, hatte sich jedoch weit vom ursprünglichen Ideal der reformierten, auf das Nötigste ­beschränkten benediktinischen Vorstellung entfernt. Die Mönche, die hübsche Summen dafür erhielten, dass sie für das Seelenheil ihrer reichen Klienten unablässig Messen sangen, trugen feines Leinen und speisten üppig. Ihre Liturgie war komplex, stark strukturiert und wunderschön. Die Kehlen der gewöhnlichen Mönche schmerzten vielleicht vom ständigen Singen, doch ihre Hände trugen keine Schwielen von harter, körperlicher Arbeit, denn die wurde von Leibeigenen verrichtet. In den Abteigebäuden befanden sich hervorragend ausgestattete Bibliotheken, Weinkeller und umfangreiche Sammlungen von Gemälden, Skulpturen und Reliquien in juwelenbesetzten Reliquiaren. Die Mönche von Cluny waren Gelehrte. Ihre Äbte waren Heilige. Doch unter den Gläubigen begann es zu gären. Die Geschichte war wieder da angelangt, wo sie begonnen hatte.

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Neue Puritaner Auf dem Höhepunkt von Hugo von Clunys Macht gab es Momente, in denen ein Großteil Europas nach seiner Pfeife zu tanzen schien. Der Einfluss Clunys – und Hugos – war überall zu spüren. 1050 bat ihn der deutsche König und Kaiser Heinrich III ., die Patenschaft für seinen Sohn zu übernehmen, und befolgte seinen Rat bei der Namenswahl. (Allerdings zeigte Hugo keine große Fantasie: Das Kind wurde auf den Namen Heinrich getauft und somit später Kaiser Heinrich IV .) Als Wilhelm der Bastard, der Herzog der Normandie, 1066 in England einfiel und das Land eroberte, begann er einen Briefwechsel mit Hugo und bat ihn, Mönche aus Cluny in sein neues Reich zu senden, um dort Prioreien zu gründen. Der französische König Philipp I . – ein Mann, dessen Lebensstil ein bisschen spirituelle Unterstützung bitter nötig machte – erkundigte sich im Alter bei Hugo nach Möglichkeiten, sich im Kloster zur Ruhe zu setzen.42 Einmal reiste Hugo sogar persönlich nach Ungarn zu König Andreas  I . Und zu Rom unterhielt der Abt besonders enge Beziehungen, weil dort der Reformgeist, der Clunys Erfolg zugrunde lag und in der monastischen Welt weite Verbreitung fand, von einer Reihe von «Reformpäpsten» übernommen, angepasst und erweitert wurde. Der Eifrigste unter ihnen war ein Mönch namens Hildebrand, der in der Toskana und im Rheinland aufgewachsen war, den Weg in die päpstliche Verwaltung fand und schließlich – vor allem aufgrund seiner unermüd­ lichen Fähigkeit zu harter Arbeit und seiner ungestümen Persönlichkeit – 1073 zum Papst aufstieg und als Gregor  VII . Furore machte. Obwohl ­Gregor und Hugo ein ganz unterschiedliches Temperament hatten, verband die beiden eine enge Freundschaft, der auch ihre gelegent­lichen politischen Differenzen nichts anhaben konnten. Sie gründete auf ihrem gemeinsamen, tief sitzenden Wunsch, die Institutionen des christ­lichen Glaubens zu verbessern und zu ordnen und der Kirche einen Stellenwert zu verschaffen, durch den sie in sämtlichen Reichen des Westens mitten im Alltag der Menschen verankert war. Gregors wilder Eifer, die Kirche zu säubern und die Autorität des Papstes in jedem christlichen Reich durchzusetzen, sorgte in Europa für massive politische Unruhen. Und als Gregor sich mit Hugos Patenkind

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Kaiser Heinrich  IV . anlegte und die beiden im sogenannten Investiturstreit miteinander rangen (bei dem es um das Recht eines weltlichen Herrschers ging, Bischöfe zu ernennen und einzusetzen), geriet Hugo zwischen die Fronten. Einerseits hegte er große Sympathie für Gregor. Andererseits pflegte er persönliche und politische Freundschaften mit den wichtigsten Beteiligten auf beiden Seiten. Er gab sein Bestes, um unparteiisch zu bleiben, und bot bei mehreren Gelegenheiten seine Dienste als Vermittler an. Doch die meiste Zeit waren ihm die Hände gebunden, sodass ihm nur blieb, sich aus den Streitereien herauszuhalten und zu hoffen, dass ein ­Gesinnungswandel auf beiden Seiten das Problem beseitigen würde.43 Und am Ende kam es auch so. 1088 wurde ein cluniazensischer Mönch namens Odo von Châtillon – Hugos ehemaliger Stellvertreter in Cluny – zum Papst gewählt und nannte sich Urban II . Unter seiner Führung richtete das Papsttum die wütende Energie, mit der man den Investiturstreit verfolgt hatte, auf ein neues Experiment, das in den beiden folgenden Jahrhunderten von großer Bedeutung vor allem für das monastische Leben, aber auch für die Geschichte des Westens im Allgemeinen sein sollte: die Kreuzzüge. Doch auf diesen Erzählstrang kommen wir in Kapitel  8 zu sprechen. Einstweilen warten auf Hugo und Cluny viel näherliegende ­Herausforderungen. 1098, gegen Ende des vierten Jahrzehnts von Hugos Zeit als Abt, beschloss eine kleine Gruppe unzufriedener Mönche und Einsiedler aus Molesme in Burgund, dass sie zu den Prinzipien des Asketismus zurückkehren und irgendwo gemeinschaftlich nach einer auf das Ursprüngliche reduzierten Version der Benediktregel leben wollten. Sie entschieden sich für Cîteaux, ein alles andere als vielversprechendes sumpfiges Stück Land etwa 130 Kilometer nördlich von Cluny in der Nähe von Dijon. Dort gründeten sie ein neues Kloster, das ein möglichst unbequemes – und damit gottgefälliges – Leben bieten sollte. Unter ihrem ersten Abt Robert von Molesme und einem englischen Reformer namens Stephen Harding kehrten die Mönche von Cîteaux zu den Grundlagen des Klosterlebens zurück: harte Arbeit, karge Kost, kahle Räume, soziale Abschottung, viele Gebete und kein Spaß. Im Rückblick wirkt es nur natürlich, dass diese kleine Gruppe spiritu-

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eller Krieger, die sich in Cîteaux zusammengefunden hatten – und daher als Zisterzienser bekannt wurden –, Cluny den Rang ablaufen sollte. Das ist das Schicksal radikaler Bewegungen, das sich stets wiederholt. Und wie die Cluniazenser wären die strengen Zisterzienser sicher nie so populär geworden, wenn sie nicht ihren eigenen charismatischen Anführer gehabt hätten. Ihr leuchtendes Vorbild war ein begüterter junger Burgunder ­namens Bernhard. Um das Jahr 1090 geboren, trat er als Teenager zusammen mit ein paar Dutzend wohlhabenden Freunden in den Orden ein und stieg dort zum neuen Superstar des religiösen Lebens und Denkens auf. 1115 gründete Bernhard seine eigene Zisterzienserabtei in Clairvaux, von wo aus er eifrig mit allen möglichen Leuten korrespondierte, die Hugo von Cluny einst um Unterstützung gebeten hatte, und noch mit zahlreichen weiteren. Päpste, Kaiser, Könige, Königinnen und Herzöge zählten zu seinen Kontakten, aber auch eigenwillige junge Kleriker und entlaufene Nonnen. Bernhard war eine der führenden Stimmen beim zweiten Kreuzzug, zu dem er in den 1140er Jahren in seinen Predigten aufrief. Er war außerdem eine treibende Kraft bei der Gründung des Templerordens  – den Tempelrittern. Und so, wie Hugo von Cluny mit Papst Urban  II . einen ­engen Verbündeten hatte, konnte Bernhard von Clairvaux die Wahl e­ ines seiner Schützlinge zum Papst feiern: Eugens  III . Doch während die Cluniazenser die übliche schwarze Mönchskutte der Benediktiner getragen hatten, kleidete sich Bernhard von Clairvaux in strahlendem Weiß, das für Reinheit stehen sollte. Und während Hugo eine prunkvolle, sinnliche und aristokratische Form des benediktinischen Mönchtums ver­ körperte, bestand Bernhard auf Schmucklosigkeit und auf der Hingabe an ein möglichst einfaches Dasein ohne Kunst, Philosophie, komplexe Riten und kostspielige architektonische Projekte – zwei Ansätze, die sich unmöglich miteinander vereinen ließen, sodass am Ende nur einer triumphieren konnte. Jahrelang stand Bernhard im Briefkontakt mit Hugos Nachfolger in Cluny, dem berühmten und unglaublich talentierten Gelehrten Petrus ­Venerabilis. Die beiden diskutierten ständig; ihr Briefwechsel war eine Art Wettbewerb zwischen einem Asketen und einem Ästheten: einem zornigen Radikalen und einem durchdacht argumentierenden Traditio-

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nalisten. Die beiden Männer vertraten bei vielen der wichtigsten Themen und Skandale ihrer Zeit gegensätzliche Standpunkte – nicht zuletzt auch in einer berüchtigten Liebesaffäre zwischen einem brillanten Pariser Gelehrten namens Petrus Abaelardus und seiner jungen Schülerin Héloïse.* Bernhard von Clairvaux übte heftige Kritik an Abaelards Unmoral – und an seinen nach seiner Ansicht häretischen Lehren. Petrus Venerabilis hingegen zeigte Mitgefühl für Abaelard, nahm ihn in Cluny auf, als er alt und schwach war, und verschaffte ihm einige angenehme letzte Monate in verschiedenen cluniazensischen Häusern, bevor er 1142 starb.44 Indem Petrus Venerabilis Abaelard aufnahm und sich schützend vor ihn stellte, durchkreuzte er Bernhard von Clairvauxs Pläne, Abaelard ­wegen seiner Thesen den Prozess zu machen. Doch ihre Auseinandersetzungen waren nie persönlicher Natur. Bernhard und Petrus gerieten als Rivalen aneinander, aber nicht als Feinde. Auf Pergament konnten beide bissig, herablassend, geringschätzig, pedantisch, abfällig und geradezu unverschämt sein. Doch sie respektierten einander stets und feierten 1150 ­sogar gemeinsam das Weihnachtsfest – natürlich im komfortablen Cluny, nicht in der spartanischen Eiseskälte von Clairvaux. Was die beiden verband  – das monastische Leben, die Kontemplation, Regeln, Ordnung, weltliche Sünden, himmlische Vergebung und die hohe Politik  –, war stärker als das, was sie trennte. Ihre Korrespondenz kann man als Illustration für den Lauf des Schicksals betrachten. Cluny erlebte unter Hugo dem Großen seine Glanzzeit. Doch Mitte des 12. Jahrhunderts hatte sich das Blatt gewendet. Die Äbte Odilo und Hugo hatten zusammengerechnet ein Jahrhundert die Geschicke des Ordens geleitet. In dieser Zeit hatte es zwanzig Päpste (und mehrere konkurrierende «Gegenpäpste») gegeben. In den fünfzig Jahren nach dem Tod von Petrus Venerabilis 1165 kamen und gingen neun Äbte.45 Weltliche Herrscher und Päpste begannen, cluniazensische Prioreien vom Mutterhaus loszusprechen. Es gab keine Schwemme neuer Gründungen, um sie zu ersetzen. Die Welt hatte sich weiterentwickelt. Die Macht des Zisterzienserordens hingegen wuchs und wuchs, inspi-

* Siehe Kapitel 11.

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riert von Bernhards leidenschaftlicher Führung, und hielt auch weit über seinen Tod 1153 hinaus an. Zu der Zeit waren über dreihundert Häuser gegründet oder nach zisterziensischen Vorgaben reformiert worden. Dazu gehörten auch Melrose Abbey in Schottland und die imposante Fountains Abbey in Yorkshire. Auch in Irland, wo das benediktinische Mönchtum bisher stark unterrepräsentiert gewesen war, gab es zahlreiche Neugründungen. In Frankreich erwarb die Bewegung die Unterstützung der Krone, als Ludwig  VI ., «der Dicke», seinen Sohn Heinrich zu Bernhard von Clairvaux schickte, um ihn für eine kirchliche Laufbahn ausbilden zu lassen. Wie die Cluniazenser wurden auch die Zisterzienser in die Kriege der Reconquista hineingezogen und fassten in den expandierenden christlichen Königreichen auf der Iberischen Halbinsel Fuß. Der Orden dehnte sich in Europa weiter aus, es gab Gründungen in Deutschland, Böhmen, Polen, Ungarn, Italien, Sizilien und auf dem westlichen Balkan. 1215 hatten die Zisterzienser kulturell die Vorherrschaft übernommen: Das Vierte Laterankonzil akzeptierte sie als beispielhaft für den Asketismus und wies die Zisterzienser an, die Führung bei der Organisation von Klosterkonzilien zu übernehmen, die alle drei Jahre in jeder Provinz zusammentreten sollten, die der religiösen Autorität Roms unterstand.46 Damit war der Anbruch eines neuen Zeitalters bei den westlichen Mönchsorden offiziell bestätigt. Auf ihrem Höhepunkt hatten die Zisterzienser über siebenhundert Häuser in ganz Europa. Doch obwohl sie nun eindeutig der führende Mönchsorden waren, blieb ihre Position, anders als einst die der Cluniazenser, nicht unangefochten. Denn im Gefolge der Zisterzienser entstanden unzählige andere «Orden» – Gruppen mit anderen Regeln, einem anderen Lebensstil und anderen Kleidungsvorschriften –, die der Meinung waren, sie seien besser für eine sich verändernde Wirtschaft und das neue religiöse Klima geeignet. Dazu gehörten inter­ nationale Ritterorden wie die Templer, Johanniter und Deutschritter, ­denen wir in Kapitel  8 wieder begegnen werden, und weitere kleinere, ­lokale, militärisch organisierte Orden in Spanien und Portugal wie der Orden von Calatrava oder der Santiago-Orden. Dazu kam eine Vielzahl von traditionelleren, friedlichen monastischen Orden für Männer und Frauen. Die Prämonstratenser (oder Norbertiner) wurden im frühen 12. Jahrhundert als ein reformierter, strenger Orden für

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Kanoniker gegründet, die der Regel des Heiligen Augustinus anstelle der Benediktregel folgten, sich in ihrer Lebensweise aber auch am asketischen Vorbild der Zisterzienser orientierten. Etwa zur selben Zeit begannen auch die Kartäuser – ein Orden, der in den 1080er Jahren vom heiligen Bruno von Köln gegründet wurde – mit ihrer Expansion. Die männlichen und weiblichen Mitglieder führten ein einfaches, einsames Leben, bei dem sie zwar zusammen wohnten, aßen und beteten, doch den Großteil ihrer Zeit allein und in Kontemplation in ihren Zellen verbrachten. Dann, zu Beginn des 13. Jahrhunderts, begann der Aufstieg der Bettelorden – der Franziskaner und Dominikaner, deren Mitglieder (oft auch als Ordensbrüder bezeichnet) hinaus aus dem Kloster traten und wie die erste Generation der Asketen in die Städte und über Land zogen, um Gottesdienste zu halten, zu predigen und um Almosen für ihren eigenen Unterhalt zu betteln. Das Mönchstum kehrte in gewisser Weise zu seinen Wurzeln zurück – mit ganz unterschiedlichen Ansätzen, abgestimmt auf lokale Vorlieben und die Launen frommer und manchmal exzentrischer Menschen, die ihre eigene, idiosynkratische Beziehung zu Gott suchten und nicht das Bedürfnis verspürten, sich einem riesigen multinationalen geistlichen Unternehmen anzuschließen, wie es von Cluny in seiner Blütezeit verkörpert worden war. Dass das westliche Mönchstum zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert einen derartigen Boom erlebte, sollte uns bekannt vorkommen, sich aber gleichzeitig auch fremd anfühlen. In der heutigen westlichen Welt ziehen sich nur wenige Menschen dauerhaft ins Kloster zurück. Ein L ­ eben mit so intensiven, freiwilligen Entbehrungen, in Keuschheit und ­Armut und mit sich wiederholenden Liturgien und Gottesdiensten hat für be­ güterte junge Frauen und Männer im 21. Jahrhundert wenig Verlockendes. Doch was wir in dieser Entwicklung auf jeden Fall wiedererkennen können, ist der Aufstieg unermesslich reicher und mächtiger internationaler Institutionen und Unternehmen, die über eine enorme «Soft Power» verfügen und für deren Anführer die politischen Großen dieser Welt stets ein offenes Ohr haben. Freiwillig übernommene «Regeln» für unser Leben, die unsere eigene und kollektive Tugendhaftigkeit verbessern sollen, sind uns durchaus vertraut: So erfreut sich etwa der Veganismus im Westen

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gerade besonderer Beliebtheit. Und wir halten es für selbstverständlich, dass es in unserem Leben Institutionen gibt, die Bildung, Seelsorge, medizinische Betreuung und die Pflege von älteren oder bedürftigen Menschen anbieten, ob nun von staatlicher Seite oder von einer Gemeinde. In dem Sinn sind wir vielleicht gar nicht so weit von einer Welt, die von Mönchen und Nonnen am Laufen gehalten wird, entfernt, wie wir denken. Wir werden im Buch immer wieder auf das klösterliche Leben zurückkommen, vor allem auch im letzten Kapitel, in dem wir die religiösen Umbrüche der Reformation im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert betrachten. Auch bei den Kreuzzügen werden wir wieder den Mönchen begegnen. Doch zunächst ist es Zeit, die Sicherheit der Klöster zu verlassen und eine andere kulturelle Bewegung zu betrachten, die zusammen mit dem Mönchstum die westliche Welt im Sturm eroberte. Wir wenden uns nun der Gruppe in der mittelalterlichen Gesellschaft zu, deren Mitglieder, wie Bernhard von Clairvaux in seiner typisch ätzenden Prosa spottete, «Kriegsdienst leisten unter so vielen Auslagen und Mühen! … Bei keinem anderen Sold als entweder Tod oder Verbrechen!».47 Gemeint waren die Ritter: Menschen, denen die Klöster einen Teil ihres Wachstums zu verdanken hatten, weil sie den Auftrag hatten, sie vor dem Höllenfeuer zu ­bewahren, die jedoch das genaue Gegenteil der mönchischen Lebensweise verkörperten, da sie ihre Macht nicht mit Worten und gesungenem Gotteslob ausübten, sondern mit der Lanze oder dem Schwert.

7.

Ritter «Seid Ihr denn nicht Gott?» Perceval, Chrétien de Troyes

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itte August des Jahres 955, in einer Zeit, in der Sternenstaub im Himmel zu funkeln schien, versammelte Otto  I ., König der Deutschen, ein Heer etwas westlich der Stadt Augsburg.1 Otto war ein erfahrener König und ein Veteran vieler Scharmützel und Schlachten. Er herrschte seit fast zwanzig Jahren in Deutschland und hatte hart gearbeitet, um die verschiedenartigen Territorien des einstigen karolingischen Ostfranken­ reiches unter seine direkte Kontrolle zu bringen, die Autorität der Krone zu stärken und rebellische Adlige, die versuchten, sich ihm zu widersetzen, in Zaum zu halten. Die Erfahrung hatte ihn gestählt. Oder wie es der Chronist Widukind von Corvey formulierte: Otto hatte gelernt, «seine Pflicht als tapferster Krieger und bester Feldherr» zu erfüllen.2 In Augsburg musste er jedes Quäntchen seiner Talente nutzen, denn die Stadt wurde von einem gefährlichen Feind bedroht, den sogenannten Magyaren. Die Bedrohung durch die Magyaren hatte eine lange Geschichte. Wiederholt waren sie in der Vergangenheit in deutsche Interessensgebiete vorgedrungen. Das heidnische Stammesvolk war aus dem Osten nach Mitteleuropa eingewandert und hatte sich in den weiten Ebenen niedergelassen, die sich am Fuß der Karpaten erstrecken. Die magyarischen Krieger waren geschickte Reiter, die mit Pfeil und Bogen vom Sattel aus kämpften. Sie waren flink und schnell, und wenn sie angriffen, war das für ihre Gegner meist fatal. Die christlichen Autoren im deutschen Reich verbreiteten fantastische Geschichten über ihre einzigartige Grausamkeit. Sie berichteten, die Magyaren «zerstörten die Burgen, verbrannten die Kirchen und er-

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schlugen die Leute», und «um immer mehr Schrecken zu verbreiten, tranken sie das Blut der Erschlagenen». Angeblich, so hieß es weiter, «zerschneiden bei ihnen die Mütter ihren Söhnen gleich nach der Geburt mit scharfen Messern das Gesicht, damit sie … Wunden zu erdulden gezwungen sind».3 Überflüssig zu erwähnen, dass es sich dabei um Hörensagen und Lügengeschichten handelte. Doch sie kündeten von einer tief verwurzelten Angst in der deutschen Bevölkerung vor den Magyaren; einer Angst, die mindestens genauso groß war wie die der Westfranken vor den Wikingern. Als Otto daher im Sommer 955 hörte, dass es ein magyarisches Heer auf Augsburg abgesehen hatte, war es seine Pflicht als König, die Invasoren zu vertreiben. Augsburg zu verteidigen war eigentlich eine lösbare, wenn nicht sogar einfache Aufgabe. Zwischen den Herzogtümern Schwaben und Bayern gelegen, war die Stadt ein befestigter Bischofssitz. Die Mauern waren zwar niedrig und ohne Türme für die Verteidigung, doch die Lage der Stadt war einigermaßen sicher am Zusammenfluss zweier Flüsse, die ein Vordringen gegen die Stadt auf drei Seiten verhinderten. Direkt an der nördlichen Stadtmauer strömte die Wertach in den Lech, der dann mehrere Kilometer weiterfloss, bevor er in die Donau mündete. Die Ebenen im Osten wurden von zahlreichen weiteren Flüssen durchschnitten und bildeten ein weites sumpfiges Gebiet, das für konventionelle Truppen fast unmöglich zu durchqueren war. Das Problem war nur, dass die Magyaren keine konventionelle Truppe waren. Wie die «barbarischen» Stämme, die in der Endphase des West­ römischen Reiches nach Europa geströmt waren, waren sie auf offenem, grasigem Terrain ausgezeichnete Kämpfer, deren Vorfahren die Kriegskunst in der eurasischen Steppe erlernt hatten. Sie fanden sich im Flachland hervorragend zurecht und hatten ihre effiziente Kampftaktik schon in früheren Generationen bewiesen. 910 hatte der sechzehnjährige Karolingerkönig Ludwig «das Kind» ebenfalls bei Augsburg gegen eine Streitmacht der Magyaren gekämpft und war tief gedemütigt worden, als die magyarischen Reiter einen Rückzug vortäuschten, seine Truppen dadurch zum Vorrücken verleiteten und diese dann gnadenlos abschlachteten. Die Niederlage hatte Ludwig nie verwunden, er starb etwa ein Jahr später, gequält von düsteren Gedanken aufgrund seines militärischen Versagens.

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Otto konnte sich eine ähnliche Niederlage nicht leisten. Also näherte er sich Augsburg mit Vorsicht. Bei seinem Eintreffen am 10. August war die Stadt komplett umzingelt. Ein klösterlicher Annalenschreiber nennt die unwahrscheinliche Zahl von hunderttausend Belagerern. Doch egal, wie viele es tatsächlich gewesen sein mögen, die magyarischen Krieger mit ihren Anführern, die Namen wie Bulcsú, Lehel und Taksony trugen, waren auf jeden Fall kampferprobte Männer, die auf ihrem Weg durch Bayern bereits zahl­ reiche Orte geplündert hatten: «Sie besetzten und verwüsteten zugleich das Bayernland vom Donaufluß bis zum Schwarzen Wald, der zum Gebirge gehört.»4 Schlimmer noch, sie waren mit Belagerungstürmen und Katapulten ausgerüstet, mit denen sie die Stadt seit Tagen traktierten. Die Augsburger Bürger hatten die Mauern bemannt und wurden von ihrem tapferen Bischof Ulrich persönlich geführt; der saß in seinem Bischofs­ gewand im Sattel, «mit keinem Schild, Panzer oder Helm bewehrt, und blieb inmitten der von allen Seiten um ihn schwirrenden Speere und Steine unberührt und unverletzt».5 Doch es war klar, dass sie nicht sehr lange durchhalten konnten. Bischof Ulrich war voll und ganz bei der ­Sache, hatte jedoch wenig, worauf er zurückgreifen konnte. Neben seinen Bemühungen, die Bürger zu organisieren, blieb ihm daher nur, zu beten, eine Messe zu halten und die in der Stadt versammelten frommen Frauen anzuweisen, mit Kreuzen in Prozessionen durch die Stadt zu ziehen. Otto hatte deutlich bessere Waffen zur Verfügung. Er kam von Sachsen, wo er im Frühsommer gegen die Slawen gekämpft hatte. Seine Truppen waren den Magyaren zwar zahlenmäßig unterlegen, doch sie waren diszipliniert und wurden von fähigen Adligen angeführt (unter anderem von Konrad dem Roten, dem Herzog von Lothringen), dazu waren sie gut ausgebildet, auch wenn sie eine ganz andere Kampfweise als die Magyaren hatten. Anstatt nur leicht gerüstet vom Pferd aus Pfeile zu verschießen und sich auf Beweglichkeit und Schnelligkeit zu verlassen, waren die deutschen Soldaten um einen Kern aus schwerer Kavallerie herum organisiert. Dabei handelte es sich um berittene Krieger mit schweren Rüstungen und Helmen. Sie kämpften mit Schwert und Lanze, ritten ihre Feinde nieder und hackten sie in Stücke. Wenn eine schwere Reiterei geordnet vorrückte und die Chance auf einen Nahkampf bekam, konnte man normalerweise

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davon ausgehen, dass sie leicht bewaffneten und berittenen Bogen­schützen überlegen war. Die Frage war nur, ob die Magyaren die Art von Schlacht zulassen würden, die sich Ottos Männer wünschten. Das taten sie tatsächlich. Nach seiner Ankunft am 10. August gab Otto seinen Männern den Befehl zum Angriff. Die Magyaren waren nicht bereit, die Belagerung aufzugeben, und blieben, um zu kämpfen. Anfangs war das Schlachtenglück gleichmäßig verteilt, vor allem als die Magyaren Ottos Tross angriffen und versuchten, die dadurch entstandenen Kommunikationsschwierigkeiten hinter den deutschen Linien für ihre Zwecke zu nutzen. Doch schließlich zeigte die Organisation von Ottos Truppen Wirkung. Als die Magyaren erkannten, dass sie die Reihen des Gegners nicht durchbrechen konnten, kehrten sie zu ihrer bevorzugten Taktik zurück: dem vorgetäuschten Rückzug. Sie machten kehrt und flohen Richtung Osten über den Fluss Lech in der Hoffnung, dass Ottos Männer ­ihnen nachsetzen würden, wie es die Truppen Ludwigs des Kindes 910 getan hatten. Aber Otto war ein erfahrener Krieger und schlauer als Ludwig. Anstatt seine Männer in vollem Galopp in eine Falle reiten zu lassen, wies er sie an, nur vorsichtig nachzurücken und den Lech zwar zu überqueren, aber die Magyaren nicht weiter zu verfolgen, sondern stattdessen ihr Feldlager am Fluss einzunehmen und die deutschen Krieger zu befreien, die während des Kampfes gefangen genommen worden waren. In der Zwischenzeit sandte er Boten, die die fliehenden Ungarn umgehen und bayerische Christen weiter im Osten bitten sollten, Brücken zu blockieren, um den Feind an der Flucht zu hindern. In den folgenden zwei oder drei Tagen schickte Otto Abordnungen seiner berittenen Soldaten aus, um die versprengten ungarischen Truppen zusammenzutreiben. Der Chronist Widukind hinterließ eine blutige Schilderung der Ereignisse: Von den übrigen [Ungarn] zogen die, deren Pferde erschöpft waren, in die nächsten Dörfer ab, wurden dort von Bewaffneten umringt und samt den Gebäuden verbrannt. Die anderen schwammen durch den nahen Fluß … wurden vom Strom verschlungen und kamen um … Drei Anführer des Ungarnstammes wurden gefangen genommen … und zu einem schändlichen Tod verurteilt, wie sie es verdienten; sie krepierten nämlich durch den Strick.6

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Es war ein Sieg auf der ganzen Linie. Ottos Streitkräfte hatten die ­Magyaren geschlagen, Augsburg gerettet und in den Augen der klöster­ lichen Chronisten den lebenden Beweis dafür erbracht, dass Gott die ­Gerechten mit einem Sieg belohnte. Otto selbst wurde als großer König gerühmt und 962 in Rom offiziell zum Kaiser gekrönt, genau wie Karl der Große im Jahr 800. Seine Dynastie – die Ottonen – regierte in Deutschland weitere sechzig Jahre. Und das Gefecht – das den Namen Schlacht auf dem Lechfeld erhielt – hatte schon bald einen geradezu legendären Ruf. Die Gefallenen – wie Konrad der Rote, der von einem Pfeil in den Hals getroffen wurde, als er seine Rüstung lockerte, um Luft zu schöpfen – wurden als Helden und sogar Märtyrer gefeiert. Im Lauf der Zeit wurde der Ausgang der Schlacht als Wendepunkt in der Geschichte der Deutschen und der Magyaren gedeutet. Nach dem Lechfeld schien die Angriffswelle der gefürchteten, Babys verstümmelnden Magyaren abrupt zum Stillstand zu kommen. Die Zeit der sogenannten «barbarischen» Völkerwanderungen, die fast fünf Jahrhunderte lang fester Bestandteil des westeuropäischen Alltags gewesen waren, war endgültig vorüber. Binnen einer Generation sollte ein magyarischer Anführer namens Vajk zum Christentum übertreten, sich auf den Namen Stephan taufen lassen und (von 1001 bis 1038) mit der Genehmigung Roms als christlicher König von Ungarn herrschen. All das ließ sich – so hieß es zumindest – auf die Schlacht auf dem Lechfeld als Wendepunkt zurückführen. Doch die Schlacht ist noch aus einem anderen, nicht ganz so augenfälligen Grund bemerkenswert. Obwohl sie außerhalb Mitteleuropas heute kaum bekannt ist, gilt sie als symbolischer Moment in der Geschichte des Mittelalters. Denn der Triumph der schweren Panzerreiter über die leichten berittenen Bogenschützen steht für den Beginn eines Zeitalters, in dem die Lanzen schwingenden Reiter in schwerer Rüstung, über die Otto befahl, ins Zentrum der westlichen Kriegsführung rückten. In den beiden folgenden Generationen ­dominierten starke, berittene Krieger das Schlachtfeld und rückten dadurch auch gesellschaftlich in eine bessere Position. Die Schlacht auf dem Lechfeld war nicht die Ursache für diesen Wandel. Doch sie zeigte, aus welcher Richtung der Wind wehte.7 Der europäische Ritter wurde a­ llmählich volljährig.

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Ab dem 10. Jahrhundert erlebten der Status und die Bedeutung der Ritter im mittelalterlichen Westen einen enormen Schub. Innerhalb weniger Generationen entwickelte sich die schwere Reiterei zur dominierenden Kraft auf dem Schlachtfeld, von den Britischen Inseln bis nach Ägypten und in den Nahen Osten. Mit dieser Entwicklung stieg auch das soziale Ansehen der Krieger zu Pferd. Im 12. Jahrhundert war ein Ritter ein Mann, dessen Bedeutung im Krieg mit Grundbesitz und einem hohen Rang in Friedenszeiten belohnt wurde. Und die Ritter herum entstand ein Kult der Ritterlichkeit, der Kunst, Literatur und die Hochkultur noch weit über das Mittelalter hinaus beeinflussen sollte. Tatsächlich existieren die Themen und Rituale des Rittertums und der Ritterlichkeit in vielen westlichen Ländern bis heute weiter. Und was die populäre Wahrnehmung angeht, ist der Ritter wohl das nach­ haltigste Vermächtnis, das das Mittelalter uns hinterlassen hat. Wie das Rittertum entstand und wie es dazu kam, dass es im Hochmittelalter zu einer so mächtigen, dauerhaften und internationalen Institution wurde, sind Fragen, mit denen wir uns in diesem Kapitel beschäftigen werden.

Speere und Steigbügel Mensch und Pferd bilden mindestens seit der Bronzezeit auf dem Schlachtfeld ein Team. Die Standarte von Ur, ein prächtig geschmückter Holzkasten aus der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. (heute ein Schatz im British Museum in London) zeigt sehr detailreich Männer in Kriegs­ ausrüstung, die in die Schlacht ziehen.* Die kunstvollen Einlegearbeiten

* Der Name «Standarte von Ur» ist etwas irreführend: Der Kasten wurde in Stücke zerbrochen bei einer Grabung geborgen, bei der Archäologen in den 1920er Jahren die Königsgräber der Stadt Ur (im Süden des heutigen Irak) untersuchten, und ­anschließend restauriert. Ob es sich dabei um eine «Standarte»  – also eine Art Banner in der Schlacht  – handelte, ist weniger sicher. Der Kasten ist heute im ­British Museum in London ausgestellt (Standort G56/ dc17) oder online unter https://www.britishmuseum.org/collection/object/W_1928-1010-3.

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aus hellem Perlmutt und farbigem Stein zeigen Soldaten, die zu Fuß marschieren oder von Pferden gezogene Streitwagen lenken. Mensch und Tier arbeiten zusammen und erwecken den Eindruck blutiger Synchronizität: Die Reiter schwingen Speere und Streitäxte, die Pferde – mit weit auf­ gerissenen Augen und stolz erhobenen Köpfen  – trampeln in feinem Prunkgeschirr über die gefallenen Gegner hinweg. Die Szene wirkt einschüchternd und ist bei Weitem nicht die einzige Quelle, die hervorhebt, wie wichtig Pferde in den vergangenen viertausendfünfhundert Jahren im Krieg gewesen sind. Die Menschen der Antike wussten alles über den Einsatz von Pferden in der Schlacht. Im Athen des 4. Jahrhunderts v. Chr. schilderte der Geschichtsschreiber Xenophon ausführlich die militärische Reitkunst und gab seinen Lesern Ratschläge, wie man ein Schlachtross am besten auswählt, einreitet und für den Kampf ausbildet, außerdem empfahl er einen Körper­panzer, der den Leib des Reiters auch unter der Achsel schützen sollte, «wenn man den Wurfspieß werfen oder einen Hieb führen will».8 Einige Hundert Jahre später wurde in Rom zur Zeit der Republik das Konzept der militärischen Reitkunst institutionalisiert: Reiter genossen in der römischen Gesellschaft hohes Ansehen und kamen, was ihren Rang betraf, gleich nach den Senatoren. Und obwohl die sogenannten equites in der Kaiserzeit meist keine Kämpfer, sondern verweichlichte ­Finanziers und Beamte waren, gab es in der von der Infanterie dominierten römischen Armee auch immer eine Kavallerie. Im 4. Jahrhundert n. Chr. schrieb Vegetius – im spätrömischen Reich der führende Autor von Militärhandbüchern  – detailliert darüber, welche Pferde sich am besten für die Schlacht eigneten. (Es waren Pferde, die von den Hunnen, Burgundern und Friesen gezüchtet wurden.)9 In Byzanz nutzte Justi­ nians großer Feldherr Belisar für seine Kriegszüge gegen die Perser und Goten sogenannte «Kataphrakten» (kataphraktoi): Panzerreiter, bei ­denen Mann und Pferd am ganzen Körper durch Metallrüstungen geschützt waren. Die römischen Kataphrakten wurden für Schockangriffe eingesetzt und stürmten mit Speeren und Streitkolben gegen den Feind an. Und sie ­waren nicht allein. Ob bei Persern oder Parthern, Arabern oder Bar­baren oder den Kriegern im alten China, Japan und Indien – auf

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die eine oder andere Weise kamen bei allen Pferde in der Schlacht zum Einsatz.* Das mittelalterliche Rittertum war also nicht originär, aber dennoch revolutionär. Nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches waren die einzigen etablierten Mächte in Europa, die Pferde in bedeutendem Ausmaß auf dem Schlachtfeld einsetzten, die Araber und die Westgoten. Die Franken wussten zwar, wie man mit Schlachtrössern handelte, wie man sie züchtete und einsetzte, stützten sich jedoch lange Zeit auf Fußtruppen, wenn es darum ging, bei größeren Konflikten gegen fremde Mächte zu kämpfen. Als Karl Martell die große arabische Armee 732 in der Schlacht von Poitiers besiegte, stand das fränkische Heer wie eine ­unbewegliche Mauer, um die arabische Kavallerie abzuwehren. Doch nur zwei Generationen später hatten sich die fränkischen Methoden auf dem Schlachtfeld weiterentwickelt. Wieder einmal waren es die Karolinger, die die Dinge in Bewegung brachten. Gefechte und Scharmützel waren fester Bestandteil der karolin­ gischen Welt, doch die härtesten Kämpfe fanden in den Grenzregionen zu den Sachsen, Slawen, Dänen und spanischen Muslimen statt. Die karolingische Außenpolitik erforderte daher sehr viele, hochmobile Truppen, die rasch große Entfernungen zurücklegen konnten. Entsprechend verlangte Karl der Große von allen bedeutenden Grundherren, dass sie entweder selbst für seine Armee zur Verfügung standen oder Stellvertreter entsandten. Außerdem entwickelte er ein Reiterkorps, das sowohl zu einer Schlacht ziehen als auch darin kämpfen konnte. 792/93 erließ Karl der Große ein ­Dekret, das alle Mann der Kavallerie anwies, einen langen Spieß mitzuführen, um damit direkt auf den Feind einzustechen, anstatt ihn wie einen Speer zu schleudern. Das erwies sich als so effektiv, dass in den beiden fol-

* Nur in Nord- und Südamerika und Australien waren Pferde nicht allgemein Teil der mittelalterlichen Kriegskultur. In Amerika waren Pferde etwa seit dem 6. Jahrhundert v. Chr. ausgestorben und wurden erst im 15. Jahrhundert wieder eingeführt. Dann waren sie allerdings auf jeden Fall Teil der Kriegerkultur, etwa bei den Aus­ einandersetzungen zwischen den Ureinwohnern und europäischen Siedlern. Nach Australien kamen Pferde erst im 18. Jahrhundert n. Chr.

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genden Jahrhunderten Reiter mit Spießen oder Lanzen zu einem immer wichtigeren Bestandteil der mittelalterlichen Armeen wurden. Der lateinische Begriff für diese Männer lautete miles (Plural: milites), der althochdeutsche kneht. Im 11. Jahrhundert war das Wort bereits als cnihtas ins ­Altenglische eingegangen, aus dem wiederum das heutige Wort knight entstand, während im deutschen Ritter der mittelhochdeutsche rīter weiterlebt. Allerdings glichen die berittenen Krieger im Westen noch bis zur Jahrtausendwende nicht den Rittern, wie wir sie uns heute vorstellen, denn ein wesentlicher Teil der Militärtechnologie – oder vielmehr eine Kombination aus Militärtechnologien – war noch nicht im Einsatz. Der Ritter des Hochmittelalters wurde nicht nur über sein Pferd definiert, sondern auch über seine speziellen Waffen. Dazu gehörten Hieb- und Stichwaffen wie Schwerter und Dolche. Am wichtigsten war jedoch die Lanze: eine lange, kräftige, mit einer Metallspitze versehene Variante des Speers, 3  Meter lang oder noch länger, mit einem Griff am stumpfen Ende, um einen guten Halt zu ermöglichen. Die Lanze war so gestaltet, dass man sie unter den rechten Arm klemmen und direkt gegen den Feind richten konnte, während das Pferd vorwärtsstürmte. Das war nicht ganz einfach, doch wenn man diese Kampftechnik beherrschte, bot sie ganz neue Möglichkeiten. Auf dem Wandteppich von Bayeux, der in Südengland bestickt wurde, um die Eroberung Englands durch die Normannen 1066 festzuhalten und für die Nachwelt zu erhalten, sieht man noch die Reiterei alten Stils: Die meisten Reiter Wilhelms stürmen auf Haralds Angelsachsen mit Speeren in der erhobenen rechten Hand zu, bereit zum Stoßen oder Werfen, aber nicht, um sie mit hoher Geschwindigkeit in den Leib der Gegner zu rammen. Der Unterschied zwischen dem über dem Kopf geschwungenen Speer und der unter den Arm geklemmten Lanze war enorm. Mit einem Speer konnte ein Reiter gefährlich und agil sein und Furcht und Schrecken verbreiten. Doch er tat nicht viel anderes als der Kämpfer zu Fuß, der mit den gleichen Waffen neben ihm herrannte. Mit einer Lanze unter dem Arm war ein Ritter nicht mehr länger ein Infanterist zu Pferd. Er war zur mittelalterlichen Entsprechung einer Cruise Missile geworden.* Im Ver-

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Die Wucht, die von einer Lanze ausgeht, wenn ein Ritter zu Pferd mit vollem Tempo

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bund mit einem halben Dutzend dieser «Lenkgeschosse» war er fast nicht aufzuhalten. Oder wie es die byzantinische Geschichtsschreiberin und Prinzessin Anna Komnene im 12. Jahrhundert formulierte: Ein Franke zu Fuß sei eine kinderleichte Beute, doch ein Franke zu Pferd könne die Mauern Babylons durchbohren.10 Die Lanze entwickelte sich nicht isoliert. Sie erforderte andere technische Fortschritte, um ihre Wirkung zu entfalten: den Steigbügel und den Sattel mit Zwiesel. Beide dienten demselben Zweck. Sie wirkten den Gesetzen der Physik entgegen, schützten den Reiter vor seinem ­eigenen Schwung und ermöglichten es ihm, die gesamte Kraft und Geschwindigkeit seines Angriffs auf den Schaft und die Spitze seiner Lanze zu übertragen. Der Sattel hatte einen hohen Hinterzwiesel, der dem ­Reiter mehr Halt gab. Die Steigbügel ermöglichten es ihm, sein Gleich­ gewicht mithilfe der Beine zu halten, und boten Unterstützung, um ­einen Angriff durchzuführen, aber auch, um sich bei einem Angriff des Gegners im Sattel zu halten. Mit der Lanze wurde der Reiter zur Vernichtungsmaschine. Ohne diese technischen Entwicklungen hätte es keine Ritter gegeben.11 Wann genau die Kombination aus Lanze, Steigbügel und Zwiesel-­ Sattel im Westen Fuß fasste und welche Folgen das hatte, wird von Historikern intensiv untersucht und diskutiert. (Man spricht in diesem Zu­ sammenhang manchmal von der großen Steigbügel-Kontroverse.) Als ­einigermaßen gesichert gilt Folgendes: Eventuell im 4., aber auf jeden Fall im 5. Jahrhundert wurde im Osten der Steigbügel erfunden, von Nomaden in Sibirien und in der heutigen Mongolei.12 Die Neuerung wurde von Chinesen, Japanern, Koreanern und Indern begeistert übernommen, brauchte aber ziemlich lange, bis sie in den Westen kam. Doch über die Reiche der Perser und Araber gelangte dieses Wissen schließlich in die poströmischen christlichen Reiche im Nahen Osten und im Westen, sodass der Steigbügel im 8. Jahrhundert schließlich in Europa angekommen

heranreitet, wird auf etwa 5 Kilojoule geschätzt. Das ist vergleichbar mit der Mündungsenergie eines Geschosses, das mit einem Standard-Militärgewehr des 20. Jahrhunderts abgefeuert wird.

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war. In den 780er Jahren waren Steigbügel so gängig, dass in einem prächtig illustrierten spanischen Bibelkommentar, verfasst von einem gewissen Beatus, die Vier Reiter der Apokalypse mit Steigbügeln an ihren diabolischen Füßen dargestellt sind.13 Es dauerte zwar ein bisschen, bis die Steigbügel überall verbreitet ­waren – erst im 11. Jahrhundert –, doch dann veränderten sie nachhaltig die Art und Weise, wie die Menschen ritten und kämpften.14 Sicher, die wachsende Popularität der Steigbügel im Westen fiel in eine Phase weiterer militärischer Neuerungen: Beispielsweise wurden die Belagerungsmaschinen verbessert, und entsprechend entwickelte sich auch der Festungsbau weiter; ab dem 12. Jahrhundert wurde es in ganz Europa zunehmend üblich, Festungen aus Stein anstatt aus Holz und Erdwällen zu bauen.15 Die Steigbügel waren nicht weniger wichtig, da sie Teil einer allgemeinen Verbesserung der militärischen Ausrüstung waren. Mit ihnen konnte sich ein Reiter bei größerer Geschwindigkeit im Sattel halten und mit mehr Kraft und Wucht kämpfen, was zur Folge hatte, dass die Ritter auf dem Schlachtfeld dominierten und von Kaisern, Königen und anderen Adligen sehr geschätzt wurden. Mit der steigenden Nachfrage nach Rittern wuchs auch ihr soziales Ansehen und ihre gesellschaftliche Position; ihr Rang und ihre Präsenz veränderten sich. Bei den Diskussionen über die Entstehung des Rittertums geht es ­jedoch weniger um die Rolle des Steigbügels und seine Verbreitung, sondern um die Frage, inwieweit die zunehmende Vorliebe für schwer bewaffnete, berittene Krieger eine soziale Revolution in Europa auslöste und das «Zeitalter des Feudalismus» einläutete: ein alles umfassendes, pyramidenförmiges System der sozialen Organisation, bei dem die Herren ihren Vasallen Land im Austausch für die Verpflichtung zum Militärdienst zusprachen und die Vasallen es dann an ärmere Männer im Gegenzug für weitere Dienste weitervergaben, entweder in Form militärischer Unterstützung oder landwirtschaftlicher Arbeit oder beidem.16 Die meisten Historiker würden mittlerweile zögern, eine direkte Verbindung zwischen diesen beiden Phänomenen herzustellen, manche argumentieren sogar, der «Feudalismus» als Konzept vereinfache viel zu stark und könne daher nicht als Modell für die eigentliche Funktionsweise der mittelalterlichen Gesellschaft herhalten. Andererseits ist nicht zu bestreiten, dass sich etwa

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zu der Zeit, in der berittene Krieger fester im Sattel saßen, auch die Struktur des Grundbesitzes und der Landvergabe in ganz Europa veränderte. Aus Sicht der Ritter lag der Hauptgrund für den Wandel in den Kosten. Der Kampf im Sattel war unglaublich teuer. Um die erste Jahrtausendwende benötigte ein einzelner, voll ausgestatteter berittener Krieger mindestens drei Pferde, Rüstung und Kettenhemd, einen Helm, Waffen wie Lanzen, ein Schwert, eine Streitaxt oder einen Streitkolben, einen Dolch, Unterkleidung, mehrere Zelte und Flaggen, dazu einen oder mehrere Helfer, die mit Pflege- und Kochutensilien ausgestattet und mit ­Essen und Trinken versorgt werden mussten. Das waren erhebliche Kosten. Für den jährlichen Unterhalt eines einzigen Ritters musste man etwa so viel aufwenden wie für den Unterhalt von zehn Pächterfamilien im selben Zeitraum.17 Die Laufbahn eines Ritters verschlang astronomische Summen und konnte daher nur von denen verfolgt werden, die bereits reich geboren wurden oder anderweitig zu Reichtum gelangt waren. Eine Möglichkeit für einen Ritter, seinen Unterhalt zu verdienen, bestand darin, sein Glück in der Schlacht zu versuchen: Sie bot die Chance, Beute zu machen, an Ausrüstung zu kommen und Gefangene zu nehmen, die ein hohes Lösegeld einbrachten. Doch diese Form der Finanzierung war natürlich riskant. Sicherer war es, sich einem Schutzherrn zu unterstellen und irgendwann Grundbesitzer zu werden. Etwa ab dem 9. Jahrhundert erhielten Männer, die zu Pferd kämpften, im gesamten Westen Hunderte Hektar fruchtbares Land, über das sie verfügen konnten, wenn sie sich im Gegenzug bereithielten, für die Person – einen höheren Adligen oder König – zu kämpfen, die ihnen das Land gegeben hatte. In den fränkischen Reichen wurde ein Teil dieses Landes schlicht konfisziert; ­unter den Karolingern wurden viele kirchliche Güter beschlagnahmt, aufgeteilt und an militärische Gefolgsleute vergeben. Mit diesen Ländereien, die sie verwalteten und bewirtschafteten, war der Unterhalt der Krieger gewährleistet, gleichzeitig waren sie in ein System eingebunden, das sie gegenüber dem König oder dem Adligen verpflichtete, der ihnen die Nutzung des Landes überhaupt erst ermöglicht hatte. Die Verbindung wurde noch dadurch vertieft, dass angehende Ritter ihr Handwerk erst einmal erlernen mussten: Das geschah im Allgemeinen dadurch, dass Eltern ihren Sohn im Alter von sieben oder acht Jahren in den Haushalt eines reichen

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Herrn gaben, der die Verantwortung für dessen Erziehung und körper­ liche Ausbildung übernahm, in der Erwartung, dass der Junge später Teil seines militärischen Gefolges werden würde. Das sind in groben Zügen die Grundlagen eines komplizierten, aber effektiven Systems zur Organisation der politischen Gesellschaft. Diese Organisation war nicht auf das karolingische Franken beschränkt. Auch außerhalb der fränkischen Reiche entwickelten sich feudale Strukturen (oder wenn wir den Begriff feudal vermeiden wollen: ein Gesellschafts­ vertrag, bei dem Land gegen Waffen getauscht wurde). Angepasst an die lokalen Bräuche und Traditionen, fanden sich diese Strukturen in der Normandie, in England, Schottland, Italien, den christlichen Königreichen im Norden der Iberischen Halbinsel, den Kreuzfahrerstaaten, die im 12. Jahrhundert* in Palästina und Syrien gegründet wurden, und schließlich auch in den neu christianisierten Reichen Ungarns und Skandina­ viens.18 Nach demselben Prinzip blieben diese sozialen Mechanismen der Grundherrschaft und des Militärdienstes auch bestehen, als die westliche Hälfte des karolingischen Reiches nach dem Tod Karls des Großen und seiner unmittelbaren Nachfolger einen Mangel an starken Königen erlebte. Tatsächlich wurden sie umso wichtiger, als das französische Königtum nach einer Blüte unter den Karolingern schwächelte und Herzöge, Grafen und andere Herren  – einschließlich hochrangiger Kirchenmänner – untereinander um die Sicherheit ihrer einzelnen Gebiete rangen. Diese Entwicklung hatte in dreierlei Hinsicht langfristige Auswirkungen. Erstens entstanden immer kompliziertere Gesetze und Verfahren, um das Verhältnis zwischen Landgebern und Landempfängern zu regeln: Semisakrale Rituale verpflichteten die Menschen (zumindest theoretisch) dazu, einander zu dienen und sich gegenseitig zu schützen, und rund um die Landvergabe entwickelte sich eine ganze Reihe von Rechten, Pflichten, Zahlungen und Steuern, die alle vor Gericht einklagbar waren. (Wenn es den «Feudalismus» gab, dann umfasste er Folgendes: ein kompliziertes Geflecht ineinandergreifender persönlicher Beziehungen, das in seiner Gesamtheit ein nicht geplantes, aber ganz eigenes System der Herrschaft

* Siehe Kapitel 8.

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darstellte.) Zweitens trug der Erfolg eines Systems, durch das eine große Zahl von Kriegern unterhalten werden konnte, zu dem teils realen, teils imaginären Gefühl bei, dass die Gesellschaft gewalttätiger und gefährlicher wurde. Und drittens entstand dadurch, dass Krieger mit Gütern ausgestattet wurden, die einen aristokratischen Lebensstil ermöglichten, das Bewusstsein, einer Oberschicht anzugehören, die vermeintlich ritterliche Tugenden pries – oder sogar zum Fetisch erhob. Der Verhaltens- und Ehrenkodex, mit dem man das Rittertum schließlich in Verbindung brachte, sollte gegen Ende des Mittelalters fast zu einer Art säkularen Religion werden. So viel zur Theorie. Doch Theorie kann man sich nur schlecht vor­ stellen. Um besser zu verstehen, was den «neuen» Krieger zu Beginn des zweiten Jahrtausends ausmachte, wie er in der turbulenten mittelalter­ lichen Welt arbeitete, was er mit dem Einsatz seiner Waffen zu erreichen hoffte und wie es dazu kam, dass spätere Generationen so für ihn schwärmen, richten wir den Blick lieber vom Allgemeinen auf das Konkrete und betrachten die Laufbahn eines berühmten Vertreters des Rittertums in dieser frühen Phase. Es geht um den Ritter Rodrigo Díaz de Vivar, der nicht im Frankenreich, sondern auf der Iberischen Halbinsel lebte, wo immer wieder Krieg herrschte und es keine starke zentrale Autorität gab, dafür aber viele Möglichkeiten, dank der eigenen Kampfkraft aufzusteigen. Wer ihn zu seinen Lebzeiten kannte, nannte ihn den Champion (el compador). Besser bekannt ist er heute jedoch unter einem verballhornten, arabisch-spanischen Beinamen, den ihm die Barden, die ihn besangen, nach seinem Tod gaben. Sie nannten ihn al-Sayyid oder El Cid.

«El Cid» Rodrigo Díaz wurde zu Beginn der 1040er Jahre als Sohn einer adligen Kriegerfamilie in Vivar im Königreich Kastilien im heutigen Nordspanien geboren. Sein Vater war ein treuer Gefolgsmann des kastilischen Königs Ferdinand  I . und hatte für seine Verdienste im Krieg gegen das benachbarte christliche Königreich Navarra ausgedehnte Ländereien und eine Burg namens Luna erhalten.19 Außerdem führte er seinen Sohn Rodrigo bei der nächsten kastilischen Königsgeneration ein. Rodrigo wurde schon

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als Junge an den kastilischen Königshof geschickt, um dort erzogen und in der Kriegskunst ausgebildet zu werden. Dort nahm ihn Ferdinands Sohn und Nachfolger, Sancho II . von Kastilien, unter seine Fittiche. Er förderte den heranwachsenden Rodrigo, der sich bei der Kampfausbildung hervortat, und bereitete ihn auf eine führende Rolle in seiner Truppe vor. Als man den jungen Mann für bereit hielt, in den Kriegen der kastilischen Krone die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen, «gürtete ihn Sancho mit dem Schwert des Ritters».20 Mit dieser wichtigen Zeremonie, bei der in einem rituellen Akt einem jungen Krieger ein Schwert mithilfe eines Gürtels an seiner Seite befestigt wurde, erkannte man Mitte des 11. Jahrhunderts öffentlich an, dass ein Krieger über die erforderliche Kompetenz und einen hohen Status verfügte. Die Adligen des 11. Jahrhunderts waren schon von ihrer Definition her fast immer Mitglieder der Militärkaste, die Schwertleite war daher ein wichtiger Moment im Leben der jungen adligen Männer: Sie ließen ihre Kindheit, ihre Unerfahrenheit und ihr ziviles Leben hinter sich, um von nun an Truppen zu befehligen und zu kämpfen.21 Für Rodrigo war die Schwertleite der erste Schritt zu einer glanzvollen Karriere. Schon bald stieg er in die militärische Führung auf. «König Sancho schätzte Rodrigo Díaz so sehr und war so voller Hochachtung und Zuneigung, dass er ihn zum Kommandeur seiner gesamten militärischen Gefolgschaft ernannte», heißt es in einer fast zeitgenössischen Biografie. «Und so stieg Rodrigo auf und wurde ein sehr mächtiger Krieger.»22 ­Rodrigo wurde von seinem Herrn und König finanziell unterstützt und zusätzlich zum königlichen Standartenträger ernannt. Die Berichte über sein militärisches Können vermitteln einen Eindruck davon, wie gefährlich ein einzelner gut ausgebildeter und ausgestatteter Ritter auf dem Schlachtfeld sein konnte. Bei der Belagerung von Zamora (heute eine pittoreske Stadt auf halber Strecke zwischen León und Madrid, mit einer Kathedrale im romanischen Stil) soll Rodrigo, so wurde berichtet, gegen fünfzehn feindliche Soldaten gekämpft haben, von denen sieben durch ein Kettenhemd geschützt waren. «Einen von ihnen tötete er, zwei verwundete er und warf sie vom Pferd, und die übrigen schlug er durch seinen Mut und Kampfgeist in die Flucht», schrieb sein Biograf.23 Das sind beeindruckende Zahlen; auch wenn es ein altes Klischee ist, kann man doch passenderweise sagen, dass der Ritter in vielerlei Hinsicht der Panzer auf

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dem mittelalterlichen Schlachtfeld war. Doch genauso faszinierend ist an diesem Bericht die Wertschätzung seiner persönlichen Tapferkeit, die kaum von seinen militärischen Leistungen zu trennen ist. Mit Mitte dreißig war Rodrigo berühmt. Und er zeigte, dass er sich anpassen konnte. Nach der Ermordung von König Sancho übernahm sein Sohn (und vermutlich auch sein Mörder) Alfons VI . die Macht und wurde König von Kastilien, León und Galizien. Rodrigo schloss sich Anfang der 1070er Jahre dem Gefolge des neuen Königs an. Zum Dank durfte er eine Verwandte von Alfons heiraten, eine junge Frau namens Jimena. Und er wurde an einen neuen Einsatzort voller politischer Intrigen und kriegerischer Auseinandersetzungen geschickt: Alfons ernannte ihn zum Gesandten am islamischen Hof von al-Mu ’ tamid, dem berüchtigten und charismatischen Dichter-Emir von Sevilla und Córdoba. Theoretisch war das ein angenehmer Posten: al-Mu ’ tamid war ein Vasallenkönig, der aufgrund ­früherer militärischer Niederlagen* jährliche Tributzahlungen an die kastilische Krone zahlen musste. Während seiner Stationierung in Sevilla half Rodrigo al-Mu ’ tamid, Angriffe rivalisierender islamischer Herrscher abzuwehren – ein Sieg nach «einem großen Gemetzel mit vielen Gefallenen», der ihm jedoch viel Beute einbrachte, die er an Alfons sandte, um dessen Schatztruhen zu füllen. Leider machte der Erfolg Rodrigo unpopulär, dazu kam seine zunehmende Neigung, Feldzüge auf eigene Faust zu unternehmen. (Bei einem nicht genehmigten Raubzug auf muslimischem Gebiet um Toledo nahmen er und seine Freunde Tausende Gefangene und machten kostbare Beute.) Schon bald hatte er den Neid einer Gruppe Adliger an Alfons ’ Hof auf sich gezogen, und Mitte des Jahres 1080 fiel Rodrigo beim König in Ungnade und wurde ins Exil geschickt. Hier zeigt sich nun einer der größten Fehler im System des Rittertums. Wenn ein fähiger, hervor­ ragend ausgebildeter Killer durch Verpflichtung und Belohnung an einen Herrscher gebunden war, konnte er in Schach gehalten und kontrolliert werden. Wenn man ihm jedoch freie Hand ließ, konnte dieser Krieger ein unberechenbarer und gefährlicher Störenfried sein.

* Wie in Kapitel 6 erwähnt, sandte Alfons VI. einen Großteil dieser Einnahmen nach Cluny, damit man dort unablässig für sein Seelenheil betete.

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Zu Beginn der 1080er Jahre bot Rodrigo Díaz seine militärischen Fähigkeiten dem meistbietenden Interessenten an. Nachdem der Graf von Barcelona dankend abgelehnt hatte, entschied er sich schließlich für die ­islamischen Herrscher des taifa-Königreichs* Saragossa, die der Dynastie der Banu Hud angehörten, als neue Klienten. In ihrem Namen stürzte er sich in einen Plünderungszug gegen das christliche Königreich Aragón, das er «verwüstete» und «seiner Reichtümer beraubte und viele seiner ­Bewohner als Gefangene mitnahm».24 Als sich der König von Aragón mit einem abtrünnigen Mitglied der Banu Hud verbündete, um Rodrigo ­direkt anzugreifen, stellte dieser sie in der Schlacht und besiegte sie, wobei er wieder zahlreiche wertvolle Gefangene und «unermessliche Beute» machte – und anschließend zusammen mit seinen Soldaten in den Straßen von Saragossa ausgiebig feierte.25 Diese Methode setzte Rodrigo über fünf Jahre fort und baute dabei eine erhebliche militärische Gefolgschaft von siebentausend Mann auf, wie es in den Quellen heißt; zudem erwarb er den Ruf, einer der talentiertesten, wenn auch unberechenbaren Krieger der Iberischen Halbinsel zu sein. Vermutlich erhielt er auch zu dieser Zeit den Beinamen El Cid. Doch schon bald kam es auf der Iberischen Halbinsel zu radikalen Veränderungen. Mitte des 11. Jahrhunderts hatte eine muslimische Berberdynastie, die Almoraviden, die für ihre strenge, konservative Haltung bekannt war, Marokko im Nordwesten Afrikas erobert und richtete 1085 ihr Augenmerk auf al-Andalus. Ihre Truppen fielen in Spanien ein und begannen mit der Eroberung der kleinen islamischen taifa-Königreiche, ­deren Herrscher von den Almoraviden als dekadent und willensschwach betrachtet wurden. Von den christlichen Königen hatten die Almoraviden auch keine bessere Meinung. 1086 nahmen sie König Alfons ins Visier: Im Oktober brachte eine Armee der Almoraviden den kastilischen Truppen in der Schlacht von Sagrajas eine vernichtende Niederlage bei. Geschockt erkannte Alfons, dass er seinen Stolz hinunterschlucken musste. Er rief

* Die taifa-Königreiche waren unabhängige muslimische Kleinkönigreiche und Fürstentümer, die nach dem Zusammenbruch des Umayyaden-Kalifats 1031 im islamischen Teil der Iberischen Halbinsel – al-Andalus – entstanden waren.

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Rodrigo in seine Dienste zurück. Da er nicht in der Position war, Forderungen zu stellen, flehte er Rodrigo regelrecht an, wieder zu ihm zurückzukommen, und versprach, «dass alle Ländereien oder Burgen, die er von den Sarazenen [d. h. den Almoraviden] erwerben wird, in vollem Umfang ihm gehören sollen, nicht nur ihm, sondern auch seinen Söhnen und Töchtern und all seinen Nachkommen».26 So viel Macht konnte ein geschickter und findiger Ritter haben. Er konnte praktisch seine eigenen Bedingungen diktieren. Wie Alfons schon bald feststellen musste, gab sich Rodrigo nicht mit dem zufrieden, was er verlangt hatte. Er half zwar, die Almoraviden aus Alfons ’ kastilischen Gebieten zu vertreiben, doch Alfons hegte (zu Recht) den Verdacht, dass Rodrigo vorhatte, sich selbst als Grundherr zu etablieren. Es dauerte daher nicht lange, bis die alten Klagen wieder laut wurden. 1090 hatte sich Rodrigo schon wieder mit dem König überworfen und wurde als «böser Mann und Verräter» vor das königliche Gericht gestellt. Ihm wurde vorgeworfen, er habe vorgehabt, Alfons zu hintergehen und ihn von den Almoraviden ermorden zu lassen. Zornig beteuerte Rodrigo seine Unschuld und wandte sich mit ausdrücklichem Verweis auf den ­ritterlichen Ehrenkodex an den König: Er sei ein «überaus treuer Vasall», erklärte er, und bot an, im Einzelkampf gegen einen vom König ausgewählten Gegner anzutreten, um seine Unschuld zu beweisen.27 Aber der König wollte nichts davon hören. Und so landete Rodrigo erneut im Exil. Er zog wieder hinaus in die Welt – doch diesmal nicht als bezahlter Söldner, sondern als Eroberer auf eigene Faust. Er hatte es auf Valencia abgesehen, eine unter muslimischer Herrschaft stehende Stadt an der Ostküste, auf halber Strecke zwischen Barcelona und Dénia. Hier sollte sich der letzte Akt seiner Laufbahn abspielen. Für die vollständige Eroberung Valencias und des Umlands brauchte Rodrigo fast vier Jahre. Dabei geriet er mit muslimischen und christ­ lichen Herrschern gleichermaßen in Konflikt. Im Verlauf seiner Feldzüge kämpfte er in einer denkwürdigen Schlacht gegen Raimund Berengar, den Grafen von Barcelona, der gefangen genommen und gegen ein hohes Löse­ geld wieder freigelassen wurde, während sein Lager geplündert wurde. Rodrigo fiel auch in Alfons ’ Territorium ein und brannte mit «gnaden­ losem, zerstörerischem, gottlosem Feuer» Dörfer nieder.28 Als der Anfüh-

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rer der Almoraviden, Yusuf ibn Taschfin, Rodrigo «Briefe sandte, in denen er ihm streng verbot, seinen Fuß auf das Land bei Valencia zu setzen», sprach Rodrigo «über Yusuf mit tiefster Verachtung» und schickte überall in der Region seine eigenen Briefe herum, in denen er seine Bereitschaft kundtat, sich jeder Streitmacht der Almoraviden unabhängig von deren Größe in der Schlacht zu stellen und die Dinge so zu regeln.29 Hartnäckig und unnachgiebig hielt er an seinen Grundsätzen fest: brutale Aggression auf dem Schlachtfeld und die peinlich genaue Einhaltung eines Ehren­ kodex außerhalb des Schlachtfeldes. Und schließlich wurden seine Anstrengungen belohnt. Am 15. Juni 1094 fiel Valencia. Rodrigos Männer stürmten begeistert die Stadt und raubten nach Herzenslust das Gold und Silber der Einwohner, sodass «er und seine Anhänger danach reicher waren, als man es zu sagen vermag».30 Endlich war Rodrigo der unumstrittene Herrscher über sein eigenes Territorium. Es war zwar kein Königreich, doch eine reiche und strategisch bedeutende Herrschaft, die Rodrigo mit Zähnen und Klauen verteidigte. 1094 sandte Yusuf ibn Taschfin eine große Armee, um ihn zu vertreiben. Chronisten nennen eine Truppenstärke von hundertfünfzigtausend Mann. Das war mindestens um 600 Prozent übertrieben.31 Dennoch wird das Ausmaß der Bedrohung deutlich. Was sich dann ereignete, ist eine der bemerkenswertesten Schlachten der Reconquista, die in späteren Jahren verständlicherweise stark romantisiert wurde. Anstatt darauf zu warten, dass Yusuf Valencia belagerte, versetzte Rodrigo seine Stadt in Alarm­ bereitschaft und ließ jedes Stück Eisen beschlagnahmen, um daraus Waffen zu schmieden. Dann trommelte er eine möglichst große Truppe ­zusammen und ritt mit ihr aus der Stadt, um den Feind von der Seite anzugreifen und zu verjagen. In einer der eher zurückhaltenden Chroniken der damaligen Zeit wird die folgende Schlacht, die in der Ebene von Cuarte stattfand, kurz und bündig beschrieben: Rodrigo und seine Männer näherten sich Yusufs ­Armee, «brüllten die Gegner an und versetzten sie mit Drohungen in Angst und Schrecken. Sie fielen über sie her und es kam zu einem heftigen Gefecht. Dank Gottes Gnade konnte Rodrigo alle Mauren [d. h. die Almoraviden] schlagen. So gewährte ihm Gott den Sieg und Triumph über sie.»32 Ein etwas später entstandenes altspanisches Heldenepos, das als Cantar

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del mio Cid («Lied von meinem Cid») bekannt ist und ursprünglich von Barden gesungen wurde, die Rodrigos heroische Taten heraufbeschworen, verpasst der Schlacht eine blutrünstige Dramatik: Kämpfte erst mit seiner Lanze Unser Cid, dann greift zum Schwert er, Und so viele Mauren schlug er Sie zu zählen ist unmöglich. Dieser Mauren Blut, es tropfte Ihm hinab am Ellenbogen. Drei gewaltge Streiche gab er Jucef, doch der Maurenkönig Konnte seinem Schwert entfliehen, denn er gab dem Pferd die Sporen.33

Vermutlich griff Rodrigo auf einen uralten militärischen Trick zurück: Er schickte eine kleine Abordnung in Richtung des Gegners, um das feind­ liche Heer abzulenken, und führte dann seine Haupttruppe direkt zum unbewachten Heereslager, fiel darüber her, machte viele Gefangene und versetzte die Mannschaften in Panik. Ob der Sieg nun auf persönlichen Heldenmut zurückzuführen ist oder auf arglistige Täuschung, das Ergebnis blieb dasselbe. Rodrigo hatte den Almoraviden einen schweren Schlag versetzt und gezeigt, dass die islamischen Invasoren alles andere als un­ besiegbar waren. Seine Leistung erinnerte an Karl Martells Sieg über die Umayyaden 732 bei Poitiers. Es sollte noch zahlreiche Schlachten geben, doch im Rückblick kann man die Schlacht bei Cuarte als Wendepunkt der Reconquista betrachten: Von da an lag das Kriegsglück bei den christlichen Reichen im spanischen Norden.34 Rodrigo Díaz, der Ritter, der zum Herrn geworden war, lebte und herrschte nach der Einnahme Valencias fünf Jahre lang in der Stadt und starb dort auch 1099. In seinem Nachruf mussten selbst seine Kritiker einräumen, dass er zwar die «Geißel seiner Zeit» war, aber «durch seine Gier nach Ruhm, die kluge Standhaftigkeit seines Charakters und seine heroische Tapferkeit» eben auch «eins der Wunder Gottes».35 Der Autor dieser überraschend großmütigen Zeilen war Ibn Bassam, ein arabischer Dichter

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aus Santarém (im heutigen Portugal). Als Muslim und Bewunderer der Almoraviden war Ibn Bassam kulturell weit entfernt von den fränkischen Reichen, in denen die Kultur des Rittertums entstanden war, der sich ­Rodrigo aus ganzem Herzen verschrieben hatte. Dennoch erkannte der Dichter in El Cid all die typischen Eigenschaften eines Ritters im 11. Jahrhundert: stolz, standhaft, tapfer und gefährlich. Und damit war Ibn Bassam nicht allein. Auch andere Autoren schrieben über das Leben und die Laufbahn von El Cid, romantisierten sie und schmückten sie aus. Die Schilderungen und Lieder, in denen er besungen und mythologisiert wurde, dienten nicht nur als Vehikel, um tollkühne Heldentaten und spannende Geschichten zu erzählen, sondern auch, um das ritterliche Ethos darzustellen. Gegenstände, die mit ihm assoziiert waren, wurden mit Ehrfurcht behandelt und wie Schätze gehütet: Ein Schwert namens Tizón (oder Tizona), das El Cid angeblich bei seinem Sieg über den ­Almoraviden-Herrscher Yusuf in Valencia erbeutete, wird heute im Stadtmuseum von Burgos in Nordspanien ausgestellt. Seit dem 14. Jahrhundert gilt es als kostbarer Schatz, der seine verschiedenen Besitzer mit einem Mann in Verbindung bringt, der zum spanischen Nationalhelden aufstieg, von der Kirche als christlicher Soldat vereinnahmt (obwohl diese Motivation eher fraglich ist) und sogar von Hollywood in Beschlag genommen wurde. El Cid war also schon bald nach seinem Tod auf dem besten Weg, in ein neues Pantheon der unsterblichen Helden aufgenommen zu werden. Genau wie die Kirche ihre Heiligen hatte, um den geringeren Sterblichen moralisches Verhalten vor Augen zu führen, entwickelte die säkulare Welt ihre eigenen Halbgötter, die sowohl real als auch fiktional waren. Neben El Cid könnte man Roland, König Artus, Perceval und Lanzelot nennen. Alle diese Helden verkörperten eine Lebensweise und einen kriegerischen Kodex, die sich zum Bild des Ritters verbanden. Im späteren Mittelalter wurde die ritterliche Gesinnung ebenso wie die von den Heiligen verkörperten christlichen Werte zu einem mächtigen Archetypus, die über die Literatur verbreitet wurde und das reale Verhalten von Männern und Frauen im gesamten Abendland beeinflusste.

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Roland und Artus Der Wunsch und vielleicht sogar das Bedürfnis, Gewalt zu glorifizieren und Krieger zu romantisieren, ist seit Beginn der Menschheitsgeschichte Teil unserer Psychologie. Eines der ältesten Höhlengemälde der Welt wurde 2017 auf der indonesischen Insel Sulawesi entdeckt. Mit dunkel­ rotem Pigment wurden auf die Kalksteinwände comicartige Szenen gemalt, in denen menschenähnliche Figuren einen wilden Eber und Büffel mit Speeren attackieren. Die Zeichnung ist mindestens vierundvierzigtausend Jahre alt: Als sie entstand, teilte sich der homo sapiens die Erde noch mit dem Neandertaler und das Ende der letzten Eiszeit war noch ­einige Jahrtausende entfernt. Doch ein Blick auf das Bild genügt, um festzustellen, dass es eine direkte thematische Verbindung von den prähistorischen Menschen, die die Höhlenwände auf Sulawesi bemalten, zu den Kriegsgeschichten in der Illias oder im Film Der Soldat James Ryan gibt. Der Drang, Gewalt zu verarbeiten, ist das älteste Thema in der Kunst. Daher ist es kaum überraschend, dass die Menschen im Mittelalter, als eine neue Form des Kämpfens entstand, auch ein passendes neues Genre in der Kunst erfanden. Objektiv betrachtet, war die Realität, im Mittelalter auf dem Pferderücken in den Krieg zu ziehen, furchtbar. Der Kampf zu Pferd war nicht nur teuer, anstrengend und beängstigend, sondern konnte auch sehr schmerzhaft sein. Ein Skelett, das in den 1990er Jahren in Südengland gefunden und vor Kurzem mit der Radiokarbonmethode auf die Zeit der Schlacht von Hastings datiert wurde, kündet von den körper­ lichen Entbehrungen, die das Leben eines Ritters mit sich brachte. Die Knochen der Handgelenke, Schultern und Wirbelsäule zeigen eine schmerzhafte lebenslange Beanspruchung: Gelenke und Wirbel sind vom anstrengenden tage- und monatelangen Trainieren, Reiten und Kämpfen im Sattel abgenutzt. An den Seiten des Schädels und am Hinterkopf sind sechs verschiedene gravierende Verletzungen zu erkennen, die dem Mann im Alter von etwa fünfundvierzig Jahren zugefügt wurden. Die tödlichen Hiebe setzten einem Leben voller Mühen und körperlicher Anstrengung ein Ende.36 Und das war völlig normal. In Wirklichkeit führten mittel­ alterliche Krieger ein hartes Leben, das in einen hässlichen Tod mündete, gefolgt von der Möglichkeit, aufgrund ihrer Missetaten in der Hölle zu

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landen. Doch die Krieger im Mittelalter und die Dichter, die über sie schrieben, hatten nicht das Bedürfnis, diese gottverlassene Realität in nüchterner Prosa zu schildern. Stattdessen sollte ihr mit einer heroischen neuen Literatur Glanz verliehen werden, in der Ritter als Kavaliere und Suchende dargestellt wurden, deren ethischer Kodex ihre zweifelhaften Taten rechtfertigte. Denn wie T. S.  Eliot im 20. Jahrhundert feststellte, kann der Mensch nicht allzu viel Realität ertragen. Das erste große überlieferte Werk, das die Taten der Ritter überhöhte und beschönigte, ist uns bereits in Kapitel  5 begegnet. Das Rolandslied, dessen erstes bekanntes Manuskript auf etwa 1098 datiert wird, erzählt von einem Krieger, der für Karl den Großen in den spanischen Marken kämpfte und auf einem Gebirgspass bei Roncesvalles in den Pyrenäen 778 umringt von «Sarazenen» starb und dabei sein Horn blies, bis ihm die Schläfenadern platzten. Das Rolandslied ist im weitesten Sinne historisch, doch dem Verfasser ging es nicht um eine nüchterne Beschreibung längst vergangener Taten oder eine genaue Überprüfung der Fakten. Vielmehr nutzt das Lied die Kriege Karls des Großen gegen die Umayyaden, um Mut, Liebe, Freundschaft, Weisheit, Glaube und Gerechtigkeit zu besingen. Es ist Teil eines breiten Genres historischer Versepen, die chansons de geste («Lieder über Kriegstaten») genannt werden. Das Rolandslied gilt heute als frühes und damit grundlegendes Werk der französischen Literatur, ähnlich wie Beowulf für die englische und der Cantar de mio Cid für die spanische Literatur. Und das ist kein Wunder. Es ist unterhaltsam, melodramatisch und mitunter ultrabrutal. Die Prota­ gonisten  – Roland selbst, sein besonnener Freund Olivier, sein willensschwacher und doppelzüngiger Stiefvater Ganelon und der muslimische König Marsilie – wirken lebendig und bleiben in Erinnerung. Natürlich fehlt es nicht an blutrünstigen Schlachtszenen. Der große dramatische Showdown in Roncesvalles bietet außergewöhnliche Spannung, als Roland abwartet, anstatt sein Horn zu blasen, um Hilfe zu rufen, und argumentiert, er würde sonst die höchsten Ideale ritterlichen Heldenmuts verraten. Entsprechend sind Rolands letzte Augenblicke von Pathos durchdrungen, als er dann doch das Horn an die Lippen setzt und damit seinen König, aber auch seinen eigenen Tod herbeiruft. Und zu guter Letzt gibt es noch grausame Gerechtigkeit. Vermutlich konnten nur wenige Zuhörer nach

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einem Vortrag des Rolandslieds im 11. Jahrhundert, vielleicht spätabends am Kamin eines Herrenhauses, die grausige Szene gegen Ende des Gedichts vergessen, wenn es nach Rolands Tod zum Zweikampf zwischen den Rittern Thierry und Pinabel kommt, um die Schuld oder Unschuld Ganelons zu klären. Als Pinabel Thierrys Helm trifft, schlägt sein Schwert Funken, die das Gras um die beiden kämpfenden Männer in Brand setzen: Thierry reagiert auf diesen beinahe tödlichen Hieb, indem er mit solcher Wucht auf Pinabel eindrischt, dass sein Schwert Pinabels Schädel bis zur Nase spaltet und das Gehirn ausläuft. «Mit diesem Streiche kam der Kampf zum Sieg», erklärt der Dichter. «Die Franken aber schrien: ‹Gott that ein Wunder!›»37 Doch damit ist die Geschichte noch nicht zu Ende, denn Pinabel wollte mit dem Kampf die Unschuld des Verräters Ganelon beweisen. Da er fällt, ist auch das Schicksal der dreißig Geiseln besiegelt, die für Ganelons Charakter bürgten; sie werden abgeführt und gehängt. Ganelon selbst wird an Armen und Beinen an vier Hengste gebunden, die dann auseinandergetrieben werden und ihn vierteilen. «Ein schlimmes Ende für Ganelon, der als erwiesner Schurke starb», resümiert der Dichter in einem seltenen Moment der ­Untertreibung.38 Und was sagt uns diese Geschichte heute? Im Kern ist das Rolandslied ein zeitloses Kriegsepos, in dem Helden und Schurken miteinander ringen, kämpfen, leben und sterben. Das Besondere daran ist jedoch sein ­engagiertes Eintreten für die Werte des Rittertums. Die Geschichte ist so angelegt, dass sie den Zuhörern ein möglichst schmeichelhaftes Bild ihrer eigenen kriegerischen Welt vermittelt: einer Welt, in der das Leben durch die Treue und den Eid zwischen Vasallen und Lehnsherren und durch die fast schon pathologische Hingabe des Ritters definiert wird, sein Wort zu halten und zu kämpfen, egal wie widrig die Bedingungen auch sein mögen. Und natürlich besteht am Ende die ultimative Belohnung für den Krieger – wie für den Heiligen – in einem guten Tod. Das Rolandslied ist grossartig. Aber es ist nicht einzigartig. Ab dem 12. Jahrhundert wurden Hunderte, wenn nicht sogar Tausende weitere chansons de geste verfasst. Die wenigen Dutzend, die als Manuskripte bis heute erhalten blieben, repräsentieren nur einen kleinen Teil der ande-

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ren, verlorenen Lieder und einen noch viel kleineren Bruchteil der Lieder, die vorgetragen, aber nie auf Pergament festgehalten wurden. Ein weiteres berühmtes Beispiel ist das Wilhelmslied (Chanson de Guillaume), das von den Taten des südfranzösischen Grafen Guillaume d ’ Orange bei seinen Kämpfen gegen die Muslime im späten 8. Jahrhundert erzählt. Ein drittes ist Gormond und Isembart, eine interessante Variante der Rolands­ geschichte, in der der Held, ein französischer Ritter namens Isembart, von seinem König so schlecht behandelt wird, dass er sich von ihm und seinem christlichen Glauben lossagt und zu den Ungläubigen unter Führung des Königs Gormond überläuft. Anders als das Rolandslied und das Wilhelmslied befasst sich Gormond und Isembart mit dem Dilemma eines Ritters, der gegen seinen ungerechten Herrn aufbegehrt. Das Lied, das deutliche Verbindungen zur Geschichte von El Cid aufweist, zeichnet in leuchtenden Farben ein verständnisvolles Bild des Rittertums, dessen Werte Ehre und persönlicher Mut schon per definitionem tugendhaft sind. Wieder einmal erweist sich der Ritter, auch wenn er sich von seinem eidbrüchigen Herrn lossagt, als zu gut für diese Welt. Ritterlichkeit ist wie Reinheit ganz nah an der Heiligkeit. Die Geschichten von Roland, Wilhelm und Isembart sind nicht nur Beleg für ein literarisches Genre, das im 12. Jahrhundert boomte, sondern zeugen von einem komplexen Selbstbildnis der Ritter und Adligen im mittelalterlichen Westen – vor allem in den Ländern, in denen Dialekte des Französischen und Italienischen gesprochen wurden. Wie bei den heutigen Superheldenfilmen gab es von den chansons de geste zahlreiche Fortsetzungen, Vorgeschichten, «Remakes» und Spin-offs zu den einzelnen Figuren, da nachfolgende Dichter und Autoren die Geschichten der jeweiligen Zeit anpassten. Und wie bei den Superhelden entstanden eigene «Welten» mit ihren eigenen Figuren. Werke wie das ­Rolandslied oder das Wilhelmslied, die zur Zeit Karls des Großen spielten, wurden ab dem 14. Jahrhundert als Matière de France bezeichnet, als Erzählstoff oder Sagenwelt, die sich um das Frankenreich dreht. Andere, die sich mit längst vergangenen Ereignissen wie dem Trojanischen Krieg, der Gründung Roms und weiteren klassischen Themen befassten, wurden der Sagenwelt Roms (Matière de Rome) zugeschrieben: Sie handelten von Helden wie Theseus, Achilles oder Alexander dem Großen als aus der

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Zeit gefallenen, in ihren Eigenschaften jedoch typischen mittelalterlichen Rittern.* Die dritte große «Welt», die heute wohl die berühmteste ist und die größte dauerhafte Wirkung entfaltet hat, ist die Welt des Artusromans, die am Hof des legendären König Artus spielt und als Matière de Bretagne bezeichnet wird. Die Geschichten um König Artus liefern auch im Zeitalter von Netflix bestes Material für Geschichtenerzähler. Und das aus gutem Grund.39 Selbst in ihren frühesten bekannten Formen, die zwischen Geoffrey von Monmouths pseudohistorischer Historia regum Britanniae («Geschichte der Könige Britanniens») und den durch und durch fantastischen Romanen des französischen Autors Chrétien de Troyes angesiedelt sind, bieten sie wunderbar unterhaltsame Geschichten mit einprägsamen Figuren wie König Artus, dem Zauberer Merlin, der undurchsichtigen Königin Guinevere und den Rittern Perceval, Gawain und Lancelot in einem weitläufigen Universum voller Abenteuer und Überraschungen. Unter der Oberfläche der Geschichten über mystische Könige und schöne Jungfrauen, heilige Grale und Riesen warten Themen wie Liebe, Lust, Loyalität, Untreue, Verrat, Suche, Glaube und Brüderlichkeit. Die Artussage, die im Laufe des Mittelalters und darüber hinaus immer wieder erweitert, neu erdacht und umgeschrieben wurde, dient seit Langem als Grundlage für die Auseinandersetzung mit aristokratischen und höfischen Werten, die sich im Laufe der Zeit weiterentwickelten und veränderten. Allen Ge-

* Das Interesse an der klassischen Antike und ihren Helden zieht sich durch viele ­Literaturgattungen jener Epoche, unter anderem auch durch die sachlicheren Klosterannalen. Oft gab es den bewussten Versuch, die Institutionen und Werte des Rittertums in eine halb imaginäre, antike Vergangenheit zurückzudatieren. Die Sächsische Weltchronik aus dem 13. Jahrhundert  – das älteste erhaltene Prosawerk in mittelhochdeutscher Sprache – berichtet, Romulus habe bei der Gründung Roms hundert Berater ausgewählt, die Senatoren genannt wurden, und tausend Krieger, die als Ritter bezeichnet wurden. Geoffrey Chaucer wählte in seinen berühmten Canterbury Tales aus dem 14. Jahrhundert Athen zur Zeit des Theseus als Schauplatz für «The Knight ’s Tale» («Die Erzählung des Ritters»), die erste Geschichte in seiner Sammlung.

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schichten gemeinsam ist das Menschliche, das in den Rittern und ihren Taten zum Ausdruck kommt. Einige Ritter sind Musterbeispiele für ihren Kodex. Viele andere zeigen jedoch, wie schwierig es ist, wahre Ritterlichkeit zu erreichen. Das Dasein als Ritter wird stets als die höchste Berufung eines Mannes dargestellt. Zu Beginn von Chrétien de Troyes ’ Perceval wird der namengebende Protagonist als Junge beschrieben, der Speer­ werfen im Wald übt, sich selbst das Kämpfen beibringt und die einfachen Freuden der Natur genießt. Dann hört und sieht er «durch den Wald fünf bewaffnete Ritter in voller Rüstung nahen … die blinkenden Halsbergen und die glänzenden, funkelnden Helme … die Lanzen und Schilde und … das Weiß und Rot der Rüstungen, das in der Sonne aufblitzte …». Überzeugt, dass es sich um Engel handeln muss, fragt er ihren Anführer: «Seid Ihr denn nicht Gott?» «Nein, wirklich nicht», antwortet der Mann. «Ich bin ein Ritter.»40

Spannender als ein Roman Die chansons de geste, die Artussage und ähnliche Geschichten vermitteln uns einen Eindruck vom großartigen Selbstbild des mittelalter­ lichen Ritters. Doch sie waren nur ein Teil einer viel umfangreicheren ­Literatur zur ritterlichen Kultur, die wir unter dem etwas schwammigen Begriff «Ritterlichkeit» zusammenfassen. Im 13. Jahrhundert entstanden Texte, die praktisch Handbücher für ritterliches Benehmen waren. Das früheste ist ein altfranzösisches allegorisches Gedicht, das um das Jahr 1220 entstand, bekannt als Ordene de chevalerie; das berühmteste ist das Libre del Ordre de Cavalleria des mallorquinischen Philosophen Ramon Llull. Später, im 14. Jahrhundert, verfasste der französische Adlige Geoffroy de Charny ein weiteres Livre de chevalerie. Mit allegorischen Geschichten und direkten Ratschlägen im Kummerkasten-Onkel-Stil legten diese Bücher (und viele andere) ihre Vorstellung vom ritterlichen Leben dar, bei dem es im Lauf der Zeit um viel mehr ging als um das Kämpfen im Sattel. Je mehr Ritter eine Position bei Hof erhielten und als Grundherren und Mitglieder der adligen Elite hohes Ansehen in der Gesellschaft genossen, desto mehr richteten die Schriften über das Rittertum ihren Fokus auf

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dessen spirituelle und emotionale Aspekte. Die Ritter wurden zu Mut, Ehrlichkeit, Nächstenliebe, Frömmigkeit, zur Fürsorge für die Armen und Unterdrückten angehalten und zu einem eleganten Auftreten in den Sälen der großen Herren. Sie sollten ein reines Herz haben und zur uneingeschränkten Hingabe an ihre Dame bereit sein – die meist gar nicht die ­eigene Dame war, sondern die unerreichbare Ehefrau eines sozial Bessergestellten. Mehrere Handbücher beschrieben die Zeremonie, mit der man zum Ritter wurde. Während zur Zeit von El Cid ein angehender Ritter mit Schwert und Gürtel ausgestattet und dann in den Kampf geschickt wurde, hatte sich ab dem 13. oder 14. Jahrhundert ein aufwendiges Ritual entwickelt, das im Idealfall mehrere Schritte umfasste, darunter die innere und äußere Reinigung, das Schwören eines Eides und schließlich der Ritterschlag: ein Vorgang, der an die Priesterweihe oder die Salbung eines ­Königs erinnerte. War ein Ritter erst einmal in dieses Leben eingeführt, gab es für ihn im 13. und 14. Jahrhundert weitaus mehr zu bedenken als die schlichte Frage, wo seine nächste Mahlzeit und sein nächster Gegner auf ihn warteten. Wie viele Ritter sich an die strengen Standards der Traktate hielten – oder es auch nur versuchten –, ist schwer zu sagen. Vermutlich lautet die Antwort: nicht sehr viele. Doch es gab einige, die sich bemühten, und einer davon, der ein besonders außergewöhnliches Leben führte, war William Marshal, ein Ritter, dessen langes Leben das 12. und das 13. Jahrhundert miteinander verband, und der versuchte, die ritterlichen Ideale wirklich umzusetzen. Er wird oft als «der größte aller Ritter» beschrieben – ein Beiname, der ihm sicher sehr zugesagt hätte.41 Es lohnt sich, sich etwas ausführlicher mit seiner Karriere zu beschäftigen, denn sie zeigt beispielhaft, was passieren konnte, wenn die literarischen Ideale der Ritterlichkeit mit der Realität des mittelalterlichen Lebens, des Krieges und der Politik kollidierten. Es gibt eine ausführliche, in Altfranzösisch verfasste Biografie über William Marshal in Versform, die seine Familie bald nach seinem Tod in Auftrag gab. Darin heißt es, seine erste Begegnung mit dem Kriegshandwerk habe bereits im Alter von fünf Jahren stattgefunden, als König Stephan von England ihn in die Schlinge eines Belagerungskatapults setzte.

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Der König wollte den Jungen gegen den Befestigungswall einer Burg schleudern lassen, die von dessen Vater John Marshal gehalten wurde.42 Doch William legte eine kindliche Naivität an den Tag, die seine instinktive Tapferkeit als Erwachsener erahnen ließ, er entkam dem sicheren Tod, indem er freudig auf das Katapult sprang und darauf hin und her schaukelte, als ob es eine Wippe auf dem Spielplatz wäre.* Der Anblick des kleinen William, der so fröhlich und selbstvergessen spielte, ging dem König ans Herz. Obwohl der Junge eine Geisel war und sein Vater sich Stephan widersetzte, indem er sich weigerte, seine Burg aufzugeben  – und der ­König somit das Recht hatte, den Jungen in den Tod zu katapultieren –, gab Stephan nach und verschonte ihn. In den folgenden Monaten behielt er William bei sich und erlaubte ihm alle möglichen Streiche und Unfug, mit dem er den königlichen Haushalt durcheinanderbrachte. Damit war der weitere Verlauf von William Marshals Leben vorge­ geben. Der Bürgerkrieg, bei dem er als Kind zwischen die Fronten geriet, wird in der englischen Geschichtsschreibung auch «die Anarchie» genannt – ein Kampf um die englische Krone zwischen König Stephan und seiner Cousine Matilda, der Witwe des deutschen Kaisers. Der Krieg tobte bereits seit einem Jahrzehnt, als William 1146 oder 1147 zur Welt kam, und fand erst 1154 ein Ende, als Stephan starb und Matildas Sohn Heinrich  II . als erster Sprössling aus dem Haus Plantagenet englischer König wurde. Die neue Dynastie der Plantagenets brachte Williams beste Seiten zum Vorschein. Neben England herrschte der neue König Heinrich auch über die Normandie und die im Herzen von Frankreich gelegenen Gebiete Anjou, Maine und Touraine. Er beanspruchte die Kontrolle über Irland und hegte große militärische Ambitionen in Wales. Seine Frau

* Bei dem hier beschriebenen Katapult handelt es sich um einen Tribok mit einem Gegengewicht am Ende des Wurfarms und einer Schlinge für die Wurfgeschosse am Ende des langen Armes. Beim «Abfeuern» macht der Arm eine kreisförmige Be­ wegung von etwa 70 Grad und reißt die Schlinge hinter sich nach oben. Durch die Rotation der Schlinge um das Ende des Wurfarmes erhält das Geschoss (normalerweise ein schwerer Stein, manchmal aber auch etwas anderes, etwa ein Bienenstock, ein unglückseliger Bote oder wie in diesem Fall ein Kind) eine zusätzliche Beschleunigung.

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Eleonore war Herzogin von Aquitanien, das zu der Zeit das südwestliche Viertel des heutigen Frankreichs umfasste. Die beiden hatten zahlreiche Kinder, von denen vier Söhne und drei Töchter bis ins Erwachsenenalter überlebten. Doch vor allem waren sie in viele Kämpfe verwickelt – gegen rebellische Vasallen, benachbarte Herrscher und untereinander. Für einen ehrgeizigen jungen Ritter gab es also viele Schutzherren unter den Plan­ tagenets, an die er sich binden konnte, und nur wenige Jahre, in denen es keine Kriege gab, um sich zu beweisen. Ab dem Zeitpunkt, zu dem William an seine Familie zurückgegeben wurde, etwa im Alter von acht Jahren, begann er sich auf eine Laufbahn als Ritter vorzubereiten. Sein Vater schickte ihn in die Normandie, wo er acht Jahre lang im Hause eines Cousins erzogen wurde, der aufgrund seines ritterlichen Rufs ausgewählt worden war: ein Mann, der «niemals Schande über seine Familie gebracht hatte».43 Obwohl William die anderen im Haushalt nicht sofort beeindruckte, glaubte sein Cousin an ihn. Laut seiner Biografie reagierte er auf Beschwerden über den Jungen stets mit der ruhigen Ermahnung: «Ihr werdet sehen, er wird eines Tages noch die Welt in Brand setzen.»44 Das war leichter gesagt als getan. William war der vierte Sohn seiner Eltern. Er wurde mit zwanzig Ritter, doch beim Tod seines Vaters 1166 erbte er nichts. Er musste also allein mit der Kraft seiner Waffen seinen Weg machen. Dabei erwarteten ihn einige harte Lektionen. In seiner ersten Schlacht Ende der 1160er Jahre in der Normandie kämpfte William tapfer (und erschlug seine Feinde «wie ein Schmied, der Eisen hämmert»), aber zu tollkühn und verlor seine Pferde; das beste wurde sogar unter ihm getötet.45 Für einen Ritter war das eine Katastrophe, denn er war darauf angewiesen, möglichst viele Gefangene, Pferde, Sättel und Waffen im Kampf zu erbeuten, um sie später zu Geld zu machen. Beim Siegesbankett wurde William von den anderen aufgezogen, weil er gekämpft hatte, ohne an seinen eigenen Gewinn zu denken. Da er es versäumt hatte, sich die Taschen zu füllen, musste er seine Kleider verkaufen, um sich ein neues Reitpferd leisten zu können, und seinen Cousin um ein Schlachtross bitten. Er hatte noch viel zu lernen.46 Zum Glück war William ein heller Kopf und konnte sich auf dem Turnierplatz einige Lektionen über das Kriegshandwerk aneignen. Die

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Turniere im 12. Jahrhundert hatten keine Ähnlichkeit mit den choreografierten Wettkämpfen vor Zuschauertribünen, die vom 14. bis 16. Jahrhundert populär waren und heute unverzichtbar sind, wenn sich Hollywood eines Mittelalterstoffes annimmt.* Ein Turnier zu Williams Zeiten war eine nachgespielte Schlacht, bei der Dutzende oder sogar Hunderte Reiter in Teams oder allein kilometerweit über offenes Gelände jagten, um gegeneinander zu kämpfen und Gefangene zu nehmen, ohne den Gegner dabei zu verstümmeln oder zu töten (auch wenn das nicht immer gelang). Die Turniere fanden etwa seit den 1090er Jahren statt und wurden lange im Voraus angekündigt, damit die Teilnehmer – die manchmal eine Anreise von mehreren Hundert Kilometern in Kauf nahmen – rechtzeitig eintrafen. Mit ihnen kamen auch viele Zuschauer, Schausteller, Hausierer, Händler, Schmiede, Pferdetrainer, Wahrsager, Musiker, Gauner, Diebe und Taugenichtse. Die Kerngebiete für Turniere waren Flandern und die Niederlande sowie die Region zwischen dem Königreich Frankreich und seinem karolingischen Cousin, dem deutschen Reich.47 Mit zunehmender Popularität wurden sie jedoch auch in anderen Gebieten veranstaltet; Grenzregionen zwischen Herrschaften waren dabei immer beliebte Austragungsorte, da sie Rittern die Möglichkeit boten, lokale Rivalitäten in einem halbwegs sicheren Umfeld auszufechten. Zu Williams Lebzeiten wurden Turniere ungemein beliebt. Was nicht weiter erstaunlich war. Die Teilnahme an Turnieren war glamourös, ein riskanter Sport für reiche Leute, betrieben von Königen, hohen Adligen und ihren Anhängern, bei dem man einander nicht schonte und hohe Risiken einging.** Im Turnier konnte ein Ritter seine Kampftechniken für den Krieg stählen und potenzielle Schutzherren (oder Damen) mit seinen Fähigkeiten im Sattel be­ eindrucken. Wenn er sich ins Getümmel stürzte, setzte er sein Vermögen, seinen Ruf und sein Leben aufs Spiel. Die Kirche versuchte mehrfach,

* Wie zum Beispiel Brian Helgelands ausgezeichneter, wenn auch nicht immer historisch akkurater Film Ritter aus Leidenschaft (A Knight ’s Tale) von 2001. ** Man stelle sich für einen Vergleich mit der heutigen Zeit einen Sport vor, der das High-Society-Image von Polo hat, den Nervenkitzel beim Glücksspiel, die Härte beim Profi-Rugby und die technischen Anforderungen bei Mixed Martial Arts.

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Turniere zu verbieten, und auch einzelne Herrscher untersagten von Zeit zu Zeit die Wettkämpfe, weil sie die öffentliche Ordnung gefährdeten. Doch ihre Bemühungen blieben meist erfolglos. Ähnlich wie Rave-Partys im 21. Jahrhundert hatten Turniere als Teil einer Kultur, die die unbezähmbare Energie der Jugend feierte und ihr frönte, einen unwidersteh­ lichen Reiz. Wie der Autor des im 12. Jahrhundert entstandenen mittelhochdeutschen Romans Lanzelet schrieb, bot das Turnier die Chance, Ruhm und Ehre zu erringen: «Sowohl Stechen wie Schlagen, das wird euch wohl zuteil, entsprechend der ritterlichen Glücklichkeit; und es ist eine lobenswerte Sache, wenn sowohl Ritter wie Damen genau zuschauen können, wenn man etwas Gutes vollbringt … Wer jemals Turniere geritten ist oder nun mit der Bezeichnung Ritter lebt, der soll sich gütigst schämen, wenn er diesen Hoftag versäumt.»48 In William Marshals frühen Jahren als Ritter war einer der wohl­ habendsten Männer in der Turnierszene, der noch dazu das größte Starpotenzial hatte, Heinrich der Jüngere, der älteste Sohn und offensichtliche Erbe Heinrichs  II . und Eleonores von Aquitanien.* Der junge Heinrich war reich, gut aussehend und freigiebig. Er war sieben oder acht Jahre jünger als William; die beiden lernten sich kennen, weil Heinrichs Mutter Marshal 1170 als eine Art persönlichen Tutor für ihren fünfzehnjährigen Sohn engagierte, der seine Fertigkeiten beim Reiten und Kämpfen ver­ feinern sollte. William wurde für Heinrich schon bald unverzichtbar. Er führte ihn in die Turnierszene ein, ritt mit ihm aus und kümmerte sich um ihn. Und 1173/74, als der junge Heinrich gegen seinen Vater in einem Konflikt rebellierte, der von einem zeitgenössischen Dichter auch «der Krieg

* Heinrich der Jüngere wurde 1170 zum König von England gekrönt und damit als «Junior-König» an der Seite seines Vaters, des «alten Königs», etabliert. Das Arrangement erwies sich für alle Seiten als unbefriedigend; die Bemühungen des frustrierten jungen Königs, zu Lebzeiten seines Vaters die Herrschaft zu übernehmen, waren einer der Gründe für den Bürgerkrieg der Plantagenets 1173 bis 1174. Da Heinrich der junge König vor seinem Vater starb, wird er im Nummerierungssystem der englischen Könige ignoriert – obwohl er gesalbt und gekrönt wurde und daher eigentlich als Heinrich III. bezeichnet werden müsste. (Womit der berühmte Tudorkönig mit den sechs Frauen Heinrich IX. und nicht der VIII. wäre.)

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ohne Liebe» genannt wurde, hielt William gegen die alte Ordnung zu seinem Herrn und machte den achtzehnjährigen jüngeren König laut seiner Biografie zu Beginn der Rebellion zum Ritter, damit er auch offiziell als Anführer eines Krieges fungieren konnte. Wenn man dem Biografen glaubt, verband die beiden eine intensive und echte Männerfreundschaft: der junge Heinrich, «so edel und höfisch, großzügiger als jeder andere Christ … der all die Prinzen der Erde aufgrund seiner bloßen Schönheit, seines ehrhaften Gebarens und seiner ­Loyalität übertraf», und William, «der beste Waffenlehrer, den es zu seiner Zeit oder jemals gab … der sich völlig dem König widmete und ihn niemals im Stich ließ».49 Die Beschreibung von König und Ritter als unzertrennlichen Kameraden hätte direkt aus einem chansons de geste oder der Artussage stammen können. Tatsächlich waren es genau solche Geschichten, die das kulturelle Milieu widerspiegelten und verstärkten, in dem sich Marshal und der junge König bewegten. Heinrich und William ritten zusammen, reisten gemeinsam durch Europa und kämpften Seite an Seite – sie waren Herr und Meister, Schüler und Lehrer und dazu Waffenbrüder. Doch das Leben folgte der Kunst gleich in mehrerlei Hinsicht. In Chrétien de Troyes ’ Artusroman Le Chevalier de la charrette («Lancelot, der Karrenritter») verrät der Ritter Lanzelot als tragischer Held seinen König Artus, weil er zulässt, dass sich seine romantische Verehrung der Königin Guinevere* zu einer Liebesaffäre entwickelt.50 Ein immer wiederkehrendes Thema der Romane war ebendiese Schwierigkeit, den schmalen Grat zwischen der keuschen höfischen Liebe und dem tatsächlichen Ehebruch zu wahren. Um das Jahr 1182 geriet William Marshal genau in

* Das alles ereignet sich in einer herrlich verwickelten Geschichte, in der Lanzelot die Aufgabe übernimmt, Guinevere aus der Gefangenschaft des schurkischen Meleagent zu befreien. Nachdem er dabei zwei Pferde zu Tode geritten hat, akzeptiert er eine Fahrt in einem Karren, gelenkt von einem wortkargen Zwerg, eine für einen Ritter höchst unwürdige Form der Fortbewegung. Die sich nun entfaltende Geschichte hat zwei Erzählstränge: Zum einen kämpft Lancelot darum, die Schmach des Karrentransports wieder loszuwerden, zum anderen versucht er, seine Liebe für Guinevere, gegen die er sich nicht wehren kann, zu verwirklichen, was beide gelegentlich an den Rand des Selbstmords treibt.

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eine solche Situation. Aufgrund seiner engen Verbindung zu Heinrich dem Jüngeren kam er auch in Kontakt mit dessen junger Frau Margarete von Frankreich.* Die Bekanntschaft der beiden sorgte im Umfeld des jungen Königs für infame Gerüchte, die wohl in erster Linie mit den Ressentiments aufgrund seiner Erfolge auf dem Turnierplatz zu tun hatten, wo er den Löwenanteil an Beute und Lösegeld für sich selbst einstrich. Der Klatsch über die «wilde Affäre» wurde dem jungen König zugetragen, der außer sich war und «so erzürnt über Marshal, dass er nicht mehr mit ihm sprach».51 Der Groll, den die angebliche Treulosigkeit auslöste, hatte sehr reale Folgen. William wurde vom Hof vertrieben und musste eine mehrmonatige Auszeit vom Ritterdasein nehmen: Er besuchte Pilgerstätten in Deutschland und verbrachte einige Zeit am Hof des Grafen von Flandern. Schließlich versöhnten sich die beiden wieder – gerade noch rechtzeitig. Im Mai 1183 erkrankte Heinrich der Jüngere und starb. William besuchte ihn noch am Krankenbett und versprach ihm, nachdem die beiden Frieden miteinander geschlossen hatten, an dessen Stelle einen Eid zu erfüllen, den der junge König geleistet hatte, nämlich das Grab Christi in Jerusalem zu besuchen. Das war kein einfaches Unternehmen. Doch für einen Ritter wie Marshal, der sich zum Ziel gesetzt hatte, in seinem Leben das ritterliche Ideal zu verkörpern, war ein Versprechen bindend. Er verbrachte zwei Jahre im Kreuzfahrerstaat Jerusalem und kehrte dann im ­Alter von vierzig Jahren nach England zurück, um die zweite Hälfte seiner Karriere im Dienst der Plantagenets zu beginnen. Und sie sollte genauso aufregend werden wie die erste. Nachdem Marshal Heinrich dem Jüngeren gedient hatte, trat er nun in die Dienste des Älteren. Heinrich  II . näherte sich dem Ende seines

* Die 1158 geborene Margarete war die älteste Tochter des französischen Königs Ludwig  VII. (mit dem die Mutter des jungen Heinrich, Eleonore von Aquitanien, in erster Ehe verheiratet gewesen war). Nach dem Tod des jungen Königs wurde ­Margarete mit Béla III., dem König von Ungarn, verheiratet. Sie starb 1197 auf einer Pilgerreise ins Heilige Land.

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­ ebens und seiner Herrschaft und wurde von allen Seiten von Feinden L ­bedrängt, unter denen der bedeutendste der neue französische König war, Philipp II . Augustus aus der Dynastie der Kapetinger. 1189 gelang es Philipp, die beiden noch lebenden Söhne Heinrichs, Richard und Johann, auf seine Seite zu ziehen und Krieg gegen ihren alten und schwachen Vater zu führen. Es wäre nachvollziehbar gewesen, wenn sich William entschieden hätte, seine Loyalität auf die kommende Generation der Plantagenets zu übertragen, denn es war klar, dass Richard über kurz oder lang König von England und Johann sein mächtigster Baron werden würde. Doch William legte großen Wert auf seinen Ruf, Loyalität über alle anderen ­Tugenden zu stellen. Er hielt bis zum bitteren Ende zu Heinrich und war daher wieder am Totenbett eines Königs, als Heinrich  II . am 6. Juli in Chinon starb. Bei den vorangegangenen Kämpfen gegen Heinrichs Söhne hatte William Richard von Angesicht zu Angesicht in der Schlacht gegenübergestanden – einem Soldatenprinzen, der bereits in ganz Europa für seine Fähigkeiten auf dem Schlachtfeld bekannt war und als «Löwenherz» (cœur de lion) berühmt werden sollte. Löwenherz hin oder her, Marshal besiegte Richard und tötete dessen Pferd, verschonte aber das Leben des jungen Mannes. «Der Teufel soll euch töten», lauteten seine berühmten Worte, «ich werde nicht derjenige sein, der es tut.»52 Diese Kombination aus ritterlichem Anstand und tödlicher Kampfkunst brachte William die Wertschätzung Richards ein, und als dieser zum König gekrönt wurde, wechselte Marshal vom Dienst für den einen Plantagenet zum nächsten. Doch nun war er mehr als nur ein Ritter. ­Richard förderte William und überließ ihm ausgedehnte aristokratische Güter in England, Wales und in der Normandie, zudem gestattete er ihm die Ehe mit der reichen Erbin Isabel de Clare, die damals noch im Teenageralter war. Die Ehe hielt bis zu Williams Tod, und Isabel schenkte ihm nicht nur zahlreiche Kinder, sondern brachte auch Großgrundbesitz in ­Irland mit in die Ehe. Für seine Großzügigkeit verlangte Richard aber auch so einiges. Zwischen 1190 und 1194 kämpfte Richard Löwenherz beim Dritten Kreuzzug im Heiligen Land. Seine lange Abwesenheit wurde noch dadurch verschärft, dass er auf dem Heimweg entführt und vom deutschen Kaiser Heinrich  VI . gefangen gehalten wurde. In dieser Zeit hatte William als einer von mehreren Lords die Aufgabe, den englischen

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Beamten auf die Finger zu schauen, die die alltäglichen Regierungsgeschäfte führten. Außerdem musste er Richards Bruder Johann im Zaum halten, der (alles andere als ritterlich) gegen Richard intrigierte, um selbst die Kontrolle über das Reich zu übernehmen. Wie El Cid war William aus der Welt der ritterlichen Abenteuer in die regionale und internationale Politik geraten und mischte nun an vorderster Front mit. Doch wenn nötig, warf er sich immer noch beherzt in die Schlacht. Bei einem Zusammenstoß englischer und französischer Truppen vor der Festung Milly-sur-Thérain in Nordfrankreich kletterte Mar­ shal in voller Rüstung und mit seinem Schwert vom Grund des leeren Burggrabens über eine Leiter den Festungswall hinauf. Oben auf der Mauer angelangt, machte er den Befehlshaber ausfindig und «verabreichte ihm so einen Schlag, dass er seinen Helm durchschlug [und der Befehlshaber] bewusstlos zu Boden sank, übel zugerichtet und fassungslos». Marshal, «nun etwas außer Atem», setzte sich auf den Bewusstlosen, um ihn, wenn er wieder zu sich käme, an der Flucht zu hindern.53 Dieses Mal war William Marshal nicht am Totenbett des Königs, als Richard 1199 bei der Belagerung einer Burg bei Châlus-Chabrol vom Bolzen einer Armbrust getroffen wurde und wenig später an Wundbrand starb. Marshal war jedoch an den politischen Beratungen beteiligt, bei ­denen man sich für Richards Bruder Johann als Nachfolger auf dem Plantagenet-Thron anstelle seines Neffen Arthur von der Bretagne entschied – ein Beschluss, der sich für Arthur als fatal erweisen sollte, denn Johann nahm ihn gefangen, sperrte ihn ein und tötete ihn. Für seine Unterstützung stattete Johann William mit weiteren einträglichen Gütern aus, ­unter anderem erhielt dieser die Grafschaft Pembroke in West-Wales, die seine ausgedehnten Ländereien in England und Wales mit seinem Besitz in Irland verband. Wieder einmal schienen ihm seine ritterlichen Tugenden – allen voran die Loyalität – gute Dienste zu leisten. Doch William kam mit Johann nicht gut aus. Der Charakter des neuen Königs wird treffend von einem Chronisten zusammengefasst, der Anonyme de Béthune genannt wird. Obwohl Johann zu verschwenderischer Gastfreundschaft und Großzügigkeit fähig war und den Rittern seines Haushalts schöne Umhänge schenkte, war er ansonsten «ein sehr schlechter Mensch», wie der Autor schrieb, «grausamer als alle anderen, er

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begehrte schöne Frauen und brachte damit Schande über die hochgestellten Männer seines Landes, weshalb er sehr gehasst wurde. Wann immer er konnte, log er, anstatt die Wahrheit zu sagen … Er hasste alle ehrbaren Männer und war eifersüchtig auf sie; es missfiel ihm sehr, wenn er sah, wie sich jemand gut benahm. Er war voller schlechter Eigenschaften.»54 Das war bei Weitem nicht das einzige vernichtende Urteil über Johann, der von 1199 bis 1216 als einer der erfolglosesten Könige der englischen Geschichte regierte. Selbst eine stichwortartige Liste seiner gröbsten Fehlschläge und schlimmsten Untaten wird ziemlich lang: Johann verlor einen Großteil des Plantagenet-Besitzes in Frankreich (einschließlich des Herzogtums Normandie); er ermordete Arthur von der Bretagne; er verärgerte Papst Innozenz  III . so sehr, dass er exkommuniziert wurde; er verlangte von seinen Baronen so hohe Steuern und halb legale Gebühren, dass er viele von ihnen an den Rand des Bankrotts oder gleich in die Rebellion trieb; er verschwendete das ganze Geld, das er seinen Untertanen abgepresst hatte, für einen hoffnungslosen Krieg gegen Frankreich, um seine verlorenen Besitzungen zurückzuerobern; er steuerte sein Reich in einen Bürgerkrieg, in dessen Verlauf er gezwungen wurde, einen Friedensvertrag zu akzeptieren, der seine königlichen Rechte beschnitt (und später als Magna Carta berühmt wurde); er ließ den Bürgerkrieg erneut aufflammen, weil er die Magna Carta widerrief, was zur Folge hatte, dass der Erbe der französischen Krone, Prinz Ludwig, in England einfallen und den ­Osten des Landes unter seine Kontrolle bringen konnte – und am Ende starb Johann verlassen von fast all seinen Verbündeten und hatte seinen Gepäcktross mit einem Großteil des Kronschatzes im Marschland Ostenglands verloren, im Mündungsgebiet dreier Flüsse, das The Wash genannt wird. Ob und inwieweit das alles auf Johanns persönliches Versagen zurückzuführen ist, soll uns hier nicht weiter beschäftigen.* Bemerkenswert ist jedoch, dass Anonyme de Béthune, der vermutlich im Dienst eines flämi-

* Wer sich für dieses Thema interessiert, möchte vielleicht einen Blick in meine Bücher Kampf der ­Könige (München 2023), Magna Carta (London 2015) und In the Reign of King John (London 2020) werfen.

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schen Adligen aus Béthune in der Nähe von Calais stand, Johann eindeutig am ritterlichen Ideal maß. Johann war nicht einfach nur inkompetent und ein Mann ohne Führungsqualitäten, glücklos und undiplomatisch, sondern auch verlogen, unehrenhaft, lüstern, unzuverlässig und boshaft. So, wie William Marshals Biograf dessen Aufstieg als Lohn für seine Hingabe an ritterliche Werte darstellte, so beschrieben Chronisten wie Anonyme de Béthune Johanns Absturz als gerechte Strafe für seine un­ ritterliche Haltung im Leben. Ritterlichkeit – oder ein ritterliches Image – konnte im 12. und 13. Jahrhundert über das Schicksal eines Mannes entscheiden. Sie brachte William Marshal nach oben. Und König Johann zu Fall. William zerstritt sich schon früh mit Johann, kaum dass dieser König geworden war, und verbrachte die mittleren sieben Jahre von Johanns Herrschaft im selbst auferlegten Exil in Irland. Johann rief ihn 1213 zurück nach England, als seine Herrschaft immer mehr bröckelte  – Marshal nutzte die Gelegenheit und demonstrierte wieder einmal seine unverbrüchliche Treue, indem er für einen Herrn in den Kampf zog, der diese Loyalität kaum verdiente. Aber William fühlte sich verpflichtet, weil er ­Johann Gefolgschaft geschworen hatte, als er zum Earl of Pembroke er­ hoben worden war. Er hielt auch bei dem Aufstand, der zur Magna Carta führte, demonstrativ zu Johann – genau, wie er es im letzten Lebensjahr Heinrichs  II . getan hatte, als sich alle (auch Johann) vom alten König ­abgewandt und auf das neue Regime gesetzt hatten. Selbst als in England ein Bürgerkrieg ausbrach, ließ er seinen König nicht im Stich – allerdings erlaubte er seinem Sohn, für die Aufständischen zu kämpfen, um das Vermögen der Familie auf jeden Fall abzusichern und dafür zu sorgen, dass am Ende einer aus der Familie auf der Seite der Sieger stand. Als Johann schließlich im Oktober 1216 starb, war Marshal wie immer nicht weit entfernt. Er nahm Johanns neunjährigen Sohn Heinrich in seine persönliche Obhut; machte ihn zum Ritter, begleitete ihn bei seiner Krönung in der Kathedrale von Gloucester und befehligte die Truppen im Krieg gegen die letzten Rebellen und die Franzosen, um sie vom eng­ lischen Boden zu vertreiben und das Reich unter dem minderjährigen K ­ önig Heinrich III . zu einen. Für die Schlacht von Lincoln 1216 zog er mit siebzig Jahren ein letztes Mal persönlich in den Kampf, allerdings musste

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er daran erinnert werden, seinen Helm aufzusetzen, bevor er seinem Pferd die Sporen gab und gegen den Feind stürmte. Die Schlacht von Lincoln brachte einen dramatischen Sieg und einen Wendepunkt im Krieg. Und natürlich festigte William Marshals Einsatz seinen Ruf als größter Ritter aller Zeiten. Als er 1219 im Sterben lag, rief er den jungen Heinrich III . an sein Bett und redete ihm ernst ins Gewissen. «Ich bitte Gott unseren Herrn … dass er Euch gewähren möge, zu einem ehrenvollen Mann heranzuwachsen», sagte William mit heiserer Stimme. «Und falls Ihr in die Fußstapfen eines gottlosen Vorfahren treten und den Wunsch hegen solltet, ihm nachzueifern, dann bete ich zu Gott, dem Sohn der Jungfrau Maria, dass er Euch kein langes Leben schenkt.» «Amen», antwortete der König und ließ Marshal in Frieden sterben.55 William Marshal erfüllt als Vorbild eine wichtige Funktion und ist auch heute noch von Bedeutung. Er lebte zur Hochzeit des mittelalterlichen Rittertums, als die Wucht der schweren «fränkischen» Panzerreiter ihren Höhepunkt erreichte und die ritterlichen Werte sowohl in der Literatur wie in der politischen Welt stark ausgeprägt waren. Die Biografie, die sein Sohn William und sein Freund John of Early in Auftrag gaben, um an sein außergewöhnliches Leben zu erinnern, ist eins der wichtigsten Dokumente der mittelalterlichen Geschichte des Abendlands, weil es eine perfekte Mischung aus ritterlicher Literatur und politischer Reportage bietet. Selbstverständlich ist die Biografie auch eigennützige Propaganda, die sich als poetische Geschichte ausgibt: Wir erfahren selten, dass sich William schlecht benimmt, sein Schicksal beklagt oder sich im Turnierzirkus einen Tag frei nimmt. Doch diese hagiografischen Tendenzen mindern die Qualität der Quelle nicht, denn sie zeigen uns besser als jedes ­andere Werk, wie das Leben eines idealisierten Ritters in der Praxis aussehen konnte. Wir können die Angaben und die Darstellung der Ereignisse zwar nicht immer für bare Münze nehmen, dennoch ist Marshals Biografie unschlagbar, wenn es darum geht, zu zeigen, wie stark die ritterliche Kultur die politischen Ereignisse beeinflusste und ihnen zugrunde lag. Sie macht deutlich, was es hieß, ein Ritter zu sein, und zeigt, wie ein Mann, dessen Schultern breit genug waren, um die Last eines anspruchsvollen Moralkodex zu tragen, seine Zeit entscheidend prägen konnte.

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J­ eder, der sich für die Ereignisse und den Geist der Jahre 1939 bis 1945 interessiert, sollte irgendwann Winston Churchills imposantes Werk The Second World War lesen (das ebenfalls eigennützigen Zwecken dient), und genauso müssen sich alle, die auch nur ein flüchtiges Interesse haben an der Geschichte der frühen Plantagenets, den Kriegen Heinrichs  II ., ­Richards  I . und Johanns mit den französischen Königen und an der Geisteswelt des europäischen Hochmittelalters, irgendwann mit der ­Geschichte von William Marshal befassen.

Das Vermächtnis des Rittertums 1184, etwa um die Zeit, als sich William Marshal von einer Pilgerreise nach Jerusalem wieder auf dem Rückweg nach England befand, brach in der Benediktinerabtei von Glastonbury ein Feuer aus, bei dem die Gebäude bis auf die Grundmauern niederbrannten. Das war eine Katastrophe – aber auch eine einmalige Gelegenheit, die der damalige Abt Henry de Sully erkannte und ergriff. In den 1180er Jahren erlebten der Artuskult und die damit verbundene romantische, fantastische Idee vom Rittertum eine enorme Blüte. Die begüterten Adligen in England und Westeuropa gierten nach immer neuen Geschichten und Andenken von Artus. Und so ­beauftragte Henry seine Mönche, unter den verkohlten Überresten der Abtei zu graben. Und tatsächlich «fanden» sie genau das, was sie gesucht hatten: ein Doppelgrab mit den Skeletten eines Königspaars. Sie wurden (aufgrund eines Bleikreuzes, auf dem angeblich ihre Namen standen) als die Überreste von König Artus und seiner Frau Guinevere identifiziert. Der scharfzüngige Autor Gerald von Wales und einige andere Gelehrte, die bei den Reichen und Mächtigen ein gewisses Ansehen genossen  – heute würden wir sie als «Influencer» bezeichnen –, wurden eingeladen, die Skelette in Augenschein zu nehmen. Prompt waren sie sich mit Abt Henry einig, dass der Fund echt sei. Das Grab von Artus und Guinevere war gefunden. Und Glastonbury war mit einem Schlag berühmt. Die ­Artusgeschichten und -andenken, die dort von den zu Grabhütern gewordenen Mönchen angeboten wurden, sollten weitereichende Auswirkungen auf künftige Generationen haben.

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Die Artusromane beschäftigten die Fantasie der mittelalterlichen Oberschicht auch weiterhin. Als Richard Löwenherz in den 1190er Jahren zum Kreuzzug ins Heilige Land aufbrach, trug er ein Schwert bei sich, das er als Artus ’ Schwert Excalibur bezeichnete. In den 1230er Jahren übernahm der jüngste Bruder Heinrichs  III ., Richard von Cornwall, die Halbinsel Tintagel an der Nordküste Cornwalls und ließ dort eine Burg errichten, die er aktiv als die Stelle bewarb, an der König Artus empfangen worden sei.56 Noch bedeutender ist vielleicht die Tatsache, dass Eduard I ., auch Edward Longshanks («Eduard Langbein») genannt, an Ostern des Jahres 1278 mit seinem Hof nach Glastonbury reiste, um das angebliche Artusgrab persönlich zu besuchen. In Begleitung seiner zwölfjährigen Frau Eleonore von Kastilien gab er Anweisung, das Grab zu öffnen, damit er die Gebeine betrachten konnte: Das eine Skelett sei groß und kräftig, das andere von zierlicher Schönheit gewesen, wurde berichtet. Eduard und Eleonore wickelten persönlich die Gebeine in feinen Stoff, bevor sie in ihre neue prächtige Grabstätte gelegt wurden: aus schwarzem Marmor, mit einem Löwen an jedem Ende. (Das Grabmal ist nicht mehr erhalten, es wurde bei der Auflösung des Klosters während der Reformation zerstört.)57 Einerseits war die Zeremonie einfach nur höfischer Kitsch: eine säkulare Pilgerreise, belebt durch theatralische Rituale. Doch im Zusammenhang mit Eduards Herrschaft kann man noch mehr dahinter vermuten. Die ritterlichen Artusromane hatten einen politischen Kontext: das Thema Britannien. Artus ’ Leistung bestand darin, dass er durch seinen Kampf die zersplitterten Fraktionen der Britischen Inseln unter seiner Herrschaft geeint hatte. Ende des 13. Jahrhunderts war das keine längst überholte Angelegenheit, die sich im Dunkel einer halb vergessenen Vergangenheit verlor. Es war lebendige Politik. Ein zentrales Anliegen von Eduard  I . bestand darin, Schottland und Wales unter seine königliche Herrschaft zu bringen, um für sich in Anspruch nehmen zu können, der alleinige Herrscher über die Briten zu sein – der Vorrang vor den schot­ tischen Königen und den walisischen Fürsten hatte. Theoretisch waren es die Waliser, die, historisch betrachtet, den größten Anspruch auf eine Verwandtschaft mit Artus gehabt hätten, als Nachkommen der Romano-­ Briten, die während der Invasionen der Sachsen im 5. und 6. Jahrhundert

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nach Westen getrieben und jenseits des Severn Zuflucht gesucht hatten. Doch durch die Vereinnahmung von Artus nahm Eduard den Walisern diesen Anspruch und damit auch die Legitimation für ihre Unabhängigkeit. Er, Eduard, ein bekannter Krieger und pflichtbewusster ritterlicher König, beanspruchte Artus ’ Titel, Herr über alle Briten zu sein. Wieder einmal verbanden sich ritterliche Literatur und Politik, was in diesem Fall sehr reale, lang anhaltende Auswirkungen hatte. 1277, ein Jahr vor seinem Besuch in Glastonbury, hatte Eduard mit ­einer umfangreichen Invasion in Gwynedd begonnen, dem Fürstentum des mächtigsten walisischen Herrschers im Norden des Landes. Seine riesige Armee umfasste Hunderte schwer gepanzerte Ritter, die weit besser bewaffnet und ausgerüstet waren als die Waliser. Das schiere Ausmaß des Angriffs war erschreckend. Von 1282 bis 1284 ließ der König einen weiteren gewaltigen Feldzug folgen. Der letzte unabhängige Fürst von Wales, Llywelyn ap Gruffudd (auch unter dem passenden Namen Llywelyn the Last bekannt), sollte diesen Krieg nicht überleben. Eduard und seine Nachfolger herrschten nun über England und über Wales. Damit dieser Zustand auch so blieb, ließ der englische König eine Reihe gewaltiger Burgen in Nord-Wales bauen, die Ritter, neu angesiedelte Grundherren und Kolonisten beherbergen sollten. Die imposantesten Burgen  – bei Caernarfon, Beaumaris, Flint, Rhuddlan und Conwy  – thronen auch heute noch über der bergigen Landschaft von Nord-Wales.* Auf der Küstenstraße zwischen Chester und Bangor kann man das Ausmaß von Eduards Angriff auf die freien Waliser ermessen (oder verwünschen): eines erbarmungslosen Eroberungskriegs, der sich die Umsetzung der Artussage im wirklichen Leben zum Ziel gesetzt hatte. In der Zeit, in der Eduard I . seine persönlichen romantischen Fantasien auslebte, begann sich die Rolle des Ritters bereits zu verändern. Zum ­einen mussten sie ihren Einsatz auf dem Schlachtfeld an neuartige Taktiken und innovative Rüstungen anpassen. Der 24. Juni 1314, der zweite Tag der Schlacht von Bannockburn, bedeutete eine Katastrophe in der Ge-

* Siehe Kapitel 12.

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schichte des Rittertums, da Hunderte englische Ritter unter dem Kommando von Eduards glücklosem Sohn Eduard II . (reg. 1307–1327) von der Piken schwingenden schottischen Infanterie unter Führung ihres heroischen Königs Robert Bruce regelrecht aufgespießt wurden. Im Verlauf des Jahrhunderts änderten die englischen Ritter ihre Kampftechnik radikal und vertrauten nicht mehr auf ihre traditionelle Angriffs­methode, bei der sie mit der Lanze unter dem Arm zu Pferd auf den Gegner los­gestürmt waren. Stattdessen stiegen sie ab und kämpften zu Fuß als, wie Militärhistoriker sagen, «abgesessene Kämpfer». Die Rüstungen wurden dabei ­immer schwerer, aus dem Kettenhemd entwickelte sich der Platten­ harnisch, dessen flexibel miteinander verbundene Metallplatten e­ inen besseren Schutz gegen Schwertstreiche, Lanzenstiche und Axthiebe boten. Die gewaltige Wucht der alten «fränkischen» Panzerreiter war nicht mehr die wichtigste Waffe im Arsenal des mittelalterlichen Feldherrn. Die englischen Könige setzten neben den zu Fuß kämpfenden Rittern auch Langbogenschützen ein (die oft in Wales rekrutiert wurden), während ihre Kollegen auf dem Kontinent Armbrustschützen bevorzugten – vor allem die genuesischen Armbrustschützen waren für ihr Können berühmt. Zum anderen veränderte sich im 13. und 14. Jahrhundert auch die Art und Weise, wie Truppen ausgehoben wurden. Könige waren im Kriegsfall nicht mehr so stark auf das «feudale» System der Landvergabe im Austausch für Militärdienste angewiesen. Stattdessen nutzten sie die Steuern, die von allen Gruppen der mittelalterlichen Gesellschaft erhoben wurden, um Soldaten und Söldner anzuheuern, die sich bereit erklärten, zu bestimmten Bedingungen und über einen befristeten Zeitraum zu kämpfen, in der Regel für vierzig Tage. Ritter sollten noch viele Jahre lang einen wichtigen Teil der Armee bilden  – tatsächlich wurden selbst im Ersten Weltkrieg noch berittene Soldaten auf den Schlachtfeldern Westeuropas eingesetzt, während Haubitzen dröhnten und Maschinengewehrfeuer das von Stacheldraht durchzogene Erdreich im Niemandsland aufwühlte. Doch die militärische Überlegenheit der Ritter war bereits im 14. Jahrhundert passé. Dieser Bedeutungsverlust konnte seltsamerweise der Faszination, die das Rittertum auf die Menschen ausübte, nichts anhaben. Ganz und gar nicht. Obwohl Ritter auf dem Schlachtfeld immer weniger zur Entschei-

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dung über den Ausgang einer Schlacht beitrugen, stieg ihr Ansehen in der Gesellschaft. Ab Mitte des 13. Jahrhunderts wurden englische Ritter zu Parlamenten zusammengerufen, aus denen sich schließlich das House of Commons entwickelte, die zweite (aber heute wichtigste) Kammer des englischen Parlaments. Diese Entwicklung vollzog sich auch in den spanischen Königreichen (wo die Caballeros das Recht hatten, zu den parlamentarischen Gremien, den Cortes, geladen zu werden), und in Frankreich (wo Ludwig  IX . neunzehn Ritter in sein erstes parlement berief ). Und in dem Maße, wie das Rittertum außerhalb des Krieges neue soziale Funktionen übernahm, wurde es zum Aushängeschild einer viel breiter gefächerten Gesellschaftsschicht – die in England als Gentry («niederer Adel») bezeichnet wurde.58 Adlige wurden immer noch zum Ritter geschlagen, denn das Rittertum wurde nach wie vor mit dem kriegerischen Geist der Barone und ihren Vorstellungen von Männlichkeit in Verbindung gebracht. Doch nun konnten auch Männer aus Familien Ritter werden, die begütert, aber nicht reich waren, die über Ländereien, aber nicht über ganze Regionen herrschten, die in Kriegen kämpften, aber keine ­Divisionen befehligten, und die sich in Friedenszeiten als Parlaments­ abgeordnete, Richter, Sheriffs, Coroner und Steuereintreiber betätigten. Mit der Zeit gerieten die militärischen Pflichten eines Ritters aufgrund dieser Aufgaben in den Hintergrund, bis viele den Ritterstand gar nicht mehr anstrebten. (In England wurden sie, um Strafsteuern zu vermeiden, manchmal in den Ritterstand getrieben, der Vorgang wird als «Distraint of Knighthood» bezeichnet.) Zu diesem Thema ließe sich noch mehr – viel mehr – erzählen. Einstweilen begnügen wir uns jedoch mit der Feststellung, dass sich das Rittertum erstaunlich lange hielt und die Existenz der leibhaftigen Ritter um etwa fünfhundert Jahre überlebte. Im 16. Jahrhundert, lange nach dem Aufkommen von Schusswaffen, Kanonen und professionellen Armeen und auch nach dem Verschwinden der Feudalherrschaft übten gepanzerte Reiter, Rittertum und Ritterlichkeit weiterhin einen unwiderstehlichen Reiz auf die europäische Oberschicht aus. Es war immer noch möglich, als Ritter einen ähnlich großen internationalen Bekanntheitsgrad wie El Cid oder William Marshal zu erreichen: Ein Beispiel dafür ist der deutsche Raubritter und Schriftsteller Gottfried «Götz» von Berlichingen, auch be-

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kannt als «Ritter mit der eisernen Hand». Er verlor seine Schwerthand 1504 bei der Belagerung der Stadt Landshut im Kanonenfeuer – ein guter Beleg dafür, dass die ritterlichen Kampftechniken den militärischen Neue­ rungen nicht gewachsen waren –, konnte seine militärische Karriere jedoch dank einer eisernen Unterarmprothese fortsetzen und verbrachte sein Leben damit, überall dort im deutschen Reich aufzukreuzen, wo ­Ärger drohte: Blutfehden waren sein Spezialgebiet. (In den 1520er Jahren befehligte er jedoch auch eine Rebellenmiliz im Bauernkrieg.) Wie durch ein Wunder lebte er bis in die 1560er Jahre und starb mit über achtzig daheim in seinem Bett. Götz von Berlichingen ist bei Weitem nicht das einzige Beispiel für die Gefahren für Leib und Leben, die das ritterliche Leben im ausgehenden Mittelalter mit sich brachte. 1524 wurde Götz ’ Zeitgenosse König Heinrich  VIII . von England beim Lanzenstechen schwer verletzt. Unbeeindruckt nahm er weiter an Turnieren teil, bis es erneut zu einem Unfall kam. Bei diesem noch gravierenderen Sturz 1536 erlitt seine Gesundheit dauerhaften Schaden, er wäre sogar – zum Schrecken seines Hofes und seiner damaligen Frau Anne Boleyn – beinahe gestorben. Doch selbst das konnte seine Begeisterung für das Rittertum nicht dämpfen, das einen ­wesentlichen Teil seines Selbstverständnisses ausmachte. Wer heute den Tower von London oder Windsor Castle besucht, kann die gigantischen Rüstungen betrachten, die Heinrich anlässlich seines letzten Feldzugs in Frankreich in den 1540er Jahren anfertigen ließ – Rüstungen, die zwar keinen Schutz vor Kanonenkugeln geboten hätten, aber von seinem Selbstverständnis als ritterlicher Soldat und einer jahrhundertealten romantischen Tradition künden. Heinrich war auch nicht der letzte König, der sich beim mittelalter­ lichen Cosplay vergnügte. Im Tower von London sind fein gearbeitete und kunstvoll geschmückte Rüstungen ausgestellt, die für Karl  I . (1625–1649) und Jakob II . (1685–1688) angefertigt wurden, obwohl keiner der beiden – trotz der Probleme während ihrer Herrschaft – Verwendung für mittelalterliche Rüstungen hatte, es sei denn, um damit bei prunkvollen Zeremonien anzugeben. Doch das ritterliche Zubehör war zu jener Zeit fester Bestandteil des Gefüges von Monarchie und Aristokratie. Und ist es noch heute. Eine der höchsten und exklusivsten Auszeichnungen im Vereinig-

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ten Königreich ist die Erhebung in den Ritterstand; noch exklusiver ist die Mitgliedschaft im Hosenbandorden  – ein Club nach dem Vorbild von König Artus ’ Tafelrunde, der ursprünglich 1348 für zwei Dutzend Turnierkameraden von Eduard III . gegründet wurde. Zu den derzeitigen Trägern des Hosenbandordens zählen hochgestellte Mitglieder der Königs­ familie, ehemalige Premierminister, hochrangige Beamte, Spione, Banker, Generäle und Höflinge; dazu kommen sogenannte «Stranger Knights», die Ehrenmitglieder, ausgewählte Angehörige ausländischer Königshäuser wie die Monarchen von Dänemark, Spanien, Japan, Schweden und den Niederlanden. Natürlich hat das Vereinigte Königreich kein Monopol auf das moderne Rittertum. Weltweit gibt es ähnliche Einrichtungen, etwa in Österreich, Dänemark, Deutschland, Italien, Polen, Schottland, Spanien und Schweden.59 Selbst in den USA finden sich Ritter und ihre Institutionen. Während ich an diesem Buch arbeitete, war ich zur Investiturfeier eines modernen amerikanischen Ritterordens eingeladen, die in einer Kirche in Nashville in Tennessee stattfand. Die neuen Ritter und «Dames» wurden in einer Zeremonie, die sich an der Darstellung der im 20. Jahrhundert verfassten mehrbändigen und stark romantisierten Geschichte der Plantagenet-Dynastie des in Kanada geborenen Autors Thomas Costain orientiert, offiziell mit dem Schwert zum Ritter geschlagen. Damit wurden sie Mitglieder eines privaten Ritter-Netzwerks, dem Zwei-Sterne- und DreiSterne-Generäle angehören, Angehörige der amerikanischen Sicherheitsdienste, Richter, Anwälte und Wall-Street-Finanziers.60 Bei dieser Zeremonie kam mir der Gedanke, dass Rittertum heute das ist, was es schon immer war: eine erklärt elitäre und internationale Gruppierung; mitunter fantastisch und manchmal einfach nur albern, eine Gruppe, bei der es ­weniger um eine bestimmte Art zu kämpfen geht, sondern vielmehr um gemeinsame Annahmen und Werte; aber eine Institution, deren Philosophie einst das Denken der mächtigsten Menschen des Westens prägte und es ihnen ermöglichte, die Welt um sich herum zu gestalten.

8.

Kreuzfahrer «Die Christen sind im Recht und die Heiden im Unrecht.» Rolandslied

I

n der letzten Augustwoche des Jahres 1071 betrachtete der byzantinische Kaiser Romanus  IV . Diogenes den Seldschukensultan aus einer denkbar unbequemen und unvorteilhaften Position, denn sein Nacken befand sich unter Alp Arslans Stiefel. Die Verletzung an Romanus ’ Hand, die er sich am Vortag zugezogen hatte, schmerzte. Er war schlammverkrustet und blutverschmiert. Es hatte ihn einige Mühe gekostet, den Sultan davon zu überzeugen, dass er überhaupt ein Anführer war, geschweige denn der Kaiser von Byzanz, des offiziellen Nachfolgestaates des Römischen Reiches. Und nachdem er Alp Arslan überzeugt hatte, hatte der Sultan der Seldschuken darauf bestanden, die rituelle Demütigung zu vollziehen und ihm den Stiefel in den Nacken zu setzen. Der Tag lief für Romanus nicht besonders gut. Aber wie war er überhaupt in diese traurige Lage geraten? Einige Wochen zuvor hatte Romanus ein riesiges Heer aufgestellt, das möglicherweise bis zu vierzigtausend Mann umfasste. Sie stammten aus ganz unterschiedlichen Regionen; neben den griechischsprachigen Kriegern aus ­seinem eigenen Reich hatte er Franken und Wikinger aus dem Land der Rus angeworben, Petschenegen und Oghusen aus Zentralasien und Georgier aus dem Kaukasus. Er war mit ihnen in den Osten des Byzantinischen Reichs marschiert, wo Alp Arslan von Armenien und Nordsyrien aus auf sein Territorium vorgedrungen war. Romanus hatte den Sultan und dessen ebenfalls große Armee mit leichter Kavallerie (berittenen ­Bogenschützen) vertreiben wollen, um ihr weiteres Vordringen nach Klein-

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asien zu verhindern. Doch es war anders gekommen. Am 26. August hatte er versucht, die Seldschuken in der Nähe des Vansees (in der heutigen Osttürkei) dazu zu bringen, sich einer Schlacht zu stellen. Doch Alp Arslan hatte ihn überlistet. Die leichte Kavallerie hatte sich seinen Truppen immer wieder entzogen und die byzantinische Armee dazu gebracht, ihr zu folgen. Bei Einbruch der Dunkelheit hatten die Seldschuken dann plötzlich eine Kehrtwende gemacht und angegriffen. In Romanus ’ Reihen war Verwirrung und Panik ausgebrochen, einige Soldaten hatten sogar die Flucht ergriffen. Mit peinlicher Mühelosigkeit wurden die byzantinischen Truppen in die Flucht geschlagen, und obwohl Romanus hart gekämpft hatte, verlor er sein Pferd unter sich und erlitt mehrere Verletzungen  – unter anderem wurde ihm die Schwerthand aufgeschlitzt –, bis man ihn schließlich umzingelte und gefangen nahm.1 Nach einer unangenehmen Nacht, in der ihn seine blutenden Wunden gequält hatten, wurde er vor Alp Arslan gezerrt. Und jetzt lag er unter dem Stiefel des Sultans. Glücklicherweise dauerte die peinliche Situation nicht allzu lange. Nachdem der Sultan seinen Standpunkt klargemacht hatte, gab er den Kaiser frei, half ihm auf die Füße und sagte ihm, er solle sich keine Sorgen machen. Er sei zwar sein Gefangener, werde jedoch anständig behandelt, man werde sich um seine Wunden kümmern und ihm im Gefolge des ­Sultans einen ehrenvollen Platz zuweisen. Nach etwa einer Woche durfte er nach Konstantinopel zurückkehren, um wieder zu Kräften zu kommen und nach Belieben seinen Geschäften nachzugehen. Diese großzügige Geste sollte den Edelmut des Sultans betonen. Und Romanus Diogenes das Leben retten – vorerst. Die von Alp Arslan geführten Seldschuken waren eine türkische Dynastie. Sie waren sunnitische Muslime und stammten von nomadischen Stämmen ab, die um den Aralsee lebten (zwischen dem heutigen Kasachstan und Usbekistan). Seit dem späten 10. Jahrhundert waren sie zur dominierenden Macht in der islamischen Welt aufgestiegen und hatten von Zentralasien aus Persien erobert, wo sie 1055 mit der Billigung des Abbasidenkalifen die Kontrolle über Bagdad übernommen hatten und dann weiter Richtung Syrien, Armenien und Georgien bis an die östlichen Ränder des Byzantinischen Reichs vorgedrungen waren. Als Kaiser Romanus

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eine Armee gegen sie aufstellte, herrschten die Seldschuken in einem etwa 3000 Kilometer breiten Streifen im Mittleren Osten. Und sie hatten noch weitreichendere Pläne: Sie wollten nach Ägypten, das seit 909 von schii­ tischen Kalifen der Fatimidendynastie regiert wurde; Richtung Norden durch den Kaukasus bis zum Reich der Rus und durch ganz Kleinasien bis zum Bosporus, wo sich Konstantinopel befand. Deshalb hatte sich ­Romanus auch gegen sie zur Wehr setzen müssen. Und deshalb spielte sein Versagen, besiegelt durch die Niederlage und Demütigung in der Schlacht von Manzikert, auch eine so große Rolle. Als sich Romanus auf den Rückweg nach Konstantinopel machte, sah es nicht gut für ihn aus. Denn wie Alp Arslan wusste, war die Missgunst in Byzanz umso größer, wenn man einen besiegten Kaiser nicht tötete, sondern ihn in seine Heimat zurückschickte. Und Romanus war nicht nur auf dem Schlachtfeld geschlagen worden, sondern hatte auch noch die in Nordsyrien gelegenen Städte Antiochia und Edessa verloren, und natürlich Manzikert. Er hatte sich bereit erklärt, Alp Arslan enorme jährliche Tributzahlungen zu leisten, und hatte versprochen, eine seiner Töchter mit einem Sohn des Sultans zu verheiraten. Auf ihn konnte man sich in Byzanz nun eindeutig nicht mehr verlassen, wenn es darum ging, Kleinasien vor zukünftigen Angriffen zu schützen  – und vermutlich war er ebenso wenig in der Lage, europäische Rivalen am anderen Ende seines Reichs davon abzuhalten, sich byzantinische Gebiete auf dem Balkan unter den Nagel zu reißen. Als Herrscher war er angezählt. Und Byzanz ­tolerierte keine angezählten Kaiser. Der Aufstand brach los, sobald die Nachricht von Romanus ’ Niederlage Konstantinopel erreichte. Ein Gegenkaiser namens Michael VII . Dukas wurde ausgerufen; Michael war einer der Befehlshaber in der Schlacht von Manzikert gewesen, aber unbeschadet entkommen. Er schickte seinen Sohn Andronikos Dukas, um Romanus abzufangen, bevor er Konstantinopel erreichte, und ihn gefangen zu nehmen. Um den alten Kaiser politisch kaltzustellen, ließ Andronikos ihn blenden und auf die Insel Proti im Marmarameer bringen. Unglücklicherweise hatte das Blenden für Romanus fatale Folgen. Ein Chronist berichtet, die Wunden hätten sich entzündet und die wimmelnden Maden seien ihm «vom Gesicht und vom Kopf

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gefallen». Wenig überraschend starb er schon bald darauf im Sommer 1072. Nun lag es am Dukas-Clan, Byzanz vor der Zerstückelung durch die Seldschuken zu bewahren. Doch der Clan scheiterte. Die Seldschuken nutzten die Schwäche und Uneinigkeit im Machtzentrum von Byzanz, drangen nach Kleinasien vor und erstürmten byzantinisches Territorium. Michael  VII . erwies sich als völlig überfordert und verzichtete nach einer Reihe von Aufständen schließlich 1078 auf den Thron. Zu Beginn der 1080er Jahre war bereits eine umfassende Umstrukturierung des Nahen und Mittleren Ostens im Gang, die Byzanz zu vernichten drohte. Die Byzantiner wurden nicht nur aus Kleinasien verdrängt: Auch ihr Ruf als regionales Bollwerk für das Christentum im östlichen Mittelmeerraum hatte erheblich gelitten. 1009 hatten sie ohnmächtig mitansehen müssen, wie auf Anweisung des in Ägypten herrschenden Fatimidenkalifen al Hakim die Grabeskirche in ­Jerusalem zerstört wurde, die an der Stelle von Jesu Grab stand. Nun war die Position von Byzanz noch mehr geschwächt. Die dominierenden Mächte im Osten waren die Seldschuken und in geringerem Maße die ­Fatimiden in Ägypten. Doch auch die Fatimiden und Seldschuken lagen im Zwist miteinander: Religiöse Schismen und die wirtschaftliche Rivalität in Syrien und Palästina sorgten für Konflikte. Dennoch gelang es ihnen, Byzanz nach und nach die spirituelle und territoriale Dominanz in der Region zu entziehen – und wenn Byzanz keinen Kaiser fand, der endlich handelte und durchgriff, würde womöglich bald nicht mehr viel vom alten Römischen Reich übrig bleiben. Eine Rettung schien vorerst nicht in Sicht. Doch dann kam 1081 ein neuer Kaiser auf den Thron: Alexios  I . Komnenos. Der brillante Militärstratege und Veteran der Schlacht von Manzikert hatte eine klare Vorstellung, wie Byzanz wieder auf die Beine kommen konnte. Die Rettung, so seine Überlegung, lag in einem Teil des Römischen Reichs, das sich vor gut siebenhundert Jahren von Konstantinopel gelöst hatte. Im zweiten Jahrzehnt seiner Regierung sandte ­Alexios einen Hilferuf aus, der den Lauf der Geschichte ändern sollte. Byzantinische Gesandte wurden in die Reiche des Westens geschickt, um die «andere Hälfte» der Christenheit um militärische und mora­ lische Unterstützung zu bitten: Westeuropa und das deutsche Reich. Sie

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lösten damit eine Kettenreaktion aus, die in einem der erstaunlichsten Ereignisse der mittelalterlichen Geschichte münden sollte: dem Ersten Kreuzzug.

Urban II. Am 12. März 1088 wurde ein französischer Bischof namens Odo von Châtillon zum Papst geweiht und gab sich den Namen Urban II . Mit fast Mitte fünfzig hatte er bereits eine bemerkenswerte Karriere in der Kirche hinter sich. Als junger Mann hatte er das Gelübde der Benediktiner ab­ gelegt und war im cluniazensischen System rasch aufgestiegen; unter dem großen Abt Hugo hatte er es bis zum Prior der Abtei Cluny gebracht und damit das zeitwichtigste Amt in seinem Orden bekleidet. Wie bereits in Kapitel  6 festgestellt, fühlten sich die Würdenträger Clunys zu dessen Glanzzeiten in höheren Kreisen gut aufgehoben, und Odo bildete da keine Ausnahme. Wie Abt Hugo schmeichelte er sich bei den Herrschern Europas ein und stand besonders dem großen Reformpapst Gregor  VII . nahe. Um das Jahr 1080 holte Gregor Odo aus Cluny weg und ernannte ihn zum Kardinalbischof von Ostia. Der Posten sollte sein Sprungbrett für das Amt des Papstes werden. Die politischen Umstände, unter denen Odo Papst wurde, waren alles andere als vielversprechend. Die Kirche befand sich gerade in einem doppelten Schisma. Beim ersten Schisma, das über drei Jahrzehnte zurückreichte, ging es um Glaubensgrundsätze. Nun hatten sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den Kirchen von Konstantinopel und Rom (bei denen es beispielsweise um die angemessene Dauer des Fastens oder die Beschaffenheit des Brotes ging, das für die Eucharistie verwendet werden sollte) in einem Briefwechsel entladen, der geprägt war von gegen­ seitiger Verachtung, die sich immer weiter hochschaukelte, bis es schließlich zur gegenseitigen Exkommunizierung kam. Das Verhältnis zwischen der östlichen und westlichen Kirche war also angespannt, und Urban musste nach Mitteln und Wegen suchen, die Wogen wo immer möglich zu glätten. Das zweite Schisma hatte seinen Ursprung auf der anderen Seite der

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Alpen. 1076 war der sogenannte Investiturstreit zwischen Papst Gregor  VII . und dem deutschen König Heinrich  IV . ausgebrochen. Vordergründig ging es um die Frage, ob weltliche Herrscher Bischöfe ohne Zustimmung des Papstes ernennen («investieren») durften, doch dahinter stand eine viel größere Frage, deren Wurzeln bis zur Herrschaft Karls des Großen zurückreichten, als die Herrscher des ostfränkischen Reichs ihre Vorstellungen vom Kaisertum entwickelten. Durch den Pakt zwischen Papst und Kaiser wurden weitreichende konstitutionelle Fragen aufgeworfen: Waren die Päpste die einzige höchste Autorität im Westen, wie Gregor 1075 in einem Dokument mit dem Titel Dictatus Papae bekräftigt hatte? Oder hatten Könige in ihrem Reich die größte Autorität und unterstanden allein Gott? Diese Position wurde natürlich von Heinrich vertreten.2 Da sehr viel auf dem Spiel stand, wurde der Streit schnell erbittert und dann gewalttätig. Bei Urbans Wahl gab es einen von den Deutschen unterstützten Gegenpapst namens Clemens  III ., und Rom war kurz zuvor von den Normannen in Süditalien angegriffen worden. Zu all diesen Problemen kamen noch weitere dringende Angelegenheiten, die geregelt werden mussten. Urban war ein gregorianischer Reformer, der den Ehrgeiz seines verstorbenen Mentors teilte, beim Klerus hohe Verhaltensstandards durchzusetzen und die päpstliche Kontrolle im gesamten christlichen Westen zu verschärfen. Dabei ging es nicht nur um die Moral innerhalb von Kloster- und Kirchenmauern, sondern auch um ganz weltliche Macht. Seit dem späten 10. Jahrhundert beschäftigten sich die europäischen Kirchenleute mit der Frage, was sie gegen die Gewalttaten unternehmen konnten, die von Rittern bei ihren lokalen Fehden verübt wurden. Die Päpste kannten Übergriffe auf Kirchengut aufgrund der Normannen­ einfälle in Süditalien aus eigener Erfahrung. Doch das Problem war – oder schien – allgegenwärtig. Es gab zwei frühere Versuche, die kriegerischen Ritter mithilfe der Kirche zu disziplinieren, die als «Friedensbewegungen» bekannt waren: den Gottesfrieden (Pax Dei) und die Waffenruhe Gottes (Treuga Dei). Dabei handelte es sich um Programme, bei denen Geistliche versuchten, auf die kriegerischen Ritter einzuwirken, damit sie auf die Plünderung von Kirchen verzichteten und aufhörten, wehrlose Personen zu töten, zu vergewaltigen, zu verstümmeln und auszurauben.

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Bischöfe mühten sich, den Frieden durchzusetzen, indem sie Siedlungen und ganze Gebiete unter den ausdrücklichen Schutz der Kirche stellten und allen, die den Bewohnern Schaden zufügten, mit einem Bannfluch drohten. Bei der Waffenruhe wurden Tage und bestimmte Zeiten im Jahr genannt, an denen Kämpfe verboten waren.3 In der Bevölkerung waren der Gottesfrieden und die Waffenruhe Gottes sehr populär, insgesamt ­jedoch nicht sonderlich effektiv. Zu den vielen Problemen, die Urban zu Beginn seiner Amtszeit beschäftigten, gehörte also auch die Frage, wie er moralischen Tadel mit wirkungsvollen Maßnahmen verbinden konnte. Dann bot sich 1095 eine faszinierende Lösung praktisch von allein an. In der ersten Märzwoche kamen die Gesandten von Alexios I . Komnenos ’ Hof in Konstantinopel im Westen an.4 Sie fanden Urban in der Stadt ­Piacenza vor, wo er gerade eine Bischofsversammlung abhielt, eine sogenannte Synode. Der deutsche Chronist Bernold von St. Blasien berichtet, die Gesandten seien im Namen des Kaisers von Konstantinopel aufgetreten, «der den Herrn Papst und alle Getreuen Christi inständig anflehte, ihm einige Hilfe zur Verteidigung der heiligen Kirche gegen die Heiden zu bringen, welche die Heiden in jenen Gegenden schon fast zerstört hatten, da sie jene Gegenden bis an die Mauern Konstantinopels eingenommen hatten».5 Das war keine kleine Bitte. Doch sie fand bereitwillig Gehör. Nicht zum ersten Mal ging aus Byzanz ein solches Gesuch ein: Nach dem katastrophalen Ausgang der Schlacht von Manzikert war in einem anonymen Brief an den Grafen von Flandern um westliche Militärhilfe gegen die Türken gebeten worden; Papst Gregor hatte an weltliche Fürsten appelliert, «den Christen, die von den häufigen Plünderungen der ­Sarazenen schwer geplagt werden, Hilfe zu bringen».6 Bislang war die ­Reaktion allerdings sehr verhalten ausgefallen. In den 1090er Jahren sah die Situation jedoch anders aus. Im Frühling 1095 begab sich Papst Urban auf einen außergewöhn­ lichen Werbefeldzug durch Südfrankreich und Burgund. Er umschmeichelte mächtige Adlige und Bischöfe  – einflussreiche Männer wie Raymond, den Grafen von Toulouse, Odo, den Herzog von Burgund, oder Adhémar, den Bischof von Le Puy – und er begeisterte offizielle und in­ offizielle Prediger für seine Botschaft, die sie dann überall weiterverbreiteten. Und diese Botschaft hatte enorme Sprengkraft. Urban rief die kampf-

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fähigen Männer in der römischen Kirche auf, zu den Waffen zu greifen und Richtung Osten zu ziehen, um dem byzantinischen Kaiser zu helfen, die perfiden Türken von seinem Territorium zu vertreiben. Doch das sollte nur der erste Schritt sein. Das Endziel war nicht Konstantinopel, sondern das Heilige Grab Christi in der von Muslimen beherrschten Stadt Jerusalem. Wenn die byzantinischen Kaiser die christlichen Interessen dort nicht schützen könnten, erklärte Urban, dann müssten eben die Päpste eingreifen. Sie würden nicht Byzanz retten. Sie würden die Rolle der römischen Kaiser als Hüter der heiligsten Stätten der christlichen Welt übernehmen. Ein Grund, warum Urban einen derart ambitionierten Plan verfolgen konnte, liegt in seiner Vergangenheit im cluniazensischen Kloster. Unter Abt Hugos Führung hatte Cluny von einer Ökonomie des Krieges gegen nichtchristliche Mächte profitiert, als der Orden Könige wie Alfons  VI . von Kastilien unterstützt hatte, einen begeisterten Krieger und Anführer der Reconquista. Clunys Finanzkraft und sein weitverzweigtes Klosternetzwerk waren nicht zuletzt den Einnahmen aus der Reconquista zu ­verdanken, und auch die Missionsarbeit der römischen Kirche auf der Iberischen Halbinsel hatte durch die Triumphe von Männern wie El Cid in den 1080er und 1090er Jahren Auftrieb erhalten. Könnte man womöglich das, was im Westen funktioniert hatte, in größerem Maßstab auf den Osten übertragen? Das würde nicht einfach werden. Urbans Vision von der Eroberung Jerusalems war fast so kühn wie ein Flug zum Mond. Doch der Papst war zuversichtlich. Im Oktober 1095 besuchte er Cluny, wo gerade die größte Kirche der Welt gebaut wurde. Er weihte den Hochaltar und blieb eine Woche bei seinen ehemaligen Brüdern und Freunden. Dann berief er im November eine weitere Synode im 150 Kilometer entfernten Clermont ein. Und am 27. November hielt er eine Predigt, über die noch tausend Jahre später gesprochen werden sollte. Der genaue Wortlaut ging verloren, doch laut einem Chronisten, der als Fulcher von Chartres bekannt ist, forderte Urban seine Zuhörer auf: Ihr müsst euch sputen, um euren im Osten lebenden Brüdern, die eure Unterstützung brauchen, um die sie oft dringend nachsuchten, Hilfe zu ­bringen.

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Denn die Türken, ein persisches Volk [sic], haben sie angegriffen … und sind bis zu jenem Teil des Mittelmeers, den man den Arm des heiligen Georg nennt [Konstantinopel], auf römisches Territorium vorgedrungen. Sie haben immer mehr Länder der Christen an sich gerissen, haben sie bereits sieben Mal in ebenso vielen Schlachten besiegt, viele getötet oder gefangen genommen, haben Kirchen zerstört und Gottes Königreich verwüstet. Und deshalb ermahne ich, nein, nicht ich, ermahnt Gott euch als inständige Herolde Christi mit aufrechter Bitte, Männer jeglichen Standes, ganz gleich welchem, Ritter wie Fußkämpfer, reiche und arme, wiederholt aufzufordern, diesen wertlosen Menschenschlag in unseren Ländern auszurotten und den christlichen Bewohnern rechtzeitig zu helfen.7

Diese mitreißende – und, wie man auch festhalten muss, unverhohlen gewaltbereite – Aufforderung ergänzte Urban um eine in Aussicht gestellte Belohnung. Alle, die sich an diesem Vernichtungsfeldzug beteiligen und dabei sterben würden, sollten mit dem «Erlass ihrer Sünden» belohnt werden. Ihre irdischen Missetaten würden ihnen vergeben, ihr Einzug in den Himmel erleichtert. In einer Zeit, in der der Erlass von Sünden für die Menschen ein moralisches Anliegen, aber auch eine Frage der Finanzen war, war dieses Angebot höchst verführerisch. Urban hatte eine neue spirituelle Rechnung aufgemacht, die sich als sehr dauerhaft erweisen sollte. Wer sich dazu verpflichtete, die Heimat zu verlassen und Tausende Kilometer weit entfernt irgendwo in der Fremde andere Menschen abzuschlachten, dem wurde ein himmlischer Lohn versprochen. Die Resonanz war gewaltig. Genauso gewaltig wie der Plan des Papstes, seine Armeen von Byzanz aus ins Heilige Land zu schicken. In einem Bericht über ­Urbans Rede, den ein Chronist namens Robert der Mönch verfasst hatte, warf das Publikum, als der Papst Jerusalem erwähnte – «die königliche Stadt im Mittelpunkt der Welt, [die] bettelt und fleht, befreit zu werden» –, den Kopf in den Nacken und brüllte.8 «Deus vult!», schrien sie. «Deus vult!» Gott will es – Gott will es.*

* Deus vult wird heute als Parole und Meme vor allem von rechten Gruppierungen, White Supremacists und anti-islamischen Terroristen vereinnahmt. Man sollte also lieber vorsichtig sein, bevor man es in gehobener Gesellschaft verwendet.

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Wie ein moderner Politiker im Wahlkampf hatte Urban einen Slogan gefunden, den seine Anhänger noch lange nach seiner Abreise wie einen Schlachtgesang skandieren konnten. Er erfand außerdem ein hübsches Schauspiel. Auf dem Höhepunkt der Kundgebung in Clermont warfen sich die besonders hingebungsvollen Anhänger des Papstes, allen voran Bischof Adhémar, auf die Knie und flehten, an diesem ruhmreichen Feldzug teilnehmen zu dürfen. Urban wies alle, die teilnehmen wollten, an, sich von ihren Nachbarn abzuheben, indem sie das Kreuzzeichen an der Schulter oder auf der Brust befestigten, bevor sie in die Welt hinauszogen, die Nachricht weiterverbreiteten und sich für ihre Abreise rüsteten. Obwohl der Begriff «Kreuzzug» noch nicht erfunden war, hatte Urban die ersten Kreuzfahrer geschaffen.* Das war der Auftakt für ein Phänomen, das in englischen Quellen zunächst als «great Stirring» und später als «Erster Kreuzzug» bezeichnet wurde.

Der Erste Kreuzzug Die ersten, die den Zorn der Kreuzfahrer zu spüren bekamen, waren nicht die Türken vor den Toren Konstantinopels und auch nicht die Seldschuken in Syrien oder die Fatimiden in Jerusalem. Nein, es waren die ganz gewöhnlichen jüdischen Männer, Frauen und Kinder in den Städten des Rheinlands, die im späten Frühjahr 1096 Opfer der mörderischen christlichen Meute wurden, die sich durch die Versprechen der Priester auf eine schnelle Vergebung im Himmel in einen Mordrausch hineingesteigert hatte. In Städten wie Worms, Mainz, Speyer und Köln zogen Banden durch die Straßen, steckten Synagogen in Brand, verprügelten und töteten jüdische Familien und stellten einzelne Juden vor die grau-

* Das englische Wort crusader (Kreuzfahrer) stammt vom lateinischen cruce signati («mit dem Kreuz gezeichnet») und bezeichnet einen Menschen, der sich verpflichtet hatte, für die Kirche zu kämpfen. Es ist deutlich älter als der Begriff crusade (Kreuzzug); siehe die Einleitung zu meinem Buch Crusaders (London 2019). In zeitgenös­ sischen Quellen war von peregrinatio oder expeditio die Rede.

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same Wahl, zum Christentum überzutreten oder Selbstmord zu begehen. Die Berichte über die damaligen Gräueltaten sind ein deprimierender Hinweis auf die lange Geschichte des europäischen Antisemitismus, der im 20. Jahrhundert seinen furchtbaren Höhepunkt fand. 1096 wurde ­Juden eine Schlinge um den Hals gelegt, um sie daran durch die Straßen zu zerren, sie wurden in Häuser getrieben, die dann angezündet wurden, oder vor jubelnden Zuschauern auf der Straße enthauptet.9 «Diesem samen Gemetzel an den Juden entrannen [nur] einige wenige», grau­ schrieb der Chronist Albert von Aachen. Dann «setzte die unerträgliche Gesellschaft von Männern und Frauen [die Kreuzfahrer] ihren Weg gen Jerusalem fort».10 Das war nicht ganz das, was Urban  II . beabsichtigt hatte. In seiner ­Vision eines Kreuzzugs stellte er sich vor, wie mächtige Adlige große militärische Divisionen in einigermaßen organisierter Form ins Heilige Land führten. Doch die erste Welle der Kreuzfahrer, die Europa in Richtung Osten verließen, waren schlecht ausgebildete und kaum kontrollierbare ­religiöse Eiferer, die von populistischen Demagogen aufgehetzt wurden, darunter auch von einem verlotterten, aber charismatischen Asketen ­namens Peter der Einsiedler und einem reichen, aber zwielichtigen deutschen Grafen namens Emicho von Flonheim. Der «Volkskreuzzug», wie die Amateur-Vorhut später genannt wurde, zog im Sommer 1096 ostwärts durch Europa, folgte der Donau durch Ungarn bis auf den Balkan und landete Anfang August vor den Toren Konstantinopels. Kaiser Alexios Komnenos war nicht erfreut über diese Ankunft. Der wilde Haufen hatte sein Kommen durch Plünderungen und Überfälle auf byzantinische Städte entlang der Route angekündigt, und sein Mangel an militärischer Erfahrung und Disziplin machte ihn nutzlos für die bevorstehende Aufgabe: die türkischen Truppen unter einem Kriegsherrn, der sich selbst zum «Sultan von Rum»* ernannt hatte, Kilij Arslan I ., ein für alle Mal aus Kleinasien zu vertreiben. Alexios ’ gebildete und belesene Tochter Anna Komnene berichtet von

* Gemeint ist Rom. Die Anziehungskraft des Römischen Reiches war immer noch ungebrochen.

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der Bestürzung in Konstantinopel, als die Nachricht vom Herannahen der Kreuzfahrer die Runde machte. In ihren Augen war Peter der Einsiedler komplett verrückt. Und von seinen Anhängern hatte sie erst recht keine hohe Meinung: eine Handvoll Krieger und «eine unbewaffnete Menge, zahlreicher als der Sand am Meeresstrand und die Sterne am Himmel, welche Palmzweige und Kreuze auf der Schulter trug».11 Diese bunt zusammengewürfelte Truppe schlug ihr Lager auf der anderen Seite des Bosporus in der Nähe der byzantinischen Hauptstadt auf, um auf weitere Kreuzfahrer zu warten. Sie lagerten, vergnügten sich und unternahmen ein paar halbherzige Angriffe auf Kilij Arslans Seldschuken im Landesinnern. Bei diesen Gefechten kamen viele von ihnen ums Leben. Das war nicht gerade ein verheißungsvoller Auftakt. 1097 sah die Lage für die Kreuzfahrer jedoch schon vielversprechender aus, da nun besser organisierte Truppen unter dem Kommando von erfahrenen Feldherren und unterstützt von Rittern byzantinisches Terri­ torium erreichten. Das waren zumindest ernsthafte Kämpfer. Zu den Anführern des sogenannten «Fürstenfeldzuges» zählten Raymond, der Graf von Toulouse; Hugo von Vermandois, der Bruder des französischen Königs; Robert von der Normandie, auch Robert «Kurzhose» genannt, Sohn von Wilhelm dem Eroberer; Robert, Graf von Flandern sowie ein ambitioniertes Bruderpaar, Gottfried von Bouillon und Balduin von Boulogne. Bischof Adhémar von Le Puy reiste als Urbans Vertreter und päpst­ licher Legat mit. Die italienischen Normannen waren durch Bohemund von Tarent vertreten: einer der umstrittensten – und charismatischsten – Männer seiner Zeit. Sein Vater Robert Guiskard hatte Alexios Komnenos viele Jahre lang Probleme gemacht und von Süditalien aus Angriffe auf das westliche Byzanz verübt. Bohemund war in Konstantinopel also schon bekannt: Anna Komnene beschrieb ihn als gehässig, böswillig und völlig unzuverlässig, ein Schurke, der Byzanz unter dem Vorwand, es zu retten, zerstören wolle. (Anna räumte jedoch ein, dass Bohemund über einen gewissen Macho-Charme verfügte, und beschrieb ihn als großgewachsen, mit breiter Brust, gut aussehend, kurzhaarig und glatt rasiert mit strahlend blauen Augen.)12 Bohemunds Präsenz war auch bei den Kreuzzugstruppen umstritten, die gekommen waren, um Konstantinopel zu retten. Den-

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noch sollten er und seine Gefährten, deren Zahl sich am Ende auf achtzigtausend bewaffnete Pilger belief, eine radikale Neuordnung des Nahen Ostens bewirken. Nach ihrer Ankunft in Konstantinopel in den ersten Monaten des ­Jahres 1097 kümmerten sich Bohemund und die anderen «Fürsten», nachdem sie Kaiser Alexios ’ großzügige Gastfreundschaft über Ostern einige Wochen lang in Anspruch genommen hatten, gegen Ende des Frühjahrs um das, wofür sie gekommen waren. Ihre Aufgabe war gewaltig: Sie sollten Kilij Arslan und die anderen türkischen Kriegsherren ins Hinterland von Kleinasien zurücktreiben und die von den Seldschuken eingenommenen Städte wieder unter die Kontrolle des byzantinischen Kaisers bringen, bevor sie sich durch Syrien nach Jerusalem vorkämpften. Selbst für eine Armee mit siebentausend Rittern im Zentrum, die im todbringenden fränkischen Kampfstil mit der Lanze unterm Arm ausgebildet waren, war das ein schwieriges Vorhaben. Sie mussten auf unbekanntem Terrain kämpfen und auf Militärberater vertrauen, die ihnen Konstantinopel zur Verfügung stellte, darunter ein gewisser Tatikios, ein arabisch-griechischer Eunuch, dem nicht nur die üblichen Körperteile entfernt worden waren, sondern auch die Nase, an deren Stelle er eine goldene Prothese trug. Um zu überleben, mussten die Kreuzfahrer Hunderte von Kilo­ metern in drückender Sommerhitze marschieren, mit steilem, unebenem Terrain zurechtkommen und dabei nicht nur die ständigen Attacken der türkischen Reiter abwehren, sondern auch die Angriffe von Wildtieren. (Das ist kein Scherz: Im Sommer 1097 wurde Gottfried von Bouillon von einem riesigen Bären angegriffen, der ihn beinahe zerfleischt hätte.)13 Doch vor allem mussten sie gegen einen Feind kämpfen, dem Byzanz mit all seiner Macht bislang nicht beigekommen war. Was 1097 und in den ersten Monaten des Jahres 1098 geschah, war ­daher fast ein kleines Wunder. Jeder vernunftbegabte Mensch hätte da­ rauf gewettet, dass die Kreuzfahrer bereits wenige Wochen nach ihrem Aufbruch aus Konstantinopel verhungern, verdursten oder von den Seldschuken in Stücke gehackt würden; Alexios war bei ihrem Abschied vermutlich überzeugt, dass er nie wieder von ihnen hören würde. Doch die Teilnehmer bewältigten einen der größten Märsche des Mittelalters, quer durch Kleinasien und dann weiter Richtung Süden durch das Amanos­

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Zweiter Teil: Herrschaft

gebirge (Nurgebirge) nach Syrien. Sie überlebten fast unvorstellbare Entbehrungen und schleppten sich trotz aller erlittener Strapazen weiter. Wenn sie von Zeit zu Zeit innehielten, um zu kämpfen, konnten sie Erfolge auf dem Schlachtfeld verbuchen, die bei ihnen – und zukünftigen Generationen  – keine Zweifel hinterließen, dass ihnen Gott persönlich zur Seite stand und bei ihrem Marsch seine schützende Hand über sie hielt. Ihre erste Station war die Stadt Nicäa, die sie Ende Mai und Anfang Juni mehrere Wochen lang erfolgreich belagerten, wobei sie die abgetrennten Köpfe ihrer Feinde als Munition für ihre Katapulte verwendeten. ­Danach konnten viele fränkische Ritter freudig türkische Krummsäbel schwenken, die sie Arslans leichten Reitern aus den toten Händen gewunden hatten. Am 1. Juli besiegten die Kreuzfahrer in der Schlacht von ­Doryläum «eine unzählige, schreckliche und fast überwältigende Masse von Türken». Die Türken gaben beim Angriff einen gellenden Schlachtruf von sich, den der Autor der Gesta Francorum als «teuflisches Wort, das ich nicht verstehe» beschrieb; sehr wahrscheinlich handelte es sich dabei um «Allahu akbar!». Die Reihen der Kreuzfahrer ließen daraufhin ihre eigenen Parolen ertönen: «Steht zusammen, vertraut auf Christus und auf den Sieg des heiligen Kreuzes», riefen sie. «Heute, wenn es Gott gefällt, werden wir alle reich sein!»14 Das war nicht gerade kurz und prägnant, fasste aber genau die Gründe zusammen, warum man im Mittelalter so regel­mäßig im Namen des Herrn in die Schlacht zog: Die furchtbaren Strapazen des Feldzugs boten die Aussicht auf geistige und irdische Reichtümer in einem ähnlich großen Ausmaß. Im Herbst 1097 hatte das Kreuzfahrerheer Kleinasien in voller Länge durchquert und gelangte über die Gebirgspässe nach Syrien. Die Teilnehmer waren mittlerweile müde und ausgelaugt, und ihre Anführer gerieten immer wieder untereinander in Streit. Doch ihr Kampfgeist war ungebrochen. Mehr noch, sie waren bereit für weitere Abenteuer. Und das war auch gut so, denn auf sie warteten noch viel größere Strapazen. Im Oktober belagerten die Kreuzfahrer die alte römische Stadt Antiochia, die ­einem weißbärtigen Statthalter namens Yaghi-Siyan unterstand. Yaghi-­ Siyan war ein erfahrener Anführer, und Antiochia war dank seiner natürlichen Lage an einem Bergmassiv und seiner Verteidigungsanlagen bes-

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tens vor Angriffen geschützt. Doch die Belagerer ließen sich davon nicht entmutigen. Neun Monate lang campierten sie vor den Stadtmauern und überstanden einen überaus harten Winter, wie ihn viele von ihnen noch nie erlebt hatten, bis sie sich schließlich im Juni 1098 mithilfe einer List Zugang in die vom Hunger geplagte Stadt verschafften. Zu der Zeit ­waren viele krank, erschöpft und gereizt, daher ließen sie ihrer Wut freien Lauf, als sie endlich in der Stadt waren, und richteten unter den Einwohnern ein furchtbares Blutbad an: ein entsetzliches Massaker, bei dem, wie ein Chronist berichtete, «die Erde bedeckt vom Blut und den Leichen der Erschlagenen war … darunter mischen sich auch die Leichen erschlagener und entseelter Christen, Gallier wie Griechen, Syrer und Armenier lagen durcheinander».15 Nach dem Fall der Stadt setzte sich Bohemund von ­Tarent selbst als neuer Herrscher ein; er nahm den Titel Fürst von Antiochia an und dehnte den Einfluss der Normannen so ganz nebenbei vom Hadrianswall in Nordengland bis zum Ufer des Fluss Orontes aus. Zur gleichen Zeit hatte ein anderer Anführer der Kreuzfahrer, Balduin von Boulogne, einen kleinen Trupp Abtrünniger nach Edessa geführt, die nordsyrische Stadt eingenommen und sich selbst zum Grafen von Edessa ernannt. Damit waren die ersten beiden «Kreuzfahrerstaaten», wie sie später genannt wurden, gegründet.* Und das Ziel des Ersten Kreuzzugs – Jerusalem – rückte langsam ins Blickfeld. Das «Finale» begann fast ein Jahr nach dem Fall Antiochias. Nach vielen weiteren schwierigen Monaten, in denen sich die Kreuzfahrer entlang der levantinischen Küste nach Süden vorgekämpft hatten, wurde die von ihrem Heer aufgewirbelte Staubwolke im Juni 1099 im Bergland von ­Judäa gesichtet, wo sie Tränen vergossen und Hymnen anstimmten vor Freude, das Heilige Land erreicht zu haben. Die Aufgabe, die Kreuzfahrer am Betreten der Heiligen Stadt zu hindern, fiel dem schiitischen Statt­ halter Iftikhar ad-Daula zu, der dem Fatimidenkalifen und seinem Wesir (eine Art Premierminister) in Kairo verantwortlich war. Die Verteidigung

* Insgesamt gab es vier Kreuzfahrerstaaten, die jedoch alle nur relativ kurz bestanden: das Fürstentum Antiochia, die Grafschaft Edessa, die Grafschaft Tripolis und das Königreich Jerusalem.

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hätte eigentlich einfach sein müssen: Auch heute noch sieht jeder Besucher Jerusalems sofort, dass die Stadt weit entfernt von jeder natürlichen Wasserquelle liegt, auf der einen Seite durch ein tiefes Tal geschützt (das Tal von Jehoshaphat oder Kidrontal) und von Mauern umgeben, die ­direkt in die steil aufragende Basis der gigantischen Tempelplattform übergehen.* Aber ad-Daula wusste weder die natürlichen strategischen Vorteile der Stadt noch die von Menschen erbauten Verteidigungsanlagen zu nutzen. Zudem war Jerusalem von einer Verstärkung aus Ägypten abgeschnitten. Die Kreuzfahrer wiederum profitierten von der rechtzeitigen Ankunft einer kleinen Flotte genuesischer Schiffe im Frühsommer, die Verstärkungstruppen und Belagerungsgerät brachten. In Kombination mit der enormen Motivation der Belagerer genügte das, um den Ausschlag zugunsten der Kreuzfahrer zu geben. Nachdem ihr Heer Jerusalem etwa zwei Monate lang belagert hatte, durchbrach es am Freitag, den 15. Juli, die Stadtmauern an zwei Stellen. Wie schon ein Jahr zuvor in Antiochia stürmten die Männer in die Stadt und töteten die Einwohner. Selbst prochristliche Chronisten konnten das Grauen nicht beschönigen; sie schilderten Szenen, die die Apokalypse vorwegzunehmen schienen. Ad-Daula handelte seinen eigenen freien Abzug aus und machte sich davon. Hinter ihm zogen die Pilger-Krieger, die auf ihrem vierjährigen Feldzug so vieles ertragen hatten, durch Jerusalem und plünderten und mordeten mit bestialischer Hingabe. «Einige Heiden wurden gnädigerweise enthauptet, andere von Pfeilen durchbohrt, von Türmen gestürzt und wiederum andere wurden lange Zeit gefoltert und in sengendem Feuer verbrannt», schrieb Raimund von Aguilers. «In den Häusern und Straßen türmten sich Köpfe, Hände und Füße, und tatsächlich rannten Männer und Ritter hin und her und liefen über die Leichen hinweg.»16 In Anlehnung an eine reißerische Prophezeiung aus der Offenbarung des Johannes schrieben die Chronisten von Pferden, die bis zu den

* Die Mauern, die heute die Altstadt von Jerusalem umgeben, stammen allerdings größtenteils aus osmanischer Zeit, ebenso wie die Davidszitadelle neben dem ­Jaffator, durch das die meisten westlichen Touristen die Stadt betreten und wieder verlassen.

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Zügeln durch Blut wateten. Sie übertrieben, aber nicht allzu sehr. Hunderte jüdische Einwohner wurden in einer Synagoge bei lebendigem Leib verbrannt. Tausende Muslime wurden auf dem Tempelberg (Haram al-Sharif) in der Nähe der al-Aqsa-Moschee eingeschlossen. Einige wurden getötet, andere nahmen sich selbst das Leben, indem sie von der ­hohen Mauer der Plattform sprangen. Als die Nachricht von den Gräueltaten den Abbasidenkalifen in Bagdad erreichte, «stiegen ihm Tränen in die Augen und sein Herz wurde schwer».17 Viele am Hof des Kalifen verfluchten die Ereignisse, und mindestens einer machte die sunnitisch-schiitische Spaltung des Islam dafür verantwortlich, die die Einheit der Umma so sehr geschwächt hatte, dass die Franken (ifranj, wie die Bewohner Westeuropas von den gebildeten Muslimen der damaligen Zeit genannt wurden) ihr Land erobern konnten. Doch sie konnten nicht viel mehr tun, als zu schimpfen und mit den Zähnen zu knirschen. Gegen alle Widrigkeiten hatte Urbans waghalsiger Plan, nach Byzanz und Jerusalem zu ziehen, funktioniert. Die «Franken» waren in den Osten gekommen. Dort sollten sie fast zweihundert Jahre lang bleiben.*

Königreich des Himmels Der irakische Chronist Ibn al-Athir,** der mit einem gewissen ­Abstand auf die Ereignisse blickte, beschreibt ein faszinierendes – und für ihn etwas deprimierendes  – Muster der Ereignisse im gesamten ­Mittelmeerraum Ende des 11. Jahrhunderts. Auf der Iberischen Halb­ insel konnten Könige wie Alfons  VI . Gebietsgewinne auf Kosten der muslimischen Mächte verbuchen, die seit den Tagen der Umayyaden in

* Urban  II. erfuhr leider nie vom Fall Jerusalems. Er starb am 29. Juli 1099, bevor die Nachricht Italien erreichte. ** Ibn al-Athir lebte in der zweiten Hälfte des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Die von ihm verfasste vielbändige Geschichte der Welt trägt den Titel al-Kāmil fī ­ʾt-tarīch, «Das vollständige Werk der Geschichte». Das Mammutwerk dient Historikern als wertvolle Quelle zur Geschichte der Kreuzzüge.

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al-Andalus herrschten. Auf Sizilien hatten die Normannen in den 1060er bis 1080er Jahren die Insel erobert und die arabischen Statthalter ver­ trieben; im frühen 12. Jahrhundert wurde Sizilien eine christliche Mo­ narchie unter dem normannischen König Roger  II . (reg. 1130–1154). Gleichzeitig wurden Hafenstädte der nordafrikanischen muslimischen Provinz Ifrīqiya (auf dem einstigen Gebiet von Karthago) regelmäßig von christlichen Piraten heimgesucht. Und natürlich hatten in Palästina ­ yrien die Krieger des von Urban  II . initiierten Ersten Kreuzzugs und S ihre eigenen sensationellen Siege gegen Türken und Araber errungen. Zu d ­ iesem Zeitpunkt der Weltgeschichte, lautete Ibn al-Athirs Urteil, waren die Christen auf dem Vormarsch und die Muslime auf dem Rückzug. Ibn al-Athir hatte nicht ganz unrecht. Doch man sollte dieser Argumentation nicht uneingeschränkt folgen. Seit Generationen bemühen sich Historiker, gegen die Idee anzugehen, die mittelalterlichen Kreuzzüge seien im Grunde ein «Kampf der Kulturen» zwischen der christlichen und islamischen Welt gewesen. Zum einen spielt eine so eindimensionale Deutung der mittelalterlichen Geschichte den extremistischen Gruppierungen von heute in die Hände, von den White Supremacists und den Neofaschisten in den USA und Europa bis zu islamistischen Fanatikern und den Anhängern von al-Qaida und des IS .* Zum anderen ignoriert man, wenn man die Kreuzzüge als schlichten Glaubenskrieg zwischen dem Christentum und dem Islam betrachtet, die komplexe regionale und lokale Politik, die den aufeinanderfolgenden Kreuzzugswellen ab dem späten 11. Jahrhundert zugrunde lag. Bei den Kreuzzügen ging es um weit mehr als um einen Kampf zwischen zwei aufstrebenden monotheistischen Religionen. Es ging um die sich wandelnde westliche Welt insgesamt. Von der Zeit des Ersten Kreuzzugs bis zum Ende des Mittelalters befahlen oder befürworteten Päpste Militärkampagnen auf drei Konti-

* Alle Bewohner der westlichen Welt als Juden oder Kreuzfahrer zu bezeichnen, ist fester Bestandteil der islamistischen Propaganda des frühen 21. Jahrhunderts. Umgekehrt findet man im Manifest eines heutigen weißen rassistischen Massenmörders fast immer einen Verweis auf die Kreuzzüge, die Tempelritter, Deus vult etc.

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nenten gegen verschiedene Gegner, zu denen neben türkischen Kriegsherren, arabischen Sultanen, kurdischen Feldherren und spanisch-arabischen Emiren auch Heiden im Ostseeraum, französische Häretiker, mongolische Häuptlinge, abweichlerische christliche Könige und sogar Kaiser des Heiligen Römischen Reichs zählten. Mit anderen Worten, beim Thema Heilige Kriege hatte der Islam kein Monopol auf die Rolle des Opfers. Selbst wenn wir die vielen Unterschiede zwischen den Muslimen in Spanien, Ägypten und Syrien ­ignorieren, waren die sogenannten «Sarazenen» nur ein Gegner unter vielen. Zudem war es nie so, dass Christen und Muslime zur Zeit der Kreuzzüge automatisch unversöhnliche Feinde waren. Sicher, es gab Zeiten, in denen sie sich gegenseitig zerfleischten. Aber es gab auch viele andere Gelegenheiten, bei denen sich Kreuzfahrer und Muslime zusammentaten, miteinander Handel trieben und interagierten, ohne das Bedürfnis zu haben, sich gegenseitig zu enthaupten oder bei lebendigem Leib zu verbrennen. Damit soll nicht so getan werden, als ob es die Kreuzzüge nie gegeben hätte – ich möchte damit einfach nur sagen, dass die Bedeutung der Kreuzzüge im Mittelalter, ihr Vermächtnis an die heutige Welt oft missdeutet wird und man meint, es sei dabei um das Verhältnis zwischen Christen und Muslimen gegangen – und um nichts anderes. Wie wir im weiteren Verlauf des Kapitels feststellen werden, waren die Kreuzzüge gerade deshalb von Bedeutung, weil sie ein so vielseitiges Phänomen und formbares Konzept waren. Sie definierten nicht einfach das Verhältnis zwischen Christentum und Islam, sondern schufen eine Vorlage für die Anwendung militärischer Gewalt gegen Feinde der römischen Kirche, wo immer sie diese wahrnahm. Wie entwickelte sich nun diese Welt der Kreuzzüge? Im Heiligen Land, wo die Kreuzfahrer von 1096 bis 1099 mit spektakulärer Wucht ihre Siege errungen hatten, gab es eine Periode der allmählichen und relativ ­begrenzten Kolonisierung durch die «Franken» oder «Lateiner», die aus dem gesamten Westen kamen, aber hauptsächlich aus Frankreich, Flandern und Norditalien. Einige der ersten Kreuzfahrer blieben im Heiligen Land: Gottfried von Bouillon wurde zum ersten Herrscher des König-

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reichs Jerusalem, und nach seinem Tod folgte auf ihn sein Bruder Balduin von Boulogne, der frühere Graf von Edessa.* Andere Kreuzfahrer kehrten in ihre Heimat zurück. Wieder andere stießen erst später dazu, in Form von Minikreuzzügen, die alljährlich die lebenswichtige Verstärkung an Männern und Material lieferten. Dadurch konnten die «Franken» ihr Territorium über die Orte hinaus ausdehnen, die sie 1098/99 erobert hatten. Sie konzentrierten sich auf die Küstenstädte: Beirut, Tyros, Akkon, Antiochia, Askalon und Tripolis. Eine nach der anderen wurde vom Land und vom Meer aus belagert und schließlich eingenommen. Die Teilnehmer der Schlachten in, wie die westlichen Christen sagten, outremer («jenseits des Meeres») kamen von weit her und manchmal auch aus Gebieten, die man nicht unbedingt erwartet hätte. 1110 wurde die Stadt Sidon, die auf halber Strecke zwischen Beirut und Tyros liegt, den muslimischen Herrschern von einer Armee abgenommen, der auch norwegische Wikinger angehörten, die unter dem Kommando ihres unerschrockenen jugendlichen Königs Sigurd I ., der den Beinamen «Jerusalemfahrer» erhielt, von Skandinavien bis an die Küste des Heiligen Landes gesegelt waren.18 Sigurd half bei der Einnahme Sidons und erhielt als Belohnung einen Splitter des Wahren Kreuzes, der heiligsten Reliquie Jerusalems, mit dem er nach Skandinavien zurückkehrte. Dadurch entstand eine wichtige Verbindung zwischen Norwegen und dem Heiligen Land, die eine große Rolle spielte in einer Zeit, in der sich die Gebiete der Wikinger im Übergang vom Heidentum zum Christentum befanden. Und auch den Kreuzfahrerstaaten hatte Sigurd einen wertvollen Dienst erwiesen. Dank der Eroberung Sidons und anderer Städte gab es an der levantinischen Küste in den 1130er Jahren vier miteinander verbundene, mili­ tarisierte Staaten mit dem Königreich Jerusalem an der Spitze. Sicher, sie waren klein und von feindlichen Kräften umgeben. Darüber hinaus wurde

* Gottfried lehnte die Königswürde ab und bevorzugte den Titel «Beschützer des Heiligen Grabes». Dadurch war Balduin der erste offizielle «König» von Jerusalem und regierte von 1100 bis 1118. Auf ihn folgte ein weiterer Veteran des Ersten Kreuzzugs, Balduin von Bourcq, der als Balduin II. regierte (von 1118–1131).

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die Gegend von wahrhaft biblischen Plagen heimgesucht: Heuschreckenschwärmen, Erdbeben und anderen Naturkatastrophen. Doch die lateinischen Siedler überlebten und blieben im Heiligen Land, während sie gleichzeitig den Kontakt zum Westen durch spirituelle, emotionale, dynastische und wirtschaftliche Verbindungen wahrten. Bereits in den ersten Jahren nach ihrer Gründung strömten begeisterte Pilger in Scharen in die Kreuzfahrerstaaten. Auch unter muslimischer Herrschaft waren christliche Pilgerreisen möglich gewesen, doch unter ­lateinischer Besatzung übte Jerusalem eine wesentlich größere Anziehungskraft aus. Überlieferte Pilgertagebücher aus dem frühen 12. Jahrhundert beschreiben ein Land, das gleichermaßen betörend und gefährlich sein konnte. Ein angelsächsischer Pilger namens Sæwulf, der Jerusalem um das Jahr 1103 besuchte, erlebte auf seinen langen Seereisen in den Osten und zurück in die Heimat Schiffbrüche und Piratenüberfälle und klagte, die Straßen um Jerusalem, Bethlehem und Nazareth würden von Banditen heimgesucht, die sich in Höhlen versteckten und «Tag und Nacht wach sind, stets Ausschau haltend nach jemandem, den sie überfallen können». (Am Wegesrand, berichtete er, lagen «unzählige Leichen, die von wilden Tieren zerfleischt worden waren».)19 Doch er besuchte auch heilige Stätten, die er mit biblischen Gestalten wie Adam und Eva bis zu Christus und den Aposteln in Verbindung brachte. Ein anderer Pilger, ein Abt namens Daniel aus der Nähe von Kiew (er schrieb vom «russischen Land»; der heutigen Ukraine) verbrachte sechzehn glückliche Monate im Heiligen Land, in denen er jeden Winkel ­bereiste und mit einem kleinen Stück von Jesu Grabstein in die Heimat zurückkehrte. Den Stein hatte ihm ein Mönch geschenkt, der die Schlüssel zum Grab verwahrte.20 Daheim angekommen, konnte er vor seinen Freunden, Verwandten und vor lokalen Adligen prahlen, dass er Messen zu ihrem Seelenheil an den heiligsten Stätten der christlichen Welt für sie gelesen hatte; mehr noch, er hatte die Namen besonders bedeutender russischer Fürsten, ihrer Frauen und Kinder bei den Mönchen eines Wüstenklosters in der Nähe von Jerusalem zurückgelassen, damit dort regelmäßig für sie gebetet werden konnte. Dabei handelte es sich um mehr als nur um freundliche Wünsche – Abt Daniel hatte eine bedeutungsvolle spirituelle Verbindung zwischen seinem eigenen Heimatland

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und dem über 3000 Kilometer entfernt liegenden Königreich Jerusalem hergestellt. Die neuen Kreuzfahrerstaaten waren jedoch nicht nur in religiöser Hinsicht mit der weiten Welt verbunden. Mit der zunehmenden Stabilisierung unter der neuen Herrschaft übernahmen sie nach und nach das «feudale» System des Westens – mit Baronen und Rittern, denen Güter und Dörfer im Austausch für ihren Militärdienst und ihre Loyalität gegenüber der Krone zugesprochen wurden. Jerusalem war nie sagenhaft reich oder eine imperiale Macht in der Größenordnung der anderen frühen mittelalterlichen Reiche, die Anspruch auf dasselbe Territorium erhoben hatten. Aber es war ein Ort, wohin junge Ritter reisen konnten, um dort ihr Glück zu machen. Eine erhebliche Anzahl adliger und sogar königlicher Familien ließ sich im Osten nieder und schuf so verwandtschaftliche Verbindungen über das Mittelmeer hinweg. Für manche ­Familien – beispielsweise für die miteinander verwandten Adelsgeschlechter der Montlhéry und Le Puiset aus der französischen Champagne – wurde es üblich, männliche Verwandte ins Heilige Land zu schicken, ­damit sie sich an der militärischen Verteidigung Jerusalems und um­ liegender Regionen beteiligten, oder dort Güter übernahmen und im Osten blieben.21 Für andere war es weniger Ehre als Pflicht. Ende des Jahres 1129 wurde Fulko von Anjou überzeugt, seine Grafschaft im Herzen Frankreichs seinem Sohn Gottfried zu überlassen und nach Jerusalem zu reisen, um dort Melisende zu heiraten, die Tochter und Erbin des alternden Königs Balduin  II . Zwei Jahre später starb Balduin: Damit war Melisende Königin von Jerusalem und Fulko König. Er blieb im Osten bis zu seinem eigenen Tod 1143. Das wiederum hieß, dass Fulkos Nachkommen in der Heimat in dem Wissen lebten, Verwandtschaft im Heiligen Land zu haben. Fulkos Enkel Heinrich  II . von England wurde in den 1180er Jahren aufgrund ­eines Streits um die Nachfolge gebeten, der Familientradition zu folgen und die Krone von Jerusalem anzunehmen. Heinrich sträubte sich, doch nach ihm waren die Plantagenets eifrige Unterstützer der Kreuzzüge: Bis ins 14. Jahrhundert legte jeder Plantagenet-König den Eid ab, ins Heilige Land zu ziehen, und zwei von ihnen (Richard Löwenherz und Eduard I .)

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Iconium

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Die Kreuzfahrerstaaten (um 1160)

Maras¸ ARMENISCHES G F T. KGR . KILIKIEN EDESSA Tarsus Turbessel

H

Alexandretta . (Iskenderun) Antiochia Aleppo FSM. ANTIOCHIA Latakia Dschabla Famagusta Hama Tortosa G F T. T R I P O L I S Homs Tripolis Batrun Gibelet St. Simeon

Nikosia

W

O

Zypern Limassol

S

R E E M L M I T T E

Beirut Damaskus Akkon

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See Genezareth

Jaffa Alexandria

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KGR . JERUSALEM Jerusalem

Totes Meer

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il

Aqaba

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50

100

150km

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machten sich dort in Schlachten einen Namen – wie wir noch sehen werden.* Wie ihre Könige und Adligen engagierten sich auch westliche Geschäftsleute bei Kreuzzügen und in den Kreuzfahrerstaaten. Für europäische Kaufleute bot die Welt der Kreuzfahrer dank der vielen Küstenstädte, die als Warenumschlagplätze den Seeverkehr aus dem östlichen Mittelmeer mit den Karawanenrouten der Seidenstraße über den Landweg nach Zentralasien und China verbanden, verlockende Geschäftsmöglichkeiten. Die Städte waren pulsierende Handelszentren: Es hieß, dass die Stadt Akkon im 13. Jahrhundert jährlich mehr Einnahmen erwirtschaftete als das Königreich England. Folglich siedelten sich in jeder größeren Stadt, die von den Kreuzfahrern erobert worden war, schon bald eine Kolonie oder mehrere Kolonien von Kaufleuten an, die mit Früchten, Honig und Fruchtmus, Rohrzucker, Baumwolle, Leinen, Kamelhaarstoffen und Wolle ihr Geld verdienten, mit Glaswaren und exotischen Waren, die über weite Distanzen gehandelt wurden, wie indischer Pfeffer oder ­chinesische Seide.22 (Ein versunkenes Kreuzfahrerschiff, das 2019 vor der israelischen Küste entdeckt wurde, enthielt vier Tonnen Bleibarren, die beim Bau oder bei der Herstellung von Waffen zum Einsatz kamen.)23 Besonders geschäftstüchtige und rücksichtsloses Händler kamen aus den mächtigen Handelsstädten Norditaliens: Genua, Pisa und Venedig. Diese Kaufleute verfügten über große Erfahrung beim Betreiben von Handelsposten in der Fremde – unter anderem gab es seit vielen Jahren italienische Kolonien in Konstantinopel.** Die Bedeutung dieser Handelsposten war so groß, dass man sich normalerweise darauf verlassen konnte, dass die Genueser, Pisaner und Venezianer zur Stelle waren, wenn es darum ging, die Verteidigung ihrer wirtschaftlichen Vorteile zu finanzieren. 1122 bis 1125 kommandierte der Doge von Venedig persönlich eine Flotte mit hundertzwanzig Schiffen, um die Seewege für Kaufleute zu ­sichern, und beteiligte sich an der Einnahme der Stadt Tyros (im heutigen

*

Richard führte beim Dritten Kreuzzug ein eigenes Kontingent. Eduard besuchte das Königreich Jerusalem, bevor er 1272 den englischen Thron bestieg. ** Siehe Kapitel 10.

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Libanon). Dafür wurden die Venezianer mit einem Drittel der Einnahmen der Stadt belohnt, und zwar dauerhaft, außerdem erhielten sie für ihre dortigen Geschäfte erhebliche Steuererleichterungen. Solche Regelungen waren durchaus üblich. Immer wieder tauchten in den zweihundert Jahren, in denen die Kreuzfahrerstaaten im Osten bestanden, Pisaner, Genuesen und Venezianer in ihren eleganten Kriegsgaleeren und Schiffen für den Truppentransport auf, um die Verteidigung der für sie kommerziell wertvollen Städte zu verstärken oder um sich gegenseitig Handelsvorteile abzujagen. Und zu guter Letzt gab es noch die Ritterorden, die in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts zum Schutz der Pilger im Heiligen Land entstanden und zu denen etwa der berühmte Johanniterorden und der Templerorden gehörten. Beide wurden in Jerusalem unmittelbar nach dem Ersten Kreuzzug gegründet und waren als eingeschworene Bruderschaften frommer Ritter konzipiert, deren Mitglieder sich verpflichteten, auf ihren persönlichen Besitz zu verzichten, nach einer quasi klösterlichen Regel zu leben, die Keuschheit, Armut und Gehorsam betonte, und sich der medizinischen Versorgung verletzter oder kranker Pilger zu widmen ( Johanniter) oder sich um die Sicherung von Wegen und Straßen zu kümmern (Templer). Im Unterschied zu den eigentlichen Mönchsorden behielten die Mitglieder der Ritterorden jedoch ihre Waffen und setzten ihr Kampf­ training fort, um ihren Pflichten in einer gefährlichen Umgebung nachzukommen, die Feinde Christi mit Lanze und Schwert anzugreifen und, wenn ­nötig, als Spezialkräfte in der königlichen Armee Jerusalems zu dienen. Das Konzept der Ritterorden, das die beiden bis dahin getrennten Rollen von Ritter und Mönch kombinierte, schien zunächst paradox. Doch es gewann die Unterstützung der Kirche, was größtenteils der Fürsprache Bernhards von Clairvaux zu verdanken war – des energiegeladenen Zisterzienserabtes, den wir in Kapitel 6 kennengelernt haben. Bernhard und sein Protegé Papst Eugen  III ., der 1145 zum Pontifex gewählt worden war, waren fasziniert von der Vorstellung, das dekadente Rittertum zu reformieren, ähnlich wie die Zisterzienser versucht hatten, den ­behäbig gewordenen Benediktinerorden mit seinem laxen Mönchtum zu reformieren. Entsprechend förderten sie die Templer und vor allem deren ersten Großmeister Hugo von Payns; in den 1120er und 1130er Jahren ge-

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nehmigte Eugen den Templern ihre offizielle Ordensregel, ihren typischen weißen Waffenrock und Umhang mit dem großen roten Kreuz sowie massive Steuererleichterungen und andere Freiheiten im Zuständigkeitsbereich der Kirche. Ausgestattet mit einer päpstlichen Genehmigung, einer vielversprechenden finanziellen Grundlage, auf der man aufbauen konnte, um Spenden und weitere Einkommensquellen aufzutun, und jeder Menge Aufgaben im Heiligen Land, gedieh der Templerorden prächtig. Die Zahl der Mitglieder stieg massiv. Reiche Förderer in ganz Europa und im ­Nahen Osten ließen ihnen einträgliche Güter, andere Einkommensquellen und sonstige Unterstützung zukommen. Und sie bauten ein Netz aus klosterähnlichen Häusern in fast jedem christlichen Gebiet auf, in denen die nicht kämpfenden Ordensmitglieder arbeiteten, um den militärischen Zweig im Osten zu finanzieren. Der Johanniterorden lehnte sich eng an das Vorbild der Templer an, später folgten noch der Deutschritterorden und eine Reihe kleinerer spanischer und portugiesischer Ritterorden. Zusammen bildeten diese Ritterorden den Kern einer permanenten Kreuzritterarmee im Heiligen Land und auf der Iberischen Halbinsel. Sie wurden zu Experten im Bau und bei der Bemannung großer Burgen – wie die gewaltigen Festungen Krak des Chevaliers (im heutigen Syrien) und Château Pèlerin (in Israel) oder die fast uneinnehmbaren Festungen Castillo de Monzón (Spanien) und in Tomar (Portugal) bezeugen. Im Lauf der Zeit übernahmen die Ritterorden immer mehr Verantwortung. Das ging so weit, dass die Kreuzzugsbewegung im 14. Jahrhundert fast schon einem privaten Unternehmen glich. Davor mussten sie jedoch wiederholt in ­Aktion treten, da die Kreuzfahrerstaaten durch die Angriffe ihrer feind­ lichen Nachbarn massiv unter Druck gerieten.

Wiederkehr Lange bevor Ibn al-Athir den Erfolg der Kreuzfahrer auf die Uneinigkeit der islamischen Welt zurückführte, argumentierte der christliche Kleriker Fulcher von Chartres ganz ähnlich. Fulcher nahm am Ersten Kreuzzug teil und gehörte als Kaplan von König Balduin  I . zu denen, die noch lange nach dem Ende des Kreuzzugs im Osten blieben. In seiner offiziel-

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len Geschichte des Kreuzzugs, auch bekannt als Gesta Francorum («Taten der Franken») oder Historia Hierosolymitana. Gesta Francorum Iherusalem Peregrinantium, wie der volle Titel lautet, staunte Fulcher, dass die Kreuzfahrer überhaupt überlebt hatten. «Es war ein wundervolles Mirakel, dass wir unter so vielen Tausenden und Abertausenden lebten und als deren Eroberer einige zu Tributzahlungen verpflichteten und andere ruinierten, indem wir sie ausplünderten und sie gefangen nahmen», schrieb er.24 ­Fulcher nahm um das Jahr 1128 letzte Korrekturen an seiner Chronik vor und starb anscheinend bald darauf. Zu der Zeit waren die Kreuzfahrerstaaten noch jung und expandierten. Wenn Fulcher länger gelebt hätte, hätte er gesehen, wie sich das Blatt wieder wendete. Die Probleme begannen in den 1140er Jahren, als ein türkischer Hauptmann und Politiker namens Imad ad-Din Zengi die Stadt Edessa angriff – die Hauptstadt des kleinsten und verwundbarsten Kreuzfahrerstaats. Edessa lag weit von der Küste entfernt, auf halber Strecke zwischen der von den Lateinern gehaltenen Stadt Antiochia und Aleppo, dessen Statthalter Zengi war. Allein aufgrund der geografischen Lage war Edessa also ein leichtes Ziel. Zengi stand in dem Ruf, zu viel zu trinken und seine Soldaten wie seine Gegner extrem grausam zu behandeln, er war aber auch ein brillanter Stratege mit dem Ehrgeiz, so viele syrische Städte wie möglich unter seiner Führung zu vereinen. Edessa den Kreuzfahrern abzunehmen, war für ihn weniger eine religiöse Verpflichtung als vielmehr Teil eines Masterplans, aus den Bruchstücken des syrischen Teils des Seldschukenterritoriums ein Reich zu schaffen, über das er selbst herrschen konnte. 1144 erschien Zengi mit seinen Truppen, Belagerungstürmen und professionellen Tunnelbauern vor Edessa. Die Mineure unterhöhlten die Stadtmauern, während die Artilleristen aus riesigen Katapulten, sogenannten Mangonellen, Geschosse auf die Einwohner niederhageln ließen. Die Türken brauchten nicht lange, um den Widerstand Edessas zu brechen. Als sie die Stadt stürmten, brach Panik unter den Bewohnern aus, Frauen und Kinder wurden im Gedränge zu Tode getrampelt. Für Zengi war es ein nützlicher Sieg. Doch für die Kreuzfahrer war der Fall der Stadt eine Katastrophe. Der Gebietsverlust war die eine Sache, viel schlimmer war jedoch das Gefühl, dass Gott ihnen fast ein halbes Jahrhundert nach den Siegen von 1096 bis 1099 seine Gunst entzogen hatte.

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Als die Nachricht von der Kapitulation Edessas Europa erreichte, löste sie große Bestürzung aus. Doch sie bot auch eine Chance. Papst ­Eugen  III . hatte nicht gerade eine beschauliche Amtszeit. Er hatte mit dem anhaltenden Schisma und mit Versuchen zu kämpfen, einen Gegenpapst zu ihm zu installieren. In den Straßen von Rom kam es zu Aufständen. Aus Frankreich wurde gemeldet, dass häretische Prediger Stimmung gegen die Kirche machten. All diese Probleme waren ziemlich beunruhigend, und wie Urban  II . hatte Eugen das Gefühl, dass er etwas brauchte, auf das er sein Papsttum stützen und so politische Unterstützung gewinnen konnte. Die Lösung war für ihn ein weiterer Kreuzzug. Der Zweite Kreuzzug orientierte sich bewusst am Ersten. Dieses Mal war die treibende intellektuelle und rhetorische Kraft Eugens Mentor Bernhard von Clairvaux. Gemeinsam formulierten die beiden einen brillanten Aufruf zu ihrem Projekt. Es sei nun eine Generation her, dass Jerusalem erobert wurde, argumentierten sie, und in dieser Zeit seien Christen überall vom rechten Weg abgekommen und von der Opferbereitschaft, die einst so glänzende Siege hervorgebracht habe. Es sei Zeit, wieder zu den Grundlagen zurückzukehren. Jetzt sei für Adlige und Ritter in ganz Europa der Moment gekommen, zu beweisen, «dass die Tapferkeit der Väter in den Söhnen nicht weniger vorhanden ist».25 Das könnten sie am besten, wenn sie die Taten ihrer Väter wiederholten – und zwar so ­genau wie möglich. An Ostern 1146 predigte Bernhard diese Botschaft bei einer Synode in Vézelay, die Urbans Synode in Clermont zum Vorbild hatte. Obwohl Bernhard zu der Zeit vom strengen Fasten dünn und schwach war, besaß er immer noch ein unglaubliches Charisma. Ein Chronist schrieb, Bernhard habe «den Tau des göttlichen Wortes fließen lassen [und] mit einem lauten Aufschrei auf jeder Seite begannen die Leute, Kreuze zu verlangen».26 In einer bravourösen Darbietung zerriss Bernhard seine Kutte, um die Fetzen unter den Anwesenden zu verteilen. Die Menge rief natürlich «Deus vult». In den folgenden Wochen wurde in ­einem populären französischen Lied beteuert, ein Kreuzzug sei der sichere Weg ins Paradies, denn «Gott hat ein Turnier zwischen Himmel und Hölle organisiert».27 Wieder einmal löste die Ankündigung im gesamten Westen eine enorme Kreuzzugsbegeisterung aus. Und natürlich waren all die üblichen Elemente vorhanden. Auf Bernhards Aufruf zum Kreuzzug

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(gestützt von einer Papstbulle mit dem Titel Quantum praedecessores) folgte eine Flut von Predigten und Verhandlungen mit möglichen mili­ tärischen Anführern. Ritter und Zivilisten ohne Ausbildung meldeten sich in Scharen. Und wie zuvor verwandelte sich die Begeisterung der Bevölkerung in Fanatismus, Bigotterie und antisemitische Attacken, bei denen eine neue Generation von Juden im Rheinland zusammengeschlagen, ausgeraubt, verstümmelt, geblendet, ermordet oder so lange schikaniert und verfolgt wurde, bis viele Selbstmord begingen. Das war eine historische Wiederaufführung in grotesken Ausmaßen. Und es sollte noch weitere tragische Konsequenzen geben. Ein Unterschied zwischen dem Ersten und dem Zweiten Kreuzzug bestand bei der Beteiligung weltlicher Herrscher. Während Urban 1096 nur Grafen und Bischöfe dazu bewegen konnte, seine Truppen zu führen, gelang es Bernhard von Clairvaux und Eugen  III . in den 1140er Jahren, zwei der größten Könige zu überzeugen, die Leitung zu übernehmen.* Als Bernhard in Vézelay predigte, trat einer dieser Könige zu ihm auf die Bühne: Ludwig VII . von Frankreich (reg. 1137–1180). Bald darauf gab auch der deutsche König Konrad  III . (reg. 1138–1152)** Bernhards diplomatischem Druck nach und verpflichtete sich zum Kreuzzug. Die Beteiligung zweier so mächtiger Monarchen war ein erheblicher Pluspunkt. Seit ­Sigurd von Norwegen hatte kein König mehr an einem Kreuzzug teil­ genommen – noch dazu hatten die beiden die militärische und finanzielle Stärke der alten fränkischen Territorien zur Verfügung. Kaum vorstellbar, dass ein solches Unternehmen scheitern könnte.28 Doch es scheiterte tatsächlich. Nach einem vielversprechenden Auftakt war der Zweite Kreuzzug in praktisch jeder Hinsicht eine Katastrophe. Die Könige brachen um Ostern 1147 standesgemäß auf: Konrad

* Trotz Bernhards prominenter Rolle als Kreuzzugsprediger und seiner zahlreichen Schriften über das Kämpfen im Heiligen Land reiste er selbst nie dorthin, sondern betrachtete lieber die Zisterzienserabtei von Clairvaux als sein eigenes persönliches Jerusalem. ** Konrad wurde nie zum Kaiser gekrönt, obwohl er sich selbst gern als «König der Römer» gab.

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machte viel Aufhebens darum, seinen Sohn Heinrich zum König krönen zu lassen, falls er nicht zurückkommen sollte; Ludwig brach in Paris auf, nach prachtvollen, würdigen Feiern in der Abtei von Saint-Denis, be­ gleitet von seiner Frau Eleonore von Aquitanien, einer Abordnung der Tempelritter und Zehntausenden Pilgern. Doch schon bald sollten sich gravierende Schwierigkeiten auftun. Die Könige hatten beschlossen, fast wortwörtlich in die Fußstapfen der ersten Kreuzfahrer zu treten und dem Lauf der Donau zu folgen, dann durch den Balkan nach Konstantinopel zu ziehen, weiter quer durch Kleinasien und anschließend Richtung ­Süden bis nach Nordsyrien. Die Route hatte einen gewissen poetischen Reiz und erfüllte Bernhards und Eugens Forderung, die Leistung von 1096 bis 1099 zu wiederholen. Doch seitdem hatte sich die Lage verändert. Was in den 1090er Jahren noch unwahrscheinlich gewesen war, war nun unmöglich. Der neue byzantinische Kaiser, Manuel I . Komnenos (reg. 1143– 1180), hatte die Kreuzfahrer nicht gerufen, wollte sie nicht auf seinem Terri­torium und unternahm nur das Allernötigste zu ihrer Unterstützung. Der neue «Sultan von Rum» – Kilij Arslans Sohn Mas ’ ud – hatte Kleinasien noch fester im Griff als sein Vater. Sowohl Konrads als auch Ludwigs Heer wurde bei der Durchquerung Kleinasiens von türkischen Kriegern attackiert: Im Oktober 1147 kämpfte Konrad bei Doryläum gegen die Türken, doch dieses Mal erlitten die Kreuzfahrer eine vernichtende Niederlage, zudem verlor Konrad den Großteil seines Trosses. ­Einige Monate später, im Januar 1148, konnte König Ludwig VII . mit seiner Frau nur knapp entkommen, als sein eigenes Heer beim Berg Cadmus (Honaz) in einen Hinterhalt geriet. Als endlich alle Syrien erreicht hatten, war Ludwig praktisch pleite und beide Heere hatten bereits Tausende Männer verloren. Noch dazu hatten sie es mit einem neuen Gegner zu tun. Zengi war tot, er war von einem verärgerten Diener erstochen worden, als er benommen vom Alkohol in seinem Zelt lag. Die Rolle als treibende Kraft zur Einigung ­Syriens wurde von seinem brillanten Sohn übernommen, Nur ad-Din, der nicht die Absicht hatte, zuzulassen, dass die Kreuzfahrer seine Pläne zunichtemachten, in einem muslimischen Nahen Osten die Ordnung wiederherzustellen. Edessa war damit verloren, und die Hoffnung auf andere Gebietsgewinne gering.

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Konrad und Ludwig hielten sich mehrere Monate im Heiligen Land auf und versuchten verzweifelt, eine Strategie zu entwickeln, mit der sie das Gesicht wahren und wenigstens einen Teil der immensen Kosten und Strapazen des Kreuzzugs wieder wettmachen konnten. Was ihnen schließlich einfiel, war schlimmer, als wenn sie untätig geblieben wären. Im Juli versuchten sie zusammen mit dem König von Jerusalem, Balduin  III . (reg. 1143–1163), die mächtige Stadt Damaskus zu belagern. Es wurde ein Fiasko. Die Kreuzfahrer schafften es nicht einmal, bei den Obsthainen in den unbefestigten Vororten der Stadt durchzubrechen, bevor sie sich untereinander zerstritten und durch Gegenangriffe in die Flucht geschlagen wurden. Die Belagerung war nach nicht einmal einer Woche vorüber. Da nichts mehr zu tun blieb, bestieg Konrad eilends ein Schiff und trat die Heimreise an. Ludwig blieb noch sechs Monate in Jerusalem, die er mit dem Besuch der heiligen Stätten und Beten verbrachte, bevor er an Ostern 1149 wieder abreiste. Zu der Zeit hatten sich er und seine Frau Eleonore von Aquitanien bereits voneinander entfremdet. Für Eleonore war der Kreuzzug von Langeweile und Elend geprägt gewesen; Abwechslung hatte nur die Gesellschaft ihres Onkels Raymond geboten, des Fürsten von Antiochia, mit dem sie, so lautete später der Vorwurf, angeblich eine inzestuöse Affäre gehabt hatte.29 1152 wurde die Ehe annulliert, und Eleonore heiratete Heinrich Plantagenet, den künftigen englischen König Heinrich II . – eine Verbindung, die für Ludwig desaströs war und immer wieder zu Kriegshandlungen zwischen Engländern und Franzosen führte, die erst 1453 endgültig beigelegt wurden.* Es war die abschließende Schmach am Ende eines Kreuzzugs, der weniger ein blasses Abbild des Ersten Kreuzzugs war als vielmehr eine schreckliche Parodie. Und damit war die Geschichte noch nicht zu Ende.

* Durch die Ehe mit Heinrich  II. verband Eleonore Aquitanien mit der englischen ­anstelle der französischen Krone. Der Streit, wem das Herzogtum (und sein spät­ mittelalterlicher Nachfolger, die Gascogne) wirklich «gehörte», wurde erst auf dem Höhepunkt des Hundertjährigen Krieges in der Schlacht bei Castillon am 17. Juli 1453 entschieden.

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Nach dem Scheitern des Zweiten Kreuzzugs ließ das Interesse des Westens an weiteren Kreuzzügen im Osten für mehrere Jahrzehnte deutlich nach. Die Ritterorden gewannen weiter an Einfluss, und kleine Gruppen von Kriegern reisten weiterhin als bewaffnete Pilger nach Syrien und Palästina. Die Könige von Jerusalem zogen derweil eine Expansion Richtung Ägypten in Betracht, wo die Regierung der schiitischen Kalifen und ihrer Wesire in Kairo zunehmend korrupt und fragil war. Doch für viele in Europa boten sich bessere Gelegenheiten, für Christus zu kämpfen, die deutlich näher bei ihrer Heimat lagen. In Spanien und Portugal wurde die Reconquista zügig vorangetrieben. 1147 hatte eine Gruppe englischer und französischer Kreuzfahrer, die per Schiff unterwegs waren, um sich den Franzosen und Deutschen beim Zweiten Kreuzzug anzuschließen, auf ihrem langen Weg ins Heilige Land auf der Iberischen Halbinsel Station gemacht und Lissabon eingenommen, das unter muslimischer Herrschaft stand  – ein wichtiger Meilenstein bei der Eroberung des Westens der Iberischen Halbinsel und der Entstehung des Königreichs Portugal. Die Almoraviden, die im 11. Jahrhundert so siegreich durch al-Andalus gefegt waren, befanden sich mittlerweile in einem Zustand des Niedergangs; sie waren bei einer Revolution in Marokko abgesetzt und von den Almohaden abgelöst worden, die einer noch strengeren muslimischen Glaubensrichtung anhingen. Diese Instabilität machte die Iberische Halbinsel zum idealen Kriegsschauplatz, und den Kriegern, die dorthin reisten, um im Namen Christi in die Schlacht zu ziehen, wurde von Papst Eugen  III . ausdrücklich der Status eines Kreuzfahrers (und die damit verbundene Vergebung der Sünden) verliehen. Darüber hinaus eröffnete sich für die Kreuzzüge noch eine dritte Front. Als Bernhard von Clairvaux in Deutschland für den Zweiten Kreuzzug warb, baten ihn sächsische Adlige um Erlaubnis, vor der eigenen Haustür auf Kreuzzug zu gehen, also anstatt im Heiligen Land zu kämpfen, Gebiete im heutigen Norddeutschland und Westpolen zu kolonisieren, in denen damals heidnische slawische Stämme lebten, die unter dem Namen Wenden zusammengefasst wurden. Bernhard hatte zugestimmt und die Wenden als Ungläubige und Feinde Gottes bezeichnet, die bekehrt oder vernichtet werden müssten, wie er es unverblümt formu-

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lierte. Damals hatte der Wendenkreuzzug nur begrenzte Auswirkungen, doch die Bedeutung für spätere Generationen war enorm. Der Feldzug war begrenzt und konnte im Vergleich zu den Kampagnen unter könig­ licher Führung in Syrien oder zu den Schlachten der Reconquista keine große Teilnehmerzahl vorweisen, doch seine Einstufung als Kreuzzug war ein bedeutendes Ereignis in der mittelalterlichen Geschichte, weil dadurch die Kolonialisierung und Bekehrung Nordeuropas als Heiliger Krieg dargestellt wurde. Die «nördlichen Kreuzzüge», die darauf abzielten, die Heiden in die Kirche zu zwingen, ihr Volk zu taufen und ihr Land zu rauben, wurden bis ins 15. Jahrhundert fortgesetzt.30 Angesichts dieser Entwicklung erscheint es fast seltsam, dass die Kreuzzüge im Osten nach dem gescheiterten zweiten Versuch nicht völlig zum Erliegen kamen. Das lag maßgeblich an einem kurdischen Politiker und Feldherrn namens Salah ad-Din Yusuf ibn Ayyub – heute besser bekannt als Saladin. Auch heute noch ist Saladin einer der berühmtesten, berüchtigtsten und umstrittensten Figuren der mittelalterlichen Geschichte.31 Um das Jahr 1138 geboren, entstammte er einer wohlhabenden kurdischen Familie und stieg im Dienst Nur ad-Dins schnell auf. Er etablierte sich als zu­ verlässiger Verwalter und übernahm viele Einsichten des älteren Mannes zur Politik in der zerrissenen Levante, wo Nur ad-Din in den 1150er und 1160er Jahren damit beschäftigt war, aus den unabhängig voneinander agierenden Stadtstaaten innerhalb der seldschukischen Welt ein zusammenhängendes Reich zu bilden. In den 1160er Jahren wurde Saladin nach Ägypten geschickt. Dort kämpfte er mehrere Jahre gegen König Amalrich  I . von Jerusalem, der seinen Einflussbereich auf das Nildelta aus­ dehnen wollte. Doch gleichzeitig war Saladin Teil einer Gruppe innerhalb der ägyptisch-muslimischen Welt, die still und leise die Macht der Fatimiden untergrub, der schiitischen Herrscher, die Ägypten seit 969 regierten. 1171 konnte Saladin den letzten Fatimiden-Kalifen im Rahmen einer ­Palastrevolte stürzen. Politisch unterstand Ägypten nun Nur Ad-Din in Syrien, in religiöser Hinsicht dem sunnitischen Abbasiden-Kalifen in Bagdad. Das war für sich genommen schon eine Leistung (die Saladin ­allerdings die dauerhafte Verachtung der schiitischen Welt einbrachte). Doch Saladin war noch nicht fertig. Bei Weitem nicht.

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Als Nur ad-Din 1174 starb, hinterließ er eine heikle politische Lage. Im Verlauf eines Vierteljahrhunderts hatte er in mühevoller Kleinarbeit eine Art geeintes Syrien geschaffen. Doch ohne seine persönliche Führung bestand die Gefahr, dass alles wieder auseinanderbrechen und die Ordnung verloren gehen würde. Saladin machte es sich zur Aufgabe, Nur ad-Dins Erbe zu übernehmen. Und durch eine Kombination aus gewagten militärischen Manövern und diplomatischem Geschick erreichte er genau das – und mehr. Ende der 1180er Jahre hatte er ein Reich zusammengefügt, das einen Großteil Syriens und ganz Ägypten unter seiner persönlichen Herrschaft vereinte. Der Abbasiden-Kalif erkannte ihn als Sultan an. Seine ­Familie übernahm wichtige Posten in der Regierung. Und mit seinem ­zunehmenden Prestige begann Saladin, sich als Retter des Islam darzustellen: Ein Dschihad-Krieger, der nicht für seinen persönlichen Vorteil, sondern für das Wohl aller Muslime kämpfte. Zu einem guten Teil sollte das davon ablenken, dass Saladin viele Jahre seines Lebens damit verbrachte, andere Muslime zu bekämpfen und zu töten. Dennoch war er mit zunehmendem Erfolg von einem Gefühl erfüllt, das ein islamischer Autor als «Eifer für den Heiligen Krieg gegen die Feinde Gottes» bezeichnete.32 In der Praxis hieß das, dass er seine Aufmerksamkeit und seine Militär­ einsätze gegen die führende christliche Macht in der Region richtete: den Kreuzfahrerstaat Jerusalem. In den 1180er Jahren beäugten sich Saladin und die Herrscher Jeru­ salems argwöhnisch. Zu jener Zeit war das Reich der Kreuzfahrer von ­Krisen um die Nachfolge und internen Streitigkeiten geplagt, während Saladin damit beschäftigt war, seine Stellung in Syrien zu festigen.* Eine

* Die Konflikte rührten aus der Zeit, als König Balduin IV. 1174 König von Jerusalem wurde. Er litt unter einer besonders schmerzhaften und kräftezehrenden Form von ­Lepra, an der er bereits in jungen Jahren verstarb. Balduin war körperlich stark und sehr tapfer, dennoch fehlte es dem Königreich während seiner Herrschaft an Führung. Nach seinem Tod 1185 folgte ihm sein Neffe als Balduin V. auf den Thron, der 1183 als Sechsjähriger zum Mitkönig gekrönt worden war. Der Junge starb jedoch nur ein Jahr nach Balduin, womit die Krone an seine Mutter Sybille und ihren damaligen Ehemann ging, den allgemein verachteten Guido von Lusignan. Die dynastischen Wirren aufseiten der Kreuzfahrer ermutigten natürlich ihre Feinde, darunter auch Saladin.

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Zeit lang war keine Seite bereit, einen richtigen Krieg zu riskieren, weshalb ein brüchiger Friede mithilfe einer Reihe von Waffenstillständen gewahrt wurde. Doch 1187 fühlte sich Saladin stark genug für einen Angriff. Er nutzte einen Überfall, den der Kreuzfahrer Rainald von Châtillon auf eine muslimische Karawane verübt hatte, als Vorwand und attackierte das Königreich Jerusalem mit «Truppen, deren Zahl nicht gezählt werden kann».33 Zum Zusammenstoß kam es am 3. und 4. Juli, als Saladin den glücklosen und unbeliebten König Guido I . von Jerusalem und eine Armee, die fast die gesamte Militärmacht von Guidos Königreich umfasste, zu den Doppelgipfeln eines erloschenen Vulkans lockte, den Hörnern von Hattin am Nordende des Sees Genezareth. Dort schnitten Saladins Männer Guidos Truppen von jeglicher Wasserversorgung ab, steckten Büsche und Unterholz der heißen, ausgedörrten Landschaft in Brand und ritten sie dann nieder. Im Verlauf der Schlacht wurde das Heer der Kreuzfahrer praktisch ausgelöscht, Guido gefangen genommen und das Wahre Kreuz – die kostbarste Reliquie der christlichen Welt – erbeutet und seitdem nie wieder gesehen. Nach der Schlacht wurden zweihundert Templer und Johanniter – die Elitetruppe – von Saladins Höflingen und Klerikern rituell enthauptet. In den folgenden Monaten eroberte Saladin praktisch jede Kreuzfahrerstadt an der levantinischen Küste, darunter auch den wichtigen Handelshafen Akkon. Im Oktober belagerte er Jerusalem, das überwiegend von Frauen und Jugendlichen verteidigt wurde, weil die Garnison der Stadt in der Schlacht von Hattin ausgelöscht worden war. Nachdem sie eher symbolisch Widerstand geleistet hatten, ergaben sie sich. Saladin ­verweigerte seinen Truppen demonstrativ die Plünderung der Stadt oder gar ein Massaker an der Bevölkerung. Doch die Einnahme Jerusalems ­erschütterte die gesamte westliche Welt. Und sie führte zum letzten wirklich ernsthaften Kreuzzug im lateinischen Königreich: zum Dritten Kreuzzug. Dieser Kreuzzug, zu dem mit einer Dringlichkeit aufgerufen worden war, die von der tiefen Demütigung (die an eine existenzielle Krise grenzte) herrührte, wurde von einer neuen Generation von Kriegerkönigen angeführt: Philipp  II . von Frankreich und Richard Löwenherz von England. Sie bereiteten ihr Reich zügig auf einen Krieg vor; Richard etwa

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versteigerte öffentliche Ämter und erhob eine zehnprozentige Einkommensteuer, den sogenannten Saladin-Zehnten. Gleichzeitig ließ er große Mengen an Waren und Waffen für die Reise gen Osten einlagern. Dutzende Lords und Kirchenleute unterstützten den Krieg zur Rettung von Gottes Königreich. Doch diesmal fühlte sich niemand verpflichtet, sich streng an das Vorbild früherer Kreuzfahrer zu halten. Der deutsche Herrscher und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, Friedrich Barbarossa, der es mit der Überlandroute versuchte, ertrank beim Baden in einem Fluss in Kleinasien. Richard und Philipp reisten derweil per Schiff, legten einen Zwischenstopp auf Sizilien und Zypern ein und stritten bereits unterwegs, waren sich der Bedeutung ihrer Mission jedoch zweifellos bewusst. Als Glücksbringer, der den kriegerischen Heldenmut von König Artus heraufbeschwören sollte, nahm Richard ein Schwert mit, das den Namen Excalibur trug. Philipp und Richard erreichten das Heilige Land 1191 und konnten in den folgenden Monaten Akkon zurückerobern. Während Philipp bald wieder nach Frankreich heimkehrte, führte Richard ein großes Heer die levantinische Küste hinunter, massakrierte Gefangene, lieferte sich Gefechte mit Saladins Truppen und eroberte weitere Städte zurück. Aber selbst Richard – der größte Feldherr seiner Zeit – war erfolglos, wenn es um die Stadt Jerusalem ging. Zweimal marschierte er auf Jerusalem zu, zweimal kehrte er um, abgeschreckt von der aufwendigen langen Belagerung, die erforderlich gewesen wäre. Am nächsten kam er Jerusalem noch dadurch, dass er versuchte, eine bemerkenswert fortschrittliche ZweiStaaten-Lösung für ganz Palästina auszuhandeln, bei der das Königreich gemeinsam von seiner Schwester Johanna und Saladins Bruder al-Adil (auch als Saphadin bekannt) regiert werden sollte. Die Verhandlungen ­kamen jedoch ins Stocken, weil sich das Paar nicht auf die religiösen Bedingungen für die Eheschließung einigen konnte, und schließlich verlief das Projekt – wie der gesamte Kreuzzug – im Sande. Jerusalem blieb in Saladins Hand. Und die Kreuzfahrer verfuhren wie immer: Entweder ­ließen sie sich im Heiligen Land nieder oder reisten wieder ab.*

* Philipp II., dessen Verhältnis zu Richard sich bereits auf der Reise nach Osten massiv verschlechtert hatte, kehrte dem Kreuzzug direkt nach dem Fall Akkons verär-

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Im Jahr 1192 war das Kreuzfahrerreich gerettet  – allerdings in einer a­ nderen Form als bisher. Durch das Eingreifen der Teilnehmer des Dritten Kreuzzugs war es nicht ausgelöscht worden. Doch die Heilige Stadt war verloren, das Reich bestand nun aus einer Reihe von Hafenstädten, die von Händlern und Kaufleuten dominiert wurden, und Festungen im Inland, die von den Tempelrittern und Johannitern gehalten wurden. Die Grafschaft Tripolis und das Fürstentum Antiochia existierten weiterhin, jedoch in Hinblick auf ihre Größe und Macht ebenfalls in reduzierter Form. Alle drei sollten fast weitere hundert Jahre überstehen. Doch das Zeitalter, in dem Massen zum Kreuzzug nach Syrien und Palästina geströmt waren, war vorüber. In der Kreuzzugsbewegung vollzog sich ein tief greifender Wandel. Am Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert sollte sich der christliche heilige Krieg schon bald in ganz neue Richtungen entwickeln.

«Ein Abscheu erregendes Unternehmen» Papst Innozenz III., ein Mann mit langem Gesicht und messerscharfem Verstand, war 1198 im außergewöhnlich jungen Alter von siebenunddreißig Jahren ins Amt gewählt worden. Innozenz entstammte der italienischen Aristokratie und hieß ursprünglich Lotario dei Conti di Segni (Lothar aus dem Hause der Grafen von Segni). In seiner kurzen, aber erfolgreichen Laufbahn als Kirchenrechtler und Kardinal hatte er Ansichten über die Welt und den Kosmos entwickelt, die das Ergebnis vieler intensiver Überlegungen sowohl über die grundlegende Natur der menschlichen Existenz als auch über die Machtsysteme waren, die dem christlichen Universum zugrunde liegen. Zum ersten Thema hatte Innozenz eine philo­ sophische Polemik verfasst, De miseria conditionis humanae («Vom Elend

gert den Rücken. Richard erlitt nach seiner Abreise Ende 1192 Schiffbruch vor I­ strien (gehört heute zu Kroatien) und musste über Land weiterreisen, wurde dabei jedoch gefangen genommen und vom deutschen König und Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, Heinrich VI., in Haft gehalten.

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des menschlichen Daseins»),* in der er die Mühsal und das nicht nach­ lassende Elend der Menschen beschrieb. Trotz des düsteren Titels und pessimistischen Inhalts wurde De miseria zum mittelalterlichen Bestseller, der Hunderte Male abgeschrieben wurde und über Generationen im gesamten Westen im Umlauf war.34 Beim zweiten Thema, der Machthierarchie im Westen, war Innozenz ein überzeugter Anhänger der politischen Theorie von Mond und Sonne: eine astronomische Allegorie, die den Vorrang des Papstes in ­allen christlichen Reichen bekräftigte. Demnach war der Papst die Sonne, von der das Licht ausging, während königliche Herrscher (ins­ besondere die Kaiser des Heiligen Römischen Reichs) mit dem Mond verglichen wurden, der dieses Licht nur reflektierte. Sie waren also nicht gleichgestellt. 1198, gleich zu Beginn seiner Amtszeit, schrieb Innozenz:

* De miseria conditionis humanae lieferte eine Zusammenfassung des allgemeinen Elends der Menschheit in der langen Tradition, mit der auch die Hinwendung zu monastischen oder asketischen Orden begründet wurde. In einem weitgehend ab­ geleiteten, aber geschickt konstruierten Text beschrieb Innozenz den Schmerz und den Verfall, der mit der physischen Existenz des Menschen einhergeht, die mora­ lische Verwerflichkeit fast aller Menschen und die unvermeidlichen erniedrigenden Qualen nach dem Tod, wenn über einen Menschen Gericht gehalten wird und er in der Hölle landet. In einer typischen Passage aus dem ersten Teil des Buchs werden die abstoßenden Begleitumstände des Alterns geschildert: «Gelangt nun jemand ausnahmsweise bis zum Greisenalter, dann leidet sein Herz häufig unter seinen Schlägen, sein Kopf wackelt, sein Geist erschlafft und wird matt, sein Atem wird übelriechend. Das Gesicht wird runzlig und die Gestalt krümmt sich, die Augen werden dunkel und die Finger zittern, die Nase läuft und der Fluß der Tränen läßt sich nicht mehr aufhalten. Beständiges Zittern hindert den Tastsinn, und das, was er sich vornimmt, mißlingt. Die Zähne faulen und die Ohren werden taub … Deshalb sollen sich Greise nicht rühmen und nicht abwenden von der Jugend, noch sollen sich die Jungen übermütig über das Greisenalter erheben, denn das, was wir sind, war jener, und was dieser jetzt ist, werden wir dereinst auch sein.» (Lotario de Segni [Papst Innocenz  III.], De miseria conditionis humanae – Vom Elend des menschlichen Daseins, übers. und eingel. von Carl-Friedrich Geyer (Hildesheim 1990), S.49.

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Genau wie Gott, der Schöpfer des Universums, zwei große Gestirne ans Firmament des Himmels gesetzt hat, ein großes, um den Tag zu beherrschen, und ein kleineres für die Nacht, hat er ans Firmament der universalen Kirche, das durch den Namen Himmel bezeichnet wird, zwei große Autoritäten gesetzt, eine große, die … über die Tage der Seelen herrscht, und eine kleinere, die über die Nächte der Körper bestimmt. Das sind die Autorität des Pontifikats und die Autorität des Königs.35

Die Idee war nicht neu: Als Innozenz Papst wurde, rangen die Päpste schon seit fast vierhundert Jahren mit den Königen um die Vorherrschaft. Doch Innozenz ging in seinem Bemühen, hohe Philosophie in politische Realität zu verwandeln, weiter als praktisch jeder andere Papst in der Geschichte. Seine Amtszeit, die von 1198 bis zu seinem Tod 1216 dauerte, war eine Tour de Force legalistischer päpstlicher Staatskunst, bei der Innozenz versuchte, die Macht Roms über alles und jeden zu stellen – mit einigen außergewöhnlichen Resultaten. In Bezug auf die Kreuzzüge erfolgte Innozenz ’ Wahl vor dem Hintergrund des fehlgeschlagenen Versuchs der Rückeroberung Jerusalems beim Dritten Kreuzzug. Die europäischen Könige hatten daraus ihre Lehren gezogen, und so war ihnen schon beim Gedanken an einen weiteren Angriff auf Jerusalem ziemlich mulmig, auch nach Saladins Tod im März 1193. Der Dritte Kreuzzug hatte in ihren Augen gezeigt, wie außergewöhnlich schwierig es war, das Wunder von 1099 zu wiederholen. Doch das konnte Innozenz nicht vom Kreuzzugsgedanken an sich abbringen. Tatsächlich sollte kein anderer Papst nach Urban  II . eine so große Bedeutung für die Geschichte der Kreuzzüge haben wie Innozenz. Er griff das ins Stocken geratene Projekt des christlichen Heiligen Krieges wieder auf und passte es an ein neues Jahrhundert an. Wie Urban II . und Eugen III . vor ihm hatte Innozenz verstanden, wie nützlich der Kreuzzugsgedanke sein konnte, um die Macht des Papsttums zu stärken. Doch während seine Vorgänger diese Waffe größtenteils gegen Feinde außerhalb der christ­lichen Welt gerichtet hatten, setzte sie Innozenz auch gegen ihre inneren Feinde ein. Er nutzte Kreuzzüge nicht nur für die Verfolgung von Muslimen und Heiden, sondern auch von Häretikern und Andersdenkenden in der christlichen Welt. Damit vollzog er einen folgenschweren Kurswechsel. Durch Innozenz er-

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lebte das 13. Jahrhundert eine explosionsartige Zunahme der Kreuzzugs­ predigten in der gesamten westlichen Welt. Doch es erlebte auch – unter anderem bedingt durch Innozenz ’ Neuausrichtung – den Niedergang und schließlich das Ende der Kreuzfahrerstaaten im ­Nahen Osten. Der erste von Innozenz ’ Kreuzzügen begann in gewohnter Art und Weise. Das sollte sich jedoch bald ändern. Kurz nach seiner Wahl zum Papst gab I­ nnozenz eine Bulle heraus (bekannt als Post miserabile), in der er die jungen ritterlichen Männer des Westens aufrief, den Verlust ­Jerusalems und des Wahren Kreuzes zu rächen, «die bedauernswerte Invasion jenes Landes, auf dem einst die Füße Christi standen».36 Diese Aufforderung passte gut zu dem Gerücht, dass der Teufel vor Kurzem in Kairo geboren worden sei, das die Menschen in ganz Europa beunruhigte und viele überzeugte, die Apokalypse sei in vollem Gang. Und sie veranlasste eine kleine Gruppe westlicher Adliger (darunter die Grafen von Flandern, der Champagne und von Blois) und ihre Lehnsleute, einen erneuten Eroberungsversuch des Heiligen Landes zu planen. Dieser Vierte Kreuzzug war ein wagemutiger und ambitionierter Vorstoß, bei dem eine große Flotte mit Kriegsschiffen nach Alexandria im Westen des ägyptischen Nildeltas segeln sollte. Dort sollte ein Heer an Land gehen, das sich bis hinauf nach Palästina vorkämpfen und Jerusalem vom Süden anstatt vom Norden aus befreien sollte. Es war ein kühner, wenn nicht sogar visionärer Plan. Allerdings erforderte er etwa zweihundert Kriegsschiffe und eine Flotte von Transportschiffen mit kompletter Be­ satzung und zusätzlich ein Heer mit etwa dreißigtausend Mann für die Kämpfe. Diese logistischen Herausforderungen sollten dem Vierten Kreuzzug zum Verhängnis werden.37 Für den Bau der Galeerenflotte wandten sich die Franzosen an die ­Republik Venedig, deren Einwohner selbst als langjährige Kreuzfahrer galten und stolz auf ihre frommen Taten waren, aber auch ein großes finanzielles Interesse am Fortbestehen der Kreuzfahrerstaaten als Handelsposten hatten. Nach harten Verhandlungen einigte man sich zum Jahresbeginn 1201 mit dem Dogen von Venedig – dem blinden, neunzigjährigen Enrico Dandolo –, dass Venedig die Schiffe liefern würde. In nur einem Jahr wurden diese in den Werften Venedigs gebaut, mit Lebensmitteln,

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Wein und Pferdefutter beladen und waren bereit zur Abfahrt. Innozenz verfolgte die Fortschritte und erklärte sich zufrieden. Leider ließen die französischen Grafen dann ihn – und alle anderen – im Stich. Im Frühsommer 1202 hätten sie dreißigtausend Mann und 85 000  Mark Silber ­bereitstellen sollen, um die Schiffe zu bemannen und vor allem auch zu bezahlen. Doch als der Frühsommer kam, war klar, dass die Franzosen weder das eine noch das andere hatten. Sie hatten weniger als ein Drittel der versprochenen Armee aufgestellt und nur knapp die Hälfte des Geldes aufgebracht. Das war nicht nur eine diplomatische Katastrophe  – der ­Republik Venedig drohte der Bankrott. Daraufhin traf Enrico Dandolo eine schicksalshafte Entscheidung. Anstatt das Vorhaben abzusagen, weitete er es noch aus. Er übernahm praktisch selbst das Kommando über den Kreuzzug. Im Oktober 1202 legte er sein Kreuzzugsgelübde ab, wobei er sich das Kreuz an den Hut und nicht an die Schulter heftete. Ein paar Tage später verließ die Flotte den Hafen, mit seiner persönlichen Galeere in Zinnoberrot und Silber an der Spitze. Sie stachen in See, um die Verluste der Stadt wieder wettzumachen. Anstatt nach Alexandria zu segeln, folgten die Venezianer zusammen mit den französischen Verbündeten, die tatsächlich gekommen waren, der adriatischen Küste, die heute zu Kroatien gehört. Vor der christlichen Stadt Zara (Zadar) gingen sie vor Anker, weil diese die Venezianer einige Jahre zuvor mit ihrer Weigerung gekränkt hatte, der Repu­ blik Tribut zu zahlen, und sich stattdessen dem christlichen König von Ungarn unterstellt hatte. Trotz lautstarker Proteste der Einwohner, die Banner mit Kreuzen an die Stadtmauern als Zeichen dafür hängten, dass viele von ihnen selbst das Kreuzzugsgelübde abgelegt hatten, nahmen die Venezianer und Franzosen sie mit ihren Katapulten unter Beschuss, bis sie schließlich kapitulierten und die Stadttore öffneten. Die Invasoren rückten in die Stadt ein und überwinterten dort auch gleich auf Kosten der Einwohner; im Frühjahr 1203 verließen sie die ausgeplünderte Stadt wieder, nachdem sie zuvor die Mauern eingerissen und sämtliche Gebäude mit Ausnahme der Kirche niedergebrannt hatten. Der Mönch Gunther von Pairis schrieb in seiner Geschichte des Vierten Kreuzzugs von einem «Abscheu erregenden Unternehmen».38 Innozenz  III . sah das auch so, als er davon erfuhr, gab jedoch, nachdem er gedroht hatte, alle

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­ eteiligten zu exkommunizieren, nach und ließ die Kreuzfahrer mit der B Warnung davonkommen, das nicht noch einmal zu tun. Doch leider kam es zu einer Wiederholung – in einem Ausmaß, das man sich kaum vor­ stellen konnte. Die nächste Stadt, die sie heimsuchten, war ebenfalls eine christliche Hochburg. Und zwar die größte christliche Stadt der Welt: Konstantinopel. Die Kreuzfahrer waren ursprünglich von den Bitten eines törichten jungen Mannes nach Konstantinopel gelockt worden: von Prinz Alexios, dem Sohn des früheren byzantinischen Kaisers Isaak  II . Angelos. Isaak war 1185 nach einem Staatsstreich an die Macht gekommen und hatte die folgenden zehn Jahre seiner Herrschaft damit verbracht, sie wieder zu ­verspielen. Er wurde von seinem Bruder (Alexios III . Angelos) abgesetzt, geblendet, eingesperrt und im Kerker seinem Schicksal überlassen. Dieser Bruder war nun an der Macht, an ihm wollte sich der neunzehnjährige Alexios rächen. Kein Versprechen schien ihm zu abwegig, daher hatte er sich an die Anführer des Vierten Kreuzzugs gewandt und ihnen, ohne eine Miene zu verziehen, 200 000 Mark Silber angeboten; außerdem versprach er, eine dauerhafte Garnison mit fünfhundert Rittern im Königreich Jerusalem zu unterhalten und die Stadt Konstantinopel der religiösen Autorität des Papstes in Rom zu unterstellen – und dafür mussten die Kreuzfahrer ihn nur auf den Thron bringen, von dem sein Vater gestürzt worden war. Das Angebot war eindeutig zu schön, um wahr zu sein, doch die Kreuzfahrer griffen zu. Im Juni 1203 tauchte die von Venedig angeführte Flotte in Sichtweite der Königin aller Städte auf. Sie sollte dort fast ein Jahr lang bleiben. In dieser Zeit nahmen die Ereignisse einen chaotischen Verlauf  – und gerieten schließlich völlig außer Kontrolle. Im Sommer 1203 floh ­Alexios III . aus der Stadt. Isaak wurde aus seinem Kerker geholt und wieder auf den Thron gesetzt, während sein Sohn als Alexios IV . den Mitkaiser spielte. Damit wäre der Auftrag der Kreuzfahrer in Konstantinopel theoretisch erfüllt gewesen. Doch wieder einmal hatten sich die Venezianer mit einem Herrscher eingelassen, der für die ihm gebotenen Leistungen nicht bezahlen konnte. Sie beglichen die Rechnung auf die harte Tour und plünderten die Kirchen der gesamten Stadt. Daraufhin kam es zu Aufständen und Straßenkämpfen zwischen den griechischen Einwohnern

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und den westlichen Besatzern. Im August loderten überall in der Stadt große Feuer. Die Flammen verzehrten 1,6 Quadratkilometer des antiken Stadtzentrums und drohten sogar, die Hagia Sophia und das Hippodrom zu zerstören. Schließlich wurde ein fragiler Frieden geschlossen, bei dem Alexios  IV . versprach, seine Schulden in Raten abzuzahlen. Gleichzeitig bot er den Venezianern weitere Aufträge im Kampf gegen seine Feinde in Thrakien und im gesamten Reich an. Doch im Dezember 1203 ging ihm erneut das Geld aus, und der greise venezianische Doge drohte dem jungen Kaiser mit seiner Absetzung. Am Ende musste Dandolo keinen Finger rühren. Ende Januar 1204 starb der alte Isaak, und Alexios wurde bei einem weiteren byzantinischen Staatsstreich auf Befehl eines Rivalen namens Alexios Dukas «Murtzuphlos» (eine Anspielung auf seine außergewöhnlich buschigen Augenbrauen) erwürgt. Im zeitigen Frühjahr versuchte Murtzuphlos, gegen die Venezianer durchzugreifen, und forderte ihren Abzug, ansonsten drohe ihnen der Tod. Doch die Venezianer lachten nur. Am 9. April nahmen sie die Stadt vom Meer aus unter Beschuss. Drei Tage später konnten sie Männer mit speziellen Brücken von den Masten ihrer Schiffe aus auf den Befestigungsmauern an Land setzen. Nachdem die Mauern zusätzlich noch aufgebrochen worden waren, stürmte das Kreuzfahrerheer mit all seiner Wucht in die Stadt und fiel über die Einwohner und ihren Besitz her. Häuser, Kirchen und Amtsgebäude wurden geplündert, Menschen vergewaltigt und ermordet. Nichts war den Plünderern heilig, auch nicht die vier antiken Bronzepferde, die das Hippodrom schmückten. Sie holten sie herunter und luden sie auf die venezianischen Schiffe. (Noch heute sind sie in Venedig im Museum des Markusdoms zu sehen.) In der Hagia Sophia tanzte eine Prostituierte aus dem Lager der Kreuzfahrer um den heiligen Thron des Patriarchen von Konstantinopel. Murtzuphlos floh aus der Stadt, wurde jedoch gefangen genommen und zurück in die Hauptstadt gebracht, wo er gefoltert und dann von der Theodosius-Säule gestürzt wurde. Als sein Körper zerschmettert am Boden lag, starb in gewisser Weise auch das Byzantinische Reich. Kein Grieche folgte an seiner Stelle auf den Thron, sondern es wurde der Kreuzfahrer Balduin von Flandern zum neuen lateinischen Kaiser von Konstantinopel ausgerufen. Unterdessen lehnten die Venezianer, nachdem sie ihre Auslagen für den

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Kreuzzug wieder hereingeholt hatten, eine Fortsetzung des Kreuzzuges ab. Sie wollten weder nach Alexandria noch an einen anderen Ort weiterziehen, sondern hoben die Anker und kehrten zurück nach Hause, um ­ihren Gewinn zu zählen. Der griechische Geschichtsschreiber Niketas Choniates nannte die ganze Sache «ungeheuerlich».39 Er hatte recht. Der Vierte Kreuzzug war eines der schändlichsten und unrühmlichsten Ereignisse des gesamten Mittelalters. Innozenz III . tobte und beklagte sich bitter. Doch bei aller Zerstörung und Wortbrüchigkeit hatten die Venezianer auch gezeigt, was unter dem Banner der Kreuzfahrer möglich war. Obwohl Innozenz nach der Plünderung und dem Fall Konstantinopels schimpfte und tobte, sollte er diese Erkenntnis schon bald voll ausschöpfen. Während seiner achtzehnjährigen Amtszeit rief Innozenz zu fünf weiteren Kreuzzügen auf, bereitete einen sechsten vor und regte zu einem siebten an. Keiner dieser Kreuzzüge führte nach Jerusalem. Innozenz orientierte sich in alle Himmelsrichtungen. In Spanien und Portugal drängte er die christlichen Könige der Region, sich zusammenzutun und gemeinsam gegen die Almohaden zu kämpfen. Sie kamen der Aufforderung pflichtschuldig nach und konnten 1212 mit der Unterstützung der Templer und Johanniter sowie von Kreuzfahrern von der anderen Seite der Pyrenäen den Almohaden-Kalifen al-Nasir in der Schlacht von Las Navas de Tolosa besiegen – ein Meilenstein der Reconquista, in dessen Gefolge die christlichen Mächte rasch nach Süden vordrangen und die ­Almohaden stetig Richtung Mittelmeer zurückdrängten. Weit entfernt im Norden Europas ermutigte Innozenz deutsche, dänische und andere skandinavische Territorialherren, Heiden im noch nicht bekehrten Teil Nordosteuropas anzugreifen  – eine Kampagne, die auch als LivlandKreuzzug bekannt ist und bei der alle christlichen Krieger, darunter auch die neu gegründeten Deutschritter, für ihren Einsatz bei der Kolonisierung der Gebiete im Baltikum Vergebung ihrer Sünden erlangen sollten. Diese Feldzüge hatten schlimme Folgen für die spanischen Muslime und die heidnischen Livländer. Doch noch revolutionärer war Innozenz ’ Anwendung des Kreuzzugsgedankens im Herzen Westeuropas. Während ­eines Streits mit König Johann von England über die Ernennung des Erzbischofs von Canterbury (es ging um Stephen Langton) bereitete Inno-

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zenz Dokumente vor (die er jedoch nie veröffentlichte), in denen er einen Kreuzzug gegen Johann genehmigte, den er wegen seines Ungehorsams und allgemeiner Widerborstigkeit exkommuniziert hatte. Etwa zur selben Zeit, 1209, rief er zum Kreuzzug gegen eine häretische christliche Sekte in Südfrankreich auf, deren Mitglieder als Katharer bekannt waren. Dieser Feldzug, der auch als Albigenserkreuzzug bezeichnet wird, da er größtenteils um die südfranzösische Stadt Albi stattfand, sollte zwanzig Jahre dauern.

Feinde im Innern Die Katharer, die Innozenz im Albigenserkreuzzug verfolgen ließ, waren in Europa mindestens seit den 1170er Jahren bekannt, als ihre Glaubensvorstellungen bei einer großen Versammlung der Kirchenführer, dem ­sogenannten Dritten Laterankonzil, zur «abscheulichen Häresie» erklärt wurden. Tatsächlich handelte es sich bei den Katharern um unorthodoxe Menschen, die die Tradition des christlichen Asketismus weit über das ­hinaus fortführten, was selbst Bernhard von Clairvaux ’ Zisterzienser entwickelt hatten. Ihre ersten Glaubensgrundsätze wurden noch allgemein gebilligt: Die Katharer betrachteten den menschlichen Körper als von ­Natur aus sündig und verabscheuungswürdig – eine Ansicht, die Innozenz, wie wir gesehen haben, einst voll und ganz geteilt hatte. Die einzige Möglichkeit, der Verderbtheit zu entkommen, bestand ihrer Meinung nach ­darin, strenge Grundsätze der Selbstverleugnung anzuwenden: sexuelle Enthaltsamkeit, vegetarische Ernährung und eine einfache, bescheidene Lebensführung. Darin unterschieden sie sich nicht allzu sehr von den ­Bettelorden, die etwa zur selben Zeit in Europa entstanden. Womit die Katharer jedoch die Trennlinie zwischen christlichem Asketismus und Häresie überschritten, war ihre Ablehnung der kirchlichen Hierarchie. Sie hatten ihre eigenen Priester und lehnten Eucharistie, Taufe und andere christliche Sakramente ab. Das war für die Kirche völlig inakzeptabel – vor allem für einen Papst wie Innozenz, der darauf fixiert war, in der Kirche eine strenge Kommando- und Kontrollstruktur durchzusetzen. Zudem waren die Katharer mit ihrer treuen Anhängerschaft in den Städten Südfrankreichs und Norditaliens beunruhigend nahe. Eine typisch

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katharerfreundliche Stadt war Viterbo, die 1205 Innozenz ’ Zorn zu spüren bekam, nachdem die Bürger mehrere Katharer in den Stadtrat gewählt hatten. «Ihr verrottet in euren Sünden wie ein Tier in seinem Dung», erklärte der Papst wütend.40 Doch mit Schmähbriefen konnte Innozenz den Katharismus nicht ausrotten, wie er feststellen musste. Der Katharismus war unkonventionell und extrem, doch er weckte in seinen Anhängern große Hingabe und Loyalität. Darüber hinaus drückten viele Terri­ torialherren in Südfrankreich  – darunter auch Raymond, der Graf von Toulouse – gern ein Auge zu, da die Häretiker bei aller Verschrobenheit keinen ersichtlichen Schaden am moralischen und religiösen Gefüge der Gesellschaft anrichteten. Also beschloss der Papst zu handeln. Denn wie er dem französischen König Philipp II . Augustus 1205 schrieb: «Wunden, die nicht auf heilende Umschläge reagieren, müssen mit der Klinge geöffnet werden.»41 1208 hatte der Papst seinen casus belli, als einer seiner bedeutendsten Diplomaten, Pierre de Castelnau, auf dem Rückweg von einem ergebnislosen Gespräch, das er mit Raymond von Toulouse über die Katharer ­geführt hatte, ermordet wurde. Binnen weniger Wochen wurde Pierre zum Märtyrer erklärt. Gleichzeitig sandte Innozenz Briefe an die Großen im Westen, in denen er erklärte, die Katharer seien «gefährlicher als die Sarazenen», und forderte, sie in einer gemeinsamen Aktion vom Antlitz der Erde zu tilgen.42 Im Sommer 1209 sammelte er ein Kreuzzugsheer in Lyon, um den Feinden Gottes ein für alle Mal den Garaus zu machen. Obwohl ein Kreuzzug auf christlichem Boden ein drastischer und beispielloser Schritt war, stieß die Maßnahme beim französischen König und nordfranzösischen Adel auf große Zustimmung. Der Süden Frankreichs war ihnen fast vollkommen fremd. Mit seinem anderen Klima und einer eigenen Sprache (dem Okzitanischen) hatte sich der Süden lange der Regierung durch den König entzogen. Für Philipp Augustus, der während seiner gesamten Herrschaft versuchte, die Autorität der Krone auszudehnen,* war das ein sehr unerfreulicher Zustand. Philipp selbst verspürte

* Dies hatte er in der Normandie bereits auf spektakuläre Weise erreicht, nachdem er den englischen Herzog der Normannen, König Johann, vertrieben und das Herzog-

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keinen großen Drang, persönlich am Kreuzzug teilzunehmen – die Erfahrungen, die er als junger Mann beim Dritten Kreuzzug gemacht hatte, reichten ihm völlig  –, doch er gewährte dem Vorhaben stillschweigend seine Unterstützung, weil er darin ein nützliches Mittel sah, die Auto­ nomie von Männern wie dem Grafen von Toulouse in seinem Reich zu ­beschneiden. Die Leitung des Feldzugs wurde einem erfahrenen Kreuzfahrer übertragen: Simon de Montfort, ein Veteran des Vierten Kreuzzuges und ein unermüdlicher, halsstarriger Fanatiker, dessen Antrieb im Leben darin bestand, Ungläubige abzuschlachten, wo immer er sie fand.* Der ­Albigenserkreuzzug bot ihm das perfekte Ventil für seinen Blutdurst. Ab Juni 1209 zogen Simon de Montfort und seine Mitstreiter zwei Jahre lang durch den Süden Frankreichs, belagerten Städte, die im Verdacht standen, Katharer zu beherbergen, und folterten deren Einwohner, verbrannten sie oder schlitzten sie auf. De Montfort jagte Häretiker in Städten wie Béziers und Carcasonne, Minerve und Castelnaudary und kannte keine Gnade, wenn er sie aufstöberte. Der Autor eines Gedichts, das als Cançon de la Crosada («Gesang vom Albigenserkreuzzug») bekannt ist, berichtet: «Das Morden war so groß … dass man noch bis zum Ende der Welt darüber sprechen wird.» Die Kreuzfahrer zogen durch das Land der Katharer und massakrierten dabei Tausende Bewohner, nur um sicherzustellen, dass kein Ketzer seiner Strafe entging. Sie sangen religiöse Hymnen wie «Veni Creator Spiritus» und warfen Frauen in Brunnen. 1210 ging die Zahl ihrer Opfer in die Zehntausende. Und de Montfort war noch lange nicht bereit aufzuhören. Tatsächlich war er so erfolgreich, dass

tum zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten unter die Kontrolle der französischen Krone gebracht hatte. * Hier geht es um Simon IV. de Montfort, der manchmal auch als Simon de Montfort der Ältere bezeichnet wird, um ihn von seinem Sohn Simon  V. de Montfort, dem Earl of Leicester, zu unterscheiden, der 1264/65 in England eine Rebellion anzettelte, in deren Verlauf König Heinrich  III. vorübergehend abgesetzt wurde. Simon der Ältere hatte den Vierten Kreuzzug nach dem Debakel von Zara verlassen und war auf eigene Faust nach Syrien weitergezogen, um dort zu kämpfen – weshalb er mit der Plünderung Konstantinopels 1204 nichts zu tun hatte und sein Ruf dadurch nicht beschädigt war.

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er ein eigenes Herrschaftsgebiet im Süden aufbauen konnte, bestehend aus den konfiszierten Ländereien derjenigen, die sich geweigert hatten, seine Maßnahmen gegen die Häretiker zu unterstützen. Ende 1212 verfügte er über ein beträchtliches Gebiet in Südfrankreich, für das er strenge und eigenmächtige Gesetze erlassen hatte, die sogenannten Statuten von Parmiers. Er kannte offenbar kein Halten mehr. 1213 versuchte er, seinen Kreuzfahrerstaat auf das Territorium Peters II . auszudehnen, des Königs von Aragón und Grafen von Barcelona, der auch über Gebiete nördlich der Pyrenäen herrschte. Peter war ein Held der Reconquista, der von ­Innozenz persönlich zum König gekrönt worden war und 1212 an der Schlacht gegen die Almohaden bei Las Navas de Tolosa gekämpft hatte. Doch das zählte für de Montfort nicht: Am 12. September 1213 verwickelte er Peter bei Muret, unweit von Toulouse, in eine Schlacht, vernichtete seine Armee und tötete ihn. Welche Gefahr auch immer die Katharer für die ­Einheit der Kirche bedeutet hatten: Kein Katharer war für den Tod ­eines Königs und Kreuzzugshelden verantwortlich. Die größte Bedrohung für die Ordnung in Südfrankreich ging mittlerweile von de Montfort aus. Innozenz war das entweder egal, oder er konnte de Montfort nicht mehr bändigen. Der Papst plante inzwischen einen Fünften Kreuzzug, der beim Vierten Laterankonzil 1215 verkündet werden sollte, mit der Stadt Damiette im Nildelta als Ziel. Und obwohl de Montfort die Vorbereitungen für diesen Kreuzzug störte, war er doch kein so großer Störfaktor, der Innozenz davon überzeugt hätte, die Verfolgung der Katharer einzustellen. Also ließ ihn der Papst weiterhin gewähren, und de Montfort war ­immer noch aktiv und am Leben, als Innozenz im Juni 1216 erkrankte und mit etwa fünfundfünfzig Jahren in Perugia starb. De Montfort konnte seine Rolle als Geißel der Katharer noch zwei Jahre ausleben, bevor auch er starb: Bei der Belagerung von Toulouse wurde er von einem Stein getroffen, den die Frauen der Stadt mit einem Katapult geschleudert hatten. Ein Glückstreffer. Doch der Schaden war nicht mehr rückgängig zu ­machen. Nach de Montforts Tod wurden die Katharerkriege von Philipp ­Augustus ’ Sohn Ludwig «dem Löwen» weitergeführt, der seinem Vater 1223 als Ludwig VIII . von Frankreich auf den Thron folgte. Ludwig setzte den Krieg gegen Häretiker im Süden bis Ende der 1220er Jahre fort, bis auch das allerletzte Streben nach Unabhängigkeit in der Grafschaft Tou-

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louse beseitigt war. Ob damit das Grundproblem der Häresie gelöst wurde, ist anzuzweifeln. Der Katharismus blieb im Süden bis ins 14. Jahrhundert lebendig, ohne die Moral und den Zusammenhalt der westlichen Gesellschaft in Gefahr zu bringen, falls er das überhaupt je getan hatte. Was auch immer der Albigenserkreuzzug in Hinblick auf eine poli­ tische Neuorganisation erreicht hatte, den Geist der Häresie an sich hatte er nicht ausmerzen können.* Allerdings war durch ihn der Anblick von Kreuzfahrern, die in den christlichen Reichen des Abendlandes aktiv kämpften, zur Normalität geworden. Im 13. und 14. Jahrhundert sah man dieses Bild immer häufiger.

Überall Kreuzfahrer Der von Innozenz geplante und beim Vierten Laterankonzil von 1215 verkündete Fünfte Kreuzzug erfolgte schließlich unter der Leitung seines Nachfolgers, Papst Honorius III ., hatte jedoch nur sehr begrenzten Erfolg. Trotz der Entsendung eines großen Heeres, das mit seinen überwiegend französischen und deutschen Kreuzfahrern die Stadt ­Damiette einnehmen sollte, erbrachte der von 1217 bis 1221 geführte Feldzug keine dauerhaften Gewinne. Damiette wurde zwar eingenommen, musste aber auch wieder aufgegeben werden, und der Versuch, die ägyptische Hauptstadt Kairo zu stürmen, wurde vom Sultan, Saladins Neffen al-Kamil, mühelos abgewehrt. Al-Kamil ließ das Nildelta fluten, ­wodurch die Kreuzfahrer im kräftezehrenden Sumpf stecken blieben. Zusammen mit dem fast identischen Kreuzzug nach Damiette, den der französische König Ludwig  IX . 1248 bis 1254 führte, war das der letzte und ziemlich stümperhafte Versuch des Westens, mit einem Massen­ aufgebot im Osten anzutreten. Die Verteidigung der früher eroberten Gebiete wurde zunehmend den Ritterorden überlassen, nur gelegentlich

* Das ist eins von vielen historischen Beispielen für die Sinnlosigkeit von Kriegen ­gegen abstrakte Vorstellungen, ähnlich wie heutzutage der Krieg gegen den Terror, der US-amerikanische Krieg gegen Drogen usw.

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unterstützt von unabhängigen Kampagnen, die einzelne Adlige organisiert hatten. Das bedeutete jedoch noch nicht das Ende der Kreuzzüge an sich. Das Zeitalter der großen Kampagnen war zwar vorüber, doch fanden Kreuzfahrer nach wie vor Gelegenheit, sich im kleineren Rahmen zu beweisen. In Spanien hatte der Sieg über die Almohaden in der Schlacht von Las Navas de Tolosa 1212 eine neue Phase der Reconquista eingeläutet, bei der die christlichen Mächte an Einfluss gewannen und sich stetig Richtung Süden vorarbeiteten, bis 1252 nur noch das Emirat von Granada unter ­islamischer Herrschaft stand. In Nordeuropa wurden Kreuzzüge praktisch zum Dauerzustand, da sich die Deutschritter in den Grenzgebieten niederließen und jährliche Angriffe gegen heidnische Gebiete im Baltikum führten, aus denen später das Herzogtum Preußen hervorging. Dabei sollten Ungläubige mit Gewalt bekehrt und neue Güter für weltliche christliche Herren und Bischöfe erobert werden. Der Prozess ging langsam ­vonstatten, hatte am Ende jedoch Erfolg, eine Zeit lang gab es sogar einen Ordensritterstaat im Baltikum, der sich vom heutigen Norden Polens bis nach Estland erstreckte. Gleichzeitig wurde der Kreuzzug, wie wir in Kapitel  9 noch feststellen werden, ein Mittel zur Verteidigung der ost­ europäischen Grenzen gegen eine neue Supermacht – die Mongolen. Doch während diese und andere Kreuzfahrer immerhin noch gegen Nichtchristen kämpften, legten im 13. Jahrhundert viele das Gelübde ab, in Christi Namen zu kämpfen, um am Ende Krieg gegen ihre eigenen Glaubensbrüder zu führen. Selbst der berühmt-berüchtigte Friedrich  II . von Hohenstaufen, Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, sollte zum Ziel eines Kreuzzuges werden. Friedrich war einer der bemerkenswertesten Männer seiner Zeit, der aufgrund seines scharfen Verstandes, seines politischen Genies und seiner Rastlosigkeit den Beinamen «das Staunen der Welt» (stupor mundi) erhielt. Aufgewachsen in Sizilien, wo er 1198 im ­Alter von drei Jahren König wurde, war Friedrich mit der arabischen Sprache und der islamischen Kultur ebenso vertraut wie mit seinem eigenen christlichen Glauben. Er hegte sein Leben lang großes Interesse an wissenschaftlichen Untersuchungen, Naturphilosophie, Mathematik und Zoologie und verfasste ein Buch zur Falknerei (De arte venandi cum avibus, «Über die Kunst mit Vögeln zu jagen»), das großes Ansehen genoss.

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1220 wurde Friedrich zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt und konnte so seine Autorität von Syrakus im Süden bis zur Grenze nach Dänemark im Norden ausdehnen. Selbst wenn man seine starke Persönlichkeit außer Acht lässt, war er der dominante säkulare Herrscher der christlichen Welt. Und als er sich der Sache der Kreuzfahrer annahm, konnte er spektakuläre Ergebnisse erzielen. Friedrich führte zwar nie einen Massenkreuzzug in den Osten, reiste jedoch Ende der 1220er Jahre nach Jerusalem, wo er sein gutes Verhältnis zum Sultan al-Kamil nutzte, um das zu erreichen, was viele für unmöglich gehalten und daher aufgegeben hatten: die Wiederaufnahme der christ­ lichen Herrschaft in der Heiligen Stadt. Nach persönlichen Verhandlungen zwischen Kaiser und Sultan, bei denen Friedrich sein diplomatisches Geschick unter Beweis stellte, kam ein Vertrag zustande, mit dem die christliche Souveränität anerkannt wurde, allerdings sollte den Muslimen ungehindert Zugang zum Haram al-Sharif gewährt werden, damit sie im Felsendom und in der al-Aqsa-Moschee beten konnten. Friedrich beanspruchte den Titel und die Krone des Königreichs Jerusalem für sich, überließ die täglichen Regierungsgeschäfte jedoch Statthaltern, bevor er nach Europa zurückkehrte. Obwohl dieses fragile Gleichgewicht zwischen den Mächten nur sechzehn Jahre hielt, verkörperte es eine wunderbar unparteiische und unblutige Lösung, für die Friedrich eigentlich Dank und Bewunderung gebührt hätte. Aber leider kam es ganz anders. Friedrich  II . lag fast sein ganzes Leben lang im Streit mit dem Papsttum und wurde viermal exkommuniziert, was an sich schon bemerkenswert ist. Tatsächlich war er sogar in dem Moment, in dem er 1229 in der Grabeskirche zum König von Jerusalem gekrönt wurde, theoretisch von allen Sakramenten der Kirche ausgeschlossen. In Papst Gregor  IX . (reg. 1227–1241), einem herrischen und missmutigen Mann, der aus demselben Holz geschnitzt war wie Innozenz  III . und der sich zum Ziel gesetzt hatte, die Ketzerei auszurotten, die Ungläubigen überall zu verfolgen und allen irdischen Fürsten klarzumachen, dass ihre Macht im Vergleich zur päpstlichen Oberhoheit nichts wert war, hatte Friedrich gar einen Todfeind gefunden. Aus Furcht, dass Friedrichs Herrschaft über Sizilien, Süditalien, Deutschland und die Lombardei die Dynastie der Staufer dazu verleiten könnte, die Päpste im Kirchenstaat einzukreisen und zu

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dominieren, bezichtigte Gregor den Kaiser wiederholt der Ketzerei und ermutigte andere Herrscher, in seinem Territorium einzufallen. Diese Feindschaft sollte auch über das Leben der beiden hinaus weiterbestehen: Von den 1240er Jahren bis in die 1260er Jahre predigten Päpste den Krieg gegen Friedrich und seine Nachfolger und ermutigten die Teilnehmer, im Austausch für ihr Gelübde, ins Heilige Land zu ziehen, im Westen zu bleiben und lieber gegen den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs zu kämpfen. Auch dabei könnten sie das Kreuz tragen und die Vergebung ­ihrer Sünden erlangen. Und so wurden die Staufer schließlich in die Knie gezwungen. 1268 verließ sie das Glück, als Friedrichs sechzehnjähriger ­Enkel Konradin, der den Titel des Königs von Jerusalem trug, während der Kämpfe um die Herrschaft über Sizilien von päpstlichen Verbündeten gefangen genommen, nach Neapel gebracht und enthauptet wurde. Eine größere Verzerrung – oder gar Perversion – des ursprünglichen Kreuzzugsgedankens ist kaum denkbar: Der lateinische König von Jerusalem wird in einem Krieg gegen den Papst enthauptet. Doch damals hatten sich die Dinge eben so entwickelt. Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts setzte der endgültige Niedergang der Kreuzfahrerstaaten im Osten ein. Die geopolitische Situation in Syrien und Palästina änderte sich radikal, was unter anderem auch an den Mongolen lag. 1244 wurde die Stadt Jerusalem von den Khwarezmiyya, einer Reitertruppe, die durch das Vorrücken der Mongolen aus Zentralasien vertrieben worden war, erobert und gebrandschatzt. Ab den 1260er Jahren begannen dann die Mamluken  – ehemalige türkische Militär­ sklaven, die in Ägypten zur Herrscherdynastie aufgestiegen waren –, die verbliebenen Festungen an der Küste und die Burgen des Königreichs ­Jerusalem, der Grafschaft Tripolis und des Fürstentums Antiochia nach und nach einzunehmen. Im Verlauf von drei Jahrzehnten machten sie die verwundbaren und vernachlässigten Kreuzfahrerstädte dem Erdboden gleich und belagerten im Mai 1291 schließlich die Stadt Akkon, deren letzte Verteidiger sich nach erbitterten Kämpfen per Schiff retten mussten. Danach wurde das lateinische Königreich Jerusalem nach Zypern verlegt und verlor immer weiter an Bedeutung. Die Kreuzzüge ins Heilige Land kamen zum Erliegen und mit ihnen

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die damit verbundenen Einrichtungen. Im frühen 14. Jahrhundert wurde der Templerorden von der französischen Regierung unter Philipp  IV ., dem «Schönen»,* auf zynische und systematische Weise unter dem Vorwand vernichtet, die Templer hätten sich Blasphemie, Sodomie und schweres Fehlverhalten zuschulden kommen lassen.43 Obwohl viele Autoren vom 14. bis zum 16. Jahrhundert von einem neuen Zeitalter träumten, in dem der Geist der Jahre 1096 bis 1099 wieder aufleben und die Christenheit Jerusalem zurückgewinnen würde, sollte es bis 1917 dauern, bis ein weiterer westlicher Feldherr durch die Tore schritt und die Heilige Stadt als Eroberer betrat: Edmund Allenby zog zu Fuß in die Stadt ein und übernahm dort nach der Vertreibung der Osmanen im Namen der Alliierten das Kommando. Die Kreuzzüge wurden dennoch fortgesetzt, in einigen Fällen sogar in ihrer ursprünglichen Form gegen nichtchristliche «Ungläubige». Die Deutschritter führten ihren Krieg gegen die Heiden im Baltikum bis weit ins 15. Jahrhundert weiter. Die Johanniter verlegten ihr internationales Hauptquartier nach Rhodos, von wo aus sie unter dem Deckmantel des Heiligen Krieges Seeschlachten führten und das Mittelmeer vor den Überfällen muslimischer Piraten aus Kleinasien und Nordafrika schützten. Und als das Osmanische Reich begann, nach Osteuropa vorzudringen, waren die christlichen Ritter mit Kreuzen auf der Rüstung zur Stelle. Doch genauso oft wurde der Kreuzzugsgedanke dazu benutzt, um jedem Krieg, den eine christliche Macht austrug, einen zusätzlichen Anstrich von Legitimität zu geben. Als Papst Alexander  IV . 1258 von seinen Verbündeten (darunter auch die Republik Venedig) verlangte, Krieg gegen Alberico da Romano, den Herrscher von Treviso, zu führen, sandte er ­einen päpstlichen Legaten nach Venedig, der auf dem Markusplatz zum Kreuzzug gegen Alberico aufrief  – wobei der Legat eine Schar nackter Frauen antreten ließ, von denen er behauptete, sie seien von Alberico ­sexuell missbraucht worden. Nicht lange danach, in den 1260er Jahren, erklärte Simon de Montfort der Jüngere, Sohn des gleichnamigen Anführers des Albigenserkreuzzugs, seinen Aufstand gegen den englischen König

* Siehe Kapitel 11.

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Heinrich  III . ebenfalls zum Kreuzzug.* Ein Jahrhundert später bezeichnete sich der Ururenkel Heinrichs  III ., John of Gaunt, der Herzog von Lancaster, als Kreuzfahrer, als er im Namen seiner Frau, der Tochter des ermordeten kastilischen Königs Peter «des Grausamen», die kastilische Krone beanspruchte und sich deshalb auf den Weg nach Spanien machte. In den 1380er Jahren führte der englische Bischof von Norwich, Henry Despenser, einen Kreuzzug gegen Flandern, bei dem angebliche Unterstützer des Gegenpapstes Clemens VIII . ausgemerzt werden sollten, es in Wirklichkeit aber um einen Feldzug im Hundertjährigen Krieg ging, dem langwierigen Konflikt zwischen der englischen und französischen Krone. Im 15. Jahrhundert gab es fünf Kreuzzüge gegen die Hussiten – Anhänger des böhmischen Häretikers Jan Hus, des Theologen, Kirchenkritikers und frühen Vertreters einer Bewegung, die als Reformation bekannt werden sollte.** Und 1493 berichtete der genuesische Entdecker Christoph Kolumbus nach seinem ersten Kontakt mit der Neuen Welt (wobei er noch nicht wusste, dass er auf die Inseln eines neuen Kontinents gestoßen war) mit Worten, die stark an die Rhetorik der Kreuzfahrer erinnerten, von einem Land mit vielen Heiden und großen Reichtümern, das im ­Namen der gesamten Christenheit beansprucht werden könne. Und das war bei Weitem nicht das letzte Mal, dass das K-Wort verwendet wurde. Der Kreuzzugsgedanke überlebte das Mittelalter und ist bis heute ein beliebtes Thema bei extremen Rechten, Neonazis und islamis­ tischen Terroristen, die alle an der äußerst fragwürdigen Vorstellung festhalten, Kreuzzüge würden seit über einem Jahrtausend die Beziehungen zwischen Christen und Muslimen bestimmen. Sie haben weder recht, noch sind sie mit ihrer Behauptung sonderlich originell. Der Kreuzzugsgedanke  – ein Bastard aus Religion und Gewalt, der ursprünglich für päpstliche Ambitionen gedacht war, aber mit der Zeit von allen möglichen

* Auslöser für de Montforts Aufstand war tatsächlich das törichte Versprechen Heinrichs III., einen Kreuzzug gegen die Staufer nach Sizilien zu führen, weil er glaubte, er könne den dortigen christlichen Herrscher absetzen und an dessen Stelle seinen Sohn Edmund zum König von Sizilien machen. ** Siehe Kapitel 16.

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Personen zu den verschiedensten Zwecken genutzt wurde – war eine der erfolgreichsten und dauerhaft toxischen Ideen des Mittelalters. Dass er schon so lange besteht, ist ein Zeichen für seine Genialität, aber auch für die Bereitschaft der Menschen damals und heute, sich im Namen eines höheren Zwecks in einen Konflikt zu stürzen.

Dritter Teil

Wiedergeburt Ca. 1215 bis 1347

9.

Mongolen «Sie kamen, sie fielen ein, sie brandschatzten, sie töteten, sie plünderten und sie zogen wieder ab …» Ata al-Mulk Dschuwaini über die Mongolen

I

n den ersten kühlen Monaten des Jahres 1221 trafen in der Stadt D ­ amiette im Nildelta merkwürdige Nachrichten aus dem Osten ein. Damiette war zu jener Zeit in der Hand eines internationalen Kreuzfahrerheeres. Vier Jahre lang hatten die Kreuzritter einen zähen Feldzug gegen den ­Sultan von Ägypten geführt und hatten zwar die Stadt eingenommen, aber sonst nicht viel mehr erreicht. Der Aufenthalt in Ägypten war heiß, teuer, strapaziös und unhygienisch. Der Ayyubiden-Sultan al-Kamil saß unerreichbar in Kairo, und weitere Gewinne auf seine Kosten schienen schwierig, wenn nicht sogar unmöglich. Viel Geld war ausgegeben und viele Leben waren geopfert worden für eine Position, die nun wie eine Sackgasse wirkte. Doch der Inhalt der Briefe, die in Damiette eintrafen, schien mit einem Mal alles zu ändern. Sie wurden von Bohemund  IV ., dem Fürsten von Antiochia, an die Kreuzfahrer weitergeleitet und handelten von Gerüchten, die über Gewürzhändler in die Kreuzfahrerstaaten gekommen waren, die sie wiederum bei ihren Geschäftspartnern entlang der Handelsrouten von Persien bis an die Westküste Indiens aufgeschnappt hatten. Demnach war ein ungemein mächtiger Herrscher namens «David, König der Indischen Inseln» durch die islamischen Reiche Zentralasiens vorgedrungen und hatte dabei alles in Schutt und Asche gelegt, was ihm in den Weg kam. König David hatte, so hieß es, bereits den Schah von Persien besiegt und gut befestigte und reiche Städte wie Samarkand, Buchara (beide im heutigen

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Usbekistan) und Ghazna (heute Ghazni in Afghanistan) eingenommen. Doch seine Eroberungslust war angeblich noch lange nicht befriedigt. Er drang nun unaufhaltsam nach Westen vor und vernichtete dabei erbarmungslos alle Ungläubigen. «Keine Macht der Welt kann ihm widerstehen», hörte ein Chronist. «Man glaubt, er sei der Vollstrecker der göttlichen Rache, der Hammer Asiens.»1 Der Mann, der diese Aufsehen erregenden militärischen Informationen in Damiette erhielt, war Jacques de Vitry, der Bischof von Akkon, ein umtriebiger Gelehrter und Kirchenmann, dessen Liebe zum Geschriebenen größer war als zu seiner Bischofsmitra aus Pergament.* De Vitry hatte ­guten Grund, den Berichten zu glauben. Etwa zur selben Zeit hatte eine kleine Gruppe Kreuzfahrer, die Monate zuvor bei den Kämpfen vor Damiette in Gefangenschaft geraten war, fliehen können und war in die Stadt zurückgekehrt. Sie hatten von einem unglaublichen Abenteuer erzählt. Nachdem sie von den Truppen des Sultans in Ägypten gefangen ­genommen worden waren, kamen sie als Kriegsgefangene an den Hof des Abbasiden-Kalifen in Bagdad. Von dort wurden sie als menschliche Geschenke an Diplomaten übergeben, die im Dienst eines mächtigen Königs weit im Osten standen. Dieser mächtige Herrscher hatte sie wiederum den ganzen Weg zurück nach Damiette geschickt, als Zeichen seiner Macht und seiner Großmut. Es war eine kuriose Geschichte, doch da die Kreuzfahrer bei ihrem Abenteuer in Regionen vorgedrungen waren, in denen keine europäischen Sprachen gesprochen wurden, hatten sie nicht richtig verstanden, was sie gesehen und gehört hatten. Trotzdem schien es angesichts der Umstände Grund zu der Annahme zu geben, dass ihr Retter niemand Geringeres als König David war. Erzbischof de Vitry verbreitete die Nachricht überall im Westen und schrieb persönlich an hohe Würdenträger wie den Papst, den Herzog von Österreich und den Kanzler der Universität von Paris.2 Der Kreuzzug sei gerettet, verkündete er: König David sei auf dem Weg und werde ihnen helfen, den ägyptischen Sultan zu vernichten. Durch die Vermi-

* Heute ein wertvolles Exponat im Musée Provincial des Arts Anciens in Namur, ­Belgien.

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schung verschiedener christlicher Prophezeiungen mit den zweifellos vorhan­denen Augenzeugenberichten der Kriegsgefangenen entschieden de Vitry und andere Kirchenmänner, dass dieser König David ein Nachkomme des Priesterkönigs Johannes sein müsse, eines sagenhaften christ­ lichen Kriegers und Herrschers. Zur Zeit ihrer Vorväter war von diesem Priesterkönig erzählt worden, der über ein nur vage bekanntes Land herrschte, das «die drei Indien» genannt wurde und dem Dutzende ­Könige tributpflichtig waren. Es hieß, er werde nach Jerusalem ziehen, «mit einem sehr großen Heer, wie es für die Größe unseres Ruhms angemessen ist, [um] die Feinde des Kreuzes Christi zu demütigen und zu bekämpfen».3 Zum Leidwesen der Kirchenleute war das nie geschehen, aus dem einfachen Grund, weil der Priesterkönig gar nicht existierte. Doch nun nahm man an, dass sein Sohn – oder vermutlich sein Enkel – auf dem Weg sei, um die Aufgabe zu erledigen. Wenn man der Kombination aus tatsächlichen militärischen Meldungen und Prophezeiungen glauben konnte, durften die Kreuzfahrer schon bald mit der Einnahme Alexan­ drias rechnen, darauf würde dann Damaskus folgen, und anschließend würde man sich König Davids Truppen anschließen und triumphierend in Jerusalem einziehen. Endlich schien sich die Lage zum Guten zu wenden. Aber natürlich kam es ganz anders. Als die Kreuzfahrer in Damiette, motiviert durch die angeblich bald eintreffende Verstärkung von König David, den erhofften Siegeszug antreten wollten und die Truppen des ­Sultans angriffen, wurden sie mühelos geschlagen und ertranken in den Fluten des aufgestauten Nils. Und als in den folgenden Jahren weitere Kreuzfahrer ins Heilige Land zogen, war von einem König David keine Spur zu sehen. Die Prophezeiungen eines unmittelbar bevorstehenden Sieges erwiesen sich als reine Fantasie, und schon bald wurde der Name König David nicht mehr erwähnt. Trotz allem waren die Gerüchte über König David nicht völlig aus der Luft gegriffen. Denn die indischen Gewürzhändler und Kriegsgefangenen unter den Kreuzfahrern hatten nicht gelogen, als sie von einem Herrscher berichteten, der aus dem Osten heranrückte und alle Truppen besiegte, die sich ihm in den Weg stellten. Sie hatten nur nicht gewusst, mit wem sie es zu tun hatten.4

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Den Mann, den sie für «König David» gehalten hatten, den Enkel des Priesterkönigs Johannes und Retter des christlichen Westens, war in Wirklichkeit Dschingis Khan (oder wie man in akademischen Kreisen sagen würde: činggis qaγan), ein Nomadensprössling aus der mongolischen Steppe, der zum erfolgreichsten Eroberer seiner Zeit aufsteigen sollte. In nur zwei Jahrzehnten hatte Dschingis eine gnadenlose und scheinbar unbesiegbare Kriegsmaschinerie aufgebaut und sie dann auf seine Umwelt losgelassen, von Korea bis Mesopotamien. Seine Eroberungen zerstörten die politischen Strukturen in Zentralasien und dem Nahen Osten und führten zum Untergang von zwei der größten Herrscherdynastien der ­östlichen Welt: der Jin in China und der Anuschteginiden, die das Choresmische Reich in Persien regierten. Und das war noch längst nicht alles. Von Dschingis Khans Aufstieg zu Beginn der 1200er Jahre bis 1259, als der von ihm durch Eroberungen geschaffene Superstaat offiziell in vier Bereiche aufgeteilt wurde, kontrollierten die Mongolen das größte zusammenhängende Landreich der Welt. Und obwohl ihre weltweite Vorherrschaft nur hundertfünfzig Jahre währte, kann das von ihnen geschaffene Reich durchaus einem Vergleich mit den antiken Reichen der Makedonier, Perser oder Römer standhalten. Ihre Methoden waren allerdings brutaler als die jedes anderen Weltreichs vor der Neuzeit. Die Mongolen schreckten nicht davor zurück, ganze Städte in Schutt und Asche zu ­legen, Völker auszulöschen, weite Gebiete zu verwüsten und blühende Metropolen in rauchende Trümmer zu verwandeln, um sie entweder nach ihrem Geschmack wieder aufzubauen oder sie von der Landkarte zu tilgen.5 Doch neben diesem abstoßenden Vermächtnis des Tötens, der Zerstörung und des Völkermords spricht für die Mongolen, dass sie den Handel und die Interaktionen der Menschen in ganz Asien und im Nahen Osten auf eine völlig neue Grundlage stellten. Strenge Ordnung und Kontrolle in den von ihnen eroberten Gebieten sorgten für eine relativ ruhige Pe­ riode des Friedens, die Historiker manchmal als Pax Mongolica bezeichnen. Sie ermöglichte weite Reisen über Land und erleichterte den Transfer von Technologien und Wissen zwischen Ost und West. Eventuell erleichterte sie aber auch, wie wir in Kapitel 13 noch sehen werden, die Verbreitung der verheerendsten Pandemie in der Geschichte der Menschheit. Die Mongolen entwickelten neue Instrumente für die Verwaltung eines

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Weltreichs: ein erstklassiges Postsystem, universale Gesetze, eine rationale Militärreform auf Grundlage des Dezimalsystems und extrem harte, aber effiziente Methoden bei der Planung von Metropolen. Ihr imperiales System setzte einen Standard, den es in diesem Ausmaß seit dem Untergang des Römischen Reichs nicht mehr gegeben hatte und bis zum 19. Jahrhundert auch nicht mehr geben sollte. Mehr als alle anderen Herrscher seit den vorchristlichen Römern waren die Mongolen weitgehend entspannt, was religiöse Dogmen betraf (allerdings verbot Dschingis Khan das Schächten von Tieren nach islamischer Vorschrift), und relativ flexibel bei der Duldung lokaler Sitten unter mongolischer Oberhoheit. Religiöse Führer wurden respektiert, ohne eine Glaubensrichtung oder Sekte zu bevorzugen. Aufgrund dieser und weiterer Merkmale schreiben Historiker den mongolischen Herrschern zahlreiche Errungenschaften zu, von der Revolutionierung des mittelalterlichen Bankwesens bis zum prägenden Einfluss auf die Weltanschauung der amerikanischen Gründerväter. Zu ihrer Zeit zogen sie neidische Bewunderung auf sich, aber auch nacktes Entsetzen. Die Geschichte des Mittelalters und die Entstehung des Westens lässt sich unmöglich ohne die Mongolen erzählen. Daher werden wir mit ihrem Gründervater beginnen: Temüdschin, dem armen Jungen aus der Steppe, der zu Dschingis Khan wurde.

Dschingis Khan Nach der Geheimen Geschichte der Mongolen – die wenige Jahre nach Dschingis Khans Tod entstand und daher zeitnah (wenn auch nicht immer zuverlässig) über sein Leben berichtet  – stammte der große Er­ oberer ursprünglich von einem «blaugrauen Wolf, dessen Schicksal vom Himmel bestimmt war», und einer falben Hirschkuh ab.6 Zu seinen menschlichen Vorfahren gehörten angeblich ein Zyklop, der kilometerweit sehen konnte, und unzählige Krieger nomadischer Stämme in den sanft geschwungenen Ebenen im Norden der heutigen Mongolei, die in Zelten lebten, mit den Jahreszeiten umherzogen und jagten oder andere Stämme überfielen, um zu überleben. Um das Jahr 1162 wurde ein Baby in der Nähe des Heiligen Bergs Burchan Chaldun geboren, das einmal zu

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Dschingis Khan werden sollte, und das, wie es hieß, «mit einem Blutklumpen in seiner rechten Hand … so groß wie ein Spielknöchel» zur Welt kam.7 Das Baby wurde Temüdschin genannt, weil sein Vater, ein berühmter Krieger aus dem Clan der Borjigin, gegen die Todfeinde der Mongolen gekämpft hatte, die Tataren, und dabei einen wertvollen Gefangenen mit diesem Namen gemacht hatte. Doch als Temüdschin neun war, vergifteten die Tataren seinen Vater. Der Junge und seine sechs Geschwister wurden von ihrer Mutter Höelün allein großgezogen – eine schwierige Aufgabe, die noch härter wurde, als die Familie von ihrem Stamm abgewiesen wurde und sich allein durchschlagen musste. Sie lebten von wilden Früchten und kleinen Tieren wie Murmeltieren, die in der mongolischen Steppe heimisch sind. Nicht gerade ein verheißungsvoller Start ins Leben. Zum Glück waren die Bedingungen in der Steppe, als Temüdschin und seine Familie harte Zeiten durchmachten, ungewöhnlich günstig. ­Untersuchungen alter Bäume in den Nadelwäldern der zentralen Mongolei haben gezeigt, dass das Wetter in der Region genau zu der Zeit, in der Temüdschin aufwuchs, in fünfzehn aufeinanderfolgenden Jahren mild war und reichlich Niederschläge bot.8 Eine so angenehme Wetterperiode hatte es in der Region seit tausendeinhundert Jahren nicht mehr gegeben. Das Gras wuchs üppig, und mit ihm gediehen die Menschen und Tiere, die davon lebten. Temüdschin und seine Familie überstanden die harten Jahre in der Wildnis, und als der Junge etwa fünfzehn war, hatte er gelernt, wie man reitet, kämpft, jagt und überlebt. Schließlich wurden er und seine ­Familie von ihrem Stamm wieder aufgenommen. Temüdschin erwarb Tiere, ließ sie weiden, lebte von ihrem Fleisch und ihrer Milch und heiratete ein Mädchen namens Börte, die erste von mindestens einem Dutzend Frauen und Konkubinen, die sein ger (die traditionelle mongolische Jurte, ein Zelt aus Filz) im Lauf seines Lebens besuchten, oft auch gleichzeitig. Er war kräftig und energiegeladen, mit durchdringenden Augen wie die einer Katze. Mit der Zeit arbeitete er sich in der Nomadengesellschaft nach oben. Zurückweisungen prägten ihn und beeinflussten noch Jahre später seinen Führungsstil. Temüdschin wuchs zu einem außergewöhnlich harten und selbstdisziplinierten Mann heran, dem Loyalität mehr ­bedeutete als alles andere: Er duldete keinen Verrat und reagierte heftig, wenn man ihn zurückwies, ihm Widerstand leistete oder ihn ausbremste.

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Das Leben in der Steppe drehte sich um das Weiden und Zusammentreiben der Tiere, und die Politik basierte auf komplexen und sich regelmäßig verändernden Allianzen zwischen den Stämmen. Immer wieder kam es zwischen ihnen zu Kriegen, in denen sich Temüdschin als hervorragender Kämpfer erwies. Mit Mitte zwanzig hatte er sich so großes Ansehen erworben, dass er zum Anführer (khan) einer Stammesföderation namens Khamag Mongol ernannt wurde. Dank dieser prominenten Position konnte Temüdschin Zehntausende berittene Krieger mobilisieren, wenn er Krieg gegen benachbarte Stämme führte – zu seinen Gegnern gehörte auch sein Kindheitsfreund und Schwur- und Blutsbruder Dschamucha, den er besiegte und als Strafe für seinen Verrat tötete. Gegen Ende des 12. Jahrhunderts war Temüdschin einer der begabtesten Anführer in der Region. Die Maßnahmen, die seinen Erfolg begründeten, waren einfach, aber effektiv. Neben seinem persönlichen Talent als Krieger und seinem Geschick beim Heiraten (beides wichtige diplomatische Instrumente in der Steppe) hatte er einige radikale Reformen in der traditionellen mongolischen Organisation der Stämme und beim Militär durchgeführt. Ähnlich wie Mohammed die zerstrittenen arabischen Stämme im 7. Jahrhundert geeint hatte, erkannte Temüdschin, dass Sippen- und Blutsbande genauso oft entzweien wie verbinden können, und er, wenn er sie schwächte und stattdessen die direkte Verbindung zu sich stärkte, ein Ganzes schaffen konnte, das viel stärker war als die einzelnen Bestandteile. Dazu waren einige einfache, aber wichtige praktische Maßnahmen erforderlich. Unter anderem führte Temüdschin ein starkes Element der Meritokratie in seine Militärorganisation ein. Die mongolische Gesellschaft hatte ursprünglich eine hierarchische Organisation, die auf Abstammung und Vermögen gründete. Temüdschin brach mit dieser Tradition. Er suchte seine Verbündeten und militärischen Anführer allein ­aufgrund ihres Talents und ihrer Loyalität aus. Dann gab er seinen Männern das Kommando über standardisierte Truppen. Die Grundeinheit war eine Kompanie von zehn Männern, Arban genannt, die aus sechs leichten berittenen Bogenschützen und vier schwer gepanzerten Lanzenkämpfern bestand. Zehn dieser Kompanien bildeten ein Zuun, zehn Zuun ein Mingahan. Die größte Einheit mit zehntausend Männern war

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ein Tumen. Entscheidend für die Geschlossenheit des Militärs insgesamt war, dass die Einheiten nicht auf Stammesstrukturen basierten. Ihre Zusammensetzung ging quer durch Familien und Clans.9 Wenn Männer ­einer Einheit zugeteilt waren, konnten sie nicht mehr wechseln – sonst drohte die Todesstrafe. Doch wenn sie zusammen ritten und siegten, konnten sie mit Münzen, Frauen und Pferden als Belohnung rechnen – den drei begehrtesten «Währungen» der Steppe. Außerhalb des Militärs konzentrierte sich Temüdschin während seiner Herrschaft darauf, die Bindung innerhalb der Gesellschaft zu stärken. In diesem Punkt erinnerte er ein wenig an den großen byzantinischen Kaiser Justinian. Eine Gesetzessammlung namens Jasaq oder Jassa verpflichtete alle Menschen im Mongolenreich dazu, nicht zu stehlen und andere nicht zu versklaven, sich an strenge Vorgaben der Gastfreundschaft und Großzügigkeit zu halten, die Autorität des Khans über alles andere zu stellen und Vergewaltigung, Sodomie, das Waschen der Kleidung bei Gewitter und das Urinieren in Wasserquellen zu verurteilen. Wer Temüdschin oder seine Gesetze nicht achtete, dem drohten harte, meist auch tödliche Strafen, die ohne Rücksicht auf Gefühle umgesetzt wurden: Gewöhnliche Untertanen wurden bei Verstößen mit dem Schwert enthauptet, Hauptleuten oder Anführern wurde das Genick gebrochen, um sie ohne Blutvergießen zu töten. Härte war ein durchgängiges Merkmal mongolischen Verhaltens. Bei Feldzügen und Eroberungen folgten Temüdschin und seine Feldherren strikten und brutalen Regeln. Völker oder Städte, die sich den Mongolen sofort ergaben, wurden in die Gemeinschaft aufgenommen. Doch der kleinste Hinweis auf Widerstand oder Ungehorsam genügte für ein Massaker und eine Politik der verbrannten Erde. Rivalen, die mongolische ­Gesandte misshandelten, mussten damit rechnen, persönlich zu Tode gehetzt zu werden. Gemeinschaften, die falsche Angaben zu ihrem Vermögen machten, drohten massenhafte Tötungen, die noch dazu auf groteske und exemplarische Art durchgeführt wurden. Damit wurden gleich zwei Ziele verfolgt: Temüdschin war klar, dass der Kampfgeist seiner Feinde bei seinem bloßen Heranrücken bröckeln würde, wenn sie wussten, dass ihnen der sofortige Tod drohte, falls sie sich nicht ergaben. Zweitens sorgte die Vernichtung aller Gegner mit Ausnahme derjenigen, die sich

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ihm komplett unterwarfen, dafür, dass Temüdschin Kriege mit relativ kleinen Truppenkontingenten gewinnen konnte, weil er nicht viele Soldaten zur Kontrolle der eroberten Gemeinschaften zurücklassen musste. Diese Herrschaft durch Terror wurde jedoch durch ein überraschendes Maß an Toleranz gegenüber denjenigen ausgeglichen, die die Mongolen am Leben gelassen hatten. Clans und Stämme, die sich den Mongolen unterwarfen, wurden aktiv integriert. Von ihren Männern wurde erwartet, dass sie sich dem Militär anschlossen, während Frauen und Kinder in die Gemeinschaft aufgenommen wurden. Die meisten Religionen wurden ­toleriert – eine Tatsache, die mit der Ausdehnung des Mongolenreichs zunehmend an Bedeutung gewinnen sollte. (Temüdschin war allgemein von Religionen fasziniert und betrachtete sie nicht als Konkurrenz, sondern als nützliche Ergänzungen zum mongolischen Schamanismus.)10 So konzipierte Temüdschin schon früh in seiner Laufbahn eine mongolische Welt, die sich durch eine überwältigende Militärmacht auszeichnete, aber auch durch ein starkes Maß an erzwungenem sozialem Zusammenhalt. Viele Diktatoren nach ihm hatten ähnliche Ideen. Nur wenige sollten ihre Ziele mit so verheerendem Erfolg wie Temüdschin verfolgen oder erreichen. Um das Jahr 1201 war Temüdschins Khamag Mongol die mächtigste Koalition in ihrem Teil der Steppe. Fünf Jahre später hatte Temüdschin alle anderen benachbarten Mächte besiegt, darunter die Keraiten, Naimanen, Tataren und Uiguren. Alle verbeugten sich vor seinem Namen – der 1206 zu Dschingis Khan wurde (im weiteren Sinne «ungestümer Herrscher»), als ihm der Rat der Stammesfürsten, der sogenannte Kuriltai, den Titel in Anerkennung seiner außergewöhnlichen Eroberungen verlieh. In der Geheimen Geschichte der Mongolen heißt es dazu: «Nachdem sie auf diese Weise die Völker in den Filzwandzelten zu Getreuen gemacht hatten, versammelten sie sich im Tiger-Jahr [1206] an der Quelle des Flusses Onan,* pflanzten die neunzipflige weiße Fahne [Temüdschins] auf und

* Der Onon (oder «Onan» wie in der Quelle) im Norden der Mongolei fließt in nordöstlicher Richtung ins heutige Russland und vereinigt sich dort mit einem anderen Fluss zur Schilka.

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gaben dort dem Cingis Qahan den Titel Qan.»11 Dschingis trug den Beinamen völlig zu Recht, die Mongolen, die er befehligte, waren der Schrecken der Steppe. Oder wie es ein verzweifelter Gegner formulierte: «Wenn wir mit ihnen zusammengetroffen sind, werden sie nicht einmal ihre schwarzen Augen bewegen. Wenn sie in ihre Wange gestochen werden, wenn das schwarze Blut heraustritt – sie werden nicht weichen. Wenn wir mit diesen harten Mongolen zusammengeraten – wäre das günstig?»12 Im folgenden Jahrhundert sollten sich noch Millionen Menschen diese Frage stellen.

Marsch der Khane Nach seinen Triumphen 1206 erweiterte Dschingis Khan sein Herrschaftsgebiet weit über das mongolische Hochland hinaus. In Nordchina griff er die westliche Xia- und die Jin-Dynastie an, fügte ihnen vernichtende Niederlagen zu und massakrierte Hunderttausende, Krieger wie Zivilisten. 1213 überwanden seine Truppen die Chinesische Mauer an drei verschiedenen Stellen, um dann über Zhongdu herzufallen, die Hauptstadt des Jin-Reichs, die 1215 belagert, eingenommen und geplündert wurde. Der Kaiser Xuanzong musste sich den Mongolen unterwerfen und gab sowohl seine Hauptstadt als auch die nördliche Hälfte seines Reichs auf, um ins über 560 Kilometer entfernte Bianjing (das heutige Kaifeng) zu fliehen. Von dieser Demütigung sollte sich die Jin-Dynastie nie wieder erholen. Für Dschingis Khan und die Mongolen war es jedoch nur ein Sieg von vielen. Anschließend wandten sie sich nach Westen und nahmen die Qara Kitai (auch bekannt als die westlichen Liao) ins Visier. Laut der Geheimen Geschichte der Mongolen besiegten Dschingis und seine Leute die Qara Kitai «und schlugen [sie] nieder, bis sie dalagen wie morsche Stämme».13 1218 zogen die mongolischen Truppen nach Osten in Richtung Korea, behielten aber auch Zentralasien und Persien im Blick. Persien und viele umliegende Gebiete wurden zu der Zeit von den ­Anuschteginiden beherrscht: einer türkischen Dynastie, deren Mitglieder einst als Militärsklaven (Mamluken) gedient hatten, dann aber zu Herrschern über ein eigenes riesiges Reich aufgestiegen waren, das auch die rei-

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chen Städte entlang der Seidenstraße in Zentralasien umfasste. 1218 wollte Dschingis Khan ein Handelsabkommen mit ihrem Anführer, dem Choresm-Schah, aushandeln, und sandte hundert mongolische Beamte als ­diplomatische Delegation zu ihm. Unglücklicherweise wurden die Gesandten unterwegs in der Stadt Otrar (im heutigen Kasachstan), die bereits zum Choresmischen Reich gehörte, festgenommen und als Spione hingerichtet. Überflüssig zu erwähnen, dass Dschingis darüber alles andere als erfreut war. Er schwor «Rache, um das Unrecht zu vergelten», eine Maßnahme, die er mit größtmöglicher Härte umsetzte. Der Feldzug, den Dschingis gegen das Choresmische Reich führte, war genau der, der schließlich den Teilnehmern am Fünften Kreuzzug zu Ohren kam, allerdings dargestellt als Eroberungen des mysteriösen «König David». 1219 überquerte eine Armee, deren Größe in einer besonders wilden Übertreibung mit siebenhunderttausend Mann* angegeben wurde, das Alai-Gebirge (im Grenzgebiet des heutigen Tadschikistan und Kirgisistan) und machte sich auf einen zweijährigen Feldzug, nach dessen Ende das Choresmische Reich vernichtet war, seine Städte zerstört waren und der Choresm-Schah aus Furcht um sein Leben von Zentralasien nach ­Indien flüchtete und nie wieder zurückkehrte. Die Einwohner einiger der prächtigsten Städte Zentralasiens wurden niedergemetzelt, darunter Merw (im heutigen Turkmenistan), Herat (Afghanistan), Samarkand, die Hauptstadt des Choresmischen Reichs (heute in Usbekistan) und ­Nischapur (Iran). «Sie kamen, sie fielen ein, sie brandschatzten, sie töteten, sie plünderten und sie zogen wieder ab», schrieb der persische Historiker Ata al-Mulk Dschuwaini und zitierte dabei einen der wenigen Glücklichen, die dem mongolischen Ansturm entkommen waren.14 Die Plünderung von Merw war besonders entsetzlich. Die kosmopolitische Metropole mit ihren etwa zweihunderttausend Einwohnern war eine prächtige Oasenstadt auf einem ansonsten kargen Wüstenplateau und lag an der Kreuzung mehrerer wichtiger internationaler Handelsrou-

* Diese Schätzung des persischen Chronisten Rashid ad-Din ist eindeutig übertrieben: Das gesamte mongolische Militär umfasste damals weniger als 150 000 Mann. Tatsächlich war seine geringe Größe sogar einer seiner wichtigsten taktischen Vorteile.

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ten, besaß aber auch zahlreiche eigene produzierende Betriebe und dank eines ausgeklügelten Bewässerungssystems nach dem neuesten Stand der Technik ein blühendes landwirtschaftliches Umland.15 Dschingis schickte seinen Sohn Tolui, der die Stadt zur Kapitulation aufforderte. Tolui hatte die üblichen Anweisungen erhalten: Wenn Merw sich nicht sofort der mongolischen Autorität beugte, würde die Stadt verwüstet werden. Und Tolui sollte seinen Vater nicht enttäuschen. Als sich die Einwohner Merws nicht ergaben, ließ Tolui seine Truppen aufmarschieren und forderte dann die Bürger auf, die Stadt friedlich mit all ihrem Besitz zu verlassen. Er ­versprach, ihnen kein Haar zu krümmen. Doch er hatte gelogen: Tausende, die aus der Stadt kamen, wurden ausgeraubt und ermordet. Dann plünderten die Mongolen die Stadt und nahmen alles mit, was irgendwie wertvoll war. Das Bewässerungssystem wurde untersucht, um es zu kopieren, und dann zerstört. Auch die Mauern der Stadt wurden eingerissen. Bewohner, die sich in Kellern und in der Kanalisation versteckt hatten, wurden ausgeräuchert und umgebracht. Und als sich die Mongolen davon überzeugt hatten, dass niemand mehr am Leben war, der Widerstand leisten konnte, zogen sie weiter. Dieses Vorgehen wiederholte sich mit leichten Abweichungen im gesamten Choresmischen Reich. Städte wurden verwüstet und Festungen systematisch belagert, bis das ganze Reich in der Gewalt der Mongolen war. Überall installierte man mongolische Statthalter; Aufstände wurden brutal niedergeschlagen. Massenenthauptungen waren ein gängiges Mittel zur Einschüchterung der Bevölkerung, in vielen Städten wurden Köpfe und Oberkörper separat aufgetürmt, um sie dann verrotten zu lassen. Hundertausende – vielleicht sogar Millionen – Menschen wurden getötet, die meisten davon Zivilisten. Unzählige andere wurden zum Militärdienst gezwungen oder als Sklaven in die Mongolei verschleppt, wo sie ­sexuell ausgebeutet wurden oder als billige Arbeitskräfte schuften mussten. Die Untertanen des Choresm-Schahs wurden mit Gewalt und Terror unterworfen und mussten führungs- und hilflos mit ansehen, wie ihr Staat zerstört wurde. Selbst wenn man strukturelle Schwächen im Choresmischen Reich berücksichtigt, das durch innere Streitigkeiten und eine konfessionelle Spaltung zwischen ethnischen Iranern und Türken zerrissen war, so war das eine demütigende Erfahrung.

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1221 hatte Dschingis gezeigt, wozu er fähig war, und konnte seine Truppen zurück in die Mongolei schicken. Doch trotz allem, was er erreicht hatte, sollte es kein leiser Abschied werden. Für Raubtiere sieht alles wie eine Beute aus, und für seine mongolischen Feldherren gab es noch genug, worauf sie sich stürzen konnten. Nachdem er Persien unterworfen hatte, teilte Dschingis seine Truppen auf. Er selbst arbeitete sich langsam nach Osten Richtung Heimat vor und überfiel auf dem Weg noch Afghanistan und Nordindien. In der Zwischenzeit zogen seine beiden besten Generäle, Jebe und Subedei, weiter nach Westen und Norden, um das Kaspische Meer herum und über den Kaukasus bis in die christlichen Reiche Armenien und Georgien. Dort gingen sie wie üblich vor: Sie massakrierten die Einwohnerschaft ganzer Städte und brachten Terror und Verwüstung. Jebe und Subedei befahlen Massenvergewaltigungen, ließen Schwangere verstümmeln und ihre ungeborenen Kinder in Stücke hacken. Ihre Soldaten folterten und enthaupteten ohne jede Hemmung. Im Sommer 1222 besiegten sie König Georg IV . von Georgien zweimal in der Schlacht und verwundeten ihn dabei so schwer, dass er an seinen Verletzungen starb. Kurz darauf schrieb Georgs Schwester und Nachfolgerin, die Königin Rusudan, an Papst Honorius  III . und korrigierte die verzerrte Darstellung von «König David», die dem Papst in den Geschichten de Vitrys und anderer unterbreitet worden war. Die Mongolen seien alles andere als gottesfürchtig, erklärte sie Honorius, sondern Heiden, die sich nur als Christen ausgeben würden, um ihre Feinde irrezuführen. Sie seien «ein wildes Volk der Tartaren, scheußlich anzusehen, so unersättlich wie Wölfe … [und] mutig wie Löwen».16 Man könne sich ihnen praktisch nicht widersetzen. Zu der Zeit waren die Mongolen bereits durch ihr ­Königreich gezogen. Dieses Mal hielten sie nicht inne, um das Land zu ­erobern und auszuplündern – das sollten sie eine Generation später erledigen. Von Georgien stürmten die Generäle Jebe und Subedei mit ihren Truppen Richtung russische Steppe. Als sie sich der Krim näherten, trafen sie auf Gesandte der Republik Venedig – deren Einwohner beim Vierten Kreuzzug nach Konstantinopel einige Jahre zuvor gezeigt hatten, dass sie bei ihrem Streben nach Profit fast genauso erbarmungslos sein konnten wie die Mongolen. Die Venezianer handelten mit den Mongolen ein

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Abkommen aus, wonach sich diese bereit erklärten, die unmittelbaren ­Rivalen Venedigs anzugreifen, die Genuesen in ihrer lukrativen Kolonie Soldaia auf der Krim direkt am Schwarzen Meer. Das war der Beginn ­einer langen Partnerschaft zwischen den venezianischen Dogen und den mongolischen Khanen, die bis ins 14. Jahrhundert reichte und den Weg bereitete für die berühmten Abenteuer Marco Polos (siehe Kapitel  10). Und natürlich verdienten die Venezianer dabei ein Vermögen. Gleich und gleich gesellt sich gern, kann man da nur sagen. Nachdem Jebe und Subedei mit ihren Truppen auf der Krim überwintert hatten, traten sie den langen Heimweg an, um sich mit Dschingis zu treffen. Unterwegs machten sie noch einige Abstecher und kämpften gegen verschiedene Turkstämme der Steppe wie die Kumanen und Kip­ tschak. Dann wandten sie sich nach Norden Richtung Kiew. Die Nachricht von ihrem Vormarsch entlang des Flusses Dnister verbreitete sich in der Kiewer Rus durch vertriebene Kumanen, allerdings herrschte weiterhin große Verwirrung darüber, wer genau die Mongolen eigentlich waren. Der ansonsten gut informierte Verfasser der Nowgoroder Chronik wusste nur, dass sie «um unserer Sünden willen» als Geißel Gottes gesandt worden seien. Abgesehen davon konnte er nur sagen, dass es sich um «unbekannte Volksstämme» handle, «von denen niemand genau weiß, wer sie sind und woher sie kamen, wessen Sprache sie haben, welchen Stammes sie sind und welchen Glauben sie haben; man heißt sie Tataren.»17 Fest stand auf jeden Fall, dass die mysteriösen Eindringlinge ein Problem waren. Eine Koalition russischer Fürsten, darunter Mstislaw der Tapfere, Fürst von Nowgorod, Mstislaw III ., Großfürst von Kiew, und Daniel, Fürst von Halytsch, stellte eine Armee auf und versuchte, sie zu verjagen. Dass das tollkühn war, muss man eigentlich nicht erwähnen. Doch als die Fürsten zehn mongolische Gesandte hinrichten ließen, die mit ihnen verhandeln sollten, kam das einem Selbstmord gleich. Ende Mai 1223 trafen die Fürsten der Rus in der Nähe des Flusses Kalka auf die Mongolen. Zwar gelang es ihren Armeen, um die tausend Krieger der mongolischen Nachhut zu töten, doch als sie auf die Hauptstreitmacht von Jebe und Subedai trafen, wurden sie aufgerieben. Bis zu 90  Prozent der Rus-Armee wurden in der Schlacht getötet, drei ihrer Fürsten gefangen genommen. Die Mongolen hatten die Dreistigkeit der

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Fürsten, ihre Gesandten einfach hinzurichten, nicht vergessen und nahmen grausame Rache. Mstislaw III . von Kiew und zwei seiner Schwiegersöhne wurden in Teppiche gewickelt und unter den Holzboden der Jurte der mongolischen Generäle geschoben. Dann wurde darauf ein Festmahl abgehalten, so dass sie zerquetscht wurden und erstickten, während sie hörten, wie über ihnen der Sieg gefeiert wurde.18 Diesmal blieben die Mongolen jedoch nicht lange genug, um das Territorium der Rus ihrem mittlerweile erheblich erweiterten Reich hinzuzufügen. Doch sie hatten einen ersten Blick darauf geworfen, ebenso auf das Grasland am europäischen Ende der Steppe. Und wie in Georgien sollten sie zurückkehren. Der Ritt zurück nach Hause war lang für Dschingis Khan, seine Generäle und ihre Armeen, und er wurde noch länger durch ihre Neigung, gegen fast jeden zu kämpfen, der ihnen in den Weg kam, und anschließend üppige Siegesfeiern mit reichlich Alkohol abzuhalten. Doch 1225 ­waren sie alle wieder vereint und zurück in der Heimat, wo sie die neue Welt in Augenschein nehmen konnten, die sie geschaffen hatten. Mittlerweile war Dschingis Anfang sechzig und Herr über ein Reich, das sich vom Gelben Meer im Osten bis zum Kaspischen Meer im Westen erstreckte. Die schiere Größe war fast schon surreal. Der irakische Chronist Ibn al-Athir, der seine Aufzeichnungen einige Jahrzehnte später verfasste, erklärte: «Diese Tataren haben etwas getan, von dem man in antiken oder heutigen Zeiten noch nie gehört hatte.» Und er fragte sich, ob seine Leser je ihren Augen trauen würden. «Bei Gott, es gibt keinen Zweifel, dass alle, die nach uns kommen, nach langer Zeit, und diese Schilderung der Ereignisse sehen, sich weigern werden, sie zu glauben.»19 Und mit der Eroberung kamen die süßen Früchte des Imperialismus. Die Mongolei war ­reicher, als es sich die Mongolen in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatten. Die Armeen hatten von ihren Eroberungszügen Tausende gestohlene Pferde mit in die Heimat gebracht. Gold und Silber, Sklaven und Handwerker, exotische neue Lebensmittel und starke alkoholische Getränke – das alles strömte aus den eroberten Gebieten, die erst nach monatelangen Reisen zu erreichen waren, ins Land. Die Mongolen, die noch nie sonderlich dogmatisch gewesen waren, was ihre Kultur betraf, hatten eifrig Technologien und Gebräuche in den Ländern aufgenommen, die sie

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überfallen hatten. Chinesische Schiffbauer und persische Belagerungs­ experten waren in ihre Armee gezwungen worden. Uigurische Schreiber waren für die Verwaltung verpflichtet worden und sollten im ganzen Reich eine neue offizielle Schrift für die Verwaltung einführen. 1227 gab Dschingis eine Papierwährung heraus, die er sich von der besiegten JinDynastie in China abgeschaut hatte und deren Wert auf Silber und Seide basierte. In der zweiten Augusthälfte desselben Jahres – 1227 – starb der «ungestüme Herrscher». Die Todesursache ist heute nicht mehr bekannt, doch im Mittelalter kursierte eine Reihe fantasievoller Erklärungen: Es hieß, Dschingis sei vom Blitz getroffen worden, durch einen Pfeil vergiftet oder von einer gefangenen Königin tödlich verwundet worden, die eine Rasierklinge in ihrer Vagina versteckt hatte, als sie mit ihm ins Bett ging.20 Unabhängig von der Ursache steht fest, dass seine letzten Anweisungen typisch für ihn waren: Er verlangte, dass seine Nachfolger eine neue Stadt namens Karakorum bauten, die als Hauptstadt des Mongolenreichs dienen sollte, und gab dann den Befehl, den Tanguten-Kaiser Modi und die königliche Familie der Westlichen Xia zu töten, gegen die seine Truppen vor Kurzem gekämpft hatten. Sie wurden an Pfähle gebunden und in ­Stücke gehackt. Wo Dschingis ’ Leichnam bestattet wurde, ist heute genauso wenig bekannt wie seine Todesursache. Seine Grabstätte wurde absichtlich geheim gehalten: Pferde trampelten über die Stelle, bis sie nicht mehr zu erkennen war, angeblich wurden Augenzeugen der Zeremonie anschließend ermordet, ebenso deren Mörder und die Totengräber. Zu diesem Zeitpunkt war die Zahl der Todesopfer, die Dschingis ’ Griff nach der Weltherrschaft gefordert hatte, ohnehin nicht mehr zu ermessen. Mehrere Generationen später nannte Marco Polo Dschingis «einen Mann von erprobter Rechtlichkeit, großer Weisheit, mächtiger Beredsamkeit und außerordentlicher Tapferkeit».21 Diese Einschätzung sagt ebenso viel aus, wie sie verschweigt. Doch nach der rasanten territorialen Expansion und den kulturellen Fortschritten unter Dschingis ’ Herrschaft schien die Zukunft der Mongolen als einzige Weltmacht des 13. Jahrhunderts gesichert. Nun musste sich nur noch zeigen, wer in der nächsten Phase der Dominanz regieren würde – und wie weit derjenige gehen konnte.

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Dritter Teil: Wiedergeburt

Unter den «Tartaren» Kurz nach Ostern des Jahres 1241 und damit vierzehn Jahre nach Dschingis ’ Tod waren die mongolischen Armeen wieder im Westen. In Mittel- und Osteuropa konnten die Mongolen zwei beeindruckende Siege auf dem Schlachtfeld für sich verbuchen, die innerhalb von nur zweiundsiebzig Stunden erfolgten und damit den Boden zu bereiten schienen für eine mongolische Eroberung des gesamten Kontinents. Am 9. April mähten die mongolischen Generäle Baidar und Kaidan mit ihren Truppen ein gemeinsames Heer der Polen, Tschechen und Tempelritter in der Nähe von Legnica (im heutigen Polen) nieder. Sie töteten Heinrich II ., den Herzog von Schlesien, spießten seinen Kopf auf und trugen ihn bei einer ­Parade vor den entsetzten Einwohnern von Legnica zur Schau. Nach der Schlacht schnitt eine mongolische Abordnung jedem toten Gegner das rechte Ohr ab, das als Trophäe zurück in die Mongolei geschickt wurde. (Es waren genug Ohren, um neun große Säcke zu füllen.) Zwei Tage ­später, am 11. April, brachte eine zweite und deutlich größere mongolische Armee in Ungarn König Béla  IV . in der Schlacht bei Muhi (heute im Nordosten Ungarns) eine ebenso schwere Niederlage bei. Béla verlor den Großteil seiner Soldaten und musste nach Dalmatien fliehen, um sein Leben zu retten. Der polnische Geschichtsschreiber Jan Długosz berichtete noch zweihundert Jahre später schaudernd vom furchteinflößenden wilden Auftreten der Mongolen. «Sie brennen nieder, sie töten und foltern, wie es ihnen gefällt, weil es niemand wagt, sich ihnen zu widersetzen.»22 Während Herrscher wie Béla in Panik flohen, zogen die Mongolen durch Osteuropa und hinterließen eine Spur der Verwüstung. Die Nachrichten über ihre Gräueltaten fanden weite Verbreitung. Entsetzt über die Invasion der «Tartaren» (die ohnehin ungenaue Bezeichnung Tataren war zusätzlich durch das Wortspiel mit tartarus, dem lateinischen Namen für Hölle, verfälscht worden), beschloss Papst Gregor  IX ., dass er nun handeln müsse. Zwei Jahre lang hatte er (mit wenig Erfolg) versucht, politische Unterstützung für einen Kreuzzug gegen Friedrich  II ., den Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, zu gewinnen, doch jetzt vollzog er einen Kurswechsel.23 Im Juni forderte er Kreuzfahrer, die gelobt hatten, ins Heilige Land, ins Baltikum, ins lateinische Königreich Konstantinopel zu

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­ziehen oder gegen Friedrich II . zu kämpfen, in einer Bulle dazu auf, stattdessen in Ungarn gegen die Mongolen zu kämpfen. Doch Béla und die Ungarn hatten Pech: Aufgrund der großen Zahl der Kreuzzüge, die 1241 im Gang waren, folgte praktisch niemand der Aufforderung des Papstes. Weihnachten kam und ging, und im März kreisten die Mongolen Dalmatien ein, um Béla endlich gefangen zu nehmen. Die Aussichten waren wirklich düster. Doch dann – urplötzlich – hielten die Mongolen abrupt in ihrem Vormarsch inne. Sie wendeten ihre Pferde und ritten davon, zurück ins Kernland ihres Reiches. Osteuropa, das eben noch kurz vor der Auslöschung gestanden hatte, war die Mongolen auf einen Schlag los. Es war, als ob Gott Erbarmen gezeigt, nach unten gegriffen und die Peiniger seines Volkes vom Antlitz der Erde getilgt hätte. Der kroatische Chronist Thomas von Split, auch Thomas der Erzdiakon genannt, sah den Grund für den abrupten Abzug darin, dass das ungarische Tiefland trotz seiner Größe nicht genügend Gras bot, um die riesigen Pferdeherden zu ernähren, die die Mongolen für ihre langen Feldzüge benötigten.24 Doch auch in der mongolischen Politik hatte sich einiges getan: Ögedei Khan, Dschingis Khans dritter Sohn und Nachfolger als Großkhan, starb Ende Dezember 1241, wodurch es vorübergehend zu einem Machtvakuum im Mongolischen Reich kam. Generäle und Amtsträger eilten zurück in die Heimat, um bei der Bestimmung des neuen Herrschers vor Ort zu sein. Die Mongolen gaben den Westen nicht auf – die Reichtümer Italiens und Deutschlands waren genauso verlockend wie die des Choresmischen Reichs und der nordchinesischen Städte. Doch vorerst mussten sie eine Pause bei ­ihren Eroberungsfeldzügen einlegen. Trotz ihres überraschenden Rückzugs herrschten die Mongolen in den 1240er Jahren immer noch über einen gewaltigen Teil der eurasischen Landmasse. In den vierzehn Jahren von Ögedeis Regierung hatten sie ihr Herrschaftsgebiet unerbittlich erweitert und dabei neue Belagerungstechniken verwendet, die sie von ihren chinesischen und musli­ mischen Untertanen übernommen hatten.25 Aserbaidschan, der nördliche Irak, Georgien und Armenien standen genau wie Kaschmir immer noch unter mongolischer Oberherrschaft. Für das seldschukische Kleinasien

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Dritter Teil: Wiedergeburt

wurde eine Invasion vorbereitet. Die Nomadenstämme der zentralen Steppe und die Fürsten der Rus hatten alle mehr oder weniger schwere Niederlagen einstecken müssen. Praktisch jede Stadt der Kiewer Rus, darunter auch Kiew selbst, dessen Stadtmauern einen doppelten Verteidigungsring bildeten, waren geplündert worden. In einer Chronik, in der die Verwüstung der Stadt Riasan (Rjasan, etwa 250 Kilometer südöstlich von Moskau) geschildert wird, heißt es, die Mongolen «brannten die ganze Stadt in all ihrer Schönheit und ihrem Reichtum nieder … Und die Kirchen Gottes wurden zerstört … und nicht ein Mann in der Stadt blieb ­verschont. Alle waren tot … und es gab nicht einmal mehr jemanden, um die Toten zu beklagen.»26 Das Mongolische Reich war nun größer als je zuvor. Es verband Regionen, die lange Zeit isoliert voneinander gewesen waren. Und so begannen Mitte des 13. Jahrhunderts unerschrockene Forschungsreisende in fremde neue Gebiete vorzudringen. Dabei dokumentierten sie, was sie sahen, und beschrieben die exotischen Zustände unter einer Supermacht, die man in einer solchen Größe während des gesamten Mittelalters noch nicht erlebt hatte. Auch wenn die Mongolen bei ihren Eroberungen viel zerstört hatten, eröffneten sie neue Möglichkeiten für Erkundungen. Selbst in römischer Zeit war der Ferne Osten für den einzelnen Reisenden außer Reichweite  – Seide und andere Waren, die aus China stammten, erreichten ­Europa nur über den indirekten Handel. Indien war fast genauso unbekannt. Doch unter der mongolischen Vorherrschaft sollte sich das ändern – zumindest für eine gewisse Zeit. Einige mittelalterliche Reisende, die im 13. Jahrhundert in unbekannte Regionen aufbrachen, hielten ihre Erlebnisse schriftlich fest. Dadurch können wir heute noch einen Blick auf das Mongolische Reich erhaschen, wie sie es damals wahrnahmen. Zu diesen Reisenden zählte ein flämischer Franziskaner namens Wilhelm von Rubruk, der 1253 von Konstantinopel aus loszog, die Mongolei besuchte und 1255 wieder den Kreuzfahrerstaat Tripolis erreichte. Eine Generation später war der venezianische Kaufmann Marco Polo unterwegs, der noch viel länger auf Reisen war, kreuz und quer durch Asien zog und ein Vierteljahrhundert im Land der Khane blieb. Doch der Pionier in diesem furchtlosen Club, der Globetrotter, der

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den ersten westlichen Bericht über das Leben vor Ort bei den Mongolen verfasste, war ein italienischer Franziskaner und Kleriker namens Johannes de Plano Carpini. Johannes de Plano Carpini brach 1245 in die Mongolei auf. Ausgangspunkt seiner Reise war der päpstliche Hof, der sich zu dieser Zeit vorübergehend in Lyon befand. Er sollte Briefe von Papst Innozenz  IV . überbringen, in denen dieser den Großkhan aufforderte, davon abzusehen, christliche Gebiete zu überfallen, und sich stattdessen zu überlegen, zum christlichen Glauben überzutreten, da Gott «sehr empört» über seine ­Taten sei.27 Die Mission gründete auf reiner Hoffnung und war aller Wahrscheinlichkeit nach vergeblich. Doch de Carpini erfüllte seinen Auftrag trotz großer Schwierigkeiten und wurde mit einer Geschichte belohnt, für die er noch Jahrhunderte später berühmt war. Um in die Mongolei zu gelangen, wählte de Carpini eine Route über Prag und Polen und dann weiter durch das Land der Rus Richtung Kiew. Fünf Jahre zuvor hatten die Mongolen die Stadt in Schutt und Asche gelegt: Etwa 90 Prozent der Einwohner waren umgekommen, die meisten bedeutenden Gebäude waren bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Die Stadt war bei de Carpinis Ankunft nur noch ein blasses Abbild ihrer einstigen Größe. Und es bestand kein Zweifel, wer in der Region das ­Sagen hatte. Jeder Fürst der Rus, dessen Territorium de Carpini erreichte, verwies ihn nervös an den reisenden Hof des obersten westlichen Militärkommandeurs der Mongolen, einen gewissen Batu, den Enkel Dschingis Khans, dessen Genehmigung er für seine Weiterreise benötigte. De Carpini wurde auch wiederholt gesagt, die einzige Möglichkeit, in der mongolischen Welt weiterzukommen, bestehe darin, die ihnen angeborene Neigung zu Geschenken und Konsumgütern zu nutzen. Er und seine Begleiter schleppten dicke Säcke mit polnischen Biberpelzen mit sich, die sie jedem in die Hand drückten, der einen Tribut forderte. De Carpini traf Batu zu Ostern 1246. Die Begegnung könnte man, vorsichtig formuliert, als wertvolle Erfahrung bezeichnen. Noch bevor die Reisenden das Lager betraten, mussten sie eine Sicherheitskontrolle über sich ergehen lassen, im Stil einer modernen Kontrolle am Flughafen, aber mit den Besonderheiten des 13. Jahrhunderts: De Carpini und seine Beglei-

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Das Mongolenreich in seiner größten Ausdehnung (um 1280)

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Dritter Teil: Wiedergeburt

ter mussten zwischen zwei großen Feuern hindurchgehen, denn das Feuer würde alles Böse wegnehmen, «wenn ihr gegen unseren Herrn irgend­ etwas Böses im Schilde führt oder vielleicht Gift bei euch habt».28 Sie wurden mit düsteren Worten gewarnt, nicht direkt auf die Schwelle des Audienzzeltes zu treten, weil die Mongolen glaubten, das bringe großes Unglück, und deshalb jeden hinrichteten, der es doch tat. Batu selbst machte auf de Carpini den Eindruck eines klugen und verständigen Mannes, der ihm aber auch Angst machte. «Dieser Batu ist zu seinen Leuten sehr gütig und wird doch sehr von ihnen gefürchtet», schrieb er.29 Damit fasste er die mongolische Herrschaft zusammen: Toleranz kontrolliert durch Terror. Nach einem kurzen Aufenthalt in Batus Lager wurde de Carpini und seinen Begleitern gesagt, sie könnten ihre Reise nach Karakorum fortsetzen, wo der neue Khan, Ögedeis Sohn Güyük, bald inthronisiert werden sollte. Das waren aufregende Aussichten, wenn auch etwas beängstigend. Die karge mongolische Kost aus Hirse und viel Alkohol, die man Gästen am Hof servierte, schmeckte ihnen nicht. Mit der leicht alkoholischen vergorenen Stutenmilch, die auch heute noch in der Mongolei bei gesellschaftlichen Anlässen gereicht wird, konnten sie sich ebenso wenig anfreunden.* De Carpini und seine Begleiter waren abwechselnd krank, fühlten sich unwohl oder froren. Und ihre Reise dauerte viele Monate, trotz der bemerkenswerten Pferdestaffeln, die unter Ögedei als Teil des imperialen Postsystems eingerichtet worden waren und die es ermöglichten, müde Pferde bis zu sieben Mal am Tag zu wechseln, damit Beamte den ganzen Tag über so schnell reisen konnten, wie es ihre eigene Kondition zuließ. Die Reise war zwar lang, aber auch voller ungewöhnlicher Eindrücke. Die Mongolen als Volk faszinierten de Carpini, der ihr Aussehen, ihre Ge-

* Ein westlicher Reisender, der vor einigen Jahren zu Pferd durch die mongolische Steppe zog, berichtet über diese sehr beliebte Delikatesse: «Nomadenfamilien ­haben davon ein Fass in ihren Jurten und trinken sie aus Schalen. Sie halten eine Reihe von Stuten mit Fohlen, die in der Nähe angebunden sind, damit sie sie bei Bedarf melken können. Die Milch schmeckt wie schaumiger käsiger Joghurt. Und verdammt ranzig.»

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wohnheiten und Bräuche bestaunte. «Augen und Wangen stehen bei ­ihnen weiter auseinander als bei anderen Menschen», schrieb er. «Auch treten die Wangen seitlich gegenüber dem Kinn deutlich hervor. Sie haben eine flache, kleine Nase, kleine Augen und bis zu den Augenbrauen ­emporgezogene Augenlider. Mit wenigen Ausnahmen sind sie durchwegs schlank um die Taille, fast alle sind von mittlerer Größe. Ein Bart wächst ihnen kaum, doch haben einige auf der Oberlippe und auch sonst anstelle des Bartes wenige Haare, die sie kaum scheren.»30 Er war fasziniert und gleichzeitig abgestoßen von ihrer Religion, die zwar monotheistisch, aber schamanistisch war, bei der Götzen angebetet wurden und Astrologie eine wichtige Rolle spielte. Auch der Aberglaube hatte einen hohen Stellenwert, Verstöße gegen bestimmte Vorstellungen wurden sogar mit der ­Todesstrafe geahndet: Wer absichtlich ein Messer ins Feuer stieß, Essen auf den Boden spuckte, einen Knochen mithilfe eines anderen zerbrach oder in ein Zelt pinkelte, dem drohte der Tod. «Aber Menschen töten, fremde Länder überfallen, fremdes Eigentum rauben auf jedwede unrechte Weise, huren, fremden Menschen Gewalt antun, gegen Verbote und Vorschriften Gottes handeln: Das alles gilt ihnen nicht als Sünde», erklärte er.31 Die vielen ungewohnten und widersprüchlichen Charaktereigenschaften der Mongolen, die er kennenlernte, verwirrten ihn: körperlich widerstandsfähig, gehorsam gegenüber ihren Herren, großzügig, wenig streitlustig und friedfertig untereinander; aber auch stolz und hochmütig, feindselig und verlogen gegenüber Außenstehenden, unbeeindruckt von Dreck und Elend, trunksüchtig und bereit, praktisch alles zu essen, ob Maus oder Laus, Hund, Fuchs, Wolf, Pferd oder sogar Menschenfleisch. Mongolische Frauen fand er besonders faszinierend: «Auch die Mädchen und Frauen reiten und bewegen sich auf den Pferden so geschickt wie die Männer. Wir haben gesehen, daß auch sie Köcher und Bögen tragen. Männer wie Frauen können das Reiten lange durchhalten. Sie haben ­extrem kurze Steigbügel und achten sehr gut auf ihre Pferde, wie sie ja alle Dinge sorgfältig instand halten. Ihre Frauen fertigen alles an, Pelze, Kleider, Schuhe, Beinkleider und alles Lederzeug; sie fahren auch die Wagen und reparieren sie, beladen die Kamele und sind sehr flink und fleißig in all ihren Arbeiten. Hosen tragen alle Frauen, und einige schießen mit dem Bogen wie die Männer.»32

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De Carpini und seine Begleiter reisten viele lange Wochen durch ­ ebiete, die diese Menschen unterworfen hatten, und sahen dabei G «unzählige zerstörte Städte und Burgen und viele verlassene Dörfer».33 Es war Sommer, als sie schließlich die Mongolei erreichten – und den Herrscherhof rechtzeitig fanden, um wie geplant Güyüks Ernennung zum Khan mitzuerleben. Sie wurden als Ehrengäste im Lager des neuen Khans ­begrüßt  – und bekamen endlich Bier anstatt Stutenmilch. Ihr Gastgeber war voller Vorfreude, aber auch nervös. Es herrschte ein geschäftiges Treiben mit Besuchern aus aller Welt, darunter auch viele aus dem Westen – man hörte Russisch, Ungarisch, Französisch, Latein und mehr. Im Zentrum von allem stand Güyüks Zelt. Es war mit kostbarer Seide ausgekleidet und wurde von goldenen Pfosten gestützt, doch es war schwierig, ­einen Blick darauf zu erhaschen, weil jeder, der sich zu nah heranschlich, riskierte, von den Wachen des Khans ausgezogen und verprügelt zu werden. De Carpini war es peinlich, dass er nicht mit etwas Wertvollerem als Biberpelzen gekommen war; die kostbaren Geschenke, die die anderen Gäste gebracht hatten, füllten etwa fünfzig Wagen. ­Außerdem fürchtete er um sein Leben, weil ein russischer Fürst, der gekommen war, um dem Khan die Ehre zu erweisen, tot in seinem Zelt aufgefunden worden war, mit aschfahlem Gesicht, «sonderbar blau» und lang ausgestreckt, als ob er vergiftet worden wäre. Doch nachdem de Carpini einige Tage angespannt gewartet hatte, wurde ihm endlich eine Audienz bei Güyük gewährt. Der neue Khan war «40 oder 45 Jahre alt oder auch älter … von mittlerer Größe, sehr klug und nur allzu schlau, sehr ernsthaft und würdevoll in seinen Sitten. Niemals sieht ein Mensch ihn wegen Kleinigkeiten lachen oder irgendeine Nichtigkeit tun.»34 Mithilfe von Dolmetschern fragte der Khan nach de Carpinis Herrn, dem Papst, und wollte wissen, wer er sei und ob er Mongolisch, Arabisch oder Ruthenisch (eine slawische Sprache, die bei den Rus üblich war) spreche. Latein erschien Güyük hoffnungslos provinziell. Doch de Carpini hatte eindeutig den Eindruck, dass der Khan großes Interesse an den Besitzungen des Papstes hatte, wenn schon nicht an dessen Sprache, denn Güyük bestand darauf, dass er seine Rückreise nur mit ein paar mongolischen Begleitern antreten dürfe, die, da war de Carpini überzeugt, als Spione oder militärische Kundschaf-

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ter fungieren sollten. Doch er konnte wenig dagegen unternehmen. Güyük diktierte einige Briefe an den Papst, lehnte sein Angebot zur Taufe ab und wies die Drohung des Oberhaupts der römischen Kirche, er solle sich ihm beugen, sonst würden ihm unangenehme Konsequenzen drohen, kurz und knapp ab. Nachdem die Briefe ins Lateinische und Arabische übersetzt worden waren, durfte de Carpini gehen. Er und seine Begleiter erhielten Mäntel aus Fuchspelz, die mit Seide gefüttert waren, dann wurden sie in die Richtung zurückgeschickt, aus der sie gekommen waren. Vor i­hnen lag ein weiterer langer Ritt mit Pferden der Poststaffel, auf dem de Carpini noch viele eisige Nächte im Schnee durchstehen musste. Als er Kiew erreichte, waren die Menschen dort sehr überrascht – das sei, erklärten sie, als ob er von den Toten auferstanden wäre. Doch de Carpini war nicht tot. Er hatte die Reise seines Lebens gemacht – hatte sie durchlitten, aber auch genossen und ein Land gesehen, das sich den Europäern jener Zeit gerade erst öffnete. Und Mitte des Jahres 1247 war er zurück in ­Europa, um dem Papst in Lyon die Briefe des Khans zu überbringen, seine Geschichte zu erzählen und seine Belohnung in Empfang zu nehmen: Er wurde zum Erzbischof von Antivari (heute Bar) in Monte­ negro befördert und zum päpstlichen Legaten und Botschafter des französischen Königs Ludwig  IX . ernannt, der selbst großes Interesse an ­allem Mongolischen hatte. De Carpini lebte nur noch fünf Jahre – vielleicht hatten die Entbehrungen der Reise sein Leben verkürzt. Doch bevor er starb, schrieb er auf, was er gesehen und erlebt hatte, eine Schilderung der neuen Welt, die sich im Osten entwickelte – und der Gefahren, die sie barg. Er selbst befürchtete nur, dass die Leute ihm nicht glauben und ihn als Fantasten und Lügner bezeichnen würden, denn die Abenteuer, die er niedergeschrieben hatte, wirkten in der damaligen Zeit tatsächlich unglaublich.

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Das Reich zerfällt Auf de Carpini folgte eine ganze Schar abenteuerlustiger Diplomaten und Missionare. Etwa zur selben Zeit wie de Carpini wurde ein gewisser Laurentius von Portugal in den Osten geschickt, allerdings hörte man danach kaum noch etwas von ihm. 1247 besuchten die Dominikaner Simon von Saint-Quentin und Ascelin von der Lombardei den mongolischen Befehlshaber Baiju in Persien. 1249 reisten die Brüder André und Jacques de Longjumeau mit Geschenken und Briefen des französischen Königs und des Papstes nach Karakorum.35 Und 1253 brach ein weiterer Franziskaner in die Mongolei auf, diesmal mit der Absicht, Heiden zu bekehren, ein erklärtes Ziel der Anhänger des Heiligen Franziskus.* Dieser Franziskaner war der bereits erwähnte Wilhelm von Rubruk, der wie de Carpini in seinem Tagebuch das Gesehene lebhaft schilderte und daraus einen Bericht an den französischen König Ludwig IX . zusammenstellte. Wilhelm nahm eine etwas andere Route als de Carpini: Von Konstantinopel aus überquerte er das Schwarze Meer und ging in der ­Hafenstadt Soldaia an Land, der ehemaligen genuesischen Kolonie, die sich nun in mongolischer Hand befand, wo jedoch Gruppen italienischer Kaufleute nach wie vor geschäftig Handel trieben. Er traf ebenfalls den westlichen Oberkommandanten Batu und reiste in dessen Gesellschaft fünf Wochen lang die Wolga hinunter, bevor er in die eigentliche Mongolei weiterzog. Unterwegs notierte Wilhelm viele unbekannte mongolische Bräuche und Eigenheiten, die bereits de Carpini beschrieben hatte: Schmutz und Unrat, die Stärke und den Fleiß mongolischer Frauen, den komplexen Aberglauben, die gesellschaftliche Gewalt und die umgehende Anwendung der Todesstrafe, den widerwärtigen Geschmack vergorener Stutenmilch (die mittlerweile von vielen Christen im mongolischen Reich aus

* Franziskus hatte es sich persönlich zur Aufgabe gemacht, Ungläubige auf den Weg Christi zu führen, und war mit denkwürdigem Beispiel vorangegangen, als er während des Fünften Kreuzzugs bei einem Besuch an der Front 1219 versucht hatte, niemand Geringeren als al-Kamil zu bekehren, den Ayyubiden-Sultan in Ägypten.

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r­eligiösen Gründen abgelehnt wurde), die Vorliebe für Geschenke, das Unwissen über den Westen, gemischt mit der Gier nach den dortigen Reichtümern (ein Gesprächspartner Wilhelms hatte gehört, der Papst sei fünfhundert Jahre alt), die allgemeine Angst vor Gewittern, die abstoßende Bereitschaft, praktisch alles zu essen, sogar Mäuse, und die seltsamen Frisuren, die von beiden Geschlechtern bevorzugt wurden. Wie de Carpini waren auch für Wilhelm die Strapazen der langen Reise eine Qual, und auch er war häufig krank, musste frieren, hungern und dürsten. Aber wie de Carpini gab er nie auf. Zwei Tage nach Weihnachten traf Wilhelm 1253 im Lager des Khans ein, nur wenige Tagesritte von der Stadt Karakorum entfernt, die er im Vergleich zu europäischen Wundern wie dem Kloster von Saint-Denis ziemlich schäbig fand, aber dennoch unglaublich kosmopolitisch und multikulturell: Es gab zwölf Tempel, zwei Moscheen und eine Kirche. Güyük war inzwischen tot, sein Nachfolger war sein Cousin Möngke. ­Ansonsten herrschten im Mongolenreich immer noch goldene Zeiten. Die Hauptstadt war nach wie vor sehr reich und ein Treffpunkt für Kaufleute und Gesandte aus aller Herren Länder; es war nicht ungewöhnlich, dass ein indischer Würdenträger begleitet von einem Zug mit Pferden, die Windhunde oder Leoparden auf dem Rücken trugen, durch die Straßen ritt. Die Stadt beherbergte außerdem einige wenige westliche und christliche Ausländer: einen nestorianischen Christen, der als Möngkes Privatsekretär arbeitete, einen Pariser namens Wilhelm Boucher, der bei Hof als Kunstschmied tätig war, einen Engländer namens Basilius, der weit gereist und polyglott war, aber keinen offensichtlichen Grund für seinen Aufenthalt in den Tiefen der Mongolei zu haben schien, und ein freundliches französisches Mädchen namens Pascha, das von den Mongolen in Ungarn gefangen genommen und von ihnen in die Mongolei gebracht worden war, damit es dort als Köchin arbeitete. Wilhelm fühlte sich in dieser vertrauten Gesellschaft wohl, doch im Hinblick auf sein eigentliches Ziel, Ungläubige zu bekehren, war die Reise kein großer Erfolg. Er blieb mehrere Monate und tat sein Bestes, die Botschaft Christi dem großen Möngke persönlich zu predigen. Aber er wurde mehrmals abgefertigt und erhielt am Ende nur eine Predigt vom Khan, der nach dem Genuss alkoholischer Getränke stark

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schwankte, während er über die allgemeine Dekadenz der Westler herzog, die zu undiszipliniert seien, um den Standards des Ostens zu entsprechen.* Wie alle klugen mongolischen Herrscher übernahm und ­adaptierte Möngke gerne das Beste der Kulturen, die seine Armeen unterworfen hatten. Aber er ließ sich nicht dazu überreden, zu einem in seinen Augen halbgaren Glauben überzutreten, für dessen selbst behauptete Überlegenheit es keine Beweise gab. «Euch gab Gott die Heilige Schrift, aber ihr Christen richtet euch nicht danach», sagte Möngke, «uns aber gab er Weissager. Wir richten uns danach, was sie sagen, und wir leben in Frieden.»36 Derart abgewiesen, verließ Wilhelm den Hof des Großkhans im Juli 1254 nach einer Reihe von Feiern, bei denen der Alkohol in Strömen floss. Er wurde mit einem Brief an Ludwig IX . zurückgeschickt, in dem Möngke dem französischen König riet, er solle sich dem Khan am besten sofort unterwerfen, weil die Mongolen ihn sowieso unweigerlich besiegen würden. Möngke schrieb Ludwig, er werde erst ruhen, «wenn durch die Macht des ewigen Gottes die Welt vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang in Freuden und Frieden eins sein wird». Die Geografie biete keinen Schutz gegen die Kriegsmaschinerie der Mongolen, warnte er. «Werdet ihr das Gebot des ewigen Gottes gehört und es verstanden haben, es aber nicht beachten und nicht daran glauben, weil ihr nämlich sagen könntet: ‹Unser Land ist weit entfernt, unsere hohen Berge schützen uns, und unser Meer ist groß›, solltet ihr … ein Heer gegen uns aufstellen, dann wissen wir, was zu tun sein wird.»37 Trotz Möngkes passiv-aggressiver Drohung sollten die Mongolen das Königreich Frankreich nie heimsuchen. Wilhelm von Rubruk hingegen trat die lange Rückreise in den Westen an und spürte Ludwig  IX . Ende 1254 beim Kreuzzug im Heiligen Land auf. Er schlug vor, es wäre am vernünftigsten, wenn Ludwig andere Mönche davon abhielte, eine solche Reise anzutreten, da deren Gefahren nun offensichtlich seien. Er fügte ­jedoch hinzu, dass alle viel von seinen Erfahrungen im Osten lernen könnten – vor allem im Hinblick auf Kreuzzüge. «Ich behaupte recht kühn,

* Auch heute noch ein beliebtes Thema.

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dass, wenn Eure Bauern  – ich spreche nicht von den Fürsten und Rittern – so zu Feld ziehen wollten, wie es die Fürsten der Tataren tun, und außerdem mit so wenigen Nahrungsmitteln zufrieden sein wollten, sie so die ganze Welt erobern könnten», schrieb er.38 Doch auch das sollte nie passieren. Denn die Kreuzfahrerwelt im Osten stand kurz vor dem Zusammenbruch. Und noch wichtiger: Auch die mongolische Welt erlebte einen radikalen Wandel. 1258 überfiel eine mongolische Armee Bagdad. Eine der beeindruckendsten Städte der islamischen Welt wurde auf die übliche Weise geplündert und verwüstet. Eine Armee unter der Führung von Möngkes Bruder Hülegü und ein chinesischer General namens Guo Kann stürmten die Verteidigungsanlagen der Stadt und massakrierten Zehntausende, wenn nicht sogar Hunderttausende Zivilisten. Das Haus der Weisheit, das zu Recht als beste Bibliothek der Welt galt, wurde zerstört. Tausende Bücher und Texte zu Philosophie, Medizin, Astronomie und vielen anderen Themen  – die im Lauf von Jahrhunderten aus dem Griechischen, ­Syrischen, den indischen und persischen Sprachen ins Arabische übersetzt worden waren  – wurden in den Tigris geworfen. Das Wasser des Flusses soll schwarz gewesen sein von ihrer Tinte. Doch noch schockierender war, dass Hülegü den Abbasiden-Kalifen al-Musta ’sim töten ließ. Der Kalif hatte den Fehler gemacht, sich beim Herannahen der Mongolen nicht zu ergeben. Damit war sein Schicksal besiegelt. Der oberste geistige Führer der sunnitischen Muslime wurde in einen Teppich gerollt und von Pferden zu Tode getrampelt. Damit wurde eine Dynastie ausgelöscht, deren Geschichte bis zum Aufstand gegen die Umayyaden 750 zurückreichte.* Die Brutalität der Mongolen kannte anscheinend keine Grenzen – und nichts auf der Welt schien ihnen heilig genug, um es vor der Vernichtung zu bewahren. Doch im folgenden Jahr wurde das unbesiegbare, unersättliche Mongolische Reich schwer erschüttert. Gerade als mongolische Armeen wieder auf dem Marsch waren – einige fielen in Syrien und Palästina ein und

* Siehe Kapitel 4.

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verbreiteten unter den Christen in den Kreuzfahrerstaaten Todesangst, während andere nach Osteuropa zurückkehrten und das polnische Krakau verwüsteten –, schlug im Osten das Schicksal zu. Im August 1259 kam Möngke bei der Belagerung der Bergfestung Diaoyucheng in Sichuan, ­einem Stützpunkt der südchinesischen Song-Dynastie, ums Leben. Ob er an der Ruhr oder an der Cholera starb, von einem Pfeil tödlich verwundet wurde oder von einer Belagerungsleiter stürzte, ist unter Historikern umstritten und wird nie eindeutig geklärt werden.39 Doch egal wie er sein ­Leben verlor, Möngke war auf jeden Fall tot. Und sein Tod hatte gravierende Folgen: Unruhen, Bürgerkrieg und schließlich die Teilung des Mongolischen Reichs in vier separate regionale Mächte, die sogenannten ­Khanate, die sich unterschiedlich entwickeln und ihre eigenen politischen Ziele verfolgen sollten. Dieser Vorgang zog sich über einen längeren Zeitraum hin. Direkt nach Möngkes Tod brach zunächst ein Konflikt im Fernen Osten zwischen seinen möglichen Nachfolgern als Großkhan aus. Vier Jahre lang kämpften Möngkes Brüder Kublai und Ariq Böke um das Recht zu herrschen.* 1264 hatte sich Kublai Khan durchgesetzt. Aber damit waren die Probleme noch lange nicht bewältigt. Kaum hatte sich Kublai in seiner Herrschaft eingerichtet, wurde er von seinem Neffen Kaidu (Sohn des verstorbenen Ögedei) herausgefordert. Daraus entstand ein Konflikt, der sich fast vierzig Jahre lang hinziehen sollte. Mitten im Machtvakuum kam es dann auch noch zu einem regionalen Streit zwischen dem Schlächter von Bagdad, Hülegü Khan, und Berke, dem jüngeren Bruder des west­ lichen Oberkommandanten Batu, der in den Reiseerinnerungen des Johannes de Plano Carpini und Wilhelm Rubruks eine prominente Rolle gespielt hatte, aber 1255 gestorben war. Mit den Details der Konflikte oder den einzelnen Enkeln und Ur­ enkeln Dschingis Khans, die diese Konflikte austrugen, müssen wir uns hier nicht lange aufhalten. Tatsache ist, dass das Mongolische Reich, das in

* Der Konflikt wird auch als Bruderkrieg der Toluiden bezeichnet, da beide Kontrahenten Söhne Toluis waren, der wiederum Dschingis Khans vierter Sohn mit seiner Frau Börte war.

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der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts trotz seiner enormen Ausdehnung so gut funktioniert hatte, nicht mehr zusammenhielt, als sein Leitprinzip – die unerschütterliche Loyalität gegenüber der Autorität eines einzigen, unangefochtenen Anführers – infrage gestellt wurde. Das außerordentliche Post- und Kommunikationssystem, das unter Ögedei eingerichtet worden war und das es Feldherren bei ihren Kriegszügen erlaubte, über Tausende von Kilometern Kontakt zueinander zu halten, war nutzlos, wenn sich die Feldherren mehr für ihre eigenen Ziele interessierten als für die des Großkhans oder für das Wohl des Reichs an sich. Darüber hinaus wurde den Mongolen in gewisser Weise ihre eigene Anpassungsfähigkeit zum Verhängnis. Regionale Kommandanten, die nach China, Zentralasien, Persien und in die russische Steppe entsandt worden waren, fühlten sich nach ­wenigen Generationen stärker mit ihrem Teil des Reichs verbunden als mit dem Konzept der mongolischen Herrschaft. Einige gewannen dem komfortablen Leben in der Stadt schon bald mehr ab als dem Leben unter dem Filz der Jurte. Manche übernahmen lokale Religionen und folgten dem ­tibetischen Buddhismus oder dem sunnitischen ­Islam anstelle des heidnischen Schamanismus ihrer alten Heimat. Diese Entwicklung war vielleicht ganz natürlich: Nicht einmal das mächtige Römische Reich hatte seine r­egionalen Statthalter daran hindern können, sich früher oder später den Einheimischen anzupassen. Im 13. Jahrhundert bedeutete das, dass das Mongolische Reich nicht auf ewig mongolisch bleiben konnte. Die vier Khanate, die aus den Krisenjahren um 1260 hervorgingen, ­waren trotz allem gewaltige Machtblöcke. Das erste und damit älteste war in China angesiedelt und als Reich der Yuan-Dynastie bekannt. Es wurde 1271 von Kublai Khan gegründet und war – oder wurde – durch die Übernahme des Konfuzianismus und die Einbindung der Fähigkeiten der einheimischen Bevölkerung bezüglich technologischer Neuerungen stark chinesisch geprägt. Kublai verlegte seine Hauptstadt von Karakorum in eine eigens zu diesem Zweck gebaute Stadt neben der von den Mongolen zerstörten Jin-Metropole Zhongdu. Die neue Hauptstadt wurde Khanbaliq oder Dadu genannt, von ihr aus wollten Kublai und seine Nachfahren, die Yuan-Dynastie, ihre Herrschaft Richtung Tibet, Korea, den Osten Russlands und Südostasien erweitern. Die Stadt existiert auch heute noch

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in drastisch veränderter Form, aber mit einer ähnlich politischen Rolle: Wir nennen sie Peking oder Beijing. Westlich des Yuan-Reichs lagen die drei anderen mongolischen Nachfolgestaaten. Das Tschagatai-Khanat, das so genannt wurde, weil seine Herrscher von Dschingis Khans zweitem Sohn Tschagatai abstammten, befand sich in Zentralasien und erstreckte sich vom Altai-Gebirge im O ­ sten bis zum Fluss Oxus im Westen. Dieses Khanat war weiterhin vom Nomadentum und verschiedenen Stämmen geprägt und sehr instabil, mit wiederholten Konflikten zwischen rivalisierenden Herrschern. (Im 14. Jahrhundert teilte sich das Khanat, wurde kleiner und schließlich zum sogenannten Mogulistan.) Zusätzlich lagen die Herrscher des Tschagatai-Khanats über viele Generationen mit den Herrschern des mongolischen Ilchanats im Clinch, das von Hülegü und seinen Nachkommen auf dem Gebiet des einstigen persischen Reichs des Choresm-Schahs errichtet worden war. Nachdem die Ilchane das Abbasiden-Kalifat beendet, Bagdad verwüstet und die Herrschaft über Persien, Irak, Syrien, Armenien und die westliche Hälfte Kleinasiens übernommen hatten, waren sie zumindest für kurze Zeit die dominierende Macht im Mittleren Osten. Dadurch wurden sie für die Europäer interessant, weil sie natürlich auch in die ­Politik der Kreuzfahrerwelt eingriffen, woraufhin viele im Westen die ­alten König-David-Fantasien wiederbelebten und sich vorgaukelten, man könne die Mongolen zu Dienern Christi machen. Nach der Lektüre von Wilhelm von Rubruks Bericht über seine Reise nach Karakorum versuchte Ludwig  IX . von Frankreich 1262, Hülegü eine unwahrscheinliche christlich-mongolische Allianz gegen die Mamluken, die neuen islamischen Herrscher in Ägypten, schmackhaft zu machen. Hülegü nährte diesen Traum zunächst und prahlte gegenüber Ludwig, er habe Syrien kürzlich von den Assassinen befreit  – einer schiitischen Sekte, die zurückgezogen in den Bergen lebte und dafür bekannt war, in der Region Attentate auf politische Anführer aller Glaubensrichtungen zu verüben. Er bezeichnete sich als «eifrigen Zerstörer der perfiden Sarazenen, Freund und Förderer der christlichen Religion, energischen Kämpfer gegen Feinde und treuen Freund seiner Freunde» und versprach Ludwig, er werde die Mamluken vernichten, die er als «babylonische Hundemäuse» verunglimpfte.40

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Doch wie sich zeigte, hatten Hülegü und seine Nachfolger nur sehr b­ egrenzt Erfolg gegen die Mamluken, die selbst von Steppennomaden abstammten und disziplinierte und erfahrene Krieger waren. Sie erwiesen sich als Bollwerk, das die mongolische Expansion in der Levante zum Stillstand brachte. Sie sicherten sich Ägypten, Palästina und schließlich einen Großteil Syriens und hatten Ende des 13. Jahrhunderts auch ­jeden mongolischen Vorstoß nach Nordafrika oder Arabien abgewehrt. Das bedeutete, dass sich die Mongolen des Ilchanats auf das alte persische Reich beschränkten, und je länger sie die Rolle als Herrscher ausfüllten, desto ähnlicher wurden sie den vorangegangenen Herrschern in diesem Teil der Welt. 1295 trat der Ilchan Ghazan vom Buddhismus zum sunni­tischen ­Islam über – ein bedeutender Schritt für den Urenkel Hülegüs, immerhin hatte Hülegü den Abbasiden-Kalifen 1258 grausam ermorden lassen. Abgesehen von dieser Ironie war Ghazan ein kultivierter und weitsichtiger Herrscher. Doch nach seinem Tod begann die Autorität der I­ lchane im Lauf des 14. Jahrhunderts zu bröckeln, und regionale Emire übten immer mehr Macht aus, bis das Ilchanat Mitte des Jahrhunderts kaum noch als mongolischer Staat zu erkennen war. Damit blieb nur noch ein weiteres Khanat: die sogenannte Goldene Horde.* Als Reisende wie Johannes de Plano Carpini und Wilhelm von Rubruk das Mongolenreich durchquerten, hatten sie festgestellt, dass der westliche Teil, der sich über die russische Steppe erstreckt, unter der Herrschaft Batus stand, des westlichen Kommandanten. Im weiteren Verlauf des 13. Jahrhunderts wurde das Gebiet zu einem unabhängigen Khanat mit einem eigenen Khan, der über Dschingis Khans ältesten Sohn Dschötschi direkt mit dem Gründer des Mongolischen Reichs verwandt war. Wie im Tschagatai-Khanat führte die Herrscherkaste über weite Teile des Jahres ein Nomadenleben. Allerdings verzichtete sie nicht ganz auf das

* Der Name wurde dem Khanat der russischen Steppe im Nachhinein gegeben und ist ab dem 16. Jahrhundert belegt. Ob er sich jedoch von der goldenen Jurte des westlichen Khans ableitet oder eine Verballhornung einer Kombination aus dem TurkWort orda (Hauptquartier) und dem lateinischen aurum (Gold) darstellt, ist nicht ganz klar.

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Leben in der Stadt.41 Einige der großen Städte der Rus, die in den Jahren der Eroberung verwüstet worden waren, wurden wieder aufgebaut, andere ganz neu errichtet. Wie die sowjetischen Diktatoren, die diesen Teil der Welt im 20. Jahrhundert dominieren sollten, bevorzugten die mongolischen Anführer der Goldenen Horde eigens errichtete Siedlungen, von denen Alt-Sarai und Neu-Sarai die berühmtesten waren. Neu-Sarai, das am Fluss Achtuba lag, einem Nebenfluss der Wolga, zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer, war eine wohl­ habende und elegante Hauptstadt. Ende des 14. Jahrhunderts wurde sie von dem muslimischen Reisenden Ibn Battuta besucht und ausführlich beschrieben: «Sarai zählt zu den schönsten Städten und ist sehr groß, von bedeutendem Ausmaß. Wie ein aufgewühltes Meer wogt die Masse der Einwohner durch diese Stadt. Hier gibt es prächtige Basare und breite Straßen.» Er schätzte, dass man einen halben Tag benötigte, um die Stadt zu durchqueren, und vermerkte, dass es aufgrund der kosmopolitischen Einwohnerschaft «dreizehn Kathedralen und eine große Zahl anderer Moscheen» gab. «Die Einwohner gehören verschiedenen Völkern an; unter ihnen sind Mongolen, die Bewohner und Herrscher dieses Landes, die zum Teil Muslime sind, die As [Osseten], die Muslime sind, außerdem Kiptschak, Tscherkessen, Russen und Griechen, die alle Christen sind. Jede Gruppe lebt in einem separaten Viertel mit eigenem Basar. Kaufleute und Fremde aus dem Irak, aus Ägypten, Syrien und anderen Orten leben in einem Viertel, das von einer Mauer umgeben ist, um ihr Eigentum zu schützen.»42 Ibn Battuta schildert eine wirklich kosmopolitische Atmosphäre, wie es sich für eine Stadt gehörte, die an einer der wichtigsten Routen der ­Seidenstraße lag. Wie wir im nächsten Kapitel noch feststellen werden, hatten die Mongolen einen wesentlichen Anteil am Boom, den der Handel entlang dieser Routen ab dem 13. Jahrhundert erlebte, und die Goldene Horde war ein wichtiger Umschlagplatz für Handelsgüter aller Art, von Seide, Gewürzen, Edelmetallen und Edelsteinen bis zu Pelzen, Salz, Häuten und Sklaven. Das Reich war auch ein Schmelztiegel der Religionen und Kulturen. Ibn Battuta hielt fest, dass die Mongolen­ khane zum Islam konvertiert waren. Doch gegenüber dem Christentum waren sie sehr tolerant, die Orthodoxe Kirche war auf ihrem Gebiet von

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der Besteuerung ausgenommen, und Kirchenmänner mussten nicht in der mongo­lischen Armee dienen. Tatsächlich baten sie russische Geistliche sogar, für ihr Seelenheil zu beten. Auch mit den Fürsten der Rus waren die Khane der Goldenen Horde zu einer friedlichen Koexistenz bereit, wenn diese ihre Oberhoheit anerkannten und Tributzahlungen leisteten. Einer dieser Fürsten war Alexander Newski, Großfürst von Kiew und Wladimir († 1263), ein Held der russischen Bevölkerung und heute Hei­ liger der Orthodoxen Kirche. Newski pflegte exzellente Beziehungen zu Sartaq Khan, dem Khan der Goldenen Horde, den er als wichtigen Verbündeten betrachtete, um christliche Armeen aus Schweden und Deutschland daran zu hindern, auf sein Territorium vorzudringen und ihn unter den Einfluss der römischen Kirche zu bringen. Diese Freundschaft stellte politischen Pragmatismus über religiöse Solidarität, und das zur Zeit der Kreuzzüge, in der Christen und Muslime nicht unbedingt gut miteinander auskamen. Doch sie war auch nicht so ungewöhnlich. Nachdem der Schock über die mongolischen Invasionen abgeebbt war, kamen die Fürsten der Rus und die Herrscher der Goldenen Horde ab Mitte des 13. Jahrhunderts relativ gut miteinander aus: Die Mongolen verlangten Tribut und Militärkontingente und sorgten im Austausch für Frieden unter den Fürsten, beteiligten sie an ihrem lukrativen Handelsnetzwerk und beschützten sie vor ihren Feinden im Westen. Im Gegensatz dazu verwendeten die Khane der Goldenen Horde viel Zeit auf Fehden und Auseinandersetzungen mit ihren mongolischen Vettern im Ilchanat, da diese ihre territorialen Ambitionen im Kaukasus ernsthaft bedrohten und mit ihnen um die Handelsströme auf den unterschiedlichen Routen der Seidenstraße konkurrierten. Dieser seltsame Zustand – bei dem Mongolen gegen Mongolen kämpften und zu benachbarten Fürsten ein gutes Verhältnis pflegten – war in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil dessen, wofür Dschingis Khan gestanden hatte. Und langsam, aber sicher sorgten die Kämpfe der Mongolen untereinander dafür, dass für ein Reich, das einst die Geißel der Welt gewesen war, der Vorhang fiel.

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Dritter Teil: Wiedergeburt

Der letzte Khan Etwa hundert Jahre nach Dschingis Khans Tod wurde 1336 (oder kurz zuvor) der letzte große mongolische Eroberer geboren, der einem ­nomadischen Turkvolk im heutigen Usbekistan entstammte. Er wuchs zu einem intelligenten, militärisch versierten und körperlich starken Mann heran, obwohl sein rechtes Bein gelähmt und seine rechte Hand nur eingeschränkt beweglich war (sie war bei einer jugendlichen Eskapade von einem Pfeil getroffen worden). Er hieß Temür und wird mitunter auch ­Timur Lenk oder Timur Lang («Timur der Lahme») genannt, was in ­Europa teils zu Tamerlan verkürzt wurde. Er war zwar nicht mit Dschingis verwandt, war aber dennoch der Mongolenherrscher, der dem großen alten Krieger am nächsten kam und es fast geschafft hätte, die Welt wieder dem Joch der Mongolen zu unterwerfen. Als Temür in den 1360er Jahren um die dreißig war, war das einstige mongolische Reich ein zersplittertes Gebilde, dessen einzelne Bestandteile sich in verschiedenen Stadien des Verfalls befanden. Wie wir in ­Kapitel 13 noch sehen werden, waren auch die mongolischen Reiche nicht vom Schwarzen Tod und anderen Seuchen verschont geblieben. Doch das war nicht das einzige Problem, mit dem die verschiedenen Khanate zu kämpfen hatten. Im Fernen Osten hatte die Yuan-Dynastie die Verwandlung von einer Nomadenkultur zur typisch chinesischen Autokratie abgeschlossen: aus den ungehobelten, ewig hungrigen Kriegern waren ­tyrannische, paranoide Herrscher geworden, denen nachgesagt wurde, innerhalb der Palastmauern herrsche hemmungslose Verlogenheit und Unzucht. Eine lange und sehr gewalttätige Rebellion, der sogenannte Aufstand der Roten Turbane, der von 1351 bis 1367 dauerte, brachte schließlich die Yuan-Dynastie zu Fall. 1368 kam eine neue Dynastie an die Macht – die Ming –, und die Überlebenden der Yuan mussten zurück in die mongolische Steppe fliehen, wo ein kleiner, belangloser Rumpfstaat namens Nord-Yuan bis ins 17. Jahrhundert weiterbestand. Der Zerfall war jedoch nicht auf den fernen Osten beschränkt. In Persien hatte sich das mongolische Ilchanat aufgelöst und bestand in den 1330er Jahren aus einem Flickwerk unbedeutender Warlord-Territorien. Der letzte unumstrittene Ilchan starb 1335 – etwa zu der Zeit, als Temür geboren wurde.43

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Die Goldene Horde wurde durch Fraktions- und Machtkämpfe geschwächt, und das Tschagatai-Khanat, in dem Temür geboren wurde, war praktisch schon geteilt. Dschingis, Ögedei oder Kublai Khan hätten das alles nicht wiedererkannt. Die mongolischen Nachfolgestaaten ähnelten nicht einmal mehr entfernt der Supermacht, die sie einst gebildet hatten. Doch Temür konnte die Zeit auf spektakuläre Weise zurückdrehen – wenn auch nur vorübergehend. Zwischen seiner ersten Schlacht 1360 und seinem Tod im frühen 15. Jahrhundert sammelte er die Scherben des Mongolischen Reichs auf und setzte sie unter seiner charismatischen Führung wieder zusammen. Sein Weg zur Herrschaft folgte einem bewährten Rezept: Nachdem er dank seiner militärischen Fähigkeiten und seines di­plomatischen Talents in der Stammesgesellschaft Zentralasiens aufgestiegen war, richtete er den Blick nach außen. Er scharte eine große multiethnische Armee aus motivierten Kriegern um sich, die durch die Gegend zogen und alle Gebiete nah und fern terrorisierten, die sich nicht unterwarfen. Seine Aggression rechtfertigte er mit dem direkten Verweis auf die Geschichte: Er selbst stammte zwar nicht von Dschingis ab, doch zwei seiner vier Dutzend Frauen und Konkubinen waren Nachfahren des alten Khans. Temür leitete daraus das Recht ab, das Reich wiederher­ zustellen, das der Alte durch seine Eroberungen geschaffen hatte. Er bezeichnete sich selbst als Schwiegersohn (küregen) von Dschingis und war selbst kein Khan (er behauptete, er handele nur im Namen der Marionettenkhane in Zentralasien), trug aber den Titel Großemir und gab sich wie ein mongolischer Herrscher.44 Temür war sich also seiner Stellung in der mongolischen Geschichte bewusst. Und was die Geschichte verlangte, sollte unter Verwendung historischer Methoden erreicht werden. Unter Temür standen Massaker und Folterungen wieder auf der Tagesordnung. Städte wurden verwüstet und Köpfe abgehackt. Leichen blieben unbestattet liegen, verrotteten in der Sonne und dienten als Aas. Menschen wurden aus ihren Häusern getrieben und als Sklaven in Temürs Heimat deportiert, um nie zurückzukehren. Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Zivilisten ließen ihr Leben, damit Temür seinen Ehrgeiz befriedigen konnte und in seiner Überzeugung bestätigt wurde, dass politischer Erfolg darin bestand, die

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halbe Welt unter dem Banner der mongolischen Herrschaft (ein ohnehin wenig Erfolg versprechendes Vorhaben) zu vereinen. Jahrzehnte expansionistischer Feldzüge in ganz Asien, Südrussland und dem Mittleren Osten brachten Temür die Vorherrschaft über drei der vier alten Khanate: das Tschagatai-Khanat, das Ilchanat und die Goldene Horde; am Ende hielten nur die Ming-Kaiser stand. Darüber hinaus drang er auch nach Westen vor, bis tief nach Kleinasien, eine Zeit lang schien er ganz Europa zu bedrohen. Dort versetzten die Nachrichten von seinen gewaltigen Eroberungen die christlichen Könige in Unruhe, aber auch in Aufregung. Noch immer im Bann der Geschichten vom Priesterkönig Johannes fragten sich viele, ob es besser sei, vor Temürs Namen zu zittern oder zu versuchen, ihn zum Christentum zu bekehren und dafür einzuspannen, ihre gemeinsamen Feinde zu vernichten  – vor allem die osmanischen Türken, die mittlerweile die Kontrolle über die ehemaligen byzan­tinischen Provinzen im östlichen Mittelmeerraum errungen hatten. Doch wie so oft wurden ihre Hoffnungen (wenig überraschend) zerschlagen, denn Temür war genauso wenig ein Freund der Christen wie aller anderen Völker, er stand sich selbst am nächsten. Manchmal ließ er christliche Gemeinden in den von ihm beherrschten Provinzen in Frieden und verlangte nur, dass sie ihm Steuern zahlten oder Tribut leisteten. Ein andermal i­ nszenierte er sich als Vertreter des Dschihad und als sunnitischer Muslim (obwohl er keine Probleme damit hatte, andere Muslime zu ­töten, wenn es ihm passte). Die nestorianischen Christen in Persien und Zentralasien verfolgte er jedenfalls so brutal, dass sie praktisch ausgerottet wurden. Als Temür 1405 starb, war er tatsächlich in Dschingis ’ Fußstapfen getreten – eine bemerkenswerte Leistung, auch wenn er die Rolle des Nachfolgers eher oberflächlich ausfüllte. Er hatte mehr oder weniger den gesamten asiatischen Kontinent und den Mittleren Osten terrorisiert, ein riesiges Reich zusammengeführt, das sich seinem persönlichen Kommando beugte, und eine so massive Umverteilung von Vermögen und künstlerischem Talent bewirkt, dass der Boden für ein kulturelles und ­intellektuelles goldenes Zeitalter in Zentralasien bereitet war, wo seine Hauptstadt Samarkand – wie zuvor Karakorum – durch die Kriegsbeute zu einer reichen und prächtigen Metropole wurde. Dies erlöste die Stadt

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aus ihrem elenden Dasein, in das sie seit Dschingis ’ Attacken im 13. Jahrhundert gefallen war: Sie wurde neu geplant, neu aufgebaut und neu besiedelt. Handwerker und Künstler, die aus anderen Ländern entführt ­worden waren, wurden dorthin gebracht und mit der Instandsetzung beauftragt. Sie statteten Samarkand mit protzigen Monumentalbauten aus, mit Palästen und öffentlichen Gärten, Stadtmauern, Toren, Moscheen und Statuen.45 Genau wie das Reich im 13. Jahrhundert war auch Temürs brutal zusammengefügtes Imperium nicht von Dauer. Als sich das Mittelalter im späten 15. Jahrhundert dem Ende näherte, war das Reich schon wieder auseinandergefallen. Die Temüriden, wie Temürs Zweig der Mongolenherrscher genannt wurde, konnten seine Eroberungen nicht zusammenhalten. Die Ming herrschten in China. Eine turkmenische Stammesföderation, die sunnitischen Aq Qoyunlu, übernahm Persien und Mesopo­tamien. Usbekische Stämme überrannten Zentralasien. Das Reich der ­ Goldenen Horde, das schwer unter Temürs Invasion in den 1390er Jahren gelitten hatte, fiel im 15. Jahrhundert endgültig auseinander und hinterließ nur ­einige versprengte unabhängige «Tartaren»-Khanate. Zwei davon  – das Khanat der Krim, auch Kleine Tatarei genannt, und das Kasachische ­Khanat, das sich weitgehend mit dem heutigen Kasachstan deckt – überlebten das Mittelalter. In Afghanistan und Nordindien hinterließ Temür ein bedeutendes imperiales Vermächtnis: Sein Nachkomme Babur gründete im frühen 16. Jahrhundert das Mogulreich in Kabul. Doch obwohl die Mogulherrscher in der frühen Neuzeit einen wichtigen Machtfaktor verkörperten, waren sie kaum noch als Erben der Mongolen zu erkennen. Wie Dschingis zeigte auch Temür ein besonderes Talent für Eroberung und Expansion. Einen stabilen, geeinten Superstaat aufzubauen, der ihn um Generationen überlebte, war nicht seine Sache. Doch das war, wie man fairerweise sagen muss, auch nie sein Ziel gewesen. So hatten sich die Mongolen im Verlauf von nicht einmal zwei Jahrhunderten von der östlichen Steppe aus zu Herrschern über die gesamte eurasische Welt aufgeschwungen und sich, nachdem ihr Reich vorübergehend implodiert war, noch einmal kurzzeitig vereinigt, um dann ­erneut auseinanderzufallen. Ihre ungewöhnliche Geschichte ist vielleicht

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eine der blutigsten im gesamten Mittelalter. Die mongolischen Methoden der Eroberung, von Dschingis Khan eingeführt und perfektioniert, von Temür übernommen, kann man als Vorläufer der Terrorherrschaften des 20. Jahrhunderts betrachten, während derer Millionen Menschen ihr ­Leben lassen mussten, um die wahnsinnigen persönlichen Ambitionen charismatischer Herrscher umzusetzen und eine bestimmte Ideologie in der Welt zu verbreiten. Doch neben ihrem Blutdurst und einer Grausamkeit, die man nicht einfach mit historischem Relativismus abtun kann, muss man auch festhalten, dass die Mongolen die Welt tiefgreifend ver­ änderten – zum Guten wie zum Schlechten. Einige dieser Veränderungen betrafen die grundlegende politische Geografie. Die Neigung der Mongolen, Städte in Schutt und Asche zu legen, sie neu aufzubauen oder komplett auszuradieren, führte zu einer Neu­ ausrichtung ganzer Regionen. Im Fernen Osten entstand durch ihre Eroberungen die Vorstellung eines großchinesischen Reichs mit einer imperialen (oder quasi-imperialen) Dynastie, die über ein riesiges Territorium herrschte und vom heutigen Peking aus regiert wurde. Dieses Reich erstreckte sich bis in die Steppe und umfasste eine enorme Zahl verschiedener ethnischer Gruppen. Im Mittleren Osten musste das einst dominante Bagdad nach der Zerstörung seine Position an Täbris in Aserbaidschan abgeben. In Zentralasien wurde Samarkand dank Temürs Plünderungen auf einen Schlag zum neuen Machtzentrum. In Russland entwickelte sich ein verschlafener Warenumschlagplatz namens Moskau zum regional ­dominierenden Handelszentrum – zunächst, weil Kaufleute dort in sicherer Entfernung von den Mongolen der Goldenen Horde ihren Geschäften nachgehen konnten, später wurde die Stadt dann Bündnispartner der Khane der Goldenen Horde und im 16. Jahrhundert Hauptstadt eines ­dominierenden Staates in Westasien, dessen Oberhaupt als Zar die Herrschaft über die gesamte Rus beanspruchte.46 Ein weiterer wichtiger Punkt ist natürlich die Religion. Die ursprüngliche Laissez-faire-Haltung der Mongolen gegenüber religiösen Dogmen wirkt erfrischend im Vergleich zum Fanatismus der Kreuzfahrer  – ein Historiker argumentiert sogar, sie hätten damit ein schönes historisches Beispiel dafür gegeben, dass das Prinzip der Religionsfreiheit, das im Westen so geschätzt und in der amerikanischen Verfassung besonders

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verankert ist, seine Ursprünge in der Philosophie Dschingis Khans habe.47 Doch abgesehen davon brachten die Mongolen auch tief greifende Veränderungen für die konfessionelle Zusammensetzung Eurasiens. Durch den Übertritt zum Islam schufen die mongolischen Herrscher des Ilchanats und der Goldenen Horde eine ausgedehnte islamische Zone, die sich vom Tian-Shan-Gebirge bis zum Kaukasus erstreckte, wo sie sich mit den ­türkischen und arabischen Reichen im östlichen Mittelmeerraum und in Nordafrika verband. Der stark islamische Charakter im heutigen Zentralasien und in Südrussland ist weitgehend auf die Mongolen zurückzu­führen. Und das ist nicht erst im Rückblick zu erkennen. Schon die christlichen Fürsten und franziskanischen Mönche, die verschiedene Mongolenherrscher immer wieder baten, zu ihrem «König David» zu werden und zum Christentum überzutreten, stellten fest, dass die religiöse Identität der dominierenden Macht einen nachhaltigen Effekt auf die ­Verteilung der Weltreligionen haben würde. Wenn es ihnen gelungen wäre, Herrscher wie Möngke Khan zur Taufe zu bewegen, gäbe es heute vielleicht mehr Kirchtürme als Minarette in Asien, und das Verhältnis zwischen modernen Staaten wie den USA und Iran oder Russland und der Türkei sähe womöglich ganz anders aus. Aber das sind Spekulationen. Was gesichert ist und einen genaueren Blick verdient, ist die Art und Weise, wie die Mongolen den globalen Handel und die Reiserouten veränderten. Die Ursache dafür war, dass die ­territorialen Ambitionen der Mongolen und das Ausmaß ihrer Eroberungen es Reisenden ermöglichten, Tausende Kilometer zurückzulegen, ihren Horizont zu erweitern und sicher heimzukehren, um von ihren Erlebnissen zu erzählen. Die Neuordnung Zentralasiens, Persiens und der Kiewer Rus war ähnlich grausam wie die imperialistischen Expansionen im 19. Jahrhundert. Doch wie der Wettlauf um die Kolonien im Zeitalter des Imperialismus eröffnete der blutige Raubzug der Mongolen globale Handels- und Informationsnetzwerke, die ein neues Zeitalter in der westlichen Geschichte einläuteten. So brutal ihre Methoden auch waren, die von ihnen herbeigeführten Veränderungen waren bahnbrechend. Die Transformation des Handels ist wahrscheinlich der größte Beitrag der Mongolen zu der Geschichte, die wir in diesem Buch erzählen. Deshalb beschäftigen wir uns auch etwas

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Dritter Teil: Wiedergeburt

eingehender mit diesem Teil ihres Vermächtnisses und betrachten, wie unerschrockene Kaufleute, Gelehrte und Entdeckungsreisende im Gefolge der mongolischen Eroberungen Ideen und Güter austauschten, neuen Reichtum schufen und dabei die westliche Welt und das westliche Denken veränderten.

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Kaufleute «Im Namen Gottes und des Geschäfts» Lebensmotto des toskanischen Kaufmanns Francesco di Marco Datini

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nfang September 1298 griffen zwei Flotten, zum Krieg gerüstet, ­einander in der Adria an, in der Meerenge zwischen dem dalmatischen Festland und der Insel Curzola (Korčula). Die schlanken Galeeren, alle vollgepackt mit Soldaten, trugen die Flaggen der beiden führenden europäischen Seerepubliken: Venedig und Genua. Die beiden ehrgeizigen autonomen Stadtrepubliken  – Venedig im Nordosten und Genua im Nordwesten der italienischen Halbinsel – bekriegten sich (zusammen mit Pisa als dritter Rivalin) seit fast fünfzig Jahren. Sie hatten im Heiligen Land und in Konstantinopel gekämpft. Sie hatten in den Hafenstädten des Schwarzen Meeres gekämpft, vor den Inseln der Ägäis und in der ­Adria. Bei ihrem Konflikt ging es um die Oberhoheit auf dem Meer, und keine der Parteien ging dabei zimperlich vor, denn ein Sieg würde mehr einbringen als nur Vorteile gegenüber den Nachbarn oder Beute. Die ­Venezianer, Genuesen und Pisaner konkurrierten miteinander um die ­Position als führende Handelsmacht im Westen. Um die Wende zum 14. Jahrhundert war das kein geringer Preis. Der Welthandel boomte. Handelswaren und Luxusgüter wurden mit einer Geschwindigkeit um die halbe Welt transportiert, die man in der Geschichte der Menschheit nur selten erlebt hatte. Es lohnte sich, für die Dominanz im Handel zu kämpfen – und zu sterben. Die Schlacht in der Straße von Curzola war eine blutige und einseitige Angelegenheit. Der brillante genuesische Admiral Lamba Doria, Mitglied

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der schwindelerregend berühmten Adelsfamilie, hatte deutlich weniger Schiffe zur Verfügung als sein Gegner Andrea Dandolo – ein Verwandter des betagten Dogen Enrico Dandolo, der Konstantinopel im Vierten Kreuzzug niederbrennen ließ. Aber Doria hatte Glück und die Gezeiten auf seiner Seite. Als sich die Ruder der Galeeren ineinander verhakten, trieben seine Kapitäne die Venezianer in seichtes Gewässer, wo viele ihrer Schiffe auf Grund liefen. Die Genuesen enterten die festsitzenden feindlichen Schiffe und töteten die Besatzungen oder nahmen sie gefangen, um anschließend fast die gesamte venezianische Flotte zu versenken. Bis zu siebentausend venezianische Seeleute wurden getötet. Admiral Dandolo wurde gefangen genommen und beging Selbstmord, weil er die Schande der Niederlage nicht ertragen konnte. Als die Nachricht von der Demütigung in Venedig eintraf, mussten die Stadtoberen um Frieden bitten. Die Schlacht von Curzola sollte nicht als Glanzstunde in die Geschichte Venedigs eingehen. Doch seltsamerweise erinnerte man sich auch nicht an den genuesischen Triumph. Stattdessen wird das blutige Gemetzel im blauen Wasser vor der dalmatischen Küste mit einem bestimmten venezianischen Kriegsgefangenen der Genuesen in Verbindung gebracht. Er war ein erfahrener Abenteurer, stammte aus einer Kaufmannsfamilie und bereiste die Welt schon länger als fast jede andere noch lebende Person. Auf seinen Reisen hatte er ganz außergewöhnliche Dinge gesehen und viele erstaunliche Menschen getroffen. Der Überlebenskünstler und Charmeur hatte viele interessante Geschichten zu erzählen. Und nach seiner Gefangennahme in der Schlacht von Curzola hatte er die Möglichkeit, sie auch schriftlich festzuhalten. Er war zusammen mit einem sympathischen und talentierten professionellen Autor in Haft, Rustichello da Pisa, der sich die Erinnerungen seines Zellengenossen anhörte und sie für die Nachwelt aufschrieb. Das Ergebnis war ein überaus populärer Reisebericht, von dem auch heute noch jedes Jahr Tausende Exemplare verkauft werden. Die Rede ist natürlich von Marco Polo – und seine Geschichte ist zu Recht eine der berühmtesten des ganzen Mittelalters. Der 1253 in Venedig als Sohn einer Kaufmannsfamilie geborene Marco Polo war fünfundvierzig Jahre alt, als er in der Schlacht von Curzola

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kämpfte. Den Großteil seines Erwachsenenlebens hatte er außerhalb ­Europas verbracht. Sein Vater Niccolò Polo und sein Onkel Maffeo Polo gehörten zur Vorhut der europäischen Reisenden am mongolischen Hof und waren bereits 1260 zum Hof des Kublai Khan aufgebrochen, da sie ihre geschäftlichen Aktivitäten in Konstantinopel eingestellt hatten, bevor dort wieder ein byzantinischer Kaiser an die Macht kam.* Auf ihrem Weg nach Fernost hatten sie festgestellt, dass die Mongolen sehr interessiert am westlichen Handel waren und brieflich diplomatischen Kontakt zu den Königen und Päpsten Europas aufnehmen wollten. Ein Jahrzehnt lang reisten Niccolò und Maffeo nun zwischen Ost und West hin und her. Als sie 1271 in Venedig aufbrachen, nahmen sie Marco mit. Damit begann eine wunderbare Reise für ihn, der damals noch ein Teenager war. In der Einleitung zu Marco Polos Erinnerungen (heute bekannt als Marco Polos Reisen, aber ursprünglich mit dem Titel Le divisament dou monde, «Die Aufteilung der Welt», oder dem französischen Titel Le Livre des merveilles du monde, «Das Buch von den Wundern der Welt», versehen) heißt es, «seit der Erschaffung Adams bis auf den heutigen Tag hat kein Mensch, mag er nun Heide, Sarazene oder Christ sein oder sonst einem Völkerstamm oder Geschlecht angehören, so viele und so gewaltige Dinge gesehen … wie der erwähnte Marco Polo».1 Das war natürlich übertrieben – geschickt in die Geschichte eingefügt von Rustichello, der sein Talent für das Verfassen von Bestsellern bereits mit Artus-Romanen für den eng­ lischen König Eduard  I . unter Beweis gestellt hatte. Aber allzu weit entfernt von der Wahrheit war es auch nicht. Wie in Kapitel 9 dargelegt, waren die Mitglieder der Familie Polo kei-

* 1261 stürzte Michael Palaiologos, Mitherrscher des kleinen griechischen Reiches ­Nicäa, das überwiegend in Kleinasien lag, Balduin II., den letzten lateinischen Kaiser von Konstantinopel. Michael VIII., wie er sich nun nannte, wollte die Uhren in Konstantinopel auf die Zeit vor dem Vierten Kreuzzug zurückdrehen und ließ dafür Gebäude restaurieren, führte in den Kirchen wieder den orthodoxen Ritus ein und nahm blutige Rache an den Venezianern für ihr schändliches Verhalten zu Beginn des Jahrhunderts. Die Polo-Brüder hatten diese Entwicklung vorausgesehen und ihren Besitz in Konstantinopel verkauft, um einer Beschlagnahmung und ihrem Ruin zuvorzukommen.

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neswegs die ersten europäischen Reisenden, die im 13. Jahrhundert das Land der Khane erreichten. Seit den 1240er Jahren zogen Gesandte und Missionare regelmäßig Richtung Osten. Wir haben bereits Johannes de Plano Carpini und Wilhelm von Rubruk kennengelernt. Und es gab noch viele andere. Johannes von Montecorvino wurde in den 1290er Jahren auf Anweisung des Papstes nach Khanbaliq (Peking) geschickt, um sich dort als erster Erzbischof der Stadt niederzulassen. Zwanzig Jahre lang war er als Missionar tätig, bekehrte die Menschen und predigte in den von ihm gegründeten Kirchen, außerdem übersetzte er das Neue Testament ins Mongolische. Etwa zur selben Zeit reiste Thomas von Tolentino durch Armenien, Persien, Indien und China und predigte unermüdlich, bis er in Thane (heute Teil der Metropolregion Mumbai) wegen Blasphemie verurteilt und hingerichtet wurde, weil er den muslimischen Behörden erklärt hatte, Mohammed schmore in der Hölle. Später, zwischen 1318 und 1329, absolvierte Odorich von Pordenone als Prediger eine Mammut-Tour durch China und Westindien. Und Giovanni de Marignolli lebte als spiritueller Berater des letzten Kaisers der Yuan-Dynastie von 1338 bis 1353 in China. Doch Marco Polo unterscheidet sich von diesen anderen Reisenden. Sie waren fast alle Mönche – Dominikaner oder Franziskaner –, deren Hauptaufgabe darin bestand, das Wort Gottes zu verbreiten und sich für die lateinische Kirche einzusetzen. Die Strapazen der Reise waren für sie Teil ihrer spirituellen Berufung. Die Polos waren zwar auch Christen, aber keine Kirchenleute. Sie stießen nicht Tausende Kilometer in unbekanntes Terrain vor, um Seelen zu retten. Sie waren Kaufleute: Händler, die nach Gewinn strebten, vor allem durch den Verkauf kostbarer Steine an reiche mongolische Fürsten, und sich nebenbei als Vermittler von Geschäften und als Diplomaten betätigten. Und in erster Linie waren sie Venezianer – Bürger einer besonders rücksichtslosen und international orientierten Kaufmannsnation. Marcos Abenteuer im Osten waren daher etwas ganz anderes als die der Mönche. Er reiste nicht auf der Suche nach Erlösung in den Osten, sondern auf der Suche nach Profit. Die Reise der Polos in den Osten folgte einer allgemein bekannten Route. 1271 segelten sie von Venedig nach Konstantinopel und überquerten anschließend das Schwarze Meer, um in der armenischen Hafenstadt

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Trapezunt an Land zu gehen. Auf Kamelen ging es über Land weiter, quer durch Persien bis nach Zentralasien und von dort bis zum Sommerpalast des Kaisers in Shengdu (manchmal auch Xanadu genannt), den sie nach insgesamt dreieinhalb Jahren erreichten. Die prächtige Residenz, in Marmor erbaut und mit vergoldeten Säulen dekoriert, beherbergte viele bizarre und exotische Gefolgsleute des Kaisers, darunter Zauberer, die ­lebende Tiere opferten, das Fleisch verurteilter Krimineller aßen und bei den Mahlzeiten Zauberkunststücke vorführten, oder Tausende kahlköpfige asketisch lebende Mönche, die das Feuer verehrten und auf dem B ­ oden schliefen.2 Und natürlich diente der Palast auch Kublai Khan persönlich als Residenz, dem Enkel von Dschingis und dem «Herrn der Herren … denn die Zahl seiner Untertanen, die Ausdehnung seiner Länder und die Größe seiner Einkünfte übertreffen die aller anderen Fürsten, die je gelebt haben und noch leben»,3 wie Marco Polo schrieb  – der dieses Loblied aus gutem Grund sang. Denn der letzte der Großkhane bot Marco Polo Möglichkeiten, die sein Leben für immer verändern sollten. Der zielstrebige und kluge junge Mann mit seinem kulturellen Einfühlungsvermögen und dem selbstsicheren Auftreten in fremder Umgebung weckte das Interesse Kublai Khans, sobald er bei Hof vorgestellt wurde, und er wurde daher zum Ehrenbegleiter des Khans ernannt. Für Marco Polo war das ein gewaltiger Schritt ins Ungewisse, aber er konnte sich bewähren, was nicht zuletzt auch an seiner Fähigkeit lag, neue Sprachen zu lernen: «In kurzer Zeit machte er sich mit den Sitten der Tataren bekannt, wußte sie sich zu eigen zu machen und verstand bald die verschiedenen Sprachen der Tataren so gut, daß er sie auch lesen und schreiben konnte», heißt es in seinem Reisebericht.* Während Niccolò und Maffeo mit Gold und Juwelen handelten, war Marco als reisender Hofbeamter beschäftigt, dem der Khan «die vertraulichsten Missionen in alle Teile des Reiches» auftrug. Er übernahm offizielle diplomatische Aufgaben und hatte dabei

* Die westlichen Schulkinder von heute, die von ihren besorgten Mittelschichteltern gedrängt werden, Mandarin zu lernen, um sich auf ein von China dominiertes 21. Jahrhundert vorzubereiten, können sich vielleicht damit trösten, dass sie damit einer Tradition folgen, die mindestens bis zu Marco Polo zurückreicht.

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einen wachen Blick für die kuriosen Sitten und kleinen Fehler der Menschen in den fernsten Regionen des Mongolenreichs, nach denen der Khan bei seiner Rückkehr an den Hof stets fragte.4 Die lebendigen Erzählungen, die Marco für den Khan zusammentrug, bildeten die Grundlage für seinen späteren Reisebericht; und so, wie sie den Khan unterhielten, faszinierten sie auch die Europäer, denen Polo die Städte, Landschaften und Menschen im Osten Chinas, in Burma, Malaysia, Sri Lanka, Westindien und Persien beschrieb. Dazu kamen Geschichten über Russland und die «Region der Dunkelheit» – ein Ort, wo blassgesichtige Stämme im permanenten Halbdunkel lebten und wilde Tiere wegen ihrer Felle in Fallen fingen. Marco interessierte sich besonders für ungewöhnliche religiöse Praktiken und Lebensmittel, sexuelle Gewohnheiten, seltsame Krankheiten und eigenartige körperliche Merkmale. Er hatte jedoch auch ein Auge für die Flora und Fauna und die Topografie. Doch nichts fesselte ihn so sehr wie der Handel. Sein Vater und sein ­Onkel hatten zwar mehr mit den eigentlichen Geschäften der Familie im Mongolischen Reich zu tun, dennoch verlor er nie sein venezianisches Gespür für Profit. Fast überall, wo er hinkam, registrierte er auch die geschäftlichen Möglichkeiten und entdeckte beispielsweise, dass die Stadt Scheberghan in Afghanistan die besten Süßigkeiten aus getrockneten Melonen exportierte.5 In der Region um Balch (ebenfalls in Afghanistan) wurden unglaubliche Rubine gefunden, deren Abbau und Verkauf ins Ausland streng begrenzt waren, um die Preise hoch zu halten.6 In Kaschmir, berichtete er, würden die Einwohner «Korallen, die aus Europa hierher gebracht werden, … besser als irgendein anderes Volk der Welt» bezahlen.7 Hami im Nordwesten Chinas verfügte dank Zuhälterei und Prostitution über eine blühende Ökonomie.8 In einem Ort, den er als «Su-chau» kannte (in der heutigen Provinz Gansu in China), gab es eine köstliche Rhabarbersorte: «Die Kaufleute sammeln ihn und versenden ihn in alle Teile der Welt.»9 In Gouza (Tschochou) wurden wundervolle Gaze und golddurchwirkte Stoffe hergestellt.10 Der beste Kampfer kam aus Java.11 Die schönsten Perlen wurden von professionellen Perlentauchern in der Palkstraße, einer Meerenge zwischen Indien und Sri Lanka, aus dem Meer geholt.12 Kollam (im indischen Bundessstaat Kerala) produzierte hervorragendes Indigo,

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das zu Höchstpreisen in Europa verkauft werden konnte.13 Marco Polo war bei seiner Suche nach kommerziellen Informationen so gründlich, dass er sogar die Handelsvorteile von Orten auflistete, die er nicht gesehen hatte: Die besten Elefantenstoßzähne und der beste Amber, erklärte er, kämen über den Indischen Ozean aus Madagaskar und Sansibar, während Aden im Jemen der Handelsplatz sei, wo man mit Pferden, Gewürzen und «Spezereien» die höchsten Gewinne erzielen könne.14 Sein größtes Lob sparte sich Marco jedoch für Kinsai (heute Hangzhou in der Nähe von Shanghai) auf, seiner Meinung nach war die Stadt die schönste der Welt: ein Labyrinth aus Straßen, Kanälen, Markt- und sonstigen Plätzen und «zahllosen» Geschäften. Er liebte Kinsai. Er bewunderte die Frischmärkte, auf denen man lebende Tiere günstig kaufen konnte, die dann vor Ort geschlachtet wurden. Er genoss die frischen Früchte, den Fisch, den lokalen Wein, «Spezereien, Gewürze, Perlen und Tand aller Art», die in den Läden am Straßenrand verkauft wurden, die sich im Erdgeschoss der hohen Wohnhäuser an den Marktplätzen ­befanden. Er war begeistert vom täglichen Gewimmel der Einkäufer und Händler, deren Zahl er auf vierzig- bis fünfzigtausend schätzte. Er bewunderte die effiziente städtische Verwaltung, bei der eine Art Polizei ­gegen Verbrechen, Betrug und gewalttätige Versammlungen vorging, die Abfolge der Stunden mit Gongschlägen signalisiert wurde und die Straßen nicht mit Gold, aber einem praktischen Belag aus Ziegeln und Kieselsteinen gepflastert waren, damit Kuriere, Kutschen und Fußgänger gut und schnell vorankamen, wodurch Geschäfte zu jeder Tageszeit möglich waren. Kinsai war ein Zentrum für Papiergeld, mit parfümierten Kurti­ sanen, geschäftigen Werkstätten und einem reibungslosen Handel: ein Venedig fern von Venedig, bewohnt von 1,6 Millionen Familien, die dort (laut Marco Polo) «wegen ihrer Größe und Schönheit» lebten, «so daß ihre Bewohner glauben können, sie wohnten im Paradiese».15 Selbst im genuesischen Gefängnis musste Marco beim Diktieren offenbar nur die Augen schließen, um wieder dort zu sein. Die Lebendigkeit und die exotischen Details von Marco Polos Erzählungen machten (und machen) seinen Reisebericht so lesenswert. Doch zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte sein Werk eine Bedeutung, die es über

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ein reines Sammelsurium orientalischer Kuriositäten hinaushob. Polo war mehr als ein mittelalterliches Äquivalent zum Blogger, der über sein Sabbatjahr berichtet, denn er bot zahlreiche wertvolle Erkenntnisse für den Handel. Wir haben bereits die Beispiele gesehen, in denen dem umtriebigen Händler wertvolle Tipps für den Handel mit Juwelen, Elfenbein oder Rhabarber gegeben wurden. Doch Marco Polo berichtete auch ausführlich über die allgemeinen Bedingungen, unter denen Kaufleute ihren Geschäften nachgehen konnten. In Persien, wo es einen großen Markt für den Handel mit Pferden gab, die nach Indien weiterverkauft wurden, seien die Menschen in vielen Regionen «wild und blutrünstig und machen sich ein Gewerbe daraus, einander gegenseitig umzubringen». Aber Kaufleute und Reisende ließen sie in Ruhe, weil sie in Furcht vor den Mongolen lebten, die «solche Verbrechen streng bestrafen».16 In China, wo Papiergeld verwendet wurde, bedeutete die fortschrittliche Haltung zur Makroökonomik, so Marco Polos Fazit: «Der Großkhan verfügt über einen größeren Schatz als irgendein anderer Fürst dieser Welt».17 Entlang den wichtigen Straßen im gesamten Reich, berichtete er, würden Bäume gepflanzt, die zugleich schön, aber auch nützlich seien, weil sie im Sommer Schatten spenden und im Winter den Weg markieren würden.18 Das alles war wichtig, denn es zeigte, wie unter der Pax Mongolica – innerhalb der riesigen Handelszone, die von den Mongolen verwaltet und befriedet wurde – eine neue, auf Handel ausgerichtete und global vernetzte Welt entstand. Marco rührte kräftig die Werbetrommel für das mongolische Regime, das bei all seiner Härte und seinen Restriktionen den Frieden wahrte und einen florierenden Handel ermöglichte, der sicher und ungehindert über bis dahin unvorstellbar große Entfernungen getrieben werden konnte und den christlichen Westen direkt mit dem chinesischen und indischen ­Osten verband. Reisen über Land durch das islamische Persien waren nun sicher und kalkulierbar. Dieses Fazit fällt jedoch nicht rundherum positiv aus: Für Millionen massakrierter Zivilisten und ihre Familien waren die mongolischen Eroberungen im 13. Jahrhundert kein ökonomisches Wunder, sondern eine Katastrophe und Tragödie. Doch aus der amoralischen Sicht eines profitgierigen Kaufmanns hatten die Khane für einen Boom gesorgt. Und in der Vorstellung von Marco Polo bot der Osthandel Möglichkeiten,

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die sich umtriebige Geschäftsleute nicht entgehen lassen sollten, vor allem nicht die Kaufleute der fortschrittlichen italienischen Stadtrepubliken. Marco Polo hatte einen wichtigen Punkt erkannt. Und in gewisser Weise hatte er bezüglich der Mongolen auch recht. Aber er erzählte natürlich nicht die ganze Geschichte. Denn nicht nur der Handel in Fernost ­erlebte im 13. Jahrhundert einen Boom. Auch in Europa vollzogen sich bedeutende Veränderungen. Zu Marco Polos Lebzeiten und noch ein Jahrhundert danach erlebte die westliche Welt einen gewaltigen wirtschaft­ lichen Umbruch. In Handel und Finanzwesen entwickelten sich immer ausgefeiltere Methoden. Neue Märkte taten sich auf. Historiker sprechen in diesem Zusammenhang von der kommerziellen Revolution, und der Name trifft tatsächlich zu. Was sich im 13. und 14. Jahrhundert ereignete, ist wirtschaftlich genauso bedeutend wie die industrielle Revolution im 19. Jahrhundert und die digitale Revolution, die wir derzeit erleben. Die kommerzielle Revolution gab neuen Akteuren Macht, die nun an der Seite von Kaisern, Päpsten und Königen auftraten. Dank der Revolution erlangten Kaufleute eine bedeutende Stellung in der mittelalterlichen Gesellschaft und Kultur. Städte, in denen Kaufleute dominierten, erhielten einen neuen politischen Status und mehr Unabhängigkeit. Über die Vorlieben in Kunst und Literatur bestimmten Kaufleute, die es sich leisten konnten, als Mäzene aufzutreten und auch selbst künstlerisch tätig zu werden. Regierungen und Kriege wurden vom Geld der Kaufleute gestützt. Ein gängiges Klischee über das Mittelalter, das auch von Histo­ rikern gern zitiert wird, besagt, dass die damalige Gesellschaft aus drei Gruppen bestand: denen, die beteten, denen, die kämpften, und denen, die arbeiteten. Doch ab dem 13. Jahrhundert muss man auch diejenigen berücksichtigen, die Güter und Geld hin und her bewegten, Geld anlegten und ausgaben. Mit dem Aufstieg der Kaufleute und ihrem Beitrag zum Mittelalter und der heutigen Welt werden wir uns im weiteren Verlauf dieses Kapitels beschäftigen.

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Ab- und Aufschwung Der Handel ist fast so alt wie die Gesellschaft an sich. Bereits vor über zweihunderttausend Jahren transportierten die Menschen der Steinzeit in Ostafrika (im heutigen Kenia) Obsidiane, ein hartes vulkanisches Gesteinsglas­, aus dem sich Werkzeuge und Waffen herstellen ließen, über Distanzen von bis zu 150  Kilometern, um damit Tauschhandel zu treiben.19 In der Bronzezeit beförderten rührige Händler aus Assyrien Zinn, Silber, Gold, edle Stoffe und Wolle über Hunderte von Kilometern zwischen dem heutigen Irak, Syrien und der Türkei. Ihre Geschäfte hielten sie auf Tontafeln fest und handelten mit den Herrschern, deren Gebiete sie durchquerten, Schutz und eine sichere Passage für ihre Karawanen aus.20 Im 5. Jahrhundert  v. Chr. berichtete der griechische Geschichtsschreiber Herodot von mehreren erfolgreichen Handelsexpeditionen über große Distanzen: Beispielsweise findet sich in seinen Historien die Geschichte von einem Schiff, dessen Besatzung unter ihrem Kapitän Kolaios sich als Erste von Griechenland bis nach «Tartessos» (eine Hafenstadt in Süd­ spanien) vorwagte und wieder heil zurückkehrte. «Dieser Handelsplatz war zu dieser Zeit noch unberührt, so dass diese Seefahrer nach ihrer Heimkehr tatsächlich von allen Griechen, die wir sicher kennen, den größten Gewinn aus ihrer Fracht erzielten», schrieb Herodot.21 Ein halbes Jahrtausend später, zur Blütezeit des Römischen Reichs, wurde in der mediterranen Welt rege Handel getrieben. Das politisch einheitliche Gebiet bot einen Markt von bis dahin unbekannten Ausmaßen unter der Aufsicht der Reichsbeamten. Innerhalb dieser Handelszone konnten Waren und Menschen «reibungslos» reisen und in großen Mengen bis nach Syrien oder Schottland, Nordafrika und in die Wälder der Ardennen transportiert werden. Das Imperium bot enorme Vorteile für den Handel: sichere, gut befestigte Straßen, auf denen das Risiko, liegenzubleiben und ausgeraubt zu werden, relativ gering war, ein vertrauenswürdiges Münzsystem und eine Rechtsordnung, mit der man auch Handelsstreitigkeiten regeln konnte. Zudem wurde auch die breite Bevölkerung beteiligt; Bauern produzierten Getreide zur Versorgung der Armee, reiche Stadt­ bewohner kauften teure Töpferwaren und importierte Gewürze, und Werkstätten und Haushalte benötigten Sklaven für die schwere Arbeit.

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Interessanterweise waren Kaufleute bei den Römern besonders in den beiden ersten Jahrhunderten des Reichs nicht sonderlich angesehen, trotz des enormen Handelsaufkommens zu Wasser und zu Land. Kaufen und Verkaufen kam als Gewerbe nicht für einen Patrizier infrage, das Wirtschaftsleben der Oberschicht konzentrierte sich in der Regel auf die Verwaltung ihrer Landgüter.22 Abgesehen von der Besteuerung und dem Münzwesen blieben die Finanzinstrumente des römischen Staates relativ unterentwickelt. Dennoch bildete Rom, wie sich im Rückblick zeigen sollte, einen gewaltigen und vielschichtigen Handelsblock, der auf die Einheit des Reichs angewiesen war und somit nach dessen Zusammenbruch eine enorme Lücke hinterließ. Als Rom auseinanderfiel und seine Autorität schwand, verschlechterten sich die grundlegenden Bedingungen für den Fernhandel mit seinem hohen Durchsatz massiv. Selbstverständlich kamen auch die «barbarischen» Nachfolgestaaten nicht völlig ohne Handel aus. Doch als die römischen Städte und mit ­ihnen die politischen Horizonte schrumpften, geriet auch die einst so ­geschäftige Ökonomie des Mittelmeerraums ins Stocken. Der Handel beschränkte sich wieder auf den Austausch von Dorf zu Dorf. Der Fernhandel zwischen dem Westen und Indien und China wurde durch politische und religiöse Unruhen im Mittleren Osten und Zentralasien erschwert – unter anderem durch die Kriege zwischen dem Byzantinischen und dem Persischen Reich, den Aufstieg des Islams und die Verwüstungen durch die Magyaren in Osteuropa. Der Import von Luxusgütern wurde schwierig. Der Welthandel kam praktisch zum Erliegen, und auch der regionale Handel im Mittelmeerraum und in den ehemaligen römischen Provinzen schrumpfte. Im Vergleich zur restlichen bekannten Welt wurde Europa im 6. Jahrhundert zur kommerziellen Provinz, die abgesehen von baltischen Pelzen, fränkischen Schwertern und Sklaven kaum noch etwas ­exportierte.23 Es wäre zwar irreführend, das gesamte Frühmittelalter als «dunkles Zeitalter» abzuschreiben, in dem die wirtschaftliche Tätigkeit auf das Nötigste beschränkt war und der Fortschritt eine Pause einlegte, aber auf die Geschichte des Westens an sich bezogen war diese Zeit doch eine Periode der stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung, die sich über mehrere Hundert Jahre hinzog. Ganz allmählich erholte sich die Wirtschaft wieder. Etwa ab dem Jahr

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1000 wuchs die europäische Bevölkerung im Verbund mit der landwirtschaftlichen Produktion erheblich an. Die mittelalterliche Warmzeit meinte es gut mit den Bauern. Und so wurden weite Gebiete durch Rodungen und die Trockenlegung von Sümpfen erschlossen und unter den Pflug genommen. Den umherziehenden heidnischen Slawen wurde Land geraubt, das dann von Christen besiedelt wurde – ein Prozess, der unter den Karolingern begann und bis in die Ära der Kreuzzüge anhielt.24 Neue Anbau­ methoden wurden entwickelt, schwere Pflüge verbesserten die Bodenqualität, und die Drei­felderwirtschaft verhinderte ein Auslaugen der Böden. Auch im Schiffbau gab es Verbesserungen, die lange Seereisen sicherer und schneller machten  – unabhängig davon, ob mit den neuen Schiffen im Wikingerstil Sklaven genommen und Klöster geplündert wurden oder ob auf fernen Märkten Waren gekauft und verkauft wurden. Von Karl dem Großen an machten die christlichen abendländischen Monarchen nach und nach ihre Ansprüche auf immer größere Territorien geltend und führten Mechanismen ein, die eine stärkere Kontrolle und bessere Verwaltung ermöglichten und (zumindest theoretisch) längere Handelsreisen über Land sicherer machten. Mit der Ausdehnung der Handelsnetze entstanden auch Institutionen, die den Handel erleichtern sollten. Im 11. Jahr­ hundert entwickelten sich in ganz Europa Märkte, die bald immer größer wurden und in den Städten an bestimmten Wochentagen oder zu festen Terminen im Monat oder im Jahr abgehalten wurden. Dort konnte überschüssiges Getreide gegen Wein, Leder, verarbeitetes Metall oder Vieh ­getauscht werden, das von reisenden Händlern angeboten wurde. In den folgenden zweihundert Jahren wurden Märkte und Messen (ursprünglich Märkte, die im Zusammenhang mit e­ inem religiösen Fest oder Feiertag ­abgehalten wurden) ein immer wich­tigerer Teil des Wirtschaftslebens. Mit dem Aufstieg der Märkte ging ein sprunghafter Anstieg der Münzproduktion und des Silber- und Kupferbergbaus für die notwendigen Rohmaterialien einher.25 Gleichzeitig wurden in den wachsenden Städten des Westens grundlegende Finanzdienste vor ­allem über die jüdischen Handelsnetzwerke angeboten. Zwischen dem 9. und 10. Jahrhundert übernahmen Juden eine führende Rolle beim Geldverleih und im Fernhandel, sie lieferten Waren wie Salz, Stoffe, Wein und Sklaven für die gesamte alte römische Welt.26 Allerdings dankte man den europäischen Juden für ihre Pionierleistung im

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makroökonomischen Gefüge der abendländischen Welt nicht: Stattdessen wurden sie verdächtigt, verachtet und verfolgt. Die gewalttätigen Ausschreitungen nahmen während der Kreuzzüge noch zu und erreichten im späten 13. Jahrhundert mit Pogromen und Vertreibungen in ganz Westeuropa einen traurigen Höhepunkt.* Dennoch leisteten Juden einen erheblichen Beitrag zum großen mittelalterlichen Wirtschaftsaufschwung. Langsam, aber unaufhaltsam erwachten die abendländischen Ökonomien um die Jahrtausendwende wieder zum Leben. Einer der berühmtesten Handelsplätze der aufblühenden Wirtschaft befand sich in der Champagne östlich von Paris. Ab dem 12. Jahrhundert wurden in der Grafschaft – die ihre Unabhängigkeit immer wieder gegen den französischen König verteidigen musste – eine Reihe von jährlichen Handelsmessen abgehalten. Es gab sechs Hauptmessen, die in den vier Städten Lagny, Bar-sur-Aube, Provins und Troyes abgehalten wurden; jede Messe dauerte planmäßig sechs bis acht Wochen. Diese Messen waren viel mehr als nur Märkte, auf denen die Bewohner der Champagne ihre wöchentlichen Einkäufe erledigten. Die Champagne verfügte über eine geografisch günstige Lage. Auf den Messen konnten Tuchhersteller aus den Niederlanden Anbieter ausländischer Luxusgüter treffen, die aus Byzanz und Italien ­importiert wurden, oder Pelzhändler aus dem Baltikum.27 Alle Besucher standen unter dem Schutz der Grafen der Champagne, die mit der Genehmigung der Messen auch die Verantwortung dafür übernahmen, Betrügereien und Schlägereien zu unterbinden und ein faires Verfahren zur Beilegung von Streitigkeiten und zur Verfolgung von Schuldnern anzubieten. Schon bald zogen die Messen der Champagne Händler aus Hunderten Kilometern Entfernung an, die von der Aussicht auf stabile, sichere und geregelte Bedingungen angelockt wurden, unter denen Geschäfte in großem Umfang getätigt werden konnten.

* 1290 wies der englische König Eduard I. die Juden aus seinem Reich aus. In Frankreich erließen mehrere Könige Dekrete, die Juden für lange Zeiträume vertrieben: Philipp II. 1182, Ludwig IX. 1254, Philipp IV. 1306 und Karl IV. 1322. In Aragón und Kastilien wurden Juden 1492 ausgewiesen.

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Anfangs brachten die Teilnehmer große Mengen an Waren und Mustern mit, die in eigens dafür gebauten Lagerhäusern in den Städten und in der Umgebung aufbewahrt wurden. Mit der Zeit entwickelten sich die Champagne-Messen dann zu einer Art Börse, bei der Währungen, Kredite und Verträge ausgehandelt wurden und die eigentliche Ware erst in der Zukunft geliefert wurde (oder auch nicht). Ein Großteil der Geschäfte wurde von speziellen Agenten im Auftrag reicher Unternehmen, Banken und Regierungen übernommen. Ende des 13. Jahrhunderts konnte ein Besucher der Messen in der Champagne oder in Flandern Vertreter italienischer Unternehmenskonsortien treffen, die mit den Agenten verschiedener nordeuropäischer Wollproduzenten und Tuchhersteller verhandelten und Verträge über Zahlungspläne aushandelten, bei denen für Geschäfte bei zukünftigen Messen Monate oder sogar Jahre im Voraus bezahlt werden musste.28 Die Champagne-Messen waren nicht die einzigen Märkte dieser Art – im nahen Flandern gab es in Städten wie Ypern, wo im Spätmittelalter eine florierende Tuchindustrie entstand, ebenfalls große Messen. Doch die Champagne-Messen waren die, die am längsten bestanden und zu ihren Zeiten am bekanntesten waren: Vorreiter für das beginnende Zeitalter des internationalen Handels.

Aufstieg der Republiken Viele hochkarätige Kunden auf den Messen in der Champagne und in Flandern reisten über die Alpen aus den italienischen Stadtrepu­ bliken an, unter denen Venedig den Ton angab. Die Stadt, die den Bei­ namen La Serenissima trug, hatte zu römischer Zeit noch gar nicht bestanden. Erst im 6. Jahrhundert entwickelte sich an der Lagune und auf deren Inseln eine Siedlung. Sie wurde ursprünglich von Konstantinopel (über das Exarchat Ravenna) regiert, doch im 9. Jahrhundert hatten die Dogen von Venedig die byzantinische Oberhoheit abgeschüttelt und angefangen, entlang der Adriaküste ihren eigenen Einflussbereich aufzubauen. In den Anfangszeiten produzierten die Venezianer Salz und Glas, stellten dann aber fest, dass sie als professionelle Zwischenhändler bessere Geschäfte machen konnten, und nutzten die vorteilhafte Lage der Stadt

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(die jedoch auch bedingte, dass sie kein Ackerland hatten, auf das sie in Notfällen zurückgreifen konnten), um die Märkte im arabischen Nord­ afrika, griechischen Byzanz und im lateinischen Westen miteinander zu verbinden und Waren und Luxusgüter zu importieren und zu exportieren. Hand in Hand mit dem Handel ging damals die Münzprägung in der Zecca*, wie die venezianische Prägestätte genannt wurde. Ein weiterer entscheidender Faktor für eine Hafenstadt war der Schiffbau, der in ­Venedig im sogenannten Arsenal untergebracht war. Die Werft nahm Aufträge von der Stadtverwaltung, den venezianischen Kaufleuten und potenziellen Seefahrern von weither entgegen, im 12. und 13. Jahrhundert auch von Adligen und Königen, die für die Kreuzzüge Flotten benötigten, um Truppen und Material ins Heilige Land zu transportieren. Und da es auf offener See im Mittelmeer oft rau und gewalttätig zuging, waren die Venezianer auch geübte Kämpfer, die ihre eigenen Konvois verteidigten, feindliche arabische und griechische Schiffe in die Flucht schlugen oder sich selbst als Piraten betätigten. Die Grenze zwischen Handel und Raubzügen war im Mittelalter stets fließend, und die Venezianer standen meist mit einem Bein auf beiden Seiten der Linie. Der Schutzheilige der Stadt war (und ist) der Evangelist Markus, dem der berühmte Dom im R ­ ialto geweiht ist, doch selbst er war in gewisser Weise Raubgut. 828 stahlen zwei venezianische Kaufleute die Gebeine des Heiligen Markus aus der ägyptischen Stadt Alexandria und schmuggelten sie in einem Fass mit ge­pökeltem Schweinefleisch durch den Zoll, weil sie – zu Recht – annahmen, dass die muslimischen Inspektoren dort nicht so genau hinschauen würden. Um die Jahrtausendwende erlebten Venedig und eine Handvoll weiterer italienischer Städte, die meist an der Küste der langgestreckten Halb-

* Mit Zecca werden zwei venezianische Münzanstalten bezeichnet, die ver­mutlich in angrenzenden Gebäuden am Markusplatz untergebracht waren. In einem Gebäude wurde der silberne grosso geprägt, der wie der Penny für den Alltag bestimmt war, seit dem Dogen Enrico Dandolo im späten 12. Jahrhundert geschlagen wurde und zumindest anfangs für seinen hohen Silbergehalt bekannt war. Aus dem zweiten Gebäude kam der goldene ducat, der mit dem florentinischen florin um den Status der europäischen Standardwährung konkurrierte. Zur Geschichte der Zecca siehe Alan M. Stahl, Zecca: The Mint of Venice in the Middle Ages (Baltimore 2000).

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insel lagen, einen wirtschaftlichen Aufschwung. Motor ihres Erfolgs war ihre Abenteuerlust. Anstatt einfach innerhalb ihrer Stadtmauern Handel zu treiben, gründeten italienische Kaufleute in jeder bedeutenden Handelsstadt, die ihnen das erlaubte, Niederlassungen. In der Regel lebten sie gemeinsam in geschützten Vierteln, wo sie ihren religiösen Praktiken nachgehen und ihre eigenen Maße und Gewichte verwenden durften und oft auch von lokalen Steuern und Gebühren befreit waren. Mit dieser Vorzugsbehandlung, ihrer Absonderung und ihrem Festhalten am eigenen Lebensstil ­machten sie sich nicht immer Freunde. Daher kam es im gesamten Spätmittel­alter i­mmer wieder zu Unruhen im Zusammenhang mit den Niederlassungen und zur Verfolgung italienischer Kaufleute. 1182 erlebte Konstantinopel ein furchtbares Massaker, bei dem die Bevölkerung von der kaiserlichen Regierung zu antiwestlichen Ausschreitungen aufgestachelt worden war. Zehntausende italienische Kaufleute wurden umgebracht oder versklavt, dem päpstlichen Legaten wurde der Kopf abgeschlagen und anschließend an ­einem Hundeschwanz durch die Straßen gezogen. Der Handel war also nicht ohne Risiko. Doch der Gewinn machte die Gefahren offensichtlich wieder wett, und so zogen im 11. und 12. Jahrhundert italienische Kaufleute hinaus in die Welt und waren in allen Himmelsrichtungen aktiv. In den Hafenstädten des östlichen Mittelmeers machten sie Geschäfte mit Türken, Arabern und anderen Kaufleuten, die entlang der Seidenstraße bis nach Zentralasien tätig waren – wo der Handel durch die Gründung der Kreuzfahrerstaaten in Syrien und Palästina deutlich lukrativer geworden war. Das Schwarze Meer, an dem die Genuesen ein besonderes Interesse hatten, bot Zugang zum Balkan, nach Kleinasien, zum Kaukasus und dem Land der Rus. Während des 11. Jahr­ hunderts waren pisanische Kaufleute vor allem in den nordafrikanischen Hafenstädten aktiv. Die Pisaner sandten Schiffe mit Truppen, die Karthago und Mahdia plünderten, um sie dauerhaft der Herrschaft ihres Stadtstaats zu unterwerfen. Händler der vierten italienischen Stadtrepublik, Amalfi, waren ebenfalls in den meisten wichtigen Hafenstädten des Mittelmeers zu finden, allerdings ging ihre Präsenz seit den 1130er Jahren nach einem verlorenen Krieg gegen Pisa deutlich zurück. Die Konkurrenz zwischen den italienischen Stadtstaaten war enorm, übermäßige moralische Bedenken waren ihnen allen fremd. Im 13. Jahrhundert vereinbarten

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genuesische Händler im Schwarzmeerhafen Caffa, Sklaven, die die Mongolen im Kaukasus gefangen genommen hatten, an die Mamlukenherrscher in Ägypten zu liefern und sie über das Schwarze und das Mittelmeer ins Nildelta zu transportieren, damit sie dort in der Mamlukenarmee dienten. Das bedeutete, dass die christlichen Genuesen direkt dafür verantwortlich waren, eine Macht, die ihr Bestes gab, um die westlichen Kreuzfahrerstaaten in Syrien und Palästina zu vernichten, mit frischen Truppen zu versorgen. Venedig wiederum hatte zwar keine Sklaven, die man den Mamluken liefern konnte, unterhielt jedoch exklusive Handelsbeziehungen mit Alexandria und kontrollierte den Warenverkehr zwischen Alexandria als Umschlagplatz und den abendländischen Hafenstädten. Dadurch sorgte Venedig auch dafür, dass die Mamluken einen ordent­ lichen Anteil an den Profiten aus dem Fernhandel zwischen dem Fernen Osten und Europa einstrichen. Sowohl Venedig als auch Genua profitierten sehr davon, dass sie die ägyptische Wirtschaft und das Militär in einer Zeit unterstützten, in der sich die Mamluken die Auslöschung der Kreuzfahrerstaaten zum Ziel gesetzt hatten. Einer moralischen Überprüfung hielt das natürlich nicht stand. Aber damals wie heute geht es beim Marktgeschehen selten um Moral. Und die Kaufleute schienen nicht unter Gewissensbissen zu leiden. Zur Zeit der mongolischen Eroberungen, als Marco Polo seine Abenteuer am Hof des Kublai Khan erlebte, waren die italienischen Stadtstaaten führend im Mittelmeerhandel und daher in der idealen Position, um von der Öffnung der Handelsrouten nach Fernost zu profitieren. Der persische Historiker Ata al-Mulk Dschuwaini schrieb über das Mongolenreich, die Angst vor dem Khan mache die Straßen so sicher, dass «eine Frau mit einem goldenen Gefäß auf dem Kopf ohne Furcht und Schrecken allein [darauf ] gehen könnte».29 Die Italiener trugen zwar keine goldenen Gefäße auf dem Kopf, wussten die guten Bedingungen aber trotzdem zu ihrem Vorteil zu nutzen. Die Reisen Marco Polos und anderer hatten jedoch auch die große Hürde aufgezeigt, die Händler im Osten einkalkulieren mussten: die enormen Distanzen. Die Polos hatten drei ganze Jahre gebraucht, um von Venedig nach China zu gelangen; die körperlichen Strapazen schreckten sicher viele ab, egal wie gut man ausgestattet war. Andere überlegten sich

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wahrscheinlich, ob sie eine solche Reise mehr als einmal im Leben antreten wollten. Das galt im kleineren, aber dennoch bedeutenden Maße auch für den Handel generell: Die Gewinnaussichten waren für einen Händler weitaus besser, wenn er an einem Ort bleiben konnte und andere sich um den Transport der Waren kümmerten. An dieser Stelle kommt die kommerzielle Revolution ins Spiel. Im 13. und 14. Jahrhundert entstanden neue Finanzinstrumente und Einrichtungen, die dazu beitrugen, dass Geschäftsleute ihrem Ziel, Geld zu verdienen, ohne persönlich durch die halbe Welt reisen zu müssen, deutlich näher kamen. Die neuen Finanz­ instrumente gaben Händlern enorme Macht, und das nicht nur in ihrer Heimat, sondern auch darüber hinaus. Am besten lässt sich das anhand eines Beispiels auf dem Höhepunkt der kommerziellen Revolution er­ läutern, als sich die Finanzkraft der Händler auf die Politik eines ganzen Königreichs auswirkte. Es geht um die mit Wolle handelnden Bankiers der Stadt Florenz und das Königreich England.

Weißes Gold Um die Wende zum 14. Jahrhundert galt englische Wolle als die beste und feinste der Welt. Produziert von Schafen, die auf den üppigen grünen Weiden in Regionen wie Lincolnshire, Northamptonshire und in den Cotswolds grasten, konnte die Wolle gesponnen und zu dicken, haltbaren Stoffen von guter Qualität verwoben werden. Und diese Wolle war reichlich vorhanden. Selbst nach einer schrecklichen Hungersnot, die 1315 bis 1317 in Nordeuropa grassierte und bei der auch Schafe und andere Nutztiere an Seuchen starben, war die englische Wolle immer noch gefragt und ein begehrtes Rohmaterial für die Tuchherstellung und andere Gewerbe im gesamten Westen. Zehntausende Wollsäcke wurden jedes Jahr in den Hafenstädten der süd- und ostenglischen Küste auf Schiffe verladen, und die Steuereinnahmen aus dem Wollhandel waren ein wichtiger Teil des Staatseinkommens. Die englische Krone erhob eine dauerhafte Steuer auf Wollexporte, die der Plantagenet-König Eduard I . eingeführt hatte, um seine teuren Eroberungskriege in Schottland und Wales und die Feldzüge zur Verteidigung der Gebiete in und um die Gascogne

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zu finanzieren. Die Wollsteuer war eine der wichtigsten Steuern überhaupt. Wolle war weißes Gold. Und nicht nur die Krone wurde dadurch reich. Dank der großen Nachfrage profitierten auch die englischen Schafbauern. Unter den größten Wollproduzenten fanden sich viele Klöster: So wurden etwa die Mönche von Rievaulx in Yorkshire, das bei seiner Gründung 1132 das erste Zisterzienserkloster in England war, dank der riesigen Schafherden, die auf ihren Tausenden Morgen Land grasten, unglaublich reich. (Dieser Wohlstand dank der Wolle ist immer noch an den Überresten der Abtei zu erkennen, die während der englischen Reformation aufgelöst wurde.) Und sie waren nicht die Einzigen. Es hieß, dass 1297 50 Prozent des englischen Wohlstands auf Wolle beruhten (und das war nur leicht übertrieben).30 Dieser sagenhafte Reichtum konnte angehäuft werden, weil die eng­ lischen Schafe den Anfang einer langen Produktionskette bildeten. Wenn die auf Gütern wie Rivaulx gefüllten Wollsäcke das Land verließen, wurden sie über den Ärmelkanal gebracht und meist an flämische Betriebe geliefert, die das rohe Vlies verspannen und daraus Tuch woben, das dann wiederum von Großhändlern auf Märkten oder Messen wie in der Champagne (oder direkt in Flandern) weiterverkauft wurde. Häufige Abnehmer waren italienische Kaufleute, die das Tuch über die Alpen transportierten. Dort wurde es gefärbt und zugeschnitten, bevor es schließlich an die Kunden verkauft wurde, um daraus Kleidung oder Vorhänge und Bezüge zu schneidern. Damals wie heute war die Qualität der Kleider- und Dekostoffe abhängig von der Qualität des Rohmaterials – und was Wollstoffe anging, war England der Ort, wo alles seinen Anfang nahm. In jeder Phase dieser Produktionskette wurde Geld verdient. Doch in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts erkannten clevere italienische Kaufleute, dass man viel mehr Geld verdienen konnte, wenn man den Prozess verkürzte. Es wäre viel einfacher, überlegten sie, wenn sie die Zwischenhändler umgehen könnten: die Wolle direkt beim Produzenten kaufen und sie dann von England nach Italien transportieren, um sie dort zu verspinnen. Oder die Tuchweber in Flandern direkt beauftragen. Doch dafür benötigten die Italiener Kontakte in England. Außerdem mussten sie die großen Wollmengen sicher und unbehelligt in die eine Richtung befördern und im Gegenzug große Mengen Geld in die andere. Das Sys-

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tem, das sie schließlich entwickelten und das in den ersten vier Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts florierte, steht exemplarisch für die mittelalter­ liche Handelstechnik in Bestform. Florenz liegt nicht am Meer. Dennoch beherbergte die Stadt während des Wirtschaftsbooms Ende des 12. und zu Beginn des 13. Jahrhunderts eine blühende Kaufmannsschicht. Die Florentiner konnten Vieles (können auch heute noch), doch besonders gut waren sie als Bankiers. Die erste abendländische Bank war im 12. Jahrhundert in Venedig entstanden. Im frühen 14. Jahrhundert waren die erfolgreichsten Bankhäuser jedoch die der Bardi, Peruzzi und Frescobaldi, die alle ihren Sitz in Florenz ­hatten. (Die berühmteste Bankiersdynastie des Mittelalters waren die Medici – deren Mitglieder im 15. Jahrhundert zu Oligarchen, Päpsten und Königinnen aufstiegen.)* Diese familiengeführten «Superfirmen» kauften und verkauften Anteile, boten Einlagengeschäfte für große und kleine Kunden an und erbrachten sekundäre Finanzdienstleistungen, darunter Darlehen und Investitionen in Unternehmen oder Bargeld- und Kreditüberweisungen über weite Entfernungen, außerdem fungierten sie als ­lizensierte Vertreter von Päpsten und Königen und als deren Steuereintreiber.** Um einen reibungslosen Ablauf ihrer Geschäfte zu garantieren,

* Zwischen 1475 und 1630 stellten die Medici vier Päpste (Leo  X., Clemens  VII., Pius IV. und Leo XI.) und zwei französische Königinnen (Caterina de ’ Medici und Maria de ’ Medici). Siehe Kapitel 15 und 16. ** Viele dieser Funktionen waren von den Tempelrittern ausgeübt worden, den Pionieren auf diesem Gebiet. So trieben die Templer die päpstliche Steuer ein, mit der der Fünfte Kreuzzug finanziert wurde; und als Ludwig  IX. von Frankreich bei ­seinem eigenen Kreuzzug in Damiette gefangen genommen wurde, zahlten sie das Lösegeld, das sie mit einer hohen Baranleihe auf die Einlagen einzelner Kreuzfahrer aufbrachten; sie fungierten als private Buchhalter für die französische Krone und vermittelten Aufgaben, die eigentlich das Schatzamt übernehmen sollte – wie beispielsweise die Bezahlung von Beamten –, an Subunternehmer. Doch in den Jahren 1307 bis 1314 wurde der Templerorden aufgelöst und seinen Mitgliedern der Prozess gemacht. Die treibende Kraft dahinter war der französische König Philipp IV., gegen den der kraftlose, aus der Gascogne stammende Papst Clemens  V. wenig ausrichten konnte.

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folgten die florentinischen Unternehmen (und andere) dem Beispiel der Genuesen, Venezianer und Pisaner und unterhielten Niederlassungen in allen wichtigen Städten des Abendlandes, ob in Frankreich, England und Flandern oder Syrien, Zypern und auf den größeren griechischen I­ nseln bis weit in den Osten in Khanbaliq und Kin-sai, Sarai und Delhi.31 Da wundert es kaum, dass es auch in London eine starke florentinische Vertretung gab, schließlich war London die Hauptstadt des englischen Königreichs und ein geschäftiges Handelszentrum im Nordwesten Europas. Tatsächlich konnten die Florentiner seit den 1270er Jahren beträchtliche Erfolge verbuchen, als die Bankiers der Bardi und Frescobaldi ­Eduard  I . bei der Finanzierung seiner Kriege unter die Arme gegriffen hatten. Nachdem sie das Vertrauen des Königs gewonnen hatten, übernahmen sie schon bald weitere Aufgaben und ließen Zölle und andere Steuern für die Krone eintreiben.32 Das war zugegebenermaßen riskant: 1332, auf dem Höhepunkt eines Aufstands der Barone gegen Eduards Sohn und Nachfolger Eduard II ., wurde Amerigo Frescobaldi, Leiter der englischen Niederlassung der Familie, aus dem Land gejagt, weil er «ein Feind des Königs und des Königreichs» sei.33 Die enormen Summen, die der König der Bankiersfamilie schuldete, blieben unbezahlt, ein Schicksalsschlag, der die Frescobaldi kurzzeitig in den Bankrott trieb. Doch trotz des offensichtlichen Risikos, mit leeren Händen dazustehen, wenn sich die politischen Verhältnisse änderten, machten die Bankiers weiterhin Geschäfte mit Königen und Fürsten, weil ihre Dienste gut bezahlt wurden und fantastische Gewinne winkten. Nachdem die vom Aufstand der Barone ausgelösten Unruhen wieder abgeklungen waren, wurde Amerigo Frescobaldis Platz von dem brillanten Francesco Balducci Pegolotti eingenommen, der für die Familie Bardi arbeitete, ein weiteres «Superunternehmen» aus Florenz. In einem Finanzratgeber, den Pegolotti gegen Ende seines Lebens schrieb, führte er detailliert die Orte in England auf, an denen man die beste Wolle kaufen konnte, und vergaß auch nicht, die Preise dafür zu nennen.34 Pegolotti wusste genau, worüber er schrieb. Von 1317 bis in die 1340er Jahre waren die Bardi in England eng mit der Politik verbandelt. Diese Verflechtung der Interessen, die die Frescobaldi und Bardi nach England lockte, war beträchtlich. Die englischen Könige nahmen hohe

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Kredite bei den italienischen Banken auf. Zunächst liehen sie nur kleine Summen – ein paar Tausend Pfund hier und da –, doch ab 1310 wurden die Kredite gewaltig und entsprachen einem Vielfachen des jährlichen Einkommens der Krone. Die Schulden sollten mit den Einnahmen aus dem Wollhandel abgezahlt werden, die die Florentiner mit Genehmigung der Krone direkt einziehen durften.35 Die italienischen Bankiers unterhielten auch weit reichende Geschäftsbeziehungen zu englischen Magnaten und anderen Landbesitzern. Manchmal standen diese im direkten Zusammenhang mit dem Wollhandel: Wenn beispielsweise ein Zisterzienserabt eine neue Klosterkirche bauen wollte, konnte er einen hohen Pauschal­betrag aufnehmen und später mit zukünftigen Wollerträgen oder Abschlägen beim Verkauf seiner Ware zurückzahlen.36 Manchmal ging es nur ums Geschäft. Hugh Despenser der Jüngere, ein Favorit Eduards  II . und unglaublich korrupt, erhielt vom König als Dank für seine Freundschaft riesige Ländereien und andere Einnahmen und nutzte die Bardi und Peruzzi, um sein unlauter erworbenes Vermögen bei ihnen zu deponieren oder um Hypotheken auf seinen Besitz aufzunehmen. Als Despenser 1326 kurz vor einem Staatsstreich, der Eduards Regierung beendete und ihn zur Abdankung zwang, wegen Verrats gehängt, ausgeweidet und gevierteilt wurde, schuldete er den Bardi fast 800  Pfund,* hatte jedoch noch Einlagen in Höhe von 200 Pfund bei den Peruzzi.37 Losgelöst von all dem hatten die Bardi auch mit dem Papst vereinbart, die päpstlichen Steuern in England für ihn einzutreiben. Das war gelinde gesagt kompliziert, andererseits hatten die Florentiner dadurch noch ein weiteres Eisen im Feuer und mischten in der englischen Wirtschaft und Politik kräftig mit. In den 1320er Jahren entstand so eine Dynamik mit sich gegenseitig verstärkenden Elementen. Dank der Beziehungen zu den Wollproduzenten konnten sich die Florentiner große Preisnachlässe sichern, bevor die englische Wolle offiziell auf dem Exportmarkt gehandelt wurde. Und dank der Kredite an die Krone profitierten sie direkt von den Zöllen, die auf jeden Wollsack erhoben wurden, der das Land verließ, egal

* Zur ungefähren Einordnung: Ein Handwerker wie beispielsweise ein Steinmetz oder Zimmermann verdiente zu der Zeit etwa ein Pfund in drei Monaten.

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mit welchem Ziel. Wenn sie Bargeld benötigten, um Wolle zu kaufen oder es an Klienten in England zu verleihen, hatten sie es zur Verfügung, entweder in Form von Einlagen von Männern wie Despenser oder aus den Einnahmen in Form der päpstlichen Steuern. Und wenn der Papst seine Steuereinnahmen verlangte, konnten die Vertreter der Bank in Rom sie bereitstellen und dabei auf die Einlagen anderer Kunden zurückgreifen und auf die Gewinne, die sie mit dem Verkauf von Wolle und Tuchstoffen erzielten. Das bedeutete, dass englische Wolle und englisches Geld nach Italien kamen und England im Austausch dafür italienische Kredite erhielt. Ein Arrangement, von dem beide Seiten profitierten – zumindest für eine gewisse Zeit. Im 14. Jahrhundert bargen Finanzgeschäfte (genau wie heute) immer auch ein Risiko, selbst wenn sie nicht sonderlich komplex waren. Beispielsweise war es immer ein Wagnis, mit politischen Akteuren Geschäfte zu machen (wie Amerigo Frescobaldi 1311 in England auf die harte Tour lernte, als er das Land verlassen musste); es gab aber auch ganz praktische Probleme beim Transport von Geld und Waren über längere Strecken. Gegen das erste Problem konnten die Bankiers nicht viel unternehmen: Staatsangelegenheiten waren heikel, aber genau deshalb auch lukrativ. Doch gegen die Transportprobleme konnte man etwas tun. Tatsächlich gründet ein maßgeblicher Teil der kommerziellen Revolution des Mittelalters schlicht darauf, dass man versuchte, den Transfer von Gütern und Geld zu verbessern. Der Geldtransfer war eines der ersten Probleme, die von den mittel­ alterlichen Finanziers behoben wurden. Sie erfanden ein bargeldloses Kredittransfersystem, das auf sogenannten «Wechseln» basierte. Im Grunde handelte es sich dabei um die Reiseschecks des Mittelalters: Sie versprachen die Auszahlung eines festen Geldbetrags an einem Ort, der weit entfernt war vom Ort der Ausstellung, oft auch in einer anderen Währung. Die Templer waren im 12. und 13. Jahrhundert die Vorreiter des Systems gewesen. Pilger, die in den Osten reisten, konnten ihren Besitz und ihre Vermögenswerte zu Hause beleihen. Der Wert wurde auf Zetteln fest­ gehalten. In den Templerniederlassungen im Heiligen Land konnten die Pilger dann auf dieses Vermögen zugreifen und Geld abheben. Italienische

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Bankiers nutzten die Wechsel ausgiebig, und das aus gutem Grund. Für uns sind diese Finanzinstrumente heute keine große Sache – aber im Mittelalter waren sie revolutionär. Sie boten eine sichere Möglichkeit, Geldwert über große Distanzen zu transportieren, und konnten mit Siegeln und Codewörtern gegen Betrug und Diebstahl geschützt werden. Noch dazu ermöglichten sie es christlichen Kaufleuten, das strenge Wucherverbot der Kirche zu umgehen – wenn Geld in eine andere Währung umgetauscht wurde, konnte man den Kurs zugunsten des Kreditgebers manipulieren, wodurch die Transkation Gewinne einbrachte, die man nicht ­offiziell als Zinsen deklarieren musste. Besser noch, auch mit den Wechseln konnte man handeln und sie in Umlauf bringen  – sie mit einem ­Abschlag an Dritte verkaufen, die sie dann für sich einlösten. Dadurch konnte man flexible Vereinbarungen treffen und mitunter abenteuerliche Geschäfte über große Distanzen machen. Händlergruppen konnten als wahrhaft internationale Verbünde auftreten und ihre kommerziellen ­Aktivitäten weit ausdehnen, ohne selbst reisen zu müssen, nur die Waren mussten noch transportiert werden. Ein Kaufmann, der die finanziellen Innovationen des 14. Jahrhunderts nutzte, war in seinen Möglichkeiten, sich niederzulassen, so frei wie nie zuvor – er konnte eine einzige Stadt als Stützpunkt nutzen, aber trotzdem an vielen anderen Orten Geschäfte machen. Das war ein großer Sprung nach vorn. Zahlreiche weitere Instrumente erleichterten die finanziellen Trans­ aktionen des 13. und 14. Jahrhunderts – und wirkten sich direkt auf Handelsnetzwerke wie den florentinisch-englischen Wollhandel aus. Der Warentransport per Schiff hatte den unglücklichen Nachteil, dass Schiffe manchmal sanken, und mit ihnen die oft kostbare Fracht und die Besatzung. Spätestens ab den 1340er Jahren setzten genuesische Kaufleute daher Versicherungskontrakte auf, die einen bestimmten Betrag garantierten, wenn Waren beim Transport verloren gingen. Etwa zur selben Zeit begannen Kaufleute, ihrer Zusammenarbeit einen formellen Rahmen zu geben, um Kapital in gemeinsame kommerzielle Unternehmungen zu ­investieren und so sowohl das Risiko als auch den Gewinn unter sich aufzuteilen. Das war ein wichtiger Schritt bei der Entwicklung einer «Kompanie» (Handelsgesellschaft): Mehrere Partner und Investoren taten sich zu einem einzigen kommerziellen Unternehmen zusammen, wobei neue

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Investoren gesucht wurden, wenn das Unternehmen expandieren wollte, und Aufzeichnungen darüber geführt wurden, wie sich das Unternehmen entwickelte, welche Vermögenswerte und Verbindlichkeiten es hatte und welche Schlüsse man aus seinem Erfolg (oder Misserfolg) für die Zukunft ziehen konnte. Dass man Buch führte und Geschäftsunterlagen anlegte, war keine Idee des Mittelalters: Sie reichte mindestens bis in die Römische Republik zurück. Doch die doppelte Buchführung – bei der Zahlungseingänge und -ausgänge als Soll und Haben systematisch nebeneinander in Spalten aufgelistet und gegeneinander verrechnet wurden, um den Zustand eines Unternehmens in Zahlen zu erfassen – wurde in Europa erst im 14. Jahrhundert zur Norm, als italienische Geschäftsleute die Methode einführten und für alle ihre Geschäfte anwandten. Durch den exakten Standard hatten sie einen Überblick über die Leistung und das Potenzial ihrer ­Unternehmen und waren so gegenüber der Konkurrenz im Vorteil. Buchführung, die Vorstellung von unternehmerischem Risiko und die Sesshaftigkeit waren die Grundsteine, auf denen Unternehmen wie die der Bardi, Peruzzi und Frescobaldi aufbauten. Sie sind auch heute noch Kernkomponenten des Kapitalismus. Der erfahrene und vielgereiste Kaufmann Francesco di Marco Datini, der in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Prato unweit von Florenz geboren wurde, hinterließ bei seinem Tod im Jahr 1410 über sechshundert Rechnungsbücher und fast hundertfünfzigtausend Geschäftsbriefe und sonstige Dokumente.38 (Er hinterließ außerdem 70 000 Goldflorin als Kapital für eine Stiftung, um die Armut in Prato zu lindern; das Vermögen wirft heute noch Zinsen ab.) Datini ist in vielerlei Hinsicht die perfekte Verkörperung der strahlenden neuen und umtriebigen Unternehmenswelt des Spätmittelalters. Seine Rechnungsbücher trugen sein persönliches Motto auf der ersten Seite, das seine Lebenshaltung zum Ausdruck bringt: «cho ’ l nome di Dio e di ghuadagno» – «Im Namen Gottes und des Geschäfts». Doch das Geschäft konnte, wie Gott auch, unberechenbar sein, wie Händler und Finanziers zu ihrem Kummer immer wieder feststellen mussten. Das Mittelalter gab ihnen zwar ein wunder­ bares Instrumentarium zur Mehrung ihres Reichtums an die Hand, doch

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es kamen immer wieder Zeiten, in denen die Märkte und Ereignisse ihre Bemühungen zunichte machten. Ein gutes Beispiel dafür ist das Schicksal der Bardi und Peruzzi, die mit dem englischen Wollhandel so gut verdient hatten, und vor allem damit, die Bedürfnisse der verschwenderischen Plantagenet-Könige in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu befrie­ digen. 1327 wurde König Eduard  II . zur Abdankung gezwungen. Wenige Monate später wurde er während seiner Haft auf Berkeley Castle ermordet, wodurch sein noch unmündiger Sohn als Eduard III . auf den Thron kam. Eduard II . war ein schwacher, korrupter, unfähiger und unglücklich agierender Monarch gewesen; nur wenige bedauerten seinen Tod. Doch kaum jemand ahnte, wie schnell England unter seinem Sohn Eduard  III . in ein neues Zeitalter katapultiert werden würde. Kaum war Eduard alt genug, um seine königliche Macht selbständig auszuüben, schmiedete er Pläne für einen Krieg gegen Schottland und Frankreich und gab ungeheure Summen aus, um nicht nur die Kontrolle über die angestammten Plantagenet-Gebiete in der Normandie und Aquitanien zurückzuerlangen, sondern auch die französische Krone für sich zu beanspruchen. Das war der Beginn des Hundertjährigen Krieges, den Historiker üblicherweise auf die Zeit von 1337 bis 1453 datieren. Der Krieg verschlang von Anfang an viel Geld, und das blieb auch so. Ab 1340 gab Eduard Monat für Monat hohe Beträge aus, um Adlige auf dem Kontinent dazu zu bewegen, sich auf seine Seite zu stellen und mit ihm gegen die Franzosen zu kämpfen, und um Söldner anzuwerben, die zu einem festen Preis für seine alljähr­ lichen Feldzüge rekrutiert wurden. Mit Eduards wachsenden finanziellen Verpflichtungen stiegen auch seine Schulden bei den florentinischen Bankiers, die Partnerschaften bildeten und als Joint Venture agierten, um seinen Geldbedarf zu decken. Eduard besorgte sich auch an anderer Stelle Geld: Wie ein Kaufsüchtiger heutzutage, dessen Kunden- und Kreditkarten bis ans Limit belastet sind, hatte Eduard Schulden bei Geldverleihern in Florenz, Venedig, Asti, Lucca und noch in manch anderen Städten. Er erhob in England so viele und so hohe Steuern wie möglich und handelte mit den einheimischen Londoner Händlern eine Gewinnbeteiligung an den Wollerträgen eines ganzen Jahres aus, die zwangsweise aufgekauft und auf ausländischen

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Märkten verkauft wurden. Der Gewinn wurde dann zwischen den Kaufleuten, die das Geschäft abwickelten, und der Regierung selbst geteilt.39 Die italienischen Bankhäuser erhielten für ihre Kredite an England regelmäßig Rückzahlungen in Form von Steuereinnahmen und Wollverkäufen zum reduzierten Preis, dennoch gerieten Mitte der 1340er Jahre sowohl Eduard als auch seine italienischen Gläubiger in massive Schwierigkeiten. Der Auslöser war eine Verkettung unglücklicher Umstände. In Florenz kam es aufgrund politischer und sozialer Unruhen zu mehreren raschen Regierungswechseln, bei denen die Bardi die falschen Kandidaten unterstützt hatten. Auch die Kriege in der Toskana, die sie mitfinanziert hatten, nahmen einen ungünstigen Verlauf. Ab 1341 hatten die Bardi und Peruzzi Mühe, den Finanzbedarf des englischen Königs zu decken. 1341 gerieten sie mit einer Zahlung in Verzug, die sie in Eduards Auftrag an flämische Kaufleute leisten sollten; daraufhin musste Eduard wie vertraglich vorgesehen seine adligen Freunde, den Earl of Derby und den Earl of Warwick, den Flamen als Geiseln übergeben,40 was sicher für alle Beteiligten eine demütigende Erfahrung war. Und es wurde nicht besser. Eduard gab weiterhin Unsummen aus, die Bankiers und Kaufleute räumten ihm weiterhin Kredit ein. Doch die Si­ tuation wurde für beide Seiten zunehmend unhaltbar. 1343 gingen die ­Peruzzi nach mehrmaligen raschen Wechseln der Geschäftsführer, Korruptionsvorwürfen gegen leitende Mitarbeiter und wiederholten Zahlungsausfällen der Engländer in Konkurs.41 1346 mussten auch die Bardi den Bankrott erklären. Sie waren zwar nicht völlig ruiniert – und liehen der englischen Krone auch noch dreißig Jahre später in den 1370er Jahren hohe Summen –, aber doch schwer mitgenommen und hätten beinahe ihr Geschäft einstellen müssen. Der Bankier und Chronist Giovanni Villani schätzte, dass Eduard bei der Pleite der Bardi um die 1,5 Millionen Goldflorin an Schulden angehäuft hatte – etwa eine Viertelmillion Pfund oder ungefähr das Fünffache des königlichen Jahreseinkommens. Selbst wenn das stark übertrieben war (und das kann man annehmen), steckte der englische König eindeutig bis zum Hals in Schulden.42 Aber merkwürdigerweise störte ihn das nicht. Trotz des finanziellen Zusammenbruchs – der durch Eduards Versäumnis, seine Kredite zu bedienen, wenn nicht direkt verursacht, so doch verschärft wurde – erzielte England in dem Krieg, den

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der König nur mit Müh und Not finanzieren konnte, spektakuläre Erfolge. Im August 1346 konnte Eduard gleich mit seiner ersten Schlacht zu Land seinen vielleicht größten Sieg im Hundertjährigen Krieg verbuchen, als er die französische Armee in der Schlacht von Crécy vernichtend schlug und damit ein kurzes goldenes Zeitalter der militärischen Über­ legenheit Englands in Nordeuropa einläutete. John Maynard Keynes, dem großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, wird oft der Satz zugeschrieben: «Wenn du deiner Bank 100 Pfund schuldest, hast du ein Problem. Wenn du ihr aber 100 Millionen schuldest, hat sie ein Problem.» Das galt in den 1340er Jahren genauso wie zu allen Zeiten danach.

Geld und Macht Die mittelalterlichen Kaufleute übten auf vielerlei Art Macht aus. Natürlich bedeutet Vermögen an sich schon Macht. Und italienische Städte wie Venedig, Genua und Pisa hatten allein dadurch, dass sie über Ressourcen und große Gold- und Silberreserven verfügten, wirtschaft­ lichen Erfolg, der langfristig wiederum ihre politische Unabhängigkeit von Königen und Kaisern garantierte. Dank ihres Vermögens konnten sie trotz ihrer geringen geografischen Größe als Staaten agieren: Sie konnten Krieg führen, sich Kreuzzügen anschließen oder sie sogar anführen, in feindliches Gebiet einfallen und Kolonien in nichtchristlichen Territorien gründen. Gleichzeitig nahmen Diplomaten wie Marco Polo Einfluss darauf, wie die Menschen aus dem Abendland in der Ferne wahrgenommen wurden: Sie waren nicht nur diplomatische Gesandte, sondern auch kulturelle Botschafter. Und wie wir im Fall Englands gesehen haben, hatten Kaufleute und ihre Kompanien enormen Einfluss auf die Wirtschaft eines Landes. Das galt nicht nur für Italien, obwohl die italienischen Stadtstaaten das Herz der kommerziellen Revolution waren. In Nordeuropa, wo das dänische Jütland in die Ostsee hineinragt – ähnlich wie der italienische Stiefel ins Mittelmeer –, entstand im Norden Deutschlands eine kleinere, aber ähnlich umtriebige Gruppe von Stadtstaaten. Das Venedig des Nordens war die Stadt Lübeck, die geschützt in einer Bucht lag, in der die

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Trave in die Ostsee floss. Die einst heidnische Siedlung wurde 1143 von Adolf  II ., Graf von Schauenburg und Holstein, als christliche Stadt neu gegründet und erhielt 1226 von Friedrich  II ., dem Kaiser des Heiligen Römi­schen Reichs, den Status als reichsunmittelbare Stadt. Dank seiner Lage wurde Lübeck zur geschäftigen Hafenstadt, die die christlichen Städte Nordeuropas mit den neu kolonisierten Gebieten im Ostseeraum verband, der mit Holz, Pelzen, Bernstein und Harz eine Vielzahl an kommerziellen Möglichkeiten bot. Der Ehrgeiz der dort lebenden und arbeitenden Kaufleute sorgte dafür, dass Lübeck mit der Zeit zur ­einflussreichsten Stadt in einer Gruppe ähnlicher Stadtstaaten rund um die Ostsee und darüber hinaus aufstieg – unter anderem zählten Danzig, Riga, Bergen, Hamburg, Bremen und sogar Köln dazu. Mitte des 14. Jahrhunderts taten sie sich als Partner in einem wirtschaftlichen Verbund zusammen, der Hanse. Die Handelsachse der Hanse-Kaufleute reichte von London und Brügge im Westen bis Nowgorod im Osten. Innerhalb dieser Handelszone drängten die Agenten der Hanse auf die Durchsetzung ­ihrer Interessen. Ihre kollektive Handelsmacht ermöglichte es ihnen, ihre politische Freiheit gegen Einflüsse von außen zu verteidigen, und wie die Italiener waren sie bereit, ihre kommerziellen Interessen auch militärisch zu vertreten: Sie hoben eigene Truppen aus und führten selbst Kriege, etwa gegen Dänemark in den 1360er und 1370er Jahren. Gegen Ende des 14. Jahrhunderts hatten sie mit einer gewalttätigen Piratenbande zu kämpfen, den sogenannten ­Vitalienbrüdern, die die hanseatischen Hafenstädte überfielen und sich selbst die Parole «Gottes Freunde und aller Welt Feinde» gaben. Doch auch diese Herausforderung wurde schließlich bewältigt, und im 15. Jahrhundert war die Hanse so reich und mächtig, dass sie sich in die Angelegenheiten von Staaten einmischen konnte, beispielsweise in die Rosenkriege der Adelshäuser York und Lancaster, in die sie über einen Streit mit englischen Kaufleuten in den 1460er und 1470er Jahren hineingezogen wurde. Mit dem Aufstieg der Hanse und der Konsolidierung der Vorherrschaft der italienischen Stadtstaaten im Mittelmeerraum traten Kaufleute im Abendland zunehmend als eigene Schicht in Erscheinung. Und während ihr Geschäft in der Antike nicht vornehm genug für die Oberschicht war, gewannen Kaufleute im Spätmittelalter aufgrund ihres Reichtums

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und ihrer Präsenz deutlich an gesellschaftlichem und kulturellem An­sehen. Die Tätigkeit ermöglichte manchmal auch eine unerwartete Gleichstellung. Im frühen 14. Jahrhundert waren die beiden erfolgreichsten Leinenhändler von Paris Frauen: Jeanne la Fouacière und Erembourc de Moustereul. Oder sie brachte Status. In Italien war es bereits im 13. Jahrhundert möglich, dass eine Kaufmannsfamilie dank ihres Geldes in die Oberschicht aufstieg, ihre Kinder mit den Nachkommen von Fürsten und anderen Magnaten verheiratete und einen Platz in der aristokratischen Welt beanspruchte. Tatsächlich wurden manche Kaufleute so erfolgreich in die Reihen des Adels integriert, dass sie sich adliger gaben als die Adligen selbst. So kamen etwa in Venedig viele Kaufmannsfamilien an die Macht, weil man in der Stadt geschäftlichen Erfolg höher schätzte als Abstammung. Doch im 14. Jahrhundert verabschiedeten diese Familien, die mittlerweile die Regierungsgeschäfte leiteten, eine Reihe von Gesetzen, die es nicht­ adligen Dynastien verboten, sich am Fernhandel mit Galeeren zu beteiligen – womit der l­ukrativere Sektor der venezianischen Wirtschaft praktisch abgeschottet war und auf längere Sicht die soziale Mobilität deutlich eingeschränkt wurde.43 In England, wo italienische Kaufleute die ersten Kampagnen des Hundertjährigen Krieges finanziell ermöglicht hatten, wurden die Schalthebel der Macht von reichen wie von hochgeborenen Männern bedient. Im weiteren Verlauf des Krieges spielte eine Reihe von Kaufleuten mit Sitz in London oder York eine wesentliche Rolle bei der Verwaltung und Steuerung der Kriegsanstrengungen und ging dabei auch ein großes persön­ liches Risiko ein. In den 1340er Jahren lieh Sir John Pulteney, eigentlich ein Woll- und Weinhändler, der zum Kreditgeber geworden war, der Krone regelmäßig hohe Summen für Dienstleistungen, die wenig aufschlussreich als «Geheimangelegenheiten des Königs» bezeichnet wurden; gleichzeitig hatte er als Beamter der Stadt London die Aufgabe, die Konten italienischer Bankiers zu prüfen, in Gerichtskommissionen zu sitzen, Truppen aufzustellen und die Instandhaltung der Londoner Verteidigungsanlagen zu überwachen. Er war auch Bürgermeister von London und legte sich im Lauf seiner Karriere einige stattliche Immobilien zu, darunter eine prächtige Residenz an der Themse namens Coldharbour (die später von Eduards Sohn bewohnt wurde, dem «Schwarzen Prinzen») und ein wun-

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derschönes befestigtes Herrenhaus, Penshurst Place in Kent, dessen imposante mittelalterliche Halle mit einer Decke aus Kastanienbalken, die Pulteney selbst bauen ließ, heute noch erhalten ist. Doch dieser Reichtum und Luxus hatte einen hohen politischen Preis. Als sich das Kriegsglück des Königs Anfang der 1340er Jahre vorübergehend wendete, wurde Pulteney zum Sündenbock erklärt, verhaftet und zwei Jahre lang in Somerton Castle in Lincolnshire eingesperrt.44 Das war zweifellos unangenehm, aber verglichen mit anderen Londoner Kaufleuten, die in Staatsangelegenheiten mitmischten, kam Pulteney noch relativ glimpflich davon. 1376 wurden drei Londoner Händler, die als Stadtverwalter und Berater der zentralen Regierung fungiert hatten – Richard Lyons, Adam Bury und John Pecche – vor das «Goldene Parlament» zitiert, wegen Betrugs, Korruption und Unterschlagung angeklagt, massiv getadelt und vieler ihrer Ämter enthoben. Lyons wurde 1381 von einem Mob während des englischen Bauernaufstands ermordet. Ein Zeitgenosse von Lyons, der Kaufmann und Wollexporteur Nicholas Brembre, war dreimal Bürgermeister von London und arrangierte hohe Anleihen für König Richard II ., die er teils aus eigener Tasche finanzierte, teils mit einem von verschiedenen Parteien finanzierten Kredit, den sie ihm im Namen der Stadt gewährten. Für seine Loyalität gegenüber ­einem unfähigen und unbeliebten König wurde Brembre von rebellischen Adligen 1388 wegen Verrats gehängt, ausgeweidet und gevierteilt. Mit diesen Gefahren mussten Kaufleute rechnen, wenn sie sich in die Politik wagten. Vielleicht überrascht es da auch nicht, dass sich Geschäftsleute, die ein politisches Amt anstrebten oder annahmen, damals – wie heute – mit Vorwürfen der Korruption, des Amtsmissbrauchs und hoffnungsloser Interessenkonflikte konfrontiert sahen.* Wie auch immer: Ende des 14. Jahrhunderts war offensichtlich, dass die europäischen Kaufleute «erwachsen» geworden waren und die Gesellschaft und Kultur prägten. Ein Teil dieses Vermächtnisses ist nach wie vor zu sehen: Die aus dem frühen 14. Jahrhundert stammenden Tuchhallen von Ypern sind heute

* Siehe Donald Trump.

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noch zu besichtigen (sie wurden zwar im Ersten Weltkrieg zerstört, aber originalgetreu wieder aufgebaut), und auch in anderen Orten erinnern ­außergewöhnliche architektonische Zeugnisse daran, wie Städte durch die kommerzielle Revolution des 13. Jahrhunderts verändert wurden. Venedigbesucher können den Ca ’ da Mosto-Palast aus dem 13. Jahrhundert ­bewundern, der vor allem als Geburtshaus des im 15. Jahrhundert aktiven Seefahrers und Versklavers Alvise da Cadamosto bekannt ist, tatsächlich aber bereits einige Generationen früher von seinen reichen Händler­ vorfahren erbaut wurde. Besucher der nicht ganz so glamourösen südenglischen Küstenstadt Southampton können das Fachwerk des Merchant ’s House betrachten, das Ende des 13. Jahrhunderts erbaut wurde, und sich vorstellen, wie die mittelalterlichen Wollhändler zum Wohlstand ihrer d ­ amaligen Welt beitrugen. Von den wirtschaftlichen Aktivitäten der Kaufleute zeugen jedoch nicht nur Gebäude, sie haben auch in Büchern ihre Spuren hinterlassen. Als Geoffrey Chaucer in den 1390er Jahren seine Canterbury Tales schrieb, ließ er eine der derbsten und kuriosesten Geschichten von einem «Kaufmann» erzählen.* Es ist keine Überraschung, dass in Chaucers gesprächiger Reisegesellschaft auch ein Händler auftaucht, denn Chaucer verfügte über eine lebenslange Erfahrung mit dieser Branche; sein Vater war Weinhändler und für seine Geschäfte viel gereist. Seine Kindheit verbrachte Chaucer in Vintry Ward, dem damals kosmopolitischsten Viertel Londons, das deutsche, französische, italienische und flämische Geschäftsleute beherbergte und direkt am Flussufer lag, an dem das ganze Jahr über

* In «Die Erzählung des Kaufmanns» heiratet ein alter reicher Kaufmann namens ­Januarie eine viel jüngere Frau namens May, die sich mit einem seiner Untergebenen einlässt. Januarie erblindet und wird durch einen Trick dazu gebracht, ein Stelldichein zwischen seinem Untergebenen und seiner Frau zu ermöglichen, die an einem ungewöhnlichen Ort stattfindet: in einem Birnbaum. Durch das Eingreifen der (klassischen) Götter erlangt Januarie sein Augenlicht wieder und sieht, wie seine Frau und der Jüngling Sex miteinander haben, doch ebenfalls dank der Götter kann sich May aus der Situation herausreden, indem sie ihrem Mann sagt, seine Augen würden ihn trügen; ein psychologischer Trick, den man heute als «Gaslighting» bezeichnet.

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Schiffe mit Waren aus aller Welt anlegten.45 Als Erwachsener war Chaucer für die englische Krone als Zollbeamter im Einsatz und lebte über ein Jahrzehnt in Wohnungen über dem Aldgate, einem der Haupttore in der Londoner Stadtmauer und geschäftige Durchgangsstation für Händler, die vom Osten in die Stadt kamen. 1372/73 wurde er als Handelsgesandter nach Genua und Florenz geschickt, wo er die Aufgabe hatte, über ­einen Stützpunkt für die italie­nischen Kaufleute in einer Stadt an der englischen Ostküste zu verhandeln.46 Das Geschäft lag ihm ebenso im Blut wie die Dichtkunst. Chaucer wurde jedoch nicht nur im direkten, wörtlichen Sinn von der boomenden mittelalterlichen Welt des Handels und Austauschs beeinflusst. Seine Canterbury Tales wurden auch von einer elitären internationalen Künstlerkultur beeinflusst, in der Ideen und Geschichten genauso emsig – und mitunter zu ähnlich hohen Kosten – wie indische Gewürze und englische Wolle gehandelt wurden, und auch diese Kultur wurde durch die kommerzielle Revolution ermöglicht. Chaucers Geschichten entstammten einer internationalen literarischen Kultur, die auch den berühmten Historiker und Dichter Petrarca hervorgebracht hatte oder den florentinischen Schriftsteller und Verfasser des Decamerone, Giovanni Boccaccio. Chaucers klassische Erziehung, seine Französisch- und Italienischkenntnisse und seine europäische Einstellung waren seiner Muse ebenso förderlich wie seine Karriere in der Geschäftswelt und als Beamter in der öffentlichen Verwaltung. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, dass die große kulturelle Blüte gegen Ende des Mittelalters der voran­ gegangenen Blüte des Handels viel zu verdanken hatte. Wir werden die Kultur der Renaissance und die spätmittelalterliche Kunst und Literatur in Kapitel 14 genauer betrachten. Doch bevor wir die Geschäftswelt verlassen, verdient ein weiterer Kaufmann unsere Aufmerksamkeit. Er war wahrscheinlich der erfolgreichste englische Geschäftsmann seiner Zeit und erlebte während seines langen Lebens von der Mitte des 14. bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts die Regierung von fünf Königen mit. In England ist er vor allem als Bühnenfigur und Pantomime bekannt, der mit einem Rucksack auf der Schulter und einer herrenlosen Katze auf den Fersen durch die Straßen Londons zieht, doch das hat ­wenig mit der Realität zu tun. Er war viermal Lord Mayor of London und

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einmal Bürgermeister von Calais, ein Finanzier und Händler, wie er im Buche steht, der sich in der Welt der Politik mit deutlich mehr Geschick als viele seiner Zeitgenossen bewegte; zudem hinterließ er in seiner Wahlheimat London Spuren, die auch heute noch zu sehen sind. Die Rede ist von Richard Whittington, der heute auf der Bühne allerdings schlicht und einfach als der gute alte «Dick» bekannt ist.

«Dick» Whittington Wenn Richard Whittington ein Jahrhundert früher geboren worden wäre, wäre er vielleicht ein Mann der Kirche geworden. Doch er kam um 1350 als dritter Sohn eines Ritters aus Pauntley in Gloucestershire zur Welt. Sein Vater hatte Mühe, seine Schulden zu zahlen, und konnte mit seinem Gut nicht genug erwirtschaften, um dem kleinen Richard eine ­gesicherte Zukunft als aristokratischer Grundbesitzer zu bieten.47 Der traditionelle Weg für Richard wäre eine harte Ausbildung innerhalb der Kirche gewesen, der dann ein mühevoller Aufstieg in den Reihen des ­Klerus gefolgt wäre. Doch Richard war ein Kind des 14. Jahrhunderts. Ihm standen andere Möglichkeiten offen – und er wusste diese Chance zu nutzen. In Whittingtons Jugend galt Wolle aus den Cotswolds als die weichste Wolle und war daher in England – und damit in der ganzen Welt – besonders begehrt. Richard war praktisch umgeben von Tuch  – oder den Rohmaterialien dafür. Es war also ganz natürlich, dass ein junger Bursche aus Gloucestershire sich zum Tuchhandel hingezogen fühlte. Und so wurde er Lehrling bei einem «Mercer»: ein Sammelbegriff für Händler in England, die edle Seide, Leinen und ähnliche Stoffe importierten und Wolle und ihre Nebenprodukte exportierten. Er wurde nach London geschickt, wo die besten und umtriebigsten Händler ihr Geschäft hatten. Und langsam, aber sicher zeigte sich, dass er Talent hatte. 1379, als Whittington wohl Ende zwanzig war, war er geschäftlich so erfolgreich, dass er den städtischen Behörden Geld leihen konnte: Ein Jahrzehnt später hatte er bereits kleinere politische Ämter inne, zunächst als Mitglied des lokalen

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Rats seines Stadtteils, dann als Alderman.* 1393 wurde er gebeten, für die Amtszeit von einem Jahr als einer der beiden Sheriffs von London zu fungieren. Bald darauf wurde er zum Vorstand der neu gegründeten Mercers ’ Company** ernannt, einer Art Berufsverband, der die Interessen der Tuchhändler in der Stadt vertreten und schützen sollte. Wie sein Zeitgenosse Geoffrey Chaucer machte Whittington seinen Weg und wurde zu einem angesehenen Bürger in einer betriebsamen europäischen Hauptstadt. Natürlich machte er auch ein Bombengeschäft. Der junge König Richard  II . hatte eine Vorliebe für königliche Insignien und staffierte sich gern dementsprechend aus. Und er umgab sich mit Höflingen, die seinen teuren Geschmack teilten. Der Hof war nicht unbedingt Sitz einer weisen oder beständigen Regierung. Aber er war der ideale Ort für einen Händler. Whittington knüpfte dort Kontakte und nutzte sie. Er verkaufte Seide und andere edle Stoffe im Wert von mehreren Tausend Pfund im Jahr an einige der reichsten und mächtigsten Adligen des Landes: die beiden ­Onkel des Königs, John of Gaunt, Herzog von Lancaster, und Thomas of Woodstock, Herzog von Gloucester; den königlichen Cousin Henry ­Bolingbroke, Earl of Derby, und seinen besten Freund Robert de Verre, Earl of Oxford. Doch am lukrativsten waren natürlich die Geschäfte mit dem König selbst, den Whittington seit den 1390er Jahren zu seinen Kunden zählen konnte. Richard II . war ein großer, schlanker Mann mit zarten, leicht femininen Gesichtszügen: Er sah gut aus, was er auch wusste, und

* Das mittelalterliche London war in kleine Bezirke aufgeteilt, die sogenannten wards, die jeweils einen eigenen administrativen Rat hatten. Zusätzlich wählte jeder Ward alljährlich sogenannte Aldermen als Abgeordnete für den Londoner Stadtrat. Das offizielle Stadtoberhaupt war der Lord Mayor, der ebenfalls jedes Jahr gewählt wurde. ** Die Worshipful Company of Mercers, die heute eine der reichsten und bekanntesten Livery Companies (Gilden und Zünfte) der City of London ist, wurde 1394 gegründet. Sie ist eine von mehreren «Companies», die im Mittelalter ursprünglich als ­Berufsverband gegründet wurden, aber heute wohltätigen Aufgaben nachgehen und darüber hinaus als Forum für gleichgesinnte Londoner dienen, die sich aufgrund ihrer Berufszugehörigkeit organisieren, um sich zu treffen, gemeinsam zu essen und Kontakte zu knüpfen. Weitere heute noch existierende «Companies» sind die der Fischhändler, Gemüsehändler, Kürschner und Schneider.

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bevorzugte edle Kleidung, die sein Aussehen noch unterstrich. Neben ­traditionellen königlichen Hobbys wie die Jagd mit Falken, die Jagd mit Hunden und die Jagd mit Waffen interessierte sich Richard sehr für feine Speisen, teure Kleidung und erlesene Accessoires. (Er war anscheinend auch der erste englische König, der ein Taschentuch benutzte.)48 Whittington suchte für Richard die luxuriösesten Stoffe, die auf dem Markt waren, und belieferte ihn mit Samt, besticktem Samt, Brokat, Damast und Taft.49 Um die Mitte von Richards Regierungszeit verkaufte Whittington dem Hof in einem Jahr Stoffe im Wert von fast 3500 Pfund. Und als Lohn für seine Dienste erhielt er mehr als nur Geld. Anderen Kaufleuten – etwa dem unglücklichen Nicholas Brembre – hatte die Nähe zu Richards Hof geschadet, weil es dort regelmäßig zu Konflikten kam, die meist auf die inkompetente, parteiische und gehässige Art des Königs zurückgingen. Doch irgendwie gelang es Whittington, sich weder vom Hof vereinnahmen zu lassen noch von dessen Feinden gehasst zu werden. Er war dem König zwar nahe, wahrte aber eine professionelle Distanz und wurde mit hohen politischen Ämtern belohnt. Irgendwie konnte die Verbindung zu Richard seinem Ruf nichts anhaben. 1397, als Adam Bamme, der Lord Mayor von London, im Amt starb, verlangte Richard, dass sein bevorzugter Händler Whittington einsprang und­ ­Bammes Amtszeit vollendete. Im folgenden Jahr, 1398, wurde Whittington rechtmäßig für eine zweite Amtszeit gewählt. Man hätte meinen können, Whittington hätte nun als Parteigänger des Königs gegolten, aber dem war nicht so. 1399 glitt Richards Herrschaft in die Tyrannei ab, bis es schließlich zur Revolution unter Führung seines Cousins Bolingbroke kam und der König abgesetzt und ermordet wurde. Doch Whittington stürzte nicht zusammen mit seinem berühmtesten Kunden und Förderer. Tatsächlich ernannte Bolingbroke  – mittlerweile Heinrich  IV .  –, als er über die Zusammensetzung seines ersten königlichen Rats entschied, Whittington zum Mitglied. Ob durch professionelle Distanz, Charakterstärke oder schlicht und einfach Glück, Whittington überstand den unschönen Wechsel unbeschadet. Unter dem neuen König Heinrich IV ., der die Lancaster-Dynastie begründete, verdiente er sogar noch mehr Geld – und wurde noch stärker gedrängt, öffentliche Pflichten zu übernehmen – als unter dem alten König.

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In den fantasievoll ausgeschmückten, romantisierten Bühnenstücken und Geschichten über «Dick» Whittington, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts aufkamen und noch heute aufgeführt werden, wird sein Weg zu Macht und Ruhm ganz anders dargestellt. In der Fiktion ist er ein ­armer Junge, der als Lehrling nach London kommt, Freundschaft mit ­einer Katze schließt, schlecht behandelt wird und weglaufen will, seine Meinung aber ändert, als er Richtung Norden durch Highgate* kommt und die Glocken von St. Mary-le-Bow läuten hört. Die Glocken sagen ihm, dass ihn Großes erwartet, wenn er in London bleibt. Er schickt seine Katze auf einem Handelsschiff in ein fremdes Land, wo sie die Mäuse und Ratten tötet, die den dortigen König plagen. Zum Dank erhält Whittington eine große Summe und wird später dreimal Bürgermeister von London. Ein schönes und spannendes Märchen, das man durchaus weiterempfehlen kann, das jedoch wenig mit der Realität zu tun hat. Zu Beginn des 15. Jahrhunderts stand Whittington an der Schwelle zu enormer Macht; ein Dichter bezeichnete ihn als «Leitstern der Kaufleute und erste erwählte Blüte».50 Doch sein Erfolg und sein Ansehen hatten nichts mit Katzen, Mäusen oder Kirchenglocken zu tun, dafür aber sehr viel mit ­seinem bemerkenswerten Durchhaltewillen und seinen Talenten als Geschäftsmann und öffentlicher Verwalter. Diese Fähigkeiten leisteten ihm in den folgenden zwanzig Jahren seines Lebens gute Dienste. Whittington importierte nicht nur edle Stoffe, sondern übernahm mit Beginn von König Heinrichs Herrschaft auch eine führende Rolle im Wollhandel. Er trieb im Namen der Krone die Wollsteuer ein. Und er exportierte selbst eine erhebliche Anzahl von Woll­ säcken. Darüber hinaus verlieh er hohe Summen aus seinem Privatvermögen an die Krone, unter anderem auch einen stattlichen Vorschuss von 1000  Mark anlässlich des Aufenthalts des byzantinischen Kaisers Manuel  II . Palaiologos im Winter 1400/01. Der Kaiser kam zu einem zweimonatigen Staatsbesuch nach London und wurde mit glanzvollen Fest­

* Heute steht auf dem Highgate Hill vor einem Pub namens The Whittington Stone, nur ein paar Häuser vom Whittington NHS Trust Hospital entfernt, eine kleine, oft übersehene Katzenstatue, die an diesen Fußmarsch erinnert.

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zügen, Turnieren und Feiern unterhalten, die den neuen König ein Vermögen kosteten.51 Whittington wurde zweimal zum Lord Mayor von London gewählt, 1406 und 1419. Außerdem war er Bürgermeister von Calais, der Stadt im Nordwesten Frankreichs, die unter englischer Herrschaft stand und in der ein «Stapelplatz» – oder obligatorischer Exportmarkt – eingerichtet worden war. Mit zunehmendem Alter und wachsender Erfahrung wurde Whittington auch für Aufgaben verpflichtet, die über seine Branche hinausgingen: Unter anderem diente er als päpstlicher Steuereintreiber und war Mitglied einer königlichen Kommission, die das Treiben einer Häretikergruppe untersuchte, der sogenannten Lollarden. Er wurde sogar in ein Komitee berufen, das die Umgestaltung der Westminster ­Abbey beaufsichtigte, die unter Richard II . begonnen worden war und unter dem neuen König fortgesetzt wurde.52 Deutlich spektakulärer war jedoch, dass sich Whittington während der Herrschaft von Heinrichs unbezwingbarem Sohn Heinrich  V . als Kriegsfinanzier betätigte. Der Hundertjährige Krieg war in den ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts immer noch in vollem Gange, und Heinrich wollte 1415 ein großes englisches Heer aufstellen, um die Normandie zu erobern und zu besetzen – ein gewaltiges Unternehmen, das die Landung von Truppen auf der anderen Seite des Ärmelkanals umfasste, die Belagerung von Burgen und Städten, die Verteidigung der eroberten Gebiete und eine mögliche Schlacht mit den Franzosen. Heinrichs Pläne, Kanonen mit Schießpulver und eine speziell ausgebildete Artillerie – eine neue, aufregende, aber ungemein teure Ergänzung des mittelalterlichen Heeres – mitzunehmen, trieben die Kosten noch zusätzlich in die Höhe. Zur Finanzierung nutzte Heinrich jede Quelle, die sich ihm bot – und Whittington griff ihm unter die Arme, indem er der Krone ein Darlehen in Höhe von 1600 Pfund (etwa 3 Prozent des Kriegsbudgets der ersten drei Monate) gewährte und mit anderen Londoner Kaufleuten über weitere Kredite verhandelte, für die die Juwelen- und Kunstsammlung des Königs sowie sakrale Gefäße wie Gold- und Silberkelche als Sicherheit dienten.53 Während der Belagerung von Harfleur ermöglichte Whittington einen Notkredit von fast 500 Pfund, damit die Engländer den Krieg weiterführen konnten.54 Dahinter steckte mehr als nur Patriotismus: Man kann durchaus sagen, dass der Normandiefeldzug von 1415 ohne den ­guten

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Willen und die finanzielle Unterstützung Whittingtons und der anderen Londoner Kaufleute nie zustande gekommen wäre – und Heinrich V . nie die berühmteste Schlacht des gesamten Hundertjährigen Krieges gewonnen hätte: Azincourt. Auch nach Azincourt hielt Whittingtons Interesse an der finanziellen Seite des Krieges an; er versuchte sich nun auch auf dem Lösegeldmarkt: dem lukrativen (wenn auch moralisch fragwürdigen) Handel mit Kriegsgefangenen. Wenn ein Ritter oder Soldat auf dem Schlachtfeld gefangen genommen wurde, galt er rechtlich als Eigentum des Geiselnehmers, der dann das Recht hatte, beim König, Lehnsherrn oder der Familie des Gefangenen Lösegeld zu verlangen. Die Summe einzutreiben (und einen Teil des Gewinns an die Krone abzugeben) machte jedoch oft mehr Mühe, als ein Bogenschütze oder müder Krieger aufbringen konnte oder wollte. Er konnte daher den Gefangenen an einen Händler verkaufen, der dann eine rechtliche Vereinbarung einging, der Krone ihren Anteil am Lösegeld zu zahlen, bevor er das Lösegeld tatsächlich eintrieb. Es gibt Unterlagen, die belegen, dass Whittington nach der Schlacht von Azincourt einen französischen Gefangenen namens Hugh Coniers kaufte und ihn dann an einen italienischen Händler weiterverkaufte, der die stolze Summe von 296 Pfund bezahlte.55 Ob der italienische Händler als Lösegeldagent auftrat oder den Gefangenen erneut verkaufte, ist nicht bekannt. Doch das Beispiel zeigt, wie Kaufleute wie Whittington von Kriegen profitieren konnten, ohne dafür auch nur in die Nähe einer belagerten Stadt oder ­eines Schlachtfelds kommen zu müssen. Auf diese und andere Art machte Whittington weiterhin viel Geld. Als Geldverleiher war er bekannt für seine Liquidität und Bereitschaft, auch hochgestellten Klienten Geld zu geben. Er selbst investierte nie in Grundbesitz außerhalb Londons, was für seine Zeit und Schicht eher ­ungewöhnlich war. Er war mit einer Frau aus Dorset verheiratet, Alice ­Fitzwarin, doch die Ehe blieb kinderlos. Alice starb 1410, über ein Jahrzehnt vor ihrem Mann. Whittington behielt daher fast sein gesamtes Vermögen in Form von Bargeld, Schuldbriefen der Reichen und Mächtigen und einem schönen Haus im Zentrum Londons, direkt an der Themse gelegen, in einem Viertel namens The Royal. Dort baute er die Pfarrkirche

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St. Michael wieder auf und traf Vorkehrungen für die Gründung eines ­Seminars für Priester und Gelehrte, das der Kirche angeschlossen werden sollte, damit sie dort für die Seelen von Whittingtons Freunden und Kollegen beten konnten – auch für den verstorbenen König Richard und seine Königin Anna von Böhmen. Leider wurde das Seminar in den 1540er Jahren während der englischen Reformation aufgelöst, und die Kirche brannte 1666 beim Großen Brand von London nieder. (Der an ihrer Stelle errichtete Nachbau stammt von Christopher Wren.) Die Gebäude waren die beiden einzigen persönlichen Wahrzeichen, die Whittington in London hinterließ, der Stadt, in der er sein Vermögen gemacht hatte. Doch sie waren auch nicht als Monumente gedacht, denn Whittington war in vielerlei Hinsicht der Inbegriff des öffentlichkeitsscheuen Geschäftsmanns, für den Ruhm und Reichtum nicht zusammengehen, sondern sich eher gegenseitig ausschließen. Sein wahres Vermächtnis für London – und darüber hinaus – findet sich in seiner Unterstützung karitativer und philan­ thropischer Einrichtungen, bei der er nicht persönlich in Erscheinung trat. Als Whittington Ende März 1423 starb, hinterließ er ein Vermögen in Höhe von 7000 Pfund – eine gewaltige Summe, fast komplett in bar. Es war sein ausdrücklicher Wunsch, dass jeder Penny für wohltätige Zwecke verwendet wurde. Bereits zu Lebzeiten hatte Whittington einen Teil seines Geldes für gute Zwecke ausgegeben: die Reparatur von Brücken, den Bau öffentlicher Toiletten, ein Heim für unverheiratete Mütter und eine Bibliothek der Greyfriars, der Londoner Niederlassung der Franziskaner, die im 16. Jahrhundert über einen umfangreichen Bestand an Werken zur Geschichte und Philosophie sowie Predigtsammlungen verfügte. Nach seinem Tod wurde diese Liste guter Werke weiter ergänzt: Mit Whittingtons Erbe wurden öffentliche Trinkwasserbrunnen und ­Reparaturen am Mauerwerk des St. Bartholomew ’s Hospital finanziert. Eine weitere Bibliothek wurde gegründet, die Guildhall Library – in der Guildhall, dem eleganten gotischen Gebäude, das heute noch steht und bei Whittingtons Tod gerade umfassend umgebaut wurde. Er hinterließ auch Geld für eine Sanierung des Newgate-Gefängnisses, das damals ein überfülltes, schmutziges Gebäude am Westrand der Stadt war, in dem Krankheiten grassierten und dessen Insassen oft allein aufgrund der erbärmlichen Zustände starben. Whittington sorgte dafür, dass das Seminar der St. Michael ’s

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Church eine solide finanzielle Grundlage erhielt. Und er finanzierte ein Armenhaus, das sich um die Armen und Mittel­losen in London kümmern sollte. Diese lange, beeindruckende und ganz am Gemeinwohl orientierte Liste guter Werke war auch damals schon ungewöhnlich und ist zu allen Zeiten beispielhaft. Und obwohl sich die Stadt London seit Whittingtons Tod radikal verändert hat, kann man sein Wirken immer noch spüren. Die Mercers ’ Company unterhält seit fast sechshundert Jahren das von Whittington gegründete Armenhaus. Mittlerweile ist es vom Londoner Zentrum in die Nähe von East Grinstead in West Sussex umgezogen, nicht weit vom Flughafen Gatwick. Whittington ’s College, wie es heute heißt, ist ein Anwesen mit über fünfzig Wohnungen, die günstig an Rentner vermietet werden, meist an alleinstehende Frauen oder sozial schwache Paare. Die Bewohner haben ihr Zuhause dem wohltätigen Geist Sir Richard Whittingtons zu verdanken, ein Kaufmann, Geldverleiher, Kriegsfinanzier und Freund der Könige, der im Mittelalter auf ganz unterschiedliche Art und Weise Geld verdiente und Macht ausübte. Doch sie sind bei Weitem nicht die Einzigen, die noch heute von der damaligen Zeit profitieren. Die von der kommerziellen Revolution herbeigeführten Veränderungen der mittelalterlichen Wirtschaft und Gesellschaft legten die Grundlagen für das goldene Zeitalter des westlichen ­Kapitalismus, das viele Jahrhunderte später folgte. Jeder, dessen Leben heute durch chinesische Exporte, Bankkredite, Reiseversicherungen und Aktienanlagen bereichert wird, ist dem Mittelalter zu Dank verpflichtet. Wir stehen auf den Schultern von Riesen.

11.

Gelehrte «Jeder Mönch scheint ein Philosoph.» Der normannische Chronist Ordericus Vitalis

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m Samstag, dem 14. Oktober 1307, eilte eine Gruppe der rang-­ höchsten Gelehrten der Universität von Paris durch die Straßen der Stadt zur Kathedrale Notre-Dame, wo sie von Guillaume de Nogaret, dem Kanzler und wichtigsten Berater des französischen Königs Phi­ lipp  IV ., zu einer Audienz erwartet wurde. Die Aufforderung war sehr kurzfristig gekommen, denn de Nogaret hatte einen eiligen Auftrag für sie. Als sie vor der hoch aufragenden gotischen Kathedrale eintrafen, wurden sie in den Kapitelsaal geführt. De Nogaret sprach persönlich zu ­ihnen. Der Kanzler war eine bekannte, aber auch umstrittene Figur der französischen Gesellschaft. Er war ursprünglich selbst Gelehrter: In den 1280er Jahren hatte er an der Universität von Montpellier Römisches Recht studiert und anschließend selbst unterrichtet, bevor er die Akademie verließ, um in der Politik als Mann fürs Grobe und Problemlöser Karriere zu machen. Sein Ruf als Brutalo mit Hirn reichte weit über Frankreich hinaus. 1303 hatte er mit Billigung von König Philipp versucht, Papst Bonifatius  VIII . aus seiner Sommerresidenz in der mittelitalienischen Stadt Anagni zu entführen. Dabei war es zu einem Gerangel gekommen, bei dem der Papst ins Gesicht geschlagen wurde.* De Nogaret war ein har-

* Die «Ohrfeige von Anagni» war der melodramatische Höhepunkt einer hässlichen Fehde zwischen Philipp IV. und Bonifatius VIII. Ihr Auslöser war der Wunsch des französischen Königs, die Kirche in seinem Reich zu besteuern, doch die eigent­

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ter Mann, der sehr unangenehm werden konnte, wenn man ihn nicht ernst nahm. Dennoch erzählte er den Pariser Gelehrten eine Geschichte, die so skandalös war, dass sie sie kaum glauben konnten. Es war eine Geschichte über Sex und Sünde, Blasphemie und Häresie. Und sie handelte von den Tempelrittern – dem Ritterorden, der seit fast zweihundert Jahren an vorderster Front der Kreuzzugsbewegung kämpfte. Die Templer, wie de Nogaret den Gelehrten berichtete, standen schon lange unter Beobachtung, unter seiner persönlichen Leitung wurde heimlich gegen sie ermittelt. Er behauptete, mit seinen Nachforschungen habe er üble Korruptionsvorgänge aufgedeckt, die sich von der Spitze bis zu den unteren Rängen des Templerordens zögen. Unter dem Schutz des Papstes hätten Generationen hochrangiger Templer den einst so angesehenen Orden zu einer Brutstätte der Homosexualität, Götzenanbetung und Sünde gemacht. Man habe den Mitgliedern nicht nur erlaubt, sondern sie sogar ermuntert, den Namen Christi zu beschmutzen. In einem Bericht über das Treffen, verfasst von dem Chronisten Jean de Saint-­ Victor, behauptet de Nogaret, die Templer hätten in nächtlichen Ritualen auf das Kreuz gespuckt, seien auf Christus-Bildern herumgetrampelt und

lichen Gründe lagen im jahrhundertealten Streit um die Frage, wer die Oberhoheit hatte, der Papst oder der König. Der Widerstand gegen die päpstliche Autorität war traditionell eigentlich Sache der deutschen Könige und Kaiser (zum Beispiel während des Investiturstreits 1075–1122 und der Kämpfe zwischen Guelfen und Ghibellinen, die in Italien vom Beginn des 12. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts anhielten). Doch an der Wende zum 14. Jahrhundert wurde Philipp IV. kurzzeitig zum größten Gegner des Papstes. Als sich Bonifatius gegen Philipps Versuche wandte, die Oberhoheit des Königs durchzusetzen, reiste de Nogaret nach Italien, stellte eine kleine Privatarmee auf, verbündete sich mit der mächtigen papstfeindlichen Familie Colonna und belagerte das päpstliche Landhaus in Anagni, um Bonifatius festzunehmen und nach Frankreich zu bringen, wo man ihm den Prozess machen wollte. Bei der Stürmung der Villa kam es im Tumult zur Konfrontation zwischen de Nogaret, seinem Verbündeten Giacomo «Sciarra» Colonna und Bonifatius. Sciarra schlug Bonifatius ins Gesicht. Dann wurde der Papst festgenommen und drei Tage lang schwer misshandelt, bevor ihn die Einwohner von Anagni befreien konnten. Boni­ fatius starb bald darauf an einem Fieber, angeblich (was aber nicht belegt ist) soll er dabei Wahnvorstellungen gehabt und sich seine eigenen Hände abgebissen haben.

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hätten seine Heiligkeit geleugnet.1 Sie hätten falsche Idole angebetet und untereinander unsittliche sexuelle Handlungen vollzogen. In den offiziellen Anklagen der Regierung wurden die angeblichen Vergehen der Templer als «Schande für die Menschheit, bösartiges Beispiel für Schlechtigkeit und allgemeiner Skandal» bezeichnet und die Männer selbst als «Wölfe im Schafspelz … Söhne der Untreue».2 Angesichts dieser Erkenntnisse, so wurde den Gelehrten erklärt, habe die französische Regierung schnell und entschlossen reagiert. Am Vortag – dem 13. Oktober, einem Freitag – war jeder Templer in Frankreich bis hinauf zum Großmeister Jacques de Molay verhaftet worden. Das Vermögen des Ordens wurde sichergestellt. Die Ordenshäuser (oder Kommenden) wurden durchsucht und beschlagnahmt. Hunderte Templer befanden sich in Haft. Sie mussten mit harten Strafen rechnen, denn der König nahm den Fall sehr ernst. Im Privaten hatte Philipp seinen Verdacht gegenüber den Templern mindestens seit 1305 geäußert.3 Ob er wirklich glaubte, dass im Orden sexuelles Fehlverhalten und gottlose Korruption gang und gäbe waren, konnte man nicht mit Sicherheit sagen – und weiß es bis heute nicht. Allerdings hatte er großes Interesse am Vermögen des Ordens, mit dem er die ins Stocken geratene französische Wirtschaft ankurbeln und seine Kriege finanzieren wollte, außerdem gefiel es ihm, sich als König darzustellen, der die Kirche von Korruption säuberte. Es war abzusehen, dass Philipp die Unterstützung der Universität suchen würde. Die Universität von Paris galt als eine der besten des Abendlands, und ihre Gelehrten waren führend auf dem Gebiet der theologischen Forschung und Debatte. Ihr kollektives Urteil hatte nicht nur Einfluss auf die französische, sondern auch auf die internationale Öffentlichkeit. Deshalb machte sich de Nogaret die Mühe, sie so bald wie möglich über die aktuelle Situation zu informieren. Ob es den Gelehrten gefiel oder nicht, sie waren dazu bestimmt, über das Schicksal der Templer mit zu entscheiden, über ihr Überleben – oder ihre Vernichtung.4 Der französische Angriff auf die Templer 1307 war eines der ungeheuerlichsten Ereignisse in der Geschichte des Spätmittelalters. Wie wir in Kapitel 8 sahen, waren die Tempelritter in der gesamten christlichen Welt und darüber hinaus berühmt. Fast zwei Jahrhunderte lang hatten sie

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sich in dramatischen Schlachten und bei zähen Belagerungen im Nahen Osten hervorgetan. Sie hatten es 1187 mit Saladin in der Schlacht bei Hattin aufgenommen, sie waren während der desaströsen ägyptischen Kreuzzüge 1217 bis 1221 und 1249 bis 1250 durchs überschwemmte Nildelta gezogen und hatten als letzte Truppen Widerstand geleistet, als die Mamluken 1291 Akkon stürmten. Darüber hinaus hatte der Templerorden ein enormes Fachwissen im Bereich der Finanzdienstleistungen aufgebaut; die Templer hatten sich als Geldverleiher, Buchhalter und Beamte betätigt und waren von der französischen Krone mit wichtigen Aufgaben im Bereich der Staatsfinanzen betraut worden. Ihre nicht kämpfenden Brüder unterhielten im gesamten christlichen Westen Ordenshäuser, sie waren in praktisch jedem Königreich vertreten, von England und Frankreich bis zu den deutschen Staaten, Sizilien und Ungarn. Zu ihren Förderern und Schutzherren gehörten Könige und Königinnen und der Hochadel. Es war also durchaus ein Wagnis für den französischen König, gegen eine solche Institution vorzugehen und sie zu zerschlagen. Doch genau das tat er – mit dem stillschweigenden Einverständnis der Pariser Gelehrten. Etwa zwei Wochen nach dem ersten Treffen mit de Nogaret in NotreDame wurden die Pariser Gelehrten zu einer zweiten Unterredung bestellt, die am 25. und 26. Oktober im Hauptquartier der Templer stattfand  – ­einem gewaltigen, mit Türmchen versehenen städtischen Festungsbau in dem Teil von Paris, wo sich heute das Viertel Marais befindet.* Dieses Mal wurden fast alle Gelehrten der Universität gerufen: die magistri regentes (die qualifiziert waren, Studenten zu unterrichten), die magistri non regentes (die die Prüfungen bestanden hatten, aber nicht lehren durften) und die baccalarii (die ihr Studium zur Hälfte abgeschossen hatten). Nachdem ihnen zuvor die Anklage gegen die Templer vorgestellt worden war, sollten sie nun die Beweise der Regierung hören, die ihnen in Form von Geständ-

* Das imposante Gebäude existiert heute nicht mehr; zuletzt wurde es während der Französischen Revolution als Gefängnis für Ludwig  XVI. und Marie Antoinette ­genutzt und schließlich im 19. Jahrhundert abgerissen. An die Stelle erinnert heute nur noch der Name. Nach der Umgestaltung durch Baron Haussmann wurde dort ein begrünter Platz angelegt, der Square du Temple.

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nissen präsentiert wurden, die Dutzende Templer gemacht hatten, darunter auch der Großmeister de Molay. Die Geständnisse waren unter der Folter abgepresst worden. Zwei Wochen lang waren die Templer von den besten Verhörspezialisten des Königs befragt worden, die Leitung hatte Philipps persönlicher Beicht­ vater übernommen, der Dominikaner Guillaume de Paris. Man hatte die Templer mit Schlafentzug gefoltert, hatte sie hungern lassen, in Einzelhaft genommen und geschlagen. Einige waren mit heißen Eisen oder dem Strappado (eine Foltermethode, bei der das Opfer an den nach hinten gebundenen Armen aufgehängt wird) gequält worden, sie waren physisch und psychisch gebrochen worden, bis sie sich schuldig bekannt hatten. Nun wurden die eingeschüchterten Männer den Mitgliedern der Universität in einer langen Reihe vorgeführt. Einer nach dem anderen musste sein Geständnis vorlesen. Dann wurden sie zurück in ihre Zellen gebracht. Zwei Tage lang waren die gelehrten Männer Zuschauer dieser entsetzlichen Inszenierung. Als sie in ihre Studierzimmer zurückkehren durften, klangen ihnen die erschreckenden Geständnisse von de Molay und seinen Brüdern sicher noch im Ohr. Doch damit war die Templer-­ Affäre für die Gelehrten noch nicht abgeschlossen. Schon bald sollten sie ihre offizielle Einschätzung und ihr fachkundiges Urteil dazu abgeben. Innerhalb von nicht einmal drei Wochen waren die Verhaftungen erfolgt und die führenden Templer zum Geständnis ihrer angeblichen Untaten gebracht worden, doch danach geriet der Fall außer Kontrolle und war von einer einzelnen Person nicht mehr zu steuern. Der damalige Papst Clemens  V . (reg. 1305–1314), ein aus der Gascogne stammender Günstling des französischen Königs, war unter dem politischen Druck der Franzosen gewählt worden, die erwarteten, dass er sich fügsam gegenüber Paris zeigen würde. Er verbrachte seine komplette Regierungszeit in Frankreich.* Doch selbst Clemens konnte sich nicht einfach auf die Seite

* 1309 hatte Clemens das päpstliche Hauptquartier offiziell von Rom in die Stadt ­Avignon verlegt, die theoretisch in der weitgehend unabhängigen Grafschaft Provence lag, faktisch aber unter dem Einfluss des französischen Königs stand. Sieben Päpste, alle Franzosen, sollten dort in der sogenannten «Babylonischen Gefangen-

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des französischen Königs stellen und zulassen, dass ein weltlicher Herrscher die Templer vernichtete. Daher versuchte der Papst, Philipps Attacke zu blockieren, indem er die Untersuchung der angeblichen Korrup­ tionsaffäre bei den Templern zu seiner eigenen machte und sie auf jedes souveräne Territorium im christlichen Abendland ausdehnte.5 Also wurden zwei parallele Untersuchungen – die eine zum Fehlverhalten einzelner Templer, die andere zu den Vergehen des gesamten Ordens – durchgeführt, und es dauerte mehrere Jahre, bis die Ergebnisse aus so weit ­entfernten Ländern wie Irland oder Zypern vorlagen. In dieser Zeit konnten die Templer in Frankreich eine gemeinsame juristische Reaktion ausarbeiten. Dabei wandten sich beide Seiten wieder an die Universität von Paris. Anfang Februar 1308, drei Monate nach den ersten Verhaftungen, tauchte ein anonymer offener Brief auf, die sogenannte Lamentatio quaedam pro Templariis («Wehklage um die Templer»), der sich an die Doktoren und Gelehrten der Universität richtete. Im Brief wurde eingewandt, die Kerkerhaft sei plötzlich und willkürlich verhängt worden und empörend, viele Templer seien unter der Folter gestorben, ihre Leichen seien heimlich verscharrt worden, die Anschuldigungen gegen den Orden seien falsch, un­ logisch und absurd. Im Brief hieß es, zum Zeitpunkt der Verhaftung der französischen Templer hätten gleichzeitig Hunderte ihrer Ordensbrüder in ägyptischen Kerkern geschmachtet und tapfer alle Angebote abgelehnt, freigelassen zu werden, wenn sie zum Islam überträten: Das sei wohl kaum das Verhalten eines unchristlichen Haufens. Der Brief war eine ­engagierte Verteidigung des Ordens, vermutlich von einem weltlichen Amtsträger verfasst, und eine herbe Kritik an der Einschüchterungstaktik der französischen Regierung.6 Die entsprechende Erwiderung – vielleicht dadurch provoziert – ließ nicht lange auf sich warten. Ende Februar erhielten die magistri regentes und non regentes im Bereich Theologie der Pariser Universität im Namen des Königs einen Kata-

schaft» residieren, bis Gregor XI. 1376 den Sitz des Papsttums wieder nach Rom verlegte. Von 1378 bis 1410 versuchten zwei aufeinanderfolgende Gegenpäpste erneut, die Kirche von Avignon aus zu regieren.

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log mit sieben Fragen. Gespickt mit komplizierten juristischen Formulierungen wurden sie aufgefordert, ihre Meinung zum Recht  – oder der Pflicht – der französischen Krone abzugeben, gegen Ketzer und Abtrünnige auf französischem Gebiet vorzugehen. Die Gelehrten sollten ab­ wägen, ob ein weltlicher Herrscher «verpflichtet oder berechtigt» sei zu handeln, wenn er «hört, wie der Name des Herrn gelästert oder der katholische Glaube von Ketzern, Schismatikern oder anderen Ungläubigen abgelehnt wird». Sie sollten beurteilen, ob die Templer – «eine einzigartige Sekte, die sich aus so schrecklichen, so abscheulichen Personen zusammensetzt» – nach weltlichem Recht als Ritter und nicht nur nach kanonischem Recht als Kirchenmänner verurteilt werden könnten. Und sie sollten sagen, ob die Tatsache, dass «fünfhundert und mehr» Templer bisher ihre Untaten gestanden hätten, bedeute, dass der Orden selbst als hoffnungslos korrupt angesehen werden müsse, und ob es möglich sei zu erkennen, wie tief diese Korruption gehe, wenn (so wurde behauptet) das Fehlverhalten des Ordens nicht nur aktuell sei, sondern weit zurückreiche.7 Diese und andere theologische Fragen sollten die Pariser Theologen nun beantworten. Dahinter war eindeutig die Absicht zu erkennen, dass sich die französische Krone ihre intellektuelle Rückendeckung sichern wollte, obwohl die Schlussfolgerung schon längst gezogen worden war. Die Antwort kam am 25. März. Und sie zeigte deutlich, wo die Sympathien der Gelehrten lagen. Die Magistri priesen den «durchlauchtigsten und überaus christlichen Fürsten Philipp, durch die Gnade Gottes glanzvoller König der Franken» für seinen «vom heiligen Glauben entflammten Eifer», zeigten sich dann aber als Meister der Abwiegelung, Rückversicherung und der Ausweichmanöver nach dem Motto «Ihr habt gewiss recht, aber …». Es sei schwer zu beurteilen, ob die Krone befugt sei, die Templer zu verurteilen, denn dieses Recht gebühre eigentlich der Kirche. Allerdings enthielten die nachfolgenden Antworten der Magister so viele Vorbehalte, dass sich Philipps Minister getrost über diese Aussage hinwegsetzen konnten. Die Magister, die sich selbst als «bescheidene, aufrichtige Kaplane» bezeichneten, die «stets bereit und willig sind, Ihrer königlichen Majestät treu und hingebungsvoll zu dienen», argumentierten, der Papst habe zwar das Vorrecht, die Templer zu verurteilen, doch die bereits vorliegenden Geständnisse bedeuteten, «dass ein sehr starker Verdacht ge-

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weckt ist … dass alle Mitglieder des Ordens Häretiker oder Sympathisanten sind … dass besagte Häresie im Orden um sich greift … [und] dass das ausreichen sollte, dass die Menschen sie verurteilen und hassen». Ihr Vermögen solle dazu verwendet werden, die Kirche weiter zu verteidigen, erklärten sie, «doch was die Frage betrifft, wer sich darum kümmern soll, so scheint es uns, dass es so eingezogen werden sollte, wie es dem Zweck am besten dient». Kurz gesagt, drückten sie sich so unklar aus, dass Phi­ lipp behaupten konnte, er habe sich ordnungsgemäß rechtlich beraten lassen und sei berechtigt, das zu tun, was er wollte. Die Magister endeten mit der Hoffnung, die Antworten seien für den König akzeptabel. Sie hofften weiter, erklärten sie, dass «eine Wunde, die in den Augen der gesamten Christenheit so skandalös und abscheulich ist, schnell und in Übereinstimmung mit Euren heiligen Wünschen beseitigt werden möge».8 Dank dieses Zickzackkurses hatte Philipp freie Bahn. Die zaghafte Antwort der Magister ist verständlich. König Philipp war eindeutig ein Mann, den man sich besser nicht zum Feind machte. In seiner bisherigen Regierungszeit hatte er bedenkenlos all diejenigen in den Ruin oder Tod getrieben, die seinen Unmut geweckt hatten. Viele Theologen der Pariser Universität waren Mitglied eines monastischen Ordens, die wie die Tempelritter der päpstlichen Aufsicht unterstanden und damit ebenfalls potenzielle Angriffsziele einer königlichen Attacke sein konnten. Sie wollten sicher nicht die Vernichtung der Templer, hatten andererseits aber auch kein Interesse daran, den königlichen Zorn auf ihre eigenen ­Orden zu lenken. Zudem waren sie pedantische Kirchenmänner, die von Natur aus dazu neigten, überall Ketzerei zu wittern. Es gab eine oder zwei abweichende Stimmen innerhalb der Universität – etwa einen betagten italienischen Eremiten und Gelehrten, der sich Augustinus Triumphus nannte und eine Schrift verfasste, in der er die Argumente der Regierung, gegen die Templer vorgehen zu müssen, persönlich zerpflückte.9 Doch im Großen und Ganzen ließen die Gelehrten das dubiose Vorgehen der Regierung unwidersprochen und hofften, dass sie, nachdem sie ihre Meinung abgegeben hatten, in Ruhe weiter unterrichten und ihren Studien nachgehen konnten. Sie waren nicht die ersten Intellektuellen in der Geschichte, für die ein ruhiges Leben oberste Priorität hatte – und sie sollten auch nicht die letzten sein.

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Nach einem langen und brutalen juristischen Tauziehen konnte sich Philipp IV . durchsetzen und den Templerorden liquidieren. Im März 1312 erklärte Papst Clemens beim Konzil von Vienne, der Orden sei nicht mehr zu retten. Im März 1314 wurde Jacques de Molay in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt; er starb mit der Erklärung, Gott werde die Templer rächen. Sein Tod war der letzte Akt in einer furchtbaren Geschichte, die auf keinen der Beteiligten ein gutes Licht warf. Heute gilt die Zerschlagung des Templerordens als Wendepunkt in der mittelalterlichen Geschichte, weil ein weltlicher Herrscher die päpstliche Macht attackierte und trotz Schwierigkeiten einen entscheidenden Sieg erzielte. Im Zusammenhang mit der Vernichtung der Templer wird die Rolle der Universität von Paris normalerweise nur beiläufig erwähnt. Doch die Meinung der Gelehrten war damals für alle Seiten von großer Bedeutung. Und das war keineswegs selbstverständlich. Es hatte zwar seit Mitte des 12. Jahrhunderts halboffizielle Versammlungen und Gemeinschaften von Gelehrten in Paris gegeben, doch offiziell wurde die Universität erst 1231 von Papst Gregor  IX . gegründet. 1307 war sie daher noch nicht einmal hundert Jahre alt, zudem gab es in ganz Europa nur eine Handvoll der­ artiger Einrichtungen – die nächstgelegenen Rivalen waren Oxford und Bologna. Trotz der kurzen Zeit ihres Bestehens galt die Universität als tragende Säule des Establishments, und die Meinung ihrer klügsten und besten Gelehrten hatte nicht nur akademische, sondern auch politische Bedeutung. Auf das gesamte Mittelalter angewandt, spielt das eine große Rolle. Die Universität von Paris war in kurzer Zeit zu einem Forum geworden, wo wichtige Fragen der Theologie, Gesellschaft und Regierung analysiert und beantwortet wurden.* Ursprünglich lieferte die Universität auch Personal für die königliche Verwaltung, die von Zeit zu Zeit einen Dozenten abwarb. Die Ausbildung an einer Universität gehörte für die

* Vor der Templeraffäre hatte Philipp die Pariser Gelehrten bereits in seinen Streit mit Papst Bonifatius VIII. im Jahr 1303 hineingezogen und sämtliche Mitglieder der Universität aufgefordert, Papiere zu unterzeichnen, in denen sie sich auf seine Seite stellten und die Position des Papstes ablehnten. Siehe Crawford, «The University of Paris and the Trial of the Templars», S. 115.

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jungen Männer der Mittel- und Oberschicht noch nicht zum Standard; es war noch nicht einmal üblich, in jeder größeren Stadt eine Universität zu finden. Dennoch setzte bei den mittelalterlichen Universitäten in Städten wie Paris zu Beginn des 14. Jahrhunderts eine Entwicklung ein, an ­deren Ende die Einrichtungen stehen, die wir im 21. Jahrhundert kennen. Die Universitäten gewannen erheblichen Einfluss und wurden zu Zentren der Gelehrsamkeit und intellektuellen Betätigung, deren Entdeckungen die Welt prägten und deren Vermächtnis wir bis heute spüren.* Um diese Entwicklung zu verstehen, müssen wir die intellektuelle und kulturelle Tradition betrachten, aus denen die Universitäten hervorgingen, beginnend im 6. Jahrhundert n. Chr., als die Welt der klassischen Antike aus den Fugen geriet und die Tradition der akademischen Forschung und Gelehrsamkeit im Westen langsam verschwand.

Das Wort Gottes Als junger Mann ging Isidor, der zukünftige Erzbischof von Sevilla und einer der größten Gelehrten des ersten nachchristlichen Jahrtausends, zur Schule. Das war nicht unbedingt radikal, aber doch ein Privileg. Bildung war Ende des 6. Jahrhunderts den Wohlhabenden vorbehalten, und Isidor konnte sich den Schulbesuch nur leisten, weil seine Eltern der alten

* Heute gibt es in Frankreich etwa 100 öffentliche Universitäten und 250 grandes é­ coles. Das Vereinigte Königreich hat über 100 Universitäten und Hochschulen. In Deutschland sind es knapp 400, in Indien über 1000. China hat fast 3000. In den USA gibt es über 5000 Universitäten und Colleges. In praktisch jedem Land weltweit gilt eine höhere Bildung, die normalerweise mindestens ein dreijähriges Studium an einer Universität (oder einer vergleichbaren Einrichtung) umfasst, als wertvolle persönliche Erfahrung und noch viel häufiger als Voraussetzung für bestimmte Berufe oder eine Karriere in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst. Universitäten sind heute der Motor für Forschung und Entwicklung in ganz unterschiedlichen Bereichen, von Recht, Literatur und Betriebswirtschaft bis zu Medizin, Ingenieurwesen und Informatik. Und die Wurzeln dafür lassen sich direkt ins Mittelalter ­zurückverfolgen.

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römisch-spanischen Elite angehörten. Zu Beginn des Mittelalters stand die Iberische Halbinsel unter der Herrschaft der Westgoten, doch bei einem intelligenten Kind hielt man an der altmodischen Erziehung «römischen Stils» fest. Der junge Isidor hatte also Glück. Und wie die meisten erfolgreichen Genies in der Geschichte war er schlau genug, sich nicht auf sein Glück zu verlassen, sondern selbst hart für seinen Erfolg zu arbeiten. Er wusste seine Erziehung zu nutzen, sog Informationen förmlich in sich auf und interessierte sich praktisch für alles. Isidors Klassenzimmer befand sich in der Kathedrale von Sevilla, wo sein älterer Bruder Leander Bischof war. Der Unterrichtsstoff war jedoch nicht rein christlich. Tatsächlich reichte der grundlegende Lehrplan, an dem man sich in Sevilla und allen anderen Schulen orientierte, über ein Jahrtausend bis weit vor Christi Geburt zurück. Ein klassischer Lehrplan also, der Aristoteles im 4. Jahrhundert v. Chr. genauso bekannt vorgekommen wäre wie Cicero im 1. Jahrhundert v. Chr., Marc Aurel im 2. Jahrhundert n. Chr. oder Boëthius im 6. Jahrhundert. Er stützte sich auf die so­ genannten Sieben Freien Künste, die septem artes liberales («frei», weil sie früher als geeignet für freie Menschen galten, nicht für diejenigen, die ­arbeiten mussten), die wiederum in zwei Gruppen unterteilt waren. Zuerst kam das Trivium, die Künste der Sprache und des Argumentierens: Grammatik, Logik und Rhetorik. Dann kam das Quadrivium, dessen Künste sich am mathematischen Denken ausrichteten: Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik. Obwohl Trivium und Quadrivium nicht den gesamten menschlichen Wissensbereich umfassten  – man erwartete, dass sich ein unverbrauchter junger Geist auch mit Theologie, Medizin und Recht befasste –, bildeten sie das Fundament der klassischen Erziehung. Boëthius beschrieb das Quadrivium als den Grundstein, auf dem die gesamte philosophische Forschung über die Natur der Welt ruhte, und nur wenige ernsthafte mittelalterliche Denker wichen von dieser ­Annahme ab.*

* Isidor jedenfalls nicht. In seinem berühmtesten Werk, den Etymologiae, waren die Sieben Freien Künste der erste Eintrag, mit dem er sich befasste, noch vor den Buchstaben des Alphabets. Siehe Stephen A. Barney, W. J. Lewis, J. A. Beach und Oliver Berghof (Hg.), The Etymologies of Isidore of Seville (Cambridge 2006), S. 39.

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Isidor genoss diese Erziehung. Er hatte kein Problem mit dem Trivium oder Quadrivium. Er meisterte auch die Theologie. Er lernte Latein, He­ bräisch und Griechisch. Voller Wissensdurst stürzte er sich auf jedes Themenfeld, von Krieg, Recht und Theologie bis zu Schiffbau, Geografie und Hauswirtschaft. Als Erwachsener wurde er von dem Glauben angetrieben, das gesamte Wissen der Welt sei zum Greifen nah. Seine Lernfähigkeit versetzte sein Umfeld in Erstaunen. Sein Freund und Schüler Braulio von Sevilla beschrieb ihn als einen «Mann, gebildet in jeder Form des Ausdrucks, so dass er in seiner Sprechweise sowohl auf ein unwissendes als auch auf ein gebildetes Publikum eingehen konnte. Tatsächlich war er berühmt für seine unvergleichliche Eloquenz.»10 Isidor ist also schon allein aufgrund seiner natürlichen Intelligenz bemerkenswert. Er schrieb in seinem Leben mindestens vierundzwanzig ­Bücher, darunter historische Chroniken, die Beobachtung naturwissenschaftlicher Phänomene, mathematische Lehrbücher, Kurzbiografien der Kirchen­väter, Sammlungen von Epigrammen  – und seine Etymologiae, eine riesige Enzyklopädie, in der er alles beschreiben wollte, was ein gebildeter Mensch wissen sollte, von den Nahrungsgewohnheiten der Igel bis zur geografischen Anordnung der Kontinente.11 (Nicht umsonst gilt Isidor heute als Schutzpatron des Internets.) Jedes Werk wäre für sich allein schon re­spektabel. Zusammen verkörpern die Schriften einen unglaublichen Fundus an Gelehrsamkeit. Und die Etymologiae waren ein echtes Meisterwerk, geschätzt von Generationen zukünftiger Leser aufgrund ­ihrer inhaltlichen Bandbreite und Lebendigkeit. Im Mittelalter waren sie eines der meistge­lesenen und einflussreichsten Werke des Abendlands.12 Der enorme und anhaltende Erfolg der Etymologiae war kein Zufall. Obwohl Isidor von der Kirche ausgebildet worden war, verfügte er über ein umfangreiches Wissen nicht nur der christlichen, sondern auch der «heidnischen» Autoren und konnte Aristoteles, Cato, Platon und Plinius genauso frei zitieren wie den Heiligen Ambrosius und Augustinus. Er ­besaß die geniale Fähigkeit, die großen Autoren  – Juristen, Theologen, Philosophen, Poeten und Polemiker – der schwindenden Antike und des anbrechenden christlichen Zeitalters miteinander zu verbinden. Isidor war bewusst, dass es anderen christlichen Gelehrten seiner Zeit unangenehm war, christliche und nichtchristlichen Quellen zu vermischen. Aber

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ihm war das egal. Ein Gedicht, das Isidor zugeschrieben wird, nimmt sich dieser Bedenken an: «Du siehst Wiesen voller Dornen und reich an Blüten, / Wenn du die Dornen nicht willst, dann nimm die Rosen.»13 Isidor verstand, dass ein Universalgelehrter nicht dogmatisch sein durfte. Aus rein akademischer Sicht war Isidor ein höchst einflussreicher Gelehrter. Doch er mischte auch in der Politik mit. Sein Bruder Leander, der seine schulische Ausbildung beaufsichtigt hatte, war nicht nur ein ­Kirchen-, sondern auch ein Staatsmann und hatte sich mit Papst Gregor dem Großen (einem weiteren herausragenden Gelehrten) und der westgotischen Königsfamilie angefreundet; unter Leanders Einfluss trat König Rekkared  I . vom arianischen Glauben zum römisch-katholischen über – ein Ereignis, das später als wegweisend für die spanische Geschichte eingestuft wurde. Isidor führte die politische Betätigung der Familie fort. Nach Leanders Tod machte Rekkared Isidor zum Nachfolger seines Bruders und ernannte ihn zum Bischof von Sevilla. Von da an war Isidor dem königlichen Hof nahe, wo seine gelehrten Ratschläge großes Gewicht ­hatten.14 Isidor war über dreißig Jahre lang Bischof von Sevilla. Gegen Ende seines Lebens führte er in den Jahren 633/34 den Vorsitz beim Vierten Konzil von Toledo, dessen Beschlüsse nachhaltigen Einfluss auf die kulturelle und politische Atmosphäre im christlichen Teil der Iberischen Halbinsel haben sollten. Die Gesetze zur Diskriminierung der spanischen Juden wurden verschärft, die Bindung zwischen der spanischen Kirche und den weltlichen christlichen Herrschern wurde verstärkt. Besonders wichtig für Isidor persönlich war vielleicht, dass das Konzil die Bischöfe anwies, ­neben ihren Kathedralen Schulen einzurichten, ähnlich wie jene, die ihm den Weg zu wissenschaftlichem und politischem Ruhm gewiesen hatte. In gewisser Weise war das die Anerkennung dafür, dass die positiven Aspekte in Isidors Leben ihren Anfang in der Bildung hatten. Doch der Beschluss wies auch weit in die Zukunft: in eine mittelalterliche Welt, in der die katholische Kirche das Monopol auf Bildung hatte, das institutionelle Umfeld für die abendländischen Intellektuellen stellte und die erlaubten – und verbotenen – Wege zum Wissen festlegte.

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Von Isidors Welt im 6. Jahrhundert bis zum Ende des Mittelalters (und darüber hinaus) hatte die Kirche die abendländische Bildung und Gelehrsamkeit fest im Griff. Wie immer und überall ging es auch hier um den praktischen Nutzen. Wie die jüdische Religion und, wie sich schon bald zeigen sollte, der Islam, war auch das Christentum eine Religion, die auf dem Wort Gottes gründete, und das wurde hauptsächlich dadurch übermittelt, dass es geschrieben, gelesen und gehört wurde. Der Apostel Paulus, der mehr als jeder andere zur Verbreitung der Lehren Christi beitrug, war ein gebildeter Mann, der mehrere Sprachen beherrschte und über eine gesunde philosophische Halbbildung verfügte. Die folgenden fünfhundert Jahre brachten viele große Denker und Autoren wie ihn hervor. Gelehrte wie Augustinus, Ambrosius und Hieronymus, die später zu Heiligen erklärt wurden, waren tragende Mauern im intellektuellen und liturgischen Gebäude der Kirche – und im weiteren Sinn auch im Leben von Millionen mittelalterlicher Christen. Im 5. Jahrhundert wurde der heilige Hieronymus von einer Freundin um Rat bei der Erziehung ihrer Tochter Paula gefragt, für die sie eine Laufbahn als Äbtissin vorgesehen hatte. Er betonte die Bedeutung der Bildung: «Besorge ihr Buchstaben aus Buchsbaumholz oder Elfenbein und lasse sie deren Namen lernen!», schrieb er. «Sie soll damit spielen, und sie wird aus dem Spiele Belehrung schöpfen … Laß sie Silben zusammensetzen und gib ihr, wenn ’s gelingt, eine kleine Belohnung! Was den Kindern in diesem Alter Freude machen kann, dazu sollen kleine Geschenke an­ regen. Laß sie zusammen mit einigen Gespielinnen lernen! Das weckt den Ehrgeiz, und das gespendete Lob regt das Ehrgefühl an.»15 Die Kirche war von Gelehrten aufgebaut worden und verlor nie das Interesse daran, weitere Gelehrte hervorzubringen. Doch die Kirche konnte von Gelehrten nicht nur dadurch profitieren, dass sie das Wort Gottes weiterverbreiteten. Seit Beginn des Mittelalters verfügten religiöse Einrichtungen über großen Grundbesitz. Das bedeutete, dass die Kirche auch einen ganz praktischen weltlichen Bedarf an Fachkräften hatte, die etwa Dokumente bei der Übertragung von Besitz anfertigten oder ihre Güter verwalteten. Die Päpste wollten Steuern eintreiben und mussten sich per Brief über weite Entfernungen mit Königen und Kaisern auseinandersetzen. Bischöfe leiteten Diözesen mit Priestern,

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denen sie Vorgaben zu aktuellen Fragen der Lehre und des Verhaltens schriftlich mitteilen mussten. Klöster hatten Verpflichtungen gegenüber ihren lebenden und toten Gönnern und Wohltätern und mussten sich ­einen Überblick verschaffen, für wessen Seele sie an welchem Tag beten sollten. (Sie hatten auch Chöre mit Knaben, die Texte lesen und Musik gut genug verstehen mussten, um die hohen Stimmen in ihren täglichen Gottesdiensten und Messen zu singen.) Die Bürokratie kannte kein Ende. Deshalb brauchte die Kirche immer und auf jeder Ebene Leute, die lesen und schreiben konnten. Der sicherste Weg, für Nachschub an klugen, belesenen Leuten zu sorgen, die auf die aktuelle Glaubenslehre eingestellt waren, bestand darin, sie «intern» auszubilden – so war auch Isidor zu seiner Erziehung in Sevilla gekommen, und genau deshalb hatte er beim Vierten Konzil von Toledo ein formales System der Kathedralschulen empfohlen. Aus diesem Grund blieb die Bildung im Westen lebendig, nachdem das Römische Reich nur noch im Osten weiterbestand. Deshalb gab es, wo immer eine Kathedrale oder ein Kloster war, auch eine Art Schule, ein Skriptorium und eine ­Bibliothek.* Und deshalb verlangte die Regel des heiligen Benedikt, dass Mönche mehrere Stunden am Tag mit der Lektüre der Bibel und anderer religiöser Schriften verbrachten.16 Im gesamten Mittelalter gab es Klöster und Kathedralen, deren «Markenidentität» auf ihren hohen Bildungsstandards beruhte. Im 6. Jahrhundert gründete der römische Staatsmann Cassiodor die Abtei von Vivarium (in der Nähe von Squillace in Süd­ italien) als Zentrum des Studiums und der Erhaltung christlicher und klassischer Texte; fünfhundert Jahre später entfaltete das neu gegründete Kloster Bec in der Normandie eine so große Magnetwirkung für Gelehrte, dass der Chronist Orderic Vitalis feststellte: «Fast jeder Mönch scheint ein Philosoph.»17 Die Kirche bildete jedoch nicht nur Philosophen aus. Eine Schul­ bildung war zwar ein unverzichtbarer Bestandteil für eine Karriere in der Kirche, doch die Klöster und Kirchen wurden auch zur Ausbildungsstätte

* Einige Klosterbibliotheken waren besonders gut ausgestattet: Die Bibliothek von Cluny umfasste fast 600 Bücher.

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für diejenigen, die Bildung benötigten, aber weltliche Ambitionen hegten: die als Juristen arbeiten, Geschäfte machen oder als Schreiber in der zivilen Verwaltung von Königen und anderen Grundbesitzern tätig werden wollten.* Ein häufig genutzter Weg zur Macht war im gesamten Mittel­ alter die Kombination aus Gelehrtem und Geistlichem. Der Bibelgelehrte Augustinus, Prior des Andreas-Klosters in Rom, wurde von Papst Gregor  I . 597 zur Missionierung der Angelsachsen nach England geschickt. Bei dieser Mission wurde König Æthelberht von Kent überzeugt, das Christentum anzunehmen. Seine Taufe wiederum war der Auftakt zur Bekehrung der angelsächsischen Bevölkerung. Der Mathematiker und Astronom Gerbert von Aurillac, der Ende des 10. Jahrhunderts den Abakus in Europa einführte und selbst mehrere mathematische Lehrbücher verfasste, wurde sogar Papst (als Silvester II .). Dann gab es noch Alkuin von York, der jahrelang als rechte Hand Karls des Großen fungierte. Der Chronist Einhard beschrieb Alkuin als einen in allen Fächern gelehrten Mann, was zweifellos übertrieben war, doch er war sicher der einflussreichste Beamte in Karls Regierung. Der Kaiser setzte seine Vorschläge zur Reform des Klerus in den 780er Jahren um und nahm auch seine Ansichten zum Heidentum in den 790er Jahren sehr ernst. Alkuin beriet Karl, welche Glaubensvorstellungen häretisch waren, und unterstützte ihn bei seinem Programm zur Kopie von Manuskripten, durch das gelehrte Texte im ganzen Reich verbreitet werden konnten. Und wie Isidor setzte Alkuin seine politische Macht gezielt für die Bildung ein: Er hatte eine eigene private Schülergruppe an der Aachener Hofschule und führte dort Lehrplanreformen durch, die später von den Kloster- und Kathedralschulen übernommen wurden, die im karolingischen Zeitalter und danach eine erste Hochphase erlebten. Um die Jahr-

* Der Schulbesuch konnte damals wie heute eine angenehme oder unangenehme Erfahrung sein, was oft vom Charakter der Lehrer abhing. Eine Nonne, die um die Wende zum 8. Jahrhundert an der Mädchenschule von Wimborne Minster im Südwesten Englands unterrichtete, war so gemein zu ihren Schülerinnen, dass diese nach ihrem Tod auf ihrem Grab herumhüpften. Siehe Nicholas Orme, Medieval Schools: Roman Britain to Renaissance England (New Haven 2006), S. 24.

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tausendwende setzte ein goldenes Zeitalter der Bildung und Gelehrsamkeit ein. Es war eine gute Zeit, um zu lernen. Paradoxerweise war diese Zeit für Gelehrte aber auch nicht so gut. Denn Gelehrsamkeit wurde im karolingischen Zeitalter zwar unterstützt, respektiert, gefördert und geschützt, doch die lateinisch-christliche Welt des Frühmittelalters wandte sich auch zusehends nach innen und begegnete anderen Glaubensvorstellungen, anderen Denkweisen und anderen Autoritäten mit Argwohn. Da Gelehrte überwiegend in Klöstern und ­Kathedralen zu finden waren, konzentrierte sich der Inhalt der Lehre ­zunehmend auf christliche Elemente, während Schriften nichtchristlicher oder vorchristlicher Autoren mit Misstrauen betrachtet wurden. Isidor von Sevilla konnte im 6. Jahrhundert noch die Schriften griechischer und römischer Heiden genauso in sich aufsaugen wie die der frühen Kirchenväter, doch diese Form der umfassenden Gelehrsamkeit war um die Jahrtausendwende völlig aus der Mode gekommen. Zwischen dem 6. und 11. Jahrhundert ging im Abendland ein Großteil des antiken Wissens verloren. Griechischkenntnisse waren im Westen bereits im 6. Jahrhundert selten geworden, im 11. war die Sprache für westliche Autoren praktisch tot. Grundlegende Philosophen wie Platon* waren völlig unbekannt.18 Erst im 12. Jahrhundert wurden die intellektuellen Schleusentore wieder geöffnet und das heidnische Wissen konnte hereinströmen.

Übersetzung und Renaissance Das abendländische Europa sah sich gegen Ende des ersten Jahr­ tausends zwar nicht als intellektuelle Provinz, doch tatsächlich hinkte es im Jahr 1000 anderen Teilen der Welt weit hinterher. An der karolin­ gischen Manuskriptproduktion in Aachen, den in Frankreich, England

* Wenn Boëthius nicht im Jahr 524 wegen Verrats hingerichtet worden wäre (siehe Kapitel 2), hätte sich die Geschichte vielleicht ganz anders entwickelt: Er hatte vor seinem frühen Tod geplant, die kompletten Werke von Platon und Aristoteles ins Lateinische zu übersetzen.

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und Deutschland verstreuten Kathedralschulen und den Bibliotheken, die überwiegend mit den Werken christlicher Autoren bestückt waren, war nichts auszusetzen. Doch ein Reisender, der sich in den Osten aufmachte und die prächtigen Städte der arabischen und persischen Welt besuchte, erkannte schnell, wo der wahre Motor der globalen intellektuellen Erforschung lag: in den Ländern der Kalifen und in den Reichen des Islams. Obwohl der Islam als Religion von Kaufleuten begonnen hatte, war er keineswegs anti-intellektuell. Seit der Abbasiden-Revolution im Jahr 750 wurde Bildung sehr geschätzt. Gelehrte wurden großzügig gefördert. Entscheidend war jedoch, dass man zwischen Gelehrsamkeit und Religion trennte, weshalb im Osten lebende Christen und Juden zum kollektiven Wissen im islamischen Reich beitragen konnten. Bibliotheken wie das Haus der Weisheit in Bagdad* trugen Sammlungen mit Hunderttausenden Manuskripten zusammen, die aus fast jeder Sprache der gebildeten Welt ins Arabische übersetzt worden waren. Weitere Zentren von Bildung und Forschung bestanden in Städten wie Córdoba und Sevilla in Andalusien, Ctesiphon und Gundischapur in Persien, Edessa und Nisibis in Syrien sowie Palermo auf Sizilien. Im Laufe der Abbasidenherrschaft entstanden in den Städten unter muslimischer Kontrolle auch Religionsschulen, die Madrasas – die älteste war der Qarawīyīn-Moschee in Fès (im heutigen Marokko) angegliedert und wurde von der Tochter eines reichen Kaufmanns, Fatima al-Fihri, Mitte des 9. Jahrhunderts gestiftet. Hinsichtlich ihrer Reichweite, ihres Umfangs und der schieren Kraft ihres Wissensdrangs waren die akademischen Einrichtungen des dar al-Islam, die sich vom 7. bis zum 13. Jahrhundert wie an einer Perlenkette von Mesopotamien im Osten bis zur Iberischen Halbinsel im Westen aufreihten. praktisch konkurrenzlos. Dieses fruchtbare intellektuelle Umfeld brachte einige der größten Denker der Weltgeschichte hervor: von dem im 9. Jahrhundert lebenden persischen Mathematiker al-Chwarizmi, der auch als «Vater der

* Von den Mongolen unter Hülegü Khan 1258 mutwillig und brutal zerstört – siehe Kapitel 9.

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­ lgebra»* bekannt ist, und seinem Zeitgenossen, dem brillanten ChemiA ker Dschābir ibn Hayyān, bis zum im 11. Jahrhundert lebenden Mediziner Ibn Sina («Avicenna») und den Genies des 12. Jahrhunderts, etwa dem ­andalusischen Kartografen Muhammad al-Idrisi und dem Philosophen Ibn Ruschd («Averroes»). Nicht zuletzt aufgrund ihrer intellektuellen Errungenschaften wird diese Phase heute auch als das Goldene Zeitalter des Islams bezeichnet. Doch obwohl die islamische Welt direkt an die christlichen Reiche des Mittelmeerraums angrenzte, drang zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert sehr wenig davon zu ihnen durch. Erst an der Wende zum 12. Jahrhundert  – nicht zufällig auch der Beginn der Kreuzzugsära, als ­islamische Städte wie Toledo, Córdoba, Palermo und Antiochia mit den dort lebenden intellektuellen Gemeinschaften unter christliche Herrschaft kamen und Damaskus, Alexandria und Bagdad plötzlich viel leichter zu erreichen waren – begannen die intellektuellen Mauern zwischen Arabern und Christen zu bröckeln, sodass neues und vergessenes Wissen von der arabischen Welt in den Westen gelangte. Einer der frühen Vertreter dieses neuen Zeitalters des Informationsaustauschs war ein im 11. Jahrhundert lebender Benediktinermönch namens Hermann der Lahme (Hermannus Contractus), der im Kloster Reichenau auf der gleichnamigen Bodenseeinsel lebte. Hermann wurde um 1013 geboren und war schon als Kind körperlich stark eingeschränkt: Er hatte sehr schwache Arme und Hände, konnte nicht gehen und nur mit Mühe sprechen. Selbst um seine Position auf einem Stuhl zu verändern, benötigte er Hilfe.19 Dennoch gaben ihn seine Eltern um das Jahr 1020, als er sieben Jahre alt war, in die Obhut der Mönche von Reichenau. Dort widmete sich Hermann trotz (oder vielleicht gerade wegen) seiner körperlichen Einschränkungen seinen Studien und entwickelte sich zu einem brillanten Gelehrten. Sein Biograf und Schüler Berthold von der Reichenau erklärte: «Kraft seines eigenen Verstandes meisterte er fast vollkommen die Schwierigkeiten aller Künste und die Feinheiten des Versmaßes.» Wie

* Die Herkunft des Wortes Algebra ist eine Verballhornung des arabischen al-ğabr, das man in etwa mit «Wiederherstellung loser Teile» übersetzen könnte.

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Isidor wechselte Hermann gekonnt zwischen der Geschichte, Mathematik und den Naturwissenschaften hin und her und komponierte außerdem zahlreiche Musikstücke. Darüber hinaus war er ein ausgezeichneter Erzähler: Berthold schrieb, obwohl Hermann «kraftlos an Mund, Zunge und Lippen den Klang der Worte schwach und kaum verständlich bildete, war er dennoch … ein gewandter und fleißiger Lehrer seiner Hörer; er war lebhaft und humorvoll».20 Laut Berthold war er zudem geduldig, bescheiden und keusch und verzichtete auf Fleisch. Er war praktisch der Inbegriff des Gelehrten. Hermann der Lahme war auf vielen wissenschaftlichen Gebieten zu Hause, doch seine große Liebe galt der Astronomie. Wie bereits fest­ gestellt, war die Beschäftigung mit den Sternen und Himmelskörpern Teil des Quadrivium. Die Berechnung der Bewegungen der Himmelskörper im Verhältnis zur Erde erforderte fortgeschrittene mathematische Kenntnisse, versprach aber auch tiefe Einblicke in die Beschaffenheit von Gottes Universum. Und sie bot mitunter auch praktische Anwendungsmöglichkeiten, denn Astronomen konnten jahreszeitliche Veränderungen der Tageslänge und beim Verhältnis der Tag- und Nachtstunden vorhersagen – sehr nützlich für Mönche, die ihren gesamten Tagesablauf anhand ihrer regelmäßigen Gebete und Gottesdienste organisierten. Hermann nutzte eine Kombination aus sorgfältigen empirischen Beobachtungen und höherer Mathematik, um an praktischen Problemen im Zusammenhang mit der Uhrzeit zu arbeiten: Er berechnete den Durchmesser der Erde und die genaue Länge eines Mondmonats und erstellte Sternkarten, die die Veränderungen am Himmel von Monat zu Monat abbildeten. In der Menschheitsgeschichte wurden schon immer Gerätschaften entwickelt, um die sich verändernden Sternbilder am Himmel zu kartieren, nachzubilden und zu verfolgen; die Mittel und Erfindungen reichen von den megalithischen Steinkreisen bis zur Atomuhr. Im Mittelalter war das populärste Gerät das Astrolabium – ein scheibenförmiges mechanisches Rechen- und Messinstrument aus Holz oder Metall, mit dessen Hilfe ein erfahrener Nutzer die Position der Sterne und Planeten bestimmen und die lokale Zeit und den geografischen Breitengrad berechnen konnte. Das Astrolabium war von den Griechen im 2. oder 3. Jahrhundert v. Chr. erfunden und anschließend vor allem von Gelehrten im byzantini-

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schen und arabischen Raum in zahlreichen Varianten weiterentwickelt worden. Für Muslime hatte der Gebrauch auch eine religiöse Bedeutung, denn sie konnten damit die Himmelsrichtung von Mekka überall auf der Welt bestimmen und so ihre täglichen Gebete vorschriftsmäßig durch­ führen. Im Grunde handelte es sich beim Astrolabium um ein mittelalter­ liches GPS -System, das von unzähligen klugen Männern und Frauen im Lauf der Jahrhunderte immer wieder studiert, verbessert, aktualisiert und in ihren Texten analysiert wurde.* Bis zur Jahrtausendwende war das Astrolabium für die christlichen Gelehrten des Westens ein Mysterium. Doch Hermann von der Reichenau gelang es, sich ein unvollständiges Manuskript zu beschaffen, das seine Funktionsweise beschrieb. Irgendwie war das Dokument aus dem Kalifat von Córdoba auf die kleine Insel im Bodensee gelangt, vermutlich über das Kloster Santa Maria de Ripoll, das etwa 100 Kilometer nördlich von Barcelona liegt. Vielleicht wurde der Text von Gerbert von Aurillac verfasst, dem französischen Mönch und Gelehrten, der später Papst Silvester  II . wurde. Wie auch immer, der Text enthielt wissenschaftliche ­Informationen, die in der islamischen Welt allgemein bekannt waren, jedoch selten, wenn überhaupt, nördlich der Alpen und Pyrenäen verbreitet worden waren. Hermann hatte einen Volltreffer gelandet. Und er wusste ihn zu nutzen. Als eifriger Tüftler, der geschickt «Uhren, Musikinstrumente und mechanische Geräte» baute, nutzte Hermann die rudimentären Informationen des Manuskripts und leitete daraus ab, wie man ein Astrolabium bauen könnte.21 Dann formulierte er den Text um und ergänzte ihn, um seine Erkenntnisse für die Nachwelt festzuhalten. Das war an sich schon eine bedeutende Leistung für das christliche Europa, denn in den folgenden Jahrhunderten sollte das Astrolabium die Zeit­ messung und Navigation verändern und den Weg für die portugiesischen Entdeckungsfahrten und die Erschließung der Neuen Welt ebnen. Doch auch schon im 11. Jahrhundert war Hermanns Entdeckung von großer Be-

* Darunter auch Geoffrey Chaucer, der im 14. Jahrhundert ein ganzes Buch darüber verfasste, den Treatise on the Astrolabe, in dem er die Funktionen seinem Sohn ­erklärte.

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deutung, weil sie eine kommende wissenschaftliche Revolution ankündigte. Zu Hermanns Zeit steckte die Überführung islamischen Wissens in die christliche Welt noch in den Kinderschuhen, und seine Arbeit am Astrolabium war höchst ungewöhnlich. Doch nur wenige Generationen später war ein Vorgehen wie das von Hermann durchaus üblich. Angetrieben von neuen Netzwerken des Informationsaustauschs stand Europa am Beginn einer dramatischen Transformation. Fast genau hundert Jahre nachdem Hermann der Lahme auf der Reichenau an seinem Astrolabium getüftelt hatte, machte sich ein weiterer talentierter Gelehrter auf den Weg ins intellektuelle Kernland der arabischsprachigen Welt. Sein Name war Gerhard von Cremona. Er war in Norditalien geboren, aufgewachsen und ausgebildet worden. Wie Hermann war Gerhard fasziniert von den Bewegungen der Himmelskörper und widmete einen Großteil seines Lebens dem Studium der Astronomie. Doch im Gegensatz zu Hermann, der aufgrund seiner körperlichen Verfassung an sein Kloster gebunden war, erkannte Gerhard, dass er, wenn er als Gelehrter weiter vorankommen wollte, reisen musste. Er sehnte sich vor allem danach, die Schriften des großen antiken Wissenschaftlers Claudius Ptolemäus zu studieren. Ptolemäus war Bürger des Römischen Reichs gewesen, hatte im 2. Jahrhundert n. Chr. in Alexandria gelebt und seine Schriften auf Griechisch verfasst. Sein grundlegendes Werk zur ­Astronomie war als Almagest bekannt und bot ein mathematisch fundiertes Modell des Sonnensystems, in dem die Erde im Zentrum stand und die Sonne und der Mond sich um sie drehten. Natürlich wissen wir heute, dass dieses Modell nicht stimmt, doch es dominierte das wissenschaft­ liche Denken über tausend Jahre lang bis zum Ende des Mittelalters. Für Gerhard gab es also keine größere Autorität als Ptolemäus. Als sich Gerhard im 12. Jahrhundert für Astronomie zu interessieren begann, war der Almagest im Westen nur durch andere Autoren bekannt und nicht in lateinischer Übersetzung verfügbar. Dafür gab es ihn jedoch auf Arabisch. Und wie das Schicksal so spielt, war einem westlichen Herrscher kurz zuvor ein umfangreicher Bestand an arabischer Literatur in die Hände gefallen. 1085 hatte Alfons VI ., König von Kastilien und Léon, im Zug der Reconquista die Stadt Toledo erobert. Sie galt als eine der schöns-

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ten Städte im umayyadischen Andalusien und konnte zahlreiche Bibliotheken mit arabischsprachigen Ausgaben klassischer Texte bieten, die sonst nirgendwo in Europa verfügbar waren. Also reiste Gerhard in den 1140er Jahren von Italien nach Kastilien. Kaum war er in Toledo eingetroffen, machte er sich an die Arbeit: Er lernte Arabisch und wurde Teil einer gelehrten Gemeinschaft, die eifrig die Schätze der Bibliotheken in Sprachen übersetzte, die überall im Westen gelesen werden konnten. Während seines Aufenthalts in Toledo übersetzte Gerhard fast hundert wichtige wissenschaftliche Texte aus dem Arabischen. Er plagte sich tapfer, eine Standardausgabe des mehrbändigen Almagest zu erstellen, die zur maßgeblichen Übersetzung wurde und im gesamten Mittelalter im Umlauf war. Er arbeitete an der Übersetzung mathematischer Abhandlungen griechischer Giganten wie Archimedes und Euklid und an ­ursprünglich islamischen Werken zur Astronomie wie denen des im 9. Jahrhundert lebenden Mathematikers und Ingenieurs al-Farghani und des Philosophen al-Farabi aus dem 10. Jahrhundert. Er übersetzte den geschätzten Medizinspezialisten ar-Razi («Rhazes») und den Arzt und sogenannten «Vater der Optik» Ibn al-Haitham («Alhazen»). Und er blieb in Toledo bis zu seinem Tod 1187. Zu dem Zeitpunkt hatte er mit seiner Arbeit einen enormen Beitrag zum wachsenden Ansehen der Stadt geleistet. Der englische Philosoph Daniel von Morley, der Gerhard auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn traf und sich mit ihm über Astrologie unterhielt, erklärte Ende des 12. Jahrhunderts, Toledo beherberge «die klügsten Philosophen der Welt».22 Philosophen. Der Plural war wichtig. Denn Gerhard von Cremona ­arbeitete nicht allein. Er war Teil einer umtriebigen Gemeinschaft von Gelehrten, die alle damit beschäftigt waren, Texte, die für das westliche Denken seit Jahrhunderten verloren waren, ins Lateinische und Katalanische zu übersetzen. Ein Engländer namens Robert von Ketton ging nach Kastilien, um auf dem Gebiet der Mathematik und Astronomie zu arbeiten, landete am Ende jedoch bei der Übersetzung religiöser Texte wie dem ­Koran und einer Chronik über die Taten der frühen Kalifen. Ein anderer ­italienischer Gelehrter, der ebenfalls Gerhard hieß, übersetzte die Werke Avicennas  – auch seine umfangreiche medizinische Enzyklopädie, den fünfbändigen Kanon der Medizin. Ein Schotte, den man schlicht als

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­ ichael Scotus kannte, übersetzte die Werke verschiedener Autoren, von M Aristoteles bis Averroes; später hatte er mit Kaiser Friedrich II . einen bedeutenden Förderer und war an dessen Hof tätig. Friedrich war ebenfalls von einem unstillbaren Wissensdurst beseelt und hegte sein Leben lang eine große Leidenschaft für Naturwissenschaften, Mathematik und Philosophie.* Toledo war auch die Wirkungsstätte jüdischer Gelehrter, vor ­allem unter der umsichtigen Regierung Alfons ’ X. von Kastilien (reg. 1252– 1284), auch Alfons der Weise genannt; er förderte die Übersetzer von ­Toledo, darunter auch viele Juden, und ermunterte sie, möglichst viele Texte in die kastilische Umgangssprache anstatt ins Lateinische zu übersetzen. Dadurch legten er und vor allem die Übersetzer das Fundament für die spanische Sprache, die heute von etwa einer halben Milliarde Menschen weltweit gesprochen wird. Mit ihrer Arbeit schufen die Übersetzer von Toledo die Textgrundlage für ein neues Zeitalter im abend­ländischen Denken, das im Hochmittelalter zum Leben erwachte. Die Übersetzungsbewegung hatte eine solch große Tragweite, weil sie einen Zeitabschnitt einleitete, den Historiker als «Renaissance des 12. Jahrhunderts» bezeichnen.23 Die Rückkehr der klassischen Werke  – die ohne Menschen wie Gerhard von Cremona nicht möglich gewesen wäre – rüttelte althergekommene Denkweisen in vielen Bereichen auf und veränderte akademische Fächer wie Philosophie, Theologie und Recht.

* Friedrichs wissenschaftliches Interesse war legendär. Er tauschte sich mit dem ägyptischen Sultan al-Kamil über mathematische Probleme aus und schrieb ein eigenes naturwissenschaftliches Werk. Der italienische Chronist Salimbene von Parma sagte ihm sogar nach, er habe an seinem Hof bizarre und mitunter überaus grausame Experimente durchführen lassen. Bei einem ließ er angeblich einen Mann in ein Fass sperren und dort verhungern in der Hoffnung, den Moment zu beobachten, in dem die Seele den Körper verlässt. Bei einem anderen habe er zwei Menschen eine identische Mahlzeit einnehmen lassen und den einen auf die Jagd und den anderen zum Schlafen geschickt, bevor schließlich beide getötet wurden und der Inhalt ihrer Mägen untersucht wurde. Beim berühmtesten angeblichen Experiment soll Friedrich neugeborene Zwillinge isoliert und ihnen jede menschliche Ansprache verwehrt haben, um die im Garten Eden gesprochene Ursprache der Menschen herauszu­ finden. Die Zwillinge starben aufgrund der fehlenden Zuwendung.

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Doch sie hatte auch konkrete Auswirkungen in der realen Welt; auf Grundlage der neuen Erkenntnisse entwickelten sich Technologien und fanden, getragen vom Geist einer aufregenden neuen wissenschaftlichen Ära, Eingang in das Leben der gewöhnlichen Menschen. In den traditionellen Geisteszentren – Klöstern und Domschulen – stieg die Zahl der produzierten Bücher und Manuskripte im 12. Jahrhundert geradezu explosionsartig an. Bei vielen handelte es sich um sorgfältig ausgearbeitete lateinische Versionen antiker Texte  – darunter natürlich die Bibel, die Schriften der Kirchenväter, liturgische Bücher und die Werke der frühmittelalterlichen Genies Boëthius, Isidor von Sevilla und des nordenglischen Mönchs und Geschichtsschreibers Beda Venerabilis, der im frühen 8. Jahrhundert seine umfangreiche Kirchengeschichte Historia ecclesiastica gentis Anglorum verfasst hatte. Doch daneben tauchten nun auch Werke von Aristoteles und Euklid, Galen und Proklos auf. ­Römische Dichter wie Vergil, Ovid, Lucan und Terenz oder Rhetoriker wie Cicero, Cato und Seneca mussten selbstverständlich nicht übersetzt werden, doch das Interesse an ihnen war neu erwacht, und ihre Werke wurden kopiert und von mittelalterlichen Grammatikern studiert, die sich der Analyse des klassischen Lateins gewidmet hatten und auf Grundlage ihrer Erkenntnisse linguistische Lehr- und Handbücher verfassten.24 Mit dem erneuten Einzug der klassischen Werke in die abendlän­ dischen Bibliotheken änderten sich auch die Trends in der Wissenschaft und beim Schreiben allgemein. In der Theologie und Philosophie war Aristoteles ’ Einfluss mit dem Aufkommen der Scholastik deutlich zu spüren: ein Ansatz beim Studium der Bibel, bei dem die logische Schluss­ folgerung im Vordergrund stand und die Leser dazu angehalten wurden, die Texte gründlich zu hinterfragen und Paradoxe und Widersprüche mithilfe von Argumenten und strukturierten Begründungen zu lösen. Im Geist der Wissensansammlung und der Argumentation verfasste ein in Paris ansässiger Gelehrter namens Petrus Lombardus († 1160) seine Sententiae, eine umfangreiche Sammlung biblischer Passagen mit unterstützendem Material aus den Schriften kirchlicher Autoritäten, organisiert anhand grundlegender christlicher Themen wie der Schöpfung oder dem Mysterium der Trinität. Nach ihrer Fertigstellung um das Jahr 1150 wurden die Sententiae schnell zum Lehrbuch für Theologiestudenten und

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blieben es bis zum Ende des Mittelalters. Zukünftige Generationen großer mittelalterlicher Gelehrter wie Thomas von Aquin (siehe unten), Duns Scotus und Wilhelm von Ockham begannen ihre akademische Laufbahn mit dem Verfassen von Kommentaren zu den Sententiae, und kein Theologe betrachtete sein Studium als abgeschlossen, wenn er nicht damit gerungen hatte. Doch nicht nur der akademische Diskurs veränderte sich im 12. Jahrhundert. Auch zu weniger abstrakten Themen wurde eifrig geschrieben – etwa Romane und historische Werke. Wie in Kapitel 7 ausgeführt, boomten im 12. Jahrhundert Ritterromane und Heldenepen – und es war kein Zufall, dass viele dieser Geschichten, die im Hochmittelalter entstanden und populär wurden, mit ihren Themen, Figuren und Handlungen bis in die Antike zurückreichten. Athen und Rom, deren Heldengestalten von den Übersetzern aus dem Nebel der Vergangenheit hervorgeholt worden waren, inspirierten nun die Geschichten, die am Kaminfeuer in der Halle eines Herrensitzes erzählt, und die Lieder, die von umherreisenden Spielleuten vorgetragen wurden. Gleichzeitig war es wieder in Mode gekommen, dicke Chroniken über politische Ereignisse in jüngster und vergangener Zeit zu verfassen. Hermann der Lahme, unser Tüftler und Pionier bei der Anwendung des Astrolabiums im 11. Jahrhundert, verfasste auch eine Weltchronik, die die Ereignisse der tausend Jahre zwischen Christi Geburt und seiner eigenen Zeit zusammenfasste und in den späteren Kapiteln den Schwerpunkt auf die deutsche Geschichte und das Ringen zwischen Papst und Kaiser legte. Nach seinem Tod wurde die Chronik von seinem Freund Berthold von der Reichenau fortgesetzt. Viele weitere sollten seinem Beispiel folgen. Im 12. und 13. Jahrhundert blühte die historische Tradition zusammen mit Genres wie der Biografie, dem Reisebericht und Abhandlungen über eine gute Regierungsführung. Auf den Britischen Inseln schrieb der Gelehrte, Diplomat und Kirchenmann Gerald von Wales viele kluge und mitunter herrlich amüsante Berichte über seine Reisen durch Wales und Irland sowie seine Erlebnisse am englischen Königshof. Die von zahlreichen Autoren verfassten Grandes Chroniques de France, die im 13. Jahrhundert im französischen Kloster Saint-Denis zusammengestellt wurden, waren eine ganz besondere Leis-

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tung: Frühmittelalterliche Quellen wurden aus dem Lateinischen ins Französische übersetzt, um die Geschichte Frankreichs und der franzö­ sischen Könige zu schildern, von der Wanderung ihrer angeblichen trojanischen Vorfahren nach Westen bis zur Zeit Ludwigs IX ., der das Projekt in Auftrag gab. Der bedeutendste Einzelchronist war wohl Matthäus ­Paris, ein Mönch im 13. Jahrhundert, der im englischen Kloster St. Albans (berühmt als Zentrum der Gelehrsamkeit) tätig war und dessen Werke zur englischen Geschichte mit der Schöpfung begannen und bis zu den Taten seines Königs Heinrich  III . reichten. Paris versah seine Schriften eigenhändig mit prächtigen Illustrationen und Kartenzeichnungen. Doch auch außerhalb der Wissenschaft und Literatur gab es große Fortschritte. Im 12. Jahrhundert kam nicht nur das Astrolabium in den Westen. Ab den 1180er Jahren wurden überall in Europa Windmühlen gebaut, in denen, wie wir heute sagen würden, mithilfe «erneuerbarer Energie» Getreide zu Mehl gemahlen wurde und für die man ein beeindruckendes Maß an mathematischen Kenntnissen benötigte.25 Neue Uhren wurden konstruiert: komplizierte Geräte, die mit Wasser oder Gewichten funktionierten und die Stunden maßen, ohne sie abhängig vom Tageslicht zu verlängern oder zu verkürzen. Ab dem 13. Jahrhundert begannen Gelehrte wie der Engländer Roger Bacon an Rezepturen für Schießpulver zu arbeiten – eine Erfindung, deren Einsatz im Westen später mit dem symbolischen Ende des Mittelalters verbunden wurde. Diese und viele ­andere Errungenschaften gingen aus dem 12. Jahrhundert mit seiner wiedererstarkten Gelehrsamkeit hervor. Sie hatte ihre Wurzeln in Bildung, Gelehrsamkeit und Studium – immer noch weitgehend eine Domäne der Kirche, aber stärker denn je mit der Welt außerhalb des Klosters ver­ bunden.

Der Aufstieg der Universitäten Der typische Gelehrte zu Beginn des 12. Jahrhunderts war in der Regel ein brillanter Einzelgänger, der in einem Kloster oder einer Domschule arbeitete, gelegentlich auch umherzog und Kontakt zu anderen Denkern und Autoren hatte, aber immer in Verbindung mit einer Institution stand,

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die nicht nur dem reinen Streben nach Wissen diente, sondern noch einen anderen Zweck verfolgte. Zu diesen Gelehrten gehörten Menschen wie die Äbtissin Hildegard von Bingen, eine kluge deutsche Nonne, der Gott in eindrucksvollen Visionen erschien und die natur- und heilkundliche Schriften sowie naturwissenschaftliche und theologische Traktate verfasste, liturgische Musikstücke komponierte und Moralstücke schrieb, Adelard von Bath, der auf der Suche nach Wissen von seiner Heimatstadt im Südwesten Englands nach Südfrankreich, Sizilien, Antiochia und Kleinasien reiste, und der Mathematiker und Kaufmannssohn Leonardo «Fibonacci» da Pisa, der auf seinen Handelsreisen rund ums Mittelmeer im 12. Jahrhundert den Nutzen des indisch-arabischen Zahlensystems* kennenlernte und es übernahm. Sie alle waren für sich genommen bereits große und begabte Denker, doch im weiteren Verlauf des Mittelalters rückte eine andere Figur des Gelehrten in den Vordergrund: nicht der allein handelnde Mönch oder die auf sich gestellte Nonne oder der umherreisende Kaufmann, sondern der Magister, der Teil einer Gemeinschaft war, die sich dem Studium, der Debatte, Forschung und Lehre an einer der großen Universitäten verschrieben hatte, die zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert überall im Westen gegründet wurden. Laut Überlieferung entstand die erste Universität des Westens im norditalienischen Bologna. Gegen Ende des 11. Jahrhunderts lag Bologna genau zwischen zwei mächtigen Einflusssphären: Im Norden befanden sich die Alpen und die Gebiete, die von einem deutschen Kaiser regiert wurden, im Süden der päpstliche Kirchenstaat. Da es im Mittelalter nur wenige Zeiten gab, in denen Päpste und Kaiser nicht miteinander stritten, zog Bologna ab dem 10. Jahrhundert viele Juristen an – die sich entweder im kanonischen oder zivilen Recht auskannten. Für sie war Bologna der ideale Ort, um Klienten zu finden. Als offizielles Gründungsjahr der Universität von Bologna wird ge-

* Das heißt, die Zahlen 1 bis 9 und die 0 zu verwenden, anstatt mit den unhandlichen römischen Zahlen zu rechnen.

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wöhnlich 1088 genannt. Ob das nun auf Erzählungen oder auf harten Fakten basiert, fest steht, dass die Jurastudenten ab dieser Zeit genügend ­Material für ihr Studium vorfanden. Zusätzlich zu den praktischen Erfahrungen bei Verhandlungen und Prozessen, wenn sich Kaiser und Päpste mal wieder an die Kehle gingen, gab es auch die im Auftrag des großen byzantinischen Kaisers Justinian zusammengestellten Digesten, die in den 1070er Jahren wiederentdeckt wurden, zur großen akademischen Freude der Juristen in Norditalien. Wie in Kapitel 3 festgestellt, waren die Digesten bereits bei ihrer Zusammenstellung ein beeindruckendes juris­ tisches Werk und bildeten zusammen mit dem Codex Iustinianus und den Institutionen den ultimativen Leitfaden für das Römische Recht, wie man es im 6. Jahrhundert wahrgenommen hatte. Nun, gegen Ende des 11. Jahrhunderts, bot der enorme Fundus eine anspruchsvolle neue Grundlage für das Denken über Justiz und Regierung. Doch da sich die Welt in den dazwischenliegenden fünfhundertfünfzig Jahren gewaltig verändert hatte, musste man die Digesten zunächst analysieren, kommentieren und interpretieren. Es gab also reichlich zu tun für Jurastudenten, aber auch keinen Mangel an Freiwilligen. In den 1080er Jahren begann ein in Bologna ansässiger Jurist namens Irnerius mit der «Glossierung» des Römischen Rechts  – das heißt, er schrieb es ab und fügte seine eigenen Kommentare entweder zwischen den Zeilen oder am Rand ein. Darüber hinaus hielt er Vorträge über verschiedene juristische Aspekte. 1084 gründete Irnerius eine Schule der ­Jurisprudenz, die Studenten aus ganz Europa anzog. Binnen einer Generation wurde Bologna als Ort bekannt, wo man sich am besten zum Juristen ausbilden lassen konnte. Irnerius wandte seine Kenntnisse auch in der Politik an und stand beispielsweise im Dienst des deutschen Kaisers Heinrich V . Als Papst Paschalis II . starb, wollte Heinrich seinen eigenen Kandidaten als dessen Nachfolger durchsetzen, trotz heftiger Gegenwehr der Kardinäle. Im anschließenden politischen Tauziehen engagierte Heinrich Irnerius, um seine Rechte als Kaiser und die Legitimation seines Kandidaten (des Gegenpapstes Gregor  X .) juristisch zu verteidigen. Obwohl Heinrich diesen Streit verlor – Gregor wurde vom konkurrierenden Papst Calixt  II . exkommuniziert, verhaftet und bis zu seinem Tod in verschie­ denen Klöstern gefangen gehalten –, war allein die Tatsache, dass sich der

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Kaiser an einen Juristen aus Bologna gewandt hatte, ein Zeichen für das hohe Ansehen, das die dortigen Rechtsgelehrten genossen. Dieser Ruf und der Umstand, dass in der Stadt so viele Juristen an einem Ort versammelt waren, bildeten die Grundlage für die Entwicklung der Universität. Die Universität von Bologna entstand im Grunde durch einen Zusammenschluss von Gleichgesinnten. Da viele, vielleicht sogar die meisten ­Juristen im 11. Jahrhundert keine Bürger der Stadt waren, hatten sie auch nicht die vollen Bürgerrechte, sondern unterlagen den beschwerlichen Einschränkungen, die für Ausländer galten. Die in der Stadt lebenden Angehörigen der verschiedenen Länder galten jeweils als Einheit und wurden daher kollektiv bestraft, wenn einer von ihnen gegen die Gesetze der Stadt verstieß oder seine Schulden nicht zahlen konnte: ein Konzept, das als Recht auf Vergeltung bekannt ist. Um dem zu begegnen und sich gegenseitig zu unterstützen, begannen die Studenten Bolognas im 11. Jahr­ hundert, sich in Gemeinschaften zu organisieren, einer sogenannten universitas scholarium, die wiederum kollektiv als studium handelte. Derart verbunden, konnten die Studenten mit den Behörden der Stadt ihre Rechte und Freiheiten als Kollektiv aushandeln – mit der impliziten Drohung, dass sie alle die Stadt verlassen und ihr somit eine wichtige Ein­ nahmequelle nehmen würden, wenn sie nicht bekamen, was sie wollten. Die Studenten fanden es auch ganz praktisch, als Gruppe mit ihren Lehrern zu verhandeln und mitzubestimmen, was gelehrt und wie viel den Lehrenden bezahlt werden sollte, oder Professoren, die ihnen unterdurchschnittlichen Unterricht oder unpopuläre Meinungen zumuteten, zu zensieren oder zu entlassen. Es dauerte eine Weile, bis dieses informelle System der Organisation als seriöse Institution anerkannt wurde – erst 1158 gewährte Kaiser Friedrich  I . Barbarossa mit dem Dokument Authentica Habita den Jurastudenten von Bologna und anderswo dauerhafte Privilegien und Rechte.26 Die elementaren Merkmale der mittelalterlichen Universität waren damals längst vorhanden – und sollten bald in ganz ­Europa nachgeahmt werden. Als die Quellen des antiken Wissens im 12. Jahrhundert wieder sprudelten, schlossen sich in immer mehr Städten und Orten Studenten zusammen und forderten ähnliche institutionelle Privilegien wie die Scho-

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laren von Bologna. Seit 1096 unterrichteten Magister Studenten in der kleinen englischen Siedlung Oxford. In Paris sagten sich etwa um 1150 Studenten und Lehrer von der Domschule von Notre-Dame los und bauten eine Einrichtung auf, die fünfzig Jahre später als Universität anerkannt wurde. Das Schicksal dieser beiden illustren Institutionen (heute die Universität von Oxford und elf verschiedene Pariser Universitäten, die alle ­zusammen als Sorbonne bezeichnet werden) war von Anfang an mitei­ nander verflochten. Oxford profitierte immens vom anglo-französischen politischen Gerangel zwischen dem Plantagenet-König Heinrich  II . und dem Kapetinger-König Ludwig VII .: Als das Verhältnis zwischen beiden einen Tiefpunkt erreichte, wies Heinrich alle englischen Scholaren an, ihre Studien in Paris aufzugeben, woraufhin viele den Ärmel­kanal überquerten, das Themsetal hinaufzogen und sich in Oxford niederließen – und damit das akademische Profil der Universität schärften und ihr einen gewaltigen Schub verpassten. Und es gab noch viele weitere Universitäten. In den 1130er Jahren entstand eine Universität in Salamanca, der schönen Kathedralenstadt am Ufer des Flusses Tormes in der Region Kastilien-Léon. Im frühen 13. Jahrhundert zogen unzufriedene Studenten und Lehrer von Bologna Richtung Norden ins 120 Kilometer entfernte Padua, um dort eine neue Universität zu gründen. Etwa zur selben Zeit brachen Akademiker nach Unruhen und Ausschreitungen in Oxford auf und suchten sich einen ruhigeren Ort am Rand der Fens, einer Moorlandschaft im Osten Englands, und wurden so zu den ersten Gelehrten der Universität Cambridge. Experten für Anatomie und Medizin taten sich im süditalienischen Salerno zusammen, wo die führende Medizinschule Europas entstand. 1290 gab der Dichterkönig Dinis von Portugal seinen Segen für die Universität von Coimbra. Und es kamen immer mehr hinzu, ob in Italien, auf der Iberischen Halbinsel, in Frankreich oder England. Im 14. Jahrhundert entstanden auch außerhalb dieser vier Kernbereiche erste Universitäten: Irische Studenten konnten an der Universität von Dublin studieren, böhmische Studenten in Prag, polnische in Krakau (Kraków), ungarische in Pécs, albanische in Durrës und die deutschen Studenten in Heidelberg oder Köln. Typisch für diese weit auseinander liegenden Einrichtungen mit ihrer großen Bandbreite, die als studia generalia bezeichnet wurden, war das Studium

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der bereits erwähnten Freien Künste, dazu kamen oft noch Theologie, Recht und Medizin. Von Anfang an gab es einen gemeinsamen internationalen Kodex, und die Abschlüsse und Qualifikationen wurden von den verschiedenen Universitäten anerkannt, so dass Schüler und Lehrer pro­ blemlos die Universität wechseln konnten. Schon bald waren die Scholaren mit ihrer typischen Kleidung ein vertrauter Anblick in Dutzenden «Universitätsstädten» Europas. Sie hatten ihre eigenen Regeln und standen außerhalb der üblichen Gesetze. Die große Zeit der Scholaren war ­gekommen. Und es gibt kein besseres Beispiel für die Chancen, die eine Universität einem klugen jungen Mann bieten konnte, als einen der berühmtesten Gelehrten des gesamten Mittelalters: Thomas von Aquin. Als Thomas von Aquin – der größte christliche Gelehrte des 13. Jahrhunderts, der oft auch als einer der größten abendländischen Gelehrten überhaupt bezeichnet wird  – etwa fünf Jahre alt war, gaben ihn seine ­Eltern 1231 zur Ausbildung ins Kloster Monte Cassino. Die Abtei, die einst vom heiligen Benedikt gegründet worden war, stand nun unter der Leitung von Thomas ’ Onkel Sinibald. Es ist daher gut möglich, dass die Familie darauf hoffte, Thomas würde dem Kloster später ebenfalls als Abt vorstehen. Doch er hatte andere, höhere Ziele. Etwa zehn Jahre lang widmete er sich fleißig seinen Studien in einer überaus traditionellen monastischen Umgebung. Dann verließ er mit etwa fünfzehn Jahren den vorgegebenen Pfad. Er erklärte seinen Mitbrüdern von Monte Cassino, dass er das Kloster verlassen und sich dem neuen Dominikanerorden anschließen würde, den der kastilische Priester Domingo de Guzmán 1216 gegründet hatte.* Als Dominikaner widmete man sein Leben dem Predigen und Unterrichten einer größeren Gemeinschaft, gestützt auf intensive private Studien und Gebete. Dafür benötigte man eine höhere Bildung, die sich am aktuellen Stand der Wissenschaften orientierte. Und so verkündete Thomas, er werde nach Neapel ziehen, um dort an der neuen Universität zu

* In England wurden die Dominikaner auch «Blackfriars» genannt, und zwar wegen ihrer schwarzen Ordenstracht, die sie von den Franziskanern mit ihrem grauen ­Habit («Greyfriars») und den Karmelitern («Whitefriars») unterschied.

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studieren, die Friedrich II . kurz zuvor als Konkurrenz zu Bologna gegründet hatte, weil er die norditalienische Stadt für hoffnungslos anti-staufisch hielt. Thomas ’ Familie war nicht gerade erfreut. Ihr erschien das Leben ­eines Studenten als intellektuelle Nabelschau, und das eines Dominikaners missfiel ihr sogar noch mehr – eine Existenz auf Grundlage der beiden großen studentischen Vergnügen: Müßiggang und die Belehrung anderer in Form lautstarker Meinungsäußerung. Die Familie ließ ihn zwar ziehen, versuchte anschließend jedoch alles, um ihn von seinem Entschluss abzubringen und abzulenken  – das ging sogar so weit, dass sie ihn aus ­Neapel entführte und ein Jahr auf ihrer Burg Roccasecca festhielt, wo Thomas ’ Brüder seine Standhaftigkeit auf die Probe stellten und Prostituierte anheuerten, die ihn verführen sollten.27 Aber der Geruch der Bücher war für ihn offensichtlich verlockender als der Duft von Schlüpfern leichter Mädchen. Er hielt stur an seinem Entschluss fest, und nach einer Weile gab seine Familie nach. Sie ließ ihn zu den Dominikanern und seinen Studien zurückkehren. 1245 baten ihn seine Mitbrüder, Italien zu verlassen und nach Norden zu gehen, an die Universität von Paris, wo er zum Ruhme Gottes studieren und ein Gelehrter werden sollte.28 Der Anfang war schwer. Seine Kommilitonen und Kollegen gaben ihm aufgrund seines stillen Wesens den Spitznamen «der stumme Ochse». Nach außen hin war er vielleicht schüchtern, doch auch hochintelligent und gewann das Vertrauen des führenden Gelehrten der Fakultät, des bayerischen Theologieprofessors Albertus Magnus, der wie Thomas D ­ ominikaner war. Nach einer kurzen Zeit in Paris nahm Albertus ihn mit zurück nach Köln, wo Thomas als Albertus ’ Assistent vier Jahre lang Theologie unterrichtete und gleichzeitig seine privaten Studien fortsetzte. 1252 kehrte er nach Paris zurück, hielt erste eigene Vorlesungen und erwarb den Titel eines Magisters der Theologie. 1256 wurde er als m ­ agister regens anerkannt und durfte eigenverantwortlich lehren. Er war nun ein gemachter Mann, sowohl an der theologischen Fakultät von Paris als auch im gesamten abendländischen Universitätssystem. Vor ihm lag eine vielversprechende Laufbahn. Tatsächlich war seine Karriere als Gelehrter relativ kurz – weniger als zwanzig Jahre –, doch in dieser Zeit schuf er ein wirklich herausragendes Werk. Die Krönung war die gewaltige Summa theologiae  – gedacht als

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«Einleitung» und zur Verteidigung des gesamten christlichen Glaubens und verfasst für das, wie wir heute sagen würden, Grundstudium, aber auch für interessierte Laien.29 Die Summa theologiae befasste sich mit praktisch allem, von der Natur der Welt bis zu Moral, Tugend, Sünde und den Mysterien der Sakramente; auch heute noch gilt sie als Standard­ lektüre im Theologiestudium und für zukünftige Priester. Darüber hinaus verfasste Thomas von Aquin kurze und lange Traktate zu allen Themen, die mit der spätmittelalterlichen Theologie zu tun hatten: Naturwissenschaft, Philosophie, Wirtschaft, Ethik und Magie. Er schrieb Bibelkommentare und Abhandlungen über die Werke anderer Theologen und ­Philosophen, von Boëthius bis zu den Sententiae des Petrus Lombardus – das erste Buch auf der Lektüreliste jedes Universitätsstudenten. Bei seiner Arbeit war Thomas häufig auf Reisen – er verbrachte viele Jahre fern von Paris in Neapel, Orvieto und Rom. Und er vernachlässigte auch nicht seine Pflichten als Dominikaner; er predigte und sprach zu den Menschen, um Aspekte seines Wissens einem breiteren Publikum zu vermitteln. Thomas von Aquin war ein Akademiker, der heute der «scholastischen Methode» zugeschrieben wird, bei der intellektuelle Probleme durch eine strukturierte Erörterung oder logische Herleitung gelöst werden. Wich­ tiger ist jedoch, dass er wie Isidor von Sevilla erkannte, dass die Weisheit der antiken «Heiden» die christliche Theologie ergänzen konnte. Thomas von Aquin las und studierte die Texte von Aristoteles (und schrieb einen Kommentar zu dessen Metaphysik und anderen Werken) und stützte sich bei seiner Analyse und Auslegung der Bibel auch auf seine Kenntnis der aristotelischen Philosophie. Das ging nicht immer auf direktem Weg: 1210 hatte die Universität von Paris versucht, die Verwendung der aristotelischen Werke in der theologischen Fakultät zu verbieten, und auch in den folgenden Jahren gab es derartige Vorschriften gegen heidnische Autoren. Thomas von Aquin umging geschickt die Verbote und machte sich auch die Arbeiten späterer nichtchristlicher Gelehrter wie die des muslimischen Universalgelehrten Averroes und des im 12. Jahrhundert in Córdoba geborenen jüdischen Philosophen Maimonides zu eigen. Und damit nicht genug: In seinen letzten Jahren hatte er auch noch fromme Visionen. Sie überzeugten ihn, seine Arbeit an der Summa theologiae aufzugeben, weshalb sein Meisterwerk bei seinem frühen Tod (er starb 1274 mit nur vier-

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undvierzig Jahren) unvollendet war. Doch die Visionen machten ihn natürlich zum perfekten mittelalterlichen christlichen Intellektuellen. Er verfügte über ein tiefes Verständnis der christlichen Schriften und Kommentare, hatte ein breites Wissen, das es ihm ermöglichte, zwischen den Werken der Heiden und der Gläubigen zu vermitteln, und besaß noch dazu eine persönliche Verbindung zum Göttlichen. Nicht umsonst wurde Thomas von Aquin daher im 16. Jahrhundert als Kirchenlehrer anerkannt – der erste, der seit dem heiliggesprochenen Papst Gregor  I ., auch der Große genannt, so geehrt wurde.* Thomas von Aquin schuf zeitlose, grundlegende theologische Werke, doch seine Karriere steht auch für die intellektuelle Energie und Dynamik, die Europas Universitäten im 13. Jahrhundert kennzeichneten. Er erntete die Früchte des großen Comebacks der Gelehrsamkeit im Hochmittelalter. Gleichzeitig könnte man ihn als «reinen» Akademiker bezeichnen. Er widmete sein Leben dem Lesen, Schreiben, Unterrichten und Predigen und war hauptsächlich an Universitäten tätig. Als Dominikaner war er nicht unbedingt ein Gelehrter im Elfenbeinturm. Doch er machte sich auch nicht die Hände in der Politik schmutzig. Die Verbindung zwischen der intellektuellen und der politischen Welt blieb anderen überlassen, sie sollten zeigen, wie sich die in der akademischen Welt entwickelte oder ausgeübte Macht auf die übrige Welt auswirken würde. Da Universitäten überwiegend in Städten entstanden, die in der Nähe politischer Zentren lagen, wurden dort auch bald Minister und Beamte für den öffentlichen Dienst rekrutiert. Es wäre geradezu seltsam gewesen, wenn man darauf verzichtet hätte, denn um die Wende zum 14. Jahrhundert hatte eine Universität wie Oxford stets um die tausendsechshundert Mitglieder –

* Die ursprünglichen vier Kirchenlehrer waren Gregor, der heilige Ambrosius, der heilige Augustinus und der heilige Hieronymus. Thomas von Aquin wurde 1567 als Kirchenlehrer anerkannt. Derzeit gibt es 37 Kirchenlehrer, darunter Isidor von ­Sevilla, Beda Venerabilis, Hildegard von Bingen und Thomas von Aquins Mentor Albertus M ­ agnus. Die beiden Letzten, die Kirchenlehrer wurden, waren Gregor von Narek, ein im 10. Jahrhundert lebender armenischer Mönch und Mystiker, den Papst Franziskus  I. 2015 anerkannte, und Irenäus von Lyon, ein im 2. Jahrhundert ­lebender gallischer Bischof, der 2022 dazukam.

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in Cambridge waren es etwa halb so viele, in Paris deutlich mehr.30 Unter all diesen klugen Menschen gab es natürlich auch tüchtige und weltlich gesinnte Studenten, die ideal waren für die säkulare Gesellschaft. Zu Beginn des Kapitels lernten wir den diabolischen Guillaume de Nogaret kennen, den französischen Juristen, der als Mann fürs Grobe unter Philipp  IV . fungierte und die Prozesse gegen den Templerorden 1307 bis 1312 in die Wege leitete. De Nogaret war keine Ausnahme. Einige Jahre nach seinem Tod 1313 wurde der italienische Mediziner Marsilius von ­Padua, der an der Universität seiner Heimatstadt studiert hatte und Rektor der Universität von Paris war, ebenfalls in einen Disput zwischen einem weltlichen Herrscher und dem Papsttum verwickelt. Er wurde als intellektueller Berater von Ludwig von Bayern angeworben, der nach der Kaiserkrone strebte, aber mit Papst Johannes XXII . im Streit lag. Neben Marsilius war an Ludwigs Hof auch noch der bekannte Oxforder Gelehrte und Philosoph Wilhelm von Ockham tätig (der heute vor allem für sein philosophisches Prinzip «Ockhams Rasiermesser» bekannt ist); die beiden Gelehrten waren in jenen Zeiten, in denen es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen Königen und Päpsten kam, eine genauso wichtige Waffe wie die Streitkräfte. Im 12. Jahrhundert konnte auch Petrus von Blois, der einer bretonischen Adelsfamilie entstammte und in Bologna Rechtswissenschaft und in Paris Theologie studiert hatte, eine wechselvolle politische Karriere vorweisen: Er war als Tutor und Beschützer Wilhelms  II . tätig, des minderjährigen Königs von Sizilien, wurde dann aber bei einem Volksaufstand von der Insel gejagt. Daraufhin ging er nach England und diente dort dem Plantagenet-König Heinrich  II . als Diplomat. In einer Zeit, in der die ­Beziehungen zwischen dem englischen König, der französischen Krone und dem Papst besonders angespannt waren, pendelte er bei seinen Missionen zwischen den jeweiligen Höfen hin und her. Einmal hatte er sogar die heikle Aufgabe, die Königin von England, Eleonore von Aquitanien, in einem Brief zu ermahnen, weil sie eine Revolte gegen ihren Mann Heinrich angezettelt hatte. Er schrieb ihr: «Wenn Ihr nicht zu Eurem Ehemann zurückkehrt, werdet Ihr großes Unglück hervorrufen. Obwohl Ihr allein die Schuldige seid, werden Eure Handlungen zum Ruin aller im Königreich führen.»31

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Petrus von Blois war keineswegs der einzige Gelehrte, der sich auf das schwierige Terrain der Plantagenet-Politik wagte. Thomas Becket, der in den 1160er Jahren als Lordkanzler für Heinrich  II . tätig war, hatte im Kloster Merton in Sussex das Trivium und Quadrivium absolviert und ­anschließend vermutlich an einer Grammatikschule in London weiter­ studiert, die der St.-Pauls-Kathedrale angeschlossen war. Doch dann kam ihm leider der Bankrott seines Vaters Ende der 1130er Jahre dazwischen, weshalb er sein Theologiestudium in Paris nicht abschließen konnte und sich Arbeit als Schreiber suchen musste. Das abgebrochene Studium hinterließ bei Becket eine intellektuelle Wunde, die ihm sein Leben lang zu schaffen machte. Mit tragischen Konsequenzen, wie sich bei seiner Beförderung zum Erzbischof von Canterbury in den 1160er Jahren zeigen sollte. Die Ernennung durch Heinrich  II . war aus verschiedenen Gründen sehr umstritten. Becket empfand seine vermeintliche intellektuelle Unterlegenheit plötzlich deutlich stärker als im Dienst des Königs und überkompensierte seinen Minderwertigkeitskomplex, indem er als Erzbischof jeden Versuch Heinrichs, die englische Kirche zu kontrollieren, auf Schritt und Tritt blockierte, was schließlich dazu führte, dass er auf Heinrichs in­ direkten Befehl an Weihnachten 1170 in der Kathedrale von Canterbury ermordet wurde. Wenn er es geschafft hätte, sein Studium abzuschließen und seinen intellektuellen Wissensdurst zu stillen, wäre das alles vielleicht nicht passiert. Oder vielleicht doch, wie das Beispiel eines anderen Erz­ bischofs der Plantagenets zeigt: Der in England geborene Kardinal und Gelehrte Stephen Langton war einer der Stars der Theologiefakultät an der Universität von Paris, wo er die Bibel in Kapitel unterteilt hatte, die wir auch heute noch zur Gliederung der Texte nutzen. Doch als Langton während der Regierungszeit von Heinrichs Sohn Johann von Papst Innozenz III . zum Erzbischof von Canterbury ernannt wurde, sorgte das ebenfalls für große politische Probleme: Johann wandte sich vehement gegen Langton als Kandidaten und geriet dadurch in ein spektakuläres Kräftemessen mit Rom, in dessen Verlauf sechs Jahre lang ein Interdikt über England verhängt und Johann persönlich exkommuniziert wurde. Natürlich wurden nicht alle mittelalterlichen Gelehrten, die die aka­ demische Welt verließen, in politische Streitigkeiten verwickelt. Der große Kreuzzugschronist Wilhelm von Tyrus, der im 12. Jahrhundert lebte, hatte

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in Paris und Bologna studiert und war anschließend wieder in seine Heimat im Heiligen Land zurückgekehrt, wo er nicht nur Erzbischof war, sondern auch als Erzieher und später als Kanzler für Balduin IV ., den mit Lepra geschlagenen König von Jerusalem, tätig war. Der im 13. Jahrhundert lebende italienische Mediziner Lanfrank von Mailand musste sein Studium in Italien aufgrund politischer Unruhen aufgeben und suchte deshalb Zuflucht an der Universität von Paris, wo er seine Chirurgia ­magna verfasste, die eines der bedeutendsten medizinischen Lehrbücher des Mittelalters werden sollte.* Dennoch hatte der Aufstieg der Universitäten die – wenn auch unbeabsichtigte – Folge, dass Einrichtungen, die entstanden waren, um ein Studium um des Studiums willen zu erleichtern, zur Kaderschmiede für Politiker wurden.** Ähnlich wie heute war zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Universitätsabschluss für eine Karriere in der öffentlichen Verwaltung fast unverzichtbar. Gleichzeitig waren Universitäten zum Zentrum eines anderen Phänomens geworden, das uns heute ebenfalls auffallend bekannt vorkommt: Sie wurden zum Forum, das Ketzereien definierte und darüber bestimmte, welche Gedanken und Haltungen nicht nur als falsch eingestuft, sondern auch verboten und mit Demütigung, Ächtung oder sogar dem Tod bestraft wurden.

«Wokeness» im Mittelalter Wie ihre modernen Nachfolger konnten mittelalterliche Universitäten progressiv sein oder eine strenge Zensur ausüben – oder sogar beides gleichzeitig. So stellte etwa die Universität von Bologna als erste eine Frau als Professorin ein: Bettisia Gozzadini unterrichtete ab den späten

* Eine weitere große medizinische Autorin jener Zeit war Trota von Salerno, eine süditalienische Spezialistin für Chirurgie, deren Schriften über Frauenheilkunde, die in einem als Trotula bekannten Sammelband zusammengefasst wurden, im späteren Mittelalter in ganz Europa Verbreitung fanden. ** Ein Vorwurf, der auch heute noch erhoben wird.

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1230er Jahren Recht (allerdings musste sie ihr Gesicht hinter einem Schleier verbergen) und ebnete den Weg für weitere Frauen – etwa die Schwestern Novella und Bettina d ’ Andrea, die im 14. Jahrhundert in Bologna beziehungsweise Padua Recht unterrichteten. An der Universität von Paris streikten 1229 die Studenten, um ihr Recht zu verteidigen, von der Aufsicht durch die städtischen Behörden ausgenommen zu sein.* Wie wir in Kapitel 16 noch sehen werden, war die Universität von Erfurt der Ort, wo der Student Martin Luther zu Beginn des 16. Jahrhunderts anfing, die ­etablierte Ordnung infrage zu stellen, woraus dann die gewaltigen religiösen und kulturellen Umwälzungen der Reformation hervorgingen. All das zeugt auf unterschiedliche Weise vom Geist der intellektuellen Unabhängigkeit, die bis heute ein bestimmendes Ideal der westlichen Hochschulbildung ist. Doch obwohl mittelalterliche Universitäten als Zentren für radikales Denken fungierten und seit Langem bestehende Glaubensvorstellungen hinterfragen konnten – und es auch taten –, wurden dort genauso oft Debatten erstickt und gewaltsam unterdrückt, um die vorherrschende Doktrin zu bewahren. In der Renaissance des 12. Jahrhunderts findet man von Anfang an mächtige Figuren innerhalb und außerhalb der Universitäten, die im neuen Geist der intellektuellen Erforschung nicht nur eine positive Kraft sahen, sondern auch eine Bedrohung. Dazu gehörten so bedeutende Denker wie Bernhard von Clairvaux. Sein Orden, die Zisterzienser, stand ­bereits aufgrund seiner Einstellung der intellektuellen Erforschung skeptisch gegenüber. Und vor allem Bernhard – mehr Mystiker als Gelehrter – war geradezu allergisch gegen jedes Studiensystem, das von einer bedingungslosen Bewunderung der Bibel abwich. Und nirgends zeigte sich

* Das ist allerdings für alle Beteiligten keine besonders rühmliche Episode: Nachdem sich betrunkene Studenten und Pariser Bürger 1229 zu Beginn der Fastenzeit eine Schlägerei geliefert hatten, wurden Forderungen laut, die Studenten nach weltlichem Recht zu bestrafen (als Kleriker kamen sie vor ein Kirchengericht). Mehrere Stu­ denten wurden von Mitgliedern der Stadtwache getötet, als diese Vergeltung übten. Daraufhin streikte die gesamte Studentenschaft zwei Jahre lang, bis ihr ihre Rechte durch eine päpstliche Bulle garantiert wurden.

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seine Verachtung für die neumodische Gelehrsamkeit deutlicher als Ende der 1130er Jahre, als er sich an die Spitze der Kampagne gegen den bretonischen Theologen Petrus Abaelardus stellte, dem Häresie vorgeworfen wurde. Abaelard war der größte Gelehrte seiner Zeit. In der Philosophie beschäftigte er sich mit dem leidigen Problem der Universalien, also der ­umstrittenen Frage nach der Beziehung zwischen Sprache und Objekt. Als Theologe verknüpfte er das aristotelische logische Denken auf brillante Weise mit dem Studium der Heiligen Schrift. Er war an der Entwicklung der katholischen Lehre vom Limbus (dem «Vorraum der Hölle») als einem Bereich des Jenseits beteiligt, in den man ohne eigenes Verschulden gelangte, etwa Neugeborene, die vor der Taufe verstorben waren. Darüber hinaus war er ein begnadeter Musiker und Dichter. Er war aber auch umstritten und gegen Ende seines Lebens sogar berüchtigt. Abaelard hatte als junger Mann Schande über sich gebracht, als er an der Domschule von Notre-Dame in Paris unterrichtete: 1115 bis 1116 war er Tutor für ein Mädchen namens Héloïse, die Nichte eines Diakons von NotreDame. Abaelard verführte Héloïse, schwängerte sie (sie bekam einen Sohn, den sie «Astralabius»* nannte), heiratete sie und schickte sie dann in ein Nonnenkloster. Ihr Onkel war darüber so erbost, dass er Abaelard überfallen und brutal kastrieren ließ. Abaelard überlebte die Verstümmelung und trat als Mönch ins Kloster von Saint-Denis ein, das er später ­jedoch wieder verlassen musste, nachdem er seine Mitmönche einmal zu oft mit seinen gezielten Provokationen und seinen Meinungen gegen sich aufgebracht hatte. Eine Zeit lang zog er als Eremit umher und hielt auf den Straßen von Paris öffentliche Vorträge über Theologie. Dabei schrieb er die ganze Zeit brillante, aber herausfordernde Bücher und Abhandlungen, die sich auf aristotelische Argumentationsmethoden stützten und oft zu Schlussfolgerungen kamen, die man als häretisch auslegen konnte. Zur Zeit der Kampagne gegen ihn Ende der 1130er Jahre war er bereits einmal

* Der Brauch, dass kreative Genies ihren Kindern seltsame wissenschaftliche Namen geben, ist nicht aufs Mittelalter beschränkt. Man denke nur an Moon Unit Zappa oder das Kind von Elon Musk und Grimes: X Æ A-12 Musk.

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(1121) wegen Häresie verurteilt und dazu gezwungen worden, eine Sammlung seiner Vorlesungen, die heute als Theologia Summi boni bekannt ist, eigenhändig zu verbrennen. Bernhard fand Abaelards Methoden und theologische Schlussfolgerungen völlig inakzeptabel und setzte sich 1140 dafür ein, Abaelard ein weiteres Mal zu verfolgen. Er verjagte ihn aus Paris, ließ seine Ansichten von einem Konzil verdammen und appellierte an den Papst, das Urteil durch eine Verurteilung aus Rom zusätzlich zu untermauern. Man kann nur spekulieren, wie weit Bernhard noch gegangen wäre, wenn Abaelard nicht Zuflucht bei Petrus Venerabilis gefunden hätte, dem Abt von Cluny (siehe Kapitel 6), doch es gelang ihm auch so, Abaelards Geist zu brechen und ihn 1142 vermutlich vorzeitig ins Grab zu bringen. Damit wurde einer der originellsten Denker und charismatischsten Lehrer seiner Zeit zum Opfer der «Cancel-Culture»: Sein Ruf litt nicht nur zu seinen Lebzeiten, sondern noch über viele weitere Generationen hinweg. So entstand ein Leitfaden für zukünftige Häresie-Jäger. Und von denen sollte es in der Geisteswelt des Spätmittelalters noch viele geben. 1277 veröffentlichte Étienne Tempier als Bischof von Paris ein offizielles Dekret, in dem er drohte, jeden zu exkommunizieren, der an der Universität der Stadt eine von zweihundertneunzehn als Irrmeinungen klassifizierten Thesen lehrte oder vertrat. Warum Tempier diesen Moment dafür wählte und welche Dozenten an der Universität seiner Ansicht nach schuldig waren, ihr eigenes Denken und das der Studenten und anderen Lehrer zu verderben, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen.32 Er folgte damit jedoch einer Tradition der Zensur von Gelehrten, die über ein halbes Jahrhundert zurückreichte. 1210 war eine frühere Gruppe von Gelehrten innerhalb der Fakultät der Freien Künste offiziell verurteilt worden, weil sie zu viel Aristoteles gelesen hatten. Bestimmte Werke des großen griechischen Philosophen waren zusammen mit den Schriften anderer Geistesgrößen, antiker wie aktueller, die sein Werk kommentiert hatten, offiziell verboten worden. 1270 hatte Tempier dieses Verbot aufgegriffen und konkrete aristote­ lische Positionen genannt, die in Zukunft nicht mehr geäußert werden sollten. Dass der Bischof 1277 einen erneuten Versuch unternahm, das

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Denken und die Lehre zu kontrollieren, zeigt, dass die bisherige Zensur erfolglos war. Wenn die Gelehrten in Paris Aristoteles ignoriert hätten, wie es von ihnen verlangt wurde, wäre das Dekret nicht nötig gewesen. Auch die Verurteilung von 1277 schien das Studium von Aristoteles ’ Werken nicht sonderlich zu beeinträchtigen, es gibt sogar die These, dass sie die abendländischen Gelehrten dazu brachte, noch stärker über die Grundlage von Wissen und Glauben nachzudenken. Mit Sicherheit loderten in Paris nicht die Scheiterhaufen, weder Bücher noch Intellektuelle wurden verbrannt. Doch die Verurteilung der Werke gibt Aufschluss darüber, was innerhalb der Universitäten gesagt und gedacht wurde und dass man in dieser Tätigkeit eine Bedrohung für die moralische Ordnung der Gesellschaft sah. Von da an wurden Gelehrte, ob in Paris oder in der übrigen Welt, häufiger in Auseinandersetzungen um «richtige» (oder «falsche») Glaubensvorstellungen und Lehrmeinungen hineingezogen. Wie bereits festgestellt, gerieten die Magister der Universität von Paris nur dreißig Jahre nach den Verurteilungen von 1277 in einen deutlich handfesteren Skandal, nämlich als die französische Krone ihr Urteil zu den angeblichen Verfehlungen des Templerordens verlangte. Während des Großen Schismas im 14. Jahrhundert, als es nicht nur in Rom, sondern auch in Avignon einen Papst gab, wurden Universitäten in ganz Europa politisch unter Druck gesetzt, sich für die eine oder andere Seite auszusprechen, und auch im Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich waren die französischen Gelehrten in die Auseinandersetzungen über die Legitimation der jeweiligen Könige verwickelt, die diesen endlosen Konflikt anheizten.33 Doch nirgends zeigte die Verstrickung der akademischen mit der säkularen Welt dramatischere Auswirkungen als in Oxford, wo im späten 14. Jahrhundert eine ganz andere Form der Häresie entstand, die nicht nur die Universität spaltete, sondern die politische ­Gesellschaft an sich. Die Anhänger dieser Häresie waren als Lollarden bekannt, und ihre Leitfigur war der Theologe und Philosoph John Wyclif. Der scharfzüngige Mann aus Yorkshire verfügte über einen beißenden Witz und hegte wenig Hoffnung, was das im Menschen angelegte ­natürliche Gute anging. Seit den 1340er Jahren war er an der Universität von Oxford tätig, wo er mit Glück den Schwarzen Tod überlebte. Er

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machte in der akademischen Welt erfolgreich Karriere und war unter anderem Vorstand des Balliol College, doch ab den 1370er Jahren fühlte er sich zur Politik hingezogen und war als königlicher Gesandter in Brügge tätig, bevor er in den Kreis um John of Gaunt ( Johann von Gent) geriet, einer dominierenden Figur in der englischen Politik während der letzten Regierungsjahre Eduards  III . ( John of Gaunts Vater) und in den ersten Jahren des minderjährigen Königs Richard II . (Gaunts Neffe). Wyclif vertrat verschiedene radikale Ideen und Positionen und übersetzte große Teile der Bibel erstmals ins Englische. Zu den umstrittenen Ideen, die Wyclif während seiner akademischen Laufbahn formuliert hatte, gehörten die Vorstellungen, dass es für das Papsttum keine biblische Grundlage gebe, dass die Transsubstantiation (also die tatsächliche Verwandlung des Brotes in den Leib Christ während der Eucharistie) Unsinn sei und das die weltlichen Mächte im Recht seien, wenn sie Land zurückforderten, dass der Kirche zugedacht worden war. All diese Standpunkte waren umstritten, doch der letzte sagte Gaunt aus politischen Gründen zu, daher förderte und unterstützte er Wyclif über viele Jahre und schützte ihn persönlich vor der öffentlichen Zensur durch den Bischof von London 1377. Gegen Ende des Jahrzehnts war Wyclif fast schon prominent, und seine Äußerungen zu Fragen der Theologie und Philosophie oder zur Not der Armen und dem Zustand der internationalen Beziehungen wurden innerhalb und außerhalb der akademischen Welt genau verfolgt. Nachdem in London und mehreren anderen großen Städten in England während des sogenannten Bauernaufstands von 1381* Unruhen ausgebrochen waren, suchte man die Schuld bei Wyclifs Ideen und Predigten, die angeblich zur Rebellion aufgestachelt hätten. Vielleicht musste es so kommen, da der damalige Erzbischof von Canterbury bei den Aufständen ermordet worden war. Jedenfalls wurde weniger als zwölf Monate später eine S ­ ynode im Londoner Stadtteil Blackfriars einberufen, bei der eine Reihe häretischer Lehrmeinungen verurteilt wurde, die man Wyclif zuschrieb. Das war praktisch das Ende von Wyclifs Karriere: Er musste sich aus

* Siehe Kapitel 13.

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der Öffentlichkeit zurückziehen und starb zweieinhalb Jahre später am letzten Tag des Jahres 1384. Doch er wurde weder von seinen Feinden noch von seinen Freunden vergessen. Im 15. Jahrhundert wurden seine Gebeine exhumiert und verbrannt und seine Thesen auf päpstliche Weisung fast komplett verurteilt. Doch es war zu spät. Wyclifs Argumente hatten sich bereits verbreitet. In England untermauerten sie eine radikale reli­ giöse Reformbewegung, die Lollarden, die nicht nur als Häretiker, sondern auch als aktive Revolutionäre galten, nachdem mehrere Anhänger 1414 mit einem missglückten Anschlag auf König Heinrich  V . in Ver­ bindung gebracht wurden. In Europa hatte Wyclif andere antiklerikale Autoren und Aktivisten inspiriert, darunter den böhmischen Reformator Jan Hus, der als Ketzer verurteilt und 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde. Anschließend wurde zu fünf Kreuzzügen gegen seine Anhänger aufgerufen, die mit extremer Härte über einen Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren verfolgt wurden. Als Theologe hatte Wyclif weit mehr als nur die akademische Welt aufgerüttelt: Er hatte in ganz Europa eine revolutionäre Leidenschaft geweckt, die bis in die protestantischen Reformationsbewegungen am Ende des Mittelalters hineinwirkte. Doch hinter Wyclifs Geschichte steckt noch mehr. Er drückte nicht nur der gesamten Welt seinen Stempel auf, sondern hinterließ auch ein bedeutendes Vermächtnis für die akademische Kultur an englischen Universitäten. 1409 erließ der englische Erzbischof von Canterbury Thomas Arundel (der in Oxford studiert hatte) als direkte Reaktion auf Wyclifs Lehren und die Lollarden seine dreizehn Constitutiones: Kirchliche Anordnungen, die sich ausdrücklich gegen die Universität von Oxford rich­ teten und die Freiheit der Rede und Forschung unter Akademikern einschränkten, nicht genehmigtes Predigen und die Übersetzung der Bibel ins Englische verboten und monatliche Inspektionen durch leitende Universitätsbeamte vorschrieben, um sicherzustellen, dass keine unzulässigen Meinungen geäußert wurden. Dozenten durften ihren Studenten nichts sagen, was nicht der anerkannten Kirchenlehre entsprach. Zu den Strafen für Verstöße gegen diese strengen Beschränkungen der Meinungsfreiheit gehörten Amtsenthebung, Gefängnis und öffentliche Prügelstrafen. Die Constitutiones wurden von der Krone genehmigt und hatten so die ganze Macht des Staates hinter sich. Die Auswirkungen auf die Universität

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­ xford als führende akademische Einrichtung waren gravierend. KurzO fristig profitierte die Universität von Cambridge, die bis dahin im aka­ demischen Leben Englands nur die zweite Geige gespielt hatte, von der ­Zensur in Oxford und der dortigen Verfolgung häretischen Gedankenguts, weil viele Akademiker nach Cambridge abwanderten.34 Auf lange Sicht wurde damit jedoch eine Vorlage für das intellektuelle Leben an west­lichen Universitäten geschaffen, bei der zwei gegensätzliche Zielsetzungen zueinander in Konflikt standen. Einerseits sollten Universitäten Einrichtungen sein, an denen die intellektuell wagemutigen und furcht­ losen Mitglieder einer Gesellschaft lernen, forschen und die Welt, so wie sie sich ­ihnen darbot, hinterfragen konnten. Andererseits wurde intern und ­extern Druck auf sie ausgeübt, nur politisch akzeptable Lehrmeinungen zu vertreten. Wenn man sich die Universitäten in der heutigen westlichen Welt so ansieht, kann man durchaus zu der Ansicht gelangen, dass sich daran im Großen und Ganzen nicht viel geändert hat.

12.

Baumeister «Dort sah er eine große Stadt, und eine große Festung darin mit vielen schlanken Türmen in verschiedenen Farben.» Die vier Zweige des Mabinogi

I

m September 1283 wurde der walisische Fürst Dafydd ap Gruffydd von einem englischen Parlament, das in der englisch-walisischen Grenzstadt Shrewsbury zusammengekommen war, zum Tode verurteilt. Sein Tod sollte grausam und außergewöhnlich sein. Dafydd sah sich als Freiheitskämpfer, der die Rechte der Waliser verteidigte, damit sie so leben konnten, wie sie wollten, nach ihren eigenen Gesetzen und Gebräuchen, und nicht unter der Herrschaft ihrer verhassten Nachbarn im Osten. Die Engländer sahen das anders. Über viele Jahre hatten normannische Könige und Plantagenet-Könige viel Zeit und Geld in die blutige Eroberung von Wales investiert, und der hartnäckige Widerstand der Waliser unter der Führung von Männern wie Dafydd hatte ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt. In Briefen, in denen die englischen Magnaten nach Shrewsbury zitiert wurden, um an der dortigen Versammlung teilzunehmen, wurde beklagt: «Die Zunge eines Mannes kann kaum die von den Walisern … seit Menschengedenken begangenen bösen Taten nennen.» Dafydd wurde beschrieben als «der letzte Überlebende [einer] Familie von Verrätern».1 Es war Zeit, an ihm ein Exempel zu statuieren. Das Parlament brauchte nicht lange, um über Dafydds Schicksal zu entscheiden. Er wurde für schuldig befunden, den Tod des englischen ­Königs Eduard I . geplant zu haben, und sollte deshalb wegen Verrats hingerichtet werden. Dafydd wurde als erster Mensch in England zum Tod durch Hängen, Ausweiden und Vierteilen verurteilt – eine grausame Art

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zu sterben, wie Dafydd am eigenen Leib feststellen musste. Nachdem er aus dem Kerker von Rhuddlan Castle im Norden von Wales geholt worden war, wurde er hinter einem Pferd zum Schafott in Shrewsbury geschleift, wo man ihn mit einem Strick um den Hals aufhängte und eine Weile strampeln ließ, bis ihm die Luft wegblieb. Dann durchtrennte der Henker, ein Stadtbewohner namens Geoffrey, das Seil und schnitt ihm mit einem Metzgermesser die Eingeweide heraus. Erst danach wurde ­Dafydd von seinem Elend erlöst: Er wurde enthauptet und in vier Stücke zerteilt, die jeweils in eine andere englische Stadt geschickt wurden, um den Bewohnern sein Schicksal vor Augen zu führen. Wo genau die Körperteile schließlich landeten, geht aus den Chroniken nicht hervor. ­Dafydds Kopf ging jedenfalls nach Süden und wurde auf einem Spieß am Tower von London  – der gewaltigen Festung, die über der englischen Hauptstadt thronte – zur Schau gestellt.2 Dafydds Tod war eine gruselige Inszenierung des politischen Theaters, mit der eine brutale neue Strafe in England eingeführt wurde. Gleichzeitig starb mit Dafydd der Letzte einer großen walisischen Fürstenlinie, wodurch die Hoffnung der Waliser, sich von der englischen Herrschaft zu befreien, zunichte gemacht wurde. Beide Entwicklungen waren für die Geschichte Englands im Mittelalter wichtige politische und kulturelle Wegmarken. Doch in Hinblick auf die Demonstration königlicher Macht und englischer Hegemonie in Wales war Dafydds Tod bei Weitem nicht die spektakulärste oder dauerhafteste Strafe, die Eduard I . verhängte. Denn etwa zur gleichen Zeit, als Dafydd öffentlich von einem Scharfrichter zu Tode gefoltert wurde, gestalteten Architekten und Baumeister Dafydds Heimat in Nordwales dauerhaft um. Zur Sicherung seiner Herrschaft in Wales hatte Eduard  I . den Bau massiver Burgen in Auftrag gegeben, die unter enormen Kosten in der schönen, bergigen Landschaft von Powys und Gwynedd errichtet wurden. Diese militärischen Festungen entsprachen dem neusten Stand der Technik und fungierten als imposante Symbole für die Macht der englischen Monarchie. Ihr Bau verschlang riesige Summen und beschäftigte Tausende Arbeiter über mehrere Jahrzehnte. Bei den unterworfenen Walisern waren sie verhasst, ihre Identität war eng mit ihrer Freiheit verknüpft, die in ihren Augen bis zu den Römern und noch weiter zurückreichte.

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Doch die walisischen Burgen Eduards  I . waren auch eine eindrucksvolle Demonstration der Fähigkeiten und Visionen der Baumeister im Spätmittelalter. Das 13. und 14. Jahrhundert bildeten ein goldenes Zeit­ alter der Monumentalarchitektur, in dem einige der bedeutendsten Gebäude mit enormem historischem Symbolcharakter entstanden. Sie wurden von Zivilisten und Militärarchitekten entworfen und von Baumeistern und Steinmetzen ausgeführt, die neue Wege gingen, um der Schwerkraft zu trotzen und hoch in den Himmel ragende Türme und Gebäude zu errichten, die Geschichten von Reichtum, Macht, Frömmigkeit und Herrschaft erzählten. Viele der Burgen, gotischen Kathedralen und Paläste, die in jener Zeit entstanden, stehen noch heute und sind beliebte Touristenattraktionen (in einigen Fällen auch Funktionsbauten), deren Silhouetten praktisch zu Synonymen des Mittelalters geworden sind. Eine Beschäftigung mit dem Mittelalter wäre ohne eine Würdigung dieser glorreichen Epoche der Baukunst unvollständig.

Die Eroberung von Wales Wenn man für das Burgenbauprogramm Eduards  I . einen Ausgangspunkt festlegen müsste, dann wäre er in dem kleinen französischen Dorf Saint-Georges-d ’ Espéranche 50 Kilometer südöstlich von Lyon im Jahr 1273 zu finden. Eduard war gerade auf dem Heimweg vom Heiligen Land, wo er an einem Kreuzzug teilgenommen und die christlichen Streitkräfte in ihrem Kampf gegen die Mamluken in Ägypten unterstützt hatte. Bei seinem Aufenthalt im Osten hatte Eduard viele außergewöhnliche Festungen gesehen und vermutlich von vielen weiteren gehört, unter anderem auch von der imposanten Bergfestung Krak des Chevaliers der Johanniter aus dem 12. Jahrhundert mit ihren ringförmigen Mauern, die die ­gefährliche Straße zwischen den Städten Tripolis und Homs bewachte. Und von der ebenso gewaltigen Küstenfestung der Templer, dem Château Pelèrin südlich von Haifa bei Atlit, das als Flottenstützpunkt und Garnison diente, viertausend Mann aufnehmen konnte und über Treppen verfügte, die breit genug waren, um mit dem Pferd hinauf- und hinunterzu-

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reiten. Diese Festungen zählten zu den herausragenden Leistungen der Baumeister in den Kreuzfahrerstaaten, doch das Heilige Land war regelrecht gespickt mit Verteidigungstürmen und Festungen in allen Größen und Formen. Die wichtigste Art der Kriegsführung war die Belagerung: Eine Armee versuchte, eine Burg oder befestigte Stadt einzunehmen, indem sie sie unter Beschuss nahm, aushungerte oder stürmte, während die Verteidiger alles gaben, um durchzuhalten, bis die Belagerer die Geduld verloren und wieder abzogen. Grundsätzlich ging es bei der damaligen Militärtechnik um ein Kräftemessen zwischen Festungsbaumeistern und den Konstrukteuren von Belagerungstürmen, Rammböcken und Katapulten. Das galt in der gesamten westlichen Welt, jedoch ganz besonders in den Kreuzfahrerstaaten, wo Krieg und Gewalt mehr oder weniger allgegenwärtig waren. Es war daher naheliegend, dass einige der beeindruckendsten Burgen im und um das Königreich Jerusalem zu finden waren. Als Eduard nun auf der Rückreise in Saint-Georges-d ’ Espéranche Halt machte, entdeckte er eine weitere Burg, die sich gerade im Bau befand. Sie war vom Lokalherrn, Graf Philipp von Savoyen, einem alten Freund der Familie, in Auftrag gegeben worden. Die Arbeit wurde von ­einem brillanten jungen Architekten und Baumeister beaufsichtigt, der ähnliche Projekte in Philipps Territorium umsetzte. Dieser Maître Jacques, wie er genannt wurde, muss Eduard sehr beeindruckt haben. Vier Jahre später, als die Kriege Englands gegen die Waliser in vollem Gang ­waren, holte Eduard den Baumeister über den Ärmelkanal und betraute ihn mit dem Projekt seines Lebens:3 Master James of St. George, wie er von nun an hieß, übernahm die kreative Leitung und Aufsicht beim Bau der Burgen in Nord-Wales an Orten wie Flint, Rhuddlan, Conwy, Builth, Harlech, Aberystwyth, Ruthin und Beaumaris. (Außerdem war er in der Gascogne und in Schottland für Eduard tätig.) Vom Sommer 1277 bis zu seinem Tod 1309 war er der führende Militäringenieur Englands und verfügte über Budgets, wie man sie im Festungsbau nicht mehr gekannt hatte, seit Wilhelm der Eroberer in den 1060er und 1070er Jahren das angelsächsische England unterworfen hatte. Master James veränderte die Landschaft von Wales und setzte neue Standards in der Militärarchitektur, die bis zum Ende des Mittelalters kaum weiter verbessert wurden. Und nirgends wird sein Talent besser veranschaulicht als bei seinem Meister-

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werk – einer Festung, die am nordwestlichen Rand des walisischen Festlands liegt, zwischen der Meerenge von Menai und den Bergen von Snowdonia, in einem Ort, der heute Caernarfon heißt. Vor langer Zeit hatte es in Caernarfon einen römischen Militärstützpunkt namens Segontium gegeben, und obwohl in den 1280ern nicht mehr viel von diesem Vorposten am äußersten Rand des Römischen Reichs ­geblieben war, lebte die Erinnerung an eine Verbindung zwischen den Walisern und dem römischen Britannien weiter.4 Caernarfon wurde mit Konstantin dem Großen in Verbindung gebracht (die Belege sind a­ llerdings zweifelhaft) und mit dem Usurpator Magnus Maximus, der im Westen des Römischen Reichs als Kaiser herrschte. Beide waren zum Kaiser ausgerufen worden, als sie sich gerade in Britannien aufhielten* (siehe Kapitel 2). Maximus  – oder auf Walisisch Maxen Wledig  – spielte in der lokalen Überlieferung eine große Rolle. Im großen walisischen Epos, dem Mabinogion, wird von einer Vision berichtet, die Maximus im Traum hatte: Er sah sich selbst reisen … und obwohl seine Reise lang war, erreichte er schließlich die Mündung des größten Flusses, den je ein Mensch gesehen hatte. Dort sah er eine große Stadt und eine große Festung mit vielen schlanken Türmen von verschiedenen Farben … Im Innern erblickte Maxen einen prächtigen Saal: Die Decke schien ganz aus Gold, die Seiten aus ebenso kostbaren Steinen, die Türen ganz aus Gold. Es gab goldene Sofas und silberne Tische … Am Fuß einer Säule sah Maxen einen weißhaarigen Mann, der in einem Stuhl aus Elefantenelfenbein saß, die Lehne verziert mit zwei rotgoldenen Adlern …5

Diese Festung war das Vorbild für die Burg, die Eduard bei Master James of St. George in Auftrag gab. Der König träumte von einer Festung, die die Macht des Reichs zum Strahlen brachte, die die walisischen Träume von früherer Größe aufgriff und auf ihn übertrug. Er wollte etwas, was über die Grenzen von Zeit und Raum hinausging. Master James konnte ihm all dies bieten – und noch viel mehr. Im Sommer 1283, etwa zu der Zeit, als

* Damals glaubte man  – irrigerweise  –, dass Maximus der Vater Konstantins des Großen war.

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Dafydd ap Gruffydd in Shrewsbury verurteilt und abgeschlachtet wurde, erfolgten die ersten Spatenstiche für die neue Festung. Arbeiter setzten das Fundament für polygonale Türme und für Mauern, die mit Streifen andersfarbiger Steine geschmückt werden sollten, die sich in waagerechten Bändern durch das Bauwerk zogen. Einer der Türme sollte drei Turm­ spitzen bekommen, auf denen steinerne Adler thronten, und die gesamte Südseite der Festung sollte über der Mündung des Flusses Seiont auf­ ragen, der bei Caernarfon ins Meer fließt.6 Es war eine seltsame und wunderbare Burg. Teilweise wirkte sie wie ein Stein gewordenes Märchen. Doch sie spielte auch gezielt auf etwas sehr Reales an: Die horizontalen Steinbänder erinnerten an nichts Geringeres als an die Theodosianische Mauer von Konstantinopel. Tatsächlich war Caernarfon eine Art Konstantinopel in Miniaturformat: Die ummauerte Stadt und die Garnison beherbergten nie mehr als ein paar Hundert königstreue Einwohner – kein Vergleich mit den Hundertausenden, die in den Straßen der byzantinischen Hauptstadt zu ihren Glanzzeiten unterwegs waren. Dennoch gab es eine gewisse Ähnlichkeit, die durchaus beabsichtigt und von Bedeutung war. Es war Eduard wichtig, diesen Aspekt besonders zu betonen. Bei den anfänglichen Aushubarbeiten 1283 wurden Gebeine gefunden, die sofort Maximus/Maxen Wledig zugeschrieben wurden. Sie wurden exhumiert und mit den üblichen Weihen in einer ­nahegelegenen Kirche bestattet. 1284, als die Festung immer noch nicht mehr als eine Baustelle mit einer Hüttensiedlung für die Handwerker und Bauarbeiter war, schickte Eduard seine hochschwangere Frau Eleonore von Kastilien nach Caernarfon, damit sie dort das Letzte ihrer vielen Kinder zur Welt brachte. Tatsächlich kam sie ihrer Pflicht nach und gebar am 25. April den zukünftigen König Eduard II . Dieser Eduard wuchs als der erste englische Prince of Wales auf, sein Anspruch auf diesen Namen wurde durch seine Geburt in der quasi imperialen Festung Caernarfon l­ egitimiert.* So kamen Propaganda, Politik und Militärstrategie im

* Caernarfon Castle hat diese Tradition bis in die heutige Zeit aufrechterhalten: 1969 wurde Charles, Königin Elisabeths ältestem Sohn, heute König Charles  III., dort der Titel Prince of Wales verliehen.

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­ orden von Wales unter den wachsamen Augen von Master James of N St. George zusammen. Der Burgenbau war keine Erfindung des Hochmittelalters. Die Vorläufer der Burgen waren die Wallanlagen der Eisenzeit – in strategisch günstiger Position auf einem Hügel gelegen, geschützt durch Erdwälle und Einfriedungen aus Holz. Die römischen Forts (castra) mit ihren Steinfundamenten, hölzernen Palisaden und Außengebäuden stellten einen deutlichen Fortschritt in der Militärarchitektur dar – eine Tradition, die in der islamischen Welt von den Umayyaden bewahrt und weitergeführt wurde. Unter ihrer Herrschaft entstanden die Wüstenkastelle (quṣur), die militärische Funktionen mit einer luxuriöseren, palastartigen Ausstattung wie Badehäusern und Moscheen verbanden, aber auch mit landwirtschaft­ lichen Gebäuden. Im Westen blieben die Festungsbauten während des gesamten ersten Jahrtausends relativ primitiv. Riesige Summen und unendlich viele Arbeitsstunden wurden für den Bau von Kirchen aufgebracht, die Militärarchitektur hinkte hingegen weit hinterher. Um das Jahr 1000 erlebte Westeuropa jedoch eine Revolution im Festungsbau. Die Frage, was diese Revolution auslöste, beschäftigt Historiker seit Generationen. Die Antwort liegt vermutlich in der Instabilität in ­Europa nach dem Zerfall des Karolingerreichs, in der externen Bedrohung der christlichen Reiche durch Wikinger, Magyaren und iberische Muslime und in der zunehmenden Bedeutung der Ritter fränkischen Stils, die Stützpunkte benötigten, von denen aus sie operieren konnten. Viele Verbesserungen im westlichen Festungsbau wurden von den Normannen vorangetrieben – und das nicht nur in der Normandie, sondern auch in England, Sizilien und den Kreuzfahrerstaaten. Die Normannen übernahmen schon früh den Typ der Turmhügelburg mit einem großen Erdhügel (Motte), auf dem ein befestigter Wohnturm oder unbewohnter Wehrturm errichtet wurde, der anfangs noch aus Holz war. Die Außen­ gebäude um die Motte (im Englischen wird dieses Areal als Bailey bezeichnet) wurden durch einen Zaun oder Graben geschützt. Vom späten 10. Jahrhundert bis ins späte 11. Jahrhundert war das die modernste Form des Burgenbaus. Doch im frühen 12. Jahrhundert verwarfen die Baumeister das holzlas-

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tige Modell der Turmhügelburg. Stattdessen wurden größere und aufwendigere Burgen aus Stein gebaut – ein schwer zu handhabendes, teures und arbeitsintensives Material, das jedoch eine unendlich stärkere Befestigung ermöglichte und in alle Richtungen von der politischen und militärischen Macht ihres Besitzers kündete. Zunächst imitierten die Steinfestungen die Turmhügelburgen, doch dann kam im 12. Jahrhundert die «konzentrische» Burg auf: weitläufige Steinbauten mit einem komplexen Grundriss, mit inneren und äußeren Burghöfen, zwei oder mehr mit Wehrtürmen besetzten Mauern, mehreren Toren und Zugbrücken, einfachen oder doppelten Gräben und oft palastartigen Wohnräumen in den sichersten Teilen der Festung. Diese deutlich verbesserten Burgen konnte man nur planen – und vor allem bauen –, weil es im 12. und 13. Jahrhundert im Wirtschaftsleben und in der Mathematik gewaltige Fortschritte gegeben hatte. Doch der Boom basierte auch auf der grundlegenden Bereitschaft der spätmittelalterlichen Burgherren – Königen, Adligen und Geistlichen –, Geld und Energie für den Burgenbau und die Suche nach einem Baumeister aufzuwenden. Das taten sie mit der Hingabe und Spendierfreudigkeit heutiger Ölmilliardäre, die in den Golfstaaten Hotels bauen. Dabei entstanden einige wirklich imposante Burgen. In den 1190er Jahren gab Eduards Großonkel ­Richard Löwenherz 12 000 Pfund – etwa 50 Prozent der Einnahmen aus seinem Königreich England – für eine einzige Burg in der Normandie aus, das Château Gaillard, das bei Les Andelys über der Seine thront, im damaligen franko-normannischen Grenzgebiet, dem sogenannten Vexin.7 (Das Château Gaillard galt eigentlich als uneinnehmbar, trotzdem schaffte es Richards unfähiger Bruder und Nachfolger Johann, die Burg 1204 an die Franzosen zu verlieren, nur sechs Jahre nach ihrer Fertigstellung.) In den spanischen Königreichen der Reconquista entstanden derweil beeindruckende Festungen wie Monzón und Calatrava, die es mit den islamischen Festungen in al-Andalus, etwa der Alcazaba in Málaga und der ­Alhambra in Granada, aufnehmen konnten. Und im Ostseeraum gründeten die Deutschritter kurz vor Beginn der Arbeiten an Caernarfon die Marienburg am Fluss Nogat in der Nähe der Hafenstadt Danzig (Gdańsk). Die im heutigen Polen liegende Marienburg, die das frisch eroberte Gebiet gegen die heidnischen Prußen sichern sollte, wurde gegen Ende des

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Mittelalters zum Hauptsitz des Deutschen Ordens, der von dort die Region kontrollierte. Die Grundfläche der Burg erstreckte sich über mehr als 20 Hektar und bot jederzeit Platz für mehrere Tausend Ritter. Vom Heiligen Land bis zum Atlantik war der Burgenbau zum festen Bestandteil der Machtausübung geworden. Natürlich reagierten auch die Waffenschmiede und Belagerungsingenieure auf die Fortschritte im Festungsbau und entwickelten immer größere und feuersichere Belagerungstürme zur Erstürmung der Mauern, erfanden das Trébuchet, das Felsbrocken in der Größe heutiger Kleinwagen schleudern konnte, und verfeinerten die Kunst der Unterhöhlung von Fundamenten, um Türme und Mauern zum Einsturz zu bringen.* In diesem Umfeld waren Burgenbaumeister wie Master James of St. George Gold wert. Master James ’ Projekt in Caernarfon wurde nicht über Nacht vollendet. James war ein außergewöhnlich begabter Projektleiter, der das Glück hatte, auf die volle Unterstützung (und die Ressourcen) der englischen Krone zurückgreifen zu können. Aber er war auch kein Übermensch, und in den dreißig Jahren, die er in England verbrachte, musste er gewöhnlich den Bau von mindestens einem halben Dutzend Burgen beaufsichtigen. Ein Projekt wie Caernarfon konnte sich von der Planung bis zur Fertigstellung über Jahrzehnte hinziehen, selbst wenn es keine größeren Unterbrechungen gab. Steine im Steinbruch zu brechen, zu transportieren, ­zuzuschneiden und an ihren endgültigen Platz zu hieven war eine arbeitsintensive, schmutzige und anstrengende Plackerei, die nur langsam vonstatten ging. An Mauern und anderen Gebäudeteilen aus Stein konnte man nur etwa acht Monate im Jahr arbeiten, im Winter wurde der Kalkmörtel nicht fest. Auch schlechtes Wetter, Gewitter, Brände, Kriege und

* Wie es etwa König Johanns Armee 1215 bei der Belagerung der Burg von Rochester tat: Sappeure gruben einen Tunnel unter einem der Burgtürme, schmierten die hölzernen Streben des Tunnels mit Schweinefett ein und steckten dann den Tunnel in Brand. Als er einstürzte, brach auch der Turm zusammen. Aus diesem Grund hat Rochester Castle heute drei spitze Ecken und eine abgerundete; dieser Teil wurde nach dem Ende von Johanns Herrschaft in einem anderen Stil wieder aufgebaut.

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andere Katastrophen einschließlich der Überfälle feindlicher Armeen konnten die Arbeiten jederzeit zum Erliegen bringen. Und da ein friedlicher Landstrich keine riesigen Burgen benötigte, war ein ungestörtes Arbeiten ein Luxus, in dessen Genuss die Baumeister nur selten kamen.* Für Nordwales galt das definitiv. Wenig überraschend, waren die Waliser nicht begeistert vom Anblick einer Burg wie Caernarfon, die sich über ihr geliebtes Bergland erhob. Die tiefen Wunden, die Eduard hinterließ, blieben lange bestehen. Um mit seinem Heer von der Stadt Chester im Nordwesten Englands nach Wales vorzudringen, wies der König seine ­Ingenieure an, breite Schneisen in die Landschaft zu schlagen. Auf den dann gebauten Straßen wimmelte es in den 1280er und 1290er Jahren nicht nur von Rittern und Fußsoldaten, sondern auch der Verkehr zu den Burgbaustellen wurde über sie abgewickelt. Bereits eine einzelne Burg verschlang enorme Mengen an Arbeitsstunden und natürlichen Ressourcen, und das in relativ kurzer Zeit. So wurden für die königliche Burg von Denbigh in den ersten zehn Monaten der Bauzeit fast zweihundert Wagenladungen Holz benötigt, das in lokalen Wäldern geschlagen worden war.8 Für Conwy wurden allein für den Bau der Fundamente zweihundert Holzfäller und hundert Mann für Erdarbeiten angeheuert; als es an das eigentliche Gebäude ging, kosteten Eisen, Stahl, Nägel, Zinn, Stein, Blei, Glas, Messing und Arbeitslohn in vier Jahren über 11 000 Pfund – ein erheblicher Anteil des königlichen Jahreseinkommens, und das zu einer Zeit, in der Eduard auch noch zwei Feldzüge finanzieren musste.9 Der Bau von sechs oder mehr Festungen erforderte Heerscharen an Bauarbeitern und Tonnen an Baumaterial. Die Schiffe, die Holz und Steine nach Caerfarnon lieferten, kamen sogar von Dublin, Calais und Yarmouth; die Steinbrüche rund um Anglesey wurden bis auf den letzten Stein aus­ gebeutet, und für das Zuschneiden und Behauen der Steine holte man

* Ein eindringliches Beispiel wurde bei archäologischen Ausgrabungen in den Ruinen der Kreuzfahrerburg Chastellet an der Jakobsfurt etwa 150 Kilometer nördlich von Jerusalem gefunden. Saladin attackierte mit seinen Truppen die noch im Bau befindliche Burg. Die Skelette der Arbeiter und ihre Werkzeuge wurden an der Stelle gefunden, wo sie getötet worden waren.

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Steinmetze aus Yorkshire.10 Der Bau sorgte für Lärm und Unruhe und brachte alles durcheinander. Und am Ende mussten die Anwohner im Schatten der Festungen in dauerhafter Unterdrückung leben. Mitte der 1290er Jahre hatten die Waliser genug. Im September 1294 kam es zum Aufstand. Die Rebellen versuchten, die Bauarbeiten von ­Caernarfon zu stoppen – allerdings nicht, indem sie sich wie heute vor die Bulldozer gesetzt hätten, sondern indem sie einfach den gesamten Bau in Brand steckten. Die Baustelle und die zur Hälfte errichtete zu­ gehörige Stadt wurden besetzt und geplündert. Die neu gebauten ­Stadtmauern wurden niedergerissen. Nach der Niederschlagung des Aufstands mussten Master James und sein Stellvertreter vor Ort, ein Steinmetzmeister namens Walter of Hereford, bekümmert feststellen, dass die Arbeiten um Monate, wenn nicht sogar um Jahre zurückgeworfen worden waren. Die Begeisterung des Königs für den Burgenbau konnte das jedoch nicht mindern, ganz im Gegenteil. Eduard gab Master James und Master Walter nicht nur das nötige Geld, Material und die Männer, um den Bau fortzusetzen, sondern betraute sie gleich mit dem nächsten Riesenprojekt: der Wasserburg Beaumaris auf der Insel Anglesey, vom Festland durch eine Meerenge namens Menaistraße getrennt, deren Bau von Eduard noch großzügiger mit Mitteln ausgestattet wurde. 1296, auf dem Höhepunkt der Arbeiten an Beaumaris, berichtete Master James dem königlichen Schatzamt, er habe «tausend Zimmermänner, Schmiede, Maurer und Erdarbeiter» auf der Baustelle, geschützt von hundertdreißig Soldaten. Sie arbeiteten lang und hart, bei Wetterbedingungen, die – wie jeder, der die gebirgige Region von Snowdonia kennt, auch heute bezeugen kann  – binnen weniger Minuten umschlagen konnten, von strahlendem Sonnenschein zu strömendem Regen. Insgesamt wurden fast 15 000 Pfund für Beaumaris ausgegeben, trotzdem war die Burg bei Eduards Tod 1307 noch nicht fertiggestellt, und auch noch nicht beim Tod von Master James 1309 oder in den 1320er Jahren.11 Obwohl der Bau offiziell nie abgeschlossen wurde, kündet Beaumaris – das funktionaler und massiger ist als das von der Mythologie inspirierte Fantasieschloss Caernarfon – von Eduards gnadenlosen militärischen Ambitionen: dem tiefen Bedürfnis, seine Macht in Wales unwiderruflich zu verankern, und zwar

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mithilfe von Burgen aus Stein, die mindestens fünfhundert Jahre lang mehr oder weniger intakt bleiben sollten.

Festung Europa Kein anderer englischer Monarch widmete sich dem Burgenbau mit einem ähnlich großen Elan wie Eduard I ., der neben seinen Projekten in Wales auch große Summen in den Ausbau des Towers von London und in andere Plantagenet-Festungen in Cambridge, Chester und Corfe investierte. In dieser Hinsicht war das späte 13. Jahrhundert zumindest in England eine Hochzeit des Burgenbaus. Die monumentale Steinfestung blieb jedoch bis ins 15. Jahrhundert ein bestimmendes landschaftliches Merkmal in der gesamten mittelalterlichen Welt, enthusiastisch finanziert von Königen, Königinnen und reichen Aristokraten. Ein kurzer Überblick über einige der größten Bauprojekte zeigt die grundlegende Bedeutung, die Burgen für die abendländischen Herrscher besaßen. In England ließ Eduard  III . im 14. Jahrhundert die Küstenfestungen verstärken, damit sie möglichen französischen Überfällen im Hundert­ jährigen Krieg standhielten. Er verwendete auch große Summen auf den Bau von Satellitenfestungen um die Stadt Calais, die die Engländer 1347 erobert hatten. Darüber hinaus investierte er in Verteidigungsanlagen in Berwick im Grenzgebiet zu Schottland. Eduard kannte den Wert guter Befestigungen, er hatte selbst zahlreiche Belagerungen durchgeführt, nicht zuletzt auch in Calais. Doch sein Bauwerk, das das größte Aufsehen erregte, befand sich nicht an der Grenze, sondern in Windsor, der langjährigen königlichen Residenz, die der König zu einem neuen Camelot und zum Zentrum des wiederbelebten englischen Rittertums umgestaltete. Windsor war keine Burg im traditionellen Sinn – es wäre ziemlich viel schiefgelaufen, wenn ein König im 14. Jahrhundert im ländlichen Berkshire eine starke militärische Präsenz benötigt hätte. Doch als befestigter Palast hatte Windsor eine genauso wichtige Funktion: Die Anlage kündete von einer wehrhaften Monarchie und einem romantischen Königtum. Eduard gab 50 000 Pfund – eine schwindelerregende Summe – für Windsor aus, das durch den Umbau große neue Wohnräume erhielt,

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Räume für Verwaltungstätigkeiten und für die Unterhaltung. Auch heute noch dient Windsor Castle als eigentliche Heimstatt des englischen Rittertums, vor allem, wenn in seiner beeindruckenden gotischen Kapelle (im späten 15. Jahrhundert von Eduard  IV . und Heinrich  VII . neu erbaut) Versammlungen des Hosenbandordens abgehalten werden oder wenn dreimal die Woche die Soldaten bei der Wachablösung aufmarschieren – eine prunkvolle Zeremonie, die meist Hunderte neugierige Zuschauer und Touristen anzieht. Auch außerhalb Englands war der Burgenbau im Spätmittelalter fast überall in Europa schwer in Mode. In Ungarn hatten die Mongoleneinfälle des 13. Jahrhunderts die Bedeutung von Festungen bei der Verteidigung gegen marodierende Reitervölker aus dem Osten aufgezeigt. Nachdem viele ältere Burgen von den Mongolen zerstört worden waren, baute man sie nach dem Abzug der gefürchteten Tataren auf Anweisung des Königs Béla IV . in massiverer Form wieder auf; Béla forderte sogar eine Burg auf jeder Anhöhe in seinem Reich. Weiter nördlich wurde im südlichen Polen ein ebenso weitreichendes Burgenbauprogramm unter Kasimir  III . dem Großen (reg. 1333–1370) umgesetzt: Dessen Vater war übrigens Władysław I . (reg. 1320–1333), der wegen seiner geringen Körpergröße den einprägsamen Beinamen «Ellenlang» trug). Kasimir gründete nicht nur die Universität von Krakau, reformierte das polnische Recht und erwarb sich den Ruf eines Beschützers der Juden, denen er in einer Zeit des allgemeinen Antisemitismus Zuflucht in Polen bot, sondern gab auch große Summen fürs Militär aus. Während seiner langen Herrschaft baute oder erneuerte er etwa zwei Dutzend Burgen, die sich wie an einer Kette 160 Kilometer von Krakau bis Tschenstochau an der Westgrenze seines Reichs aufreihten, die von den Königen des benachbarten Königreichs Böhmen immer wieder angegriffen wurde. Seine Burgen, von denen viele hoch oben auf zerklüfteten Kalksteinfelsen thronen, sind heute als Adlerhorst-Burgen bekannt.*

* Einige Adlerhorste Kasimirs des Großen sind heute zu touristischen Zielen umgestaltet worden, darunter die Burg Bobolice, die aus Ruinen wieder aufgebaut und in ihren ursprünglichen mittelalterlichen Zustand zurückversetzt wurde. Eine wissen-

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Auch in Deutschland (wo man den Begriff Adlerhorst eher mit dem Zweiten Weltkrieg als mit dem Mittelalter verbindet) zierten Burgen die Landschaft. Wie in den anderen Ländern waren das 12. und 13. Jahrhundert das goldene Zeitalter des Burgenbaus, in dem viele prächtige Festungen entstanden, darunter die Burg Heidelberg, die Burg Eltz und die Burg Hohenstaufen, die auf dem gleichnamigen Berg über Göppingen in BadenWürttemberg thront und Stammsitz des Königs- und Adelsgeschlechts der Staufer war, dem auch Kaiser Friedrich II . angehörte. Die Staufer waren begeisterte Burgenbauer – das mussten sie auch sein, da es offensichtlich zu ihrer Hauptbeschäftigung gehörte, mit anderen Herrschern im Streit zu liegen, vor allem mit Päpsten. Ihre beeindruckendste Burg liegt jedoch nicht in Deutschland, sondern in Süditalien, wo Friedrich  II . auf einem Hügel über der Stadt Andria in Apulien das berühmte Castel del Monte bauen ließ, eine Mischung aus Festung und Jagdschloss. Mit seinem achteckigen Grundriss, der an jeder Ecke mit einem ebenfalls achteckigen Turm versehen ist, zeugt das Castel del Monte von den politischen und militärischen Zielen Friedrichs, aber vor allem auch von seiner Faszination für Geometrie und Mathematik sowie von seinem großen Interesse am Islam. Der Grundriss des Kastells weist eine starke Ähnlichkeit mit der ersten Ebene des Felsendoms in Jerusalem auf,* der Stadt, die Friedrich während des Kreuzzugs von 1228/29 durch Verhandlungen wieder unter die Kontrolle der Christen gebracht hatte. Eduard  I . war nicht der einzige christliche König, der Gestaltungsideen aus dem östlichen Mittelmeerraum übernahm. Beispiele für den Burgenboom finden sich überall in Europa – wobei Bauweise und -stil je nach Region und Zeitalter variieren, abhängig vom jeweiligen Geschmack des Jahrzehnts, in dem sie entworfen und erbaut wurden, und von den militärischen oder gestalterischen Interessen des

schaftliche Beurteilung des Projekts (zusammen mit anderen Beispielen aus Polen) findet sich in Michał Żemła und Matylda Siwek, «Between Authenticity of Walls and Authenticity of Tourists ’ Experiences: The Tale of Three Polish Castles», in: ­Cogent Arts & Humanities 1 (2020). * Siehe Kapitel 4.

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Herrschers oder Adligen, der sie in Auftrag gab. Einem talentierten Burgenbaumeister wie Master James of St. George mangelte es jedenfalls nie an Arbeit, vor allem nicht, wenn er bereit war, durch die Welt zu reisen und seine Fertigkeiten auch in Kriegsgebieten anzubieten. Wer sich mit den Bedingungen arrangieren konnte, für den war das mittelalterliche ­Europa ein Tummelplatz. Natürlich währten die guten Zeiten nicht ewig: Mit dem Aufkommen des Schießpulvers im 15. Jahrhundert und den Fortschritten beim Gießen wuchtiger Kanonen konnte keine Burg, so massiv sie auch gebaut war, einem dauerhaften Beschuss der Artillerie standhalten, die nun anstelle der mechanischen Belagerungsmaschinen zum Einsatz kam. Die Burgen, die im 13. Jahrhundert erbaut wurden, waren dazu gedacht, einer Belagerung über ein Jahr oder noch länger zu trotzen, doch 1415 benötigte der englische König Heinrich V . nur einen Monat, um die befestigten Verteidigungsanlagen der Stadt Harfleur mit zwölf großen Kanonen zu zertrümmern. Mit dieser Revolution der Militärtechnologie war der Festungsbau im 16. Jahrhundert so etwas wie eine überholte Kunst, und das goldene Zeitalter der Burgbaumeister war vorüber. Doch zu diesem Zeitpunkt hatten Männer wie Master James längst ihre Spuren hinterlassen. Der Anblick einer steinernen Burg, die auf einem deutschen Berg aufragte oder über einem Landstrich an der britischen Küste thronte, war mittlerweile vertraut – und hatte sogar etwas Beruhigendes. Spätere Herrscher wussten die Burgen zu nutzen, auch wenn sie nicht mehr viele bauten. Als in den 1540er Jahren die Angst vor einer französischen Invasion in England umging, ließ Heinrich  VIII . die Kette der Festungen an der südenglischen Küste verstärken. Vierhundert Jahre später war die größte Festung in der Region, Dover Castle, immer noch ein wesentlicher Bestandteil der militärischen Abwehr der Briten: Die Burg diente als Kommandozentrale für die Evakuierung britischer und französischer Soldaten aus Dünkirchen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs. Später wurden die Tunnel im Fels unter der Burg zu Atombunkern umgebaut, falls in ­einem dritten Weltkrieg Nuklearwaffen zum Einsatz kämen. In gewisser Weise war die Burg typisch für die Architektur des Mittelalters. In ihr verbanden sich nahtlos Form und Funktion  – und das oft auf atemberaubende Weise. Sie diente praktischen und politischen Zwecken. Und sie war ein wiederkehrendes Stilmittel in der spätmittelalterlichen Literatur,

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etwa in den Artussagen und den Legenden vom Heiligen Gral. Seit dem 14. Jahrhundert war die «Minneburg» eine häufige literarische Metapher: Die Burg konnte für die Jungfrau Maria stehen, die uneinnehmbar für die Welt war und nur von Gott berührt werden konnte. Oder sie diente in Traktaten und Gedichten als spielerisches Symbol für die junge Liebe, für Tugend und Laster. Wie auch immer, gegen Ende des Mittelalters war die Burg aus der realen Landschaft in die Welt der Fantasie gewandert. Und ihre einzige Konkurrenz in der monumentalen Architektur war die große gotische Kathedrale.

Zwischen Himmel und Erde 1239, zwei Generationen bevor König Eduard  I . die Landschaft im Norden von Wales mit seinen Burgen umgestaltete, tätigte der König von Frankreich, Ludwig IX ., einen sensationellen Kauf. Von allen Kapetingerkönigen war Ludwig eindeutig der frömmste. Schon früh in seiner Regierungszeit hatte er von einer bedeutenden Reliquie gehört, die zum Verkauf angeboten wurde. Es handelte sich um die Dornenkrone Jesu, die Balduin II ., der Kaiser des lateinischen Reichs von Konstantinopel, seinen Kreditgebern in Venedig angeboten hatte. Balduin und seine venezianischen Freunde hatten entschieden, die Reliquie zu verkaufen, wenn sich ein geeigneter Interessent fände. Ludwig war überzeugt, dass er dieser ­Interessent war. Eine solche Gelegenheit bot sich nur einmal im Leben, und er war bereit, praktisch jeden Preis dafür zu zahlen. Und so kaufte er die Dornenkrone nach längeren Verhandlungen für die astronomische Summe von 150 000  Livres und ließ sie über Venedig nach Frankreich bringen. Der König nahm sie dann in Villeneuve l ’ Archevêque persönlich in Empfang. Umgeben von seinem kompletten Hofstaat trat er barfuß und nur mit einem Hemd bekleidet als Büßer auf. Er und sein Bruder Robert, ebenfalls im Büßergewand, brachten die Krone dann nach Paris, wo sie zum Herzstück der königlichen Reliquiensammlung wurde, die später auch noch ein Stück des Wahren Kreuzes, die Spitze der Heiligen Lanze, mit der Christus in die Flanke gestochen worden war, und den Heiligen Schwamm enthielt, aus dem Jesus den letzten Schluck Essig vor seinem

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Tod gesaugt hatte:12 eine außerordentliche Sammlung heiliger Schätze, die es im Westen kein zweites Mal gab. Nun fehlte Ludwig nur noch ein entsprechendes Kabinett, in dem er seine Trophäen zur Schau stellen konnte. Nach einigen Jahren reiflicher Überlegung entschied Ludwig, dass er seine Reliquien am besten in einer Kapelle präsentieren könnte, die nach dem neuesten Stil erbaut und mit prachtvollen religiösen Darstellungen und Buntglas ausgestattet werden und noch dazu ein Kollegium mit ­Kanonikern umfassen sollte. Das Ergebnis war die Sainte-Chapelle auf der Île-de-la-Cité in Paris, ein Meisterwerk der Gotik von nahezu un­ vergleichlicher Schönheit, das immer noch eines der größten architekto­ nischen Schmuckstücke in einer Stadt darstellt, der es gewiss nicht an großartigen Bauwerken mangelt. Die Kapelle entstand in der königlichen ­Palastanlage auf der Seine-Insel und war dadurch für die Königsfamilie und einige auserwählte Höflinge zur privaten Andacht zu erreichen. Wer Zutritt hatte, konnte sich wirklich glücklich schätzen. Die Sainte-Chapelle folgte den allerneusten gotischen Trends: Die Mauern ragten unvorstellbar hoch auf, gestützt von beeindruckend schlanken Säulen im Innern und von kunstvoll verzierten Strebepfeilern an der Außenseite. Sie hatte zwei Stockwerke, und im oberen schien das Gewölbe bis zum Himmel zu reichen. Von außen wirkte die Kapelle wie eine anmutige, langbeinige, auf Zehenspitzen stehende steinerne Spinne, von innen wirkte sie nahezu formvollendet. Zwischen den Säulen befanden sich hohe, schmale Spitzbogenfenster mit einigen der beeindruckendsten Buntglasscheiben, die je geschaffen wurden. Wer die Sainte-Chapelle betrat, hatte das Gefühl, er sei in den Himmel geschwebt – und auch heute noch hat man diesen Eindruck. Es hätte keinen vollkommeneren Ort für Ludwigs kostbare Reliquien geben können – und auch keinen passenderen Rahmen, in dem sich Ludwig als König mit heiligengleichen Tugenden präsentieren konnte. Doch bei aller Pracht war die Sainte-Chapelle nur ein Beispiel von vielen für die Kühnheit und das architektonische Genie der gotischen Baumeister, die derartige Sakralbauten im 13. Jahrhundert schufen. So wie die Festungsbaumeister den Burgenbau auf eine neue Ebene hoben, so revolutionierten ihre zivilen Kollegen den Kirchenbau.

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Während die Burgen steinernes Zeugnis der militärischen Stärke einzelner mittelalterlicher Herren waren, standen Kathedralen, Kirchen und Kapellen für den Glauben ihrer Stifter und die kollektive Frömmigkeit der Gemeinschaft, die darin betete und in ihrer Umgebung lebte. Die Bereitschaft, ungeheure finanzielle Mittel, Arbeit und Emotionen in prächtige Sakralbauten zu investieren, reicht bis zum Beginn des Mittelalters zurück. Einigen der wunderbaren Gebäude, die dem mittelalterlichen Impuls entsprangen, etwas Großes im Namen Gottes zu schaffen, sind wir bereits begegnet: der Audienzhalle Konstantins des Großen in Trier, der Basilica di San Vitale in Ravenna, Justinians Hagia Sophia in Konstantinopel, den großen Moscheen in Medina, Damaskus, Jerusalem und Córdoba, der Pfalzkapelle Karls des Großen in Aachen und der Grabeskirche in Jerusalem. Der Drang, imposante Gotteshäuser zu bauen, war während des ­gesamten Mittelalters vorhanden, erlebte jedoch zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert einen Höhepunkt, als einige der kühnsten und visionärsten Architekturprojekte in der Geschichte des Abendlands von Baumeistern umgesetzt wurden, die einem radikalen neuen Stil folgten, den wir heute als gotisch bezeichnen. Die Gotik – die Bezeichnung geht auf die Italiener im 15. Jahrhundert zurück und ist als spöttische Anspielung auf das Barbarenvolk gedacht, weil man in dieser Kunstrichtung eine abscheuliche Perversion der eleganten Ästhetik der Antike sah – betraf praktisch alle Bereiche der Kunst, von der Malerei und Bildhauerei bis zu Stickereien und Metallarbeiten. Doch nirgends war sie aufregender und von größerer Dauer als in der Architektur, und dort vor allem bei den Sakral­ bauten. In der ersten Hälfte des Mittelalters war der dominierende Stil in Europa die Romanik: Gebäude mit dicken Mauern, die von grazilen Säulen getragen wurden und in die das Licht durch Rundbogenfenster fiel.13 Die Gotik wich radikal von diesem Muster ab. Ihr maßgebliches Motiv war der Spitzbogen, der es den Baumeistern erlaubte, enorm lange und hohe Gebäude zu erstellen, die von eleganten Steinskeletten gehalten wurden, gerahmt von unwahrscheinlich schlank wirkenden Mauern und erhellt von scheinbar riesigen Flächen aus buntem Glas: Diese gewaltigen und doch so verblüffend leicht wirkenden Bauten waren die irdische Umsetzung eines neuen Jerusalem oder des «Himmels auf Erden».14

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Das erste gotische Bauprojekt des Mittelalters war die Abtei­ kirche von Saint-Denis gewesen, am Stadtrand von Paris.15 Dort gab es seit der Karolingerzeit ein Kloster, das im frühen 12. Jahrhundert, während der Herrschaft Ludwigs VII ., zur spirituellen Heimat der Kapetinger geworden war, die für sich in Anspruch nahmen, die «allerchristlichsten» Könige (les rois très chrétiens) Europas, wenn nicht sogar der Welt zu sein. Die ­Abtei war allerdings in einem beklagenswerten Zustand: klein und he­runtergekommen benötigte sie dringend eine Renovierung. Über ihre jämmerliche Verfassung waren sich sogar die beiden Erzfeinde Bernhard von Clairvaux und Petrus Abaelardus einig: Bernhard nannte Saint-Denis eine «Synagoge Satans», und Abaelard schrieb, in ihr spielten sich «unerträgliche Obszönitäten» ab.16 Um die Abteikirche wieder auf Vordermann zu bringen, verwendete der große Abt und Staatsmann Suger in den 1130er und 1140er Jahren viel Zeit und Energie auf ihre Sanierung und schuf so eine Kirche, die größer, beeindruckender und schöner als jede andere in Frankreich war. Das Kernstück von Sugers Planung war der Bau eines neuen, 30 Meter langen Chors, in dem, wie es Suger formulierte, beständig Messen «ohne Störungen der Menge» abgehalten werden konnten.17 Die Bauzeit für den Chor betrug drei Jahre und drei Monate. Oft sah man Suger, wie er die Ärmel hochkrempelte und mitarbeitete; einmal leitete er persönlich eine Erkundungsmission in einen Wald in der Nähe von Paris, auf der Suche nach einem starken Baum in der von den Baumeistern gewünschten Höhe.18 Die Mühe lohnte sich, nach der Fertigstellung war Sugers Chor atemberaubend, mit wunderbar schlanken Mauern und Säulen, die riesige Buntglasfenster umrahmten, gefertigt «von den exquisiten Händen vieler Meister aus verschiedenen Regionen».19 Die Fenster zeigten Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, dem Leben der Heiligen und Darstellungen der Kreuzzüge – der Zweite Kreuzzug war während der Bauarbeiten an Sugers Kirche gerade in vollem Gang. Sie waren weit mehr als nur schmückendes Beiwerk. Sugers Abteikirche folgte der damals Dionysius zugeschriebenen Vorstellung, dass Gott Licht sei und dass die Welt durch das Licht Gottes für den Menschen erleuchtet werde.20 Wie jede große Kirche des Mittelalters war auch die umgestaltete ­Abteikirche von Saint-Denis mit prächtigen Ornamenten ausgestattet,

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mit Skulpturen, edlen Wachskerzen und Reliquien wie dem eisernen Ring, mit dem Dionysius vor seinem Martyrium angekettet gewesen war, oder säkularen Schätzen wie der Halskette der Königin Nanthilda, deren Mann König Dagobert angeblich der erste Förderer der Abtei gewesen war. Und natürlich gab es auch die Oriflamme – das heilige Kriegsbanner der französischen Könige. Diese Kostbarkeiten waren zwar beeindruckend, doch wahrhaft inspirierend war die Architektur des neuen Chors. Die beispiellose Größe und Einheitlichkeit, die gewaltige, geradezu übertriebene Höhe, die Synthese aus kunstvollen Details und elegantem Raum hoben Saint-Denis von allen anderen Gebäuden ab, die es bisher gegeben hatte – und genau das war Sugers Absicht. (Nicht von ungefähr erklärte Wilhelm von Rubruk, der wagemutige Entdeckungsreisende und Gesandte am mongolischen Hof, Saint-Denis sei ein viel prächtigeres ­Gebäude als der Palast des Khans in Karakorum.) Bei der Weihe 1144 war Saint-Denis auch eine unausgesprochene Aufforderung an alle anderen Bischöfe, Architekten, Ingenieure und Mäzene jener Zeit: Das müsst ihr erst mal übertreffen.21 Und sie nahmen die Herausforderung an. Ab den 1140er Jahren erlebte der gotische Stil einen gewaltigen Boom. Zunächst war die neue Bewegung auf Nordfrankreich beschränkt, wo sie in erster Linie bei Um- und Erweiterungsbauten in der Nähe der Machtzentren der Kapetingerkönige zur Anwendung kam; etwa beim Chor von Saint-Germain-des-Prés in Paris, aber auch bei einer brandneuen Kathedrale in Senlis und einer umgestalteten im burgundischen Sens. Gegen Ende des Jahrhunderts war der neue Stil überall zu finden. In den Städten Nordwesteuropas entstanden außergewöhnliche neue Kathedralen, etwa in Cambrai, Arras, Tournai und Rouen. Und in Paris wurde mit den Aushubarbeiten für die vielleicht berühmteste Kathedrale der Welt begonnen: Notre-Dame. Mit über 33  Metern war sie die höchste Kathedrale, die man bis dahin ersonnen hatte, und ein Wunderwerk der Ingenieurskunst mit raffiniert angeord­ neten Reihen von Strebepfeilern, die es möglich machten, die Mauern vier Stockwerke hoch zu errichten. Der Bau von Notre-Dame war eine gewaltige Leistung: Fast hundert Jahre lagen zwischen der Grundsteinlegung durch Ludwig VII . an Ostern 1163 und der Fertigstellung der heute charakteristischen runden Fenster-

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rosen aus Buntglas an beiden Enden des Querschiffs. Und auch danach wurde noch bis Ende des 14. Jahrhunderts an wichtigen Teilen weitergebaut.* Die Kosten und der Arbeitsaufwand waren enorm  – doch min­ destens genauso groß war die Bedeutung von Notre-Dame als Symbol für ­Paris und die Vorrangstellung des französischen Königtums in Hinblick auf seine Kultiviertheit und Frömmigkeit. Die Kathedrale von Reims erhielt zwar als Krönungsstätte der französischen Könige den Vorzug ­gegenüber Paris, und das Mausoleum des Königshauses befand sich in Saint-Denis, doch die besondere kulturelle und religiöse Macht von ­Notre-Dame war in jedem Stein zu spüren. In einem entscheidenden ­Moment in der letzten Phase des Hundertjährigen Krieges, als die Engländer ihren Kindkönig Heinrich  VI . nach Frankreich brachten, um ihn dort zum ­König krönen zu lassen, wählten sie Notre-Dame für diesen besonderen Anlass. Die Kathedrale war bestens für die Zeremonie geeignet. Zu der Zeit hatte sich der gotische Stil praktisch in ganz Europa verbreitet. In Frankreich erreichte er seinen Höhepunkt in Beauvais, wo sich die gewölbte Decke des Schiffs fast 50 Meter über dem Boden spannte. Damit war sie etwas höher als die konkurrierende Kathedrale in Amiens, die etwa zur selben Zeit gebaut wurde; die von dem Steinmetzmeister Robert de Luzarches geplante Kathedrale in Amiens hat einen größeren Innenraum als jedes andere Gebäude, das im Mittelalter fertiggestellt wurde.22 Die überragende Höhe von Beauvais wurde sehr genau wahrgenommen, zumal in einer Zeit, in der sich der Wettbewerb zwischen den Bischöfen, immer gewaltigere Projekte in Auftrag zu geben, zu einer Art kirchlichem Wettrüsten entwickelte. (In Beauvais war das Streben nach Höhe allerdings verhängnisvoll: 1284 stürzten die Deckengewölbe wahrscheinlich aufgrund von Konstruktionsfehlern ein, und das Dach kam ­herunter; ein Schaden, der erst nach jahrelangen aufwendigen Reparaturarbeiten wieder behoben war.)23 Trotz der enormen Ausmaße hatte Beauvais keine Vorrangstellung.

* Nach einem verheerenden Brand 2019 ist die Kathedrale derzeit erneut eingerüstet – man geht davon aus, dass man für die Reparatur der Schäden auch im 21. Jahrhundert trotz besserer Ausrüstung mindestens zehn Jahre benötigen wird.

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Es gab noch viele weitere prachtvolle gotische Kathedralen, zum Beispiel in Chartres, wo Reliquien von der Jungfrau Maria aufbewahrt wurden; in Bourges, wo die riesige, reich mit Figuren geschmückte Kathedrale im 15. Jahrhundert noch eine astronomische Uhr erhielt; und auch weit im Süden in Albi, wo nach dem Kreuzzug gegen die Katharer eine bizarre Kathedrale gebaut wurde, die in ihrer Form an eine Festung erinnert – das wehrhafte Äußere sollte nicht nur dem Ruhm Gottes dienen, sondern auch die Macht der Kirche veranschaulichen und deutlich machen, dass sie eine abweichlerische Haltung nicht duldete. Die Arbeiten an den Kathedralen – die die meisten anderen mittel­ alterlichen Kirchen in einem ähnlichen Maß in den Schatten stellten, wie ein Elefant eine Kuh überragt – waren so umfangreich, kompliziert und schwierig, dass an einigen noch bis weit ins 16. Jahrhundert hinein gebaut wurde. Dadurch entstand eine enge Verbindung unter den nachfolgenden Generationen von Meistern, Arbeitern und Förderern, die die Pläne für das scheinbar nicht enden wollende Projekt im Laufe der Zeit immer wieder änderten. Dieses Phänomen war keineswegs auf Frankreich beschränkt. In Deutschland wurden in Köln und Straßburg besonders prächtige Kathedralen gebaut. Im 14. Jahrhundert trieben König Johann von Böhmen und sein Sohn, der als Karl IV . Kaiser des Heiligen Römischen Reichs wurde, energisch den Ausbau Prags voran und gaben der Stadt eine erstklassige Universität und eine Kathedrale, den Veitsdom, den sie mit einer Abgabe auf die Erträge aus den reichen böhmischen Silberminen finanzierten. Im Dom befand sich auch das Grab des Heiligen Wenzel,* eines im 10. Jahrhundert lebenden böhmischen Fürsten, der sich für die Christianisierung in seinem Reich eingesetzt hatte, bis er von seinem Bruder Boleslav umgebracht wurde.24 Diese Kathedralen waren durch und durch französisch geprägt (der Stil wird von Architekturhistorikern heute als «Rayonnant» bezeichnet). In Städten wie Magdeburg, Regensburg oder Ulm wich man hingegen vom französischen Vorbild ab und entwickelte eine eigene deut-

* In England bekannt durch das im 19. Jahrhundert entstandene Weihnachtslied Good King Wenceslas («Guter König Wenzeslaus»).

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sche Variante, deren Kirchen und Kathedralen nur einen Turm anstatt zwei oder mehr Türme hatten und sehr breite Dächer, die sowohl das Mittelschiff als auch die Seitenschiffe bedeckten. Eine besonders auffällige Spielart der Gotik findet man in Gebäuden wie der Kirche des polnischen Klosters Pelplin, wo 1289 mit dem Bau einer riesigen Abteikirche aus ­rotem Backstein begonnen wurde; da geeignete Natursteine in der er­ forderlichen Menge im Ostseeraum selten waren, musste man auf dieses Material zurückgreifen  – eine Notwendigkeit, aber dennoch war diese Backsteingotik eine auffällige optische Abweichung vom französischen Vorbild. Für Südeuropa ergibt sich ein gemischtes Bild. Die Italiener begegneten dem neuen Stil eher mit Zurückhaltung, doch es gibt eine bemerkenswerte Ausnahme: den Mailänder Dom, ein erstaunliches, breitfrontiges und zutiefst ungewöhnliches Ungetüm, mit dessen Bau zur Zeit der Visconti-Herzöge im frühen 14. Jahrhundert begonnen wurde, das jedoch erst in den 1960er Jahren, also über sechshundert Jahre später, fertiggestellt wurde. In Spanien wiederum war das christliche Ethos, das der gotischen Form zugrunde lang, nur eine weitere Ergänzung für eine üppige Mischung an Architekturstilen, die von der starken islamischen und jüdischen Präsenz auf der Iberischen Halbinsel beeinflusst war. Einige Kathedralen wie etwa die in Barcelona, Burgos und in Palma auf Mallorca wirken auf den ersten Blick, als hätten Engel sie in Nordeuropa eingesammelt und in Spanien abgesetzt. Andere sind stark lokal geprägt: Die Kathedrale von Toledo, die in den 1220er Jahren gegründet wurde, war der eigenwillige Versuch, der Hauptmoschee der Stadt ein gotisches Gewand zu verpassen; die Kathedrale von Sevilla, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts aus einer Moschee entstand, erfuhr eine ähnliche Transformation. Diese  – und andere wie die Kathedralen in Valencia und Lleida  – sind merk­ würdige und zugleich wunderbare Gebäude und einzigartige Zeugnisse der vielfältigen Geschichte Spaniens. Sie künden auch von der Macht der gotischen Architektur und dem damaligen Glauben, man könne durch eine bauliche Struktur näher zu Gott kommen. Man könnte ein ganzes Bücherregal mit Geschichten über diese außergewöhnlichen mittelalterlichen Meisterwerke füllen. Um zu verstehen, wie viel Zeit und Anstrengung der Bau einer einzelnen Kathedrale erfor-

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derte, welche mächtigen Interessen im Spiel waren und warum sich die Kosten und der Aufwand lohnten, kehren wir nach England zurück und betrachten ein Gebäude genauer: die Kathedrale von Lincoln, ein Triumph der Gotik in Form eines Gebäudes, das über zwei Jahrhunderte lang das höchste der Welt war.

Lincoln Ohne Wilhelm den Eroberer wäre die Kathedrale von Lincoln nie gebaut worden. Nach der Invasion Englands 1066 führte der erste normannische König eine groß angelegte Neuordnung des Landes durch. Wilhelm baute zahlreiche Burgen – darunter auch den Londoner «White Tower» am Nordufer der Themse. Er strukturierte aber auch die Kirche von England um. Bischöfe waren wichtige Stützen des neuen normannischen Herrschaftssystems, das Wilhelm einführte, daher musste er sicher sein, dass sie sich an den richtigen Stellen befanden. Entsprechend wurden mehrere Bischöfe angewiesen, ihr Hauptquartier (oder ihren «Sitz») vom Land in Siedlungen und Städte zu verlegen. Die von Wilhelm vorgenommenen Veränderungen sind auch heute noch in ganz England zu erkennen: Deshalb gibt es eine Katherdale in Salisbury und nicht in Old Sarum, in Norwich und nicht in Thetford oder in Chichester und nicht in Selsey. Und deshalb haben wir einen Bischof von Bath und Wells und nicht ­jeweils einen für Bath und einen für Wells. In den meisten Fällen waren mit der Verlegung der Bischofssitze keine großen Distanzen verbunden. In einem Fall aber schon. 1072 erteilte Papst Alexander  III . Wilhelm die Erlaubnis, den Bischofssitz von Dorchester-on-Thames in Oxfordshire 240 Kilometer nach Nordosten zu verlegen, in das äußerste Ende seiner großen Diözese, nach Lincoln. Das war ein drastischer, aber durchaus sinnvoller Schritt: Dorchester war zwar ein hübsches Städtchen an der Themse und am Rand der Chiltern Hills, doch Lincoln war von weit größerer strategischer und politischer Bedeutung. Die Stadt war von den Römern gegründet worden (als Lindum Colonia), war zwei Jahrhunderte lang von den Wikingern besetzt gewesen und lag strategisch günstig an der Straße von London nach York

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sowie an anderen wichtigen Verkehrswegen aus der Römerzeit, zudem war sie durch ihre Lage am Fluss auch zu Wasser gut zu erreichen. Die Ostküste war nicht weit, noch dazu gab es eine gut zu verteidigende, sehr steile Anhöhe (die heute, mit der für die Midlands so typischen Bodenständigkeit, einfach Steep Hill heißt). Die Gegend war aber auch noch recht wild und musste zivilisiert werden. Nach der Eroberung hatte sich ein berühmter angelsächsischer Adliger, der in späteren Legenden Hereward the Wake genannt wird, heftig gegen die normannische Herrschaft zur Wehr gesetzt.25 Auf dem Steep Hill baute Wilhelm eine Burg, bald darauf gab sein ­Bischof Remigius, ein Benediktiner aus der Abtei Fécamp in der Normandie, direkt daneben den Bau einer Kathedrale in Auftrag. Sie wurde größtenteils aus lokalem Kalkstein gebaut, zu einer Zeit, in der für viele normannische Gebäude Stein aus Caen in der Normandie verwendet wurde, den man mit speziell ausgerüsteten Schiffen nach England transportierte.26 Die Kathedrale wurde 1092 nur wenige Tage nach Remigius ’ Tod fertiggestellt und dann von einem Nachfolger verschönert, der prächtige gemeißelte Bögen über den Portalen anbringen ließ – inspiriert von Abt Sugers Bauwerk in Saint-Denis.27 Doch die Kathedrale stand nicht lange. 1124 brannte sie bei einem Feuer nieder, 1141 wurde sie bei der Schlacht von Lincoln beschädigt (bei der sie als provisorische Festung diente) und 1185 bei einem der schlimmsten Erdbeben in der britischen Geschichte bis in die Grundmauern erschüttert.28 Das war natürlich ein schwerer Schlag. Doch aus architekturhistorischer Sicht war der Zeitpunkt gut getroffen. 1186 wurde nämlich ein neuer Bischof von Lincoln gewählt: ein franzö­ sischer Kartäusermönch, der zu seinen Lebzeiten Hugo von Avalon genannt wurde (und nach seinem Tod heiliggesprochen und damit zum ­heiligen Hugo von Lincoln wurde). Hugo war bereits mit einem bau­ lichen Auftrag nach England gekommen: sein Orden hatte ihn angewiesen, eine Kartause in Somerset zu errichten.* Mit seiner Weihe zum Bischof konnte er nun höhere Ziele verfolgen – im wahrsten Sinne des Wortes.

*

Der Bau der Kartause wurde von Heinrich II. finanziert, als eine seiner vielen Bußen für seine Mitverantwortung am Tod von Thomas Becket 1170.

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Auf dem Steep Hill leitete Bischof Hugo die Arbeiten zu einer vollständigen Umgestaltung der Kathedrale, die in den folgenden sechs Jahrzehnten eine Höhe erreichen sollte, wie man sie seit den Tagen der Pharaonen nicht mehr gesehen hatte. Der Name des Steinmetzmeisters (oder der Steinmetze), den Hugo mit dem Bau seiner neuen Kathedrale betraute, ist nicht überliefert, doch zum Bautrupp gehörte eindeutig ein Baumeister mit grandiosen Visionen, der noch dazu mit den neuesten Trends der Gotik vertraut war. Dazu ­gehörte etwa die meisterhafte Arbeit am Chor der kurz zuvor fertiggestellten Kathedrale von Canterbury, die unter der Leitung des französischen Baumeisters Wilhelm von Sens nach einem verheerenden Brand 1174 neu gebaut worden war. Nach Lincoln gelangten aber auch Einflüsse und ­vielleicht auch Handwerker aus ferneren Regionen, möglicherweise aus Trondheim auf der anderen Seite der Nordsee in Norwegen, wo Mitte des 12. Jahrhunderts ebenfalls eine gotische Kathedrale gebaut worden war. Nun wurde nicht mehr nur Kalkstein mühsam den Berg hinauf transportiert (vermutlich von Ochsenkarren), sondern auch Marmor aus dem weiter entfernten Peterborough (das aber auch noch zur Diözese gehörte), der den Säulen im schließlich fast 150  Meter langen Innenraum eine luxuriöse, sinnliche Anmutung gab. Die Westseite der ursprünglichen Kathedrale, von der sich die meisten Besucher näherten, war bereits aufwendig mit einem Fries im romanischen Stil dekoriert, das Szenen aus dem Alten und Neuen Testament zeigte, von Satans Höllensturz bis zu Christi Höllenfahrt.29 Es hatte die Zerstörung durch Feuer, Krieg und Erdbeben überlebt und gab nun den Ton für ein Gebäude vor, das mit Statuen und Steinmetzarbeiten geschmückt wurde, um alle, die es betraten, an die Freuden der Erlösung und die Qualen der Verdammnis zu erinnern. Ein so gewaltiges Bauvorhaben wie die neue gotische Kathedrale von Lincoln dauerte unweigerlich länger als ein Menschenleben, und als Bischof Hugo im Jahr 1200 starb, war das Zentrum von Lincoln immer noch eine riesige Baustelle, auf der es von Steinmetzen und Maurern, Zimmerleuten und Schmieden nur so wimmelte. Am Rohbau der Kathedrale ­waren immer noch hölzerne Gerüste und mit Seilzügen betriebene Kräne zu sehen. Doch mit seinem Tod erwies Hugo seiner Kathedrale einen großen Dienst.

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Laut einer hagiografischen Darstellung seines Lebens hatte man den Bischof oft dabei gesehen, wie er Steinblöcke und Kalkmörtel über die Baustelle schleppte, unterstützt von einem verkrüppelten Gehilfen, der aufgrund seiner Bereitschaft, im Namen des Herrn zu schuften, auf wundersame Weise geheilt wurde.30 (Ein weiterer Begleiter des Bischofs war ein zahmer Singschwan, mit dem er sich am Tag seiner Weihe angefreundet hatte und den er seitdem als Haustier hielt.) Im Tod war Hugo weit mehr als jemand, der hilfsbereit mit anpackte. In den Jahrzehnten nach seinem Tod kursierten schon bald Erzählungen über seine Vorbildlichkeit, Rechtschaffenheit und Frömmigkeit und Berichte über seine Wunder­ tätigkeit, aus der sich schließlich ein Kult entwickelte. Laut Adam of ­Eyn­sham, der in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts Hugos Vita verfasste, war seine Heiligkeit schon in dem Moment offensichtlich, als ein Chirurg den Leichnam öffnete, um die Eingeweide vor der Beisetzung zu entfernen: Alle, die bei diesem beklemmenden Ritual anwesend waren, stellten mit Erstaunen fest, dass seine Eingeweide «weder Wasser noch Stuhl enthielten … so sauber und makellos, als hätte sie jemand zuvor sorgfältig gewaschen und gereinigt … die inneren Organe glänzten wie Glas».31 Doch das war erst der Anfang. Während des Trauerzugs gingen die Kerzen auf der Bahre auch bei starken Windböen nicht aus. Ein Trauernder mit gebrochenem Arm wurde durch einen wundersamen Traum geheilt, während ein Dieb, der eine Frau bestahl, als sie dem Bischof am Sarg die letzte Ehre erwies, mit Blindheit geschlagen wurde, so dass er «ziellos wie ein Trunkenbold umherstolperte», bis er gefasst wurde.32 Diese und ähnliche Wunder genügten, um Hugo 1220 heiligzusprechen. Lincoln wurde dadurch zur Touristenattraktion mit Tausenden ­Besuchern im Jahr, die an seinen Grabmälern beteten (es gab noch ein zweites, mit seinem Kopf ). Die hohe Besucherfrequenz erforderte weitere Anbauten,33 die dadurch aber auch möglich wurden. Und so wurde an der Ostseite der Kathedrale der sogenannte «Engelschor» ergänzt, der Hugos sterbliche Überreste beherbergen sollte.* Der Engelschor hat seinen Namen

* In der Kathedrale ist noch ein weiterer berühmter Hugo beigesetzt. Im 13. Jahrhundert entwickelte sich ein Kult um ein Kind, um «Little Hugh of Lincoln», das angeb-

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von den entzückenden Engelsfiguren, mit denen er ausgeschmückt ist – inspiriert von der Westminster Abbey, die zu jener Zeit unter den wachsamen Augen König Heinrichs  III . ebenfalls umgestaltet und erneuert wurde.34 Mit der Fertigstellung des Engelschors im Jahr 1280 war Lincoln in die erste Reihe der englischen Kathedralen aufgestiegen und befand sich damit in illustrer Gesellschaft. Westminster Abbey war unter der Ägide des Königs kunstvoll ausgeschmückt und renoviert worden, mit dem Grabmal Eduards des Bekenners als neuem Mittelpunkt. In Canterbury befanden sich der beeindruckende Sitz des Erzbischofs und der weltberühmte Schrein von Thomas Becket. Das York Minster, Sitz des Erzbischofs von York, wurde in jener Zeit ebenfalls zu neuer Pracht umgebaut. In jeder Ecke des Landes wurden gotische Kathedralen errichtet oder gerade fertiggestellt: Exeter, Salisbury, Winchester, Gloucester und Wells im Süden und Westen, Ely und Norwich im Osten, Durham und Carlisle im Norden, Hereford und Worcester im walisischen Grenzgebiet. In Wales gab es wichtige Bauwerke in St. David ’s, Llandaff und St. Asaph, und auch im Königreich Schottland hatte die Gotik Einzug gehalten, wie sich in den Kathedralen von Dunblane und Elgin und in der Abtei von Melrose auf bemerkenswerte Weise zeigte. Aus diesen verschiedenen Bauwerken entwickelten sich eigene Spielarten der Gotik, die heute Decorated und Perpendicular Style genannt werden und das Markenzeichen des englischen Kathedralenbaus im Spätmittelalter sind.35 Die Kreativität und der architektonische Ehrgeiz auf den Britischen Inseln waren kein Zufall. Wie wir bereits feststellten, war vor allem England im späten 13. Jahrhundert ein überaus wohlhabendes Königreich. Die Wirtschaft hatte dank der boomenden Wollindustrie ­einen gewaltigen Schub erhalten; die Kirche besaß riesige ertragreiche

lich von Juden bei einer Opferzeremonie getötet worden war. Das Aufkommen des Kults und die Anbetung des kleinen Hugh ist ein Paradebeispiel für das Phänomen der Ritualmordlegende, die Teil eines umfassenderen Antisemitismus im spätmittelalterlichen England war, der 1290 seinen Höhepunkt mit der Vertreibung der Juden durch Eduard I. erreichte.

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Ländereien; die Könige herrschten über ein relativ geeintes Land und hatten großes Interesse an Monumentalbauten aller Art, nicht nur an Burgen und Palästen. Die meisten Plantagenet-Könige waren sich der Macht bewusst, die sie mit der Beauftragung von Baumeistern von Weltrang ausstrahlen konnten  – weshalb sich in vielen englischen Kathedralen ein ­königliches Grabmal befindet. Auch an Lincoln zeigten die englischen Monarchen großes Interesse. Bischof Hugo hatte sich für seine neu gestaltete Kathedrale unter anderem einen hohen Turm in der Mitte des Gebäudes vorgestellt, gekrönt von ­einer Turmspitze. Leider gab es in den ersten Jahrzehnten der Bauarbeiten am Turm Probleme mit der Statik, so dass der Turm 1237 unter seinem eigenen Gewicht zusammenstürzte. In den 1250er Jahren wurden erste Reparaturen im Auftrag Heinrichs III . durchgeführt, dessen Interesse an Architektur von keinem anderen König seiner Dynastie übertroffen wurde, außer vielleicht von Heinrich VI ., der die majestätischen gotischen Kapellen des Eton College und des King ’s College in Cambridge stiftete. Im frühen 14. Jahrhundert wurde der Turm der Kathedrale von Lincoln dann verbreitert und noch höher gebaut. Bei seiner Fertigstellung 1311 war er mit Spitze (die aus mit Blei verkleidetem Holz bestand) 160 Meter hoch und damit 11 Meter höher als die Cheopspyramide in Ägypten – die fast viertausend Jahre lang das höchste von Menschen errichtete Bauwerk der Welt gewesen war. Die Kathedrale von Lincoln behielt diesen Status, bis die Spitze 1548 bei einem Sturm heruntergerissen wurde.* Lincoln war nicht nur ein Weltwunder, sondern auch die letzte Ruhestätte für Könige und Heilige. Zu Beginn des Winters 1290 starb Eduards geliebte Frau Eleonore von Kastilien im Dorf Harby in Nottinghamshire nur knapp 50 Kilometer von Lincoln entfernt. Eleonore war eine vorbild-

* Selbst dann wurde erst 1887 mit dem Eiffelturm (300 Meter) ein höheres Bauwerk errichtet, bis dahin gab es weltweit kein höheres Gebäude. Heute gelten 160 Meter natürlich als winzig: Das höchste Gebäude der Welt war bei der Fertigstellung dieses Buchs der Burj Khalifa in Dubai, er wird jedoch vom Jeddah Tower in SaudiArabien überholt werden, der, wenn er schließlich fertiggestellt wird, über 1000 Meter hoch aufragen soll.

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liche, pflichtbewusste Gattin gewesen, was sich unter anderem darin zeigte, dass sie den späteren Thronfolger auf der Baustelle von Caernarfon Castle zur Welt gebracht hatte. Ihr Tod stürzte Eduard in tiefe Trauer, weshalb er den Rücktransport ihres Leichnams nach London, wo sie ­bestattet werden sollte, möglichst ehrenvoll gestalten wollte. Am ersten Abend dieser Prozession wurde ihr Leichnam in eine Priorei außerhalb der Stadtmauern von Lincoln gebracht, wo die Eingeweide entfernt wurden, um die Verwesung zu verlangsamen. Sie wurden am 3. Dezember in der Kathedrale beigesetzt, später wurde dafür ein schönes Grabmal in der Nähe von Hugos Schrein geschaffen.* Vor der Stadt wurde dann auch das erste von zwölf «Eleonoren-Kreuzen» aufgestellt  – kunstvoll gestaltete Steinkreuze, die auf den Plätzen der Städte errichtet wurden, die der Leichenzug passiert hatte. Die Anregung für diese ungewöhnliche Form des Gedenkens stammte vermutlich aus Frankreich, wo zwanzig Jahre zuvor die sogenannten Montjoie-Kreuze entlang der Route aufgestellt worden waren, die der Leichenzug Ludwigs IX . genommen hatte – jenes Ludwig, der die Sainte-Chapelle in Paris bauen ließ, um seiner Dornenkrone-­ Reliquie einen passenden Rahmen zu bieten.36 Die Eleonoren-Kreuze wurden von einem Team aus Steinmetzen und Baumeistern geschaffen, das zu jener Zeit in England tätig war: John of Battle, Michael of Canterbury und Alexander of Abingdon. Die meisten Kreuze sind heute zerstört oder gingen verloren, dabei war jedes einzelne ein gotisches Meisterwerk – in Auftrag gegeben von einem König, der wie alle großen mittelalterlichen Herrscher wusste, dass ein Vermächtnis nicht allein auf der Herkunft gründet, sondern in Stein gehauen werden muss, um davon zu künden. Obwohl Eduard in erster Linie Burgen baute und Kathedralen bei ihm an zweiter Stelle standen, ist ihm ein Platz in der außergewöhnlichen ­Geschichte der Kathedrale von Lincoln sicher. Und Lincoln selbst gebührt definitiv ein Platz im Zentrum dieses mittelalterlichen Gotik-Abenteuers. Wenn man heute an einem ruhigen Nachmittag durch das Portal an der

* Das heutige Grabmal im Engelschor ist eine Reproduktion aus viktorianischer Zeit, das Original wurde während des Englischen Bürgerkriegs im 17. Jahrhundert so stark beschädigt, dass es nicht mehr repariert werden konnte.

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Westseite tritt, die Kathedrale der Länge nach bis zum Engelschor am ­äußersten östlichen Ende durchschlendert und dabei die unendlich reichen Verzierungen und Skulpturen bewundert, die so weit in die Höhe reichen, dass viele kaum noch zu erkennen sind und womöglich nicht mehr genauer betrachtet wurden, seit die mittelalterlichen Steinmetzmeister vor siebenhundertfünfzig Jahren von ihrem Gerüst herunterkletterten, dann ist das ein erhebendes Erlebnis, wie man es nur selten hat – und ein Beweis für die anhaltende Faszination, die das gesamte Zeitalter der Gotik ausübt.* Bevor wir das Reich der mittelalterlichen Baumeister verlassen, sollten wir noch ein letztes Beispiel betrachten, aus einer Stadt, die kaum von der Gotik-Manie mit ihrer hemmungslosen Begeisterung für scheinbar unendliche Glasflächen und Mauern, die bis in den Himmel reichten, erfasst wurde. Es ist Zeit, Florenz einen Besuch abzustatten, wo an der Wende zum 14. Jahrhundert eine ganz eigene Kathedrale gebaut wurde: passend zu einer Stadt, die stolz war auf ihren Reichtum und Ruhm, aber nach ­etwas anderem strebte als nach den Spitzbögen und Türmen, die nörd­lich der Alpen überall gen Himmel strebten.

Vom Turm zur Kuppel Zu Beginn der 1290er Jahre, etwa zu der Zeit, als Eduard von England seine letzten walisischen Burgen bauen ließ, hielt sich der italienische Künstler und Bildhauer Arnolfo di Cambio gerade in Rom auf, wo er an einem Grabmal arbeitete. Es befand sich in der alten Basilika von Sankt Peter und war für Papst Bonifatius VIII . gedacht – Erzfeind des französi-

* Das erklärt übrigens auch, warum die Gotik so ein gewaltiges Revival im 19. Jahrhundert erlebte, als die viktorianischen Architekten auf einen Stil zurückgriffen, der für sie all das verkörperte, was in der abendländischen Geschichte magisch und erhaben gewesen war. Den Höhepunkt der neogotischen, pseudomittelalterlichen Architektur bildet natürlich der Westminster-Palast in London, in dem sich heute das Ober- und Unterhaus befinden und der nach einem Brand 1834, bei dem das mittelalterliche Gebäude fast vollständig zerstört wurde, von Charles Barry wieder aufgebaut wurde.

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schen Königs Philipp  IV . und Empfänger der in die Geschichtsbücher eingegangenen Ohrfeige von Anagni.* Bonifatius war zu der Zeit noch am Leben, doch für einen kirchlichen oder staatlichen Würdenträger, der etwas auf sich hielt, war es üblich, die Arbeit am eigenen Grabmal zu beaufsichtigen, um sicherzugehen, dass es den eigenen Vorstellungen entsprach. Arnolfo hatte zuvor ein kunstvolles Grabmal für einen mächtigen französischen Kardinal, Guillaume de Bray, in einer Kirche im nahen ­Orvieto geschaffen. Davor war er als Bildhauer für Karl von Anjou tätig gewesen, Bruder Ludwigs IX . und König von Neapel und Sizilien († 1285). Er hatte den König bestechend lebensecht auf seinem Thron sitzend und mit einer römischen Toga bekleidet dargestellt. Er besaß also fundierte Kenntnisse der französischen Stilrichtungen und Vorlieben und konnte durchaus behaupten, der beste Bildhauer Italiens zu sein. Daher war er der geeignete Mann, um die letzte Ruhestätte für einen Papst zu gestalten. Doch Arnolfo selbst schwebte Größeres vor als Statuen und Grabmäler. Um 1293 kam die passende Einladung. Die Bürger von Florenz wollten eine neue Kathedrale. Und sie fragten Arnolfo, ob er sie für sie bauen würde. Arnolfo hatte bereits eine Kathedrale entworfen, in Orvieto, eine große romanische Basilika, mit deren Bau 1290 begonnen worden war. Doch Florenz bot ganz andere Möglichkeiten. Die Stadt hatte etwa fünfundvierzigtausend Einwohner (und war damit größer als London), sie wurde von einigen wenigen mächtigen Oligarchenfamilien regiert, überwiegend reichen Kaufleuten. Wie viele andere italienische Städte war sie über einen Großteil des 13. Jahrhunderts in gewalttätige Konflikte mit anderen Stadtstaaten und interne Auseinandersetzungen verstrickt, zunächst zwischen der kaisertreuen Stauferfraktion, den Ghibellinen, und der Papstfraktion, den Guelfen, später zwischen Parteien, die als Schwarze und Weiße bezeichnet wurden.37 Aufgrund der politischen Spannungen kam es häufig zu Schlägereien, Kämpfen, Morden, Putschen, Gegenputschen, kleinen Revolutionen oder sogar zu richtigen Kriegen. Doch sie konnten dem bürgerschaftlichen Stolz der Florentiner und ihrer Fähigkeit zum Geschäfte-

* Siehe Kapitel 11.

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machen nichts anhaben. Die Straßen waren bei Nacht vielleicht nicht ­sicher, aber sie waren sauber und befestigt, und das Geschäft blühte dank der umtriebigen Kaufleute und Bankiers, die überall in der Welt Gewinne einfuhren.* Florenz zog große Künstler, Autoren und Architekten an oder brachte sie selbst hervor, darunter den Maler Cimabue und seinen Schüler Giotto, den Dichter Dante Alighieri und den visionären Maler Coppo di Marcovaldo. Die Florentiner hatten auch ein ausgeprägtes Gespür für die politische Macht, die Gebäude ausstrahlen konnten: Nach einem politischen Umsturz riss die siegreiche Partei gern die Häuser und Türme der besiegten Rivalen ein, um sie zu demütigen. Für Arnolfo gab es also reichlich zu tun. Laut seiner Biografie, die von seinem Bewunderer Giorgio Vasari verfasst wurde, einem Maler und Architekten im 16. Jahrhundert, baute ­Arnolfo während seiner Zeit in Florenz die halbe Stadt auf oder um, da­ runter die Stadtmauern und den berühmten Palazzo Vecchio, den festungsähn­lichen Sitz des Stadtparlaments an der Piazza della Signoria. Vermutlich hat Vasari etwas übertrieben. Es ist jedoch belegt, dass ­Arnolfo drei Bauprojekte mehr oder weniger gleichzeitig durchführte. Er baute die Abteikirche der Badia um – eines der bekanntesten Klöster der Benediktiner in der Stadt (es heißt, dass der berühmteste Dichter, den Florenz hervor­gebracht hat, Dante Alighieri, dort zum ersten Mal seine Muse Beatrice sah). Das zweite Projekt war die Umgestaltung der franziskanischen Kirche Santa Croce. Und das dritte und größte war ein Neubau anstelle der verfallenen tausend Jahre alten Kathedrale der Stadt, die der damaligen Schutzheiligen von Florenz, Santa Reparata, geweiht war. Hier durfte ­Arnolfo seiner überbordenden Fantasie freien Lauf lassen. Wenn Arnolfo in Paris, London oder Köln gearbeitet hätte, wäre er in den Entwürfen für seine Gebäude sicher der französischen Gotik gefolgt. Doch in Italien entwickelte sich die Architektur anhand anderer Richt­ linien. Bögen blieben romanisch rund und wurden nicht spitz wie in der Gotik. Komplizierte Konstruktionen mit Strebebögen und schwindel­ erregend hohen Türmen sah man eher selten. Mauern waren Mauern –

* Siehe Kapitel 10.

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dick und stark und solide konstruiert, keine bloßen Rahmen für große, strahlende Buntglasflächen. Der leuchtend weiße oder gelbe Kalkstein, den man nördlich der Alpen so gern verbaute, wurde in Italien kaum verwendet, hier bevorzugte man Sandstein und Ziegel. Obwohl auch in Italien im 13. Jahrhundert die Höhe, Größe und Ausschmückung der Bauten an Bedeutung gewann, gab es keinen Druck auf Arnolfo, Florenz mit seiner eigenen Version der Abteikirche von Saint-Denis auszustatten.38 Arnolfo konnte völlig frei Gebäude erschaffen, die typisch florentinisch waren, und dabei Elemente der Gotik übernehmen, ohne sich sklavisch daran zu ­halten. Seine Umgestaltung der Badia und der Franziskanerkirche Santa Croce war elegant, aber relativ schlicht – auch wenn die Badia heute ihren eigenen spitzen Turm hat und Santa Croce im 19. Jahrhundert eine reich verzierte neogotische Marmorfassade erhielt. (In Santa Croce sind die ­berühmtesten Einwohner von Florenz bestattet, darunter Michelangelo, Galileo Galilei, Machiavelli und Gioachino Rossini.) Sein Entwurf für die neue Kathedrale der Stadt war hingegen sehr ambitioniert und versprach einen architektonischen Triumph. Arnolfos Entwurf bildete die Grundlage für das weltberühmte Gebäude, das heute an der Piazza del Duomo im Zentrum von Florenz steht: ein Bau von hohem Wiedererkennungswert, das Herzstück im Panorama der Stadt und ein Magnet für Touristen, die in der glühenden Hitze des toskanischen Sommers stundenlang anstehen, um den Dom für ein paar Minuten zu betreten. Um Raum zu schaffen, rissen Arbeiter mehrere Straßenzüge und auch die alte Kathedrale von Santa Reparata und eine weitere nahegelegene Kirche ab und betteten die Gräber eines Friedhofs um. Auf dem so geschaffenen Platz legte Arnolfo die Fundamente für ein rechteckiges Schiff von 66 Metern Länge und 21 Metern Breite mit Seitenschiffen auf jeder Seite. Damit übernahm er fast auf den Zentimeter genau seinen Entwurf für die Kirche von Santa Croce, vermutlich plante er wie bei der Franziskanerkirche auch ein Holzdach (anstelle eines Stein­ gewölbes). Auf der Ostseite wich sein Entwurf jedoch von Santa Croce ab, dort stellte er sich eine große Kuppel vor, die sich aus dem Innenraum der Kathedrale erhob – wie das Schmuckstück der antiken Baukunst, das das Pantheon in Rom krönte. Die Kuppel sollte auf einem achteckigen Sockel ruhen, umgeben von drei halbachteckigen Armen, die die Konstruktion

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vervollständigen und das Gewicht des komplizierten Aufbaus auffangen sollten.39 Der majestätische Entwurf sollte etwas größer werden als die Kuppel der Hagia Sophia in Konstantinopel.40 Der Grundstein wurde 1296 gelegt. Wie bereits bemerkt, lebten nur wenige mittelalterliche Architekten lange genug, um ihre fertiggestellten Kathedralen zu sehen. Arnolfo war keine Ausnahme. Seine Entwürfe und der Beginn der Bauarbeiten sagten den Florentiner Behörden sicher zu – vier Jahre später wurde Arnolfo für den Rest seines Lebens von der Steuer befreit und in den städtischen Dokumenten als «mehr als berühmter Meister und größerer Experte beim Kirchenbau als jeder andere, der in der Umgebung bekannt ist» gerühmt.41 Er erhöhte durch seine bloße Präsenz das Ansehen der Stadt. Doch irgendwann zwischen 1301 und 1310 starb er, und die Arbeiten an der Kathedrale kamen zum Erliegen. Von Arnolfo geschaffene Skulpturen schmückten eine Fassade an der Westseite (im 16. Jahrhundert ersetzt und heute größtenteils verloren), sie zeigten Figuren wie die Jungfrau Maria oder Papst Bonifatius; wahrscheinlich war bei seinem Tod auch etwa die Hälfte des Schiffs fertig gebaut. Doch ohne den Meister ging der Schwung für die Vollendung seiner Entwürfe verloren. Fairerweise muss man auch die ungünstigen politischen Bedingungen erwähnen. 1311 marschierte ein aggressiver (wenn auch kurzlebiger) neuer deutscher König nach Italien, um sich zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs krönen zu lassen. Die Florentiner lehnten diesen Heinrich  VII . ab und mussten sich deshalb gegen einen Angriff der kaiser­ lichen Truppen auf ihre Stadt rüsten. Obwohl Heinrich bald an Malaria starb, wurde Florenz von den nahe gelegenen Städten Pisa und Lucca, die auf Heinrichs Seite standen, angegriffen. Die Verstärkung der Stadtmauern war daher wichtiger als der Weiterbau der Kathedrale. 1333 brauchte Florenz außerdem eine neue Brücke, nachdem ein Hochwasser den bis­ herigen Ponte Vecchio mitgerissen hatte. Immerhin baute der geniale Giotto in den 1330er Jahren einen hohen, freistehenden und unverkennbar gotischen Glockenturm direkt neben Arnolfos Kirchenschiff. Doch abgesehen davon tat sich bis zur Mitte des Jahrhunderts nichts Wesentliches auf der Baustelle. Die Kathedrale war zwar nicht unbedingt eine Bau­ ruine, wohl aber ein Symbol für unvollendete Projekte.

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Erst Ende der 1360er Jahre kam das Kathedralenkomitee von Florenz überein, die Bauarbeiten fortzusetzen, allerdings nach einem überarbeiteten Entwurf, den der renommierteste Baumeister der Zeit, Neri di Fioravanti, angefertigt hatte. Er wollte die Kuppel noch größer gestalten, als ­Arnolfo sie geplant hatte  – größer als das Pantheon  –, und eine kleine Spitze integrieren. Gotischer Zierrat, doch abgesehen davon erinnerte die Kuppel stark an das antike Rom – mit einem kleinen Umweg über Byzanz und das arabische Jerusalem. Allerdings war der Bau dieser Kuppel schwer zu verwirklichen. Neri schuf ein großformatiges Modell der Kuppel, das im Schiff der Kathedrale platziert wurde, und jedes Jahr schworen die Mitglieder des Komitees, sie würden einen Weg finden, den Bau zu realisieren.42 Doch jahrzehntelang wusste niemand wie. Erst 1418 – also hundertzweiundzwanzig Jahre nach der Grundsteinlegung für Arnolfos ursprüngliche Kathedrale – hatte jemand die Lösung für die komplizierte Konstruktion des Florentiner Duomo gefunden. Dieser Jemand war ein Mathematikgenie namens Filippo Brunelleschi, der eine offene Ausschreibung dafür gewonnen hatte. Für den Bau musste er ganz neue Bausysteme und Hebemaschinen konstruieren, um etwa vier Millionen Ziegelsteine an Ort und Stelle zu bewegen, und das während einer Bauzeit von fast zwei Jahrzehnten. Ein aufreibendes Finale für ein quälend langes Projekt. Doch nachdem Brunelleschi den Bau zu Ende gebracht hatte, wurde die Kathedrale, die nun Santa Maria del Fiore hieß, sofort als eines der Wunderwerke anerkannt, wie man sie seit dem Ende der Antike nur noch selten bewerkstelligt hatte. Heute gilt der Dom von Florenz allgemein als Auftakt und architektonische Errungenschaft der italienischen Renaissance und seine Kuppel als Vorläuferin der Kuppeln, die viele monumentale Gebäude der Neuzeit schmücken, etwa die St.-Pauls-Kathedrale in London, den Invalidendom in Paris oder das Kapitolsgebäude in Washington. Die Kuppel entspringt also einer Epoche des Mittelalters, die beim Baubeginn durch Arnolfo di Cambio 1296 noch gar nicht angebrochen war. Diese Epoche  – die gleichzeitig auch das Ende der mittelalterlichen Welt markiert – begann 1347, als Santa Maria del Fiore noch eine unausgegorene Kuriosität darstellte, die zwar schon in der Welt war, aber noch heranwachsen musste und dafür auf ein Genie wartete, das sie vollenden

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würde. Das Ereignis, welches das Ende der mittelalterlichen Welt ein­ läuten sollte, war eine Pandemie. Sie erreichte Westeuropa, als Schiffe aus dem Osten in italienischen Häfen nicht nur Gewürze und exotische ­Luxusgüter anlandeten, sondern auch eine Krankheit, die schlimmer war als jede andere seit dem Zeitalter Justinians. Die Rede ist vom Schwarzen Tod, der etwa 40 Prozent der europäischen Bevölkerung tötete und die Welt für immer veränderte. Mit dieser Schneise der Verwüstung, die der Schwarze Tod durch den Westen schlug, und der Reaktion der Über­ lebenden auf eine Krankheit, die scheinbar wahllos zuschlug und so viele Menschen tötete, beginnt der letzte Teil unserer Geschichte.

Vierter Teil

Revolution Ca. 1348 bis 1527

13.

Überlebende «Die Vergangenheit hat uns verschlungen, die Gegenwart nagt an unseren Eingeweiden …» Gabriele de Mussis, Rechtsgelehrter und Chronist der Pest

I

m Spätsommer 1314 gab es schwere Niederschläge im Nordwesten ­Europas. Es regnete und regnete und hörte auch im Herbst kaum auf. Die Flüsse schwollen an, die Felder wurden überflutet. Straßen und Wege wurden weggeschwemmt. Im Frühjahr darauf musste das Getreide in wasserdurchtränkte Böden gesät werden, obwohl man wusste, dass sich dadurch der spätere Ernteertrag mindern würde. Im Mai 1315 kehrte der Regen zurück und hielt den ganzen Sommer über an. Während die bleigrauen Wolken ihre Wasserlast freigaben, blieben die Temperaturen kühl – und im weiteren Verlauf des Jahres sanken sie rapide weiter. Die Ernte fiel praktisch aus, und der darauffolgende Winter war entsetzlich kalt. An Ostern 1316 setzte der Hunger ein. Ein englischer Chronist ­berichtet von den Bedingungen für die Bevölkerung aufgrund der wild schwankenden und unkalkulierbaren Getreidepreise, die gelegentlich mehr als 400 Prozent über dem üblichen Niveau lagen. «Es gab eine große Hungersnot», schrieb er. «Eine derartige Knappheit hat man in unserer Zeit noch nicht erlebt und auch in hundert Jahren nicht davon gehört.»1 Doch das war erst der Anfang. Das Jahr 1316 folgte demselben Muster: unablässiger Regen ab Beginn des Frühjahrs, ein Sommer, der nie kam, und ein bitterkalter Winter. 1317 war die Lage etwas besser, obwohl kaum genug Getreide für die Aussaat vorhanden war; erst 1318 gab es endlich eine Ernte, die diesen Namen auch verdient hatte.2 Doch damit war die Not noch lange nicht vorüber. Die Nutztiere, die Nässe, Kälte und Futter-

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knappheit getrotzt hatten, waren so schwach, dass sie von einer hoch­ ansteckenden, tödlichen Seuche dahingerafft wurden, die sich mit unglaublicher Geschwindigkeit im Westen ausbreitete. Wahrscheinlich war es ein Virus, das wir heute als Rinderpest kennen. Kühe und andere Paarhufer ­bekamen Fieber und schrecklichen Durchfall, und das Fleisch in ihren Mäulern und Nasen verfaulte. Meist starben sie innerhalb von zwei oder drei Wochen. Die Krankheit trat in der Mongolei auf und breitete sich dann nach Westen aus, wo sie die Viehbestände in Mitteleuropa, Deutschland, Frankreich, Dänemark, den Niederlanden, England, Schottland und Irland dezimierte. Im Durchschnitt starben 60  Prozent der Tiere.3 1319 ­erreichte die Viehseuche ihren Höhepunkt. Und es kam noch schlimmer: 1320/21 vernichteten sintflutartige Regenfälle und Überschwemmungen ­erneut die Ernte, und die anschließende Aussaat wollte nicht keimen. Das waren Zustände, wie man sie von den biblischen Plagen kannte. In ganz Europa wurde die landwirtschaftliche Grundlage für das Leben der Menschen über einen Zeitraum von sechs Jahren vernichtet, und es kam zu einer Hungersnot, die vergleichbar mit den schlimmsten Hungersnöten des 20. Jahrhunderts gewesen sein muss.* Allein im Sommer 1316 starben 10 Prozent der Einwohner von Ypern in Flandern. Und das war keine Ausnahme.4 Ein Chronist beschrieb die elenden Zustände in England  – das zusätzlich zu Hunger und Viehseuchen auch noch mit ­einer schweren Inflation, einem Krieg gegen Schottland und der glück­ losen Herrschaft Eduards  II . geschlagen war. «Die üblichen Arten ess­ baren Fleisches waren zu knapp, daher wurde Pferdefleisch kostbar, und fette Hunde wurden gestohlen. Es heißt, dass Männer und Frauen an vielen Orten heimlich ihre eigenen Kinder aßen …».5 Ein anderer Autor berichtet: «Viele Tausende starben an verschiedenen Orten … Hunde und Pferde und andere unreine Dinge wurden als Nahrungsmittel genutzt. Ach, beklagenswertes England! Du, die du mit deiner Fülle einst anderen

* Bei der Hungersnot von 1921/22 starben zwischen 3 und 5 Prozent der russischen Bevölkerung; die Todesrate bei der großen Hungersnot des 14. Jahrhunderts war vermutlich zwei bis drei Mal höher, allerdings sind die absoluten Opferzahlen aufgrund der geringeren Bevölkerung der damaligen Zeit in Europa erheblich niedriger.

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Ländern geholfen hast, bist nun arm und bedürftig und gezwungen zu betteln!»6 Dieser Autor, ein Augenzeuge der sogenannten Großen Hungersnot, verfasste seine Chronik im Jahr 1325 oder davor. Er ahnte nicht, dass das Schlimmste noch kommen sollte.

Eis und Keime Das 14. Jahrhundert war eine Zeit dramatischer Umwälzungen, vor allem für die Menschen im europäischen Westen. Das fing beim Klima an. Nach dem Jahr 900 waren die Temperaturen weltweit über mehrere Hundert Jahre gestiegen, man spricht in diesem Zusammenhang von der sogenannten Mittelalterlichen Warmzeit. Doch um das Jahr 1300 begannen sie wieder zu sinken – und zwar massiv. Diese rapide Abkühlung wurde von ­einer Zeit intensiver vulkanischer Aktivität auf der ganzen Welt ausgelöst; bei den Vulkanausbrüchen wurden Schwefeldioxid und andere Aerosole, die das Sonnenlicht reflektierten, in die Stratosphäre geschleudert. Die Atmosphäre kühlte deutlich ab, und es wurde so regelmäßig bitterkalt, dass Fließgewässer von der Ostsee bis zur Themse und sogar das Goldene Horn bei Konstantinopel im Winter zufroren – weshalb der Zeitraum von 1300 bis 1850 auch als Kleine Eiszeit bezeichnet wird.7 Doch das Einsetzen der Kleinen Eiszeit war nicht der einzige Grund für die Große Hungersnot von 1315 bis 1321. Humanitäre Katastrophen sind fast immer die Folge eines komplizierten Zusammenspiels von Gesellschaft und Umwelt, und zu Beginn des 14. Jahrhunderts war ein massiver Einbruch im Westen praktisch programmiert. Der starke Bevölkerungs­ anstieg, der um das Jahr 1000 eingesetzt hatte, kurbelte die Wirtschaft, den technischen Fortschritt und den Handel an. Doch gleichzeitig entstand ­dadurch eine starke Anfälligkeit der Gesellschaft. Die Innovationen in der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion – der Eisenpflug mit Streichbrett, Wind- und Wassermühlen, Dreifelderwirtschaft  – ermöglichten den Bauern höhere Erträge, während gleichzeitig weniger fruchtbare Gebiete durch die Rodung von Wäldern und die Trockenlegung von Sümpfen erschlossen wurden. Es gab jedoch Grenzen – und um das Jahr

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1300 hatten die westlichen Gesellschaften diese Wachstumsgrenzen erreicht. Einfach ausgedrückt, gab es zu viele Menschen für den damaligen Stand der Technik. Die Bevölkerung Englands war von etwa 1,5 Millionen zur Zeit der normannischen Eroberung auf circa 6  Millionen am Vorabend der großen Hungersnot angestiegen.* Dieses Muster wiederholte sich in groben Zügen fast überall in Europa und im Nahen Osten, vor ­allem in den Städten, deren Einwohnerschaft sich seit Mitte des 12. Jahrhunderts vervierfacht oder noch stärker erhöht hatte. Dadurch lebten Zehntausende Menschen in beengten und alles andere als hygienischen Verhältnissen. Auf dem Land wurden immer kleinere Felder bewirtschaftet und der Anbau auf wenig ertragreiche Flächen ausgeweitet. Die Folge war eine schleichende und schließlich chronische Überbevölkerung, die alle Länder Westeuropas anfällig für Störungen in der Lebensmittel­ versorgung machte. Gleichzeitig hatte die starke Zunahme des globalen Handels und der Reisen, die mit den mongolischen Eroberungen im 12. und 13. Jahrhundert eingesetzt hatte, still und leise auch die Möglichkeit geschaffen, dass Krankheiten genauso ungehindert zirkulieren konnten wie Seidenstoffe, Sklaven und Gewürze. Die Rinderpest hatte vor ­Augen geführt, welche verheerenden Folgen eine ansteckende Krankheit bei ­einem zahlreich vorhandenen und mobilen Wirt haben konnte. Und wie sich zeigen sollte, waren die Menschen des 14. Jahrhunderts genauso an­fällig wie ihre Kühe. Der Schwarze Tod, wie die Pandemie genannt wird, die ab den 1340er Jahren Asien, Europa, Nordafrika und einige Regionen Afrikas südlich der Sahara heimsuchte, hatte einen ähnlichen Ursprung wie die Rinderpest: bei den Mongolen.8 Wie bereits erwähnt, war der Erreger der Pest ein Bakterium namens Yersinia pestis (oder Y. pestis), das über Flöhe und deren Bisse von Nagetieren und Steppenbewohnern wie Ratten oder Murmeltieren auf den Menschen übersprang.** Achthundert Jahre zuvor

* Diese Bevölkerungsspitze wurde in England erst wieder im 18. Jahrhundert erreicht. ** Siehe Kapitel 3.

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hatte die Justinianische Pest im Byzantinischen Reich des 6. Jahrhunderts gewütet und Millionen Menschen getötet. Doch die Pest im 14. Jahrhundert war noch schlimmer: eine neue, hochinfektiöse Mutation des alten Erregers, die mit ungewöhnlicher Leichtigkeit zwischen Ratten, Katzen, Hunden, Vögeln und Menschen hin und her wechseln konnte. Beim Menschen angekommen, verursachte der Erreger ähnliche unheimliche Symptome wie die Pest im 6. Jahrhundert: Fieber, die Ausbildung von Schwellungen (den sogenannten Bubonen oder Pestbeulen) in der Leistengegend, in den Achselhöhlen und am Hals, innere Blutungen und unkontrollierbares Erbrechen, bis die meisten Erkrankten innerhalb weniger Tage verstarben.9 Darüber hinaus entwickelte sich eine weitere Form, die Lungenpest, die über den blutigen Auswurf oder die Atemluft von Mensch zu Mensch übertragen wurde. Diese Kombination aus Beulen- und Lungenpest grassierte wahrscheinlich Anfang der 1330er Jahre unter den Mongolen Zentralasiens. Im selben Jahrzehnt verbreitete sie sich weiter im Osten im zentralasiatischen Transoxanien, in China und Persien, nur in Indien gab es wohl keine größere Krankheitswelle.10 Mitte der 1340er Jahre zirkulierte der Erreger ungehindert unter den Mongolen der Goldenen Horde. Laut Pestüberlieferungen waren sie es, die die Europäer 1347 bei der Belagerung der von den Genuesen gehaltenen Stadt Caffa am Schwarzen Meer mit der Krankheit infizierten. In einer Schilderung der Belagerung beschreibt Gabriele de Mussis, ein junger Rechtsgelehrter aus Piacenza, wie die Krankheit über das mongolische Heer hereinbrach, «als ob Pfeile vom Himmel flögen … wobei die Ärzte weder Rat noch Hilfe geben konnten … täglich starben Tausende … [mit] entsprechenden Symptomen an ihrem Körper, nämlich an den Gelenken, ferner an den Leisten verklumpte Körpersäfte … [gefolgt von] Fäulnisfieber».11 Durch die Krankheit stark dezimiert, gaben die Mongolen die Belagerung auf, doch davor verbreiteten sie noch ihre Erreger. In de Mussis lebhafter Schilderung heißt es: Als sie erkannten, dass sie ohne Hoffnung auf Rettung sterben mussten, banden sie die Leichen auf Wurfmaschinen und ließen sie in die Stadt Caffa hineinkatapultieren, damit [dort] alle an dem unerträglichen Gestank zugrunde gehen sollten. Man sah, wie sich die Leichen, die so hineinge­

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worfen waren, zu Bergen türmten. Die Christen konnten sie weder beiseiteschaffen noch vor ihnen fliehen und sich nur dadurch vor den herabstürzenden [Leichnamen] retten, dass sie diese, soweit es möglich war, in den Fluten des Meeres versenkten. Bald war die ganze Luft verseucht und [ebenso] das Wasser durch üble Fäulnis vergiftet … Keiner wusste eine Rettung oder konnte einen Weg zu ihr nennen.12

Ob das wirklich so war, lässt sich schwer sagen. Die Pest der 1340er Jahre war zweifellos hochansteckend, doch Gestank allein löst noch keine Krankheit aus. Wie auch immer: Schon bald nach der Belagerung Caffas tauchten erste Pestfälle in Genua und Venedig auf, eingeschleppt von Handels- und Militärschiffen, die durchaus vom Schwarzen Meer gekommen sein könnten. «Als die Seeleute [eintrafen], war es so, als ob sie böse Geister mitgebracht hätten», erinnerte sich de Mussis. «Aufgrund des pestbringenden Kontagiums [Ansteckung] der Krankheit kamen in jeder Stadt, jedem Ort und jedem Land die jeweiligen Bewohner beiderlei Geschlechts sofort um.» In den Städten, in denen Großfamilien unter ­einem Dach in beengten Verhältnissen lebten und es jede Menge Ratten und andere von Flöhen befallene Tiere gab, herrschten ideale Bedingungen für eine Übertragung. «Wenn einer erkrankte, brach er bald zu­ sammen und starb. Dabei infizierte er seine ganze Familie», schrieb de Mussis. «Als die Zahl der Toten anstieg, reichte der Boden für die Begräbnisse nicht mehr aus. Priester und Ärzte, auf die notwendigerweise die Fürsorge für die Kranken zukam, kehrten – wie schmerzlich! –, wenn sie diese besuchten, selbst als Patienten zurück und folgten in Kürze den Verstorbenen nach.»13 Die tödliche Krankheit breitete sich unvorstellbar schnell aus und schien dabei das gesamte Gefüge der normalen Welt zu zerstören. Die Überlebenden waren genauso durcheinander wie die Sterbenden. Es war apokalyptisch. Ein Augenzeuge in Irland hinterließ am Ende seiner Chronik leere Seiten, falls es, wie durch ein Wunder, Über­ lebende geben würde, die sein Werk fortsetzen konnten. «Die Vergangenheit hat uns verschlungen, die Gegenwart nagt an unseren Eingeweiden, die Zukunft droht mit noch größeren Gefahren», klagte de Mussis.14 Er lag gar nicht so falsch. Wer eine Pandemie mit einem tödlichen, sich schnell ausbreitenden

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Erreger miterlebt hat,* wird die hier beschriebene beunruhigende und chaotische Situation im mittelalterlichen Italien in groben Zügen nachvollziehen können, als das Vordringen der Krankheit den normalen Alltag auf den Kopf stellte. Der Schwarze Tod schien seinen eigenen Gesetzen zu folgen. Scheinbar beliebig suchte er die Bevölkerung heim, sprang von Stadt zu Stadt und von Land zu Land, bis er überall war. 1347 gelangte er über das Schwarze Meer nach Konstantinopel und weiter nach Italien, von wo aus er sich rasend schnell überall im Mittelmeerraum verbreitete. Kaufleute schleppten ihn auf ihren Schiffen ins Heilige Land ein, nach Zypern und auf die griechischen Inseln. Reisende brachten ihn über die Alpen ins Heilige Römische Reich und auch nach Böhmen.15 Im Frühjahr 1348 wütete die Pest in Frankreich und gelangte im Sommer nach England; 1349 breitete sie sich nordwärts Richtung Schottland aus und von dort übers Meer nach Skandinavien im Osten und Irland im Westen. Die mittelalterlichen Autoren nannten als Ursache für die Pest den Zorn Gottes, die Sündhaftigkeit der Menschen, das Kommen des Antichristen, die anstehende Wiederauferstehung Friedrichs  II ., die unsittliche Kleidung der Frauen, eine ungünstige Planetenkonstellation, Sodomie, böse Dämpfe, eine jüdische Verschwörung, die Neigung erhitzter und feuchter Menschen, zu viel Sex zu haben und zu oft zu baden, sowie unreifes ­Gemüse, das nach Meinung von Doktoren der Medizin «windige Geschwüre» verursachte.16 Die verzweifelten Menschen versuchten alle möglichen Prophylaxen und Heilmittel, von Quarantäne und Abführmitteln bis zur blutigen Selbstzüchtigung und Gebeten gegen die Pest. Doch die traurige Tatsache lautete, dass die Pest aufgrund der starken Verflechtung der mittelalterlichen Gemeinschaften florierte – und deren fataler Anfälligkeit für eine Infektion, die von der Mobilität der Menschen, der Überbevölkerung und den schlechten hygienischen Verhältnissen profitierte. Yersinia pestis kannte nur ein biologisches Gebot: sich in neuen Wirten zu vermehren. Ohne Mikrobiologie und Impfungen gab es keine medizinischen Möglichkeiten, effektiv auf das Bakterium zu reagieren, außer sich

* Die aktuellste wäre die globale Verbreitung von Covid-19, die sich beim Verfassen dieser Seiten auf einem Höhepunkt befand.

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völlig zu isolieren und geduldig darauf zu warten, dass die Epidemie ­irgendwann abebbte. Wenn der Schwarze Tod erst einmal wütete, war er nicht mehr aufzuhalten. Die erste Welle des Schwarzen Todes dauerte von 1347 bis 1351. In dieser Zeit starben in den besonders stark betroffenen Ländern 60 Prozent der Bevölkerung. Eine entsetzlich hohe Todesrate, die die geschockten Chronisten damals verständlicherweise noch übertrieben: Einige schrieben, dass zum Ende der Pandemie nur noch jeder zehnte Mensch am ­Leben gewesen sei. Und der Schwarze Tod holte nicht nur die Armen. ­Sicher, Reiche waren eher in der Lage, aus den verseuchten Städten zu ­fliehen und sich in die relative Sicherheit ihrer Landgüter zurückzuziehen. Dieses Phänomen verewigte der große italienische Autor Giovanni Boccaccio in seinem Decamerone, einer Sammlung von hundert Kurzgeschichten, die sich eine Gruppe von zehn wohlhabenden jungen Leuten erzählt, nachdem sie vor der Pest aus Florenz aufs Land geflohen sind. Doch Reichtum bedeutete noch lange keine Immunität, man war weder vor der Krankheit an sich geschützt noch vor dem psychischen Trauma des Überlebens. Joan, die geliebte Tochter Eduards  III . von England, starb 1348 in Bordeaux an der Pest, als sie zu ihrer Hochzeit nach Kastilien reiste – eine Tragödie, die ihren Vater zu der Äußerung veranlasste, der Tod «rafft Junge wie Alte dahin, verschont niemanden und stellt Arm und Reich auf eine Stufe».17 Auch Joans angehender Schwiegervater Alfons  XI . starb, ebenso Eleonore von Portugal, die Frau des Königs von Aragón. Der ­byzantinische Kaiser Johann  VI . Kantakuzenos verlor seinen jüngsten Sohn.18 Papst Clemens VI . verlor drei Kardinäle und etwa ein Viertel der Bediensteten seines Haushalts in nicht einmal einem Jahr, als die Pest den Papstsitz in Avignon erreichte. Boccaccios Zeitgenosse Petrarca musste um viele Freunde trauern, darunter auch seine Liebe und Muse Laura. In Briefen, die er schrieb, als die Pandemie Italien noch fest im Griff hatte, fasste Petrarca die Schuldgefühle der Überlebenden zusammen, die damals sicher viele empfanden. In einem Schreiben verfluchte er das Jahr 1348: «Es hat uns einsam und arm gemacht. Denn was es uns geraubt hat, das läßt sich weder vom Indischen Meere her wiedererlangen, noch vom Kaspischen oder vom Karpatischen [Schwarzen] Meer».19 In einem anderen Brief, den Petrarca verfasste, nachdem ihn der Tod eines weiteren

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Freundes erschüttert hatte, schrieb er wie benommen: «Ein Traum ist das Leben, das wir führen, und was immer wir darin tun, ist soviel wie ein Trug. Einzig der Tod zerstreut sowohl Traum wie Trug. Oh wäre uns gegeben, schon vorher zu erwachen.»20 Da Petrarca noch ein Vierteljahrhundert lang nicht «erwachte», erlebte er die Rückkehr des Schwarzen Todes. 1361 und 1369 gab es in Europa weitere schwere Ausbrüche der Pest, ebenso in den 1370er Jahren und erneut in den 1390ern. (Bei der letzten Welle waren anscheinend Jungen und junge Männer besonders schwer betroffen.) Diese weiteren Wellen waren nicht so heftig wie die erste, sorgten aber dennoch für viele Tote und großes Elend und verhinderten, dass sich die Bevölkerungszahlen wieder erholten, die bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus niedrig ­blieben. Der Schwarze Tod war also keineswegs eine vorübergehende ­Erscheinung, nicht einmal aus epidemiologischer Sicht. Vielmehr handelte es sich um eine langwierige, sich hinziehende Pandemie, die etwa die Hälfte der europäischen Bevölkerung das Leben kostete, in anderen Regionen ähnlich hohe Opferzahlen forderte, über Jahrzehnte einen dunklen Schatten auf die Vorstellungskraft der Menschen warf und die westliche Demografie ebenso radikal veränderte wie die politischen und gesellschaftlichen Strukturen, Einstellungen und Ideen. Obwohl die Pest in gewisser Weise ein unerwartetes und unwahrscheinliches Ereignis war, eine Art «Schwarzer Schwan», legte sie doch die Schwächen und die Verwundbarkeit der westlichen Gesellschaft im 14. Jahrhundert offen und inspirierte Überlebende direkt oder indirekt, die Welt, in der sie wie durch ein Wunder am Leben geblieben waren, zu verändern.21 Der Schwarze Tod stand nicht nur für die Sense von Gevatter Tod, sondern auch für ­einen neuen Besen. Er fegte im 14. Jahrhundert kräftig durch. Und danach waren die Dinge nie wieder so wie zuvor.

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Nach der Flut Im September 1349 trat Robert of Avesbury, ein Schreiber, der für den Erzbischof von Canterbury im Lambeth Palace arbeitete, auf die Straßen von London, um sich einen Zug flämischer Flagellanten anzu­sehen. Etwa sechshundert dieser kuriosen Gestalten waren kurz zuvor in der Stadt aufgetaucht und seitdem regelmäßig unterwegs. Zweimal am Tag erschienen sie in ihren einfachen weißen Hemden mit offenem Rücken und ­Kapuzen, darüber trugen sie Hüte, die mit einem roten Kreuz versehen waren. «Jeder hatte eine Geißel mit drei Schwänzen in der rechten Hand», schrieb Robert. «Jeder Schwanz hatte einen Knoten, daran hatten sie viele scharfe Nägel befestigt. Sie marschierten in einer Reihe, einer hinter dem anderen, und schlugen sich mit ihren Geißeln auf den nackten und blutigen Rücken. Vier von ihnen skandierten etwas in ihrer eigenen Sprache, woraufhin ihnen vier andere antworteten wie bei einer Litanei. Dreimal warfen sich alle auf den Boden … und streckten die Arme zur Seite, um ein Kreuz zu bilden. Das Singen hielt an, während einer nach dem anderen über die anderen schritt und dem Mann, der unter ihm lag, einen Schlag mit seiner Geißel verpasste.»22 Zu der Zeit waren die organisierten Geißelungen eine Art kollektiver Wahn. Die Bewegung hatte in den italienischen Städten um das Jahr 1260 ihren Anfang genommen, in einer Zeit der Hungersnöte und schweren kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Ghibellinen und Guelfen. Anschließend griff sie auf Deutschland und Nordwesteuropa über. Die Flagellanten wollten durch organisierte Selbstgeißelung Buße tun für ihre eigenen Sünden und die der Menschen an sich.23 Das war nicht nur eine interessante Umkehrung des Kreuzzugsgedankens, bei dem man andere Menschen im Namen Christi verletzte oder tötete, sondern passte auch perfekt zum Schwarzen Tod, der zu beweisen schien, dass Gott den Menschen zürnte und nun beschwichtigt werden musste. Den Verlauf der Pandemie konnten sie damit natürlich nicht beeinflussen. (Heute würde man sogar eher vermuten, dass tägliche große Versammlungen die Krankheit noch schneller verbreiteten.) Doch die Teilnehmer versuchten es unbeirrt weiter. Ebenso wenig waren Geistliche in den von der Pest betroffenen Ländern davon abzuhalten, wöchentlich oder zweiwöchentlich

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nicht ganz so blutige, aber dennoch von Bußfertigkeit getriebene Pro­ zessionen zu veranstalten, bei denen die verzweifelten Menschen Gott anflehten, sie zu verschonen. In einem Brief an die englischen Bischöfe erklärte Eduard  III . 1349, wie man sich das damals vorstellte. «Beten, Fasten und die Ausübung von Tugend» sollten Gott dazu veranlassen, «Seuche und Krankheit von uns zu nehmen und uns Frieden und Ruhe und die Gesundheit von Körper und Geist zu schenken».24 Zahllose Herrscher drängten auf ähnliche Maßnahmen, doch alle ohne Erfolg. Die unmittelbaren religiösen Reflexe, die der Schwarze Tod auslöste, waren jedoch nur ein kleiner Teil der menschlichen Reaktion auf die Epidemie. Die erste wirtschaftliche Auswirkung der Pandemie war ein Chaos bei Preisen und Löhnen. Mit dem Höchststand der europäischen Bevölkerung zu Beginn des Jahrhunderts hatte es genügend Arbeitskräfte gegeben, von denen viele als Unfreie an einen bestimmten Grundherrn und dessen Land gebunden waren. Doch als jeder Zweite starb, wurde die Welt auf den Kopf gestellt. Plötzlich war Arbeitskraft ein gefragtes Gut. Der Chronist Henry Knighton berichtet über das Jahr 1349: «Die Ernte verdarb auf dem Feld, weil es niemanden gab, der sie einbrachte.» Und selbst wenn man willige Arbeitskräfte fand, schnellten die Kosten für die Grundbesitzer in die Höhe.25 Der abrupte Bevölkerungsrückgang ließ auch die Pachtzahlungen einbrechen. In einer Situation, in der einige Dörfer völlig entvölkert und für immer aufgegeben wurden, war Land plötzlich spottbillig, und die Grundbesitzer mussten nach Pächtern suchen. Es überrascht nicht, dass die doppelte Belastung durch steigende Löhne und sinkende Pachten Panik in der politischen Gesellschaft auslöste, deren mächtigste Mitglieder ihre Herrscher um Hilfe baten, um sie vor dem ­finanziellen Ruin zu bewahren. In England handelte man schnell. 1349 und 1351 verabschiedete die ­Regierung unter Eduard III . eilig Gesetze (die Ordinance of Labourers, die Verordnung zu den Arbeitern, und das Statute of Labourers, das Arbeiterstatut), die es Arbeitern verboten, höhere Löhne als vor der Pandemie zu verlangen. Das wurde gesetzlich genau festgelegt: 5 Pence am Tag fürs Mähen, 3 Pence am Tag für Zimmer- oder Steinmetzarbeiten, 2½ Pence für das Dreschen von Getreide und so weiter. Gleichzeitig wurde jede arbeits-

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fähige Person unter sechzig gesetzlich zur Arbeit verpflichtet. Betteln wurde verboten. Arbeiter durften den Ort, an dem sie tätig waren, nicht verlassen, und Arbeitgebern war es verboten, sie abzuwerben, indem sie Löhne anboten, die über den von der Regierung festgelegten Grenzen ­lagen. Verstöße gegen das Gesetz wurden streng geahndet. Laut Knighton (der in einer Abtei in Leicestershire lebte und daher fest aufseiten der Grundbesitzer stand) waren die Arbeiter «so arrogant und widerspenstig», dass sie weiterhin höhere Löhne forderten und die Arbeitgeber ­praktisch erpressten. Das hatte zur Folge, dass hohe Strafen gegen «Äbte, ­Prioren, Ritter … und andere von hohem und niederem Rang im ganzen Königreich» verhängt wurden. Gleichzeitig «ließ der König viele Arbeiter festnehmen und ins Gefängnis werfen; viele entkamen und flohen eine Zeit lang in die Wälder, und diejenigen, die gefangen wurden, wurden hart bestraft.»26 Der Text des Arbeiterstatuts machte keinen Hehl daraus, wem die Sympathien der Gesetzgeber galten: Das Gesetz sei darauf ausgerichtet, so wurde es formuliert, «die Bösartigkeit der Bediensteten» zu verringern.27 Diese Haltung  – Arme zu verachten mit Ausnahme der wenigen ­Si­tuationen, in denen sie an Jesus erinnerten – war ganz typisch für die hierarchischen, aristokratisch geführten Gesellschaften des Spätmittel­ alters. Doch mitten in einer Pandemie war sie auch gefährlich. Die Heimsuchung durch den Schwarzen Tod war mehr als nur ein finanzielles Pro­ blem, das durch Gesetze behoben werden konnte. Die Pest bewirkte eine unmittelbare und drastische Umstrukturierung der europäischen Demografie, was bedeutete, dass die Macht plötzlich bei den einfachen Menschen lag. Dadurch kam es in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu einem jähen Anstieg gewalttätiger Volksaufstände gegen die etablierten Autoritäten. Sie begannen, kaum dass das Wüten der Epidemie nach­ gelassen hatte, und hielten bis zum Ende des dramatischen Jahrhunderts an.28 Im Verlauf des gesamten Mittelalters kam es immer wieder zu Volksaufständen. Es wäre auch seltsam, wenn es anders gewesen wäre. Die meisten Menschen im Mittelalter waren Kleinbauern, nach der Jahrtausendwende ergänzt durch die arme Bevölkerung in den Städten und

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Siedlungen.29 Das Leben dieser Menschen kann man aus unserer heutigen Sicht nur als furchtbar beschreiben, daher gab es im Mittelalter unweigerlich immer wieder Momente, in denen Gruppen von Besitzlosen zu dem Schluss kamen, dass das nicht einfach der Lauf der Welt sein konnte, ­sondern ihre Herren schuld an ihrer Lage waren. Und so tat sich das Volk hin und wieder zusammen und ließ seiner Wut freien Lauf, damit sich ­etwas änderte. Beispiele dafür gibt es genug. In den letzten drei Jahrhunderten des Weströmischen Reichs kam es in Südgallien und Hispanien gelegentlich zu Volksaufständen der sogenannten Bagaudae, bewaffneten Bauern und Hirten.30 Konstantinopel wurde im 3. Jahrhundert durch den Nika-Aufstand in Schutt und Asche gelegt.* Zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert gab es schwere Unruhen in italienischen, französischen, flämischen und englischen Städten. In der gleichen Zeit brachen von Sizilien bis Skandinavien Rebellionen auf dem Land aus. Auslöser waren normalerweise Streitigkeiten zwischen Grundherren und ihren abhängigen Bauern oder ihren Arbeitern; entweder ging es um das Recht der Grundherren, ihre Autorität über die traditionell «freien» Menschen auszuüben, oder (in Gegenden, in denen die Grundherrschaft fester verankert war) über die Art und den Umfang des Frondienstes, den die Bauern als Grundlage ­ihrer Existenz leisten mussten. Einige dieser Aufstände waren tatsächlich reine Volksaufstände  – spontane Protest- und Gewaltorgien, bei denen nur die wirklich Benachteiligten ihrer Wut freien Lauf ließen. Andere könnte man heutzutage aber auch als populistisch bezeichnen. Das heißt, dass sie einem Modell entsprachen, das mindestens so alt wie die Römische Republik war (und zu Beginn des 21. Jahrhunderts wieder schwer in Mode gekommen ist), bei dem reiche und zynische Politiker die Armen mobilisierten und versuchten, deren berechtigten Zorn für ihre Zwecke zu nutzen und gegen andere Eliten zu lenken. Revolten in dieser oder anderen Formen hatte es in den 840er Jahren in Sachsen, 1030 in Norwegen, 1111 in Kastilien und in den 1230er Jahren in Friesland gegeben.31 Aufstände erschütterten die Tuchmacher-Städte in

* Siehe Kapitel 3.

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Flandern in den 1280er Jahren und flammten auch danach immer wieder auf. Einige hatten gravierende Folgen. Die norwegischen Rebellen töteten ihren König Olav Haraldsson «den Stämmigen»; ein Aufständischer ­namens Tore Hund stieß ihm einen Speer in den Leib.32 Die friesischen Rebellen, die Stedinger, sorgten für so viel Chaos, dass Papst Gregor  IX . zum Kreuzzug gegen sie aufrief.33 In Brügge fiel eine Gruppe Stadtbewohner 1302 über einen französischen Soldaten her und schnitt ihn in Scheiben «wie einen Thunfisch».34 Aufstände waren immer beängstigend und für viele abscheulich; in einer Zeit, in der es noch keine modernen Vorstellungen von Demokratie oder sozialer Gleichheit gab, wurden Demonstrationen der Macht des Volkes von den meisten Eliten verachtet. Der eng­ lische Dichter John Gower brachte das unter der wohlhabenden ländlichen und städtischen Bevölkerung verbreitete Gefühl auf den Punkt, dass ein Volksaufstand eine Art Naturkatastrophe war, die man fürchten, mit der man aber auch rechnen musste. «Es gibt», so schrieb er, «drei Dinge, die, wenn sie die Oberhand gewinnen, gnadenlose Zerstörung anrichten. Das eine ist eine Überschwemmung, das andere ein wütendes Feuer, und das dritte ist das Volk, also die gemeinen Leute, denn sie lassen sich nicht aufhalten, weder durch Vernunft noch durch Disziplin.»35 Gowers Feststellung stammt aus den 1370er Jahren. Er hatte guten Grund für seinen Pessimismus. Etwa zwanzig Jahre zuvor war der nördliche Teil des nahen Königsreichs Frankreich von einem Aufstand erschüttert worden, den man La Grande Jacquerie nannte. Ende Mai 1358 hatte eine Gruppe aufgebrachter Dorfbewohner in Saint-Leu-d ’ Esserent etwa 60 Kilometer nördlich von Paris an der Oise lokale Adlige angegriffen und getötet oder aus ihren Häusern vertrieben.36 Laut einem Bericht, den ein Kleriker aus Lüttich namens Jean le Bel verfasst hatte, handelte es sich um etwa hundert Dörfler «ohne Waffen, abgesehen von Eisenstangen und Messern».37 Dennoch erzielten sie einen beeindruckenden Sieg über die gesellschaftlich Bessergestellten und lösten damit eine Welle der ­Gewalt aus, die schnell auf ganz Nordfrankreich und die Normandie übergriff. In den beiden folgenden Wochen taten sich Dorfbewohner in der Region unter der Führung eines gewissen Guillaume Caillet zusammen und griffen Ziele an, die für Reichtum, Macht, Privilegien und eine inkompe-

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tente Regierung standen. Die Rebellen – Männer und Frauen, deren Zahl am Ende in die Zehntausende ging – wurden «les Jacques» genannt, in Anspielung auf das Pseudonym «Jacques Bonhomme», das sich viele ­gaben oder von ihren Feinden erhielten.38 Für die französischen Chronisten ­waren die Jacques «böse Menschen … dunkle, kurzgewachsene und schlecht bewaffnete Bauern», die sich vor allem durch ihre Unwissenheit und Gemeinheit auszeichneten.39 Und ihre Taten wurden natürlich als entsetzlich grausam beschrieben: Sie steckten Häuser in Brand oder zerstörten sie, stahlen hemmungslos, vergewaltigten und mordeten. In Wirklichkeit waren viele Jacques wohl bemerkenswert zurückhaltend und richteten ihre Zerstörung vor allem gegen diejenigen, die ihrer Meinung nach nicht kompetent herrschten oder ungerecht regierten. Dennoch wurden die Berichte, je weiter sich die Nachricht vom Aufstand verbreitete, immer wilder übertrieben. In einer Darstellung aus Nord­ england wird das Feindbild «Jak Bonehomme» beschrieben als «hoch­ fahrender und arroganter Mann mit dem Herzen Luzifers», der fast zweitausend Rebellen kommandiere, organisiert in drei Bataillonen, die durch das gesamte französische Königreich marschieren würden und «große Beute machen im Land und keinen Gentleman und keine Lady verschonen. Wenn sie … Burgen und Städte eingenommen hatten, nahmen sie die Frauen der Herren, schöne Damen und von tadellosem Ruf, und schliefen mit ihnen gegen ihren Willen … Und an vielen Orten riss dieser Jak Bonehomme Ungeborene aus den Bäuchen ihrer Mütter und [die Rebellen] löschten ihren Durst mit dem Blut dieser Kinder und rieben ihre Körper in Missachtung Gottes und der Heiligen damit ein.»40 Ein anderer Autor behauptete, die Rebellen würden Feuer machen und Ritter auf Spießen über den Flammen rösten. Wie viel davon stimmt, ist fraglich. Die Jacques, die sich im Mai und Juni 1358 erhoben, waren sicher wütend, zahlreich und gewalttätig. Aber nicht nur sie. Nach genau zwei Wochen wurde der Aufstand bei einer ­kurzen konzertierten Militäraktion unter Führung Karls  II . niedergeschlagen. Karl, auch «der Böse» genannt, war König von Navarra und ein besonders skrupelloser und inkompetenter Adliger, der mit Johanna, einer Tochter des französischen Königs, verheiratet war. Guillaume Caillet wurde gefoltert und enthauptet. Viele derjenigen, die beschuldigt wurden,

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sich am Aufstand beteiligt zu haben, wurden aufgespürt. Ihre Dörfer wurden zerstört und ihre Ernte vernichtet. Die Rebellen hatten kein Monopol auf Brutalität. Wenn man die genaueren Umstände berücksichtigt, könnte man sogar sagen, dass den Jacques ziemlich übel mitgespielt wurde. Nach dem Schwarzen Tod war die Not in Frankreich groß. Das Land hatte nicht nur vierzig Jahre Missernten und Seuche hinter sich, sondern steckte auch mitten im Hundertjährigen Krieg. Seit Jahrzehnten verwüsteten englische Truppen und Söldnerkompanien, die sogenannten routiers, weite Teile Nordfrankreichs und der Gascogne. In der Schlacht von Poitiers 1356 war der französische König Johann II . gefangen genommen worden; zur Zeit der Jacquerie befand er sich in London in Haft. In Paris rangen mehrere Fraktionen um die Macht, darunter der Dauphin Karl, der König von ­Navarra, ein Pariser Kaufmann namens Etienne Marcel und der Bischof von Laon. Als der Jacquerie-Aufstand losbrach, waren Marcel und der Dauphin kurz davor, sich gegenseitig zu bekriegen. Ihre Armeen standen bereits vor Paris, und es gibt guten Grund zu der Annahme, dass Marcel die Unruhen auf dem Land schürte, um seine Sache in der Hauptstadt ­voranzubringen. Das wäre in jedem Zeitalter ein heilloses Durcheinander gewesen. In einem Reich, das gerade die schlimmste Pandemie seit achthundert Jahren durchgemacht und dabei etwa die Hälfte seiner Bevölkerung verloren hatte, war eine solche Inkompetenz jedoch unerträglich. Theoretisch hätte das Leben nach dem Schwarzen Tod für die Überlebenden etwas leichter sein müssen, da ihnen mehr Land zur Verfügung stand, es hätten die Pachtzahlungen niedriger, die Löhne höher und die Aussichten allgemein besser sein müssen. Doch in Frankreich schien alles nur noch schlimmer zu werden. Die moderne Forschung hat ergeben, dass die Anführer der Jacquerie  – Guillaume Caillet und seine Hauptmänner  – keine bettel­ armen Bauern und Unfreie waren, sondern relativ wohlhabende, gebildete Landbesitzer, Handwerker und Männer in anderen Berufen, die mehr erwarteten als das, was sie bekamen, und in der Lage waren, den Zorn ihrer Gemeinschaften in Worte zu fassen, zu kanalisieren und gegen ein System zu richten, das sie offensichtlich im Stich ließ.41 Dass sie scheiterten und dass ihr Aufstand später zu einem Synonym für rücksichtslose, blutrüns-

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tige und bäuerliche Barbarei geworden ist, bedeutet nicht, dass ihre Beschwerden unbegründet waren oder von uns heute nicht mehr nachvollziehbar sind.

Würmer der Erde So, wie der Schwarze Tod von 1347 bis 1351 in Kombination mit den zermürbenden Auswirkungen des Hundertjährigen Krieges die Grundlage für die Jacquerie von 1358 bildete, vollzog sich eine Generation später in anderen europäischen Regionen eine ähnliche Entwicklung. Dieses Mal waren die Unruhen nicht auf Frankreich beschränkt. In Italien, England, Flandern und der Normandie schwelte der Volkszorn in den Städten und ihrem Umland und brach sich immer wieder in Aufständen Bahn. Diese Rebellionen waren selten koordiniert und standen nicht einmal in einem direkten Zusammenhang. Doch sie zeigten, wie brüchig die öffentliche Ordnung im ausgehenden 14. Jahrhundert war und wie die Bewohner ­einer Welt im Umbruch über deren zukünftige Gestaltung aneinander­ gerieten. Im Jahrzehnt nach der Jacquerie kam es in ganz Europa immer wieder zu populären und populistischen Unruhen. Auslöser war oft ein Streit um die Besteuerung, die Regierungen überall in Europa seit Jahrzehnten ausweiten wollten, um auch das Vermögen der gewöhnlichen Leute, die traditionell kaum besteuert worden waren, stärker anzuzapfen. 1360 kam es in Tournai zu einem Steueraufstand, bei dem Gefängnisse gestürmt und die Häuser reicher Kaufleute geplündert wurden. Im selben Jahr bildete sich in Pisa, dessen Wirtschaft zu der Zeit am Boden lag, ein mörderisches Komplott, «bei dem sie eine große Zahl der Mächtigen, die die Regierung der Stadt kontrollierten, töteten, wo immer sie sie finden konnten, ent­ weder allein oder zusammen».42 Etwa zur gleichen Zeit begann in Südfrankreich der sogenannte ­Tuchineraufstand, bei dem die geplagte Landbevölkerung aufbegehrte, um «nicht mehr länger das Joch der Subsidien [Steuern] tragen zu müssen».43 Sie waren Aussteiger, wie wir heute sagen würden, wollten autark leben und bildeten dazu Brigantenbanden, die sich «zu Feinden der Kir-

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chenleute, Adligen und Kaufleute erklärten». Feindselige Chronisten verbreiteten Horrorgeschichten über die Verbrechen der Tuchins (so der ­okzitanische Name, die Herkunft ist unklar): Angeblich wurde ein schottischer Gesandter namens John Patrick auf dem Weg nach Avignon von den Tuchinern gefangen genommen: Seine Häscher «ermordeten ihn grausam, indem sie ihn mit einem Dreifuß aus glühendem Eisen krönten». Ein anderes Opfer, ein Priester, der nach Rom reiste, wurde ebenfalls zu Tode gefoltert: «Sie schnitten ihm die Enden seiner Finger ab, zogen ihm mit einer großen Schere die Haut vom Körper und verbrannten ihn dann bei lebendigem Leib.»44 Diese und ähnliche Schauergeschichten über die Tuchiner sorgten zwanzig Jahre lang für Unruhe in Südfrankreich, allerdings kann es natürlich sein, dass jede Freveltat in dieser Zeit einfach den Tuchinern zugeschrieben wurde und dass jede Gruppe von Übeltätern, Protestierenden, Kriminellen und Tunichtguten, die schnell berühmt und berüchtigt werden wollte, sich als Tuchiner bezeichnete, um dem eigenen Ruhm etwas auf die Sprünge zu helfen.* Wie auch immer, die Tuchinerbewegung hielt sich mit Unterbrechungen über zwanzig Jahre und bildete damit den Auftakt für eine massive Häufung gewaltsamer Aufstände in den Jahren 1378 bis 1382. In den 1370er Jahren stieg die Zahl der Pestinfektionen nach dem ersten großen Schock in den 1340er Jahren und den anschließenden Wellen in den 1360er Jahren erneut stark an. In dieser angespannten Lage ­kamen Prophezeiungen und ebenso kuriose wie wunderverheißende ­Gerüchte auf. In Florenz wurde ein Bettelmönch dadurch berühmt, dass er für das Jahr 1378 «seltsame Neuerungen, Ängste und Schrecken» voraussagte. Die «Würmer der Erde» würden auf grausame Weise Löwen, Leoparden und Wölfe verschlingen, außerdem komme der Antichrist, Muslime und Mongolen würden sich verbünden, um in Italien, Deutschland und Ungarn einzufallen, und Gott werde eine Flut senden, die es mit der Sintflut zu Noahs Zeiten aufnehmen könne, und die reichen

* Wie es ja auch heute bei internationalen Terrormarken wie al-Qaida oder dem IS der Fall ist.

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Florentiner Bürger würden sich mit dem gemeinen Volk zusammentun, um «alle Tyrannen und falschen Verräter zu töten».45 Weder die Monsterwürmer noch der Antichrist oder die Überschwemmung kamen, und der Mönch wurde auf Anweisung des Papstes ins Gefängnis gesteckt. Doch was den Volksaufstand anging, sollte er erstaunlicherweise recht behalten. 1378 begann in Florenz der Ciompi-Aufstand, bei dem sich Hand­ werker, die aus dem Zunftsystem mit seinen oligarchischen Strukturen ausgeschlossen waren, mit verarmten Wollarbeitern verbündeten, rebellierten und die Kontrolle über den Stadtrat übernahmen. Sie stellten eine revolutionäre Regierung, die in verschiedenen Formen fast dreieinhalb Jahre lang bestand und erst durch eine Gegenrevolution der alteingesessenen reichen Florentiner Familien gestürzt wurde. Der Ciompi-Aufstand wirkte oft wie ein echter Klassenkampf – und war es auch. Sein erster Anführer, ein alter Gemüsehändler, der eine Fahne schwang, die als «Banner der Gerechtigkeit» bezeichnet wurde, äußerte wenig Bemerkenswertes ­außer dem Satz: «Lang lebe das Popolo Minuto!» (die «kleinen Leute»). Das war jetzt keine große Redekunst, aber ein Satz, der die sozialen Spaltungen in Florenz, die in den 1370er Jahren deutlicher hervorzutreten schienen als je zuvor, auf den Punkt brachte. Ein anonymer aristokratischer Tagebuchschreiber aus Florenz berichtet, die Rebellen hätten in einer frühen Phase des Aufstands «einen Galgen auf der Piazza della Signoria errichtet, wo sie die hohen Tiere hängen wollten», und gleichzeitig die Anweisung erteilt, jeden, der einen Umhang trug (als grobes Erkennungsmerkmal aller «hohen Tiere»), «ohne Prozess oder Vorwarnung» zu töten.46 Der Galgen kam nicht zum Einsatz, trotzdem nahm die Revolution einen gewaltsamen Verlauf. Unter anderem wurde ein unglückseliger Notar, der für den 1378 gestürzten Stadtrat arbeitete, auf der Straße von einem Mob getötet. Derselbe Tagebuchschreiber berichtet: Jemand … verpasste ihm einen Schlag mit der Axt und spaltete seinen Schädel in zwei Hälften; dann riss ihn [die Menge] an den Achselhöhlen auseinander, sein Gehirn quoll heraus und das Blut sprudelte über die Straße … anschließend schleiften sie ihn auf dem Boden zum Fuß des

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Galgens auf der Piazza dei Priori, wo sie ihn an den Füßen aufhängten. Alle schnitten sich kleine Stücke von ihm ab, die sie auf ihre Lanzen und Äxte spießten und durch die Stadt trugen, durch die Straßen und in die Vororte.47

Die Revolution blieb während ihrer langen Dauer nicht die ganze Zeit so blutig, und als die Oligarchen 1382 an die Macht zurückkehrten, handelten sie überraschend milde und stellten lieber die Einheit der Stadt wieder her, als grausame Rache an den Rebellen zu üben. Dennoch hatten die «kleinen Leute» von Florenz gezeigt, was möglich war, wenn sie das Gefühl hatten, dass auf ihren Rechten herumgetrampelt wurde, und zu welchen Mitteln sie griffen, wenn ihre Not nicht erkannt wurde. Und sie waren nicht die Einzigen. In Frankreich kam es in den letzten Jahren der Regierungszeit Karls  V . in den Städten des Südens zu massiven Unruhen aufgrund der Besteuerung, etwa in Le Puy, Montpellier und Béziers, wo die Aufstände 1379 ihren Höhepunkt erreichten. 1380 flammten die Proteste nach der Ernennung von Karls zwölfjährigem Sohn Karl VI . erneut auf, diesmal in den nordfranzösischen Städten und Orten, wo sich populistisch gesinnte betuchte Bürger und Adlige mit dem Mob verbündeten. Die Stadt Paris und das Umland wurden von heftigen Unruhen erschüttert; es gab Angriffe auf öffentliche Gebäude und Steuer­ eintreiber sowie Überfälle auf Juden und deren Eigentum. In den beiden folgenden Jahren brachen weitere Steueraufstände in der normannischen Hauptstadt Rouen, in Laon, der Picardie und in Städten wie Utrecht in Flandern aus. Im Januar 1382 erhoben sich erneut die Einwohner von ­Paris. Beim «Aufstand der Maillotins» liefen die «Hammerleute» aus Protest gegen eine Besteuerung mit «Eisen-, Stahl- und Bleischlegeln» Amok, verprügelten königliche Beamte und demolierten Häuser. In dieser aufgeheizten Periode hatte ein Zeitgenosse das Gefühl, das ganze Reich stehe am Abgrund, weil «im gesamten Königreich Frankreich der Hunger nach Freiheit und der Wunsch, das Joch der Abgaben ab­ zuschaffen, brannte; eine ungeheure Wut braute sich zusammen.»48 Mit seiner Einschätzung lag er wohl richtig. Die Jacquerie 1358 war innerhalb eines Monats erledigt gewesen. Bis die Aufstände, die 1378 begonnen hatten, wieder abebbten, vergingen mehrere Monate  – und als überall in ­Europa Revolutionen aufflammten, wurde den Regierungen schnell klar,

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dass der Schwarze Tod einiges verändert hatte und man in dieser neuen Zeit die Ansichten und Interessen der gemeinen Leute berücksichtigen musste, andernfalls drohten massive Konsequenzen. Diese Lektion wurde nirgendwo so deutlich wie in England, wo eine Rebellion im Sommer 1381 die königliche Regierung beinahe in die Knie gezwungen hätte.

Sommer des Blutes Wie bereits erwähnt, reagierte die Regierung König Eduards  III . rasch auf die wirtschaftlichen Auswirkungen des Schwarzen Todes, indem sie Gesetze verabschiedete, die Löhne einfrieren und verhindern sollten, dass die Pandemie das grundlegende Verhältnis zwischen reichen Grundherren und ihren Bauern veränderte. Damit die Vorgaben einge­ halten wurden, setzten Eduards Minister Kommissionen ein, die illegale Lohnerhöhungen untersuchten und diejenigen bestraften, die von einer Entwicklung zu profitieren versuchten, die wir heute als den grundlegenden Marktmechanismus von Angebot und Nachfrage betrachten würden. Verstöße wurden nicht nur unmittelbar nach der ersten Welle der Pandemie mit Geld- und Haftstrafen geahndet, sondern auch noch eine ganze Generation später. Die Durchsetzung des Arbeiterstatuts wurde zu einer Art offiziellen Obsession. Als sich Eduards Regierung in den 1370er Jahren dem Ende näherte, waren über zwei Drittel der Fälle, mit denen sich die königlichen Gerichte befassten, Verstöße gegen das Arbeiterstatut.49 Doch Arbeiter wurden auch noch auf andere Weise ins Visier genommen. In England gab es eine lange Tradition der Leibeigenschaft, bei der Bauern durch Geburt an das Land gebunden waren: Sie waren ihrem Herrn verpflichtet, mussten Frondienst leisten und brauchten seine Erlaubnis, um zu heiraten, zu erben oder seine Ländereien zu verlassen. Mitte des 14. Jahrhunderts verschwand dieses System allmählich, wurde von vielen Grundherren jedoch nach dem Schwarzen Tod wiederbelebt, indem viele Adlige die mit ihrem Landsitz verbundene Gerichtsbarkeit nutzten, um ihren Bauern alte, vergessene Verpflichtungen zur unbezahlten Arbeit aufzudrücken.50 Die Dorfbewohner versuchten sich zu wehren und beauftragten Anwälte,

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­Kopien des Domesday Book zu besorgen, das im Auftrag Wilhelms des ­Eroberers zusammengestellt worden war;* sie hofften, dass die darin ent­ haltenen Unterlagen alte Rechte enthielten, die bewiesen, dass sie von der Ausbeutung ausgenommen waren.51 Doch ihre Mühe war vergeblich. Gleichzeitig ließ die Qualität der englischen Regierungsführung immer mehr zu wünschen übrig. Auf seinem Höhepunkt war Eduard  III . ein brillanter und inspirierender König gewesen, einer der begabtesten der Plantagenet-Dynastie. Doch Mitte der 1370er Jahre hatte er fast fünfzig Jahre lang regiert. Er war körperlich gebrechlich, verlor allmählich den Verstand und war umgeben von einem korrupten Hofstaat, allen voran seine skrupellose Mätresse Alice Perrers, die dessen Dekadenz perfekt verkörperte. Der Hundertjährige Krieg, bei dem in den 1340er und 1350er Jahren einige ruhmreiche Siege errungen worden waren, kostete mittlerweile weit mehr, als er einbrachte. Und ganz offensichtlich gab es keine Ausstiegsstrategie. Steuereinnahmen, die für den Krieg bestimmt waren, verschwanden in den Schatullen der Höflinge. Französische Piraten be­ lästigten die süd- und ostenglischen Hafenstädte. 1376 tadelte das sogenannte «Gute Parlament» einige königliche Beamte. Im folgenden Jahr starb Eduard III . Sein ältester Sohn, ein talentierter Krieger und Kriegsheld, der heute als der «Schwarze Prinz» bekannt ist, war bereits tot. Das bedeutete, dass die englische Krone an Eduards Enkel ging, den neun­ jährigen Richard von Bordeaux. Wie 1380 in Frankreich erfolgte ein wichtiger Regierungswechsel mit einem neuen Monarchen in einem Moment großer Unzufriedenheit und einer allgemeinen Kriegsmüdigkeit. Der neue König war ein Kind. Das würde Probleme geben. Der Aufstand in England begann im Frühsommer 1381 in einigen Dörfern im Mündungsgebiet der Themse in Essex und Kent. Wie überall in

* Das Domesday Book war eine umfassende Bestandsaufnahme von Land, Rechten und Menschen, die auf Wilhelms Anordnung nach der normannischen Eroberung vorgenommen wurde und 1086 abgeschlossen war. Eine interessante Parallele aus der heutigen Zeit ist ein Gerücht, das 2020 während des Corona-Lockdowns in England kursierte: Geschäftsinhaber redeten sich gegenseitig ein, dass sie von der ­offiziellen Anweisung, ihre Geschäfte zu schließen, ausgenommen wären, wenn sie den Text der Magna Carta von 1215 in ihren Geschäftsräumen aushängen würden.

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Europa war der Auslöser eine unbeliebte Steuer. Die Regierung des minderjährigen Königs Richard  II . experimentierte seit einigen Jahren mit neuen Möglichkeiten, um an das Geld der englischen Bevölkerung zu kommen, und hatte drei aufeinanderfolgende Kopfsteuern eingeführt, die alle extrem unpopulär waren und so gut wie möglich umgangen wurden. Um Ostern war einem Steuereintreiber in der Nähe von Biceser in Oxfordshire aufgelauert und eine Tracht Prügel verpasst worden. Weitere Kommissionen wurden durchs Land geschickt, um Steuersünder aufzuspüren und derartige Vorfälle zu ahnden. Doch sie machten alles nur noch schlimmer. Schon bald waren Gerüchte über das Fehlverhalten der Steuer­ eintreiber und Inspektoren im Umlauf; unter anderem wurde behauptet, die Beamten würden die Röcke junger Mädchen heben, um zu sehen, ob sie alt genug waren, um Steuern zahlen zu müssen. Bei einer Gerichtssitzung am 30. Mai in der Marktstadt Brentwood in Essex hatten die Einwohner genug von den Eintreibern und ihren (angeblich hinterhältigen) Methoden. Die Dorfbewohner, die sich in der Stadt zur Sitzung des Gerichts versammelt hatten, erklärten den königlichen Beamten, sie würden die Steuern nicht zahlen. Auf ein offenkundig zuvor vereinbartes Signal vertrieben sie die Beamten aus der Stadt. Dann sandten sie Botschaften an verbündete Ortschaften auf beiden Seiten der Themse und forderten sie auf, es ihnen nachzutun. Die Botschaft verbreitete sich wie ein Lauffeuer. In der ersten Juniwoche 1381 war bereits der gesamte Südosten Englands in Aufruhr. Wie in Frankreich während der Jacquerie war auch der englische Aufstand von 1381 nicht auf die Ärmsten der Gesellschaft beschränkt.* Vielmehr wurde er von der Mittelschicht, wie wir heute sagen würden, geführt: nicht von Rittern oder Grundherren, sondern dörflichen Eliten, die in der Gemeinschaft eine gewisse Verantwortung trugen, etwa als Con­ stables oder Gemeindepriester. Das «Fußvolk» waren dann meist Handwerker wie Zimmerleute, Steinmetze, Schuster, Abdecker und Weber.52

* Die Bezeichnung «Bauernaufstand» für die Unruhen von 1381 geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Zeitgenössischer und mit bewusster Bezugnahme auf die Brutalität mittelalterlicher Schlagballspiele ist «The Hurling Time».

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Die berühmtesten Anführer waren Wat Tyler, der vermutlich bei einem Feldzug im Hundertjährigen Krieg in Frankreich mitgekämpft hatte, und John Ball, ein Priester, der ursprünglich aus Yorkshire stammte und den Behörden gut bekannt war, weil er eine egalitäre Glaubenslehre gepredigt hatte, die ihm eine Haftstrafe in Canterbury wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses eingebracht hatte. Beim Aufstand war Tyler praktisch der Hauptmann der Rebellen von Essex und Kent, während Ball als ihr geistlicher Führer fungierte. Anfang Juni marschierten Tyler, Ball und Tausende Gleichgesinnte die Themse hinauf Richtung London, wo sie sich mit unzufriedenen Lehrlingen und Arbeitern zusammentun wollten, um gegen die Inkompetenz der Minderheitsregierung von Richard  II . zu ­demonstrieren. Die Bewegung entwickelte eine große Dynamik und gab den Beteiligten Selbstvertrauen, immer mehr schlossen sich ihr an – kein Grundherr wagte es, sich ihnen in den Weg zu stellen. Am 12. Juni, einem Mittwoch, lagerten die Rebellen vor den Toren Londons bei Blackheath. Dort empfingen sie eine Delegation der Londoner Stadträte, die ihnen eine Botschaft des Bürgermeisters William Walworth überbrachte, in der er sie aufforderte, der Stadt fernzubleiben. Die Botschaft wurde ignoriert. In Blackheath hielt Ball eine berühmte Predigt, deren Botschaft in dem Zweizeiler «Als Adam grub und Eva spann, wo war da der Edelmann?» zusammengefasst wurde. Diese rhetorische Frage kündet von der tiefen Abneigung gegen den Adel, die für den Aufstand ­typisch war, sowie von der Überzeugung der Rebellen, sie hätten Gott auf ihrer Seite. Für den jungen König Richard hegten sie jedoch eine naive Zuneigung und sahen in ihm nicht die Quelle der Tyrannei, sondern betrachteten ihn als Opfer korrupter Höflinge. Sie behaupteten, sie würden für «König Richard und die wahren Commons» stehen, und jeder, der sich zwischen König und Volk stelle – ob im wörtlichen oder übertragenen Sinn – werde von ihnen als Freiwild betrachtet. Am Morgen des 13. Juni zogen Wat Tyler und seine Männer von Blackheath nach Rotherhithe. Dort wurden sie von ihrem jungen Helden besucht, dem König persönlich, und von einigen seiner engsten Berater, die vom Londoner Tower den Fluss hinuntergerudert worden waren. Doch die königliche Gesellschaft wagte nicht, das Schiff zu verlassen, um mit den am Ufer versammelten Rebellen zu verhandeln, die ein einschüch-

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terndes Bild abgegeben haben müssen. Diese Zurückhaltung frustrierte den Mob, der daraufhin Southwark plünderte, den großen Londoner Vorort auf der Südseite der Themse, und anschließend zur London Bridge weiterzog. Eigentlich war es unmöglich, die Stadt von Süden her zu stürmen, weil die Brücke abgesperrt werden konnte. Doch Sympathisanten der Rebellen öffneten ihnen die Absperrungen, so dass Zehntausende Aufständische über die Brücke in die Stadt strömten. Es folgten zweieinhalb Tage des mehr oder weniger organisierten Chaos, das sich tief ins kollektive Gedächtnis der Londoner einprägen sollte. Gefängnisse wurden gestürmt und die Häftlinge freigelassen. Gerichtsunterlagen wurden beschlagnahmt und auf der Straße verbrannt. Der Savoy Palace, die prächtige Residenz von John of Gaunt, dem Onkel des Königs, wurde geplündert und niedergebrannt. Überall war der Teufel los. Am Freitag, dem 14. Juni, lud König Richard die Rebellen ein, eine ­Delegation zu entsenden, die sich mit ihm außerhalb der Stadttore bei Mile End treffen sollte. Die Delegierten nannten ihm Forderungen, die die im Gefolge des Schwarzen Todes erlassenen Arbeitsgesetze praktisch auf den Kopf stellten: Die Leibeigenschaft sollte offiziell abgeschafft, Pachtzahlungen sollten auf 4 Pence pro Morgen begrenzt und Arbeitsverträge regelmäßig neu ausgehandelt werden. Richard gab allen Forderungen nach. Und er sagte den Aufständischen, wenn sie ihm persönlich Verräter überbrächten, würde er für Gerechtigkeit sorgen. Dieses fatale Versprechen sollte viele Menschenleben kosten. Als die Nachricht die Stadt erreichte, arteten die ohnehin brutalen Proteste vollends aus. Die Rebellen erkämpften sich Zutritt zum Tower und nahmen die beiden ranghöchsten Mitglieder des königlichen Rats gefangen, die sich dort verschanzt hatten: ­Simon Sudbury, Kanzler und Erzbischof von Canterbury, und Schatzkanzler Sir Robert Hales. Beide wurden enthauptet und ihre Köpfe auf Lanzen gespießt. Die Lage in der Stadt war nun völlig außer Kontrolle. Das Chaos kostete viele weitere Menschen das Leben. Zu den Ermordeten zählten mehrere Bedienstete von John of Gaunt (der selbst das Glück hatte, zur Zeit der Aufstände gerade in Nordengland zu sein), der Leiter des königlichen Gefängnisses in Southwark und, besonders tragisch, etwa hundertfünfzig flämische Kaufleute, die nur umgebracht wurden, weil sie Ausländer waren.

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Die Jagd nach «Verrätern» wurde in der Nacht von Freitag auf Samstag und auch am Samstag, dem 15. Juni, fortgesetzt. Erst am Nachmittag, als die Rebellen müde und betrunken waren und ihre Wut allmählich nachließ, gelang es den städtischen Behörden, die Situation wieder unter Kontrolle zu bringen. Erneut bot der König den Aufständischen ein Treffen an, dieses Mal auf einem Feld namens Smithfield außerhalb von London, auf dem Messen und Märkte abgehalten wurden. Doch nun hatte er einen Plan. Am Abend des 15. Juni standen sich der König und Wat Tyler von ­Angesicht zu Angesicht gegenüber. Tyler erhob noch radikalere Forderungen als in Mile End. Jetzt verlangten die Rebellen die Abschaffung aller Herrschaftsrechte mit Ausnahme derer des Königs sowie die vollständige Beschlagnahmung und Umverteilung der Kirchengüter. Und sie wiederholten ihre Forderungen nach einem Ende der Frondienste. Es war ein ­außergewöhnliches Manifest – in seinem Ansatz weit revolutionärer als das der Ciompi-Rebellen in Florenz. Verständlicherweise reagierte Richard zunächst ausweichend, und als Tyler nervös wurde, griff Bürgermeister Walworth ein und versuchte, den Anführer der Rebellen zu verhaften. Im anschließenden Handgemenge wurden Dolche gezogen, und Tyler wurde tödlich verwundet. Er wurde weggeschleift und starb im nahegelegenen Hospital von Saint Bartholomew. Walworths städtische Miliz, die im Hintergrund gewartet hatte, umzingelte die versammelten Rebellen und jagte sie in die Flucht. London war von den Rebellen befreit – und mit ­einem blauen Auge davongekommen. Damit waren die Aufstände in England aber noch nicht vorbei. Auch nachdem die Ruhe in London wiederhergestellt war, gab es im Land weiterhin Unruhen, von Somerset im Südwesten bis Beverley im Nordosten. Viele Aufstände waren gezielt geplant und verliefen koordiniert. In East Anglia und den Bezirken unmittelbar nördlich von London kam es zu schweren Ausschreitungen. Königliche Richter und Steuereintreiber wurden getötet, Landgüter verwüstet. In Cambridge bekriegten sich die Einwohner der Stadt und die Mitglieder der Universität, immer wieder gab es Schlägereien und Anschläge auf Universitätsgebäude. In Norwich brachen heftige Unruhen aus, ebenso in York. Das Land kam wochenlang nicht zur Ruhe. Die Koordination der Rebellen untereinander war beein-

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druckend. Und allen gemein war eine egalitäre Philosophie, bei der aber auch der eigene Spaß nicht zu kurz kommen sollte, sowie ein allgemeines Interesse daran, Unruhe zu stiften und das System zu zerstören. John Ball wurde erst Mitte Juli aufgespürt. Vor seiner Gefangennahme in den Midlands hatte er Dutzende offene Briefe an seine Kontaktleute und andere Rebellen in England geschrieben, in denen er sie in kryptischen Worten drängte, «in Gottes Namen zusammenzustehen» und «Hob the Robber gut zu züchtigen», versehen mit der Ermahnung, «wachsam zu sein, sonst wird es euch leid tun».53 Ball gab zu, dass die Briefe von ihm stammten, als ihm in St. Albans der Prozess gemacht wurde. Natürlich wurde er für schuldig befunden, abscheuliche Verbrechen gegen die Krone und das Land verübt zu haben. Am 15. Juli, genau einen Monat nach dem Ende des Londoner Aufstands, wurde Ball gehängt, ausgeweidet und gevierteilt. Bei den anschließenden Säuberungsaktionen starben weitere tausendfünfhundert Rebellen. Ende des Jahres war der Aufstand in England schließlich beendet. An den Gerichten hatte sich eine reaktionäre Rachsucht breitgemacht: Der König und seine Minister wollten sicherstellen, dass so etwas nie wieder passierte. Nach dem Bericht des Chronisten ­Thomas Walsingham war vor allem der vierzehnjährige Richard auf ­Rache aus. Als die Männer aus Essex in einer Botschaft höflich nachfragten, was denn aus den Freiheiten geworden sei, die Richard ihnen in Mile End versprochen hatte, antwortete der Teenager mit der gebieterischen Strenge eines mongolischen Khans: Oh, ihr erbärmlichen Menschen, verabscheuungswürdig zu Lande und zu Wasser, seid ihr, die ihr die Gleichheit mit euren Herren sucht, nicht würdig zu leben … Da ihr als Gesandte zu mir gekommen seid, werdet ihr nicht jetzt sterben, sondern dürft euer Leben behalten … [Aber] übermittelt euren Kumpanen diese Botschaft des Königs: Bauern seid ihr und Bauern werdet ihr bleiben, ihr werdet in Knechtschaft bleiben, und zwar nicht wie früher, sondern unvergleichlich härter. Solange wir leben und durch Gottes Gnade über das Reich herrschen, werden wir uns mit Geist, Kraft und Gut bemühen, euch zu unterdrücken, damit die Härte eurer Knechtschaft der Nachwelt ein Beispiel sein wird.54

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Walsingham ließ in Richards Rede sicher viel von seiner eigenen Verachtung für die Rebellen einfließen, die sein Heimatkloster St. Albans beim Aufstand in Hertfordshire schwer beschädigt hatten. Doch die grundlegende Bedeutung war klar: Egal, welches Elend die unteren Schichten in einem Jahrhundert des Hungers, der Seuchen, der ständigen Kriege und des Klimawandels durchgestanden hatten, sie würden noch grausamer ­bestraft werden, wenn sie noch einmal zu vergessen wagten, wo ihr Platz in der Gesellschaft war. Es war weder das erste noch das letzte Mal, dass eine Revolution mit übermäßiger Gewalt niedergeschlagen wurde. Und sie zeigte Wirkung: In den folgenden siebzig Jahren sollte es in England keinen weiteren Volksaufstand mehr geben.

«Weg mit den Verrätern, hinweg mit ihnen!» Wie wir heute wissen, erfolgen Aufstände oft schubweise: Ein Beispiel wäre der sogenannte Arabische Frühling von 2011, bei dem die Bevölkerung in verschiedenen muslimischen Staaten in Nordafrika und dem Nahen Osten auf den Straßen protestierte. Wenn wir etwas weiter zurückblicken, fallen uns vielleicht die Revolutionen von 1848 oder die großen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts ein, die Frankreich, Amerika und Haiti umgestalteten. Auch der rebellische Geist und der wilde Aufruhr, die Europa zwischen 1378 und 1382 erfassten, gehören in diese Ka­ tegorie: ein revolutionärer «Moment», in dem eine große Zahl von ­Menschen an vielen Orten ungefähr zur gleichen Zeit versuchten, ihre ­Lebensumstände zu ändern, indem sie aufbegehrten und in verschiedenen Sprachen den Wunsch nach «Freiheit» artikulierten. Diese Proteste wurden aufgrund unterschied­licher lokaler Missstände laut, waren aber thematisch und historisch miteinander verbunden. Die Rebellen des späten 14. Jahrhunderts konnten die Welt nicht verändern, auch wenn sie das gehofft hatten. Wat Tyler musste für seine Dreistigkeit, direkt mit Richard  II . zu verhandeln, bitter büßen. Die ­Ciompi übernahmen in Florenz für mehrere Jahre die Regierung, am Ende verschwanden sie jedoch wieder in der Versenkung. Ende des 14. Jahrhunderts wurde Südfrankreich noch immer von Banditen heim­

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gesucht, doch von den Tuchinern redete niemand mehr. Streng genommen waren all diese Rebellen gescheitert. Und doch hatte sich etwas verändert. Durch den Schwarzen Tod hatte die europäische Bevölkerung einen massiven Schwund erlebt, von dem sie sich erst nach Jahrhunderten wieder erholen sollte. So veränderte sich zwangsläufig das Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern, Stadtoberen und Arbeitern und kehrte nie wieder zu den früheren mittelalterlichen Normen zurück. Da sich die städtische Wirtschaft immer weiter entwickelte, wurde Bargeld zum wichtigsten Zahlungsmittel und zur bedeutenden sozialen Währung. In Reichen wie England war die Leibeigenschaft zu Beginn des 15. Jahrhunderts so gut wie verschwunden. Soldaten wurden fast ausschließlich auf Grundlage fester, bezahlter Verträge angeworben und nicht mehr aufgrund von Lehnsverpflichtungen zum Militärdienst gezwungen. In den Städten murrten die Bewohner über die Steuerforderungen ihrer Herrscher und begehrten nach wie vor auf, wenn sie das Gefühl hatten, dass sie sich nur so Gehör verschaffen konnten. Doch die Besteuerung war für Arbeiter wie für reiche Grundherren nicht mehr völlig erdrückend. Insgesamt schwächte sich das allgemeine Gefühl, dass die Welt am Rand der Apokalypse stand, etwas ab. Pest, Krieg und Hunger blieben feste Bestandteile des Lebens und traten bedauerlich häufig auf. Doch als sich das 14. Jahrhundert dem Ende näherte, schienen sie etwas von ihrer Wucht eingebüßt zu haben. Rebellion und Revolte traten in der spätmittelalterlichen Gesellschaft weiter auf, wirkten aber nun anders. Ein neues Zeitalter kündigte sich an. Einige Unruhen und Rebellionen im 15. Jahrhundert waren schlicht die Folge herkömmlicher sozialer Spannungen – ein natürliches Kennzeichen der Städte in praktisch jedem Zeitalter. Besonders von den Universitäten, die im Jahrhundert nach dem Schwarzen Tod eine Blüte erlebten, gingen regelmäßig Konflikte aus, da Studenten und Dozenten häufig mit der Bevölkerung oder untereinander in Zwist gerieten. Studentenunruhen waren mindestens seit dem Jahr 1200 ein fester Bestandteil des Stadtlebens; sie traten bis zum Ende des Mittelalters und darüber hinaus auf. In Frankreich wurden Unruhen im Zusammenhang mit den Mitgliedern der Universitäten für das Jahr 1404 in Paris und 1408 in Orléans ver-

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zeichnet. Im italienischen Perugia kam es 1459 zu einer bewaffneten Konfrontation zwischen Studenten und den städtischen Behörden; 1467 gab es Massenschlägereien zwischen rivalisierenden Gruppen deutscher und burgundischer Studenten an der Universität von Pavia.55 Diese Stadt erlebte 1478 eine Art Ein-Mann-Rebellion gegen die Gesellschaft: Einem Studenten namens Bernardino wurde vorgeworfen, er habe mindestens zwei Mädchen vergewaltigt, sich einen Straßenkampf mit vier Männern im Streit um eine Prostituierte geliefert, eine Schlägerei in einem Bordell angezettelt, Karnevalsfeiern gestört, weil er bewaffnet gekommen war, ­Bücher, Wein, Schmuck und sogar eine Ziegenherde gestohlen und sich an mehreren Abenden mit städtischen Beamten angelegt.56 (Bernardinos Onkel war der Herzog von Mailand, vielleicht glaubte er, er könne sich deshalb so aufführen.) Generell ging es bei Studentenunruhen jedoch entweder um interne universitäre Angelegenheiten oder es kam zu Zusammenstößen mit den Einwohnern der Universitätsstädte, weil die Akademiker Privilegien genossen, die den anderen Bürgern nicht gewährt ­wurden. Nur selten versuchten Universitätsangehörige, die allgemeine Ordnung auf den Kopf zu stellen. Das taten auch die meisten anderen Rebellen im Spätmittelalter nicht. 1413 war Paris erneut Schauplatz heftiger Unruhen im Rahmen des verheerenden Bürgerkriegs, der während der Herrschaft Karls  VI . tobte. Karl wurde immer wieder von psychotischen Schüben heimgesucht, bei denen er seinen Namen vergaß und nicht mehr wusste, wer er war. Er glaubte dann beispielsweise, sein Körper bestehe aus Glas, rannte nackt und mit seinen eigenen Exkrementen beschmiert durch den Palast oder griff Diener und Familienangehörige an. Die Fraktionen, die in den Perioden, in denen der König von Wahnsinn geplagt war, miteinander um die Macht rangen, wurden Bourguignons und Armagnacs genannt. Beide Seiten versuchten, die Einwohner von Paris und das einfache Volk in ihren Konflikt hineinzuziehen. Bei den Unruhen von 1413 griffen Tausende Bürger zu den Waffen, und Volksmilizen patrouillierten durch die Straßen von Paris. Die Lage war äußerst brenzlig, der Ausgang höchst ungewiss. Der Herzog von Burgund ermunterte bekannte Schlachter und Fleischhändler, die Kontrolle über die Stadt zu übernehmen; ihr Anführer, ein Abdecker namens Simon «Caboche», legte ein umfassendes Reform­

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programm vor, mit dem gegen den Machtmissbrauch der Regierung vorgegangen werden sollte. Für Caboche und seine «Cabochiens» war das ein Erfolg, von dem ein Wat Tyler oder Guillaume Caillet nur hatte träumen können. Allerdings unterschied sich die Revolte der Cabochiens auch deutlich von früheren Aufständen. Während die Rebellen Ende des 14. Jahrhunderts versucht hatten, generell die Verhältnisse nach dem Schwarzen Tod zu ändern, ging es bei den Aufständen eine Generation später um bestehende politische Strukturen und aktuelle Streitpunkte. Die Cabochiens wollten nicht an den Grundlagen des französischen Reichs rütteln, sondern meldeten sich einfach als mächtige Stimme in einer laufenden Debatte zu Wort. Sie waren im Grunde eine politische Bewegung, keine soziale, und wurden stark vom burgundischen Herzog unterstützt – einem der mächtigsten Adligen Frankreichs, ja sogar Europas. Wie ein Chronist berichtet, wurden die Schlachter «vom Herzog aufgestachelt … der die Regierung übernehmen wollte».57 Sie waren politische Akteure in einem Spiel, das vielleicht in der Ausführung gewalttätig war, doch nach allgemein anerkannten Regeln ­gespielt wurde. Das galt im Grunde auch für England, als dort 1450 ein Aufstand in Kent ausbrach  – einer der Brutstätten für die Erhebung von 1381. Jack ­Cades Revolte, wie der Aufstand genannt wurde, war ein blutiger und ­erschreckender Gewaltausbruch, bei dem Rebellen aus dem Südosten auf einer ähnlichen Route Richtung Westen zogen wie Wat Tyler und John Ball neunundsechzig Jahre zuvor. Inmitten akuter Ängste vor einer französischen Invasion und in den ersten Wellen eines englischen Bürgerkriegs, der sich mit Unterbrechungen über mehrere Jahrzehnte hinziehen und als die Rosenkriege bekannt werden sollte, erhoben sich die einfachen Leute – sie waren bereits zur Verteidigung der Küste gemustert und zu Milizen ­zusammengestellt worden – unter der Führung von Cade, einem charis­ matischen Hauptmann, der vermutlich aus Suffolk stammte.58 Auf ihrem Protestzug gegen die glücklose Regierung um König Heinrich  VI . marschierten sie an der Themse bis nach Blackheath hinauf und sangen dabei ein Lied mit dem Refrain «Weg mit den Verrätern, hinweg mit ihnen!». Bei ihrer Ankunft in der Hauptstadt stürmten die Rebellen South­ wark, drangen über die London Bridge in die Stadt ein und errichteten vor

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der Guildhall ein Standgericht, wo in Ungnade gefallenen Mitgliedern der Regierung der Prozess gemacht wurde. Der Schatzkanzler Lord Saye and Sele wurde enthauptet; in Kent lauerte eine Miliz dem Adligen Sir Humphrey Stafford auf und tötete ihn. Der König – schon in guten Zeiten eine ängstliche Seele – war gleich zu Beginn des Aufstands eilig in die relative Sicherheit der Midlands gebracht worden. Damit blieb es seiner Frau Margarete überlassen, die Schlacht um London zu dirigieren, die zwischen den Rebellen und der städtischen Miliz am 5. und 6. Juli aus­ getragen wurde. Cade wurde schließlich gefangen genommen, enthauptet und gevierteilt, doch in London und Südengland blieb es den ganzen Sommer über und auch noch im Herbst unruhig. Cades Rebellion war der heftigste Volksaufstand in England während des 15. Jahrhunderts und erschütterte die damalige Regierung in ihren Grundfesten. Doch auch Cades Rebellion war wie der Aufstand der Cabochiens in Paris weit entfernt vom früheren großen Aufstand von 1381. Während sich Tyler und Ball eine Welt vorgestellt hatten, die von Grund auf erneuert werden sollte, legten Cades Rebellen ein politisches Programm vor, das zwar ambitioniert, aber weniger idealistisch und eher praktisch orientiert war. Sie verfassten eine offizielle Bill of Articles, in der sie sich über ­namentlich genannte Ratsmitglieder beschwerten, und forderten detaillierte Reformen der königlichen Politik in Kent und den umliegenden Grafschaften. Sie verlangten, dass der Cousin des Königs, «der hohe und mächtige Prinz, der Herzog von York», die Regierung übernehmen sollte, und schlugen vor, die Krone solle sämtliche Ländereien zurückfordern, die als Geschenke an Adlige und Höflinge gegangen waren, denn so könne man in Kriegszeiten den königlichen Finanzen wieder aufhelfen.59 Sie stellten keine utopischen Forderungen nach der Abschaffung der Leib­ eigenschaft, aus dem einfachen Grund, weil die Leibeigenschaft bereits von selbst so gut wie verschwunden war. Die Beschwerden von Cades Rebellen waren eine kühne und einseitige, aber auch sachlich fundierte Kritik an den vielen Problemen Englands und stammten von einer Gesellschaftsschicht, die mittlerweile voll in den politischen Prozess eingebunden war und ihn deshalb auch nicht komplett umkrempeln wollte. Das zeigt gut, wie sehr sich die Welt seit der Heimsuchung durch den Schwarzen Tod weiterentwickelt hatte.

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Nicht alle, die die große Hungersnot und den Schwarzen Tod überlebt hatten, wurden zu Rebellen. Doch die populären und populistischen Aufstände in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts waren auf jeden Fall frühe Hinweise darauf, wie stark die Katastrophen der damaligen Zeit die mittelalterliche Gesellschaft erschüttert hatten. Hierarchien wurden vehement infrage gestellt. Die Verwüstungen durch Kriege – ob einen Bürgerkrieg oder einen Krieg mit einer ausländischen Macht  – wurden nicht mehr einfach als Teil des Elends der menschlichen Existenz hingenommen. Wenn die Menschen das Gefühl hatten, einer größeren Not ausgesetzt zu sein, als sie ertragen konnten, begehrten sie auf und versuchten, sich Gehör zu verschaffen, oder sie nutzten die chaotischen Zustände in einem Krieg, um ihre eigenen Feldzüge für bessere Lebensbedingungen zu führen. Doch es dauerte nicht lange, bis die hitzigste Phase der Aufstände nach dem Schwarzen Tod abflaute und raffiniertere, fortschrittlichere Formen der Rebellion an ihre Stelle traten. Gleichzeitig erkannten die westlichen Eliten die potenzielle Macht der rebellischen unteren Schichten und versuchten, sie für ihre Zwecke zu nutzen. Neben den bereits genannten Beispielen wurde diese Taktik im katalanischen Bürgerkrieg von 1462 bis 1472 deutlich, als eine Revolte unfreier Arbeiter, der sogenannten payeses de remensa, in einen Konflikt ­zwischen König Johann II . von Aragón und katalanischen Adligen, die die Macht des Königs beschränken wollten, hineingezogen wurde.60 Erst im 16. Jahrhundert erlebte der Westen einen weiteren Aufstand, der in seinem Ausmaß und in seiner Art den Aufständen in den Jahren 1358 bis 1382 glich. Die Rede ist vom deutschen Bauernkrieg 1524 bis 1525, dessen Grundlage jedoch nicht die traumatischen Auswirkungen des demografischen Zusammenbruchs bildeten, sondern eine religiöse Revolution, die über den Westen in Form der protestantischen Reformation hereinbrach.* Doch der Protestantismus ist ein ganz eigenes Thema, mit dem wir uns befassen, wenn sich unsere Reise dem Ende des Mittelalters nähert. Zunächst ist es an der Zeit, die allgemeinen Veränderungen zu betrachten, die nach dem Schwarzen Tod die mittelalterliche Welt umkrempel-

* Siehe Kapitel 16.

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ten. Denn die letzten hundertfünfzig Jahre des Mittelalters waren nicht nur von politischen Unruhen und Aufständen geprägt. Sie waren auch eine Zeit der Revolution im Bereich der Kunst, Literatur, Philosophie, Dichtung, Architektur, Finanzen und Stadtplanung. Nachdem die Welt das Massaker durch Yersinia pestis überstanden hatte, traten plötzlich überall neue Ideen, Entdeckungen und Technologien zutage  – manche stammten noch aus der Antike und waren einfach neu belebt worden, ­andere wurden ganz neu erfunden. Was im 14. Jahrhundert aufkam und im 15. Jahrhundert zur Blüte gelangte, war die Renaissance, eine Zeit der Schönheit, Genialität, Erfindung und Inspiration, die jedoch auch blutig sein konnte und Schuld auf sich lud. Mit dieser ruhmreichen und gefährlichen Zeit der Wiedergeburt und Erneuerung wollen wir uns nun beschäftigen.

14.

Erneuerer «Es gab eine Zeit, die war glücklicher für Poeten …» Petrarca, Dichter und Humanist

I

n der Woche vor Weihnachten 1341 hielt ein Gelehrter namens Francesco Filelfo in der großen Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz einen Vortrag über die Dichtung Dantes. Mehrere Hundert hoch geachtete Florentiner waren gekommen. Die Kathedrale, in der sie sich versammelt hatten, befand sich noch mitten in ihrer sensationellen Umgestaltung: Am Ostende wurde Brunelleschis riesiger Duomo gebaut, und obwohl noch fünf Jahre bis zu seiner offiziellen Fertigstellung vergehen sollten, war schon jetzt klar, dass er ein Triumph werden und die Stadt krönen würde. Filelfo war genau der Richtige, um unter der Kuppel einen Vortrag zu halten. Er gehörte zu den aufregendsten Denkern seiner Zeit. Nach einer Ausbildung in Pavia war er mit gerade einmal achtzehn Jahren zum Hochschullehrer für Kunst nach Venedig berufen worden. Er hatte die Welt ­bereist, Sprachen gelernt, Bücher verschlungen und sich mit Politik beschäftigt. In Konstantinopel hatte er Griechisch gelernt, als Diplomat am Hof von Murad  II . gearbeitet, dem Sultan der aufsteigenden Supermacht, des Osmanischen Reichs,* und dann eine Stelle als Botschafter von Sigismund, dem König von Ungarn, und von Władisław  II . Jagiełło, dem König von Polen, angetreten. Nachdem er Theodora, ein unbedeutendes Mitglied des ­byzantinischen Königshauses, geheiratet hatte, kehrte er nach Italien zurück, um seine Karriere als Gelehrter weiterzuverfolgen.

* Siehe Kapitel 15.

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Ende der 1420er Jahre zog er nach Florenz. Dort unterrichtete Filelfo Rhetorik, übersetzte klassische Gedichte und hielt an der vor Kurzem ­gegründeten Universität (dem sogenannten Studio) Vorlesungen über die Schriftsteller im antiken Griechenland und Rom.1 An Sonntagen und anderen christlichen Feier­tagen sprach er über Dante und las aus seinen Werken vor. Er konnte die Menschen in seinen Bann ziehen. Klug, direkt, wortgewandt, intellektuell eitel, im Umgang etwas kratzbürstig und von Geld besessen, war Filelfo so auf Frauen aus, dass er damit prahlte, er müsse mit drei Hoden geboren worden sein. Er machte sich leicht Feinde, vor allem unter Akademikern, von denen ihn einer als «abstoßend» bezeichnete.2 Doch wenn Fidelfo sprach, hörte ihm praktisch die ganze Stadt zu.3 Dante war ein unglaublich beliebtes Thema. Der große Dichter und Philosoph war hundertzehn Jahre zuvor gestorben und genoss in Florenz das Ansehen eines literarischen Halbgotts. Sein Grab befand sich in Ravenna, wo er gelebt hatte, nachdem er in den Kriegen zwischen den Ghibellinen und Guelfen ins Exil gehen musste. Dennoch war die Analyse von Dantes Werk – vor allem der Commedia (die heute meist Die Göttliche Komödie genannt wird) – ein beliebter Zeitvertreib der Florentiner Intellektuellen. Sie bot nicht nur eindringliche Schilderungen der Hölle, des Fegefeuers und des Himmels, sondern war auch in den miteinander verschlungenen Reimen der italienischen Terza rima* geschrieben, anstatt in

* Die Terza rima oder Terzine, die untrennbar mit Dante verbunden ist und sich am besten für das Italienische eignet, ist eine Gedichtform, in der sich die Reime abwechseln und förmlich zu tanzen scheinen. Das Schema lautet ABA BCB CDC DED (und so weiter) und läuft in der Regel auf ein abschließendes Reimpaar hinaus. Dante ist der erste große Dichter, von dem man weiß, dass er die Terzine verwendete, die ­daraufhin sowohl im Mittelalter als auch darüber hinaus populär wurde. Obwohl sich die Reimform nicht so gut für das Englische eignet (das weit weniger Reimwörter als das Italienische hat), wurde sie von Geoffrey Chaucer, dem Tudor-Dichter Thomas Wyatt, John Milton und einer Reihe von Romantikern des 19. Jahrhunderts verwendet, darunter George Byron, Percy Shelley und Alfred Tennyson. Es gibt gute Gründe zu behaupten, dass die Terzine auch die Werke der wortgewandteren Rapper des 20. und 21. Jahrhunderts geprägt hat – etwa Notorious B. I. G., Jay-Z, Lauryn Hill, Eminem, MF Doom, Kendrick Lamar und so weiter, obwohl ich noch keinen Track gefunden habe, bei dem ein Rapper das Schema kontinuierlich durchhält.

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gesetztem Latein. Außerdem war sie voller Anspielungen auf berühmte Männer und Frauen, die – je nachdem – zu diabolischen Qualen verurteilt wurden oder die Freuden des Paradieses genossen. Dadurch hatten die Commedia und die Kommentare erhebliche zeitgenössische Relevanz und auch ein gewisses Potenzial, um die Gemüter zu erhitzen. Es gab noch viele Verwandte und Nachkommen der Personen, die Dante aufs Korn genommen hatte. Da sie der gehobenen Gesellschaft von Florenz angehörten, spielte das Gedicht eine große Rolle für ihre Selbstdarstellung, ihre Weltsicht und ihre Zwistigkeiten. Bekannte Florentiner konnten durch Kommentare zu Dantes Gedicht gerühmt, provoziert oder verleumdet werden. Wenn also ein Magister Litterarum  – vor allem einer mit so bissigen ­Kommentaren wie Filelfo  – im Dom, im Wahrzeichen der Stadt, über Dante sprach, barg das durchaus gesellschaftlichen Sprengstoff. Filelfo urteilte im Dezember 1431 nicht nur über Dantes Text. Er nutzte die Plattform auch, um eine Fraktion in der Stadt zu kritisieren, die von dem zweiundfünfzigjährigen Bankier Cosimo de ’ Medici angeführt wurde. Seitdem er die Leitung der Medici-Bank elf Jahre zuvor von seinem Vater übernommen hatte, war Cosimo zu einem der reichsten und mächtigsten Männer von Florenz aufgestiegen. Er war maßgeblich an der Planung und Finanzierung von Kriegen mit anderen nahegelegenen Stadtstaaten wie Lucca und Mailand beteiligt. Er war ein instinktiv handelnder, geschickter Manipulator, der sich darauf spezialisiert hatte, die Politik aus dem Verborgenen heraus zu steuern. Doch er war nicht gerade beliebt, vor allem nicht bei einer konservativen, oligarchischen Fraktion unter Führung eines weiteren superreichen Florentiners, Rinaldo degli Albizzi, und eines Förderers Filelfos, Palla Strozzi. Bei seinem Vortrag in der Kathe­ drale machte Fileflo deutlich, auf wessen Seite er stand. Er gab zu ver­ stehen, dass die Medici «ignorant» und neidisch auf ihn seien und keine Ahnung von Dante hätten. Er warf ihnen vor, sie hätten ihn aus «Hass und Verfolgung» ins Visier genommen und würden hinter den Versuchen zu Beginn des akademischen Jahres stecken, ihm dauerhaft Lehraufträge zu entziehen.4 Das war eine Kampfansage. Und sie sollte später noch auf Filelfo zurückfallen. Unter Cosimos Führung hatte die Familie Medici nicht nur die Vorherrschaft in Florenz übernommen, sondern war in den Rang einer quasi

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königlichen Dynastie aufgestiegen, aus der später Päpste und Großherzöge hervorgehen sollten. Und obwohl der Höhepunkt ihrer Macht noch nicht erreicht war, waren sie bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts ein gefährlicher Gegner, mit dem man sich besser nicht anlegte. Der große Clan, der überall in der Stadt geschäftliche Interessen hatte, saß im Zentrum eines Netzwerks von Florentinern, die als die amici («Freunde») bekannt waren und zu dessen Mitgliedern Magnaten und Bankiers, aber auch Ladeninhaber und sogar Arme gehörten.5 Dieses Netzwerk konnte für alle möglichen Aufgaben mobilisiert werden, im Guten wie im Schlechten. Wer sich mit den Medici anlegte, machte sich viele Feinde, die einem, wenn sie wollten, sehr schaden konnten. Filelfo bekam die dunkle Seite der Macht im Mai 1433 zu spüren. Seit seinen ersten verbalen Attacken gegen die Medici und ihre Partei waren fast achtzehn Monate vergangen, doch die Empörung war immer noch groß. Eines Morgens wurde Filefo auf dem Weg zur Arbeit, als er gerade den Borgo San Jacopo am Arno entlangging, von einem Schläger namens Filippo überfallen, der ein Schwert unter dem Umhang hervorzog und sich auf ihn stürzte. Filelfo versuchte sich mit seinen Fäusten zu wehren, aber er war eher ein Mann der Bücher als ein Kämpfer. Der Angriff war nicht tödlich (das sollte er wohl auch nicht), doch es floss viel Blut. Mit einem «furchtbaren Stoß», wie Filelfo später schrieb, verpasste ihm sein Angreifer mit dem Schwert «nicht nur eine tiefe Wunde, sondern amputierte mir beinahe die rechte Wange und die Nase».6 Dann rannte der Rowdy weg. Filelfo erholte sich tatsächlich wieder von dem Schrecken und seinen Verletzungen, blieb jedoch für immer durch eine hässliche Narbe entstellt. Cosimo wurde offiziell nie mit dem Überfall in Verbindung gebracht  – stattdessen wurde ein Kollege Filelfos von den Behörden festgenommen und gefoltert, bis er gestand, Filippo für das Attentat bezahlt zu haben. Doch Filelfo war überzeugt, dass der Medici-Patriarch hinter allem steckte. In den Monaten nach dem Überfall wetterte Filelfo unablässig gegen Cosimo und seine Freunde. Als sich die politische Lage 1433 zu Ungunsten der Medici entwickelte – Cosimo wurde vorgeworfen, er habe Einfluss auf den Krieg der Florentiner gegen Lucca genommen, um maximalen Profit für seine Bank zu erzielen –, war Filelfo entzückt. Er setzte sich dafür ein, Cosimo offiziell wegen Verrats anzuklagen, was womöglich dessen

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Todesurteil bedeutet hätte. Doch er konnte die städtischen Behörden nicht überzeugen. Cosimo wurde wegen Kriegsgewinnlerei verurteilt, aber lediglich nach Venedig verbannt, von wo aus er schon bald seine Rückkehr an die Macht organisieren konnte. Und als er 1434 nach Florenz zurückkehrte, bekam Filelfo die Konsequenzen seiner Haltung zu spüren. Nun war er derjenige, der aus der Stadt gejagt wurde. Seine Karriere war damit aber noch lange nicht am Ende: Er bekleidete bedeutende Posten unter den Herzögen von Mailand und kurzzeitig auch unter Papst Sixtus  IV ., der zwar verderbt und korrupt, aber auch ein begeisterter Förderer der Kunst war. Filelfo arbeitete als Dozent und Hofdichter und verfasste unermüdlich Traktate, in denen er die Fürsten Europas drängte, das Spektakel der Kreuzzüge wiederzubeleben und gegen die osmanischen Türken ins Feld zu ziehen. Doch sein Ruf war beschädigt, zudem musste er mit den körperlichen und emotionalen Narben leben, die ihm sein Kampf ­gegen Cosimo in den 1430er Jahren eingebracht hatte. 1436 versuchte er, selbst einen Attentäter anzuheuern, der den Medici-Boss töten sollte. Doch der Anschlag wurde vereitelt und sorgte am Ende nur dafür, dass ­Filelfo bei allem Ruhm und seinen hochrangigen Verbindungen fast fünfzig Jahre lang in Florenz nicht mehr willkommen war. Erst 1481 lud ihn Cosimos Enkel Lorenzo «der Prächtige» ein, zurückzukehren und als Hochschullehrer für Griechisch an der Universität zu arbeiten. Doch inzwischen war Filelfo dreiundachtzig. Sein zweiter Aufenthalt in Dantes Stadt währte nur kurz. Nach seiner Ankunft infizierte er sich mit der Ruhr und starb zwei Wochen später. Er hatte ein aufregendes Leben geführt, in verschiedenen Bereichen Karriere gemacht und zu seiner Zeit lange als größter Griechisch-Gelehrter des westlichen Mittelmeerraums gegolten. Doch seine scharfe Zunge hatte ihn sein Aussehen und fast das Leben gekostet. Filelfo selbst betrachtete sich als ehrenwerten Mann, der an seinen Prinzipen festgehalten hatte und dafür ­büßen musste: «Die Schande hat es mir nicht erlaubt, ein Parasit zu werden», schrieb er einmal. «Noch habe ich je gelernt zu schmeicheln, anderen schönzutun oder ein Jasager zu sein.»7 Andere urteilten differenzierter: «Er hatte ­einen vortrefflichen Geist», schrieb ein zeitgenössischer I­ntellektueller trocken, «verstand es aber nicht, sich zu mäßigen.»8

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Heute gehört Francesco Filelfo nicht zu den Ersten, die einem einfallen, wenn man an die außergewöhnliche intellektuelle und künstle­ rische Welt denkt, die Ende des Mittelalters im Abendland zur Blüte gelangte. Ob zu Recht oder zu Unrecht, sein Genie und seine Gelehrsamkeit haben unsere Vorstellung nicht so gefesselt, wie sie einige seiner Zeit­ genossen inspiriert haben, vor allem die bildenden Künstler. Die Superstars jener Zeit sind Männer wie Leonardo da Vinci und Sandro Botticelli, Brunelleschi und Michelangelo, Raffael und Tizian, Pico della ­Mirandola und ­Machiavelli, Jan van Eyck, Rogier van der Weyden und Albrecht Dürer. Filelfo g­ ehört nicht in die erste Reihe, vielleicht nicht einmal in die zweite. Doch in seiner kaum bekannten Geschichte steckt ­vieles, was den Geist der damaligen Zeit zum Ausdruck bringt. Ab dem späten 14. Jahrhundert machte zunächst in Italien und schon bald auch jenseits der Alpen in Nordeuropa eine künstlerische Bewegung Furore, die als Renaissance bekannt wurde. Die Renaissance (wörtlich «Wiedergeburt») war eine Zeit, in der kreative Menschen neue (oder ­verlorene) Ansätze in Literatur, Kunst und Architektur entdeckten. Dabei entstanden auch neue Theorien in der politischen Philosophie, den Naturwissenschaften, der Medizin und Anatomie. In der Renaissance herrschte ein wiedererwachtes, intensives Interesse an der antiken griechischen und römischen Kultur, es gab rapide technische Neuerungen in der Malerei und Bildhauerei und bei der Verbreitung neuer Ideen zu Themen wie Erziehung und Staatsführung. Großartige Kunstwerke im öffentlichen Raum veränderten das Stadtbild. Porträts b­oten talentierten Politikern neue Propagandainstrumente. Die Renaissance entwickelte sich über mehrere Generationen: die zeitlich groß­zügigste geschichtswissenschaftliche Anschauung datiert sie bis ins frühe 17. Jahrhundert. Entscheidend ist vor allem, dass bereits einigen Zeitgenossen bewusst war, dass sie in einem neuen Zeitalter lebten. Einer der Ersten, die das äußerten, war Leonardo Bruni, der die gewaltige Historia del popolo fiorentino verfasste, in der er den Zusammenbruch des Weströmischen Reichs im 5. Jahrhundert als Ende eines großen Zeitalters bezeichnete und seine eigene Zeit im frühen 15. Jahrhundert als Höhepunkt eines langen Wegs zurück zur Zivilisation.9 Diese Sichtweise liegt auch unserer Vorstellung vom Ende

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des Mittelalters zugrunde – wie der Zeitraum zeigt, den mein Buch umfasst. Die Renaissance war eine Zeit der Genialität und der Genies. Doch die Mäzene spielten eine ebenso große Rolle. Kunst und Erfindungen ­waren eng mit Geld, Macht und den Ambitionen der Fürsten verknüpft. Kluge und kreative Menschen strömten zu den Reichen und Mächtigen, um ihre Unternehmungen von ihnen finanzieren zu lassen, während die Mächtigen Künstler unterstützten, um ihren eigenen guten Geschmack hervorzuheben und die bürgerschaftlichen Errungenschaften und die Kultiviertheit ihrer Heimatstädte zu betonen. Für jeden Filelfo gab es auch einen Cosimo, und jede Seite war in der Lage, die andere in gleichem Maße zu beflügeln oder zu behindern. Seit Jahrhunderten sehen die Menschen, wenn sie auf die Renaissance zurückblicken, in ihr eine epochale kulturelle Wende, die die Grenze zwischen Mittelalter und Neuzeit markiert. Doch heute beurteilen manche Historiker die Bezeichnung kritisch, weil sie impliziert, dass in den Jahrhunderten vor der Renaissance ein Mangel an Erfindungen oder generellen Veränderungen der Denkweise geherrscht habe. Andere haben beschlossen, den Begriff zu erweitern und aufzuweichen, indem sie ihn auch für frühere Phasen des Mittelalters ­verwenden; auf unserer Reise durch die Geschichte ist uns ja bereits die «Renaissance des 12. Jahrhunderts» begegnet.* Ob wir den Begriff «Renaissance» mögen oder nicht, es bleibt die Tatsache, dass man schon sehr kühn oder töricht sein muss, um zu leugnen, dass gerade das 15. Jahrhundert einen Aufschwung kultureller und intellektueller Bestrebungen erlebte, der einige der berühmtesten Werke der Kunst und Literatur in der Geschichte der Menschheit hervorbrachte, und das unter der Schirmherrschaft großer, wenn auch oft etwas zwielichtiger Förderer. Mit diesem Zeitalter werden wir uns nun also näher beschäftigen und den künstlerischen und humanistischen Aufbruch im Spätmittelalter betrachten sowie die mitunter blutigen Manöver, die ihm zugrunde lagen.

* Siehe Kapitel 11.

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Der erste Humanist Am Karfreitag 1327, also 104 Jahre bevor Filelfo mit Cosimo de ’ ­Medici aneinandergeriet, besuchte der junge Dichter und Diplomat Francesco Petrarca in der Papststadt Avignon den Gottesdienst. Wie er später selbst erzählte, war es an diesem ernsten Tag, an dem man Jesu Tod am Kreuz gedenkt, als er zum ersten Mal eine junge Frau namens Laura sah. Vermutlich handelte es sich um Laura de Noves (was jedoch nicht eindeutig belegt ist), die kurz zuvor den Grafen Hugues de Sade geheiratet hatte. Mit ihren siebzehn Jahren war Laura noch ein Teenager, doch das war für Bräute im 14. Jahrhundert relativ normal. Der sechs Jahre ältere Pe­trarca war fasziniert. Körperliche Anziehungskraft war dabei wohl nur ein Aspekt. Ein posthumes (und daher mithilfe der Fantasie geschaffenes) Porträt von Laura de Noves, das in der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz aufbewahrt wird, zeigt eine schöne junge Frau mit einer schmalen, eleganten Nase, runden Augen und hochgewölbten Augenbrauen, mit kleinem Mund und weichem Kinn. Doch wie gesagt, körperliche Schönheit ist nicht alles. Petrarca schrieb über diese Begegnung: Als Laura ihn ansah, habe ihn «ihrer Augen Strahlenschimmer» berührt, und in ihm seien «Gedanke, Tat und Wort der Liebeswonne» aufgekommen.10 In ­ihrer keuschen, platonischen Beziehung, die bald darauf begann, war Laura seine Muse. Im Laufe seines langen und ihres kurzen Lebens sollte Petrarca Hunderte Gedichte über und für sie schreiben.* Wie Dante schrieb Petrarca viele seiner besten Gedichte nicht in Latein, sondern auf Italienisch. Und er perfektionierte die vierzehnzeilige Gedichtform des Sonetts. Petrarca hat das Sonett nicht erfunden – falls man in diesem Zusammenhang überhaupt von «erfinden» sprechen kann, entstand das Sonett am sizilianischen Hof Kaiser Friedrichs II . im frühen 13. Jahrhundert. Doch er prägte das Sonett so nachhaltig und beherrschte diese Gedichtform so gut, dass das «Petrarca-Sonett» heute ein fester Be-

* Heute könnte man Petrarca schon fast als Stalker bezeichnen. Die Grenze zwischen Schwärmerei und Besessenheit war schon immer fließend, vor allem für Dichter.

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standteil der italienischen Dichtung ist, ähnlich wie das «Shakespeare-­ Sonett» im Englischen.11 In Petrarcas Sonetten (und anderen frühen Gedichten) ging es jedoch um mehr als um die romantische Liebe zu einer unerreichbaren Frau. Er nutzte seine Bewunderung für Laura auch als Ausgangspunkt, um die ­Geheimnisse, Freuden und Leiden des menschlichen Lebens an sich zu ­erkunden. Fast tausend Jahre lang hatte die Kontemplation der Passion Christi den Rahmen für die Erörterung dieser Themen im Abendland vorgegeben. Jetzt stellte Petrarca das traditionelle Modell auf den Kopf. Er war zweifellos ein gläubiger Christ – tatsächlich war er offiziell sogar ein Mann der Kirche. Doch er fand das Höchste im einzelnen Menschen und verlieh dem menschlichen Gefühls- und Innenleben unendliche Bedeutung und die Macht, höhere Wahrheiten zu enthüllen. Alles führte immer noch zu Gott zurück. Doch der Weg dahin hatte sich radikal geändert. ­Petrarcas Ansatz wurde zum Kernstück einer übergreifenden ästhetischen und moralischen Philosophie, die als Humanismus bekannt wurde und die Errungenschaften der Renaissance mit ermöglichte. Spätere Generationen betrachteten Petrarca daher als den ersten Humanisten. Im 14. Jahrhundert dauerte es nicht lange, bis sich Petrarca einen Namen gemacht hatte. Er schrieb wunderschöne Gedichte, war ein begeisterter Briefeschreiber und unermüdlicher Reisender. Als Teenager hatte er den Rat seines Vaters, sich niederzulassen und Jurist zu werden, in den Wind geschlagen. Bereits damals wusste er, dass er durch die Welt ziehen, lesen und schreiben wollte, anstatt an einem Schreibtisch in Bologna zu hocken und juristische Schreiben aufzusetzen. In den Jahren nach seiner ersten Begegnung mit Laura frönte er seiner Wanderlust. In den 1330er Jahren zog er durch die Städte Frankreichs, des Deutschen Reichs, Flanderns und der Niederlande und hielt dabei stets die Augen offen nach ­Gelehrten, mit denen er diskutieren, und Bibliotheken, wo er Kopien der Manuskripte antiker Autoren lesen konnte. Und er kehrte regelmäßig an den Ort zurück, den man am ehesten als sein Zuhause bezeichnen konnte: ein winziges, abgelegenes Dorf namens Vaucluse (heute Fontaine-deVaucluse), das versteckt in einem Tal 30 Kilometer östlich von Avignon lag. Doch er ließ sich dort nie so richtig nieder. Die Welt mit ihrer prächtigen Natur, den großartigen Gebäuden in den Städten und ihren Büchern

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war viel zu verlockend und eine unendliche Inspiration. 1337 reiste er nach Rom und begeisterte sich bei einer Besichtigung der antiken Ruinen für die Geschichte des Punischen Krieges. Anschließend begann er ein langes Versepos (in Latein anstatt Italienisch) mit dem Titel Africa; darin erzählte er den Zweiten Punischen Krieg von 218 bis 201 v. Chr. nach, in dem Hannibal schließlich von Scipio Africanus besiegt worden war. Africa ­umfasste am Ende neun Bände und fast siebentausend Zeilen, trotzdem betrachtete es Petrarca nie als vollendet und erlaubte nicht, es zu seinen Lebzeiten zu verbreiten.12 Nach und nach wuchs sein Ruhm, und auch der Kreis an mächtigen Freunden. In der ersten Hälfte seiner Karriere stand Petrarca im Dienst des Kardinals Giovanni Colonna, Mitglied einer mächtigen römischen Adelsdynastie, die Petrarca in einem Sonett als «glorreiche Säule» bezeichnet.13 Auch anschließend bewegte er sich in den höchsten Kreisen. Einer seiner berühmtesten Förderer war Robert von Anjou, der König von Neapel (reg. 1309–1343), der Ambitionen hegte, über ganz Italien zu herrschen, und sehr genau um den Wert einer Verbindung zu den führenden Künstlern und Autoren seiner Zeit wusste, um seine Macht zu veranschaulichen. 1341 machte Robert dem Dichter ein verlockendes Angebot: Er sollte nach Rom kommen und dort zum poeta laureatus gekrönt werden – ein Titel aus der Antike, der in Anerkennung von Petrarcas Genialität wiederbelebt wurde. Petrarca nahm an und stellte lediglich die schmeichelhafte Bedingung, dass König Robert ihn in seinem Palast einer dreitägigen Prüfung unterziehen solle, um sich zu vergewissern, dass er dem Titel gerecht werden würde. Robert war überglücklich, und nachdem Petrarca die Prüfung bestanden hatte, wurde er an Ostern 1341 auf dem Kapitolshügel mit einem Lorbeerkranz gekrönt. Bei dieser bedeutungsschwangeren ­Zeremonie standen die Ruinen der Ewigen Stadt sowohl für eine unter­ gegangene Welt als auch für die Wiederauferstehung des antiken Geistes.14 In seiner Ansprache pries Petrarca die Römer überschwänglich. Mit einem Zitat von Lucan ließ er die Zuhörer wissen: «Die Aufgabe des Dichters ist groß und heilig.» Dann fuhr er fort: «Es gab eine Zeit, die war glücklicher für Poeten, eine Zeit, als sie in höchsten Ehren gehalten wurden, zuerst in Griechenland und dann in Italien, vor allem unter der Herrschaft des Kaisers Augustus, unter der hervorragende Dichter wie Vergil,

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Varus, Ovid, Horaz und viele andere zur Blüte gelangten … Doch das ist, wie wir alle wissen, heute anders …».15 Die Dichtung, erklärte er, sei entwertet worden. Dabei könnten Dichter durch ihre Worte Wahrheiten enthüllen, die so tiefgründig seien wie die, die Theologen aus der Heiligen Schrift zögen – wenn das Publikum sie nur erkennen würde. Petrarca: Unter dem Schleier der Fiktion legen Dichter physikalische, moralische und historische Wahrheiten dar … der Unterschied zwischen einem Dichter auf der einen Seite und einem Historiker oder einem moralischen oder physikalischen Philosophen auf der anderen Seite ist derselbe wie der Unterschied zwischen einem bewölkten und einem klaren Himmel, da in jedem Fall dasselbe Licht im Objektiv vorhanden ist, aber je nach Fähigkeit der Betrachter in verschiedenen Graden wahrgenommen wird.16

Petrarcas glühende Verteidigung der Dichtung und sein umfassender Anspruch, die Kunst als Objektiv zu betrachten, durch das man das Gött­ liche sehen konnte, war in den 1340er Jahren aufregend und herausfordernd. Es sollten noch zwei Jahrhunderte vergehen, bis seine Erkenntnisse von Autoren, Künstlern und Denkern vollständig erfasst wurden. Doch dann wurde die Rede bei seiner Krönung zum Dichterkönig als Manifest für die gesamte Renaissance betrachtet.17 Petrarcas Leben nach der Dichterkrönung in Rom lässt sich im Nachhinein wie eine Vorlage für die neue intellektuelle und kulturelle Welt der Renaissance lesen, die gegen Ende des Mittelalters zum Leben erwachte. Wie bereits erwähnt, wurde Petrarca vom Schwarzen Tod verschont, doch seine geliebte Laura nicht, ebenso wenig wie viele seiner Freunde.* Mit ­zunehmendem Alter wurde er einsamer und religiöser. 1350 beschloss er, auf so viele weltliche Freuden wie möglich zu verzichten und sich einem abgeschiedenen Leben der Kontemplation und des Studiums zu widmen. Doch wie allen großen mittelalterlichen Denkern war Petrarca klar, dass er die Klassiker nicht aufgeben musste, wenn er sich in die christliche Philosophie vertiefen wollte. Durch seine Reisen und seine Arbeit hatte er

* Siehe Kapitel 13.

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eine der größten privaten Buchsammlungen Europas zusammengetragen, zu der auch Texte gehörten, die seit vielen Jahrhunderten nicht mehr ­gelesen worden waren, etwa eine Sammlung der privaten Briefe Ciceros, die er in Verona entdeckt hatte. Petrarca ordnete auch gewissenhaft seine ­eigenen Werke: Er arrangierte seine Sonette in einer Sammlung, die in Italien als Canzoniere bekannt ist, sammelte Briefe, die er im Lauf der Jahre an Freunde wie Boccaccio geschrieben hatte, und arbeitete fleißig an einer ambitionierten Lyriksammlung namens Trionfi («Triumphe»). Sie war um sechs große Themen arrangiert  – Liebe, Keuschheit, Tod, Ruhm, Zeit und Ewigkeit – und zeichnete den sterblichen und spirituellen Lauf des menschlichen Lebens bis zum Jenseits nach. Dank der eindrücklichen Beschreibungen des Leidens, Kämpfens und Feierns und der vielen Anspielungen auf berühmte Persönlichkeiten, die von alttestamentarischen Patriarchen bis zu zeitgenössischen Figuren wie Sultan Saladin reichten, waren die Trionfi im Spätmittelalter sehr beliebt und wurden häufig kopiert, oft in prächtig geschmückten Handschriften. Für den ursprünglichen Text der Trionfi benötigte Petrarca fast zwanzig Jahre, sie waren erst Anfang der 1370er Jahre fertig. Zu der Zeit lebte er in Italien und hielt sich abwechselnd in Padua und auf seinem nahe­ gelegenen Landsitz Arquà auf. Er blieb in Kontakt zum Hof des Papstes, und obwohl er nicht jeden Papst billigte, der auf dem Heiligen Stuhl saß, war er sehr erfreut, als das Papsttum aus der sogenannten «Babylonischen Gefangenschaft» in Avignon 1367 nach Rom zurückkehren wollte.* Leider erlebte er die vollständige Wiederherstellung des Papsttums in Rom nicht mehr, er starb an seinem Schreibtisch in Arquà einen Tag vor seinem ­siebzigsten Geburtstag, am 19. Juli 1374. Angeblich sah er aus, als schliefe er, als man ihn fand, den Kopf auf ein Manuskript von Vergil gelegt. Vergil wurde – und wird – normalerweise eng mit Dante verbunden, der eine

* Der Papstsitz wurde 1309 unter Clemens V. nach Avignon verlegt. 1367 kehrte Papst Urban  V. nach Rom zurück, musste die Stadt jedoch 1370 wieder verlassen. Sechs Jahre später unternahm Gregor  XI. einen erneuten Versuch, dauerhaft nach Rom zurückzukehren, obwohl die Kirche aufgrund des Schismas gespalten war, das bis 1417 anhielt. Siehe Kapitel 16.

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Generation älter als Petrarca war. Gemeinsam bildeten Dante und ­Petrarca die Spitze der italienischen Literatur im 14. Jahrhundert. Sie ­waren den von ihnen so bewunderten klassischen Autoren ebenbürtig und die Riesen, auf deren Schultern die größten Künstler und Schriftsteller der Renaissance stehen sollten. Als der Schweizer Gelehrte Jacob Burckhardt ungefähr fünfhundert Jahre später auf Petrarcas Leben zurückblickte, glaubte er, er könne den genauen Moment festlegen, an dem die Renaissance «begann». Es sollte der 26. April 1326 sein, jener Samstag, an dem der junge Petrarca und sein Bruder Gherardo beschlossen, den Mont Ventoux in der Nähe des Dorfs Vaucluse zu besteigen, einen Berg von fast 2000 Metern Höhe, der heute vor allem wegen seines strapaziösen Anstiegs bei der Tour de France bekannt ist. Laut eigener Aussage hatte Petrarca schon als Kind davon ­geträumt, den Berg zu besteigen, um zu schauen, was vom Gipfel aus zu sehen war. Weder die Tatsache, dass der Ventoux «eine jäh abstürzende, fast unersteigliche Felsmasse» war, noch die ausdrückliche Warnung eines alten Schäfers konnte die Brüder abhalten. Und so wagten sie sich an den Aufstieg.18 Der muss ziemlich mühsam gewesen sein. Aber sie quälten sich nach oben. Und während des schwierigen Auf- und Abstiegs dachte Petrarca über die Schriften des Heiligen Augustinus nach. Anschließend schrieb er, dass er dadurch die Bedeutung der Selbstbetrachtung und körperlichen Anstrengung als Quelle der religiösen Offenbarung kennengelernt habe. Die Menschen würden, so seine Erkenntnis, «sich im Vielerlei verlieren und … außerhalb suchen, was innen zu finden gewesen wäre», erklärte er. Laut Burckhardt wäre diese Erkenntnis und die Idee, einen Berg zu besteigen, nur um die Natur um ihrer selbst willen zu erleben, niemals jemandem gekommen, der vor Petrarca gelebt hatte – so wie beide Konzepte für die Generationen nach ihm völlig normal gewesen seien.19 Das, so behauptete der berühmte Kunsthistoriker, mache Petrarca so besonders. Heute gilt Burckhardts These zum Beginn der Renaissance als überholt. Dennoch muss man feststellen, dass nach Petrarcas Tod 1374 ein literarischer Aufschwung einsetzte, der im gesamten Abendland zu spüren war. Boccaccio, der 1375 gestorben war, hatte sein Decamerone zwanzig

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Jahre zuvor fertiggestellt. In England begann der begeisterte Italienliebhaber Geoffrey Chaucer um 1387 mit seinen Canterbury Tales und arbeitete bis zu seinem Tod im Jahr 1400 daran. (Chaucer übersetzte übrigens auch Petrarcas Dichtung ins Englische und übernahm eine seiner lateinischen Geschichten, Griselda, als The Clerk ’s Tale, «Die Erzählung des Scholaren».) In Frankreich stieg die in Venedig geborene Dichterin, Historikerin und Philosophin Christine de Pizan zum Star am französischen Hof des wahnsinnigen Königs Karl VI . auf und spann eine neue und mitreißende Legende über die trojanische Herkunft der Franken. Außerdem verfasste sie die wohl allererste feministische Geschichte, Le Livre de la Cité des D ­ ames («Das Buch von der Stadt der Frauen»), ein in französischer Umgangssprache geschriebenes Kompendium über das Leben und die Taten großer Frauen in der Geschichte. Zwanzig Jahre nachdem Christine de Pizan das Buch fertiggestellt hatte, waren Leonardo Bruni und Filelfo in Italien aktiv. Bald darauf, in den 1440er Jahren, schuf Donatello seine berühmte Bronzestatue des David – die allgemein als die erste naturalistische nackte männliche Statue des Mittelalters gilt. Das war natürlich nicht alles auf Petrarcas direkte oder indirekte Wirkung zurückzuführen. Doch zusammengenommen war es eine künstlerisch außergewöhnliche Zeit. Wir werden bald wieder nach Italien zurückkehren. Aber zuvor müssen wir ein weiteres pulsierendes Zentrum der Kreativität und künstlerischen Innovationen im 15. Jahrhundert betrachten, das nördlich der Alpen lag, genauer gesagt in Burgund. Das Herzogtum Burgund war der Nachfolgestaat des verschwundenen gleichnamigen Königreichs, das im 6. Jahrhundert dem fränkischen Reich einverleibt worden war. Im 15. Jahr­ hundert erstreckte es sich unter der Herrschaft einer Familie unabhängig gesinnter Herzöge vom Nordufer des Genfer Sees bis zur Nordseeküste Flanderns. Seine Herrscher hatten nicht vergessen, dass sie unter anderen Umständen Könige hätten sein können, und versuchten auf jede mögliche Art darauf hinzuweisen. Sie agierten als politische Strippenzieher in den letzten Etappen des Hundertjährigen Krieges zwischen England und Frankreich. Sie nahmen das Kreuz und kämpften als Kreuzfahrer gegen die Osmanen. Aber sie waren auch großzügige, freigebige Förderer der Künste und Künstler, wodurch ihr Hof im 15. Jahrhundert zu einem Zentrum für kreative Genies aus ganz Europa wurde.

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The Good, the Bad and the Lovely Im Nordwesten Europas war der Winter von 1434/35 bitterkalt. In England fror die Themse bis zur Mündung zu. Über Schottland lag eine so dicke Eisschicht, dass die Mühlräder über Wochen stillstanden, wodurch es zu einer großen Knappheit an Mehl und Brot kam. Und in Arras in Flandern, wo es vier Monate lang unaufhörlich schneite, bauten die Einwohner kunstvolle Schneemänner nach dem Vorbild mythischer, über­ natürlicher, politischer und historischer Gestalten. An einer Straße lagen die Sieben Schläfer von Ephesus. In einer anderen verrenkten sich eisige Skelette zu einem Danse macabre. Die allegorische Gestalt Dantes wachte über den Eingang zum Petit Marché. Und zwischen allen stand auch eine Schneefrau, die eine kleine Truppe bewaffneter Schneemänner anführte.20 Es handelte sich um Jeanne d ’ Arc, die jeder Passant, der auf den verschneiten Straßen unterwegs war und an ihr vorbeikam, sofort erkannte. Ein Jahrzehnt zuvor war Jeanne  – ein einfaches Mädchen aus dem Dorf Domrémy im Herzen Burgunds in Ostfrankreich – für eine kurze Zeit die berühmteste Frau Europas gewesen. 1425, mit etwa dreizehn Jahren, ­waren ihr die Erzengel erschienen und hatten ihr verkündet, dass sie den ungekrönten Sohn und Erben Karls  VI . aufsuchen sollte, den sogenannten Dauphin, um ihm zu helfen, die englischen Truppen aus Frankreich zu vertreiben, die in Nordfrankreich einmarschiert waren und einen großen Teil des Gebiets besetzt hielten.* Erstaunlicherweise setzte Jeanne

* An dieser Stelle wäre es vielleicht sinnvoll, die Ereignisse des Hundertjährigen Krieges und die Lage Frankreichs kurz zusammenzufassen. Wie bereits in Kapitel 13 erwähnt, zerfiel Frankreich während der langen und problematischen Regierungszeit Karls  VI. (reg. 1380–1422) in zwei Lager, in die rivalisierenden Armagnacs und Bourguignons. Heinrich V. von England (reg. 1413–1422) nutzte diese Situation für seine Zwecke, fiel in Frankreich ein, besiegte das französische Heer der Armagnacs in der berühmten Schlacht von Agincourt (25. Oktober 1415) und machte sich anschließend daran, einen Großteil der Normandie und Nordfrankreichs zu erobern. Mit dem Vertrag von Troyes (1420) erkannten die Franzosen Heinrich und seine Erben als legitime Nachfolger Karls  VI. an und gestanden den Engländern damit praktisch das zu, was sie als eins ihrer Hauptziele im Krieg betrachteten, die Vereini-

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die Anweisungen der Erzengel um und hatte damit sogar Erfolg. Ende der 1420er Jahre marschierte sie mit nun etwa siebzehn Jahren mit einem Heer des Dauphin, um wieder gegen die Engländer zu kämpfen. Manchmal trug sie eine Rüstung, wie sie sonst nur Männer hatten, und obwohl sie nicht selbst kämpfte, war sie ein leuchtendes Vorbild und Zeichen, dass Gott auf ihrer Seite stand, denn überall, wo sie hinkam, brachte sie offenbar den Franzosen den Sieg. 1429 trug sie das Banner der französischen Truppen, als diese bei der Belagerung von Orléans durch die Engländer einen hart erkämpften Sieg davontrugen. Im Jahr darauf stand sie in schimmernder Rüstung und mit dem Banner in der Hand an der Seite des Dauphin, als er in der Kathedrale von Reims als Karl VII . zum König von Frankreich gekrönt wurde.21 Doch im Mai 1430 wurde Jeanne in der Schlacht von Compiègne gefangen genommen. Ihr Häscher war ein Adliger namens Johann  II . von Luxemburg, der aufseiten der Engländer kämpfte, weil er ein Anhänger von deren wichtigstem Verbündeten war, von Philipp dem Guten, Herzog von Burgund. Auf dessen Vermittlung verkaufte er Jeanne an die Engländer. Jeanne wurde von einem Kirchengericht wegen Häresie verurteilt und ein Jahr später in Rouen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Herzog von Burgund war nicht in der Stadt, um sie sterben zu sehen. Er hatte Jeanne sogar während ihrer Haft besucht (aber nie preisgegeben, worüber die beiden gesprochen hatten), zeigte jedoch keine Gewissensbisse, dass er den Verkauf dieser wehrlosen jungen Frau an die Engländer eingefädelt hatte, obwohl er wusste, dass das ihren sicheren Tod bedeutete. Wie sich herausstellte, machte sich der Herzog auch keine allzu gro-

gung der englischen und französischen Krone. Der älteste Sohn Karls VI., der Dauphin, der auf der Seite der Armagnacs stand, wurde dadurch enterbt. Beides wäre ohne die Unterstützung der Engländer durch die Burgunder nicht möglich gewesen. In den frühen 1430er Jahren waren Heinrich  V. und Karl  VI. tot, und Heinrichs jüngster Sohn, Heinrich VI., war theoretisch der Nachfolger beider Könige. Frankreich war praktisch in drei Teile zerfallen: den von den Engländern kontrollierten nördlichen Teil, den Süden der Armagnacs und den burgundischen Streifen, der Burgund, Flandern und die Niederlande umfasste. Eine Allianz zwischen zwei Mächten führte zwangsläufig immer zum Nachteil der dritten Partei.

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ßen Gedanken über seine Loyalität gegenüber den Engländern. Im kalten Winter 1434/35, als die verstorbene Jeanne als Schneefrau auf den Straßen von Arras wiederauferstand, bereitete sich Philipp der Gute darauf vor, die Engländer im Stich zu lassen. Sechs Monate nachdem der Schnee endlich geschmolzen war, im September 1435, vereinbarte Philipp mit Karl VII . im Vertrag von Arras, den Engländern in Frankreich seine Unterstützung zu entziehen. Damit wies er den Anspruch des jungen eng­ lischen Königs Heinrich  VI . auf die französische Krone zurück und trat einer englandfeindlichen Koalition bei, darunter die Königreiche Schottland und Kastilien. Von diesem schweren Schlag sollten sich die Eng­ länder nicht mehr erholen, er führte schließlich mit der Schlacht von Castillon 1453 zu ihrer endgültigen Niederlage im Hundertjährigen Krieg. Mit dem Vertrag von Arras konnte der burgundische Herzog kurz- und auch mittelfristig seine Macht auf der europäischen Bühne ­demonstrieren. Historiker, die sich mit Diplomatie- und Militärgeschichte beschäf­ tigen, haben viel Zeit damit verbracht, die Bedingungen und Folgen des Vertrags von Arras zu analysieren. Doch damit müssen wir uns hier nicht befassen. Wichtig ist, dass Philipp der Gute ein hervorragender Herzog war, der einer großartigen Linie von Herzögen entstammte. Doch er wollte mehr, wollte König sein. Ihm war klar, dass ein großer P ­ otentat nicht nur im Krieg und in der Schlacht Klugheit und politisches Geschick beweisen musste, sondern auch sicherstellen sollte, dass er in den ständigen diplomatischen Spielchen zwischen den europäischen Reichen als ­eigenständige Kraft anerkannt wurde. Ihm war jedoch auch bewusst, dass zur Wahrnehmung von Macht weit mehr gehörte, als Gesandte auf Trab zu halten und Armeen marschieren zu lassen. Es ging ­dabei immer auch um Prunk und höfisches Spektakel. Daher war es kein Zufall, dass Philipp der Gute in den 1430er Jahren mehr sein wollte als ein politischer Strippenzieher. Er positionierte sich gezielt als Europas größter Förderer der Künste, der sich mit einem Zirkel umwerfend kreativer Menschen umgab. Ihr Schaffen war der Beweis für die Königlichkeit des energiegeladenen Herzogs. Der größte Künstler in diesem Kreis – ein Maler, dem man schon zu Lebzeiten zugestand, den Lauf der westlichen Kunst für immer verändert zu haben – war Jan van Eyck.

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Als der Vertrag von Arras geschlossen wurde, war van Eyck Mitte fünfzig und einer der engsten Vertrauten und Freunde Philipps. Er wurde um 1390 geboren, vermutlich in Maaseik (im heutigen Belgien). Wahrscheinlich hatte er einen älteren Bruder namens Hubert, der ebenfalls Maler war – unter Kunsthistorikern wird ausführlich diskutiert, welchen Anteil dieser Hubert am van Eyck-Kanon hatte. Klar ist jedoch, dass Jan der mit Abstand brillantere der beiden war. Als junger Mann bereiste Jan van Eyck Flandern und die Niederlande und praktizierte seine Kunst. Er lebte in Lüttich und Gent und arbeitete zunächst an relativ konven­ tionellen, von der Gotik beeinflussten religiösen Szenen, die Jesus und die Jungfrau Maria in biblischen Darstellungen zeigten. In den frühen 1420er Jahren war sein Mäzen ein gewisser Johann «Gnadenlos», der als jüngerer Sohn einer Adelsfamilie eigentlich für eine Kirchenlaufbahn vorgesehen war, dann aber doch zum Herzog aufstieg. Seinen Beinamen hatte er erhalten, weil er bei der Niederschlagung einer Rebellion in Lüttich 1408 sämtliche Rebellen massakrieren ließ. Sein Komplize bei diesem Gemetzel war übrigens niemand anderes als der Vater Philipps des Guten, ­Johann Ohnefurcht. Doch 1425 waren Johann Ohnefurcht und Johann Gnadenlos bereits tot (Ohnefurcht war auf einer Brücke totgeprügelt worden, der Gnadenlose wurde mit einem vergifteten Gebetbuch g­ etötet). Damit war Philipp der maßgebliche Herrscher in Flandern und darüber hinaus, und van Eyck geriet natürlich in den Bannkreis des charismatischen Herzogs. Seit dem Frühjahr 1425 erhielt er 100 livres parisis (Pariser ­ hilipps Pfund)  – ein hübsches Sümmchen  – für eine Doppelrolle als P Kammerdiener und Hofmaler. Damit gehörte er zwar zu Philipps Hof, durfte aber auch Aufträge von außen annehmen. Diese Aufgaben­verteilung war für van Eyck perfekt. Am herzoglichen Hof, dem Jan van Eyck 1425 beitrat, herrschte ein munteres, prunkvolles Treiben, mitunter ging es auch mal unflätig zu. ­Philipp, der ungefähr so alt war wie van Eyck, war eine auffällige und charismatische Erscheinung. Ein Chronist beschrieb ihn als lang und dünn, mit Venen, die überall an seinem Körper hervortraten. Er hatte die typische Adlernase der Familie, ein braungebranntes Gesicht und «buschige Augenbrauen, die wie Hörner abstanden, wenn er wütend war».22 Ein Porträt, erstellt von van Eyks großem Zeitgenossen Rogier van der Weyden,

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bestätigt diese Beschreibung. Und es stützt die Behauptung desselben Chronisten, dass der Herzog sich «klug, aber prunkvoll» kleidete; auf van der Weydens Porträt trägt er ein luxuriöses schwarzes Gewand, den ­feinen juwelengeschmückten Kragen seines Ritterordens vom Goldenen Vlies und eine große, schwarze, turbanähnliche Kopfbedeckung, einen sogenannten Chaperon. Van Eyck muss schon bald zu dem Schluss gekommen sein, dass dieser bemerkenswerte Adlige eine konventionelle Frömmigkeit mit extravaganten Exzessen kombinierte. Der Herzog ging jeden Tag zur Messe, hatte jedoch die päpstliche Genehmigung, das erst zwischen 14 und 15 Uhr zu tun (anstatt am Morgen), weil er abends gern bis spät in die Nacht und manchmal bis in den Morgen tafelte, trank, tanzte und feierte und so spät aufstand, dass offizielle Besucher abgewiesen wurden, wenn sie zu früh kamen und er sich noch von seinen Partys erholte.23 Er hatte tadellose ­Manieren und war vor allem gegenüber Frauen sehr höflich, von denen er sagte, sie seien fast immer die wahren Herren im Haus und müssten umgarnt werden. Doch neben seinen drei Ehefrauen hatte er im Lauf der Zeit auch noch zwischen zwanzig und dreiunddreißig Mätressen und mindestens elf uneheliche Kinder. Der Herzog hatte außerdem einen bemerkenswert surrealen, oft an Slapstick grenzenden Humor. Seine privaten Briefe beendete er gern mit der Formulierung «Leb wohl, du Stück Scheiße». Und er zahlte einem Künstlerkollegen van Eycks 1000 Pfund, damit er die Räume in seinem Schloss bei Hesdin mit Scherzartikeln ausstatte, um Besucher an der Nase herumzuführen: Statuen spritzten Wasser auf vorbeigehende Höflinge, in einem Türdurchgang war eine Art Boxhandschuh angebracht, der «jedem, der hindurchgeht, ordentlich auf den Kopf und die Schultern schlägt», und im Boden waren weitere Wasserdüsen versteckt, um unter die Röcke der Damen zu spritzen. In einem Raum gab es einen sprechenden Eremiten aus Holz, es gab eine Regenmaschine in der Decke, die ein falsches Gewitter auf die Besucher niederprasseln ließ, und einen vermeintlichen Schutzraum vor dem Regen mit einer falschen Tür, so dass diejenigen, die dem Wasser entkommen wollten, in einem großen Sack voll Federn landeten.24 Derartige Scherze bedienten Philipps skurrilen, leicht grausamen

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­ umor. Doch sie entsprangen auch seiner grenzenlosen Begeisterung für H Erfindungen und Kunsthandwerk. Er gab ein Vermögen für Tapisserien aus, kunstvoll geschmückte religiöse Gewänder, juwelenbesetzte Reliquien und exquisite Buchmalereien.25 Er beschäftigte Musiker, Maler, Goldschmiede, Schriftsteller und andere Künstler und Kunsthandwerker in einem größeren Ausmaß als jeder andere Herrscher seiner Zeit (mit Ausnahme der italienischen Höfe). Allein um seine Schmucksammlung zu inspizieren, benötigte man drei Tage, wie deren Hüter erklärte.26 Und natürlich nahm er van Eyck in seine Dienste, der unter seiner Förderung zur künstlerischen Reife gelangte und als derjenige, der praktisch die ­Ölmalerei erfand, zum artistischen Alchemisten wurde, wie es Giorgio Vasari formulierte, ein Autor des 16. Jahrhunderts.27 Van Eyck verbrachte nicht seine gesamte Zeit bei Herzog Philipp – sein Vertrag verlangte nicht, dass er ständig am Hof lebte; er konnte in ­seinem eigenen Atelier arbeiten, in dem Philipp gelegentlich vorbeischaute. Dennoch waren die beiden bei vielen wichtigen Anlässen zusammen, denn van Eycks Arbeit war eng mit Philipps politischen Ambitionen verbunden, und der Herzog hatte großes Vertrauen zu ihm. Von Anfang an wurde van Eyck auch als Diplomat in heiklen Missionen eingesetzt: 1426 wurde er auf eine Reise geschickt, die in den Unterlagen des Herzogs als «Pilgerfahrt» aufgelistet ist – vermutlich eine unauffällige Erkundung in Aragón, um bei König Alfons  V . die Möglichkeiten einer Heiratsallianz zu sondieren und Porträts der möglichen Bräute zu erstellen.28 1428 war er jedenfalls in einem entsprechenden geheimen Auftrag in Portugal unterwegs: Dabei wurde die dreißig Jahre alte Infantin Isabella als Philipps dritte Frau auserkoren. Am portugiesischen Hof malte van Eyck wahrscheinlich zwei Porträts der Infantin auf Leinwand, die nach Burgund geschickt wurden, damit sich der Herzog ein Urteil bilden konnte. Offensichtlich leistete van Eyck gute Arbeit, denn das Paar heiratete tatsächlich. Seine Dienste brachten ihm nicht nur beträchtliche Bonuszahlungen, sondern auch Philipps Freundschaft und Bewunderung ein. Als 1435 der Vertrag von Arras geschlossen wurde, war Philipp bereits Taufpate von van Eycks und Margaretes erstem Kind und hatte dem Maler eine Gehaltserhöhung um 700 Prozent gewährt – die, wie Philipp seinen Buchhaltern erklärte, völlig gerechtfertigt sei, da «wir keinen anderen fänden,

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der uns so sehr gefiele und so hervorragend in seiner Kunst und Wissenschaft wäre».29 So groß konnte die Macht eines Mannes mit dem Pinsel sein. Und natürlich erreichte van Eyck mit der Gewissheit von Philipps Unterstützung in dieser Zeit den Gipfel seiner Kunst. Ein Porträt in der ­National Portrait Gallery in London, von dem man annimmt, dass es sich um ein Selbstporträt handelt, zeigt einen etwas ernst blickenden mittel­ alten Mann mit einem prächtigen roten Chaperon  – eine faszinierend ­lebensechte Darstellung und ein Meisterwerk der Ölmalerei, das durch den Einsatz von Licht und Schatten, die verblüffend lebensecht wirkende Haut, die feinen Linien im Gesicht des Porträtierten und das Glitzern, das in seinem Blick tanzt, auch heute noch begeistert. Damals war es revolutionär. Van Eyck lebte in einer Zeit, in der die eindimensionale, idealisierte oder schablonenhafte Darstellung des Menschen, die für die mittelalter­liche Kunst so typisch ist, erst allmählich diesem deutlich lebensechteren Stil wich, voller Leben, Tiefe und Farbe. So wie Petrarca die Dichtung genutzt hatte, um das Innenleben des Menschen zu ergründen, versuchten die Maler des 15. Jahrhunderts, in ihren Porträts die innere Wahrheit einzufangen  – das, was ein Individuum ausmachte. In den 1430er Jahren trieb van Eyck diese Entwicklung mit jedem Gemälde zu neuen Höhen. Van Eycks besonderes Talent lag in seinem genauen Blick, seinem meisterhaften Umgang mit dem Pinsel, seinem Gespür für die Verwendung von Farben, seiner Liebe zum Detail und seiner unvergleich­lichen Hand-Augen-Koordination. Doch auch in der Maltechnik erzielte er große Fortschritte. Van Eyck entdeckte, wie man Ölfarbe mit anderen Ölen und Essenzen mischte und dadurch eine sehr flüssige und glatte Konsistenz erzeugte, die es dem Künstler erlaubte, subtile Feinheiten wie einzelne Härchen, winzige Pickel, Hautporen und rissige Lippen abzubilden. Er konnte perfekt das Funkeln eines Juwels einfangen. Er konnte den Lichteinfall auf den Falten der Kleidung darstellen. Er konnte die Krater des Mondes abbilden. Er konnte eine Schwalbe im Flug auf die Leinwand bannen, die irgendwo im Himmel ein Wendemanöver vollführte, und er konnte festhalten, wie Sonnenlicht auf die anmutig herabhängenden ­Blütenblätter einer Iris fiel. Er konnte das kalte Grauen des Tageslichts

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nachbilden, das sich in der Wölbung einer blutbefleckten Ritterrüstung spiegelte, und gleichzeitig den desillusionierten Ausdruck in den Augen des Trägers, der traumatisiert ins Nichts starrt. Aus gutem Grund bezeichnete Bartolomeo Fazio, ein italienischer Humanist und Zeitgenosse van Eycks, den Maler als den prominentesten Künstler seiner Zeit und ­argumentierte, sein Œuvre müsse zusammen mit der Literatur als besonders verfeinerte Form der Kunst gelten, geschaffen von einem heraus­ ragenden Talent.30 Van Eyck war schlicht und ergreifend ein malerisches Genie. Und 1434/35 hatte er zwei der großartigsten Gemälde seiner Zeit geschaffen. 1432 beendete van Eyck die Arbeiten an einem zwanzigteiligen Altaraufsatz für die St.-Bavo-Kathedrale in Gent (im heutigen Belgien). Der Genter Altar, ein sogenanntes «Polyptychon» (bei dem die Bildtafeln auf beiden Seiten bemalt und durch Scharniere verbunden sind, damit man sie auf- und zuklappen kann), begann wahrscheinlich als Gemeinschaftswerk von Jan und seinem Bruder Hubert; allerdings erscheint die pedantisch geführte Debatte darüber, wer was malte, irrelevant angesichts des majestätischen Werks an sich.* In der Mitte befindet sich die Tafel mit dem Titel Die Verehrung des Lammes Gottes. Engel, Bischöfe, Heilige, ­Könige, Königinnen, Damen, Soldaten, Kaufleute und Eremiten haben sich darauf um einen Altar versammelt, auf dem das Lamm Gottes steht und aus einer Wunde an der Brust blutet; das Blut wird in einem goldenen Kelch aufgefangen. Auf den oberen Bildtafeln thront Christus in all seiner Glorie, umgeben von der Jungfrau Maria, Johannes dem Täufer und musizierenden und singenden Engeln. An den beiden «Flügeln» des Altar­ aufsatzes stehen Adam und Eva, nackt bis auf ein Feigenblatt, wobei Eva schamhaft, aber wenig erfolgreich das zu verstecken sucht, was gelegentlich als erste bekannte mittelalterliche Darstellung von Schamhaar angeführt wird. Auf die Rückseite der Bildtafeln – die zu sehen waren, wenn

* Der Genter Altaraufsatz wurde vor Kurzem brillant restauriert. Dabei wurden Übermalungen und Firnis früherer Restaurierungen entfernt, so dass er heute van Eycks Version bei seiner Fertigstellung 1432 so nahe kommt wie seit vielen Jahrhunderten nicht mehr.

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der Flügelaltar an «Alltagen» geschlossen war – malte van Eyck die Verkündigung, Johannes den Täufer und Johannes den Evangelisten sowie Joost Vijdt, den Bürgermeister von Gent, und seine Frau Lysbet als die beiden wichtigsten Stifter des Altars. Kurz nach der Fertigstellung des Genter Altars arbeitete van Eyck an einem weiteren, ganz anderen Meisterwerk: der Arnolfini-Hochzeit. Das Gemälde zeigt den italienischen Kaufmann Giovanni Arnolfini, der zwischen Lucca und Brügge mit Seide und anderen kostbaren Stoffen handelte, und seine junge Frau. Das Paar steht Hand in Hand in einem Schlafzimmer, beleuchtet von einer einzelnen Kerze, die Schuhe liegen auf dem Boden und ein frecher kleiner dunkelbrauner Schoßhund posiert zwischen ihren Füßen. Ein Spiegel an der Wand reflektiert raffiniert, aber auch etwas unheimlich zwei weitere Personen im Raum, die dort stehen, wo man eigentlich den Standpunkt des Malers vermuten würde. Im Spiegel wirkt der Raum verzerrt und in die Länge gezogen, was ihm eine teleskopische Tiefe gibt, aber gleichzeitig im Widerspruch zu allen anderen wichtigen Linien im Bild steht, die jeweils senkrecht verlaufen. Doch nicht nur dieses geometrische Bravourstück und der aufmerksame Blick für geradezu mikroskopische Details machen die Arnolfini-Hochzeit zu einem Meisterwerk der humanistischen Kunst. Während man den Blick des Kaufmanns unter schweren Lidern nur schwer ergründen kann, zeigt sich die Bürde der Zeit, die offenbar schwer auf den Schultern der beiden ungleichen Partner (die sich aufgrund ihres Alters und ihrer Herkunft sichtlich unterscheiden) lastet, deutlich auf ihren Gesichtern. Der Genter Altar und die Arnolfini-Hochzeit bestätigten van Eycks ­Position als herausragendster Maler seiner Zeit. Interessanterweise wurden weder der Altaraufsatz noch das Gemälde von seinem Schirmherrn Philipp dem Guten in Auftrag gegeben, der ihm ein Vermögen für seine Dienste zahlte. Eine Verbindung zu Philipps Hof bestand trotzdem. Gent war eine Stadt im Herrschaftsgebiet der Burgunder, ihr Glanz strahlte auch auf den Herzog aus. Arnolfini wiederum hatte Philipp den Guten in den 1420er Jahren darin unterstützt, das Ansehen Burgunds am päpst­ lichen Hof aufzupolieren, und sechs exquisite Tapisserien als Geschenk an Papst Martin gesandt.31 Gut möglich, dass Philipp van Eyck auch finan-

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zierte, eben weil sich der Maler seine Auftraggeber in ganz E ­ uropa aussuchen konnte. Dem Herzog, der Kostbarkeiten und Kunstwerke in einer Geschwindigkeit und Menge sammelte, mit denen es nur ­wenige andere Magnaten im Westen aufnehmen konnten, genügte es, mit dem virtuosen Künstler in Verbindung gebracht zu werden – und zu wissen, dass er allein van Eycks Mäzen war. In den späten 1430er Jahren zahlte er van Eyck weiterhin hohe Summen, damit er Burgund repräsentierte, und betraute ihn mit weiteren diplomatischen Missionen, in denen nicht nur sein Pinsel, sondern auch sein scharfer Blick gefragt waren. Anscheinend hatten die beiden vereinbart, dass andere van Eyck gerne beauf­tragen durften, und das wurde auch genutzt: Zu seinen Auftraggebern ­gehörten etwa Baudouin de Lannoy, burgundischer Gesandter am eng­lischen Königshof, der auf dem Porträt etwas schwermütig blickt, und der reiche, in Brügge ansässige Goldschmied Jan de Leeuw. Doch sie konnten van Eyck nie für sich allein haben. Van Eyck starb 1441 bei der Arbeit an einer Bildtafel, die als Madonna des Nicolas van Maelbeke bekannt ist und als Altarbild im Kloster von Ypern dienen sollte (und heute leider nur noch als Kopie bekannt ist). Van Eyck wurde zweimal bestattet – zuerst auf dem Friedhof und dann in der Kathedrale des heiligen Donatius in Brügge, die im Gefolge der Fran­ zösischen Revolution abgerissen wurde und heute nicht mehr steht. Seine Anstellung am Hof Philipps des Guten hatte sechzehn Jahre lang gewährt, und obwohl er viele seiner besten Werke für andere Auftraggeber schuf, sollte er für immer mit Burgund in Verbindung gebracht werden. Van Eyck blieb an sämtlichen Höfen Europas als «herausragender Meister in der Kunst des Malens» in Erinnerung. Andere Künstler – sogar Italiener – reisten Hunderte Kilometer in die unter burgundischer Herrschaft stehenden Städte Flanderns und der Niederlande, um sein Werk zu studieren und sich womöglich einige Tricks und Kniffe abzugucken.32 Genau aus diesem Grund hatte Philipp ihn in seine Dienste genommen. Er machte Burgund ebenso bekannt, wie es politische Verhandlungen im Hinter­ zimmer oder ein doppeltes Spiel mit den Engländern und Armagnacs vermochten. Philipp überlebte seinen größten Künstler um zweieinhalb Jahrzehnte und starb 1467 mit siebzig Jahren. Auch seinen Nachfahren gelang es

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nicht, Burgund zum Königreich zu machen, sie konnten nicht einmal seine Unabhängigkeit bewahren: In den 1490er Jahren wurde Burgund aufgeteilt, der Großteil des Territoriums ging an die Habsburger und wurde später Teil des Heiligen Römischen Reichs. Doch der Ruhm dieses europäischen Halbreichs, das als kulturelle Macht für kurze Zeit über sich selbst hinauswuchs, sollte über Jahrhunderte weiterbestehen. Und Philipps Modell, Pracht durch Mäzenatentum zu entfalten, fand weite Verbreitung.

Das «Universalgenie» Um 1482 schrieb der dreißigjährige Maler Leonardo da Vinci einen Brief an Ludovico Sforza, «il Moro» (der «Dunkle») genannt, der den Stadtstaat Mailand regierte. Leonardo bat Ludovico um eine Anstellung. In den Jahren zuvor hatte er in einer renommierten Künstlerwerkstatt in Florenz gearbeitet, die von Andrea del Verrocchio geführt wurde. Dort hatte er viel gelernt, denn Verrocchio war selbst ein exzellenter Künstler, zu dessen Auftraggebern die reichsten und angesehensten Florentiner ­Familien gehörten, darunter auch die Medici. In seiner Werkstatt entstanden Skulpturen und Gemälde, Metallarbeiten, zeremonielle Rüstungen und Textilien, unter anderem war dort auch die Kugel aus glänzendem gehämmertem Kupfer gefertigt worden, die Brunelleschis Kuppel krönte – ein Meisterwerk der Handwerkskunst, für dessen Lötarbeiten man konkave Spiegel nutzte, um Sonnenlicht auf einen einzigen heißen Punkt zu konzentrieren.33 Unter Verrocchios Anleitung hatte Leonardo bereits Gelegenheit gehabt, seine Fähigkeiten zu beweisen: Er und sein Meister hatten gemeinsam an anrührenden Porträts wie Tobias und der Engel (heute in der National Gallery in London ausgestellt) und M ­ adonna mit Kind (heute in der Gemäldegalerie Berlin) gearbeitet. Doch mit dreißig strebte Leonardo nach Höherem. Er wollte nicht nur ein ­eigenständiger Künstler sein oder eine eigene Werkstatt in Florenz betreiben. Er wollte viel mehr. In seinem Brief an Ludovico Sforza erläuterte er seine Fertigkeiten. «Ich habe Pläne für sehr leichte, aber dabei starke Brücken, die sich

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ganz leicht befördern lassen», schrieb er. «Ich kann bei der Belagerung ­eines Platzes das Wasser aus den Gräben ableiten … [ich] habe ferner ein Verfahren, um alle Kastelle oder andre Bollwerke zu zerstören, falls sie nicht auf Felsen errichtet sind. Ferner habe ich Pläne für Bombarden … mit denen man kleine Steine schleudern kann, fast so, als ob es hagle.» Er prahlte, er könne Waffen für Schiffe konstruieren, Stollen und sichere ­Geheimgänge planen und «unangreifbare gedeckte Wagen bauen, die mit ihren Geschützen durch die Reihen des Feindes fahren». Er könne auch Katapulte und Mörser bauen «und andere ungebräuchliche Geräte von wunderbarer Wirksamkeit». Neben der Militärtechnik, so behauptete er, sei er ein Meister der Baukunst und könne sich «mit jedem andern bei der Errichtung öffentlicher und privater Gebäude» messen, zudem könne er Wasser von einem Ort zum anderen leiten. Er schrieb, er könne außerdem ein berühmtes, seit Langem erörtertes Kunstwerk in Mailand fertigstellen, eine riesige Reiterstatue aus Bronze zum Ruhm von Ludovicos verstorbenem Vater, dem Herzog Francesco Sforza. Zum Schluss erwähnte er fast beiläufig: «Ferner werde ich … in der Malerei wohl etwas leisten, was sich vor jedem andern, wer immer es auch sei, sehen lassen kann.»34 Dieser Brief Leonardos, der als Entwurf in seinen Notizbüchern erhalten ist, gibt Einblick in das Denken und den Geist eines Mannes im Mittelalter, den viele für das größte Genie aller Zeiten halten. Leonardo setzte seinen Interessen keine Grenzen, und es gab wenig, was er nicht konnte. Er malte nicht nur einige der berühmtesten Kunstwerke seiner Zeit – Mona Lisa, Das Letzte Abendmahl, Felsgrottenmadonna und Salvator Mundi*  – und zeichnete den Vitruvianischen Menschen, der heute Kultstatus genießt, sondern beschäftigte sich auch mit Anatomie, Optik, Astronomie, Physik und Ingenieurwesen. Die Erfindungen, die er in ­seinem Notizbuch skizzierte  – darunter auch Flugzeuge und Panzer  – waren oft so ambitioniert, dass sie erst Hunderte Jahre nach seinem Tod

* Salvator Mundi ist eine relativ aktuelle Ergänzung auf der Liste seiner größten Werke; zum Teil verdankt es diese Position der Tatsache, dass das Gemälde 2017 bei einer Auktion für etwas mehr als 450 Millionen Dollar verkauft wurde, wodurch es (als dieses Buch geschrieben wurde) zum teuersten Kunstwerk der Geschichte wurde.

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verwirklicht werden konnten. Seine persönlichen Notizen, die größtenteils in ordentlicher, linkshändiger Spiegelschrift verfasst waren, zeugen von einer breiten Palette an intellektuellen Themen, aber auch ganz praktischen Anwendungen. Leonardo war ein Universalgelehrter und ein furchtloser Denker. Und das wusste er. Deshalb schrieb er auch an Ludovico Sforza. Selbstbewusst ging er davon aus, dass seine Fähigkeiten, Resultat eines unersättlich wissbegierigen Geistes, für einen Politiker, Kriegsherrn und Asketen wie Il Moro von unermesslichem Wert sein müssten. Und er hatte sich nicht getäuscht. Nach seinem Brief arbeitete Leonardo siebzehn Jahre in Mailand. Doch das war nur die erste Station einer langen Karriere, in deren Verlauf er vielen großen Herren in Italien und Frankreich diente. Für alle war es ein Glück, dass er für sie arbeitete, denn er war, wie es Vasari in seinen Künstlerbiografien formulierte, «wunderbar und gottbegnadet».35 Leonardo wurde im Städtchen Vinci geboren, das etwa einen Tagesritt von Florenz entfernt liegt. Sein Vater war Notar, seine Mutter war ein sechzehnjähriges Mädchen vom Land. Die beiden waren nicht verheiratet, doch ein uneheliches Kind war in der Zeit keine große Schande. Es bedeutete nur, dass Leonardo bei seinen Großeltern aufwuchs und keinen strengen Latein-Unterricht erhielt. Mit zwölf zog er mit seinem Vater von Vinci nach Florenz, zwei Jahre später wurde er Lehrling bei Verrocchio, zu dessen Kreis vielleicht auch der brillante Maler Sandro Botticelli gehörte.36 Bei Verrocchio lernten die Gehilfen nicht nur malen und bildhauern. Sie erhielten auch Einblicke in die praktische Geometrie und ­Anatomie und studierten klassische Literatur, um die Themen der Kunstwerke, an denen sie arbeiteten, besser zu verstehen. Leonardo sog alles in sich auf. Als Leonardo in den frühen 1470er Jahren ein junger Mann war, war Florenz ein noch besserer Ort für einen Künstler als vierzig Jahre zuvor zur Zeit Cosimo de ’ Medicis und Francesco Filelfos. Die Stadt wurde praktisch von Lorenzo de ’ Medici regiert, auch «der Prächtige» genannt, der das Familienunternehmen 1460 übernommen hatte. Die finanzielle Situation der Medici-Bank war zwar sehr angespannt, da die Bank in den 1470er Jahren durch ihre Niederlassung in Brügge katastrophale Verluste

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erlitt, weil der dortige Geschäftsführer dem burgundischen Herzog Karl dem Kühnen, Sohn und Nachfolger Philipps des Guten, enorme Kredite ohne Sicherung gegeben hatte. Dennoch war Lorenzo sehr großzügig bei der Förderung der Künste und machte seine Amtszeit zu einem goldenen Zeitalter der Renaissance. Eine kurze Aufzählung der Künstler, die in den 1470er und 1480er Jahren nach Florenz kamen und dort arbeiteten, enthält gleich mehrere ­Namen der brillantesten Künstler in der Geschichte der Menschheit. Neben Verrocchio, Botticelli und Leonardo waren in der Stadt auch ­Domenico Ghirlandaio und die Brüder Pollaiuolo aktiv. Der Dichter und Griechisch-Gelehrte Angelo Ambrogini (auch bekannt als Poliziano) kombinierte seine Pflichten als Tutor von Lorenzo de ’ Medicis Kindern mit der Übertragung von Homers Ilias in lateinische Verse. Giovanni Pico della Mirandola («ein sozusagen göttlicher Geist», wie Machiavelli schrieb) ging nach Florenz, um sich Lorenzos Gönnerschaft zu sichern, und prahlte, er könne neunhundert Thesen zu so verschiedenen Themen wie der christlichen Glaubenslehre und der Hexerei gegen jeden und alle verteidigen, die es wagten, ihn herauszufordern.37 Einige Jahre später kam der dreizehnjährige Michelangelo Buonarroti als Lehrling in die Werkstatt Ghirlandaios und entwickelte sich zu einem der größten Konkurrenten da Vincis als bester Maler der italienischen Renaissance. Der Reichtum der Medici war eine wesentliche treibende Kraft dieser Kreativität: Lorenzo setzte die von seinem Großvater begründete Fami­ lientradition fort, jedes Jahr mehrere, wenn nicht sogar Hunderte Millionen in kulturelle Projekte zu investieren – aus dem einfachen Grund, weil er und fast alle anderen, auf deren Meinung er Wert legte, darin eine sinnvolle Investition sahen. Zum einen war prestigeträchtiger Konsum an sich schon befriedigend – wie er es auch heute noch ist, zumal für Milliardäre. Zum anderen wollte Lorenzo mit seinem guten Ruf als Förderer der Künste von seinen zwielichtigen Geschäften in der Stadt ablenken. Außerdem konnte das Mäzenatentum auch in der Diplomatie von Nutzen sein. Gelegentlich wurden Florentiner Künstler an andere große Potentaten «ausgeliehen», um deren Gunst zu gewinnen. Als Lorenzo für einen seiner Söhne einen Posten als Kardinal anstrebte, sandte er den Maler Filippino Lippo nach Rom, um die private Kapelle eines anderen Kardinals

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auszumalen; gut möglich, dass er auch Leonardo ermunterte, seine Dienste der Sforza-Familie in Mailand anzubieten. Das klingt zynischer, als es tatsächlich war. Die reichlich vorhandene Kunst, vor allem die Kunst im öffentlichen Raum, sollte die innere Tugend der Republik Florenz widerspiegeln. Machiavelli behauptet, Lorenzo habe hohe Summen ausgegeben, um die Stadt zu verschönern: «Sein Zweck war, die Stadt im Überfluß, das Volk einig, den Adel geehrt zu erhalten.»38 Sicher hatte Lorenzo auch persönliche Beweggründe – doch zu ihnen gehörte eben auch echter bürgerschaftlicher Stolz, der im 15. Jahrhundert untrennbar mit der Vorstellung von Führung verbunden war. Lorenzos Florenz, die Stadt, die Leonardo da Vinci hervorbrachte, war reich an Schönheit, aber auch gewalttätig und gefährlich – vielleicht sogar noch gefährlicher als zu Cosimos Zeit. Parteienkämpfe in der Stadt konnten immer noch in ein spektakuläres Blutvergießen münden – wie etwa 1478 bei der Pazzi-Verschwörung, als Attentäter im Auftrag der Familie Pazzi mit der Unterstützung von Papst Sixtus  IV . versuchten, Lorenzo und seinen Bruder Giuliano in der Kathedrale Santa Maria del Fiore zu töten. Öffentlich ausgetragene Fehden waren in der politischen Kultur tief verwurzelt und hinterließen auch bei Leonardo ihre Spuren: In einem seiner Notizbücher findet sich eine bemerkenswerte Skizze, die zeigt, wie einer der Verschwörer, Bernardo Bandini del Baroncelli, tot in einer Schlinge hängt. (Neben der Skizze machte Leonardo munter Notizen über die Farben von Baroncellis Kleidung.) Wer in dieser pulsierenden, üppig finanzierten Welt der Renaissance leben und arbeiten wollte, musste sich mit der makabren Realität abfinden und die allgegenwärtige Brutalität, die Verbrechen und den Krieg hinnehmen. Es war daher kein Zufall, dass Leonardo sich gegenüber Ludovico Sforza als jemand präsentierte, der mehr konnte, als engelsgleich zu malen. Er wusste, um wirklich zu den Großen zu gehören, musste man einen gewissen Pragmatismus auf­ bringen – und in der Lage sein, die eigene Genialität für alle möglichen Zwecke zu nutzen, wenn nötig auch für diabolische. Leonardos siebzehn Jahre in Mailand waren betriebsam und sehr produktiv. Er war nicht nur gut aussehend und charmant – «sein Körper war mit nie genügend gepriesener Schönheit geschmückt, in allen seinen

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Handlungen zeigte er die größte Anmut», wie Vasari schrieb –, sondern auch sanftmütig. Er vergötterte Tiere und aß niemals Fleisch. Unergründlich, aber gesellig, schloss er leicht Freundschaften, doch sein engster Gefährte war sein junger Gehilfe Gian Giacomo Caprotti da Oreno, besser bekannt unter dem schlichten Namen Salaj, der 1490 als Zehnjähriger zu ihm in die Lehre kam. Schön, schwer zu bändigen und mit einer kleptomanischen Ader ausgestattet, war Salaj für Leonardo in dem Vierteljahrhundert, in dem er bei ihm blieb, Muse, Gehilfe, Schützling, Sohn und (sehr wahrscheinlich) Geliebter. Seine prägenden Jahre als Teenager verbrachte er an Leonardos Seite in Mailand. In dieser Zeit konnte Leonardo große Ausschreibungen für sich entscheiden, bei denen es nicht um Militärprojekte ging, sondern um Kunst im öffentlichen Raum. Er war als Berater beim Umbau der riesigen und statisch heiklen gotischen Kathedrale von Mailand tätig. Er verbrachte viele Stunden damit, Theaterapparaturen zur Belustigung von Ludovicos Hofstaat zu konstruieren. Er malte die beiden Versionen der Felsgrottenmadonna (von denen heute eine im Pariser Louvre und die andere in der Londoner National Gallery hängt). Er fertigte die wunderschönen und ­intimen weltlichen Porträts, die heute als Bildnis eines Musikers, Dame mit dem Hermelin und La Belle Ferronière bekannt sind. Über zwei Jahre lang arbeitete er am Letzten Abendmahl – ein Wandgemälde im Refektorium des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie  – und wurde dabei von neugierigen Bürgern besucht, die sehen wollten, wie er den ganzen Tag auf dem Gerüst saß und malte. Privat beschäftigte er sich mit der Anatomie der Tiere und Menschen. Sein Vitruvianischer Mensch, eine wissenschaftliche Zeichnung, die die geometrischen Proportionen der menschlichen Form illustrieren sollte, stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Und er füllte weiterhin seine Notizbücher mit Entwürfen für Maschinen, Betrachtungen zur Mathematik, Studien natürlicher Bewegungen und anderem. Es war eine wunderbar kreative Zeit. Doch sie sollte nicht ewig währen. Von all den kühnen Entwürfen, die Leonardo Ludovico Sforza in seinem Brief von 1482 genannt hatte, war der Vorschlag, dessen Umsetzung er am nächsten kam, der Guss eines großen Bronzepferdes – dem lange geplanten Monument für Ludovicos Vater Herzog Francesco Sforza. In

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den ersten Monaten des Jahres 1489 bekam er endlich den Auftrag und richtete eine Werkstatt mit einem halben Dutzend Gehilfen ein, in der er Pläne für das größte Reiterstandbild erstellte, das die Welt je gesehen hatte – es sollte die dreifache Lebensgröße haben, 75 Tonnen wiegen und die Macht der Sforza-Dynastie proklamieren, die in Mailand erst seit 1401 das Sagen hatte und nach spektakulären Möglichkeiten suchte, von i­hrer fehlenden Vorgeschichte abzulenken.39 Leonardos Pläne für dieses gigantische Monument waren mehr als gewagt – sie waren visionär. Er wollte die Statue in einem Stück gießen, eine Vorgehensweise, die in jener Zeit noch kein anderer angedacht, geschweige denn versucht hatte. Ende 1493 hatte er sich durch die strukturellen Probleme des Formens, Gießens und Abkühlens gearbeitet und war bereit loszulegen. Doch das riesige Pferd wurde nie realisiert. Denn genau in dem Moment fielen französische Truppen in Norditalien ein, und zwischen Frankreich und dem neu vereinigten Königreich Spanien entspann sich ein ­erbitterter Krieg um die Vorherrschaft auf der italienischen Halbinsel. Die italienischen Stadtstaaten waren in großer militärischer Bedrängnis. Ludovico Sforza konnte es sich nicht leisten, kostbares Metall für ein riesiges Pferd zu verschwenden. Er schickte die Bronze, die für Leonardos Statue vorgesehen war, 250 Kilometer weiter nach Osten in die Stadt Ferrara, wo sie zur Herstellung von Kanonen verwendet wurde. Damit war die Statue passé. Für Leonardo muss die Enttäuschung groß gewesen sein, andererseits war er pragmatisch genug, um zu wissen, dass daran nichts zu ändern war. «Ich kenne die Zeiten», schrieb er.40 Die Landkarte Europas veränderte sich dramatisch und abrupt. Künstler und Kunsthandwerker mussten sich, so gut es eben ging, darauf einstellen. Leonardo war nie ­wieder der Luxus vergönnt, siebzehn Jahre lang eine feste Stelle bei einem reichen Gönner zu haben. Allerdings war der Kreis potenzieller Förderer noch gewachsen, da der Krieg den Preis für sein künstlerisches und technisches Fachwissen in die Höhe trieb. 1499 marschierte ein weiteres französisches Heer über die Alpen, um in Norditalien einzufallen, und setzte Ludovico Sforza ab (der schließlich 1508 in einem französischen Kerker starb). Leonardo musste fliehen. Er machte sich auf den Weg zurück nach Florenz, mit kurzen Zwischenstopps in Mantua, um Isabella d ’ Este, die junge und zielstrebige Mark­

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gräfin der Stadt und einflussreiche Förderin der Künste, zu treffen (und zu zeichnen), und in Venedig, wo er als Berater für die Verteidigungs­ anlagen im Fall eines osmanischen Überfalls tätig war. Im Jahr 1500 war er wieder zu Hause und arbeitete an zahlreichen verschiedenen Projekten. Kurzzeitig wurde er auch von Cesare Borgia beschäftigt: einem gefähr­ lichen, sadistisch gewalttätigen, verantwortungslosen und extrem gerissenen Feldherrn und späteren Fürsten, dessen Vater der sexuell zügellose Papst Alexander  VI . war. Cesare verbrachte die frühen Jahre des 16. Jahrhunderts mit der Eroberung kleinerer Städte im Umland von Florenz und verzichtete nur auf dessen Eroberung, weil die Florentiner ihm Schutzgeld zahlten. Er stellte Leonardo als militärischen Berater und Kartenzeichner ein, und Leonardo blieb fast ein Jahr in seinen Diensten, während Borgia mordend und plündernd durch Italien zog. Leonardos Genie hatte auch eine berechnende, pragmatische Seite, die in seltsamem Widerspruch zu seinen sanfteren, humanistischen Interessen stand.41 Ein Förderer war für ihn wohl ein Förderer, ohne Wenn und Aber. Die Arbeit für Borgia ermöglichte es Leonardo, seine Fähigkeiten in der Kartografie, beim Brückenbau und der Planung von Festungsanlagen weiterzuent­ wickeln. Offensichtlich genügte ihm das, um über Cesares moralische Verkommenheit hinwegzusehen.42 Vielleicht konnte man trotzdem nur eine gewisse Zeit mit Cesare Borgia auskommen. 1503 schied Leonardo aus seinen Diensten aus. Im folgenden Jahrzehnt war er viel zwischen der Toskana und der Lombardei unterwegs – dem Florenz der Medici und dem französisch besetzten Mailand – und versuchte, sich an die raschen politischen Veränderungen und Schicksalswendungen der damaligen Zeit anzupassen. Die Turbulenzen und ständigen Umwälzungen hätten einen weniger robusten oder weltklugen Menschen sicher schwer mitgenommen. Doch Leonardo schien munter voranzuschreiten, ohne dass die hohe Qualität seiner Werke unter den schwierigen Zeiten gelitten hätte. Vermutlich begann er zwischen 1503 und 1506 in Florenz mit dem Porträt der Lisa Gherardini del Giocondo – der Mona Lisa  –, an dem er den Rest seines Lebens arbeiten würde.43 ­Außerdem fertigte er ein (mittlerweile verlorenes) Wandbild für den ­Palazzo Vecchio, das Männer und Pferde in der Schlacht von Anghiari zeigte: einem Zusammenstoß der Mailänder und Florentiner Truppen im

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Jahr 1440. Er und seine Gehilfen produzierten zahlreiche Versionen eines Gemäldes mit dem Titel Madonna mit der Spindel. In Mailand begann er 1509 auch mit der Arbeit an dem außergewöhnlichen Gemälde Johannes der Täufer, auf dem er den Heiligen sehr androgyn darstellte. Und er ­arbeitete an grandiosen militärischen und zivilen Projekten, die jedoch nicht realisiert wurden. Er plante, den Fluss Arno umzuleiten, um eine Dürre in der Stadt Pisa hervorzurufen, mit der Florenz immer wieder im Zwist lag. ­Darüber hinaus wollte er die Sümpfe um die Stadt Piombino trockenlegen und auf dem gewonnenen Land eine uneinnehmbare Festung bauen. Aus all dem wurde nichts – doch Leonardo hörte nie auf zu träumen. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts machte sich das Alter bemerkbar. Eine Zeichnung aus dem Jahr 1512, die Leonardo von sich als Sechzigjährigem anfertigte, zeigt einen grauhaarigen, langnasigen, kahl werdenden Mann mit wallendem Bart und leicht hängenden Schultern. Dennoch war er ein großer Meister in einer glanzvollen Epoche. Zu seinen Zeit­genossen zählten der widerborstige, reizbare, sexuell verschlossene und oft geradezu zornige Michelangelo, der 1504 seinen David in Florenz enthüllte – doch selbst ein Genie wie Michelangelo musste die Erlaubnis von Leonardo und anderen ranghohen Florentinern einholen, damit er seine Statue vor dem Palazzo Vecchio aufstellen durfte. Leonardos Stern war also noch nicht verblasst. Und zu seinen Mäzenen zählten nun die mächtigsten Personen seiner Zeit. 1513 wurde Lorenzo de ’ Medicis Sohn Giovanni zum Papst gewählt. Dieser Leo X . beschloss, dass er Leonardo am päpstlichen Hof gebrauchen konnte, wo gerade aufwendige Renovierungsarbeiten durchgeführt wurden. Und so brach Leonardo im September von Florenz nach Rom auf. Dort begann die letzte Phase seines Lebens. Leonardos Zeit mit einem Medici-Papst als Mäzen war nicht ganz so grandios, wie er es sich vielleicht erhofft hatte. Zum einen war er nicht an den aufregenden Projekten beteiligt, die gerade in der Heiligen Stadt umgesetzt wurden. Michelangelo hatte den Auftrag bekommen, die Decke der Sixtinischen Kapelle zu bemalen, die er 1512 fertigstellte. Raffael (Raffaello Sanzio) verschönerte die Papstgemächer. Beide waren deutlich jünger als Leonardo, doch der prestigeträchtigste Auftrag, der Bau des neuen Petersdoms, damals das größte architektonische Vorhaben der Welt, war

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1506 an Leonardos Altersgenossen Donato Bramante gegangen. Leonardo hatte zwar eine schöne Unterkunft im Vatikan, war jedoch mehr oder ­weniger sich selbst überlassen: Er beschäftigte sich mit Geometrie und Spiegelung, zähmte eine Eidechse, für die er einen Mantel aus mit Quecksilber überzogenen Schuppen anfertigte, sezierte Leichen und machte sich Notizen zu deren Anatomie. Das alles war sicher faszinierend, noch dazu erhielt er eine hübsche Summe, ohne viel tun zu müssen. Doch er fühlte sich unausgelastet. 1516 verließ Leonardo Rom und kehrte Italien zum ersten Mal in seinem langen Leben den Rücken, um einem neuen Gönner zu dienen: Franz  I ., dem jungen und charismatischen neuen König von Frankreich. Er war über vierzig Jahre jünger als Leonardo, ein echtes Kind der Renaissance. Wie sein Altersgenosse und Sparring-Partner Heinrich  VIII . von England war Franz von beeindruckender Statur, gut aussehend und mit einer instinktiven Vorliebe für Schönes und die reichen Früchte des ­Humanismus ausgestattet. Er kam am ersten Tag des Jahres 1515 mit zwanzig Jahren auf den Thron und traf Leonardo zusammen mit dem Papst am Ende des Jahres. Den großen Künstler nach Frankreich zu ­locken, wo er ihn im pittoresken Dorf Amboise unterbrachte, war eine hervorragende Gelegenheit, der Welt die Werte der neuen französischen Monarchie zu vermitteln. Und für Franz persönlich war es eine Chance, sich mit dem größten Universalgelehrten seiner Zeit auszutauschen und von ihm zu lernen. In den folgenden drei Jahren führten Leonardo und Franz ein angenehmes Leben und genossen die Gesellschaft des anderen. Genau wie in seiner Mailänder Zeit entwarf und gestaltete Leonardo für das kulturelle Leben bei Hof. Er erledigte letzte Feinarbeiten an seinen großen Gemälden, darunter auch an der Mona Lisa. Er fertigte Entwürfe für einen ganz neuen Renaissance-Palast und die entsprechenden Stadtgebäude in ­Romorantin an. Er beschäftigte sich mit Mathematik und der Fließbe­ wegung des Wassers. Und er alterte zusehends, aber in Würde. Nach mehreren Schlaganfällen starb er schließlich am 2. Mai 1519. Laut einer Überlieferung, die bei Vasari ihren Anfang nimmt, starb er mit Franz an seinem Bett  – tatsächlich soll ihm Franz «das Haupt gehalten» haben, und Leonardo «verschied in den ­Armen des Königs». Für Vasari war das

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ein passendes, nobles Ende für einen so großen Künstler. «Das unbedeutendste, schmuckloseste Zimmer verschönte und verherrlichte er durch jede seiner Handlungen», erklärte Vasari. «Und wie die Stadt Florenz durch die Geburt dieses Künstlers eine große Gabe empfing, erlitt sie durch seinen Tod einen mehr als herben Verlust.»44 Das betraf nicht nur Florenz. Jeder Förderer, in dessen Diensten Leonardo gestanden hatte, vom mörderischen Cesare Borgia bis zum weltgewandten Franz  I ., hatte von seinem Genie profitiert; für die Welt war sein Tod ein großer Verlust.

Ein goldenes Zeitalter Leonardo da Vinci war der ultimative Renaissance-Mensch – weshalb es uns oft schwerfällt, ihn als ein Geschöpf des Mittelalters zu sehen. Und doch wurde er im gleichen Jahr wie König Richard III . von England geboren; er starb mehrere Jahrzehnte, bevor der polnische Astronom Nikolaus Kopernikus seine These vorbrachte, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt.* Viele Projekte Leonardos – vom Hubschrauber bis zur Taucherglocke – waren so fortschrittlich, dass sie nicht in seine, sondern in unsere Zeit gehören. Er ist im Grunde ein Grenzgänger – der beiden Welten angehört und der die Kraft hat, uns emotional und intellektuell mit dem Mittelalter zu verbinden. Zu seiner Zeit war Leonardo jedoch ein primus inter pares. Wenn er nie gelebt hätte – oder wenn er ein legitimes Kind seines Vaters gewesen wäre, eine konventionelle Erziehung erhalten und eine solide Laufbahn als Notar eingeschlagen hätte –, könnten wir trotzdem von der Renaissance als Meilenstein sprechen, einem Zeitalter des Übergangs in der ­Geschichte des Abendlands und der Welt, das einen Strom neuer Ideen, Methoden und Stilrichtungen in der Literatur, Kunst und in den Geisteswissenschaften hervorbrachte. Dafür hätten Leonardos Zeitgenossen  –

* Kopernikus veröffentlichte seinen wichtigsten Text zum Thema, De revolutionibus orbium coelestium («Über die Umlaufbahnen der Himmelssphären») erst 1543, in seinem Todesjahr.

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von Botticelli und Donatello bis zu Michelangelo und Raffael – gesorgt. Und natürlich waren es nicht nur die Italiener. Obwohl die Quelle der ­Renaissance in Italien lag, erfasste die kulturelle Revolution bis zum 16. Jahrhundert fast jedes Reich im Westen. In England war der Humanist und Staatsmann Thomas Morus am Hof Heinrichs  VIII . tätig und veröffentlichte unter anderem Utopia, ein satirisches Werk mit Kommentaren zur gesellschaftlichen Situation und politischen Philosophie. In Frankreich wurde Leonardos Platz als talentiertester Maler am Hof Franz ’ I. von Jean Clouet und später von dessen Sohn François Clouet übernommen, dessen Gemälde von Personen am französischen Hof wie Franz I . oder dessen Schwiegertochter Caterina de ’ Medici einen ähnlichen Symbolcharakter haben wie die Gemälde, die Hans Holbein der Jüngere in den 1530er Jahren am englischen Hof schuf. In Polen begann der polnische Dichter Mikołaj Rej, in polnischer Sprache zu schreiben, und der Künstler Stanisław Samostrzelnik experimentierte mit neuen Stilrichtungen in der Buch- und Freskenmalerei, die Männer wie der Italiener Bartolomeo Berrecci und der deutsche Maler und Buntglasmeister Hans von Kulmbach in den Osten gebracht hatten. Diese kreativen Menschen  – und noch viele weitere  – brachten die Kultur während des gesamten 16. Jahrhunderts und bis ins 17. Jahrhundert hinein zum Blühen. Konstant blieb in diesem langen Zeitraum die enge Verflechtung von Mäzenen und Künstlern, die nicht ohne einander auskamen. Tatsächlich lautet einer der Gründe dafür, warum die wunderbare Kreativität der Renaissance noch so lange nach ihrem ersten Aufkommen im 14. Jahrhundert anhielt, dass viele mächtige Männer und Frauen in ­Europa im Lauf der Zeit noch reicher wurden und Zugang zu neuen Quellen für Gold und kostbare Güter erhielten, von denen die Generationen vor ihnen noch nicht einmal träumen konnten. Und man kann durchaus sagen, dass sie ihren neu gewonnenen Reichtum gern für schöne Dinge ausgaben. Doch woher kam dieser Reichtum? Die Antwort liegt im Westen. In dem Jahr, in dem Leonardo starb, brachte der deutsche Maler und Grafiker Albrecht Dürer viele Mal- und Zeichentechniken sowie Erkenntnisse der Renaissance nach Nürnberg. Dürer war ein eifriger Reisender mit ­einer unstillbaren Neugier, einer enormen Bandbreite an Interessen und

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einem Intellekt, der dem Leonardos nicht unähnlich war. Auf seinen Reisen nach Italien und in die Niederlande lernte er viel über Malerei, Holzschnitt, Anatomie und Geometrie. Er korrespondierte mit anderen gelehrten und begabten Menschen in ganz Europa, und wie einst Petrarca befasste er sich gründlich mit dem Thema der Schönheit an sich. Er por­ trätierte Monarchen wie Maximilian  I ., den Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, genauso gern wie exotische Tiere aus fernen Ländern. (Dürers Holzschnitt Rhinocerus, der sich heute in der National Gallery of Art in Washington DC befindet, ist ein echtes Meisterwerk.) Seine Inspiration holte er sich aus Nah und Fern, und normalerweise konnte er alles, was er sah, analysieren und auch verstehen. Doch als Dürer zusammen mit seiner Frau im Spätsommer 1520 in die burgundischen Niederlande reiste, sah er Dinge, die er nicht so einfach ­erklären, geschweige denn in seine Arbeit aufnehmen konnte. In Brüssel besuchte das Paar das Rathaus, wo Gold- und Silberschätze ausgestellt wurden, deren Schönheit sich fast jeder Beschreibung entzog. Sie gehörten Kaiser Karl V ., den Dürer in den Niederlanden aufsuchen wollte, um ihn um eine Leibrente zu bitten. Dürer notierte in seinem Tagebuch, was er gesehen hatte: … eine ganz guldene Sonnen, einen ganzen Klafter breit; deßgleichen ein ganz silbern Mond … deßgleichen zwo Kammern voll derselbigen Rüstung, desgleichen von allerley ihrer Waffen, Harnisch, Geschütz, wunderbahrlich wahr, seltsamer Klaidung, Pettgewandt [Bettgewand] und allerley wunderbahrlicher Ding zu manniglichem Brauch, das do viel schöner anzusehen ist dan Wunderding. Diese Dinge sind alle köstlich [kostbar] gewesen, das man sie beschätzt umb 100 000 Gulden werth. Und ich hab aber all mein Lebtag nichts gesehen, das mein Herz so erfreuet hat als diese Ding. Dann ich hab darin gesehen wunderliche künstliche Ding und hab mich verwundert der subtilen Ingenia [Erfindungsgabe] der Menschen in frembden Landen.45

Dürers grobe Schätzung, dass der Schatz 100 000 Gulden wert sei, war an sich schon fast unvorstellbar: Seine eigene jährliche Leibrente, die ihm Karls Vorgänger Maximilian gezahlt hatte, betrug 300 Gulden – was damals eine beträchtliche Summe war. Doch noch viel wichtiger ist seine Wertschätzung für die Kunstfertigkeit der exotischen Exponate. Denn

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Dürer bekam in jenem Jahr in Brüssel Werke von Künstlern zu sehen, die von der Renaissance völlig unberührt waren. Der ausgestellte Schatz war von Hernán Cortés – einem Abenteurer und Konquistador, der über den Atlantik gesegelt war und die Megastadt Tenochtitlán (heute MexikoStadt) erobert hatte  – von Mexiko nach Europa gebracht worden. Die Kostbarkeiten waren ein Geschenk des Aztekenherrschers Moctezuma II . und nur ein kleiner Vorgeschmack auf die enormen Reichtümer in Nordund Südamerika, die Cortés und andere Europäer gerade erkundeten und eroberten. Dieser Reichtum finanzierte die nächste Phase der Renaissance – und noch vieles mehr. Mit Beginn des 16. Jahrhunderts wurde die Welt größer, reicher – und gewalttätiger. Die Weltkarte veränderte sich. Und mit ihr änderten sich auch die bisherigen Regeln.

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Seefahrer «Inzwischen ist viel Zeit vergangen, seit zuletzt jemand über das Meer ins Heilige Land gefahren ist.» Sir John Mandeville, Reiseschriftsteller im 14. Jahrhundert

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ie Kanone war so gewaltig, dass man sechzig starke Ochsen und zweihundert Soldaten brauchte, um sie zu bewegen. Sie war von ­einem ungarischen Ingenieur gebaut worden, der eine hübsche Summe dafür bekam, dass er in neuen Größenordnungen gedacht hatte.1 Das ­Kanonenrohr war 8 Meter lang* und hatte einen so großen Durchmesser, dass man damit über eine halbe Tonne schwere Felsbrocken abfeuern konnte. Das Laden in der Schlacht war so mühsam, dass die Kanone nur siebenmal am Tag abgefeuert werden konnte. Doch die Mühe wurde mehr als belohnt, wenn das Ungetüm mit gewaltigem Lärm loslegte. Ein Chronist, der die Detonation hörte, berichtete, der Knall sei so laut, dass man befürchtete, Umstehende könnten, wenn sie davon überrascht würden, danach nicht mehr sprechen und schwangere Frauen ihre Kinder verlieren.2 Die spätmittelalterlichen Stadt- und Burgmauern waren gebaut worden, um Katapulten, Mangonellen, Belagerungstürmen und dem Werk der Mineure standzuhalten. Doch unter dem Bombardement einer gewal-

* Das ist deutlich länger als bei der Haubitze M777 mit einem Kaliber von 155 Millimetern, die heute von den US-amerikanischen, australischen, kanadischen und indischen Bodentruppen eingesetzt wird. Das Geschützrohr der M777 misst etwas mehr als 5 Meter.

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tigen Feldkanone, geladen mit Schießpulver aus «Natron, Schwefel, Kohle und Kräutern», fielen sie einfach in sich zusammen.3 Aus diesem Grund befahl der gerade einmal einundzwanzigjährige osmanische Sultan Mehmed  II . im Frühjahr 1453 seinen Soldaten, seine größte Kanone über 200  Kilometer nach Osten zu transportieren, vom Hauptquartier in Adrianopel (Edirne) an den Stadtrand von Konstantinopel. Mehmeds Heer zählte mindestens achtzigtausend Mann und war zusammen mit seiner Flotte groß genug, um eine Blockade um die Hauptstadt des Byzantinischen Reichs zu errichten. Doch Mehmed brauchte mehr als eine enorme Truppenstärke, um die berühmten doppelten Mauern der Königin der Städte zu stürmen. Daher auch die Kanone: «Eine ungeheuerliche Sache schon für das Auge, für das Ohr aber gänzlich unglaublich», wie der Chronist Michael Kritobulos von Imbros schrieb, der Mehmed kannte und bewunderte und Konstantinopel nach dem Angriff besuchte.4 Als Sultan Mehmed mit der Belagerung Konstantinopels begann, war er seit zwei Jahren der alleinige Herrscher über das Osmanische Reich.5 Er hatte jedoch schon seit seinem dreizehnten Lebensjahr Macht ausgeübt und militärische Entscheidungen getroffen. Das Kämpfen war ihm quasi in Fleisch und Blut übergegangen. Und er wurde vom selben Impuls getrieben, den bereits sein verstorbener Vater Murad II . und viele Sultane vor ihm verspürt hatten: die Grenzen und den Ruhm des Osmanischen Reichs über den Nahen Osten und den Balkan hinaus zu erweitern. Der kriegerische islamische Staat war 1299 von Osman  I . gegründet worden, einem eher unbedeutenden türkischen Kriegsherrn mit Sitz in Kleinasien, südlich von Konstantinopel. Mitte des 15. Jahrhunderts herrschten Osmans Nachkommen über eine aufstrebende Supermacht. Sie kontrollierten weite Teile des ehemals byzantinischen Territoriums auf dem Balkan und etwa die Hälfte Kleinasiens, wo sie ein Bollwerk zwischen Europa und den Mongolen bildeten. Die Einnahme Konstantinopels würde ihren Anspruch auf eine Vormachtstellung im östlichen Mittelmeerraum bestätigen und die Möglichkeit einer weiteren Expansion in Gebieten wie Serbien, Ungarn und Albanien eröffnen. Die regionale Hegemonie war für den jungen Sultan zum Greifen nah. Das Bombardement, das Mehmed mit seiner Wunderkanone und anderen kleineren Bronzekanonen auf Konstantinopel niederhageln ließ,

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versetzte die Bewohner in Angst und Schrecken. Kritobulos erlebte die Bombardierung nicht direkt mit, hörte aber später Beschreibungen von Augenzeugen. «[Es] entstand zunächst ein fürchterliches Brüllen und ein Beben der Erde unter ihm, sogar noch in großer Entfernung, und ein Getöse wie noch nie. Dann wurde mit einem ungeheuerlichen Donner und entsetzlichem Dröhnen und einer Flamme, die ringsum alles versengte und schwärzte, der Pfahl durch den Druck der trockenen, glühenden Luft von innen herausgetrieben und gab herausschießend dem Stein einen gewaltigen Schub. Dieser aber flog mit ungeheurer Gewalt und Wucht gegen die Mauer, zertrümmerte sie und riss sie augenblicklich ­nieder, und er zerbrach und zersprengte sie in viele Stücke. Diese zerstreute er in alle Richtungen und tötete diejenigen, die gerade in der Nähe waren.»6 Sobald ein derartiger Schlag einen Teil der Mauer, einen Vorsprung oder Turm herausriss, eilten Einwohner herbei, um das Loch so gut wie möglich mit Schutt zu stopfen. Eine Zeit lang hielt diese Rettungsaktion Mehmed tatsächlich davon ab, seine Soldaten im Schutz des Kanonenfeuers zum Sturm auf die Stadt zu schicken. Langfristig war sie jedoch keine Lösung. Am Abend des 28. Mai 1453, nach siebenundvierzig Tagen Belagerung, stürmten Mehmeds Männer die mittlerweile ziemlich demolierten Mauern der Stadt. Die Verteidigungstruppen innerhalb der Mauern, griechische, genuesische und venezianische Soldaten unter dem Oberkommando des byzantinischen Kaisers, des neunundvierzigjährigen Konstantinos XI . Palaiologos, kämpften tapfer, während Kanonenschläge dröhnten und aus dem dunklen Himmel Pfeile, Armbrustbolzen und griechisches Feuer herabregneten.7 «Zunächst kämpften beide Seiten in heftigem Geplänkel gegeneinander … mit Wurfspießen, Speeren und Lanzen, indem sie aufeinander schossen und beschossen wurden, erbarmungslos, mit großer Erbitterung und Zorn. Und von beiden gab es lautes Geschrei, Schmähung und Verhöhnung, und auf beiden Seiten gab es viele Verwundete, nicht wenige aber fielen auch», berichtete Kritobulos.8 Doch die Verteidiger waren in Hinblick auf ihre Zahl und ihre Waffen weit unterlegen. Im Morgengrauen wurden sie überwältigt. Im Hafen gab es noch chaotische Evakuierungsversuche, während die Angreifer bereits durch die Straßen der Stadt zogen und hemmungslos plünderten. Die osmanischen Solda-

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ten und die Leibgarde des Sultans (die sogenannten Janitscharen) ließen ihrer Mordlust freien Lauf. Grausame, mitleiderregende Szenen spielten sich ab. Laut Kritobulos töteten die Osmanen, weil sie wütend waren, «vor allem aber wollten sie alles in Angst und Schrecken versetzen und sie unterwerfen mit ihrem Gemetzel». Kirchen wurden ausgeraubt und Schreine entweiht. Manuskripte von unschätzbarem Wert wurden in den Straßen aufgetürmt und verbrannt. Frauen wurden aus den Häusern gezerrt und als Sklavinnen verschleppt. «Mit Schwertern bewaffnete Männer, die Hände blutig vom Morden, wutschnaubend, blutrünstig blickend, Unverständliches rufend, schamlos bereit zu jeder noch so schlimmen Tat, … [fielen] wie die wilden und ungezähmten Tiere in die Häuser ein.» Wehrlos waren die Einwohner den Soldaten ausgeliefert, die sie «roh fortrissen, fortzogen, zerrten, mißhandelten, schändlich fortschleppten, auf offener Straße schändeten und welche Untat nicht vollbrachten?»9 In den folgenden Tagen wurden möglicherweise bis zu fünfzigtausend Einwohner der Stadt gefangen genommen. Tausende kamen ums Leben. Unter den Gefallenen war auch Kaiser Konstantinos, der Seite an Seite mit seinen Männern gekämpft hatte und auch so starb. Sein Leichnam wurde nie gefunden – obwohl mehrere Beobachter meinten, sie hätten im Durcheinander nach dem Fall der Stadt gesehen, wie sein abgetrennter Kopf auf einer Lanze durch die Straßen getragen wurde.10 Mehmed  II . ritt auf einem weißen Pferd prunkvoll in die Stadt ein, bewunderte die ­antiken Bauwerke und wies seine Männer an, sie nicht weiter zu beschädigen. (Es heißt, Mehmed habe einem Soldaten persönlich einen Schlag auf den Kopf verpasst, als der gerade den Marmorboden der Hagia Sophia demolierte.) Er inspizierte die Gefangenen und beanspruchte die schönsten Mädchen und Jungen für sich. Er genoss ein Festmahl und betrank sich. Und er begann Pläne für den Wiederaufbau der Stadt zu schmieden, die bereits vor seiner Ankunft unter einer schwindenden Einwohnerzahl und fortschreitendem Verfall gelitten hatte. Als Sieger stand das nun alles Mehmed zu. Über tausendeinhundert Jahre hatten christliche Kaiser in Konstantinopel regiert  – römische, ­byzantinische oder lateinische. Diese Zeit war nun vorbei. Konstantinopel war jetzt osmanisch. Der römische Kaiser war tot. Oder wie Kritobulos

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schrieb: «Mit der großen Stadt des Konstantin, die sich zu ihrer Zeit zu großem Ruhm, Macht und Reichtum erhob und alle Städte vor ihr, welche wegen ihres Ruhms, Reichtums, ihrer Herrschaft, Macht, Größe und aller übrigen Dinge wegen bewundert wurden, bei Weitem und mit ungeheurem Abstand übertraf, hat es ein solches Ende genommen.»11 Selbst wenn man hier von poetischer Übertreibung ausgehen muss, war das ein entscheidender Wendepunkt in der Geschichte Konstantinopels – und in der Geschichte des Abendlands. Nach dem Fall der Stadt veränderte sich die ganze Welt. Die Eroberung Konstantinopels 1453 war für das christliche Europa ein ähnlicher Schock wie die Einnahme Jerusalems durch Saladin im Jahr 1187. Das überrascht nicht. Für Tausende italienische Kaufleute und abenteuerlustige Pilger war Konstantinopel ein wichtiges Etappenziel und glanzvolles Tor zur östlichen Hälfte der Welt. Für Millionen weiterer Menschen war Konstantinopel eine Idee. Es stand für die anhaltende Präsenz des Römischen Reichs auf Erden und eine historische Kontinuität, die bis in die graue Vorzeit zurückreichte. Über ein Jahrtausend lang war die Stadt eine Säule der christlichen Welt gewesen, ein Bollwerk, das die Türken und die Heere des Islam ferngehalten hatte. In Wirklichkeit war Byzanz seit Generationen politisch viel zu schwach, um etwas Derartiges zu leisten: Bereits vor ihrer Eroberung 1453 war die Stadt isoliert, umgeben von Gebieten, die die Osmanen längst eingenommen hatten, und ihre Kaiser waren nicht viel mehr als Vasallen der Osmanen gewesen. Trotz alledem war – wie bei West-Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg – die symbolische Kraft, die das Fortbestehen Konstantinopels ausstrahlte, genauso wichtig wie die politische Realität.Wenn die Stadt fiel, wen würde es dann als nächstes treffen? Im Westen ging das Gerücht um, dass Mehmed bei seinem Einzug in Konstantinopel Mohammed für den Sieg gedankt und hinzugefügt habe: «Ich bitte ihn auch, er möge mich lange genug leben lassen, sodass ich auch das alte Rom noch unterwerfen kann, ebenso wie das neue.»12 Das war ein Furcht einflößender Gedanke. Das Schreckgespenst isla­ mischer Armeen, die gegen die Türen des Vatikans hämmern, sollte den christlichen Europäern noch lange Zeit Albträume bescheren. (Nicht umsonst war es im 21. Jahrhundert ein wesentlicher Bestandteil der Propa-

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ganda al-Qaidas und des  IS .) Die Einwohner im Italien des 15. Jahr­ hunderts versetzte der Gedanke jedenfalls in Angst und Schrecken. Und wie sich herausstellte, schienen ihre Befürchtungen durchaus begründet. Mehmed war schwer einzuschätzen. Einerseits erlaubte er Christen, Juden und ausländischen Kaufleuten, ihr Leben in der Stadt mehr oder weniger unbehelligt fortzuführen, und zeigte großes Interesse an den Künstlern der Renaissance: 1479/80 «borgte» er sich den talentierten venezianischen Maler Gentile Bellini aus, damit dieser ein Porträt von ihm anfertigte, was für einen islamischen Herrscher sehr ungewöhnlich war.13 Andererseits ­änderte Mehmed den Namen der Stadt zu Istanbul und machte aus der Hagia Sophia eine Moschee. Obwohl er sehr umgänglich sein konnte, vernünftig wirkte und alles andere als ein religiöser Eiferer war, blieb er ein Türke. Seine Anhänger nannten ihn Fatih – Eroberer. Papst Nikolaus  V . hingegen bezeichnete Mehmed als «Sohn des Satans, des Verderbens und des Todes», Papst Pius II . sprach von einem «giftigen Drachen».14 Mehmed setzte sein Expansionsprogramm auch nach 1453 fort. Er nahm – mit Schiffen und Truppen – Gebiete in Osteuropa, das Schwarze Meer und die griechischen Inseln ins Visier. 1454 bis 1459 schickte er Truppen nach Serbien, die das Land schließlich annektierten und dem Osmanischen Reich einverleibten. In den 1460er Jahren eroberte er Bosnien, Albanien und die Peloponnes. Von 1463 bis 1479 führte er einen langen und erbitterten Krieg gegen die Republik Venedig. Kaum war dieser beendet, fiel Mehmed 1480 in Süditalien ein, in der Stadt Otranto, die von seinen Männern geplündert und niedergebrannt wurde; für die Rückeroberung der Stadt im folgenden Jahr war ein kleiner Kreuzzug erforderlich. Das genügte bei Weitem, um die Europäer davon zu überzeugen, dass die türkische Bedrohung nicht nur akut, sondern existenzbedrohend war. Vom 15. bis zum 17. Jahrhundert war der Türke das Ungeheuer, das am Bettende des christlichen Europa lauerte.*

* Mittelfristig wurde der osmanische Vorstoß nach Europa erst mit der Niederlage der Türken 1683 vor Wien beendet. Und selbst danach begegnete man dem Osmanischen Reich weiter mit Argwohn und Angst, bis es schließlich nach dem Ersten Weltkrieg zerschlagen wurde.

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Ob die Osmanen diesen Ruf verdient haben oder nicht, ist umstritten, muss uns hier jedoch nicht weiter beschäftigen. Wirklich wichtig ist der Effekt, den der Aufstieg der Osmanen im 15. Jahrhundert auf den Welthandel, das Reisen und die Erkundung neuer Gebiete hatte, denn in dieser Hinsicht wurden jahrhundertealte Gewissheiten auf den Kopf ­gestellt. Zum einen sahen manche im Aufstieg der Osmanen einen Vorboten der Apokalypse, die laut russischen Berechnungen noch vor Ende des 15. Jahrhunderts über die Menschheit kommen sollte.15 Zum anderen rückten dadurch wieder andere, größere Verluste für die Christenheit in den Vordergrund: vor allem die Tatsache, dass neben Konstantinopel auch ­Jerusalem in der Hand von Nichtchristen war und dass man über Generationen viel zu wenig getan hatte, um daran etwas zu ändern. Und drittens stand die Geschäftswelt vor ganz konkreten praktischen Problemen. Die großen mittelalterlichen Handelsstädte im Mittelmeerraum befanden sich Mitte des 15. Jahrhunderts eigentlich auf ihrem Höhepunkt. Doch ihre Beziehungen zu den Osmanen waren nicht gerade harmonisch: Venedig führte sogar eineinhalb Jahrzehnte lang Krieg gegen die Türken und verlor an sie den wichtigen Handelsposten Negroponte. Genua büßte seinen wichtigsten Hafen im Schwarzen Meer ein, Caffa. Einige Geschäfte – wie der lukrative Handel mit türkischen Sklaven, die am Schwarzen Meer erbeutet worden waren und dann nach Ägypten an die Mamluken verkauft wurden – kamen vollständig zum Erliegen.16 Die Osmanen riegelten das östliche Mittelmeer nicht abrupt ab, doch aufgrund ihrer Präsenz war der Handel dort weniger attraktiv als zuvor, sowohl aus finanzieller als auch aus ethischer Sicht. Infolgedessen begannen abenteuerlustige europäische Kaufleute im 15. Jahrhundert im Verbund mit den ehrgeizigen neuen Monarchien, insbesondere in Spanien und Portugal, andere Handelswege in Betracht zu ziehen, und überlegten, wo sie Unterstützung im Kampf gegen die Türken finden könnten. Viele richteten den Blick nach Westen, über den Atlantik. Was dort lag, war nicht so recht klar – falls es überhaupt etwas gab. Doch viele Entdecker und ihre Schutzherren waren bereit, es herauszufinden. Sie hofften inständig, dass sie bei der Überquerung des Atlantiks einen neuen Seeweg in den Osten entdecken würden, mit dem sie das Herr-

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schaftsgebiet der Osmanen umgehen könnten. Aber wie sich herausstellte, fanden sie etwas ganz anderes: die Inseln und das Festland von Nord- und Südamerika und die fruchtbaren und fragilen Gebiete einer Neuen Welt, die große Wunder, aber auch tödliche Gefahren barg.

Heilige, Nordmänner und Seefahrer Nord-, Süd- und Mittelamerika sind seit mindestens dreizehn­ tausend Jahren besiedelt, vielleicht sogar schon doppelt so lange.17 Archäologen sind sich zwar nicht über den genauen Zeitpunkt einig, an dem Menschen sich auf dem amerikanischen Kontinent niederließen, doch die meisten gehen davon aus, dass es irgendwann in der letzten Eiszeit war. Die Siedler kamen aus Nordostasien und suchten sich ihren Weg über eine damals bestehende Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska, bevor sie weiter nach Süden zogen, entweder entlang der Pazifikküste oder über einen eisfreien Korridor in die Mitte des Kontinents. Die frühen Siedler dieser riesigen Landmasse lebten als Jäger und Sammler, fertigten Werkzeuge und Speerspitzen aus Stein und suchten Zuflucht in Höhlen. In Chile fanden Archäologen die Überreste eines großen Gemeinschafts­ zeltes aus Holz, das durch Tierhäute geschützt war, dazu Feuerstellen, Werkzeuge, die Überreste von Nüssen und Samen sowie Belege, dass die Steinzeitmenschen, die dort lebten, Kartoffeln anbauten, die sie zum Teil selbst aßen und zum Teil für den Tauschhandel mit anderen Gruppen nutzten, die über 200 Kilometer entfernt lebten. (Die Archäologen schätzen, dass die Höhle vor vierzehntausendfünfhundert Jahren bewohnt war.)18 Die ersten «Amerikaner» lebten also ganz ähnlich wie andere Steinzeitmenschen auf der Welt. Allerdings waren sie allein. Als die großen Eisschilde schmolzen und die Landbrücke zwischen Sibirien und Alaska aufgrund des steigenden Meeresspiegels im Wasser versank, waren die Menschen auf den beiden amerikanischen Kontinenten vom Rest der Welt weitgehend abgeschnitten. Umgeben von den beiden größten Ozeanen der Welt entwickelten sie sich über zehntausend Jahre lang unabhängig von den Kulturen auf anderen Kontinenten. Früher dachte man, dass die ersten mittelalterlichen Seefahrer, die

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Kontakt mit Amerika hatten, die Südeuropäer im 15. Jahrhundert gewesen seien. Heute weiß man, dass es nicht so war. Während des gesamten Mittelalters hatten Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft immer wieder Kontakt  – oder behaupteten es. Der im 6. Jahrhundert lebende irische Mönch und Heilige Brendan unternahm ausgedehnte Fahrten um die ­Britischen Inseln und kam womöglich bis zu den Faröer-Inseln.19 Laut seiner Heiligenvita, die ab dem 10. Jahrhundert in vielen Manuskripten verbreitet wurde, stach Brendan in einem holzgerahmten, mit «gegerbtem Ochsenfell über Eichenrinde» bespannten und mit Fett geschmierten Kahn in See. Darin segelten er und einige Gefährten über weite Strecken, ertrugen Hunger und Durst und wichen feuerspeienden Seeungeheuern aus, bis sie nach vielen Jahren eine Insel entdeckten, die so groß war, dass sie nach einer vierzigtägigen Wanderung immer noch nicht die andere Seite erreicht hatten.20 In diesem Zusammenhang entstand die These, Brendan habe den Atlantik überquert. Vermutlich ist die große Insel in Brendans Legende jedoch eher eine Allegorie für den Garten Eden als eine wörtlich zu verstehende Beschreibung des amerikanischen Kontinents. Allerdings gab es eindeutig eine Vorstellung, dass westlich von Irland ­irgendetwas liegen musste, selbst wenn niemand genau wusste was. Manche glaubten, es sei eine Insel namens «Hy Brasil» (auch «Brasilinsel»), auf der König Artus begraben sei. Für den im 10. Jahrhundert lebenden ­genialen arabischen Geografen al-Masʿūdī war der Atlantik das «Meer der Dunkelheit», das «weder in seinen Tiefen noch in seinem Ausmaß Grenzen kennt, denn sein Ende ist unbekannt».21 (Al-Masʿūdī berichtete von Gerüchten in Spanien, ein junger Seemann namens Chaschchāsch aus Córdoba habe die Passage gemeistert und sei «beladen mit reichen Schätzen» zurückgekehrt  – aber wie er das bewerkstelligte und wo genau er war, blieb ein Geheimnis.)22 In Mali gibt es eine Überlieferung, dass im 14. Jahrhundert ein mansa (grob übersetzt: ein König oder Kaiser) namens Abu Bakr  II . auf seinen Thron verzichtet habe, um sein Leben der Überquerung des Atlantiks zu widmen. Er sei verschwunden, vermutlich im Meer ertrunken. Das alles ist überaus faszinierend, bietet aber ins­ gesamt nicht viel mehr als ein Sammelsurium von Geschichten und Träumen. Die ersten Menschen im Mittelalter, von denen man weiß, dass sie den

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Atlantik* überquerten und Amerika erreichten, waren im 10. und 11. Jahrhundert die Wikinger.23 Die Skandinavier zählten im Mittelalter zu den abenteuerlustigsten und reisefreudigsten Menschen überhaupt,** sie waren im Nordatlantik genauso unterwegs wie in der übrigen Welt. Im 9. Jahrhundert hatten die Wikinger Island besiedelt. In den 980er Jahren trieb ein verbannter Outlaw namens Erik der Rote die Kolonisierung Grönlands voran.24 Etwa zur selben Zeit behaupteten die Sagas der Nord­länder, dass mehrere Hundert Reisende, entweder angeführt von einem Ehepaar namens Karlsefni und Gudríd Thorbjarndóttir oder einem Erkundungsreisenden namens Leif Eriksson, einen Ort namens Vinland erreichten. Dort trafen sie auf Einheimische, die sie abwertend als skrælingar («Wilde») bezeichneten und mit denen sie Tauschhandel trieben, sich aber auch Kämpfe lieferten. Sie entführten deren Kinder und schleppten Krankheiten ein. Historiker vermuten, dass diese skrælingar mit einer mittlerweile ausgestorbenen Gruppe der First Nations verwandt waren, den Beothuk.25 Gewissheit lässt sich jedoch kaum herstellen. Was man aber weiß, ist, dass es um das Jahr 1000 eine kleine Wikingersiedlung in Neufundland gab, die allerdings nicht lange bestand, an einem Ort namens L ’ Anse aux Meadows. Die archäologischen Funde deuten da­ rauf hin, dass eine Zeit lang um die hundert Nordländer dort lebten und Bäume fällten. Vielleicht nutzten sie die Siedlung als Basis, um die Küste weiter zu erkunden, und stießen dabei bis ins heutige Quebec und sogar bis nach Maine vor. Die Siedlung bei L ’ Anse aux Meadows oder allgemeiner die Region ist mit ziemlicher Sicherheit Vinland. Und obwohl die ­Wikinger, die dort lebten, unmöglich das Ausmaß des riesigen Kontinents gekannt ­haben können, auf den sie gestoßen waren, bleibt die Tatsache, dass sie dort anlandeten, mit den Einheimischen Tauschhandel trieben oder mit ihnen kämpften und die Kunde von der Existenz dieses Ortes in ihre Heimat

* Anders verhält es sich mit dem Pazifik. Es gibt faszinierende archäologische Belege, dass polynesische Seefahrer den südamerikanischen Kontinent um das Jahr 1000 erreichten und als Erinnerung an ihren Besuch Süßkartoffeln und Hühnerknochen hinterließen, ohne zu ahnen, was sie damit bezeugten. ** Siehe Kapitel 5.

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sandten. Damit kommt dieser Siedlung eine besondere Bedeutung zu. Hier bestand, wenn auch nur für kurze Zeit, eine Kette menschlicher Inter­ aktion, die Gesellschaften von Amerika bis in den Fernen Osten verband.26 Fünfhundertfünfzig Jahre, nachdem die Wikinger Bäume im mittelalterlichen Vinland gefällt hatten, stand fest, dass sich daraus kein bedeutender transatlantischer Austausch entwickelt hatte. Die Kolonie bei L ’ Anse aux Meadows mit ihren Holzgebäuden und Grassodenhäusern wurde eine Generation nach ihrer Gründung aufgegeben und nieder­ gebrannt. Die Nordmänner zogen sich schließlich sogar aus Island zurück. Während auf dem Schwarzen Meer, der Ostsee und dem Mittelmeer dank der Handelsschifffahrt lebhaftes Treiben herrschte, blieb der Atlantik unerforschtes Terrain auf der spätmittelalterlichen Weltkarte. Er war mehr Hindernis als Brücke. Das sollte sich jedoch im 15. Jahrhundert ändern. Nach und nach wurde die «ferne» Seite des Atlantiks erschlossen und regelmäßig von ­europäischen Schiffen besucht. Das ging zwar langsam, aber es geschah. Und die vielleicht wichtigste Figur, die die Erforschung des Atlantiks ­vorantrieb, war ein portugiesischer Prinz, der als Heinrich der Seefahrer in die Geschichte einging. Heinrich war der jüngere Sohn des portugiesischen Königs Johann ( João) I. und dessen Frau Philippa von Lancaster. Er wurde 1394 geboren und wuchs an einem Hof auf, an dem es vor politischem Ehrgeiz regelrecht brodelte.27 Johann war der erste König einer neuen Dynastie namens Avis und bestrebt, Portugal Zugang zum Kreis der bedeutenden europäischen Mächte zu verschaffen.28 Dafür griff er in den Hundertjährigen Krieg zwischen England und Frankreich ein, indem er einen Friedensvertrag mit England schloss,* seine Hauptstadt Lissabon für italienische

* Die englisch-portugiesische Allianz, die mit dem Vertrag von Windsor (1396) be­ siegelt wurde, umfasste die Heirat Johanns I. mit Philippa, der ältesten Tochter von John of Gaunt, und sorgte für ein Bündnis zwischen den beiden Reichen. Es wird oft als der am längsten währende Friedensvertrag der Geschichte angeführt, da seitdem Frieden zwischen England und Portugal herrscht.

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Bankhäuser und flämische Kaufleute öffnete und die portugiesischen ­Häfen so ausbaute, dass sie als Station zwischen den Häfen Flanderns und Englands und denen des Mittelmeers fungierten. Auch seine Familie sollte sich an seinem ehrgeizigen Projekt beteiligen.29 Seine Kinder erhielten eine hervorragende Erziehung und wurden gut verheiratet: Wie wir bereits gesehen haben, ehelichte Johanns Tochter, die Infantin Isabella, Philipp den Guten, den cleveren Herzog von Burgund, der so viele Künstler förderte, darunter auch Jan van Eyck.* Heinrich und seine Brüder wurden ermuntert, den portugiesischen Einfluss außerhalb des Königreichs geltend zu machen, wenn nötig (was durchaus häufig der Fall war) auch mit dem Schwert. Die territoriale Expansion war fester Bestandteil der portugiesischen Geschichte und Identität. Das Königreich hatte seine Existenz allein der Tatsache zu verdanken, dass Generationen von Kreuzfahrern bei der ­Reconquista einen langen, schmalen Streifen entlang der Atlantikküste der Iberischen Halbinsel erobert hatten. In ihren Kriegen hatten sie den Almovariden, Almohaden und taifa-Königen von al-Andalus Jahr für Jahr ein weiteres Stück abgetrotzt. Das war ein langer, mühsamer Prozess gewesen. Lissabon wurde erst während des Zweiten Kreuzzugs 1147 von der islamischen Herrschaft befreit. Es dauerte weitere hundert Jahre, um ein christliches Königreich zu etablieren und seine Grenzen bis zur Algarve auszudehnen. Aber schließlich war es geschafft. Und zu Zeiten Heinrichs des Seefahrers gab es auf dem Festland nichts mehr zu erobern. Die Zukunft lag jenseits des Meeres. Im Sommer 1415, als Heinrich einundzwanzig Jahre alt war, begleitete er seinen Vater nach Ceuta an der marokkanischen Küste, direkt an der Mündung der Straße von Gibraltar: der Meerenge zwischen dem Mittelmeer und dem Atlantik, einst berühmt als Standort der Säulen des Herkules. Ceuta gehörte zum Herrschaftsgebiet des Sultans von Marokko, übte jedoch auf die Portugiesen eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Die Stadt bildete den Endpunkt für die Kamelkarawanen, die kreuz und quer durch Nordafrika zogen und jedes Jahr tonnenweise Gold aus

* Siehe Kapitel 14.

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den Minen im West-Sudan durch die Sahara transportierten.30 Die Stadt war zwar ­muslimisch, doch es passte gut zur portugiesischen Geschichte, in Gebiete vorzudringen, die man von den Ungläubigen erobert hatte. Um die Stadt einzunehmen, rüstete König Johann eine große Flotte aus, mit Zehntausenden Soldaten unter seinem persönlichen Kommando. Er hatte die Eroberung genau geplant, und als er am 21. August den Befehl zum Angriff gab, fiel die Stadt innerhalb eines Tages bei minimalen Verlusten. Heinrich wurde in der Schlacht verwundet, aber nicht schwer. Danach widmeten die Portugiesen die Moschee der Stadt um und machten eine improvisierte Kirche daraus, um die Messe zu feiern. Heinrich wurde in seiner Rüstung zum Ritter geschlagen – «ein herrlicher Anblick», wie ein Beobachter schrieb  – und von seinem Vater zum Statthalter ernannt.31 Damit lag es auch im Interesse Heinrichs, dass Ceuta in portugiesischer Hand blieb (ein Status, der häufig bedroht war, da die Marokkaner wiederholt versuchten, die Stadt zurückzuerobern). Zudem entstand eine ­lebenslange Faszination, das portugiesische Interessengebiet entlang der reichen westafrikanischen Küste auszudehnen. Heinrich war zwar nicht der zupackende «Seefahrer», den sein historischer Beiname suggeriert, doch er war ein wichtiger Förderer der Seefahrt und rührte eifrig die Werbetrommel, damit wagemutige Seeleute Richtung Süden in Länder vorstießen, die nur vage bekannt waren. Es war kein Geheimnis, dass jenseits der Sahara fantastische Bodenschätze lagen: Ein bekannter, 1375 auf Mallorca erstellter Weltatlas hatte das Herz Afrikas als Gebiet dargestellt, das von schwarzen, mit Gold geschmückten ­Königen und eleganten Sklaventreibern bevölkert war, die auf Kamelen ritten und lange, luxuriöse Gewänder trugen. Das Hauptproblem war der Zugang, bei dem man auf muslimische Mittelsleute angewiesen war. Die Portugiesen wollten die Route durch die Sahara auf dem Kamelrücken umgehen und einen Seeweg finden, auf dem sie die sagenhaften Reich­ tümer Westafrikas direkt ins Mittelmeer transportieren konnten. Wenn sie das schafften, überlegte Heinrich, winkte ihnen allen ein Vermögen. (Seine Provision auf von ihm geförderte Unternehmungen lag bei 20 Prozent des Gesamtgewinns.) Die Mittel dazu waren vorhanden. Im Schiffbau und bei der Navigation gab es große Fortschritte: Im 15. Jahrhundert wurde die Karavelle ent-

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wickelt, ein leichtes und wendiges Schiff mit dreieckigen Segeln (Lateinersegel), die es ermöglichten, große Entfernungen zu überwinden und gleichzeitig in Buchten, Häfen und vor der Küste zu manövrieren. Die Lateinertakelung erlaubte es den Seeleuten außerdem, gegen den Wind zu segeln, was mit Rahsegeln fast unmöglich war.32 Gleichzeitig wussten die See­ fahrer dank besserer Kenntnis der atlantischen Windverhältnisse, wie sie von Reisen zum oder jenseits des Äquators wieder nach Hause kommen konnten: Wenn man nach Süden gesegelt war, konnte man nach Norden zurückkehren, indem man auf den Atlantik hinaussegelte und dann Kurs auf die Iberische Halbinsel nahm, anstatt sich an der Küste entlangzu­ quälen. Aufgrund dieser Fortschritte herrschte kein Mangel an Freiwilligen, die bereit waren, ins Ungewisse aufzubrechen. Die ersten Expeditionen unter Heinrichs Schirmherrschaft stachen bald nach der Schlacht von Ceuta in See und stießen mehr oder weniger zufällig auf die Inselgruppe Madeira, die sie auf Heinrichs Befehl für Portugal beanspruchten. Bald darauf, Ende der 1420er und Anfang der 1430er Jahre, wurden auch die Azoren kolonisiert. In den 1450er Jahren nahm ein venezianischer Entdecker und Sklavenhändler namens Alvise Cadamosto bei einer Expedition vor der westafrikanischen Küste die Kapverdischen Inseln in Besitz. Die Entdecker, die diese Inseln beschrieben und kartierten, sahen vieles, was sie entzückte und verwunderte. Auf Madeira staunte Cadamosto über die fruchtbare, üppige Natur der Insel, auf der man viele verschiedene und nützliche Holzarten schlagen könne und Zuckerrohr und Trauben* gut wuchsen. «Viele Einwohner sind reich, wie das Land auch», schrieb er, «da das Land einem Garten ähnelt, und alles, was dort wächst, wie Gold ist.» Das Versprechen, das von diesem jungfräulichen Land ausging, war offenkundig. «Aufgrund der hervorragenden Eignung des Landes für die Landwirtschaft hat [man] angeblich in der Karwoche schon reife Trauben gesehen, was wunderbarer ist als alles, was ich bisher gesehen habe», berichtete er.33 Währenddessen gingen portugiesische

* Das berühmteste Exportprodukt Madeiras ist auch heute noch der Madeira, ein ­Likörwein aus Trauben. Die Weinstöcke dafür wurden zur Zeit Heinrichs des Seefahrers eingeführt.

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Schiffe, von denen viele in Heinrichs Auftrag unterwegs waren, auch vor dem afrikanischen Festland vor Anker und stießen mit jeder Segelsaison ein Stück weiter nach Süden vor, so dass Mitte des Jahrhunderts der Golf von Guinea (die Küsten der heutigen Elfenbeinküste, von Ghana, Togo und Benin) in Reichweite war. Die Geschäftsbeziehungen, die die Portugiesen mit Händlern in den westafrikanischen Küstenstädten aufnahmen, waren meist lukrativ für beide Seiten, auch wenn sie uns heute moralisch abstoßend erscheinen. Denn eines der ältesten Handelsgüter in Afrika waren versklavte Menschen, und die Portugiesen zeigten wenig Gewissensbisse, sich an diesem Handel zu beteiligen. Sie hatten bereits im ausgehenden 14. Jahrhundert erste Erfahrungen mit dem Sklavenhandel gesammelt, über die von Kastilien kontrollierten Kanarischen Inseln, doch mit der wachsenden Zahl ihrer Geschäftskontakte in Westafrika stieg auch ihr Bedarf an afrikanischen Gefangenen, die in einigen Gebieten so zahlreich angeboten wurden, dass man neun bis vierzehn Menschen für ein europäisches Pferd bekam. Ab den 1440er Jahren waren die aus Afrika verschleppten Menschen, die im portugiesischen Hafen von Lagos (an der Algarve) als Fracht entladen wurden, ein ebenso trauriger wie vertrauter Anblick. Dass der Handel unmoralisch war, belastete zumindest einige Beobachter: 1444 notierte der Chronist Gomes Eanes de Azurara sein Unbehagen, als er zusah, wie Karavellen in Lagos zweihundertfünfunddreißig afrikanische Männer, Frauen und Kinder entluden, die grausam voneinander getrennt wurden und für ein Leben mit unfreiwilliger Sklavenarbeit bestimmt waren, Hunderte Kilometer fern ihrer Heimat: Welches Herz, so hart es auch sein mag, wäre nicht von einem Gefühl des Mitleids durchdrungen beim Anblick dieser Menschen? Einige standen mit hängenden Köpfen und tränenüberströmten Gesichtern da und sahen einander an. Andere stöhnten traurig, blickten zum Himmel hinauf, richteten den Blick in die Höhe und weinten laut, als ob sie den Vater der Natur um Hilfe bäten. Andere schlugen sich die Hände vors Gesicht und warfen sich in voller Länge auf den Boden. Wieder andere trugen ihre Wehklagen in einer Art Gesang vor, wie es in ihrem Land üblich ist, und obwohl wir die Worte ihrer Sprache nicht verstehen konnten, schienen sie das Ausmaß ihres Kummers widerzuspiegeln.34

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Gomes war angesichts der emotionalen und körperlichen Qualen, die ­dieser Handel mit sich brachte, nicht wohl. Heinrich der Seefahrer schien jedoch keine derartigen Bedenken zu haben, als er die Aufteilung der menschlichen Beute überwachte, so der Chronist: «Der Infant war da, er saß auf einem mächtigen Pferd und wurde von seinem Gefolge begleitet. Er verteilte seine Gunst wie ein Mann, der nur einen geringen Gewinn von seinem Anteil haben will; denn er verteilte die sechsundvierzig Seelen, die sein Fünftel ausmachten [d. h. seine 20 Prozent vom Gewinn], sehr schnell, da sein größter Reichtum in seiner Bestimmung lag, und er sprach mit großer Freude über die Rettung dieser Seelen, die sonst verloren gewesen wären.»35 Für Heinrich waren neue Gebiete da, um Gewinn abzuwerfen. Ungläubige waren dazu bestimmt, getauft zu werden. Und der Zweck heiligte die Mittel. Heinrichs Denken war tief in der Tradition der Kreuzzüge und Eroberungen verwurzelt  – beides keine Unternehmungen für schwache Gemüter. Er war Großmeister des Christusordens, eines portugiesischen Ablegers des Templerordens, der nach dem Prozess gegen die Templer wiedergegründet worden war, und band seinen Orden stark in die Kolonisierung der neuen portugiesischen Gebiete ein. Und er sandte seine Navigatoren, Eroberer und Sklavenmacher mit päpstlicher Unterstützung hinaus in die Welt. 1452 und 1456 erhielten die Portugiesen die päpstliche Erlaubnis, «die Sarazenen und Heiden und andere Ungläubige und andere Feinde Christi zu überfallen, sie zu erobern, zu bekämpfen und zu unterwerfen», ihre Länder zu erobern und «ihre Menschen in ewige Knechtschaft zu führen».36 Um die anti-islamische Stimmung Mitte des 15. Jahrhunderts mit dem Abenteuergeist und der Eroberung der Ungläubigen fernab des Heiligen Landes in Einklang zu bringen, bedurfte es keiner großen Fantasie. Doch mit der päpstlichen Genehmigung erhielt man nun auch noch den göttlichen Segen für ein militärisch-wirtschaftliches Unterfangen, das man in diesem Ausmaß seit der Gründung der Kreuzfahrerstaaten in Palästina und Syrien im 12. Jahrhundert nicht mehr gesehen hatte. Als Heinrich der Seefahrer im November 1460 starb, waren portugiesische Entdecker entlang der afrikanischen Küste bis nach Sierra Leone vorgestoßen. (Vierzig Jahre später hatten sie das Kap der Guten Hoffnung

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erreicht.) Damit bestanden beste Voraussetzungen für Portugal, zur mächtigsten Handelsnation in Westeuropa aufzusteigen, mit Kastilien als einziger Konkurrenz. Im frühen 16. Jahrhundert schrieb der erfahrene Seefahrer Duarte Pacheco Pereira (mit dem schönen Spitznamen «der portugiesische Achilles») das Verdienst an diesem außergewöhnlichen Expansionsprogramm Heinrich zu. «Die Vorteile, die der tugendhafte Prinz Heinrich [Portugal] eingebracht hat, sind derart, dass seine Könige und sein Volk tief in seiner Schuld stehen», schrieb Pereira, «denn in dem von ihm entdeckten Land verdient ein großer Teil des portugiesischen Volkes heute seinen Lebensunterhalt, und die Könige [von Portugal] ziehen großen Gewinn aus dem Handel.»37 Die Menschen, die unter dieser Eroberung schwer gelitten hatten – und die über Generationen systemisch Leid erfahren würden –, erwähnte Pereira mit keiner Silbe.

Christoph Kolumbus Am 2. Januar 1492 fand in Südspanien eine feierliche Zeremonie statt. In der prachtvollen Alhambra, die auf einem der Hügel von Granada thront, verzichtete der letzte islamische Herrscher auf dem spanischen Festland offiziell auf sein Sultanat und seine Heimat. Muhammad XII . – oder «Boabdil», wie ihn die christlichen Spanier nannten – war zehn Jahre zuvor auf den Thron gekommen, doch seine Herrschaft war schwierig ­gewesen. Er wurde von den umliegenden Königreichen erbarmungslos in die Zange genommen. Im Lauf der Jahrhunderte war das muslimische ­al-Andalus bei der Reconquista nach und nach erobert worden, und 1469 war das christliche Spanien durch die Heirat Ferdinands  II . von Aragón mit Isabella  I . von Kastilien zu einem Superreich vereint worden. Damit war das Schicksal des Sultanats Granada besiegelt, auch wenn es noch über zwanzig Jahre bis zu seinem endgültigen Aus dauern sollte. Und so übergab Muhammad, der damals erst knapp über dreißig war, am 2. Januar kurz nach Sonnenaufgang die Alhambra einem spanischen Feldherrn und ritt anschließend an den Stadtrand von Granada, wo ihn König Ferdinand und Königin Isabella erwarteten, damit er ihnen die Schlüssel zur Stadt übergab. Zu Ferdinand sagte er auf Arabisch: «Gott

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liebt euch sehr. Sire, dies sind die Schlüssel zum Paradies. Ich und die, die darin sind, gehören euch.» Dann wurden Geschenke ausgetauscht und Muhammads Sohn, der neun Jahre als Geisel am spanischen Hof gelebt hatte, wurde wieder seinem Vater übergeben. Schließlich brach Muhammad auf. Gegen Ende des Jahres hatte er sich in Marokko niedergelassen, wo er sein restliches Leben im Exil verbrachte.38 Beim Aufbruch in die neue Heimat liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Die Ereignisse in Granada beobachtete an jenem Tag auch ein genuesischer Abenteurer namens Cristoforo Colombo – der heute unter dem Namen Christoph Kolumbus bekannt ist.39 Er hielt sich immer wieder auf der Iberischen Halbinsel auf, seitdem er in den 1470er Jahren nach Lissabon übergesiedelt war. In dieser Zeit war Kolumbus zu einem waschechten Seebären und erfahrenen Atlantiksegler geworden, der regelmäßig zu den portugiesischen Inselstützpunkten auf den Azoren und Madeira fuhr und sich auch weiter vorwagte – bis zur Küste Guineas und (wie er behauptete) bis nach Island im Nordatlantik. Vor allem aber hatte er lange und gründlich über die Form der Welt und die Geheimnisse unbekannter Erdteile nachgedacht. Kolumbus war ein eifriger Leser und hatte die Werke früherer Reisender studiert, vom antiken griechischen Universalgelehrten Ptolemäus bis zum venezianischen Abenteurer Marco Polo im 13. Jahrhundert.* Er hatte auch einen ­besonders fantasievollen Reisebericht aus dem 14. Jahrhundert gelesen – der teils andere Texte nacherzählte, teils erfunden war und angeblich von einem englischen Ritter namens Sir John Mandeville verfasst worden war. Der Autor behauptete, er habe den Bericht geschrieben, weil viel Zeit vergangen sei, «seit zuletzt jemand über das Meer ins Heilige Land gefahren ist. Weil aber viele Leute gerne dorthin reisen und dabei ihr Leben wagen würden, und weil man auch viele Leute findet, die gerne vom Heiligen Land erzählen hören, habe ich mich dorthin begeben.» Er beschrieb Regionen von Kleinasien bis Indien und hauchte uralten Mythen wie dem Mythos vom Priesterkönig Johannes neues Leben ein.40 Kolumbus sog alles in sich auf. Aufgrund dieser Lektüre in Kombina-

* Siehe Kapitel 10.

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tion mit seinen Erfahrungen auf See kam er zu zwei Schlussfolgerungen. Die erste lautete, dass es jenseits des Atlantiks immense Reichtümer geben müsse. Wenn die Erde, wie Ptolemäus argumentierte, eine Kugel war, dann musste eine Seereise von weniger als 3000 Meilen – so überlegte Kolumbus (irrigerweise) – ein Schiff in den fernen Osten bringen, dessen atemberaubende Schätze Marco Polo und Mandeville ausführlich ­beschrieben hatten. Die zweite Schlussfolgerung war die Idee, dass er, ­Kolumbus, mit ­seiner Reise das Projekt wiederbeleben könnte, einen Khan oder anderen großen König im Osten zum Christentum zu bekehren, was seiner Ansicht nach immer noch die beste Strategie war, um den von den Muslimen praktizierten «Götzendienst» und die «Irrlehren» im Mittelmeerraum zu bekämpfen.41 Im Lauf der Zeit wurde Kolumbus, wie viele Eiferer in der Geschichte, zunehmend besessen von seinem großen Plan. Er brauchte nur noch jemanden, der ihn unterstützte und finanzierte. Und hier kamen Ferdinand und Isabella – die die muslimischen Sultane besiegt hatten, gemeinsam über das größte Reich auf der Iberischen Halbinsel herrschten und sich nun als Reyes Católicos, als «Katholische Könige», bezeichneten  – ins Spiel. Als Kolumbus seinen Plan Ende Januar 1492 am spanischen Hof vorstellte (nach vielen Jahren erfolglosen Bittens und Bettelns in Spanien, Portugal und andernorts), erklärte sich Isabella endlich bereit, ihn zu unterstützen. Sie erlaubte Kolumbus, sich «kommandierender Admiral des Weltmeers» zu nennen und 10 Prozent der Gewinne aus seiner Reise für sich zu beanspruchen. Für alle Beteiligten war das Unternehmen ein großes Risiko. Doch es sollte sich auszahlen. Abgesehen von Odysseus ’ sagenhafter Rückkehr nach langer Irrfahrt in seine Heimat Ithaka und dem Flug der Apollo-11-Rakete zum Mond 1969 gibt es vermutlich keine berühmtere Reise in der Geschichte der Menschheit als Kolumbus ’ erste Fahrt nach Westen im Jahr 1492. Die ­Einzelheiten sind bekannt, da Kolumbus ein Bordbuch führte (das Original ging zwar verloren, doch der Inhalt blieb in einer Zusammenfassung des Historikers Bartolomé de Las Casas erhalten). Laut Bordbuch brach Kolumbus am 3. August «in den frühen Morgenstunden» von Palos auf, ­einem Ort an der Südküste Spaniens, und fuhr mit seinen drei Karavellen, Niña, Pinta und Santa Maria, zu den Kanarischen Inseln. Dort versicher-

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ten ihm die Einheimischen, dass die Überfahrt kurz sein werde, da sie ­jeden Tag bei Sonnenuntergang «Land im Westen» sehen würden.42 Wenn das gestimmt hätte, wären die beiden amerikanischen Kontinente nur 3 bis 20 Meilen entfernt gewesen. Das war eindeutig nicht so. Nachdem Kolumbus auf den Kanaren einige Reparaturen hatte durch­ führen lassen und auf guten Wind gewartet hatte, stach er am Samstag, den 8. September, in See. Einen Monat lang segelten er und seine Mannschaft über den Atlantik und hielten dabei nach Vögeln, Seegras, Krabben, Walen und Delfinen Ausschau, weil Kolumbus behauptete, sie alle seien ein Zeichen für die Nähe zum Land. Aber das Land tauchte einfach nicht auf, und als die Mannschaft unruhig wurde, begann Kolumbus zu lügen, um die immer deutlichere Tatsache zu verschleiern, dass sie sich Hunderte von Meilen ins Unbekannte vorgewagt hatten. Insgesamt verbrachten sie dreiunddreißig Tage auf See. Erst am 11. Oktober, als die Mannschaft kurz davor war zu meutern, sah ein Matrose namens Rodrigo endlich Land  – eine Koralleninsel der Bahamas, die sie San ­Salvador tauften. Die ersten Anzeichen dafür, dass Land in Sicht war, «versetzten alle in gehobene, freudvolle Stimmung», wie Kolumbus schrieb. Abends ankerten sie vor der Küste, und am nächsten Morgen gingen Kolumbus und eine kleine Gruppe Seeleute in einem bewaffneten Boot an Land, mit einem Banner, das Ferdinands und Isabellas Initialen und ein Kreuz im Kreuzfahrerstil zeigte.43 Sie wurden von einer aufgeregten Gruppe nackter Männer und Frauen empfangen, denen Kolumbus «rote Kappen und Halsketten aus Glasperlen und noch andere Kleinigkeiten von geringem Werte» überreichte. Die erfreuten Inselbewohner gaben ihm im Tausch «Papageien, Knäuel von Baumwollgarn, lange Wurfspieße und viele andere Dinge noch, die sie mit dem eintauschten, was wir ihnen ­gaben».44 Die Begegnung verlief für beide Seiten sehr zufriedenstellend: «Sie wurden so gute Freunde, dass es eine helle Freude war», erklärte ­Kolumbus.45 Der Anblick dieser Menschen löste in Kolumbus unterschiedliche Gefühle aus. Er beschrieb sie als gut aussehend und jung, mit hellbrauner Haut, «ihre Beine sind gerade gewachsen, ihr Bauch nicht dick und wohlgeformt». Doch aus seiner Sicht waren sie primitive Wilde – sie trugen

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nicht viel mehr als ein bisschen Körperbemalung am Leib, paddelten in langen Einbäumen umher und waren nicht einmal mit so einfachen Waffen wie dem Schwert vertraut. Auch beim Handeln wirkten sie naiv. ­Kolumbus war in Erwartung einer höherstehenden Kultur gekommen, mit einem Hof, der es mit dem des Großkhans aufnehmen konnte. Stattdessen wurde er wie ein fremdes Wesen aus einer höheren Kultur be­ handelt.46 Ein Gedanke kam ihm jedoch sofort. Die Inselbewohner waren zwar ganz offensichtlich nicht die Handelspartner, mit denen die Katholischen Könige eine neue Weltordnung begründen konnten, aber «sie müssen gewiß treue und kluge Diener sein». Er glaubte auch, dass man sie leicht zum Christentum bekehren könne, da «sie allem Anschein nach keiner Sekte angehören». Er beschloss, sechs von ihnen als Gefangene zu Ferdinand und Isabella mitzunehmen, «damit sie die Sprache erlernen».47 Und er rammte die spanische Flagge in den Boden der Insel, um zu signalisieren, dass er sie im Namen der Reyes Católicos in Besitz genommen hatte. Dann brach er auf, um herauszufinden, was er noch erobern konnte. In den folgenden Wochen erkundeten Kolumbus und seine Mannschaft die umliegenden Inseln. Er hoffte immer noch, dass er sich viel weiter im Osten befand, als er tatsächlich war – auf einer vorgelagerten Insel des japanischen Archipels –, und suchte nach dem Festland von «Cathay». Stattdessen stieß er auf weitere kleine Karibikinseln und dann, Ende ­Oktober und Anfang November, auf die viel größeren Landmassen von Kuba und Haiti (das er Hispaniola nannte). Seine Mannschaft war fasziniert von der exotischen Umgebung: von Perlen und Gold, Kräutern und Gewürzen, neuen Gemüsesorten, süßen, saftigen Früchten, jeder Menge Baumwolle und «bestimmten Kräutern», die sich als Tabakblätter entpuppten. Doch sie waren auch entsetzt über einige lokale Gebräuche. ­Kolumbus ’ Sohn Ferdinand schrieb später, die «Indianer»* seien «daran

* Das war damals die allgemeine Bezeichnung für die Menschen in der Neuen Welt – die natürlich darauf basierte, dass die Entdecker glaubten, sie befänden sich auf einer Inselgruppe östlich von Indien.

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gewöhnt, unsaubere Dinge zu essen, etwa große fette Spinnen und weiße Würmer, die in verrottendem Holz leben … Sie essen Fische fast roh und sofort nach dem Fang. Bevor sie sie kochen, puhlen sie die Augen heraus und essen sie an Ort und Stelle. Sie essen vieles, was einen Spanier nicht nur sofort erbrechen ließe, sondern ihn auch vergiften würde, wenn er es versuchte.»48 So wurde diese Welt generell wahrgenommen: faszinierend und grotesk zugleich. Kolumbus erklärte, er habe seiner Mannschaft häufig gesagt, wenn sie wieder daheim seien, wäre es unmöglich, anderen all das zu schildern, was sie gesehen hätten, denn «meine Zunge konnte nicht die ganze Wahrheit über sie enthüllen, noch konnte meine Hand sie niederschreiben». Doch auch die Menschen, denen er begegnete, schienen von diesem Gefühl des verblüfften Staunens ergriffen. Auf Hispaniola gab ein Würdenträger Kolumbus zu verstehen, dass seine Unterstützer «die mächtigsten Fürsten der Welt» sein müssten und Kolumbus und die anderen Christen «vom Himmel herabgestiegen» seien.49 Kolumbus blieb bis Weihnachten auf den neu entdeckten Inseln. Am Weihnachtsabend verlor er eins seiner Schiffe, die Santa Maria, die vor Hispaniola im seichten Wasser auf ein Riff lief. Er wies seine Leute an, aus den geborgenen Planken des Schiffs ein provisorisches Fort zu bauen. Einer seiner Männer musste dann den «Indianern» das Abfeuern eines Geschützes demonstrieren, um sie von einem Angriff auf die Festung abzuhalten. Drei Dutzend Seeleute wurden als Garnison bestimmt, sie ­sollten den Grundstock einer Stadt bilden, die er «Weihnachtshafen» (Puerto de la Navidad) nannte, «die erste christliche Stadt und das erste besiedelte Land».50 Am 16. Januar stach er mit den beiden verbliebenen Karavellen in See und machte sich auf die Rückreise nach Spanien, um dort zu berichten, was er gesehen und erlebt hatte. Wieder war es eine lange Überfahrt, bei der die Niña und die Pinta durch mehrere Stürme voneinander getrennt wurden. In den ersten Märztagen erwischte sie ein «schauerlicher Sturm» mit «wild übereinander stürzenden Wogenmassen und alles aufwirbelnden Windhosen», Sturzregen und zuckenden Blitzen. Kolumbus schaffte es mit Müh und Not in den Hafen von Lissabon. Er machte kurz Station am Hof des portugiesischen Königs Johann  II . (dem Urenkel von Johann  I .) und unterhielt den Monarchen mit seinen Geschichten, während er ihm gleichzeitig versicherte, dass die portugiesi-

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schen Interessen in Afrika* nicht gefährdet seien. Dann machte er sich auf den Weg zu seinen königlichen Gönnern. Dieses Mal reiste er über Land. Mitte April hatte er den spanischen Hof in Barcelona erreicht und wurde bei seiner Ankunft von König Ferdinand persönlich empfangen. Seite an Seite ritten sie durch die Stadt, als ob Kolumbus ein Fürst von königlichem Geblüt wäre. Das Königspaar war laut Kolumbus entzückt; voll «grenzenloser Freude und Zufriedenheit».51 Nach jahrelangen Anstrengungen war Kolumbus ’ Überzeugung, dass jenseits des Atlantiks etwas Wunderbares liegen müsse, bestätigt worden. Ferdinands Kaplan und Hofhistoriker Petrus Martyr wusste nicht so recht, was er von diesen Entdeckungen halten sollte, und sprach von einer neuen oder anderen Welt: «Man könnte sagen, in einer anderen Welt, fernab von jeder Zivilisation und Religion.»52 Kolumbus hingegen war überzeugt, dass ihm alle guten Christen zu Dank verpflichtet sein müssten, «einmal wegen der Erhöhung unseres Glaubens, dann aber auch wegen des Zuwachses an zeitlichen Gütern, an denen nicht allein Spanien, sondern die ganze Christenheit einst Anteil haben soll».53 Es war der Triumph, von dem er so lange geträumt hatte. Wer die Briefe und Notizen von Christoph Kolumbus aufmerksam liest, hat nicht den Eindruck, dass er ein besonders sympathischer Mensch war. «Der Admiral», wie er sich gerne nennen ließ, war ein Aufschneider und mitunter auch ein ausgewachsener Lügner. Er verheimlichte seine wahren Absichten und den Fortgang der Expedition vor seiner Mannschaft. Er nahm für sich in Anspruch, er sei der Erste gewesen, der Land vor den Bahamas gesehen habe, obwohl das nicht stimmte. Er nutzte die Gutmütigkeit der Menschen aus, denen er in den neuen Gebieten begegnete; sein anthropologisches Interesse war flüchtig und stets seinem zyni-

* Sein Besuch beim portugiesischen König beschleunigte den Vertrag von Tordesillas, in dem eine fiktive vertikale Demarkationslinie 370 Léguas [portugiesisches Längenmaß] westlich der Kapverdischen Inseln (der Meridian von Tordesillas) gezogen wurde. Östlich der Linie sollten alle Entdeckungen zu Portugal gehören, westlich davon zu Kastilien/Spanien.

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schen Blick für die Möglichkeiten untergeordnet, wie er und künftige ­spanische Expeditionen die Ressourcen und die Arbeitskraft der Menschen ausbeuten könnten. Nach seiner Rückkehr nach Spanien übertrieb er seine Leistungen und das Potenzial seiner Entdeckungen, indem er etwa behauptete, Hispaniola sei größer als die gesamte Iberische Halbinsel, es gebe dort bereits schöne Häfen und reiche Goldvorkommen (was nicht stimmte). Kuba sei «größer als England und Schottland zusammen».54 Trotz allem besteht kein Zweifel an seiner Leistung von 1492. Vergleicht man den technologischen Stand der Kontinente, konnte der Kontakt ­zwischen Amerika und Europa nur aus einer Richtung erfolgen. Wenn Kolumbus nicht die Überfahrt gewagt hätte, wäre es eben ein anderer Europäer gewesen. Doch es bleibt die Tatsache, dass er die Nerven, den Plan und auch das Glück hatte, ins Ungewisse aufzubrechen und tatsächlich auf Land zu stoßen. Menschen, die Geschichte machen, müssen nicht zwangsläufig sympathisch sein, vermutlich hat unsere bisherige Tour durchs Mittelalter sogar gezeigt, dass dies eher selten der Fall ist. Unabhängig von seinen Schwächen, Fehlern und Vorurteilen, die mit unseren heutigen ­Vorstellungen von einem guten Menschen sicher noch weniger übereinstimmen als mit denen der Menschen damals, ist Kolumbus eine der wichtigsten Personen des Mittelalters. Und in dem Augenblick, in dem er aus der ­Karibik zurückkehrte, war klar, dass er ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit eingeläutet hatte. Kaum war Kolumbus 1493 wieder in Spanien, begann er mit der Planung seiner nächsten Reisen Richtung Westen. Insgesamt sollten es drei werden. 1493 bis 1496 führte er eine große Erkundungsflotte von siebzehn Schiffen und gelangte über die Antillen in die Karibik, bevor er von dort weiter nach Puerto Rico und Jamaika segelte. 1498 bis 1500 wagte er sich weiter nach Süden, machte Station auf Trinidad und betrat auch kurz das südamerikanische Festland im heutigen Venezuela. Bei seinem letzten Abenteuer erkundete er von 1502 bis 1504 die Küstenlinie Mittelamerikas (heute Honduras, Nicaragua und Costa Rica). Er verbrachte viele Jahre auf See und in fremden Ländern, wo er Krankheiten, das unberechenbare Klima der Karibik und die zerstörerische Politik des Siedlerkolonialismus hautnah erlebte. Er geriet in Flauten, seine Schiffe wurden von Wirbelstürmen zerstört, er wurde von wütenden Indigenen angegriffen und wurde

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selbst krank. Auf seiner dritten Fahrt wurde ihm vorgeworfen, er habe seine Macht als «Vizekönig, Admiral und Gouverneur» der neuen Territorien missbraucht, er wurde festgenommen, eingesperrt und in Ketten per Schiff nach Spanien zurückgebracht – eine Erfahrung, die ihn bis ans Ende seines Lebens verbitterte. Aber wenn Kolumbus das Gefühl hatte, er sei schlecht behandelt oder gar misshandelt worden, war er damit nicht ­allein. Mit seinen ersten Erkundungsmissionen, die viele weitere Expeditionen zur Eroberung und Kolonisierung der Neuen Welt nach sich zogen, begann für die dortigen Bevölkerungen eine Zeit des Leidens, das zum festen Bestandteil der europäischen Expansion werden sollte. Von Anfang an ging es in den neuen Gebieten brutal zu. Das Schicksal der ersten Garnison, die 1493 auf Hispaniola zurückblieb, hätte eine erste Warnung sein können. Kaum war Kolumbus abgereist, überfielen seine Männer die Einheimischen auf der Suche nach Gold und Frauen. Auch untereinander gerieten sie in Streit. Ein lokaler Anführer namens Caonaobó ließ sie schon bald reihenweise umbringen.55 Als Kolumbus auf seiner ­zweiten Reise nach Hispaniola zurückkehrte, rächte er ihren Tod nicht sofort. Er war aber auch kein wohlwollender Besucher. Obwohl er die ausdrück­liche Anweisung hatte, die Einheimischen nicht zu misshandeln, tat Kolumbus genau das: Er verlangte von ihnen Tributzahlungen in Gold, entführte und versklavte sie und baute Festungen auf ihrem Land. Einmal riet er Ferdinand und Isabella in einem Brief, die beste Strategie für einen wirtschaftlichen Erfolg in den neuen Gebieten bestehe darin, die dortige Bevölkerung massenhaft zu versklaven und sie außerdem unter Zwang zum Christentum zu bekehren. Das Königspaar war alles andere als begeistert über dieses harte Vorgehen. Langfristig spielte das jedoch keine Rolle. ­Kolumbus ’ brutaler Zynismus wurzelte in der harten Realität praktisch ­jedes Kolonisationsprogramms in der Geschichte; Grausamkeit und Unmenschlichkeit waren die Begleiterscheinungen der imperialen Expansion. Es gab keinen Grund, warum das in der Neuen Welt anders sein sollte. Die Schiffsladungen angehender Siedler und Glücksritter, die im Gefolge von Kolumbus nach Hispaniola und Kuba kamen, um dort Vorposten zu errichten, benahmen sich auch nicht besser. Nach der Verhaftung des «Admirals» auf seiner dritten Reise griff der neue spanische Vize­ könig, ein Kreuzritter namens Nicolás de Ovando, hart gegen die Einhei-

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mischen durch, die als Taíno bekannt waren und gegen die Spanier auf­ begehrten. Ovando hatte Hunderte Soldaten mit auf die Inseln gebracht und hetzte sie auf die unglückseligen Taíno. Viele wurden massakriert. Ihre Königin Anacoana wurde öffentlich hingerichtet. Zahlreiche Ein­ heimische wurden gefangen genommen. Ovando folgte dabei einer alten Kreuzfahrerlogik: Mit Ungläubigen, die im Krieg festgenommen wurden, konnte man nach Belieben verfahren und sie versklaven. Sie mussten für die Siedler arbeiten, deren Zahl gegen Ende der 1510er Jahre bereits in die Tausende ging. Darüber hinaus brachte Ovando auch afrikanische Sklaven nach Hispaniola, die in den von den Siedlern angelegten Goldminen ­arbeiten sollten. Die Blaupause für die Kolonisierung nahm allmählich Gestalt an. Und sie war weit entfernt von der aufgeregten Neugier, die am Strand von San Salvador geherrscht hatte, als Kolumbus dort zum ersten Mal landete. Die kurze Periode der Unschuld in der Neuen Welt war ­vorüber, bevor sie richtig begonnen hatte. Nach 1504 kehrte Christoph Kolumbus nicht mehr in die Karibik zurück. Sein Ruhm war nach seiner dritten Expedition verblasst. Er machte andere für seinen Abstieg verantwortlich, nicht zuletzt auch König Ferdinand, über den Kolumbus argwöhnte, dass er nie so fest an seiner Seite gestanden habe wie die 1504 verstorbene Isabella. Ob das stimmte, ist nicht so wichtig. Viel bedeutender als Kolumbus ’ kleinlicher Groll ist die unaufhaltsame Dynamik, die die drei mit der ersten Erkundungsfahrt in Gang gesetzt hatten. Kolumbus starb am 20. Mai 1506, wie sein Sohn schrieb «an Gicht und anderen Krankheiten leidend und bekümmert, ­seinen eigenen tiefen Fall mitzuerleben».56 Doch mit seinem Tod war das Zeitalter der Entdeckungen noch lange nicht abgeschlossen, es hatte gerade erst begonnen. Mitte der 1520er Jahre waren spanische und portugiesische Eroberer und Krieger, die sogenannten Konquistadoren, nicht nur in der Karibik unterwegs, sondern auch auf dem Festland in Gebieten, die wir heute als Mexiko, Guatemala, Florida und die Küstenregion von Brasilien kennen. Sie waren mit gepanzerten Rüstungen, Handfeuerwaffen und Kanonen ausgestattet – deren Donnern sicher für Panik unter den Indigenen sorgte, die nie zuvor den Einsatz von Schießpulver erlebt hatten. Einer dieser Konquistadoren war Hernán Cortés, der hartnäckige Spanier, der von sei-

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nen Feldzügen in den Jahren 1519 bis 1521 große Mengen Gold aus Mexiko nach Europa brachte. Cortés ’ Truppen besiegten die Azteken, zerstörten ihr Reich, setzten ihren letzten Herrscher Moctezuma  II . ab und ermordeten ihn vermutlich auch. Ein Teil des Goldes war der Schatz, den Albrecht Dürer bei seinem Besuch in Brüssel 1520 bewunderte; doch das war nur ein Bruchteil dessen, was insgesamt in der Neuen Welt geraubt wurde. Auf dem amerikanischen Festland lagen Megastädte wie die aztekische Hauptstadt Tenochtitlán, von der viele ihrer Besucher sagten, sie sei genauso prächtig wie Venedig. Durch den Einsatz überlegener Technologien ­ ocken, geund Waffen und das Einschleppen von Krankheiten wie den P gen die die amerikanischen Ureinwohner kaum oder gar nicht resistent waren, eroberten die Konquistadoren die uralten Reiche Amerikas im Sturm und errichteten an deren Stelle ihre transatlantischen Kolonien, die sie in jeder Hinsicht ausbeuteten, um den Ruhm ihrer Heimatländer in Europa zu mehren. Das Entstehen dieser Reiche in der Neuen Welt ist eine der großen Veränderungen, die von der heutigen Geschichtsschreibung als Wendepunkte charakterisiert werden und die das Ende des Mittelalters markieren.

Nach Indien und darüber hinaus In den Jahren zwischen den ersten Vorstößen entlang der westafri­ kanischen Küste nach Süden im frühen 15. Jahrhundert und Kolumbus ’ Abenteuern in der Karibik lernten die Seefahrer des Spätmittelalters enorm viel über Geografie. Sie erschlossen wertvolle neue Rohstoffquellen, von Gold über Holz bis zum Kabeljau. Eins gelang ihnen jedoch nicht: Sie konnten das grundlegende Problem, das seit Ptolemäus ’ Zeit bestand, nicht lösen: War es möglich, die Inseln vor der Ostküste Indiens zu erreichen, indem man nach Westen anstatt nach Osten reiste? Daran änderten auch die ersten Erkundungsfahrten über den Atlantik nichts. Jeder Seemann, der sich von den Kanarischen Inseln oder den Kapverden aus nach Westen aufmachte, stieß auf die Inseln der Karibik und schließlich auf den amerikanischen Kontinent (der im frühen 16. Jahrhundert nach Amerigo Vespucci benannt wurde, einem florentinischen

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Navigator, der 1501/02 die Küste Brasiliens kartierte). Sich weiter nach Norden zu orientieren, machte auch keinen großen Unterschied. 1497 brach John Cabot (Giovanni Caboto), ein venezianischer Seemann im Dienst des ersten Tudorkönigs Heinrich  VII . von England, von Bristol aus auf, um eine «Nord-West-Passage» nach Fernost zu finden. Auch er stieß irgendwann auf eine Landbarriere, vermutlich handelte es sich um Neufundland (die Region, wo die Wikinger ihre Siedlung von L ’ Anse aux Meadows gegründet hatten), bevor er die Rückreise antrat. 1508 bis 1509 wagte Cabots Sohn Sebastian einen neuen Versuch und erblickte Land, das später den Namen Hudson Bay erhielt, bevor er sich nach Süden wandte, um die nordamerikanische Küstenlinie bis nach Chesapeake zu erkunden. Das alles sollte sich als historisch bedeutsam erweisen, vor allem bei der Gründung der ersten nordamerikanischen Kolonien im späten 16. Jahrhundert. Doch bei der Suche nach einer Abkürzung ins Land der Khane waren die europäischen Mächte keinen Schritt weitergekommen. 1488 erbrachte ein portugiesischer Kapitän namens Bartolomeu Dias immerhin den Beweis, dass eine andere Route existierte. Dias war von J­ ohann II . beauftragt worden, der afrikanischen Küstenlinie weiter zu folgen als je ein europäischer Seefahrer vor ihm. Nach achtzehn Monaten Kampf auf hoher See hatte Dias schließlich Erfolg. Im Februar 1488 umrundete er das Kap der Guten Hoffnung, das er ursprünglich «stürmisches Kap» nannte, und gelangte bis zur Algoa Bay (einer Bucht östlich von Port Elizabeth im heutigen Südafrika), bevor ihm seine Mannschaft klipp und klar sagte, dass sie ihm die Kehle von einem Ohr zum anderen aufschlitzen würde, wenn er sie zwinge, noch weiter zu fahren. Sein Auftrag war erfüllt, er hatte bestätigt, dass es eine Möglichkeit gab, Afrika zu umsegeln, auch wenn die Passage nicht einfach war. Ein Schiff, das auf dieser Route weiter nach Nordosten segelte, würde irgendwann nach Indien gelangen. Diese Entdeckung veränderte die Welt: Weltkarten, die nach Dias ’ Reise erstellt wurden, mussten berücksichtigen, dass der Indische Ozean, anders als Ptolemäus angenommen hatte, nicht von unbekannten Landmassen umschlossen war, sondern von Süden aus erreicht werden konnte. Ausgerüstet mit diesem Wissen und nach 1493 aufgerüttelt von Kolumbus ’ Entdeckungen im Westatlantik, waren die Portugiesen ­bereit, sich über die von Dias erreichte Südspitze Afrikas hinauszuwagen.

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Ein Name, der in der Geschichte der spätmittelalterlichen Seefahrer gleich nach dem von Christoph Kolumbus kommt, ist Vasco da Gama. 1497 war da Gama um die dreißig und gehörte dem Santiago-Orden an, weshalb er von König Johann  II . gefördert wurde, der Großmeister des Ordens war und ihm seinen Segen erteilte, den Indischen Ozean zu ­erkunden. Im Juli verließ da Gama Lissabon mit vier Schiffen, hundertsiebzig Mann und dem Auftrag des neuen portugiesischen Königs Manuel  I . (reg. 1495–1521), «Im Namen Gottes … und zu unserem eigenen Vorteil Entdeckungen» auf See zu machen.57 Da Gama setzte diese Anweisungen pflichtgemäß um. Er segelte entlang der westafrikanischen Küste nach Süden, bis er Sierra Leone erreichte und von dort aus mutig (und vielleicht auch ein bisschen tollkühn) hinaus auf den offenen Atlantik fuhr, im Vertrauen auf Dias ’ Versicherung, irgendwann würden Winde aus dem Westen seine Flotte zurück an die Südspitze des afrikanischen Kontinents führen. Das stimmte, doch es bedurfte einer ungeheuren Willens- und Kraftanstrengung, um drei Monate auf hoher See auszuharren, ohne dass in irgendeiner Richtung Land zu sehen gewesen wäre. Woche für Woche sahen da Gama und seine Mannschaft nichts anderes als Wellen, Wale und hin und wieder einen Seevogel. Noch nie zuvor war jemand so lange auf See gewesen  – zumindest gab es darüber keine Berichte. Doch am 4. November, einem Samstag, kam endlich Land in Sicht. Da Gamas Leute «grüßten den Kommandanten mit vielen Flaggen und Wimpeln und Salutschüssen, und wir ­waren alle dabei festlich angezogen».58 Sie waren auf dem richtigen Weg. Ende November 1497 umrundete die Flotte das Kap. An Weihnachten tauschten sie mit Afrikanern an der Küste Glasperlen, Kappen und Ketten gegen fette Ochsen, die sie brieten, und Leinenstoffe gegen Metall. Sie bestaunten flugunfähige Vögel (Pinguine), die wie Esel schrien, und riesige Seelöwen, deren Haut so fest war, dass ihre Lanzen sie nicht durchdringen konnten. Sie notierten, dass es offenbar reiche Vorkommen an Kupfer, Salz, Zinn und Elfenbein gab. Nur ihre Versuche, die Botschaft Christi zu verkünden, scheiterten: Als die Mannschaft in einer afrikanischen Bucht anlegte und eine Wappensäule und ein Kreuz aufstellte, sah sie bei der Abfahrt, wie ein Dutzend Einheimische beide wieder niederriss.59 Das neue Jahr brachte weitere Schwierigkeiten für da Gama und seine

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Mannschaft. Sie mussten eins ihrer Schiffe versenken. Viele Männer bekamen Skorbut: «Hände und Füße schwollen ihnen an, und das Zahnfleisch wucherte ihnen so über die Zähne, daß sie nicht mehr essen konnten.»60 In Mosambik stießen sie auf eine reiche muslimische Bevölkerung, die geringschätzig auf ihre Friedensangebote reagierte, und erfuhren, dass der Erzpriester Johannes nicht weit sei, aber tief in der Wüste lebe, an ­einem Ort, den man erst nach einem langen Ritt auf dem Kamelrücken erreichen könne. In Mombasa (im heutigen Kenia) erwies sich ein scheinbar freundlicher Empfang als trügerisch, da Schwimmer ausgesandt wurden, um ihre Schiffe zu beschädigen, während sie vor Anker lagen. Im Gegensatz zur Karibik war der Indische Ozean eine hoch entwickelte See­ handelszone; die Kanonen der Schiffe waren zwar ein effektiver Schutz, wenn sie gelegentlich angegriffen wurden, Schießpulver war aber allgemein bekannt; anders als Christoph Kolumbus hatten die Portugiesen keinen technologischen Vorsprung. Doch schließlich gelang es da Gama, einen erfahrenen einheimischen Lotsen anzuheuern, der ihm half, einen Kurs fern der afrikanischen Küste anzusteuern, damit sie wieder hinaus aufs offene Wasser Richtung Arabisches Meer gelangten. Am 20. Mai erreichten da Gama und seine Mannschaft die Küste von Südwestindien und ankerten vor Calicut (heute Kozhikode im indischen Bundesstaat Kerala) an der Malabarküste. Als der dortige Herrscher, der Zamorin genannt wurde, Boten sandte, um zu fragen, was sie suchten, kam da Gama gleich zur Sache und antwortete: «Wir kommen, um Christen und Gewürze zu suchen.» Doch das Glück war nur bedingt auf seiner Seite. Da Gama musste feststellen, dass der Zamorin weder von seinem Status noch von den vorgeschlagenen Handelsbedingungen beeindruckt war. Er und seine Mannschaft vermuteten, dass viele Menschen im Land eine Art Christen seien. Doch der Priesterkönig Johannes war offenbar nicht darunter. Ein anonym gebliebenes Mitglied der Mannschaft berichtet in seinem Tagebuch: [Die Menschen sind] von brauner Hautfarbe, und ein Teil von ihnen trägt große Bärte und lange Haare. Andere tragen das Haar kurzgeschnitten, und wieder andere haben den Kopf glattgeschoren und tragen, zum Zeichen, daß sie Christen sind, nur auf dem Wirbel ein Haarbüschel und dazu Schnurr-

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bärte. Sie haben die Ohren durchbohrt und viel Gold darin. Der Oberkörper ist meist nackt, unterhalb des Gürtels tragen sie sehr feine Baumwolltücher, und diejenigen, die so gekleidet gehen, sind die angesehensten. Die anderen kleiden sich, wie sie es eben können. Die Frauen in diesem Land sind im Allgemeinen häßlich und klein von Gestalt. Sie tragen am Halse viel Goldschmuck, an den Armen viele Armbänder und an den Zehen Ringe mit kostbaren Steinen. All diese Leute sind, dem Anschein nach zu urteilen, von gutmütigem Charakter und weicher Gemütsart; dem ersten Eindruck nach sind sie unverbildet und sehr sinnenfroh.61

Die Seeleute hingegen hätte man dann wohl als «unverbildet und habgierig» beschreiben können. Allerdings blieben ihre Versuche, ein Handels­ abkommen mit den Kaufleuten und Herrschern von Calicut zu schließen, erfolglos, obwohl sie sich von Mai bis Ende August in der Stadt aufhielten. Doch auch wenn die Expedition keine sofortigen Reichtümer brachte, war doch der eigentliche Auftrag erfüllt: Da Gama hatte bewiesen, dass es möglich war, Indien zu erreichen, ohne durch das gefährliche, von den ­Osmanen kontrollierte Mittelmeer zu segeln oder sich auf den Spuren Marco Polos auf eine beschwerliche Überlandreise durch Zentralasien zu begeben. Andererseits war auch der neue Seeweg nicht einfach. Da Gamas Heimreise zurück nach Portugal dauerte knapp ein Jahr. Fast die Hälfte seiner Leute starb dabei an Skorbut, Durst und Krankheiten, so dass er gezwungen war, ein zweites Schiff zu versenken. Doch als die beiden verbliebenen Schiffe schließlich im Juli 1499 Portugal erreichten, wurden sie mit Jubel und öffentlichen Feiern empfangen. König Manuel  I . schrieb ­triumphierend an Ferdinand und Isabella, seine Seefahrer hätten Indien und andere angrenzende Königreiche und Herrschaftsgebiete erreicht und entdeckt; dessen Meer befahren und darauf navigiert, große Städte gefunden, große Gebäude und Flüsse und eine große Bevölkerung, unter der all der Handel mit Gewürzen und kostbaren Steinen stattfindet, die in Schiffen … nach Mekka gebracht werden und von dort nach Kairo, von wo aus sie in die ganze Welt verteilt werden. Von diesen [Gewürzen etc.] haben sie eine Menge mitgebracht, darunter Zimt, Nelken, Ingwer, Muskat und Pfeffer … und auch viele edle Steine aller Sorten wie Rubine und andere. Und sie kamen auch in ein Land, wo es Goldminen gibt, von dem

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[dem Gold] sie wie von den Gewürzen und den Edelsteinen nicht so viel mitgebracht haben, wie sie gekonnt hätten …

Die Spanier hatten zwar im Westen den ersten Vorstoß in die Neue Welt gemacht, doch die Portugiesen waren ihnen dicht auf den Fersen. Nach da Gamas erster Reise sandten die Portugiesen stetig weitere Schiffe nach Indien. Die zweite große Expedition, die deutlich umfangreicher war als die vorherige, stand unter dem Kommando von Pedro Álvares Cabral, der 1500/01 eine enorm strapaziöse Fahrt absolvierte, zuerst zur brasilianischen Küste, dann nach Osten zum Kap der Guten Hoffnung und via Mosambik nach Calicut und zu einer weiteren Station an der ­indischen Malabarküste: dem Reich Cochin. Cabral und seine Mannschaft waren bei ihrer Rückkehr nach Europa schwer von Stürmen und bewaffneten Auseinandersetzungen mit arabischen Kaufleuten in Indien gezeichnet, die die Neuankömmlinge bekämpft hatten. Doch ihre Schiffe waren mit Gewürzen beladen, die mit großem Gewinn in Europa verkauft wurden. Nachdem man festgestellt hatte, dass der Trick, zuerst Richtung Westen und dann erst nach Osten zu fahren, nicht nur funktionierte, sondern wiederholt werden konnte, folgte jedes Jahr eine Armada der neuen Route, die noch Hunderte Jahre später als Carreira da India bekannt war. Die portugiesischen Flotten, die die Passatwinde im Atlantik und die Monsunwinde im Indischen Ozean nutzten, fuhren nun regelmäßig von Lissabon zu den Kapverdischen Inseln und von dort weiter Richtung Süd­ westen bis vor die brasilianische Küste, um dann Kurs nach Osten zu ­nehmen, die Südspitze Afrikas zu umrunden und weiter nach Indien zu segeln, manchmal durch die Meerenge zwischen Mosambik und Madagaskar, manchmal um die Außenseite der Insel. Die Flottengröße variierte, mal war es nur eine Handvoll Schiffe, mal über ein Dutzend. Spezielle Abteilungen der königlichen Regierung kümmerten sich um die Logistik. Portugal hatte sich voll und ganz der Aufgabe verschrieben, die Kosten der Fahrten zu unterstützen und schließlich komplett zu übernehmen – die Expeditionen wurden zum nationalen Geschäftsmodell. Die Handels­ tätigkeit erhielt zunehmend militärische Unterstützung. Die Portugiesen

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trafen ein Abkommen, dass sie entlang der Südwestküste Indiens Forts bauen durften, und bestraften feindselige indische Herrscher mit Breit­ seiten ihrer Schiffskanonen. Immer öfter kam es zu Seeschlachten zwischen den europäischen Eindringlingen und Kaufleuten, die schon lange auf dem Indischen Ozean aktiv waren. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des 16. Jahrhunderts ernannten die Portugiesen Gouverneure für ihre Vorposten auf dem indischen Festland und eroberten Gebiete in Goa, um sie dauerhaft zu besiedeln. Hundertfünfzig Jahre später hatten die Portugiesen Hunderte Kilometer an der indischen Küste eingenommen, einen Großteil von Sri Lanka, weite Teile im heutigen Bangladesch und Myanmar und die winzige Halbinsel und den Archipel von Macau im Süden Chinas. Ihre Schiffe brachten schwarzen Pfeffer, Zimt, Nelken und Muskat nach Lissabon; im ­Osten handelten sie mit Baumwollstoff und Gold- oder Silberbarren. Mit der Zeit etablierten sie sich als Zwischenhändler für die miteinander verfeindeten japanischen und chinesischen Reiche, deren Verhältnis so schlecht war, dass sogar der direkte Handel mit dem jeweils anderen verboten war. Auf der anderen Seite der Welt hatten die Portugiesen die Kontrolle über Brasilien erlangt, der Zwischenstation der ersten Etappe der Carreira da India. Damit war Portugal zu einem echten Weltreich geworden, in dem sich portugiesische Forts, Häfen, Handelsposten, Faktoreien und Garnisonen wie auf einer Perlenkette um die Welt reihten. (Und dieses Reich bestand zum Teil bis in die heutige Zeit: Goa wurde erst 1961 an Indien zurückgegeben, Macau 1999.) Die letzte Etappe war erreicht.

Der vollendete Kreis Das umständliche Kreuz und Quer, erst einmal nach Westen zu segeln, wenn man nach Osten wollte, wurde schließlich von dem portugiesischen Entdecker Ferdinand Magellan beendet, der sich im August 1519 vom Fluss Guadalquivir in Sevilla auf die Reise machte, um die Welt zu umsegeln. Magellan  – ein geheimniskrämerischer und extrem frommer Mann, der wie Kolumbus seine Mannschaft ständig im Unklaren darüber

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ließ, wohin die Reise ging und was er erreichen wollte – sollte das Ende seiner Reise nicht erleben.62 Sie wurde trotzdem fortgeführt, mit einem seiner Offiziere als Kapitän, einem Basken namens Juan Sebastián Elcano. Die dreijährige Fahrt war ein epochales Abenteuer, das seine unerschrockenen Helden über den Atlantik, um die Südspitze Südamerikas und über den Pazifik zu den Philippinen und nach Indonesien führte. Nach Magellans Tod bei einer Schlacht mit den Bewohnern der Insel Mactan, die den christlichen Glauben, den er ihnen aufzuzwingen versuchte, nicht annehmen wollten, übernahm Elcano die Leitung und brachte ein Schiff über den Indischen Ozean um das Kap der Guten Hoffnung zurück in die spanische Heimat. Dort war der Auftraggeber der Reise, Karl  V ., so beeindruckt, dass er Elcano in den Ritterstand erhob und ihm ein Wappen verlieh, das die Erdkugel mit der Inschrift trägt: PRIMUS CIRCUM DEDISTI ME («Als Erster hast du mich umfahren»). Die Weltumsegelung forderte von den Teilnehmern einen furchtbaren Tribut: Von fast dreihundert Männern, die in See stachen, kamen weniger als zwanzig zurück. Dennoch war sie eine außergewöhnliche navigatorische Leistung und ein symbolischer Meilenstein in der Geschichte des menschlichen Fortschritts. Die Form und Beschaffenheit der Erde, die seit jeher ein Geheimnis und Gegenstand von Spekulationen gewesen waren, waren nun entschlüsselt. Und obwohl viele Gebiete den Europäern weiterhin unbekannt waren und unerforscht blieben – darunter Australasien, große Teile Zentralafrikas, der Amazonas-Regenwald, das nordamerikanische Hinterland, die Antarktis und die Gipfel des Himalaja –, wurde ihre Erforschung nun mit der Frage «wann» und nicht «ob» oder «wie» eingeleitet. Von Magellans und Elcanos Erdumrundung zu Captain Cooks Ankunft in Australien und weiter zu Tenzing Norgays und Edmund Hillarys Besteigung des Mount Everest bis zu unserem aktuellen Zeitalter der Satellitennavigationssysteme und von Google Earth verläuft eine direkte Linie. Der Weg war lang, aber gerade. Vor den europäischen Entdeckungsreisen im 15. Jahrhundert glichen Weltkarten Puzzles, in ­denen noch Teile fehlten. Doch danach gab es über dem Meeresspiegel keinen Ort mehr, der Forschern und Entdeckern unerreichbar schien. Die Entdeckungsreisen waren also ein wesentlicher Faktor für das Ende des Mittelalters. Neben den geografischen Erkenntnissen und der

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mentalen Leistung bei Reisen wie der Weltumsegelung Magellans läuteten die Entdeckungsfahrten auch ein neues Zeitalter der europäischen Weltreiche ein. Spanien und Portugal waren die ersten großen Seemächte, die damit begannen, Gebiete in Tausenden Kilometern Entfernung zu ­kolonisieren, doch ihnen folgten schon bald die Engländer, Franzosen, Niederländer und andere. Die Errichtung dieser weit entfernt liegenden Herrschaftsgebiete veränderte die Natur des Welthandels nachhaltig und wirkte sich auf jahrhundertealte Machtstrukturen auf jedem Kontinent aus. Sie brachte einigen Menschen und Reichen unvorstellbaren Reichtum und Wohlstand und vielen anderen entsetzliches Elend, Versklavung und Leid. Das Vermächtnis des Imperialismus ist auch im 21. Jahrhundert noch Thema erbitterter und hoch emotionaler Debatten. Eine komplette Geschichte des europäischen kolonialen Imperialismus und seines Erbes würde weit über den Rahmen dieses Buch hinausgehen – doch wir können festhalten , dass seine Ursprünge im Mittelalter liegen, als Abenteurer wie Kolumbus und da Gama aufbrachen, um neue Wege zu finden, die Welt zu bereisen, und auf Wunder stießen, die am Ende genauso faszinierend waren wie die, die Marco Polo zu den Glanzzeiten der Khane beschrieben hatte. Damit bleibt uns nur noch ein Pfad, den es bei unserer eigenen langen Reise durch die Welt des Mittelalters zu erkunden gilt. Denn im 15. Jahrhundert änderte sich nicht nur die Vorstellung von der Welt, auch die ­Kirche war einem Wandel unterworfen. Zur gleichen Zeit, in der neue Kontinente und neue Routen in den Osten die mittelalterliche Vorstellung von der Gestalt der Erde über den Haufen warfen, stand auch eine ganz andere Revolution kurz davor, die bisherigen Vorstellungen vom Himmel durcheinanderzubringen. Die Rede ist von der protestantischen Reformation, die in den 1430er Jahren in Deutschland ihren Anfang nahm, als ein Goldschmied namens Johannes Gutenberg herausfand, wie man Bücher drucken konnte.

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Protestanten «Gottes Wort … hat so viel getan, dass das Papsttum so schwach geworden ist, dass ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel Abbruch getan hat.» Martin Luther

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m Herbst des Jahres 1455 zogen zwei Goldschmiede in der Stadt Mainz vor Gericht. Bei ihrem Streit, den sie den kirchlichen Autoritäten der Stadt im Refektorium eines Franziskanerklosters darlegten, ging es um Geld. Der eine Goldschmied, Johannes Gutenberg, hatte sich 1600 Gulden (ein kleines Vermögen) geliehen, um sie zusammen mit seiner eigenen ­Arbeitskraft und Zeit in die Entwicklung einer Maschine zu investieren, von der er hoffte, dass sie das Wesen des Schreibens verändern würde. Der andere Goldschmied, ein gewisser Johannes Fust, hatte ihm das Geld in der Hoffnung geliehen, mit seiner Investition reich zu werden. Aber nachdem mehrere Jahre vergangen waren, hatte Gutenberg immer noch keinen Gewinn gemacht. Fusts Geduld war nun am Ende, er wollte sein Geld zurück und verklagte deshalb seinen Geschäftspartner. Entweder bekam Fust sein Geld oder er würde in Gutenbergs Werkstatt Werkzeug und Güter in dem Wert beschlagnahmen, den dieser ihm schuldete. Für Fust ging es um seinen Stolz und sein Eigentum. Für Gutenberg ging es um Überleben oder wirtschaftlichen Niedergang. Die Erfindung, auf die Gutenberg so große Mühe verwendet hatte, war eine Druckerpresse. Während des gesamten Mittelalters waren Texte von Schreibern erstellt worden, die mit Federkiel und Fässchen mit Tinte (auf Grundlage von Eisensulfat, Galläpfeln und Gummi arabicum) auf getrockneter, gespannter und behandelter Tierhaut schrieben, die man Per-

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gament oder Vellum nannte. Die besten Schreiber waren entweder effektive Kopisten oder begabte Künstler – und manchmal sogar beides. Aber sie waren keine Übermenschen. Sie arbeiteten Seite für Seite an jeweils einem Manuskript. Für einen langen Text – eine Bibel, das Leben eines Heiligen, ein Traktat von Aristoteles oder Ptolemäus  – benötigte ein Schreiber Hunderte oder sogar Tausende Stunden. Gutenberg fand dieses Vorgehen unendlich mühsam und verbrachte einen Großteil seines Erwachsenenlebens mit der Suche nach einer Möglichkeit, die Textproduktion zu revolutionieren. Er war nicht der Erste, der auf die Idee des Druckens kam: Die erste gedruckte Schriftrolle aus China, die mit einem Datum versehen ist (die Abschrift eines buddhistischen Textes mit dem Namen Diamant-Sutra), wurde 868  n. Chr. mit Druck­ stöcken aus Holz hergestellt. In Korea wurden seit dem 13. Jahrhundert Metalllettern verwendet. Doch diese Technologien waren im Westen unbekannt  – bis zu Gutenbergs Erfindung. Seine Presse ermöglichte es ­einem kleinen Team von Druckern, Seiten in einem bis dahin unvorstellbaren Umfang zu setzen und zu vervielfältigen. Einzelne Buchstaben (die so genannten beweglichen Lettern) wurden aus Metall gegossen und dann zu Wörtern, Sätzen und Abschnitten gruppiert. Anschließend wurden sie mit einer eigens entwickelten Druckerschwärze auf Ölbasis bestrichen und dann auf Pergamentblätter oder in Italien hergestelltes Papier (wieder eine frühmittelalterliche Erfindung der Chinesen, die erst kurz zuvor in den Westen gekommen war) so oft wie nötig gepresst, wodurch identische Blätter entstanden. Das war zwar immer noch ein teurer, schwieriger Prozess, der große Sorgfalt und Konzentration sowie Kenntnisse und ­Erfahrung in der Metallbearbeitung erforderte, doch hatte er nach Gutenbergs Meinung das Potenzial, die bisherige Form des Abschreibens von Texten zu ersetzen und ein neues Zeitalter des geschriebenen Worts einzuleiten. Allerdings bestand wie bei so vielen Technik-Pionieren und visionären Unternehmern auch bei Gutenberg das Problem, dass sein Ehrgeiz und seine Vorstellungskraft noch von seiner Fähigkeit übertroffen wurden, das Geld anderer Leute auszugeben. Als Fust seinen Kredit zurück­ haben wollte, bedeutete das für Gutenbergs Start-up eine Katastrophe. Im ­November 1455 urteilte das Gericht in Mainz zugunsten von Fust, der bald darauf Gutenbergs Druckerpresse, seine Lettern und seine Werkstatt

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erhielt. Schlimmer noch, Fust übernahm auch das Projekt, an dem Gutenberg gerade arbeitete. Seit mehreren Jahren werkelte Gutenberg an einer zweibändigen Druckausgabe der Bibel: Die lateinische Vulgata des hei­ ligen Hieronymus aus dem 4. Jahrhundert sollte von den technischen Neuerungen des 15. Jahrhunderts profitieren. Gutenberg war noch lange nicht mit dem Drucken fertig und hatte geplant, zwei Versionen zu verkaufen – eine auf Papier und eine luxuriösere auf strapazierfähigem Vellum. Gerüchte über die anstehende Veröffentlichung der Bibel machten in den höchsten Kreisen Europas die Runde: Ein päpstlicher Legat in Deutschland namens Aeneas Silvius Piccolomini* schrieb im März 1455 einem spanischen Kardinal, er habe einzelne, noch nicht gebundene Seiten davon gesehen und sei sehr beeindruckt, gehe jedoch davon aus, dass es nahezu unmöglich sei, ein Exemplar zu bekommen, bevor alle ausverkauft wären. («Die Schrift ist enorm sauber und lesbar, gar nicht schwer zu folgen», schrieb Piccolomini. «Man kann sie ohne Mühe und sogar ohne Brille lesen».)1 Nun übernahm Fust zusammen mit Gutenbergs Mitarbeiter Peter Schöffer den Druck und vollendete das Vorhaben. Gutenbergs Bibel wurde von Fust und Schöffer rechtzeitig veröffentlicht und vor August 1456 zum Verkauf angeboten. Es war ein großes Buch, das dafür vorgesehen war, dass man es an einem Pult las. Die beiden Bände hatten über tausendzweihundert Seiten, auf denen der Text mit zweiundvierzig Zeilen pro Seite in zwei Spalten angeordnet und in schwarzer, blauer und roter Farbe gedruckt war, dazu kamen hier und da schön geschmückte Anfangsbuchstaben und Illustrationen am Rand.2 Der Druck erinnerte stark an einen handgeschriebenen Text, doch er war es nicht. Gutenbergs Bibel war das erste große gedruckte Buch im Westen. Sie war ein Meilenstein in der Geschichte des Schreibens und Veröffent­ lichens. Darüber hinaus war sie aber auch der Beginn einer mittelalter­ lichen Kommunikationsrevolution. Der mechanische Druck veränderte die abendländische Kultur im 15. Jahrhundert so grundlegend und weit­ reichend, wie die Entwicklung des Smartphones unsere Kultur im 21. Jahr-

* Der zukünftige Papst Pius II.

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hundert veränderte. Er bewirkte weitreichende Veränderungen in der Literatur und der Lesefähigkeit, der Bildung und der Politisierung der Bevölkerung, der Kartografie, Geschichte, Werbung, Propaganda und Verwaltung.3 Der Philosoph und Politiker Sir Francis Bacon stellte im 17. Jahrhundert den Buchdruck auf eine Stufe mit dem Schießpulver und dem Schiffskompass als die Dinge, die «das Erscheinungsbild und den Zustand der gesamten Welt verändert haben».4 Für uns ist jedoch vor allem wichtig, dass der Buchdruck eine zentrale Stelle in der Reformation einnimmt – der Revolution, die im 16. Jahrhundert die katholische Kirche auseinanderriss. Zunächst lieferten Drucker wie Gutenberg die Mittel, mit denen sich das Papsttum kopfüber in eine moralische Krise und in die institutionelle Korruption stürzte. Dann ermöglichten die Drucker, dass sich die Kritik an der etablierten Ordnung in ganz Europa rasend schnell verbreitete. Das hatte zur Folge, dass binnen weniger Jahrzehnte überall im mittelalterlichen Europa religiöser und politischer Aufruhr herrschte und eine neue Bewegung – der Protestantismus – Fuß fasste und den Katholizismus zum ersten Mal seit tausend Jahren ernsthaft bedrohte. Die Anfänge der protestantischen Reformation nachzuverfolgen ist unsere letzte Aufgabe, bevor wir das Ende unserer Geschichte des Mittelalters erreichen. Diese Reise wird uns von der Werkstatt in Mainz, wo Johannes Gutenberg Mühe hatte, sich über Wasser zu halten, zu einer Meuterei vor dem Papstpalast führen und zu einer zweiten, ebenfalls epochenverändernden Plünderung Roms.

Der Skandal um den Ablasshandel Das früheste heute noch erhaltene westliche Dokument, das im Buchdruckverfahren mit beweglichen Lettern erstellt wurde – oder zumindest das Dokument, das ein lesbares Datum trägt –, ist keine Bibel oder ein ­anderes Buch,* sondern ein sogenannter Ablassbrief. Er wurde in oder in

* In der Fachsprache werden Bücher, die vor 1500 mit beweglichen Lettern gedruckt wurden, als Inkunabeln bezeichnet.

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der Nähe von Mainz gedruckt – vielleicht von Gutenberg persönlich, was ­allerdings nicht sicher ist –, und er war einer von vielen derartigen Briefen, die zu jener Zeit entstanden. Der Ablassbrief besteht aus einunddreißig Zeilen, die auf Vellum gedruckt sind; die einzigen nicht gedruckten Wörter sind die individuellen Details, die von Hand eingetragen wurden und die besagen, dass der Ablass am 22. Oktober 1454 für eine Frau namens Margarethe Kremer ausgestellt wurde.5 Im gedruckten Text wird erläutert, wofür der Ablass gilt. Er ist von ­einem zypriotischen Adligen namens Paulinus Chappe ausgestellt, der sich Sprecher des Königs von Zypern nennt. Dieser Monarch wurde 1454 vom osmanischen Sultan Mehmed  II . stark unter Druck gesetzt, der ­direkt nach der Eroberung Konstantinopels andere christliche Gebiete im Mittelmeerraum ins Visier nahm. Im Ablassbrief wird erklärt, dass der König von Zypern dringend Geld brauche, daher habe Papst Nikolaus V . eingewilligt, dass jeder, der für die Kirche spende, zur Beichte gehen könne und Anspruch auf die Vergebung all seiner irdischen Sünden habe. Das war natürlich ein Riesengeschäft. Wir wissen nicht, welche Sünden Margarethe Kremer auf sich geladen hatte, von denen sie glaubte, sie könne sie nicht durch Buße oder andere gute Taten wieder wettmachen (vielleicht wollte sie das auch nicht). Seit 1215 war die Beichte für gewöhnliche lateinische Christen einmal im Jahr Pflicht, normalerweise fand sie halb ­öffentlich bei den Gottesdiensten vor Ostern statt. Sünde und die Bestrafung dafür im Jenseits waren für die Menschen damals sehr reale Konzepte.6 Das Angebot eines Sündenerlasses war daher äußerst attraktiv, weshalb wohl auch Margarethe einem päpstlichen Vertreter Geld gegeben und ihren Ablassbrief gekauft hatte, mit Datum und ihrem Namen versehen. Wenn sie ihn bis zum Ende der Ablassfrist (in diesem Fall der 30. April 1455) einem kirchlichen Beichtvater übergab, ihre Sünden bekannte und aufrichtig bereute, konnte Margarethe davon ausgehen, dass ihre Seele wieder rein und unbefleckt war.7 Falls sie vom Blitz getroffen, von einer Kuh niedergetrampelt, von der Pest dahingerafft oder von einer Banditenbande ermordet werden sollte, bevor sie Gelegenheit hatte, weitere Sünden zu begehen, war ihre Aufnahme in den Himmel gesichert. Mit dem Kauf des Ablasses hatte Margarethe Kremer ihre Fahrkarte ins Paradies erworben.

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Ablassbriefe wie der von Margarethe waren im Spätmittelalter in ganz Europa verbreitet. Der Zweck eines Ablasses war im Grunde genommen simpel. Er war eine Kreuzung aus spirituellem Passierschein und Banknote: ein vom Papst ausgestellter oder unterzeichneter Brief, der den Träger berechtigte, Vergebung für seine Sünden zu erhalten. Der Vorteil für den Sünder beim Kauf eines solchen Dokuments lag auf der Hand: Die Zeit, die er oder sie im Fegefeuer schmachten musste, wurde reduziert. Die Vorteile für die Kirche beim Verkauf der Ablassbriefe waren genauso offensichtlich: Profit und auch Autorität, weil der Markt für Schuld und Buße, den man dadurch kreierte, Auswirkungen auf die soziale Kontrolle hatte. Die Ablassbriefe wurden massenhaft ausgestellt – ein bisschen wie heute Aktien, Staatsanleihen oder Lotterielose – und einzeln gegen bare Münze verkauft. Für sich genommen könnte man den in Mainz gedruckten Ablass für Margarethe Kremer als Kuriosität betrachten: ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte des Buchdrucks, mehr aber auch nicht. Doch seine Bedeutung geht weit über seine Rolle in der Geschichte des gedruckten Wortes hinaus, denn der Verkauf päpstlicher Ablassbriefe sollte im späten 15. Jahrhundert zu einem der wesentlichen Kritikpunkte an der römischen Kirche werden  – und von Reformatoren in Nordeuropa dazu ­genutzt werden, die Autorität des Papstes und das Vertrauen der Bevölkerung in die katholische Kirche in jeder Hinsicht zu erschüttern. Um zu verstehen, wie und warum das so war, müssen wir den Blick ein wenig weiten und die Entwicklung der päpstlichen Ablassbriefe im Zusammenhang mit der allgemeinen Geschichte der spätmittelalterlichen Kirche ­betrachten. Der Höhepunkt der päpstlichen Macht im Mittelalter war im frühen 13. Jahrhundert mit der Herrschaft von Papst Innozenz  III . erreicht. Für eine kurze Zeit, als sich Innozenz auf dem Gipfel seiner Macht befand – und zu weiteren Kreuzzügen gegen heidnische wie christliche Feinde aufrief, Monarchen exkommunizierte, die seinen Unmut weckten, und auf dem Vierten Laterankonzil weitreichende Reformen des Kirchenrechts, der Kirchenpraxis und -verwaltung durchführte –, schien das Papsttum knapp davorzustehen, seine geistliche Autorität in eine politi-

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sche Vorherrschaft umzuwandeln, die sich vom Heiligen Land bis zur ­Atlantikküste erstreckte.* Doch nach Innozenz fand kein Papst einen Weg, diese Aufgabe zu vollenden. Tatsächlich bestand Innozenz ’ Vermächtnis an seine Nach­ folger in einer völlig überzogenen Auffassung von der angemessenen Stellung der Kirche bei den wichtigsten politischen Entscheidungen des Abendlands. Und als die europäischen Monarchen ihre eigene Macht im 13. und 14. Jahrhundert erweiterten und vertieften, gerieten die Päpste häufig in Streit mit ihnen und führten sogar Kriege gegen sie. In der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kämpften sie gegen die staufischen Herrscher von Deutschland und Sizilien (darunter auch Kaiser Friedrich  II .). Aus dieser Auseinandersetzung entwickelte sich der lange Krieg zwischen Ghibellinen und Guelfen, der die italienischen Stadtstaaten bis ins 15. Jahrhundert heimsuchte. Gleichzeitig gipfelte der heftige Streit zwischen Bonifatius VIII . und Philipp IV . von Frankreich in den 1290er und frühen 1300er Jahren nicht nur in Bonifatius ’ Tod, sondern auch in der Verlegung des Papstsitzes von Rom nach Avignon, wo die Päpste siebenundsechzig Jahre lang im unmittelbaren Einflussgebiet der französischen Krone residierten – eine Zeit, die Petrarca als die «Babylonische Gefangenschaft» des Papsttums bezeichnete. Das avignonesische Papsttum währte von 1309 bis 1376, und auch sein Ende brachte keine Besserung. Im Gegenteil: Bereits zwei Jahre später kam es zu einer kompletten Spaltung der Kirche. Eine Reihe italienischer Päpste hatte ihren Sitz in Rom, während die Gegenpäpste (ein Franzose und dann ein Spanier) in Avignon ­residierten. 1410 kam noch ein Gegenpapst mit Sitz in Pisa hinzu  – für eine kurze Zeit beanspruchten also gleich drei Männer die Papstwürde für sich. Es war ein heilloses Durcheinander. Dieses Große Abendländische Schisma wurde schließlich beim Kon­ stanzer Konzil (1414–1418) überwunden, bei dem man sich auf einen italienischen Advokaten als neuen Papst einigte, der den Namen Martin  V . wählte. Doch das Ansehen des Papsttums war dauerhaft und gravierend beschädigt. Jeder, der ins Amt gewählt wurde, nahm für sich in Anspruch,

* Siehe Kapitel 9.

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der direkte Erbe des heiligen Petrus und das Oberhaupt aller christlichen Gläubigen zu sein. Die Päpste gaben weiterhin ihr Urteil zu Angelegenheiten von großer Tragweite ab – etwa zur Behandlung der nicht-christ­ lichen Menschen in der Neuen Welt. Bei jeder Gründung neuer religiöser Einrichtungen wie Universitäten und Kathedralen strebte man immer noch einen päpstlichen Segen an. Und auf dem Höhepunkt der Renaissance gaben Päpste gigantische Summen aus, um den Glanz Roms zu mehren, und statteten ihr Hauptquartier im Vatikan mit einigen der he­ rausragendsten Kunstwerke in der Geschichte der Menschheit aus. Doch wenn es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Päpste über jede Kritik und jeden Vorwurf erhaben gewesen waren, dann war diese im späten 15. Jahrhundert definitiv vorbei. Da die päpstliche Autorität schwand, infrage gestellt und von ihnen selbst untergraben wurde, fühlten sich Kritiker zunehmend veranlasst, ihre Verachtung für das Amt und ihre Unzufriedenheit mit der römischen Kirche im Allgemeinen zu äußern. In den 1320er und 1330er Jahren hielt es der englische Philosoph und Franziskaner Wilhelm von Ockham für angebracht, Papst Johannes  XXII . als Häretiker zu verurteilen und Päpste allgemein als Männer mit komischen Kopfbedeckungen zu verunglimpfen: «Niemand ist verpflichtet, dem Papst in Glaubensangelegenheiten zu glauben, es sei denn, er kann die Plausibilität dessen, was er sagt, durch die Regel des Glaubens beweisen», schrieb Ockham.8 Im frühen 14. Jahrhundert machte der böhmische Prediger Jan Hus (der von den Lehren des ­berühmt-berüchtigten Oxforder Theologen John Wyclif* beeinflusst war) gegen die päpstliche Korruption mobil; Hus oder jemand aus seinem Kreis verfasste eine lateinische Polemik, die ­unter dem Titel Anatomia Antichristi bekannt ist und in der penibel aufgelistet wird, warum der Papst in Wirklichkeit der Teufel sei: eine «Abscheulichkeit der Verwüstung», der «Engel des Abgrunds», ein «Ziegenbock» und «böser und gottloser Fürst».9 Hus wurde 1415 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, seine Anhänger wurden von Kreuzrittern ­abgeschlachtet. Bereits vor dem 16. Jahrhundert, als die Reformation

* Siehe Kapitel 11.

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nach allgemeiner Auffassung gerade erst ihren Anfang nahm, war die päpst­liche Oberhoheit von einer Tatsache zur bloßen Ansichtssache geworden. In seiner Kritik am korrupten Papsttum empörte sich Hus besonders über den Verkauf von Ablässen. Das Konzept des Ablasses war nicht neu: Es stammte aus dem 11. Jahrhundert, jener Zeit, als die Kreuzritter zu ­ihren Kreuzzügen aufbrachen. Damals wurde die Vergebung der Sünden zunächst für eine beschwerliche Pilgerreise und anschließend in großem Maßstab den Armeen gewährt, die für den Kampf gegen die Feinde Christi in die Ferne zogen.10 Danach entwickelten die Ablässe eine Art ­Eigenleben, was nicht zuletzt auch auf die Erfindung des Fegefeuers zurückzuführen war – die Vorstellung davon entstand als katholische Doktrin zwischen 1160 und 1180. Im 12. und 13. Jahrhundert wurden, wenn sich die Gelegenheit bot, Ablässe auch an gutgläubige Interessenten ohne die Verpflichtung verkauft, gegen Sarazenen oder Heiden zu kämpfen. 1343 gab Papst Clemens  VI . dem Handel eine offizielle Form und bestätigte, dass Ablassbriefe von zugelassenen Klerikern gegen Bargeld verkauft werden konnten. Damit war ein lukrativer Markt geschaffen worden, in dem Jan Hus und viele andere ein Symbol für die unerträgliche Geldgier der römischen Kirche sahen. In den 1390er Jahren nahm Geoffrey Chaucer den Ablasshandel und andere Betrügereien des Klerus in seinen berühmten Canterbury Tales aufs Korn. Der unterhaltsame und korrupte Pardoner (eine gängige Bezeichnung für ­einen Ablasshändler) beginnt seine Geschichte mit einer Art Geständnis, in dem er sich damit brüstet, leichtgläubige Christen zum Kauf gefälschter Reliquien zu verleiten und sie so sehr für ihre Sünden zu schelten, dass sie eilig Ablassbriefe bei ihm kaufen und ihn dadurch extrem reich machen: «Mein ganzes Streben ist zu profitieren / Nicht etwa sie von Sünden zu kurieren.»11 Chaucer beschreibt mit dem für ihn charakteristischen ironischen Witz eine zu seiner Zeit bereits bekannte Figur, den verlogenen Ablasskrämer, der im Auftrag des Papstes Geschäfte macht. Zwei Jahrzehnte später griff Hus – wütender als Chaucer, nicht annähernd so distanziert und dazu bereit, für seine Sache zu sterben – das Thema auf. Er beklagte: «Man zahlt für die Beichte, die Messe, für die

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­ akramente, für den Ablass, für die Einsegnung,* den Segen, das BegräbS nis, für Gebete. Auch der allerletzte Heller, den ein Großmütterchen in einem Tüchlein aus Angst vor Dieben oder Räubern versteckt hat, bleibt ihr nicht. Es nimmt ihn aber der diebische Pfarrer.»12 Über ein Jahr­ hundert sollte vergehen, bis Beschwerden wie diese aus dem Bereich der Satire, der Kritik und lokaler Aufstände zu einer ausgewachsenen Revolution wurden. Doch die Saat war ausgebracht. Angesichts des Potenzials der Ablassbriefe, viel Geld damit zu verdienen, dürfte nun auch klar sein, warum das Aufkommen des Buchdrucks in den 1450er Jahren ein Segen für die Kirche zu sein schien. Die Freikarte für die Erlösung, die zuvor langwierig von Hand geschrieben werden musste, konnte nun in Massen produziert werden. Und das wurde sie auch. In dem Vierteljahrhundert nach der Veröffentlichung der Gutenberg-Bibel eröffneten überall in Europa Druck-Werkstätten: in ­Oxford, London, Paris, Lyon, Mailand, Rom, Venedig, Prag und Krakau; bald darauf waren Drucker auch in Portugal, den spanischen König­reichen, in Schweden und Istanbul aktiv. Die Auflagen für Ablassbriefe l­ agen normalerweise bei fünf- bis zwanzigtausend Stück. Sie füllten nicht nur die Schatullen des Papstes, sondern auch der lokalen Kirche – meist wurden damit teure Bauvorhaben finanziert. 1498 druckte der in Barcelona ansässige Drucker Johann Luschner achtzehntausend Ablassbriefe für das ­ enen Kloster Montserrat  – zusammen mit billigen Handbüchern, in d Wunder beschrieben wurden, die sich bei einer Schlacht zwischen den Osmanen und den Johannitern ereignet hätten: eine inspirierende Geschichte, die Gläubige verleiten sollte, ihr Scherflein für die gute ­Sache beizutragen.13 Etwa zur selben Zeit wurden für das österreichische Stift Vorau in nur wenigen Monaten fünfzigtausend Ablassbriefe verkauft.14 Das Druckerhandwerk boomte – genauso wie der Ablasshandel. Die

* Die Einsegnung war eine Zeremonie, mit der eine Mutter nach der Geburt des Kindes wieder in ihre christliche Gemeinde aufgenommen wurde, nachdem sie nach der Entbindung eine Zeit lang als unrein galt.

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Ablasskrämer hatten nun ein Massenkommunikationsmittel zur Verfügung, mit dem sie ihre Argumente darlegen, ihre Waren verkaufen und ihre Taschen füllen konnten. Besser noch: Die Gläubigen nahmen die Neuerung freudig an. Es war nicht so, dass die Ablasshändler den widerstrebenden Menschen ein ungewolltes Produkt aufdrängen mussten. Ganz im Gegenteil.15 Wie die Nutzer von Social Media im 21. Jahrhundert ließen sich die Männer und Frauen des Mittelalters begeistert auf ein System ein, das ihnen etwas bot, was sie wollten, selbst wenn sie damit zu Profitbringern in einem System wurden, das viel größer war, als sie begreifen konnten. Wir sollten nicht zu hart über sie urteilen. In einer Welt, die vom Schwarzen Tod und ständigen Kriegen heimgesucht wurde, muss dieses neue Mittel zur Vergebung der Sünden und zur Absicherung gegen die Qualen der Verdammnis den Menschen nicht nur notwendig erschienen sein, sondern auch hochwillkommen. Erst allmählich, im Verlauf von über einem halben Jahrhundert, wurde der Ablasshandel zur Zielscheibe zahlreicher Attacken von Gelehrten, und es sollte noch länger dauern, bis sich daraus eine kulturelle Revolution entwickelte. Was schliesslich den Ausschlag gab, dass aus dem Geschäft mit den Ablassbriefen ein Skandal wurde, war im Grunde schlichte Gier. In den 1470er Jahren musste Sixtus  IV ., der berüchtigte, verschwenderische und nepotistische Papst, dessen Feinde ihm alle Arten von sexuellem Missbrauch vorwarfen und über den getuschelt wurde, er verteile Kardinalsposten an besonders attraktive Knaben, feststellen, dass ihm das Geld ausging. Die Italienischen Kriege zwischen 1494 und 1559 erforderten den Bau von Festungen im Kirchenstaat. Die Osmanen bedrohten weiterhin christliche Gebiete. Und in der eigenen Stadt schmiedete Sixtus große Pläne zur Verschönerung Roms. Unter anderem sollten Dutzende Kirchen restauriert oder gleich neu gebaut, die Straßen der Stadt verbreitert und gepflastert, eine Brücke über den Tiber sollte errichtet und die Papstkapelle im Vatikan renoviert werden. (Nach Sixtus ist auch die Sixtinische Kapelle mit dem weltberühmten Deckengemälde von Michelangelo benannt.) Eine von Sixtus ’ Lieblingsmethoden zur Geldbeschaffung war der ­Verkauf von Ablassbriefen – von denen nicht nur die Lebenden profitie-

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ren sollten. Ungeheure Möglichkeiten würden sich bieten, so die Überlegung, wenn die Ablassbriefe für alle Seelen gelten würden, wo immer sie sich auch aufhalten mochten. Sixtus war damit der erste Papst, der erklärte, dass Ablässe auch im Namen bereits Verstorbener erworben werden konnten. Dieses neue Konzept schmuggelte er in den Text einer päpstlichen Bulle ein, die 1476 bestätigte, dass die Stadt Saintes den Erlös aus dem Ablasshandel für den Umbau ihrer Kathedrale verwenden durfte. Von dem Theologen und späteren Kardinal Raimund Peraudi ­ermuntert, formulierte Sixtus den Ablassbrief für Saintes neu: Ein Ablass konnte nun auch «fürbittweise» (per modum suffragii) eingesetzt werden, das heißt, die Verwandten einer Seele, die vermutlich im Fegefeuer schmachtete, konnten einen Ablass nicht nur für sich selbst kaufen, sondern auch für den Verstorbenen; das eingenommene Geld sollte zwischen der Kathedrale von Saintes und einem Fonds für die Kreuzzüge gegen die Türken aufgeteilt werden.16 In der Praxis hieß das, dass ein ­ordentlicher Teil der Einnahmen in die Schatullen des Papstes fließen würde. Was mit dem Geld geschah, wenn es erst einmal dort war, blieb unklar. Diese dramatische Ausweitung des Geltungsbereichs der Ablässe sorgte – wenig überraschend – für Stirnrunzeln, unter anderem auch bei den Theologen der Universität von Paris.17 Doch Sixtus blieb unbeeindruckt. Er hatte andere Sorgen, als sich Gedanken darüber zu machen, dass er ein paar Gelehrte verstimmt hatte; außerdem war der Verkauf von Ablässen einfach eine zu gute päpstliche Einnahmequelle. Also wurde das System erweitert und ausgedehnt, und Rom gewährte weiter die Ausstellung von Ablassbriefen, die zu Zehntausenden gedruckt und an bereitwillige Kunden im gesamten Abendland verkauft wurden – vor allem in Nord­europa, wo der Wunsch nach einem Erlass der Sünden und der Fürbitte für die Toten mit jedem Jahr stärker zu werden schien. Sixtus ’ Amtszeit verstrich ohne größeren Widerstand. Druckereien produzierten weiterhin Ablassbriefe, und die Gläubigen kauften sie eifrig. Erst im frühen 16. Jahrhundert entstanden aus der Unzufriedenheit über ein zunehmend korruptes System direkte Angriffe gegen das Papsttum und die ­Kirche. Der Ablassbrief, der die Unruhen auslöste, war Teil einer Bulle mit dem Titel Sacrosanctis. Sie wurde von Papst Leo  X . (dem zweiten

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Sohn von Lorenzo de ’ Medici, genannt der Prächtige) mit dem Ziel herausgegeben, den i­mmens teuren Neubau der Peterskirche in Rom zu ­finanzieren. Und sie löste einen Sturm aus. Der Mann, dessen Einwände gegen dieses System das Feuer entfachten, aus dem die Reformation hervorgehen sollte, war Martin Luther, ein junger Theologieprofessor an der Universität von Wittenberg, der einen mindestens genauso großen Beitrag wie Gutenberg oder Kolumbus dazu leistete, das mittelalterliche Europa zu Grabe zu ­tragen.

Die 95 Thesen Ende des 15. Jahrhunderts produzierten Druckereien neben Bibeln und Ablassbriefen alle Arten von Texten. Um das Jahr 1500 waren in ­Europa etwa siebenundzwanzigtausend Bücher gedruckt.18 Und sie waren nur ein Teil des Sortiments. Gutenberg selbst druckte Kalender, in denen kirchliche Feste und Feiertage genannt wurden oder die beste Zeit im Monat für einen Aderlass oder die Einnahme von Abführmitteln.19 Auch frühe Zeitungen waren im Umlauf, die wundersame Ereignisse schilderten: 1492 berichtete ein deutsches Nachrichtenblatt, dass in der Nähe von Ensisheim ein riesiger Meteorit eingeschlagen sei; im folgenden Jahr wurden lateinische Nachrichtenblätter in Paris, Basel und Rom gedruckt, in denen von Kolumbus ’ Abenteuern im «Indischen Meer» erzählt wurde.20 Im selben Jahrzehnt ließ der deutsche Kaiser Maximilian I . politische Verlautbarungen auf gedruckten Flugblättern verbreiten, später in seiner Regierungszeit gab er anti-venezianische Propagandaschriften in Auftrag, die das venezianische Volk zur Rebellion gegen seine Herrscher aufforderten. Die Blätter wurden per Ballon über den venezianischen Armeen im Feld verteilt, ähnlich wie in den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts im Rahmen der psychologischen Kriegsführung Flugblätter von Flugzeugen abgeworfen wurden.21 In diesem Kontext müssen wir auch die Veröffentlichung der berühmten «95 Thesen» von Martin Luther sehen, die er im Herbst 1517 in Wittenberg herausbrachte und in denen er seiner Wut und Empörung über den Ablasshandel Ausdruck verlieh. Die Thesen waren eine Reihe

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gelehrter Behauptungen über den Zustand der abendländischen Kirche, denen eine Einladung vorausging, dass alle, die anderer Meinung seien, mit Luther darüber debattieren sollten.22 Die Thesen waren für einen ­öffentlichen Disput gedacht. Da Luther seine Kritik an der Kirche in Form einer offenen Einladung zu einer akademischen Debatte formulierte, gehörte es sich, dass er die Thesen kopieren und an mögliche Inter­ essenten verteilen ließ. Laut späterer protestantischer Überlieferung ­nagelte er dazu die Thesen an die Tür der örtlichen Kirche. Das ist vermutlich ein Mythos. Tatsächlich ist die früheste noch erhaltene Kopie der Thesen die, die Luther am 31. Oktober an Erzbischof Albrecht von Mainz schickte. Doch wie auch immer, die Wirkung war jedenfalls ­außergewöhnlich. Am einfachsten hätte man die Thesen im frühen 16. Jahrhundert natürlich dadurch verbreiten können, dass man sie an Luthers Universität druckte. Doch nach ihrer ersten Veröffentlichung verlor Luther die Kontrolle über ihre Vervielfältigung und Verbreitung. Mit seinen Thesen hatte er einen Nerv getroffen: Sie verbreiteten sich in Windeseile. Die Leute hörten von ihnen und wollten sie lesen, und die Drucker verviel­ fältigten sie. Innerhalb weniger Wochen «gingen die Thesen viral», wie wir heute sagen würden. In den letzten Monaten des Jahres 1517 wurden Hunderte Kopien in Deutschland gedruckt, einige in ursprünglichem ­Latein, andere in umgangssprachlicher Übersetzung. Binnen eines Jahres waren Luthers Schriften Intellektuellen und Buchhändlern in England, Frankreich und Italien bekannt.23 Ruhm hatte Luther nie angestrebt, ­später deutete er auch an, dass er überrascht von dem Aufsehen gewesen sei, das seine Thesen erregten. Natürlich lehrt uns die moderne Geschichte der viralen Verbreitung, dass außergewöhnliche Bekanntheit genauso oft zufällig wie beabsichtigt ist. Nach 1517 war der Geist jedenfalls aus der Flasche. Luther beschrieb sich selbst einmal als Sohn, Enkel und Urenkel von Bauern, der nur eine Chance auf Bildung hatte, weil sein Vater das Dorf seiner Vorfahren verließ und erfolgreich Kupfer in Mansfeld verhüttete, im heutigen Sachsen-Anhalt, etwa 100 Kilometer nordwestlich von Leipzig. Luther wurde dort 1483 geboren; später besuchte er die Magdeburger Domschule und die Universität in Erfurt. 1505, mit zweiundzwanzig, legte

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er die Magisterprüfung ab und trat dem Augustinerorden* bei. Drei Jahre später lehrte er Theologie in Wittenberg und wurde dort auch, ein Jahr vor seinem dreißigsten Geburtstag, zum Doktor der Theologie promoviert. Er spezialisierte sich auf die Psalmen und Paulus ’ Römerbriefe. Auf den ersten Blick war nichts Ungewöhnliches an seiner Laufbahn oder Person. Im Zuge seiner theologischen Studien wuchs bei Luther jedoch zunehmend das Interesse an der göttlichen Vergebung, die seiner Meinung nach eine Frage des Glaubens war, nicht etwas, das man sich durch bestimmte Taten verdienen musste. Heute mag das wie eine obskure und rein fachwissenschaftliche Unterscheidung klingen. Vermutlich entsprang sie Luthers fast neurotischer persönlicher Besessenheit von seiner eigenen unvollkommenen Seele. Doch während er diese Überlegungen hin und her wälzte, kam er zu Schlussfolgerungen, die enormen politischen Wider­ hall finden sollten. In einer Welt, in der die römische Kirche ihren Reichtum auf der Vorstellung aufgebaut hatte, dass man sich Vergebung und Erlösung erwerben musste, indem man entweder Buße tat oder sich Vergebung erkaufte und damit der Erlösung ein Stückchen näher rückte, eckte Luther mit seiner Versicherung, dass der Weg in den Himmel über den Glauben und nicht über Taten erfolge, gehörig an. Wenn man nur glauben, bereuen, seine Mitmenschen lieben und um Gnade beten musste, war schwer nachzuvollziehen, warum man päpstliche Ablässe wie die benötigen sollte, die im Schreiben Sacrosanctis geboten wurden, das 1515 ­verbreitet und von dem Dominikaner und Ablassprediger Johann Tetzel aggressiv beworben wurde – genau zu der Zeit also, in der sich Luther mitten in seinen theologischen Nachforschungen befand. Luthers Thesen kann man daher als das Produkt seines eigenen theo-

* Oder genauer, in das Kloster der Augustiner-Eremiten bei Erfurt, im Unterschied zu den Augustiner Chorherren. Luther war also Mitglied eines Bettelordens, kein Chorherr oder Kanoniker. Dieser Unterschied ist in Hinblick auf die Rolle der Bettelorden in der Gesellschaft von Bedeutung, da sie nicht nur predigten, sondern auch die Beichte abnahmen. Siehe dazu Diarmaid MacCulloch, «The World Took Sides», in: London Review of Books 38 (2016), www.lrb.co.uk/the-paper/v38/n16/diarmaidmacculloch/the-world-took-sides.

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logischen Ringens sehen, das in Tetzels Ablasspredigten ein Ziel fand. ­Infolgedessen waren sie sowohl leidenschaftlich als auch politisch auf­ rührerisch. «Der Papst», schrieb Luther in These Nummer 6, «kann nicht ­irgendeine Schuld erlassen.» Und er fuhr fort: «Es irren daher diejenigen Ablassprediger, die da sagen, dass ein Mensch durch Ablässe des Papstes von jeder Strafe gelöst und errettet wird … der Papst erlässt den Seelen im Fegfeuer keine einzige Strafe.»24 Luther nahm sich auch eine Parole vor, die mit Tetzel in Verbindung gebracht wurde: «Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt!» Das sei Unsinn, schrieb ­Luther: Tatsächlich sei das Ablasssystem ein Schwindel, bei dem sich Verkäufer wie Käufer irren würden. «So selten einer wahrhaftig Buße tut, so selten erwirbt einer wahrhaftig Ablässe, das heißt: äußerst selten», erklärte er. Diese Kritik war nicht völlig neu. Bereits im 12. Jahrhundert hatte der französische Theologe Petrus von Poitiers argumentiert, der Gedanke, man könne Erlösung einfach kaufen, sei empörend. («[Gott] achtet nicht darauf, wie viel gegeben wird, sondern … in welcher Absicht», schrieb ­Petrus.)25 Doch Luther fand ungewöhnlich offene und persönliche Worte. «In Ewigkeit werden mit ihren Lehrern jene verdammt werden, die glauben, sich durch Ablassbriefe ihres Heils versichert zu haben.»26 Damit war klar, dass es Ärger geben würde. Einer der Gründe, warum Luthers 95 Thesen die Menschen im Jahr 1517 so in ihren Bann schlugen, war, dass Leo X . nicht nur ein berüchtigter Verschwender, sondern schlicht und einfach korrupt war. Gut, Leo war ein Medici – er war also in politischer wie religiöser Hinsicht vorbelastet. Und er hatte ein sehr gestörtes Urteilsvermögen, wenn es darum ging, das Richtige zu tun. Er war ein großzügiger Förderer der Künste und zweifellos ein kultivierter Intellektueller. Doch er schien nicht zu begreifen, welchen Schaden er sich und dem Ansehen des Papsttums mit seinen Bemühungen zufügte, Geld für seine zahlreichen Projekte aufzutreiben – vom Neubau des Petersdoms bis zum Kampf gegen die Osmanen. Der Ablass, der in Deutschland gepredigt wurde, war ein klassisches Beispiel dafür, wie aus Leos unbekümmerter Haltung eine schändliche Methode zum Geldeintreiben wurde. Im Grunde stand Sacrosanctis für schiere Ausbeutung: Den Armen wurde das Geld aus der Tasche gezogen,

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um damit die Vergnügungen der Reichen zu finanzieren. («Warum baut der Papst, dessen Reichtümer heute weit gewaltiger sind als die der mächtigsten Reiche, nicht wenigstens die eine Basilika des Heiligen Petrus mehr von seinen eigenen Geldern als von denen der armen Gläubigen?», fragte Luther in seinen Thesen.)27 Doch dahinter steckt noch mehr. Sacrosanctis war Ausdruck einer unternehmerischen Verschwörung, ausgeheckt von den Vertretern der drei mächtigsten Familien Europas: den Medici (in Gestalt von Papst Leo), Jakob Fugger, Kopf der Augsburger Bankiers-, Kaufmanns- und Bergbaudynastie und, so heißt es oft, einer der reichsten Menschen der Geschichte, und schließlich Erzbischof Albrecht von Mainz, Mitglied der politisch einflussreichen Hohenzollerndynastie und (nicht zufällig) auch der Mann, dem Luther die erste Kopie seiner 95 Thesen gesandt hatte. Das Abkommen zwischen diesen drei Männern besagte im Grunde Folgendes: Albrecht, der bereits Erzbischof von Magdeburg war, hatte vom Papst die Erlaubnis erhalten, gleichzeitig auch Erzbischof von Mainz zu werden – womit er der ranghöchste Kirchenmann in Deutschland war; vor allem aber hatte er damit zwei der sieben Stimmen, mit denen die Kurfürsten den deutschen Kaiser wählten. (Sein Bruder kontrollierte noch eine dritte.) Für die Übernahme seines Amtes als Erzbischof verlangte Rom eine hohe Summe  – doch Albrecht konnte es sich leisten, dank eines Kredits der Fugger, die das Geld in dem Wissen vorstreckten, dass sie damit die Hohenzollern und deren Stimmen in der Tasche hatten. Albrecht wiederum versprach Leo, er werde alles in seiner Macht Stehende tun, damit die deutschen Christen so viele Ablassbriefe wie möglich kauften – mit seinem Anteil an den Einnahmen konnte er dann praktischerweise die Schulden bei den Fuggern zurückzahlen. Leo seinerseits brauchte schnell viel Geld für den Petersdom. Für die beteiligten Parteien war das ein elegantes Arrangement, bei dem alle bekamen, was sie wollten – solange die Gläubigen ihren Teil erfüllten und weiter Geld ins System pumpten, um Vergebung für ihre Sünden zu erhalten.28 Für Außenstehende – vor allem für die deutschen Fürsten, die eine zu große Macht der Hohenzollern befürchteten – war es jedoch eine empörende Absprache, gegen die man sich wehren musste. Die enge Verbindung von Politik und Kirche ist einer der Gründe,

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­ arum Luthers Thesen 1517 im Deutschen Reich und in den darauffolgenw den Jahren in ganz Europa Furore machten. Während Luther weiter schrieb und predigte und die Themen Sünde, Vergebung und das Wesen der Liebe Gottes erforschte, gewannen Argumente, die in anderen Zeiten vielleicht nur für humanistische Gelehrte und andere Akademiker von ­Interesse gewesen wären, für die deutschen Kurfürsten und das MediciPapsttum große ­Relevanz. Darüber hinaus waren Luthers Schriften weiterhin in gedruckter Form im Umlauf. Er veröffentlichte mehr Texte als jeder andere Mann seiner Generation – die einzige Ausnahme dürfte der geniale niederländische Humanist Erasmus von Rotterdam sein. Man hätte meinen können, dass Luther einfach nicht anders konnte. Die moderne Ausgabe seiner kompletten Werke umfasst über hundert Bände zu allen möglichen Themen, die in erster Linie durch Luthers Streben zusammengehalten werden, den Menschen die von ihm als Wahrheit erkannte Liebe Gottes nahezubringen. Wieder und wieder argumentierte er, dass er nur an Gott und der göttlichen Gnade interessiert sei, nicht an weltlichen Belangen, auch wenn seine Schriften die Anhänger der etablierten Ordnung verärgerten. Doch mit der Zeit akzeptierte er, dass seine Worte, egal worüber er schrieb, eine große Wirkung erzielten. «Während ich schlief, während ich das Wittenberger Bier trank», schrieb er einmal, «hat das ­selbige Wort [Gottes Wort] … so viel getan, dass das Papsttum so schwach geworden ist, dass ihm noch nie kein Fürst noch Kaiser so viel Abbruch ­getan hat.»29 Nach etwa einem Jahr geriet der deutsche Doktor der Theologie ins Visier der Kirche. Im Oktober 1518 wurde Luther nach Augsburg zitiert, wo er von einem italienischen Kardinal verhört werden sollte. Dieser Thomas Cajetan war ein Experte für Thomas von Aquin, den großen Gelehrten des 13. Jahrhunderts, der als eine der intellektuellen Säulen der Kirchenlehre galt. Luther war zwar bewusst, dass seine Freiheit und sogar sein Leben bedroht waren, dennoch ging er nach Augsburg. Sein Landesherr Friedrich  III ., genannt der Weise, Kurfürst von Sachsen und einer der führenden Gegner der Hohenzollern in Deutschland, hielt seine schützende Hand über ihn. Dennoch befürchtete Luther nach drei Tagen hitziger Debatten mit Cajetan, dass er eine Verhaftung wegen Häresie riskierte, wenn er länger blieb. Er floh und kehrte zurück zu seinen Büchern.

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Doch die Kontroverse ließ ihn nicht los – und er wollte sie auch gar nicht auf sich beruhen lassen. Im Sommer 1519 nahm er an einer Debatte an der Universität Leipzig teil, bei der sein Temperament mit ihm durchging und er dem Papst jegliche Autorität bei der Auslegung der Bibel absprach; er argumentierte, der wegen Ketzerei zum Tode verurteilte Jan Hus sei vielleicht gelegentlich zu weit gegangen, im Großen und Ganzen aber ein guter Christ gewesen. Wenig überraschend wurden Luthers Aussagen im folgenden Sommer offiziell von Papst Leo persönlich verurteilt, in einer Bannandrohungsbulle mit dem Titel Exsurge Domine («Erhebe dich, Herr»). Als Reaktion darauf verbrannte Luther ein Exemplar der Bulle vor den Toren Wittenbergs. Damit waren die Fronten klar. In einem Text, den Luther im selben Jahr verfasste, schrieb er über die «Romanisten» – Leo, seine Unterstützer und praktisch alle anderen, die nicht seiner Meinung waren  –, sie seien diejenigen, die «wahrhaft des Antichristen und Teufels Gemeinschaft sind und von Christus nichts außer dem Namen haben».30 Die Auseinandersetzung wurde öffentlich ausgetragen, mit Briefen und Büchern, die in Latein, der universalen Sprache der Gelehrten, in gedruckter Form verbreitet wurden. Ende des Jahres 1520 hatte Papst Leo genug. Am 3. Januar 1521 exkommunizierte er Luther und machte ihn damit zum offiziellen Feind der Kirche und all ihrer Gläubigen. Alle christlichen Herrscher waren nun angehalten, Position gegen den vorlauten Doktor der Theologie zu beziehen. Doch anstatt Luther zum Schweigen zu bringen, erreichte die Bulle das genaue Gegenteil. Leo ahnte es zwar noch nicht, doch die Katastrophe nahm ihren Lauf.

Das Urteil der Könige Im Frühjahr 1521 setzte der englische König Heinrich  VIII . seine schwungvolle Unterschrift unter ein Buch mit dem Titel Assertio Septem Sacramentorum («Verteidigung der sieben Sakramente»). Mit seinen neunundzwanzig Jahren betrachtete sich Heinrich gern als die perfekte Verkörperung eines Renaissance-Königs; er hatte eine hervorragende Ausbildung erhalten und sich seit seiner Kindheit mit großen humanistischen Autoren wie Erasmus von Rotterdam gemessen. Außerdem suchte

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er ständig nach Möglichkeiten, seine «Tugend, seinen Ruhm und seine Unsterblichkeit» zu steigern, wie es ein Höfling formulierte.31 Daher nahm er auch regen Anteil an der sich zuspitzenden Kontroverse um Luthers Schriften. Nachdem dessen Bücher von der Kirche verboten worden waren, hatte Heinrich die Erlaubnis erteilt, sie in den englischen Städten in großer Zahl zu verbrennen. Für sich persönlich sah Heinrich eine Gelegenheit, sein eigenes Ansehen als Denker und Staatsmann aufzupolieren, indem er persönlich zur theologischen Debatte beitrug. Seine Assertio – von der eine in geprägtes Leder gebundene und signierte Ausgabe in der Royal Collection erhalten ist, der Kunstsammlung des britischen Königshauses – war eine Antwort auf Luthers Schrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Darin hatte Luther argumentiert, die meisten der sieben Sakramente (Taufe, Eucharistie, Firmung, Versöhnung, Krankensalbung, Ehe und Priesterweihe) seien reine Torheit und pure Erfindung. Nur die beiden ersten hätten eine Grundlage in der Bibel. Das war eindeutig ein Affront gegen eine jahrhundertealte christliche Tradition. Also griff König Heinrich – unterstützt von bedeutenden Gelehrten der Universitäten Oxford und Cambridge und dem großen humanistischen Autor Thomas Morus – zur Feder und formulierte eine Erwiderung.32 Er nannte Luther einen «Höllenwolf» und «großen Anhänger des Teufels», er habe aus der Hölle selbst «Irrlehren heraufgeschleppt, die in ewiger Finsternis liegen sollten».33 Im August sandte Thomas Wolsey, der Lordkanzler des Königs, siebenundzwanzig gedruckte Exemplare der Assertio an einen englischen Schreiber am päpstlichen Hof in Rom. Im Begleitbrief bat Wolsey darum, ein Exemplar in goldenes Tuch zu binden und Papst Leo persönlich zu übergeben. Der Schreiber sollte das in einem Augenblick tun, in dem der Papst von so vielen Menschen wie möglich umgeben war, damit sich die Frömmigkeit und Intellektualität des englischen Königs herumsprach. Danach, so Wolsey, sollte der Schreiber den Papst um einen Gefallen bitten. König Heinrich wünschte sich sehnlichst einen offiziellen Titel, der seinen Stellenwert als christlicher König zum Ausdruck brachte. Ferdinand und Isabella von Spanien (Heinrichs Schwiegereltern) waren als die «Katholischen Könige» bekannt gewesen, die französischen Herrscher, darunter auch Heinrichs Zeitgenosse und Rivale Franz  I ., nannten sich

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selbst «die allerchristlichsten Könige». Und Heinrich wollte nun als «der wahre Verteidiger des katholischen Glaubens der Kirche Christi» bezeichnet werden.34 Dank Wolsey und seinen Kontakten in Rom bekam Heinrich mehr oder weniger, was er wollte. Papst Leo wurde im Sommer die Assertio überreicht. Einen Tag später erteilte er Heinrich offiziell die Erlaubnis, seinen königlichen Titel um die lateinische Worte Fidei Defensor – Verteidiger des Glaubens – zu ergänzen. (Der Titel hat sich bis heute gehalten und ist auf britischen Münzen hinter dem Namen des Monarchen eingeprägt.) Und dank Leos Billigung wurde die Assertio zu einem kleinen Bestseller. Es gab zehn Druckauflagen, die ein breites europäisches Publikum erreichten, nicht zuletzt auch durch die Übersetzung aus dem Lateinischen ins Deutsche. Weitere Werke englischer Theologen wie die von John Fisher, Bischof von Rochester und Kanzler der Universität von Cambridge, trugen dazu bei, den Ruf Englands als antilutherische Bastion und Verteidiger der reinen Glaubenslehre zu festigen, wo Häretiker und Reformer nicht willkommen waren. Mitte der 1520er Jahre setzten die englischen Behörden alles daran, lutherische Häresien zu unterbinden: Deutsche Kaufleute mussten damit rechnen, dass ihre Häuser durchsucht wurden; in London wurde regelmäßig gegen Häretiker gepredigt, außerdem plante die Regierung, eine englischsprachige Printausgabe des Neuen Testaments zu verbieten, die in Köln von einem im Ausland lebenden englischen Gelehrten namens William Tyndale vorbereitet wurde. Im Rückblick hat das alles natürlich eine enorme historische Ironie. Im Laufe seiner langen Regierungszeit erwies sich Heinrich  VIII . dann doch nicht als der eifrige Verteidiger des katholischen Glaubens, wie es sein ­Titel versprochen hatte. In den späten 1520er Jahren beschloss er, seine Ehe mit Katharina von Aragón annullieren zu lassen, weil sie ihm keinen männlichen Thronerben geschenkt hatte. Als der Papst die Annullierung nicht genehmigte (aus Gründen, auf die wir noch zu sprechen kommen), vollführte Heinrich eine erstaunliche religiöse Kehrwende. Unter groß­ zügiger Auslegung seiner Rolle als Fidei Defensor vertrat er nun die Ansicht, dass der Schutz des christlichen Glaubens in Wirklichkeit nicht seinen Gehorsam gegenüber dem Papst erfordere, sondern das genaue Gegenteil. 1534 entband er England von der bisherigen Loyalität gegenüber Rom und

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gründete eine unabhängige englische Kirche mit sich selbst als Oberhaupt. Im Zuge dessen entledigte er sich seiner Gemahlin Katharina (die er denkbar schlecht behandelte). Ihrer Nachfolgerin Anne Boleyn erging es noch schlimmer: Heinrich ließ sie nur drei Jahre nach der Heirat hinrichten. Wolsey wurde vernichtet und starb als gebrochener Mann. Bischof Fisher und Thomas Morus wurden hingerichtet, weil sie die Oberherrschaft des Königs über die Kirche nicht anerkannten. Und Heinrich selbst, einst der strenggläubige Kritiker, der Luther als Häretiker gegeißelt hatte, wurde zum Verfechter einer antipäpstlichen Politik; eine Entwicklung, die in den frühen 1520er Jahren abwegig und geradezu lächerlich erschienen wäre. Obwohl die englische Bevölkerung über mehrere Generationen hartnäckig an ihren traditionellen Glaubensvorstellungen festhielt, war England unter den Tudor-Königen Ende des 16. Jahrhunderts die mächtigste protestantische Nation Europas, die Katholiken bis zur Emanzipationskampagne im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert sehr feind­ selig behandelte. In der englischen Geschichte war der Bruch mit Rom der Moment, in dem Zeitgenossen wie der Historiker und protestantische Polemiker John Foxe das Ende des Mittelalters und die Ankunft eines neuen, modernen Zeitalters sahen.* Doch so wichtig diese Entwicklung in England zweifellos war (und im Zeitalter des Brexit immer noch scheinen mag) – der Monarch, dessen Haltung zu Luther entscheidend war und die längste Wirkung entfaltete, war nicht Heinrich, sondern ein anderer Zeitgenosse: Karl V ., Kaiser des Heiligen Römischen Reichs, König von Spanien, Deutschland, Neapel und Sizilien, Erzherzog von Österreich und Herrscher der Burgundischen Niederlande. Ungeachtet der Ansprüche Heinrichs und des ehrgeizigen französischen Königs Franz I . war Karl mit einigem Abstand der mächtigste europäische Monarch seiner Zeit und die beherrschende, zentrale Figur bei der Gründung gleich mehrerer Reiche, vom Habsburgerreich in Mitteleuropa bis zum Königreich Mexiko. Nach seinem Tod wurde er (zugegebenermaßen von einem Freund) als

* Siehe Einleitung.

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«größter Mann, der jemals gelebt hat» gerühmt.35 Doch schon lange vorher, in den 1520er Jahren, war seine Haltung, die er gegenüber Luther, dem Luthertum und dem Papsttum einnahm, von entscheidender Bedeutung im politischen und religiösen Mahlstrom, der den Ausgang der mittel­ alterlichen Welt markierte. Ende Januar 1521, nur wenige Monate, bevor Heinrich VIII . seine Assertio gegen Luther präsentierte, berief Karl V . einen Reichstag – eine politische Versammlung – in der freien Stadt Worms ein. Der Reichstag war der erste, den Karl nach seiner Krönung zum deutschen Kaiser im Herbst des Vorjahres in Aachen abhielt (es war eine prunkvolle Zeremonie gewesen, bei der sich der junge Kaiser als neuer Karl der Große präsentiert hatte, die aber auch eine Reihe unangenehmer Fragen hinsichtlich der Form und Struktur seiner zukünftigen Regierung aufgeworfen hatte).* Auf dem Reichstag sollte über Dutzende heikle Themen beraten werden, darunter Fragen des deutschen Rechts, Anliegen zur Wirtschaftspolitik und Überlegungen zum Verhältnis zwischen dem Reich und den übrigen ausgedehnten Herrschaftsgebieten Karls. In Erinnerung blieb der Reichstag jedoch nur wegen einer einzigen Szene: dem dramatischen Augenblick, als Luther, in seine Mönchskutte gekleidet und fast berstend vor Selbstgerechtigkeit, dem neuen Kaiser persönlich erklärte, warum er den guten Namen des Papstes und der römischen Kirche weiterhin in den Schmutz ziehen werde. Luthers Anhörung vor dem Reichstag dauerte mehrere Tage. Sie begann am 17. April bei einer Sondersitzung, die in Karls Unterkunft anberaumt worden war, im Bischofshof, dem offiziellen Sitz des örtlichen ­Bischofs. Wie schon zuvor wurde Luther sicheres Geleit für seine Reise

* Der im Jahr 1500 geborene Karl war bereits als Kind (1506) Herrscher der Burgundischen Niederlande geworden, regierte seit 1516 als erster spanischer König über die vereinten Reiche Kastilien, León und Aragón (er übernahm die Regentschaft für seine Mutter, Johanna «die Wahnsinnige», eine der beiden Töchter der Katholischen Könige Ferdinand und Isabella; die andere war Katharina von Aragón, die Frau Heinrichs VIII.) und regierte Österreich nach dem Tod seines Großvaters Maximilian 1519.

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nach Worms zugesagt, für seine persönliche Sicherheit garantierte zudem sein Landesherr Friedrich  III ., Kurfürst von Sachsen. Man hatte Luther zugesichert, ihn nicht zu verhaften und nicht als Gefangenen nach Rom zu Papst Leo zu bringen. Dennoch war vom Augenblick seiner Ankunft klar, dass Karl hoffte, Luther werde seine besonders anstößigen Meinungen und Schriften widerrufen. Damit standen die Aussichten für eine ­Lösung von vornherein schlecht, denn Luther ließ sich weder mit Vernunft noch mit der Androhung von Gewalt zum Schweigen bringen. Im Laufe mehrerer Anhörungen auf Latein und Deutsch (denen Karl, dessen Muttersprache Französisch war, nur mit Mühe folgen konnte), zeigte Luther, was für ein hervorragender Redner und Gelehrter er war. Schnell machte er jegliche Hoffnung zunichte, dass er vor dem Kaiser – oder sonst jemandem – einknicken würde. Noch dazu enthielt seine Zusammenfassung der Gründe, warum er so hartnäckig an seiner Meinung festhielt, einen bissigen Seitenhieb: «Mein Gewissen bleibt gefangen in Gottes Wort», erklärte er. «Widerrufen kann und will ich nichts, weil es weder sicher noch geraten ist, etwas gegen sein Gewissen zu tun. Gott helfe mir, Amen.»36 Einige Tage später wurde das unvermeidliche Urteil gefällt. Karl hatte selbst erlebt, dass Luther unbelehrbar war, und musste nun darauf reagieren. Die päpstliche Bulle zur Verurteilung Luthers sollte bestehen bleiben, und der Theologieprofessor und alle, die ihm folgten, sollten nicht nur als Feinde der Kirche gelten, sondern auch als Feinde des Reichs. Über Martin Luther und seine Anhänger wurde die Reichsacht verhängt, die Lektüre und Verbreitung seiner Schriften wurde verboten. Luther selbst sollte von jedermann, der seiner habhaft werden konnte, an Rom ausgeliefert werden, und es war verboten, ihn zu beherbergen.37 Nicht zum ersten Mal ergriff Luther die Flucht. Trotz Karls Drohungen war Luther in Sicherheit, solange Friedrich von Sachsen weiter seine schützende Hand über ihn hielt. Der neue Kaiser wollte Luther zum Schweigen bringen, hatte jedoch nicht vor, des­ wegen Krieg gegen seine neuen deutschen Untertanen zu führen. Und so fand Luther Anfang Mai Zuflucht auf der Wartburg, einer Festung des Kurfürsten bei Eisenach, wo er fast ein Jahr lang blieb und an Texten ­arbeitete, die die Grundlage für das Ordensgelübde, die erzwungene ­öffentliche Beichte und sogar für die allgemein übliche Messe erschüttern

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sollten. Er übersetzte das Neue Testament ins Deutsche, schrieb Hymnen und überlegte, wie man die europäischen Juden zum christlichen Glauben zwingen könnte. Daraus kann man schließen, dass auch bei einem revolutionären Denker wie Luther manche mittelalterlichen Vorurteile so tief verwurzelt waren, dass er sie nicht hinterfragte. In fast jeder anderen Hinsicht verfasste er jedoch Texte, auf deren Grundlage eine ganz neue Kirche entstand. Draußen vor den Burgmauern hatten Luthers Freunde und Anhänger inzwischen begonnen, seine Theorien in die Praxis umzusetzen: Sie feierten Messen ohne ordinierte Priester, setzten sich für das freie Predigen von Gottes Wort ein, demolierten Heiligenstatuen und verlangten, dass in den Städten etwas gegen unmoralische Einrichtungen wie Wirtshäuser und Bordelle unternommen wurde. Neue Prediger  – von denen einige weit radikaler waren als Luther und durch und durch Unruhestifter und Aufwiegler – versuchten, in der Bevölkerung Begeisterung für das neue religiöse Denken mit seiner starken Ausrichtung auf das Individuum und seiner Ablehnung der traditionellen Symbole der Autorität zu wecken. Besonders extreme Reformer – unter Führung des Schweizer Predigers Ulrich Zwingli  – begannen sogar, Sakramente wie die Säuglingstaufe ­infrage zu stellen. (Sie propagierten die Gläubigentaufe, weshalb man sie auch Täufer oder Wiedertäufer nannte.) Das Luthertum war also nicht mehr nur ein Sammelbecken theologischer und häretischer Positionen, sondern nahm allmählich die Merkmale einer sozialen Bewegung an. ­Allerdings wurden seine Anhänger dabei zunehmend fanatisch und duldeten so gut wie keinen Widerspruch mehr. Das fiel auch Erasmus von Rotterdam auf, der 1524 über das Luthertum schrieb; er beklagte, unter den neuen Denkern seien einige «ihrer Meinung so maßlos ergeben, dass sie nichts ertragen, was von ihr abweicht». Er fragte sich, wohin das alles führen würde. «Ist – so frage ich – von Leuten, die sich in einem solchen Zustande befinden, ein unparteiisches Urteil zu erwarten? Oder: Was kommt bei Wortgefechten dieser Art anderes heraus, als daß beide Teilnehmer beleidigt auseinandergehen?»38 Diese Zeilen sollten sich schon bald als prophetisch erweisen.

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«Mörderische und räuberische Rotten» Als Luther im Frühjahr 1522 beschloss, die Wartburg zu verlassen und nach Wittenberg zurückzukehren, tat er das in dem Glauben, dass die Welt – oder zumindest sein eigener kleiner Winkel – bereit für eine grundlegende Reform sei. Er unterrichtete wieder an der Universität und schrieb fleißig, mitunter auch fieberhaft weiter an seinen Texten, entwickelte seine Vorstellung von einer neuen Kirche und veröffentlichte Bücher und Pamphlete im Vertrauen darauf, dass die Obrigkeit zwar Druckerzeugnisse zensieren wollte, aber nicht in der Lage war, den Informationsfluss zu stoppen.* Er ermunterte andere reformorientierte Intellektuelle in Sachsen, aber auch in größerer Entfernung wie Zürich oder Straßburg, die Praktiken des katholischen Glaubens kritisch zu hinterfragen und neue Formen des Gottesdienstes und kirchliche Gruppen zu etablieren, die sich der Kontrolle Roms entzogen. Und er wurde ein eifriger Unterstützer der Priesterehe – die auch seine eigene mit einschloss. 1525 heiratete Luther Katharina von Bora, eine von mehreren Dutzend Nonnen, denen er geholfen hatte, aus ihrem Kloster in der Nähe von Grimma zu fliehen, indem sie sich auf einem Wagen voller Heringsfässer versteckten. Für Luther war das ein wichtiger Meilenstein, sowohl in seinem persönlichen Leben als auch als Reformator, für den nichts heilig war, was nicht wörtlich in der Bibel stand. Doch im selben Jahr, in dem Luther heiratete, zeigte sich auch, welche furchtbaren Folgen seine Kritik an der alten Ordnung hatte – Folgen, die er so sicher nicht beabsichtigt hatte. In Deutschland kam es zu einem Volksaufstand. Beim Bauernkrieg von 1525 wirkten mehrere voneinander unabhängige Proteste in ganz Süddeutschland zusammen, die im Herbst 1524 langsam anschwollen, bis es im folgenden Frühjahr zu massiven Volksaufständen auf zahlreichen Landgütern und in den Städten Mitteleuropas kam. Wie die Volksaufstände im 14. Jahrhundert** hatten die ersten kleinen

* Es ist kein Zufall, dass der Wunsch von Regierungen nach Zensur und die Probleme bei der praktischen Umsetzung auch in unserem Zeitalter der Kommunikations­ revolution ein zentrales Thema sind. ** Siehe Kapitel 13.

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Un­ruhen verschiedene lokale Ursachen, wurden aber durch ein Gefühl der allgemeinen, systemischen Unzufriedenheit mit den Reichen und Mächtigen geeint, und – wenig überraschend – durch den Geist der aufkeimenden lutherischen Reformation, die in mehr als einer Hinsicht aufrührerisch wirkte. Im Gegensatz zu den Rebellen im 14. Jahrhundert stand den Aufständischen von 1525 der Buchdruck zur Verfügung, mit dessen Hilfe sie Protestschriften verbreiten und für ihre Zwecke werben konnten.39 Dazu gehören auch die berühmten Zwölf Artikel, die Anfang März von einer Gruppe Rebellen aus Oberschwaben herausgegeben wurden und deren Verfasser ein lutherischer Pamphletschreiber und Prediger ­namens Sebastian Lotzer war.40 Dieses Manifest war ein unmissverständlicher Schrei nach Freiheit in all ihren Formen, durchsetzt mit Forderungen nach religiösen Reformen. Die Rebellen verlangten, dass Dorfbewohner ihre eigenen Prediger ernennen durften, sofern sie sich an die Heilige Schrift hielten, und forderten die Abschaffung der Leibeigenschaft und die Rückgabe von Gemeindeland, das sich Adlige für ihre private Nutzung unter den Nagel gerissen hatten.41 Die Zwölf Artikel wurden massenhaft gedruckt und fanden in Deutschland weite Verbreitung; in den Monaten, in denen sich die Rebellion auf ihrem Höhepunkt befand, waren Zehntausende davon im Umlauf. Obwohl Aufständische wie die Memminger Bauern aus ihrer Sicht in frommer Gesinnung handelten und die nicht gottgefälligen Auswüchse der Rebellion verurteilten, empörte sich Luther über die Mittel, die viele von ihnen in seinem Namen einsetzten. In Erfurt stürmten Ende April etwa elftausend Bauern die Stadt, schlugen die Wappen des Erzbischofs ab und malten mit Kohle ein neues Wappen, «das Pflugschar, Sech und Karst [Sichel und Hacke] im Schilde und auf dem Helme ein Hufeisen zeigte», an die Tore des Bischofspalasts und ordneten an, diesen «nur noch den Landhof zu heißen». Anschließend versuchten sie, mit Gewalt die lutherische Messe in den Kirchen der Stadt einzuführen.42 In Weinsberg bei Heilbronn ging es derweil blutiger zu. Ein örtlicher Pfarrer berichtete, eine Gruppe Bauern sei Mitte April an der Burg Weinsberg eingetroffen und über die Mauern geklettert. Sie hätten Frau und Kinder des örtlichen Adligen und Obervogt Ludwig von Helfenstein gefangen genommen, seinen Besitz geplündert und seien dann weiter in die nahegele-

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gene Stadt gezogen, wo sich der Graf aufhielt. Da die Stadtbewohner ­Lutheraner waren, ließen sie die Rebellen ein. Laut Bericht des Pfarrers «ward Luzifer mit allen seinen Engeln ledig, tobten und wüteten nit anders, dann ob sie alle unsinnig wären und voller Teufel säßen. Fingen erstlich den Grafen, darnach die Edelleut mit den Reutern [Rittern]; etlich wurden an der Wehr erstochen.» Ein wohlhabender Stadtbewohner ­versuchte, oben im Kirchturm Zuflucht zu finden. Aber «als er mit den Bauern herabredt, begehrt Gnad [und] wollt ihnen viel Geld geben, da schuß einer hinauf, traf ihne, stiegen hernach uf den Turm und wurfen ihne zum Laden hinaus». Danach wurden der Graf, seine Familie und Bediensteten – insgesamt über zwanzig Personen – auf ein Feld vor den Mauern der Stadt gebracht und ermordet. «Der Graf entbot, er wollt ihnen ein Tunn [Tonne] Geld geben, sie sollten ihne leben lassen; aber da half nichts dann sterben», schrieb der Pfarrer. «Da dies der Graf sahe, stund er stockstill, bis sie ihne erstachen … Also haben sie diese … durch die Spieß gejagt, darnach nackend ausgezogen und liegen lassen … Nach diesem allem haben sie das Schloß angezindt und verbrennt, sein darnach uf Würzburg zu zogen.»43 Luther hatte solche Szenen sicher nicht vorausgesehen, als er mit seinen Untersuchungen zu den biblischen Grundlagen des Ablasses begann. Entsetzt über die Verbrechen, die nun im Namen der von ihm in Gang ­gesetzten Reformbewegung begangen wurden, versuchte er zunehmend, sich von den Rebellen zu distanzieren. Ein erster Versuch war sein Pamphlet Ermahnung zum Frieden, in dem er den Aufständischen riet, sich zu beruhigen und zu verhandeln, um bessere Verhältnisse zu schaffen. Doch als er damit auf taube Ohren stieß, schrieb er einen wesentlich weniger versöhnlichen Text mit dem Titel Wider die mörderischen und räuberischen Rotten der Bauern. Darin verurteilte er die Bauern, weil sie die Sache der Kirchenreform missbrauchten und als Vorwand nutzten, um schreckliche Sünden und Verbrechen zu begehen, und trat für ein hartes Durchgreifen seitens der Obrigkeiten ein. Luther war eindeutig erschüttert von dem, was er mitbekommen hatte. Doch er hatte keine Kontrolle über die Bewegung. Andere Reformer, die im Gefolge Luthers bekannt geworden waren –

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darunter auch der radikale Priester Thomas Müntzer –, stürzten sich nun in den Kampf und stellten sich auf die Seite der Rebellen. Luther hingegen konnte sich nicht überwinden, sich ihnen anzuschließen. Damit stand er auf der Seite des Adels, der aber auch kein positives Bild abgab. Im Mai 1525 schüttelte der deutsche Adel seine anfängliche Lähmung ab und griff mit brutaler Gewalt und extremer Rachsucht gegen die Bauern durch.44 In ganz Deutschland ging man mit militärischer Gewalt kompromisslos gegen die Bauern vor und schlachtete sie zu Zehntausenden ab. Ihre Anführer (häufig Priester wie Müntzer) wurden gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Am 21. Mai erhielt Luther einen Brief von Johann Rühel, der kursächsischer Rat in seinem Heimatort Mansfeld war. Rühel berichtete von den Strafaktionen, die in der Umgebung durchgeführt worden waren: Sie haben zu Heldrungen fünf Pfaffen ihre Köpfe abgeschlagen. Und nachdem der meiste Teil der Bürger zu Franckenhausen umkommen und ein Teil, der noch überblieben, gefangen, hat man die, so vielen deren übrig gewesen, den Frauen der Stadt auf ihre Bitte wiedergegeben, doch also, daß sie die zweene Priester, so sie auch noch alda gehabt, sollten straffen. Die zweene Pfaffen haben die Weiber ins Gemein auf dem Markte mit Knutteln alle geschlagen, und, als man sagt, wohl eine halbe Stunde länger, denn sie gelebt, und ist fast ein erbärmlich Tun. Welcher sich solches Tuns nicht erbarmet, ist wahrlich kein Mensch. Ich besorge ganz, es läßt sich auch darzu an, als wolt ihr den Herren ein Prophet sein … Denn man strafft dermaßen, daß ich besorge, das Land zu Thüringen und die Graffschaft werden es [nur] langsam verwinden … Hier wird nichts gesucht, denn Raub und Mord. 45

Das war ein brutales Ende einer schockierenden Episode – des blutigsten Volksaufstands in der europäischen Geschichte vor der Französischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. Der Reichstag von 1526, den Karl V . einberufen hatte, um über die offizielle Reaktion auf den Aufstand zu beraten, kam zu dem Schluss: «Wiewol der gemein Mann und Untertanen in vergangener Aufruhr sich etwas schwerlich vergessen und gegen ihrer Obrigkeit gröblich gehandelt», solle man doch Gnade und Milde walten lassen, um weitere Ausbrüche des Volkszorns zu verhindern.46 Doch diese gnädige Haltung war selten. Und damit waren das Blutvergießen und die

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Tumulte, die Luther mit seiner Kirchenkritik ausgelöst hatte, noch lange nicht vorbei. Obwohl der deutsche Bauernkrieg den Frieden im Kernland des Reichs erheblich störte, delegierte Karl  V . die Aufgabe, politisch darauf zu reagieren, an seinen jüngeren Bruder Ferdinand, den Erzherzog von Österreich, der de facto sein Stellvertreter in Mittel- und Osteuropa war. Das lag nicht an mangelndem Interesse, sondern daran, dass Karl mit den Italienischen Kriegen beschäftigt war. Seit etwa dreißig Jahren kam es zwischen den europäischen Großmächten immer wieder zu Auseinandersetzungen um die Vorherrschaft jenseits der Alpen. Und 1525, gerade als die deutschen Bauern zu den Waffen griffen, witterte Karl eine Gelegenheit, den Konflikt für sich zu entscheiden. Ausgangspunkt war das Herzogtum Mailand. Dort hatte am 24. Fe­ bruar eine kaiserliche Armee unter dem Kommando von Karls erfahrenem Befehlshaber Charles de Lannoy eine französische Armee angegriffen, die gerade die Stadt Pavia belagerte. Lannoy wollte die Franzosen eigentlich nur aus Pavia und aus dem Herzogtum vertreiben, doch er erreichte viel mehr. Nach vier Stunden hatten die Truppen des Kaisers den Franzosen eine vernichtende Niederlage beigebracht und viele führende französische Adlige getötet. Und es kam noch besser: Zu den Gefangenen, die auf dem Schlachtfeld gemacht worden waren, gehörte auch der französische König Franz  I . Der Monarch ergab sich wie ein Ehrenmann, wurde danach ­jedoch nicht sonderlich ehrenhaft behandelt. Er wurde von Italien nach Madrid verfrachtet, wo man ihn fast ein Jahr lang festhielt. Erst im März 1526, als er sich Karls Bedingungen unterwarf und in einem Vertrag, der das Reich stark begünstigte, weite Gebiete abtrat, wurde er freigelassen. Franz war gezwungen worden, dem Kaiser seine Ansprüche auf Burgund, Mailand und Flandern abzutreten und ihm seine beiden kleinen Söhne als Sicherheit zu übergeben. Für den französischen König bedeutete das eine tiefe Demütigung. Für Karl sah der Vertrag nach einem gewaltigen Triumph aus. Doch da hatte er sich getäuscht, wie sich schon bald zeigen sollte. Zum einen waren die Kosten für die langen Jahre des Krieges, die dem Sieg bei Pavia vorausgegangen waren, astronomisch: An dem Tag, an dem Pavia befreit

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und Franz gefangen genommen worden war, schuldete Karl seinen Soldaten bereits 600 000 Dukaten – eine enorm hohe Summe – an ausstehendem Sold.47 Zum anderen hatte König Franz nicht die Absicht, sich an die Bedingungen des Vertrages zu halten, der ihm aufgezwungen worden war. Fast unmittelbar nach seiner Freilassung machte der gekränkte fran­ zösische König deutlich, dass er den Vertrag von Madrid ignorieren werde, weil es ein schändlicher Frieden sei, der unter Zwang zustande gekommen sei. Zur moralischen und politischen Unterstützung wandte er sich an den Papst. Papst Leo war mittlerweile verstorben, und sein Nachfolger Adrian  VI . hatte keine zwei Jahre durchgehalten, bevor auch er den letzten Atemzug tat. Der neue Papst war mal wieder ein Medici: Leos Cousin Giulio, ein erfahrener Kirchenmann, der schon zahlreiche Ämter bekleidet hatte und nun den Namen Clemens  VII . annahm. Clemens hegte ­gegenüber Karl  V . einen ähnlich großen Argwohn wie Franz. Daher entband er Franz offiziell von jeder Verpflichtung, die er als Gefangener eingegangen war. Doch damit nicht genug: Clemens entband ihn nicht nur vom Friedensvertrag, sondern ging eine offizielle Allianz mit Frankreich ein mit dem Ziel, Karl von der gesamten Italienischen Halbinsel zu vertreiben und sie dem Einfluss des Reichs zu entziehen. Dieses Bündnis, zu dem Frankreich, der Kirchenstaat, Venedig, Mailand und Florenz gehörten, wurde die Liga von Cognac genannt. Natürlich war bereits die bloße Existenz für Karl  V . ein Affront. Als er erkannte, wie wertlos sein Sieg war und dass er verpflichtet war, einen Krieg fortzusetzen, der bereits jetzt seine Mittel überstieg, war er deprimiert, «voller Schwermut und einsamer Grübelei», wie der englische Botschafter am Kaiserhof schrieb.48 Doch ihm blieb wenig Zeit zu schmollen. Eine weitere Runde bewaffneter Auseinandersetzungen auf der Italienischen Halbinsel war bereits im Gang.

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Der Sacco di Roma An Ostern des Jahres 1527 lief ein verrückter Prediger halbnackt und mit rotem Gesicht durch die Straßen Roms und prophezeite den baldigen Untergang. Dieser Brandano, wie er genannt wurde, trug sonst (ähnlich wie lange Zeit auch Martin Luther) die Kutte der Augustiner und war ein Experte für düstere Prophezeiungen. Im Laufe seiner Karriere war er ­immer mal wieder wegen Ruhestörung im Gefängnis gelandet. Nun war er erneut aktiv: Als Clemens VII . am Gründonnerstag vor die Gläubigen im Petersdom trat, zog sich Brandano an einer Statue des heiligen Paulus hoch und schrie, der Papst, den er als «Bastard von Sodom» bezeichnete, müsse Buße tun. Außerdem warnte er die versammelte Menge, dass Gott ihnen binnen zwei Wochen eine Strafe auferlegen würde, die des Alten Testaments würdig sei, wenn sie nicht ihre ungeheuerlichen Sünden bereuen würden.49 Es dauerte nicht lange, bis Brandano festgenommen und wieder einmal in den Kerker geworfen wurde. Doch er hatte seine Meinung kundgetan, und diesmal sollte er tatsächlich recht haben. In jenem Frühjahr trieben kaiserliche Truppen ihr Unwesen in Italien und marschierten auf die Heilige Stadt zu. Karl  V . war weit davon entfernt, aus Italien abzuziehen, vielmehr hatte die Gründung der Liga von Cognac den Kaiser dazu veranlasst, alles auf eine Karte zu setzen. Dazu kamen Nachrichten aus dem Osten, wo die Osmanen unter ihrem Sultan Suleiman dem Prächtigen die Ungarn 1526 in der Schlacht bei Mohács vernichtend geschlagen hatten und nun Südosteuropa überrannten. Die Unterwerfung seiner Feinde in Italien war umso wichtiger, wenn Karl ­Europa gegen die Türken verteidigen wollte. Zwar war immer noch nicht klar, woher er den Sold für seine Truppen in Italien nehmen wollte, er wusste nicht einmal, wie er sie mit Lebensmitteln versorgen sollte; doch seine Berater hatten erklärt, wenn es eine Gegend in Europa gab, wo man vom Plündern und dem, was das Land hergab, leben konnte, dann war das Italien. Darüber hinaus hatte Karl einen erschreckend opportunistischen Weg gefunden, um sowohl Truppen aufzustellen als auch Druck auf ­Clemens  VII . auszuüben. Er deutete an, dass er die Strafen, die sechs Jahre zuvor auf dem Reichstag zu Worms gegen die Lutheraner verhängt worden waren, aufheben könnte.50 Und er sandte ein großes Kontingent

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Landsknechte über die Alpen – hartgesottene deutsche Söldner mit Büchsen und Piken, die nicht nur erprobte Sturmtruppen waren, sondern auch viele Luther-Sympathisanten in ihren Reihen hatten. Das sollte sich als eine tödliche Kombination erweisen. Die kaiserlichen Truppen in Italien – insgesamt zwanzigtausend Mann, unterteilt in spanische, italienische und deutsche Kontingente – standen unter dem Kommando von Charles de Bourbon, einem französischen Herzog, der sich mit Franz I . überworfen hatte und zu Karl V . übergelaufen war. Zum Leidwesen aller Betroffenen hatte Charles de Bourbon im Frühjahr 1527 seine Leute nicht mehr im Griff. Nachdem sie den Winter ohne Sold, krank und hungrig im Feld verbracht hatten, waren sie aufmüpfig und auf Plünderungen aus. Mittlerweile trieben die Soldaten ihn an und nicht umgekehrt. Nachdem sie im Herbst zuvor in Mailand gewesen ­waren, liebäugelten sie im April mit dem Gedanken, Florenz anzugreifen, entschieden dann aber, dass die Stadt zu schwer einzunehmen sei. Die wahre Beute, so überlegten Charles de Bourbon und seine Männer weiter, wartete in Rom, das zwei Möglichkeiten bot, an ihren ausstehenden Sold zu kommen: Entweder konnten sie Karl zwingen, in die eigene Schatulle zu ­greifen, oder sie nahmen die Stadt ein und plünderten sie. Ende April brachen sie von der Toskana auf und zogen Richtung Rom. Sie marschierten schnell, durchwateten Flüsse, eilten fast im Laufschritt über die ­Römerstraßen und legten so über 30  Kilometer am Tag zurück. Nach nicht einmal zwei Wochen standen sie vor den Toren Roms – genau wie es der verrückte Prediger Brandano vorhergesagt hatte. Und so standen am 5. Mai zwanzigtausend Mann vor Rom  – das klingt nach einer großen Zahl, dennoch sprachen die Umstände eigentlich gegen sie. Sie hatten keine richtige Artillerie, noch dazu war die Hälfte der Männer kurz vor dem Verhungern. Doch Verzweiflung kann eine starke Motivation sein. Sie waren in einem solchen Tempo marschiert, dass – wie es der bekannte Florentiner Historiker Luigi Guicciardini (der im Dienst der Medici stand) formulierte – «die Menschen in der Stadt weder körperlich noch geistig auf sie vorbereitet und in keiner Weise für den Kampf organisiert waren».51 Noch dazu senkte sich dichter Nebel über die Stadt, nachdem das kaiserliche Heer sein Lager für die Nacht aufgeschlagen hatte. Die Sichtweite lag bei weniger als zwei Metern, daher konnten die

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Verteidigungskräfte ihre Kanonen nicht abfeuern.52 Ein paar Stunden lang war das Kräfteverhältnis mehr oder weniger ausgeglichen. Am 6. Mai warf sich Charles de Bourbon gegen Morgengrauen einen weißen Umhang über die Rüstung und befahl einen Angriff mit Leitern und Faustfeuerwaffen. In seiner Ansprache vor der Schlacht machte er den spanischen, italienischen und deutschen Kontingenten die jeweils passenden Versprechungen. Er sprach von Beute und Ruhm und dem «unschätz­baren Reichtum an Gold und Silber», der sich in der Stadt befinde. Den Spaniern erklärte er, wenn Rom falle, könne man die ganze Welt erobern, Italien und ganz Frankreich würden bald folgen, und dann werde Karl V . seine Armee gegen die Osmanen führen, «bevor er mit euch siegreich durch Asien und Afrika … [zieht, wo] ihr tausend Gelegen­ heiten haben werdet, dem ganzen Universum zu beweisen, dass ihr den Ruhm und Reichtum der unvergleichlichen Armeen des Darius, Alexanders des Großen oder jedes anderen in der Geschichte bekannten Herrschers übertrefft.» Dann wandte er sich an die Deutschen und schimpfte über die gottlose Korruption des katholischen Klerus in Rom, der unter dem Vorwand christlicher Frömmigkeit «zu lustvollen und verweichlichten Vergnügungen» neige und es nur darauf abgesehen habe «mit Betrug, Plünderei und Grausamkeit Silber und Gold anzuhäufen». Mit der Einnahme Roms, verkündete Charles de Bourbon, würden sie den Traum wahr machen, von dem «unser unfehlbarer Prophet Martin Luther oft gesprochen hat».53 Anscheinend war für jeden etwas dabei. Charles de Bourbon peitschte seine Männer bis zur Raserei auf und ließ sie dann losstürmen. Dank des dichten Nebels und der frühen Uhrzeit benötigten die aus­ gehungerten kaiserlichen Soldaten nicht einmal drei Stunden, um die ­Mauern Roms zu durchbrechen. Sie kletterten Leitern hinauf und zogen Steine von Hand aus der Mauer  – eine altmodische Kombination, die ­jedoch Wirkung zeigte. Allerdings schlug genau in dem Moment, in dem sie den Durchbruch schafften, das Schicksal zu: Charles de Bourbon ­befand sich mitten im Getümmel, stützte mit der Hand eine Leiter und ermahnte die Männer über ihm, so rasch wie möglich die Mauern zu ­erklimmen. Plötzlich traf ihn durch das Gedränge und den Nebel ein ­Geschoss aus einer Langwaffe, einer Arkebuse, mitten in den Kopf und durchschlug seinen Schädel. Er war sofort tot. Um ihn herum brach auf

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beiden Seiten der ­römischen Befestigung eine Mischung aus Panik und Blutdurst aus. Der Herzog hatte seine Truppen kaum im Griff gehabt, als er noch am Leben war. Jetzt, da er tot war, gab es kein Halten mehr. Noch während ihm das Blut aus dem Schädel lief, öffneten kaiserliche Soldaten, die über die Stadtmauern geklettert oder durch klaffende Kanonenlöcher gekrochen waren, die Stadttore. Rom war gestürmt, nun folgten Plünderungen und Randale. Mehr als tausend Jahre nach der Katastrophe im Jahr 410 waren die Barbaren zurückgekehrt. Der Sacco di Roma im Mai 1527 dauerte über eine Woche. Mit den ­Rufen «Spanien! Spanien! Tötet! Tötet!» marodierten die kaiserlichen Soldaten in den Straßen. Mit den wenigen Tausend Männern, die die Stadt verteidigt hatten, machten sie kurzen Prozess, einschließlich der Schweizergarde des Papstes, die vor dem Petersdom niedergemetzelt wurde. ­Danach gehörte die Stadt endgültig den Eroberern. Clemens selbst floh in die Engelsburg, die sicherste Festung der Stadt, wo er sich zusammen mit einigen Kardinälen und Bürgern verschanzte, die hineindrängten, bevor das Fallgitter nach unten rasselte. Er und diejenigen, die sich mit ihm in die Burg gerettet hatten, hatten Glück. Draußen vor der Burg waren alle, die es nicht geschafft hatten, aus Rom zu fliehen, bevor die Tore wieder ­geschlossen wurden, ihres Lebens nicht mehr sicher. Guicciardini berichtet, dass, als die kaiserlichen Truppen erkannt hätten, dass «alle Verteidiger geflohen waren und dass sie wirklich die Kontrolle über die Stadt erlangt hatten, die spanischen Soldaten begannen, Häuser (zusammen mit allen und allem, was darin war) zu besetzen und Ge­fangene zu nehmen … Die Deutschen hingegen folgten den Gesetzen des Krieges und hackten jeden in Stücke, der ihnen in die Quere kam.»54 Das Ganze muss an Szenen aus der Hölle erinnert haben. Frauen und Kinder wurden nicht verschont, und Geistliche wurden genauso getötet wie Laien. Tatsächlich wurden Geistliche gezielt gejagt. Vom ehemaligen Befehlshaber der Landsknechte, Georg von Frundsberg (der Italien als ­gebrochener Mann verließ, nachdem die Truppen im Frühjahr gemeutert hatten), erzählte man, er habe eine goldene Schlinge bei sich getragen für den Fall, dass er die Gelegenheit bekäme, den Papst zu hängen. Nun hatten die deutschen Söldner die Gelegenheit, ihrer Wut und

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i­hrem Frust freien Lauf zu lassen. Reliquien wie die Köpfe der Heiligen Petrus, Paulus und Andreas sowie Fragmente des Wahren Kreuzes und der Dornenkrone wurden von ihnen «schändlich zertrampelt in ihrer ­Raserei».55 Grabmale der Päpste wurden geplündert. Eine Gruppe legte einem Esel ein Priestergewand um und ermordete einen Kirchenmann, als er sich weigerte, mit dem Esel das Abendmahl zu feiern.56 Guicciardinis ausführliche und reißerische Schilderung der Plünderung macht deutlich, wie feindselig die Soldaten gegenüber dem Klerus waren – und wie schnell ihre Angriffe auf Symbole päpstlichen Reichtums in nackte Gewalt umschlugen. Auf den Straßen sah man nichts als Räuber und Plünderer, die große Bündel mit prächtigen Gewändern und kirchlichem Schmuck und große Säcke mit allerlei Gold- und Silbergefäßen schleppten – was mehr von den Reich­ tümern und dem leeren Pomp der römischen Kurie zeugt als von demütiger Armut und wahrer Hingabe an die christliche Religion. Man sah viele Gefangene, die stöhnten und schrien, wenn sie eilig in improvisierte Gefängnisse getrieben wurden. Auf den Straßen lagen viele Leichen. Viele Adlige lagen da, in Stücke gehackt, mit Schmutz bedeckt und in ihrem eigenen Blut, und viele Menschen, die nur halb tot waren, lagen elend auf dem Boden.57

Nonnen wurden vergewaltigt. Priester wurden auf dem Altar ihrer Kirche ermordet. Es gab zwar hin und wieder Streit zwischen den spanischen und deutschen Soldaten, wie weit man bei der Plünderung der Kirchen gehen durfte, doch das war nur ein geringer Trost für die Geistlichen, die, wenn sie nicht sofort getötet wurden, «in zerrissenen und blutigen Hemden durch die Straßen zogen, [mit] Schnitten und blauen Flecken am ganzen Körper von den wahllosen Peitschenhieben und Schlägen, die sie ­erhalten hatten. Einige hatten dichte, fettige Bärte. Manche hatten Brandmale im Gesicht; manchen fehlten die Zähne, andere hatten keine Nase oder Ohren mehr …».58 Unterdessen zogen bewaffnete Trupps von Haus zu Haus und folterten die Bewohner, bis sie ihnen sagten, wo sie ihre Wertsachen versteckt hielten. Adlige wurden gezwungen, Latrinen mit bloßen Händen auszuschöpfen, um zu sehen, ob sie dort irgendwelche Schätze versteckt hatten. Manchen wurden die Nasen abgeschnitten.

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­ ndere wurden mit Gewalt dazu gebracht, ihre eigenen Genitalien zu A ­essen. Die Eindringlinge hatten leichtes Spiel. «Die Römer wurden mit unglaublicher Leichtigkeit und enormem Gewinn überrascht, ausgeraubt und niedergemetzelt», stellte Guicciardini fest. Und er hatte recht. Nur allmählich ebbten die Gewalttaten ab. Der Schrecken der Plünderung dauerte etwa zehn Tage, aber auch danach blieb Rom eine besetzte Stadt. Der Papst und seine Getreuen blieben einen Monat lang in der ­Engelsburg, wo sie sich verbarrikadiert hatten, und verhandelten erst am 7. Juni über ihren sicheren Abzug – für den sie 400 000 Dukaten zahlen mussten. Anschließend durften die meisten, die sich in der Engelsburg aufhielten, die Festung verlassen, doch Clemens selbst musste zu seiner eigenen Sicherheit dort bleiben. Er wurde erst Anfang Dezember frei­ gelassen  – im Schutz der Dunkelheit, weil man nicht riskieren wollte, dass die Soldaten der Besatzungsarmee davon erfuhren. Zu der Zeit ­waren etwa achttausend Einwohner von den wild gewordenen kaiserlichen Truppen getötet worden. Ungefähr doppelt so viele waren aus anderen Gründen gestorben: Krankheiten wüteten unter den Einwohnern, eingeschleppt von den Soldaten und begünstigt durch die entsetzlichen Bedingungen in der zerstörten Stadt.59 Damit war zweifellos der Tiefpunkt von Clemens ’ Amtszeit als Papst erreicht. Und obwohl er persönlich verschont wurde, stand er fortan unter Karls Fuchtel. Der Kaiser war maßlos entzückt, als die Nachricht von der Einnahme Roms seinen Hof erreichte: Ein Beobachter berichtete, Karl habe so viel gelacht und gescherzt, dass er kaum Zeit zum Essen fand.60 Er hatte den Papst in seiner Gewalt. Italien könnte schon bald folgen. Es würde zwar noch viele große Herausforderungen in seiner langen Regierungszeit geben, doch die Eroberung Roms sollte über viele Generationen Bestand haben. Am 22. Februar 1530 ließ sich Karl V . in Bologna von Clemens mit der Eisernen Krone der Lombarden krönen, die viele Jahrhunderte zuvor von Karl dem Großen für das Reich errungen worden war. Zwei Tage später, an seinem dreißigsten Geburtstag, wurde Karl offiziell zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt. Er zog mit Clemens an seiner Seite durch die Stadt. Ein wundervolles neues Jahrzehnt – tatsächlich eine neue Ära – lag vor ihm.

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Die Plünderung Roms 1527 hatte gravierende Folgen, von denen viele auch heute noch zu spüren sind. In England verbindet man das Ereignis vor allem damit, dass durch die Eroberung der Stadt die Pläne Heinrichs  VIII . durcheinander gerieten, seine Ehe mit Katharina von Aragón annullieren zu lassen. Heinrichs Minister reichten die Bitte um einen päpstlichen Dispens ein, während Clemens im Herbst 1527 in Rom praktisch unter Hausarrest stand; da Katharina Karls Tante war, konnte der Papst der Bitte unmöglich nachkommen. Daraufhin schlug der starrköpfige Heinrich einen anderen, weitaus zerstörerischeren Weg ein: Wie wir bereits festgestellt haben, betrieb er die Ablösung Englands von der katholischen Kirche, verkündete seine eigene Oberhoheit in kirchlichen und staatlichen Angelegenheiten und ließ das Luthertum in einem Reich zu, in dem es zuvor verboten gewesen war. In der englischen – und schließlich auch in der britischen und irischen – Geschichte wurde ein neues Kapitel aufgeschlagen. Heinrichs Regierung steht auch heute noch für den Übergang von der mittelalterlichen in die frühneuzeitliche Welt. Aber natürlich waren die Auswirkungen nicht nur in England, sondern überall in Europa zu spüren. Rom war größtenteils zerstört, seine ­Bevölkerung stark dezimiert. Träume von einem geeinten unabhängigen Italien, die in den 1530er Jahren von einigen Kreisen gehegt worden waren, verblassten und lebten erst während des Risorgimento im 19. Jahrhundert wieder auf. Die Anziehungskraft Italiens als Zentrum der Renaissance hatte erheblich gelitten. Aus heutiger Sicht könnte man argumentieren, dass der Höhepunkt der italienischen Renaissance mit dem Tod Raffaels im Jahr 1520 überschritten war (auch wenn Michelangelo noch in den 1540er Jahren an der Sixtinischen Kapelle arbeitete); doch das psycholo­ gische und finanzielle Trauma des Sacco di Roma trug sicher dazu bei, dass es nicht zu einer weiteren Blüte dieser wunderbaren Bewegung kam. Die Spanier hingegen befanden sich im Aufwind – dank der Kombination aus ihrem rasanten Vormarsch in der Neuen und der Alten Welt und der formellen Vereinigung der Königreiche Aragón und Kastilien brach auf der Iberischen Halbinsel ein neues goldenes Zeitalter an. Verkörpert wurde es am Ende von Karls Sohn und Nachfolger Philipp II ., unter dessen Regierung Madrid und der prachtvolle Palast El Escorial zum pulsierenden Zentrum europäischer Kultiviertheit wurden.

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Die Franzosen wiederum, die sich nach den Ereignissen von 1527 erst einmal sammeln und nach einem neuen Partner gegen das Heilige Römische Reich suchen mussten, strebten schließlich ein Bündnis mit dem ­Osmanischen Reich an. Generationen französischer Kreuzritter hätte das zweifellos verblüfft. Doch diese Neuausrichtung war typisch für das kommende Zeitalter. Die französisch-osmanische Allianz, die gegen Ende des Mittelalters gebildet wurde, bestand von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Herrschaft Napoleons und führte dazu, dass Konstantinopel ­näher an den Balkan und Osteuropa bis an die Grenzen Österreichs he­ ranrückte, woran sich bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs auch nichts änderte. Die Aussöhnung mit der führenden islamischen Macht war für Frankreich jedoch nicht das einzige Vermächtnis der Ereignisse von 1527. Die Nachwirkungen in religiöser Hinsicht waren mindestens ­genauso bedeutsam. Im Gefolge von Roms Sturz gedieh in den 1530er Jahren eine wachsende Reformbewegung, vorangetrieben von landeseigenen Reformatoren wie Johannes Calvin. Mitte des Jahrhunderts stellten protestantische Gruppen, die als Hugenotten bezeichnet wurden, die fran­ zösische Krone vor ernsthafte Probleme. Die Spannungen brachen sich schließlich in den Hugenottenkriegen Bahn, die von den 1560er bis in die 1590er Jahre ausgetragen wurden, Zehntausende das Leben kosteten und tiefe Wunden in der französischen Gesellschaft hinterließen, die auch im 18. Jahrhundert noch schwärten. In theologischer Hinsicht hatte die Plünderung Roms ebenfalls weitreichende Folgen für die katholische Kirche. Karl V . hatte schon seit einiger Zeit vorgehabt, ein ökumenisches Konzil abzuhalten, um über eine kirchenweite Strategie zur Bekämpfung der lutherischen Irrlehren und der aufkeimenden Reformation zu beraten. Nachdem er nun den Papst in der Hand hatte, setzte er seinen Willen durch. Das Konzil von Trient, das zwischen 1545 und 1563 in mehreren Sitzungen stattfand, formulierte die Lehre der katholischen Kirche grundlegend neu und gab ihr eine Form, die dreihundert Jahre lang Bestand haben sollte. Viele längst überfällige Reformen wurden beschlossen  – die Ablässe wurden zwar nicht ab­ geschafft, doch wurde ihr Verkauf 1567 verboten. Allerdings zeigte das Konzil von Trient auch sehr deutlich, dass es keine Aussöhnung mit den Protestanten geben konnte. Damit war das Schisma der abendländischen

702

Vierter Teil: Revolution

Kirche, das bis heute anhält, vollendet – und obwohl weder Luther (der 1546 starb) noch Karl (der ihm 1558 folgte) es nicht mehr erlebten, hatten sie und ihre Anhängerschaften (bei denen es durchaus Überschneidungen gab) wesentlich dazu beigetragen. Auf ihre Kämpfe und Anstrengungen ist es zurückzuführen, dass heute ein Achtel der Weltbevölkerung – über 900 Millionen Menschen – einer protestantischen Kirche angehört.61 Damit haben wir die Welt, die entstand, nachdem die kaiserlichen Truppen 1527 im Anschluss an ihre blutigen Plünderungen wieder aus Rom abzogen, natürlich nur in groben Zügen umrissen. Mehr würde ­jedoch dieses ohnehin voluminöse Buch sprengen. Aber ich hoffe, dass dieser kurze Überblick im Verbund mit den vorherigen Kapiteln genügt, um zu zeigen, dass die abendländische Welt in den 1530er Jahren nicht mehr sonderlich mittelalterlich war. Das Aufkommen gedruckter Texte, die Begegnungen mit der Neuen Welt, das Auseinanderbrechen der Kirche und der lateinischen Christenheit, die demografischen Umwälzungen durch das wiederholte Wüten des Schwarzen Todes, die humanistische und künstlerische Revolution der Renaissance – all das und mehr veränderte die Gestalt und das Lebensgefühl in Europa so nachhaltig, dass auch die Menschen, die mitten in diesem Prozess steckten, den Wandel wahrnahmen. Das Mittelalter starb nicht direkt auf den Straßen Roms bei der Plünderung der Stadt 1527 – doch danach war klar, dass etwas verloren gegangen war, das nie wiederkehren würde. Heute, im frühen 21. Jahrhundert, erkennen wir, die wir selbst inmitten epochaler globaler Veränderungen leben, vielleicht ein wenig von diesem Gefühl des Wandels wieder. Die Welt um uns herum wird gerade ebenfalls neu gestaltet: durch den Klimawandel, Pandemien, den technologischen Fortschritt, eine Revolution der Kommunikation und der (Print-)Medien, eine rapide und unkontrollierbare Massenmigration und den Wandel unserer kulturellen Werte, in deren Mittelpunkt das Individuum steht. Ist es möglich, dass wir uns nicht nur für das Mittelalter mit seiner wechselvollen Geschichte interessieren, sondern mit den damaligen Menschen mit­ fühlen? Oder wäre das unhistorisch? Die Antwort überlasse ich Ihnen. Mittlerweile ist es spät geworden. Ich habe viel geschrieben, und es ist

Protestanten

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Zeit, mich zu verabschieden. Martin Luther brachte es auf den Punkt, als er 1530 einen Brief aus seinem Versteck, «ex eremo» («aus der Einöde») wie er schrieb, mit den Worten schloss: «Aber es will jetzt zu lang werden. Es sei diesmal genug … Ein andermal mehr. Und haltet mir meine lange Schrift zu gut … Amen.»62

Anhang

Anmerkungen Einleitung 1 Das Oxford English Dictionary nennt für die erste Verwendung des Wortes «medieval» (normalerweise «mediæval» geschrieben) das Jahr 1817. 2 Siehe z. B. Diego Olstein, «‹Proto-globalization› and «Proto-glocalizations› in the Middle Millennium», in: Benjamin  Z. Kedar und Merry  E. WiesnerHanks, The Cambridge World History V: State Formations (Cambridge 2015). 3 Chris Wickham, The Inheritance of Rome: A History of Europe from 400 to 1000 (London 2010). 4 Aufregende neue Forschungsergebnisse zum Mittelalter außerhalb Europas erscheinen in der relativ neuen Zeitschrift Journal of Medieval Worlds. Zum neuen Leitbild für Historiker siehe Peter Frankopan, «Why we need to think about the global Middle Ages», in: Journal of Medieval Worlds 1 (2019), S. 5–10.

Erster Teil: Imperium (ca. 410 bis 750) 1. Römer 1 Holztruhe und Inhalt wogen um die 40  Kilogramm. Catherine Johns, The Hoxne Late Roman Treasure: Gold Jewellery and Silver Plate (London 2010), S. 201. 2 Guy de la Bédoyère, Roman Britain: A New History (überarb. Aufl., London 2013), S. 226 f. David Mattingly, An Imperial Possession: Britain in the Roman Empire (London 2006), S. 294 f. Ein anderer Historiker schätzt den heutigen Preis eines Sklaven auf «etwa halb so viel wie einen Neuwagen». Greg Woolf, Rome: An Empire ’s Story (Oxford 2012), S. 91. 3 Catherine Johns, The Hoxne Late Roman Treasure, S. 168 f. 4 Zur Bodenbeschaffenheit siehe ebenda, S. 9. 5 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, übers. von Otto Veh (Zürich und München 1974), Buch 14, Kap. 6. 6 Das ewige Vermächtnis Roms und die Kontinuität dieser Idee werden bei ­Kenneth  I. Pratt zusammengefasst, «Rome as Eternal», in Journal of the History of Ideas 26 (1965), S. 25–44.

708 Anmerkungen 7 Vergil, Aeneis, zitiert nach Die Aeneide (= Die Gedichte des P. Virgilius Maro, im Versmaß der Urschrift), übers. von Wilhelm Hertzberg (Stuttgart 1859), ­Liber I, Z. 1275 ff. 8 Livius, Ab urbe condita, zitiert nach Römische Geschichte, übers. von Konrad Heusinger (Braunschweig 1821) Buch II, 12. 9 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, übers. von Otto Veh (Zürich und München 1974), Buch 14, Kap. 6. 10 Edward Gibbon, Verfall und Untergang des Römischen Reiches, übers. von Cornelius Melville (Hamburg 2012), Buch 1, S. 1. 11 Das beste Beispiel für vulkanische Aktivitäten, die weltweit politische und ­soziale Krisen auslösen, ist wohl der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im April 1815. Siehe Clive Oppenheimer, «Climatic, environmental and human consequences of the largest known historic eruption: Tambora volcano (Indonesia) 1815», in: Progress in Physical Geography: Earth and Environment 27 (2003), S. 230–259. 12 Ebenda, S. 244–249. 13 Sueton, De vita Caesarum: Die Kaiserviten  – Berühmte Männer, übers. von Hans Martinet, 4. Aufl. (Berlin 2014), Julius Cäsar, S. 25. 14 Die Beschreibung folgt Sueton, De vita Caesarum: Kaiserbiographien, übers. von Adolf Stahr (Berlin 1913), Augustus, Abs. 73. 15 Alfred John Church und William Jackson Brodribb (Übers.), Robin Lane Fox (Einführung), Tacitus / Annals and Histories (New York 2009), S. 9 f. 16 Sueton, De vita Caesarum, Augustus, Abs. 28. 17 Vergil, Aeneis, Liber VI, Z. 851. 18 Polybius, The Histories, übers. von Robin Waterfield (Oxford/New York 2010), S. 398 f. 19 Publius Cornelius Tacitus, Agricola – Germania – Dialogus de Oratoribus: Die Historischen Versuche, übers. von Karl Büchner (Wiesbaden 2000), Agricola 30, S. 106. 20 Ebenda, S. 112 f. 21 Luttwak, Edward N., The Grand Strategy of the Roman Empire: From the First Century A. D. to the Third (Baltimore/London 1976), S. 3. 22 Der Text von Claudius ’ Rede findet sich auf einer Bronzetafel in der Stadt Lyon; eine ausführliche Darstellung einschließlich der Einwände der Senatoren bietet Tacitus, Annalen, übers. von August Horneffer (Stuttgart 1964), 11, 24 f. 23 Für eine ausführliche Diskussion des Bürgerrechts im Zusammenhang mit Identität siehe Woolf, Rome: An Empire ’s Story, S. 218–229; im Kontext ­sozialer Hierarchie siehe Peter Garnsey und Richard Saller, The Roman ­Empire: Economy, Society and Culture, 2. Aufl. (London/New York 2014), S. 131–149.

Anmerkungen

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24 Allan Chester Johnson, Paul  R. Coleman-Norton und Frank Card Bourne (Hg.), Ancient Roman Statutes: A Translation with Introduction, Commentary, Glossary, and Index (Austin 1961), S. 226. Dt. Text unter https://de.wikipedia. org/wiki/Constitutio_Antoniniana. 25 John Bodel, «Caveat emptor: Towards a Study of Roman Slave Traders», in: Journal of Roman Archaeology 18 (2005), S. 184. 26 Zum weltweiten Kontext der römischen Sklaverei siehe Peter Hunt, «Slavery» in: Craig Benjamin (Hg.), The Cambridge World History Bd 4: A World with States, Empires and Networks, 1200 BCE–900 CE (Cambridge 2015), S. 76– 100. 27 Levitikus 25:44. 28 Simon Hornblower, Anthony Spawforth, Esther Eidinow (Hg.) The Oxford Classical Dictionary, 4. Aufl. (Oxford 2012), S. 1375. 29 Jennifer Trimble, «The Zoninus Collar and the Archaeology of Roman Slavery», in: American Journal of Archaeology 120 (2016), S. 447 f. 30 Apuleius, Der goldene Esel. Metamorphosen, hrsg. und übers. von Edward Brandt und Wilhelm Ehlers, 4. Aufl. (München und Zürich 1989), 9. Buch, 12, Z. 3 ff., S. 355. 31 Strabo, Geographica  XIV 5,2, in: Stefan Radt (Hg.): Strabons Geographika, 10 Bände (Göttingen 2002–2011), Bd. 4: Buch  XIV–XVII: Text und Übersetzung (Göttingen 2005), S. 99. 32 Zitiert nach Kyle Harper, Slavery in the Late Roman World, AD 275–425 (Cambridge 2011), S. 35 f. 33 Ebenda, S. 33. 34 John Richardson, «Roman Law in the Provinces», in: David Johnston (Hg.), The Cambridge Companion to Roman Law (Cambridge 2015), S. 52 f. 35 Cicero, De re publica  – Vom Staat, Lateinisch-Deutsch, übers. u. hg. von ­Michael von Albrecht (Stuttgart 2013), Buch 3:33. 36 Plinius der Jüngere, Epistulae – Sämtliche Briefe: Lateinisch-Deutsch, hrsg. von Heribert Philips und Marion Giebel (Stuttgart 2010), Brief X 96. 37 Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte, hg. und eingel. von Heinrich Kraft, übers. von Philipp Haeuser, 2. Aufl. (München 1981), Buch 8, Kap. 9, 1–4. 38 Diarmaid MacCulloch, A History of Christianity (London 2009), S. 196. 39 Marcus Aurelius Antonius, Des Kaisers Marcus Aurelius Antonius Selbstbetrachtungen, übers. von Albert Wittstock (Stuttgart 1949), Buch 6, 15.

2. Barbaren 1 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, übers. von Otto Veh (Zürich und München 1974), Buch 31, Kap. 1.

710 Anmerkungen 2 Zosimos, Neue Geschichte, übers. und eingel. von Otto Veh (Stuttgart 1990), 4. Buch, Kap. 21, S. 170. 3 Augustinus, Vom Gottesstaat (De civitate dei), übers. von Wilhelm Thimme (München 2007), Buch 1, Kap. 33. 4 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, Buch 14, Kap. 1. 5 Mehr zur politischen Organisation der frühen Hunnen bei Hyun Jin Kim, The Huns (London/New York 2016), S. 12–36. Etwas skeptischer sieht Peter Heather die Verbindungen zwischen Xiongnu (bei Heather Hsiung-Nu ­geschrieben) und Hunnen im 4. Jahrhundert, siehe dazu Peter Heather, Der Untergang des Römischen Weltreichs (Stuttgart 2007), S. 181–184. 6 Étienne de la Vaissière, «The Steppe World and the Rise of the Huns», in: ­Michael Maas (Hg.), The Cambridge Companion to The Age of Attila (Cambridge 2014), S. 179–180. 7 Étienne de la Vaissière, Sogdian Traders: A History (Leiden 2005), S. 43–44. 8 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, Buch 31, Kap. 2. 9 Ebenda. 10 Edward R. Cook, «Megadroughts, ENSO, and the Invasion of Late-Roman Europe by the Huns and Avars», in: William  V. Harris (Hg.), The Ancient ­Mediterranean Environment between Science and History (Leiden 2013), S. 89– 102. Siehe auch Xiaofeng Wang, Bao Yang und Fredrik Charpentier Ljungqvist, «The Vulnerability of Qilian Juniper to Extreme Drought Events», in: Frontiers in Plant Science 10 (2019), doi: 10.3389/fpls.2019.01191. 11 Brief zitiert in: Benjamin Reeve, Timothy Richard, D. D., China Missionary, Statesman and Reformer (London 1912), S. 54. 12 Zosimos, Neue Geschichte, 4. Buch, Kap. 20, S. 169 f. 13 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, Buch 31, Kap. 4. 14 Ebenda. 15 Zu diesem Argument siehe Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West 376–568 (Cambridge 2007), S. 172–175. 16 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, Buch 31, Kap. 4. 17 Ebenda, Buch 31, Kap. 7. 18 Ebenda. 19 Ebenda, Buch 31, Kap. 11. 20 Ebenda, Buch 31, Kap. 12 und 13. 21 Ebenda. 22 Eine wohlüberlegte Schätzung zu den Zahlen auf beiden Seiten bietet Heather, Der Untergang des Römischen Weltreichs, S. 217.

Anmerkungen

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23 Ammianus Marcellinus, Das Römische Weltreich vor dem Untergang, Buch 31, Kap. 13. 24 Ebenda. 25 Ebenda. 26 Der Wetterbericht stammt vom Heiligen Ambrosius, der in seiner Trauerrede für Theodosius den Regen und die Dunkelheit, die den Tod des Kaisers begleiteten, als Zeichen deutete, dass das Universum ebenfalls trauere. Siehe Leo P. McCauley et al., Funeral Orations by Saint Gregory and Saint Ambrose (The Fathers of the Church, Bd. 22) (Washington: 2010), S. 307. 27 Claudius Claudianus, Politische Gedichte  – Carmina maiora, Bd. 1, hg. und übers. von Philipp Weiß und Claudia Wiener (Berlin/Boston 2020), De Consu­ latu Stilichonis I, 25, S. 475. 28 Vergleiche beispielsweise die Darstellung bei Heather, Der Untergang des Römischen Reichs, S. 229 f., mit Kim, The Huns, S. 76 f. 29 Zosimos, Neue Geschichte, 5. Buch, Kap. 26, S. 234. 30 Ebenda. 31 Das Datum ist bei einigen Historikern umstritten, manche datieren die Invasion lieber auf das Jahr 405, womit sie zeitgleich mit Radagaisus ’ Angriff auf die Italienische Halbinsel stattgefunden hätte. Siehe Michael Kulikowski, «Barbarians in Gaul, Usurpers in Britain», in: Britannia 31 (2000), S. 325–345. 32 Hieronymus, Epistulae, in: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Briefe (Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Schriften Bd. 2–3; Bibliothek der Kirchenväter, 2. Reihe, Bd. 16 und 18) (Kempten; München 1936–1937), Brief 123. 33 Orientius, Commonitorium, zitiert nach Heather, Untergang, S. 246. 34 Claudius Claudianus, Politische Gedichte – Carmina maiora, Bellum Geticum 645, S. 629. 35 Non est ista pax sed pactio servitutis – festgehalten von Zosimos, Neue Geschichte, 5. Buch, Kap. 29, S. 237. 36 Ebenda, Kap. 34, S. 242. 37 Ebenda, Kap. 50, S. 256. 38 Titus Livius, Römische Geschichte, übers. von C. F.  Klaiber (Stuttgart 1827),­ Ab urbe condita, Buch 5.41. 39 Matthew Kneale, A History of Rome in Seven Sackings (London 2017), S. 24. 40 Hieronymus, Epistulae, Brief 127. Vgl. Psalm 79. 41 Gildas, The Ruin of Britain and Other Works, übers. von Michael Winter­ bottom (Chichester 1978), S. 23 f. 42 Ebenda, S. 28. 43 Ebenda. 44 Ebenda. 45 Ebenda, S. 29.

712 Anmerkungen 46 Prokop, Vandalenkriege, Griechisch-deutsch, hg. und übers. von Otto Veh (München 1971), Buch III, 3/30 ff. 47 Herbert T. Weiskotten, The Life of Augustine: A Translation of the Sancti Augustini Vita by Possidius, Bishop of Calama (Merchantville, NJ., 2008), S. 44– 56. 48 Zur aktuellen Forschung über das Vandalenreich in Nordafrika siehe die ­Essays in A. H. Merrills (Hg.), Vandals, Romans and Berbers: New Perspectives on Late Antique North Africa (Abingdon 2016), v. a. S. 49–58. 49 Prokop, Vandalenkriege, Buch III, 5/3 ff. 50 Zur Rhetorik von Quovultdeus und ihrem religiösen und politischen Kontext siehe David Vopřada, «Quodvultdeus ’ Sermons on the Creed: a Reassessment of his Polemics against the Jews, Pagans, and Arians», in Vox Patrum 37 (2017), S. 355–367. 51 Siehe Averil Cameron et al. (Hg.), The Cambridge Ancient History  XIV: Late Antiquity, Empire and Successors, A. D. 425–600 (Cambridge 2000), S. 554. 52 Prokop, Vandalenkriege, Buch IV, 6. 53 Jordanes, Die Geschichte der Goten, übers. und eingel. von Robert Sturm (Norderstedt 2018), Kap. XXXV, S. 117. 54 Christopher Kelly, Attila the Hun: Barbarian Terror and the Fall of the Roman Empire (London 2008), S. 189. 55 Christopher Kelly, «Neither Conquest nor Settlement: Attila ’s Empire and its Impact», in: Michael Maas (Hg.), The Age of Attila (Cambridge 2015), S. 195. 56 Noel Lenski, «Captivity among the Barbarians and its Impact on the Fate of the Roman Empire», in: Michael Maas (Hg.), The Age of Attila (Cambridge 2015), S. 234. 57 Ebenda, S. 237. 58 Averil Cameron et al. (Hg.), The Cambridge Ancient History  XIV: Late Antiquity, Empire and Successors, A. D. 425–600 (Cambridge 2000), S. 15. 59 Gregor von Tours, Zehn Bücher Fränkischer Geschichte, übers. von Wilhelm von Giesebrecht (München 1911), Buch 2,7. 60 Laury Sarti, Perceiving War and the Military in Early Christian Gaul (ca. 400– 700 A. D.) (Leiden 2013), S. 187. 61 James Harvey Robinson, Readings in European History. Bd 1. (Boston 1904), S. 51. 62 John Given (Übers.), The Fragmentary History of Priscus: Attila, the Huns and the Roman Empire, AD 430–476 (Merchantville 2014), S. 127. 63 Ebenda, S. 129. 64 George W. Robinson (Übers.), Eugippius: The Life of Saint Severinus (Cambridge, Mass., 1914), S. 45 f. 65 Sergei Mariev (Hg. und Übers.), Ioannis Antiocheni Fragmenta quae supersunt Omnia (Berlin 2008), S. 445.

Anmerkungen

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66 Peter Heather, The Goths (Oxford 1996), S. 221. 67 Boetius, Die Tröstungen der Philosophie, übers. von Richard Scheven (Leipzig 1893), Buch 2, 30.

3. Byzantiner 1 J.-B. Chabot (Hg. und Übers.), Chronique de Michel le Syrien, patriarche ­jacobite d ’ Antioche, 1166–1199, Bd. 2 (Paris 1901), S. 235–238. Siehe auch Witold Witakowski (Übers.), Pseudo-Dionysius of Tel-Mahre, Chronicle (known also as the Chronicle of Zuqnin) Part III (Liverpool 1996), S. 74–101. 2 Jeremia 9:21. 3 Vgl. 5. Buch Mose 8:20. 4 Prokop, Perserkriege, Griechisch-deutsch, hg. und übers. von. Otto Veh (München 1970), Buch II/22, S. 357. 5 Marcel Keller et al., «Ancient Yersinia Pestis Genomes from across Western Europe Reveal Early Diversification during the First Pandemic (541–750)», in: Proceedings of the National Academy of Sciences 116 (2019). Siehe auch I. Wiechmann und G. Grupe, «Detection of Yersinia Pestis DNA in Two Early Medieval Skeletal Finds from Aschheim (Upper Bavaria, 6th century A. D.)», in: American Journal of Physical Anthropology 126 (2005), S. 48–55. 6 Lee Moderchai und Merle Eisenberg, «Rejecting Catastrophe: The Case of the Justinianic Plague», in: Past & Present 244 (2019), S. 3–50. 7 Prokop, Anekdota: Geheimgeschichte des Kaiserhofs von Byzanz, GriechischDeutsch, hg. und übers. von. Otto Veh (München 1961), Buch  IX, S. 77, XII, S. 109. 8 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, in Prosa übers. von Hartmut Köhler (Ditzingen 2020), Paradiso, 5.130–139. 9 Johannes Malalas, Weltchronik, übers. von Johannes Thurn und Mischa Meier (Stuttgart 2009), Buch 18, S. 440. 10 Prokop, Anekdota, Buch VIII, S. 75. 11 Malalas, Weltchronik, Buch 18, S. 456. 12 Prokop, Anekdota, Buch IX, S. 79 f. 13 Justinian, Institutiones: Institutionen in sinngetreuer deutscher Übers., bearb. v. einem prakt. Juristen (Stuttgart 1903), S. 1. 14 Mehr zu diesem Thema bei David Johnston (Hg.) The Cambridge Companion to Roman Law (New York 2015), S. 119–148, 356 f. und 374–395. 15 Prokop, Bauten, Griechisch-Deutsch, hg. und übers. von. Otto Veh (München 1977), S. 19. 16 Donald  R. Kelley, «What Pleases the Prince: Justinian, Napoleon and the ­Lawyers», in: History of Political Thought 23 (2002), S. 290.

714 Anmerkungen 17 Eine gut verständliche Darstellung des Kontexts und des Verlaufs des Disputs findet sich in MacCulloch, A History of Christianity, S. 222–228. 18 Malalas, Weltchronik, Buch 18, S. 452. 19 Die Chronologie dieses Vorgangs wird genau beschrieben in Demetrios  J. Constantelos, «Paganism and the State in the Age of Justinian», in: The Catholic Historical Review 50 (1964), S. 372–380. 20 Malalas, Weltchronik, Buch 18, S. 470. Eine ausführliche Diskussion, was Mala­ las damit genau meinte und in welchem Kontext er darüber berichtete, bietet Edward Watts, «Justinian, Malalas, and the End of Athenian Philosophical Teaching in A. D. 529», in: The Journal of Roman Studies 94 (2004), S. 168–182. 21 Zum Überleben des Neuplatonismus in Byzanz siehe H. J. Blumenthal, «529 and its Sequel: What Happened to the Academy?», in: Byzantion 48 (1978), S. 369–385, und Edward Watts, «Justinian, Malalas, and the End of Athenian Philosophical Teaching in A. D. 529», in: The Journal of Roman Studies 94 (2004), S. 168–182. 22 Die beiden wichtigsten englischsprachigen Artikel über Justinian, die ZirkusParteien und den Nika-Aufstand sind J. B.  Bury, «The Nika Riot», in: The Journal of Hellenic Studies 17 (1897), S. 92–119, und Geoffrey Greatrex, «The Nika Riot: A Reappraisal», in: The Journal of Hellenic Studies 117 (1997), S. 60– 86. 23 Möglicherweise haben unzufriedene Mitglieder der Oberschicht die Aufständischen angestachelt – einige ihrer angeblichen Beschwerden werden bei Prokopios wiederholt, siehe Prokop, Anekdota, S. 95, 123. 24 Prokop, Perserkriege, Buch I, 24, S. 179. 25 Malalas, Weltchronik, Buch 18, S. 492. 26 Prokop, Perserkriege, Buch I, 24, S. 185. 27 Malalas, Weltchronik, Buch 18, S. 495. 28 Prokop, Bauten, S. 23. 29 G. Downey, «Byzantine Architects: Their Training and Methods», in: Byzantion 18 (1946–1948), S. 114. 30 Prokop, Bauten, S. 23. 31 Emerson H. Swift, «Byzantine Gold Mosaic», in: American Journal of Archaeology 38 (1934), S. 81 f. 32 Paul Magdalino et al., «Istanbul», in: Grove Art Online (online veröffentlicht 2003), https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054.article.T042556 III.1. 33 Samuel Hazzard Cross und Olgerd P. Sherbowitz-Wetzor (Übers.), The Russian Primary Chronicle: Laurentian Text (Cambridge, Mass., 1953), S. 111. 34 Prokop, Vandalenkriege, Griechisch-deutsch, hg. und übers. von. Otto Veh (München 1971), Buch I, 9, S. 75. 35 Eine genaue aktuelle Darstellung findet sich in Andy Merrills und Richard Miles, The Vandals (Oxford 2010), S. 228–233.

Anmerkungen

715

36 Prokop, Vandalenkriege, Buch I, 21, S. 145. 37 Ebenda, Buch II, 7, S. 213. 38 Ebenda, Buch II, 9, S. 225. 39 Ekklesiastes 1:2, Prokop, Vandalenkriege, Buch II, 10, S. 227. 40 Prokop, Vandalenkriege, Buch II, 14, S. 263. 41 Zum Ilopango siehe Robert A. Dull et al., «Radiocarbon and Geologic Evidence Reveal Ilopango Volcano as Source of the Colossal ‹Mystery› Eruption of 539/40 CE», in: Quaternary Science Reviews 222 (2019), abgerufen im Internet unter https://doi.org/10.1016/j.quascirev.2019.07.037. 42 Prokop, Vandalenkriege, Buch II, 14, S. 263. 43 Siehe dazu Kyle Harper, Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches (München 2020), S. 296. 44 Ebenda, S. 303. 45 Prokop, Anekdota, Buch XV, S. 133. 46 Prokop, Der Gotenkrieg, übers. von David Costa (Essen 1997), Buch  IV, 31, S. 252. 47 Prokop, Bauten, S. 77.

4. Araber 1 Ein Großteil der hier verwendeten Chronologie stützt sich auf Fred M. Donner, The Early Islamic Conquests (Princeton 1981), S. 111–155, der darin verschiedene mögliche Rekonstruktionen der Ereignisse diskutiert. 2 Zur Beschreibung siehe Khalid Yahya Blankinship (Übers.), The History of a­ l-Tabari Vol.  XI: The Challenge to the Empires (New York 1993), S. 138, 152. 3 Ebenda, S. 113 f., siehe auch Donner, Early Islamic Conquests, S. 121 f. 4 Hugh Kennedy, The Great Arab Conquests (London 2007), S. 79 f., vereint beide Versionen; siehe auch Donner, Early Islamic Conquests, S. 131. 5 Blankinship, al-Tabari XI, S. 160. 6 Die Fredegar-Chroniken, in: Andreas Kusternig und Hermann Haupt, Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 4a) (Darmstadt 1982), Buch IV, 66, S. 233. 7 al-Tabari XI, S. 87 f. 8 Die Fredegar-Chroniken, Buch IV, 66, S. 235. 9 Robert G. Hoyland, In God ’s Path: The Arab Conquests and the Creation of an Islamic Empire (Oxford 2015), S. 45. 10 Kenneth  G. Holum, «Archaeological Evidence for the Fall of Byzantine ­Caesarea», in: Bulletin of the American Schools of Oriental Research 286 (1992), S. 73–85. 11 Hoyland, In God ’s Path, S. 45.

716 Anmerkungen 12 G. W. Bowersock, The Crucible of Islam (Cambridge, Mass., 2017), S. 48 f. 13 Donner, Early Islamic Conquests, S. 51 f. 14 Zu dieser Tradition und einer allgemeinen, «traditionelleren» Geschichte Mekkas und Mohammeds, siehe Martin Lings, Muhammad: Sein Leben nach den frühesten Quellen (Kandern 2000), S. 12. 15 Bowersock, Crucible of Islam, S. 50 f. 16 Lings, Muhammad, S. 42 f. 17 Genesis 16:12. Als Kommentar siehe Anthony Hilhorst, «Ishmaelites, Haga­ renes, Saracens», Martin Goodman, George H. van Kooten und J. T. a. G. M van Buiten (Hg.), Abraham, the Nations, and the Hagarites Jewish, Christian, and Islamic Perspectives on Kinship with Abraham (Leiden 2010). 18 Hoyland, In God ’s Path, S. 94. 19 Gautier H. A. Juynboll (Übers.), The History of al-Tabari vol. XIII: The Conquest of Iraq, Southwestern Persia and Egypt (New York 1989), S. 7. 20 Ebenda, S. 27. 21 Ebenda, S. 189. 22 Hoyland, In God ’s Path, S. 96 f. 23 Fishbein, Michael (Übers.), The History of al-Tabari vol. VIII: The Victory of Islam (New York 1997), S. 35 f. 24 Friedmann, Yohanan (Übers.), The History of al-Tabari vol. XII: The Battle of al-Qadisiyyah and the Conquest of Syria and Palestine (New York 1991), S. 127 f. 25 The Hadith (S. Sahih Bukhari, Bd. 4, Buch 52, Hadith 46). 26 The Hadith (S. Sahih Bukhari, Bd. 5, Buch 57, Hadith 50). 27 R. Stephen Humphreys (Übers.), The History of al-Tabari, vol. XV: The Crisis of the Early Caliphate (New York 1990), S. 252 f. 28 Ebenda, S. 207–211. 29 Eine gut lesbare Darstellung bietet Martin Hinds, «The Murder of the Caliph Uthman», in: International Journal of Middle East Studies 3 (1972), S. 450–469. 30 al-Tabari XV, S. 216. 31 Richard Ettinghausen, Oleg Grabar und Marilyn Jenkins-Madina, Islamic Art and Architecture 650–1250 (2. Aufl.) (New Haven/London 2001), S. 15–20. 32 Oleg Grabar, The Dome of the Rock (Cambridge, Mass., 2006), S. 1–3. 33 Cyril Mango und Roger Scott (Übers.), The Chronicle of Theophanes Confessor: Byzantine and Near Eastern History AD 284–813 (Oxford 1997), S. 493. 34 Ebenda, S. 493 f. Zu den Bezeichnungen und wechselnden Zusammensetzungen des «Griechischen Feuers» siehe Alex Roland, «Secrecy, Technology, and War: Greek Fire and the Defense of Byzantium, 678–1204», in: Technology and Culture 33 (1992), S. 655–679 und v. a. S. 657. 35 Ebenda, S. 494. 36 Ebenda, S. 548.

Anmerkungen

717

37 Ebenda, S. 550. 38 al-Tabari  XV, S. 281–287. Siehe auch Walter Kaeigi, Muslim Expansion and Byzantine Collapse in North Africa (Cambridge 2010), S. 260. 39 Kenneth Baxter Wolf, Conquerors and Chroniclers of Early Medieval Spain (Liverpool 1990), S. 132. 40 Ebenda. 41 Philip Grierson, «The Monetary Reforms of ’Abd al-Malik: Their Metrolo­ gical Basis and Their Financial Repercussions», in: Journal of the Economic and Social History of the Orient 3 (1960), S. 16 f. 42 Siehe dazu auch Michael L. Bates, «The Coinage of Syria Under the Umayyads, 692–750 A. D.» in: Fred  M. Donner, The Articulation of Early Islamic State Structures (London 2017). 43 Sure 17:35, Der Koran, eingeleit. von Annemarie Schimmel, übers. von Max Henning (Stuttgart 1991). 44 Ettinghausen und Jenkings-Madina, Islamic Art and Architecture, 650–1250, S. 24 ff. 45 John Harris Jones (Übers.), Ibn Abd al-Hakam / The History of the Conquest of Spain (New York 1969), S. 33. 46 Zur Legende des Heiligen Martin siehe William Granger Ryan (Übers.) und Eamon Duffy (Einl.), Jacobus de Voragine, The Golden Legend: Readings on the Saints (Princeton und Oxford 2012), S. 678–686. 47 Von Gregor von Tours stammt eine Beschreibung der merowingischen Basilika (die heute längst verschwunden ist): «Sie hat 160 Fuß in der Länge, 60 Fuß in der Breite; ihre Höhe beträgt bis zur Decke 45 Fuß; im Altarraum hat sie 32 Fenster, im Schiff 20, und 41 Säulen; im ganzen Gebäude sind 52 Fenster, 120 Säulen und 8 Türen, 3 im Altarraum und 5 im Schiff.» Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, aufgrund der Übers. W. Giesebrechts neu bearb. von Rudolf Buchner, Bd. 6–10 (Darmstadt 1964), Buch 2,14, S. 97. 48 Die Fredegar-Chroniken, Buch IV, S. 287. 49 William Stearns Davis (Hg.), Readings in Ancient History: Illustrative Extracts from the Sources, II (Boston 1913), S. 362 ff. 50 Leo Sherley-Price (Übers.), Bede / A History of the English Church and People (Harmondsworth 1968), S. 330. 51 Edward Gibbon, Verfall und Untergang des Römischen Reiches, übers. von ­Cornelius Melville (Hamburg 2012), Buch 7, Kap. 52, S. 22. 52 The Occidental Quarterly findet sich schnell per Google-Suche im Internet. Ich habe beschlossen, keinen konkreten Link für diese jämmerliche Publikation zu nennen.

718 Anmerkungen Zweiter Teil: Herrschaft (ca. 750 bis 1215) 5. Franken 1 Einhard: Leben Karls des Großen, in: Reinhold Rau (Hg.), Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte: Die Reichsannalen, Einhard: Leben Karls des Großen, Zwei Leben Ludwigs, Nithard: Geschichten, Reihe Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters: Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe 1 (Darmstadt 1966), S.167. 2 Die Fredegar-Chroniken, in: Andreas Kusternig und Hermann Haupt (Hg.), Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 4a (Darmstadt 1982), Buch IV, S. 299. 3 Marianne Ailes, «Charlemagne ‹Father of Europe›: A European Icon in the Making», in: Reading Medieval Studies 38 (2012), S. 59. 4 Eine Zusammenfassung der außergewöhnlichen und anhaltenden Faszination Karls des Großen auf zukünftige europäische Herrscher und Nachahmer ­findet sich bei Rosamond McKitterick, Charlemagne: The Formation of a European Identity (Cambridge 2008), S. 1–5. 5 Auf diesen Punkt stieß ich zum ersten Mal in MacCulloch, A History of Christianity, S. 348. 6 Ein Vorgang, mit dem auch die Türken und Makedonen ihre mythische Herkunft erklären. Siehe Thomas  J. Macmaster, «The Origin of the Origins: ­Trojans, Turks and the Birth of the Myth of Trojan Origins in the Medieval World», in: Atlantide 2 (2014), S. 1–12. 7 Zu den Grabbeigaben siehe Raymond Brulet, «La sépulture du roi Childéric à Tournai et le site funéraire», in: Françoise Vallet und Michel Kazanski (Hg.), La noblesse romaine et les chefs barbares du IIIe au VIIe siècle (Paris 1995), S. 309–326. 8 Karl August Eckhardt (Hg.) Lex Salica, Reihe Monumenta Germaniae historica / Leges (Hannover 1969). 9 Einhard: Leben Karls des Großen, S. 167 ff. 10 Ebenda, S. 169. 11 Die Reichsannalen, in: Reinhold Rau (Hg.), Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte: Die Reichsannalen, Einhard: Leben Karls des Großen, Zwei Leben Ludwigs, Nithard: Geschichten, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters: Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe (Darmstadt 1993), S. 14 f. 12 Jaume Aurell, Medieval Self-Coronations: The History and Symbolism of a Ritual (Cambridge 2020), S. 128 ff. 13 Die Fredegar-Chroniken, Buch IV, S. 301.

Anmerkungen

719

14 Raymond Davis (Übers.), The Lives of the Eighth-Century Popes (Liber Ponti­ ficalis) (Liverpool 1992), S. 63. 15 Johannes Fried, Karl der Große. Gewalt und Glaube: Eine Biographie (München 2013), S. 102. Siehe auch Rosamond McKitterick (Hg.), The New Cambridge Medieval History II c. 700–c. 900 (Cambridge 1995), S. 96 f. 16 Die Fredegar-Chroniken, S. 305. 17 Ebenda, S. 323. 18 Einhard: Leben Karls des Großen, S. 193 ff. 19 Notker: Taten Karls, in: Reinhold Rau (Hg.), Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, 3. Teil, Jahrbücher von Fulda. Regino Chronik. Notker: T ­ aten Karls, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters: (Darmstadt 1960), S. 415. 20 Marios Costambeys, Matthew Innes und Simon MacLean, The Carolingian World (Cambridge 2011), S. 67 f. 21 Roger Collins, Charlemagne (Basingstoke 1998), S. 62. 22 Einhard: Leben Karls des Großen, S. 179. 23 Das Rolandslied: Das älteste französische Epos, übers. von Wilhelm Hertz (Stuttgart 1861), S. 70. 24 Ebenda, S. 93. 25 Einhard: Leben Karls des Großen, S. 197 ff. 26 «Aachen» in: Grove Art Online https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054. article.T000002. 27 Siehe Paul Fouracre, «Frankish Gaul to 814» in McKitterick (Hg.), The New Cambridge Medieval History, S. 106. 28 Paul Edward Dutton, Carolingian Civilization: A Reader, 2. Aufl. (Ontario 2009), S. 92–95. 29 Einhard: Leben Karls des Großen, S. 197. 30 Davis (Übers.), Lives of the Eighth-Century Popes, S. 185 f. 31 Siehe dazu Fried, Karl der Große, S. 478 f. 32 Ernst Dümmler (Hg.), Poetae latini aevi Carolini I (Berlin 1881), S. 379. 33 Davis, Lives of the Eighth-Century Popes, S. 188. 34 Siehe Dümmler wie oben. Dt. Übersetzung: Joseph Brockmann (Hg.), Karolus Magnus et Leo papa. Ein Paderborner Epos vom Jahre 799, übersetzt von Franz Brunhölzl, Studien und Quellen zur Westfälischen Geschichte 8 (Paderborn 1966), S. 88–95, Z. 426–539. 35 Einhard: Leben Karls des Großen, S. 199. 36 Ebenda, S. 195, und Fried, Karl der Große, S. 490. 37 Ebenda. 38 Kaisertitulatur, in: Wilfried Hartmann (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 1, Frühes und hohes Mittelalter 750–1250 (Stuttgart 1995), S. 58.

720 Anmerkungen 39 Die Vorzeichen wurden alle von Einhard festgehalten. Einhard: Leben Karls des Großen, S. 203 ff. 40 Nach Dutton, Carolingian Civilization: A Reader, S. 157. 41 Mehrere Historiker sind der Ansicht, dass die Schande, nicht in der Ordinatio Imperii erwähnt zu werden, Bernhard am meisten kränkte. Siehe Rosamond McKitterick, The Frankish Kingdoms under the Carolingians (London/New York 1983), S. 135. 42 Nachfolgeordnung Ludwigs des Frommen, in: Wilfried Hartmann (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung, Bd. 1, S. 85. 43 Die Reichsannalen, S. 129. 44 Zur Identifizierung Ragnars als Ragnar Lodbrok siehe zum Beispiel Neil Price, The Children of Ash and Elm: A History of the Vikings (London 2020), S. 344. 45 Ermentarius von Noirmoutier in René Poupardin (Hg.), Monuments de ­l ’ histoire des Abbeyes de Saint-Philibert (Paris 1905), S. 61 f. 46 Dorothy Whitelock (Hg.), English Historical Documents  I 500–1042, 2. Aufl. (London 1979), S. 775 ff. 47 Poupardin (Hg.), Monuments de l ’ histoire des Abbeyes de Saint-Philibert, S. 61 f. 48 Einen nützlichen Überblick über den Stand der Forschung und die zahl­ reichen Werke zur geografischen Lage von Thule mit bibliografischen Hinweisen bietet Cameron McPhail, «Pytheas of Massalia ’s Route of Travel», in: Phoenix 68 (2014), S. 252 ff. 49 Eine anschauliche und aktuelle Beschreibung findet sich in Price, The Children of Ash and Elm, S. 31–63. Siehe auch Robert Ferguson, The Hammer and the Cross: A New History of the Vikings (London 2009), S. 20–40. 50 Eine Zusammenfassung und Bibliografie zu den vielen Thesen zur Wanderung der Wikinger bietet James H. Barrett, «What Caused the Viking Age?», in: Antiquity 82 (2008), S. 671–685. 51 Irene Baug, Dagfnn Skre, Tom Heldal und Øystein J. Janse, «The Beginning of the Viking Age in the West», in: Journal of Maritime Archaeology 14 (2019), S. 43–80. 52 Kelly DeVries und Robert Douglas Smith, Medieval Military Technology, 2. Aufl. (Ontario 2012), S. 291 f. 53 Whitelock (Hg.), English Historical Documents I 500–1042, 2. Aufl., S. 778 ff. 54 Neil Price, The Children of Ash and Elm: A History of the Vikings, S. 438 f. 55 Eine moderne Übersetzung ins Englische bietet Brian  E. Hill, Charles the Bald ’s «Edict of Pîtres» (864): A Translation and Commentary (unveröffentlichte Magisterarbeit, University of Minnesota 2013). 56 Annales Vedastini (Annalen von St. Vaast), in: Reinhold Rau (Hg.), Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Zweiter Teil. Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters Bd. 6 (Darmstadt 1958), S. 305.

Anmerkungen

721

57 Eric Christiansen (Übers.), Dudo of St. Quentin  / History of the Normans (Woodbridge 1998), S. 22. 58 Price, Children of Ash and Elm, S. 350. 59 Annales Vedastini, S. 303. 60 Abbo von Saint-Germain-des-Prés, Bella Parisiacae urbis: lateinischer Text, deutsche Übersetzung und sprachliche Bemerkungen, hg. von Anton Pauels (Frankfurt am Main, Bern, New York 1984), Z. 91 ff., S. 29. 61 Dudo of St. Quentin / History of the Normans, S. 28 f. 62 Ebenda, S. 46. 63 Ebenda, S. 49. 64 Price, Children of Ash and Elm, S. 497. 65 Tom Licence, Edward the Confessor (New Haven/London 2020), S. 48 und Anm. 30.

6. Mönche 1 M. L.  Smith, The Early History of the Monastery of Cluny (Oxford 1920), S. 10. 2 Ebenda, S. 11 f. 3 Isabella Rosè, «Interactions between Monks and the Lay Nobility (from the Carolingian Era through the Eleventh Century)», in: Alison  I. Beach und ­Isabelle Cochelin (Hg.), The Cambridge History of Medieval Monasticism in the Latin West I (Cambridge 2020), v. a. S. 579–583. 4 Smith, Early History of the Monastery of Cluny, S. 14, Anm. 5. 5 Matthäus 19:21. 6 Jacobus de Voragine, Legenda Aurea, zitiert nach Erich Weidinger (Hg.), ­Legenda aurea – Das Leben der Heiligen (Aschaffenburg 1986), S. 78. 7 Ebenda, S. 81. 8 James G. Clark, The Benedictines in the Middle Ages (Woodbridge 2011), S. 8 f. 9 Eine Zusammenfassung des «Problems» mit dem Asketentum beim Konzil von Chalcedon liefern Anne-Marie Helvétius und Michael Kaplan, «Asceticism and its Institutions», in: Thomas F. X. Noble und Julia M. H. Smith, The Cambridge History of Christianity III: Early Medieval Christianities c. 600–c.1100 (Cambridge 2008), S. 275 f. 10 Gregor der Große, Der heilige Benedikt: Buch II der Dialoge (St. Ottilien 1995) (Stuttgart 2015), S. 105 ff. 11 Ebenda, S. 199. 12 Die Regel des Heiligen Benedikt, eingel. und übers. von Basilius Steidle (Beuron 1988), Prolog, I,3. 13 Gregor der Große, Der heilige Benedikt, S. 199.

722 Anmerkungen 14 Zitiert nach C. G.  Coulton (Hg.), Life in the Middle Ages  IV (Cambridge 1930), S. 29. 15 Albrecht Diem und Philip Rousseau, «Monastic Rules (Fourth to Ninth Century)», in: Alison I. Beach und Isabelle Cochelin (Hg.), The Cambridge History of Medieval Monasticism in the Latin West I (Cambridge 2020), S. 181 f. 16 MacCulloch, History of Christianity, S. 354. 17 Norman F. Cantor, «The Crisis of Western Monasticism, 1050–1130», in: The American Historical Review (1960), S. 48. 18 G. Sitwell (Übers.), St. Odo of Cluny: Being the Life of St. Odo of Cluny / by John of Salerno. And, the Life of St. Gerald of Aurillac by St. Odo (London 1958), S. 16. 19 Beda der Ehrwürdige, Kirchengeschichte des Englischen Volkes, hg. und übers. von Günther Spitzbart, 2 Bde. (Darmstadt 1997), Buch IV, 25, S. 407. 20 Ebenda, S.403. 21 Siehe Raffaello Morghen, «Monastic Reform and Cluniac Spirituality», in Noreen Hunt (Hg.), Cluniac Monasticism in the Central Middle Ages (London 1971), S. 18 f. 22 Zu den neuen Konvertiten siehe Janneke Raaijmakers, «Missions on the Northern and Eastern Frontiers», in: Alison  I. Beach und Isabelle Cochelin (Hg.), The Cambridge History of Medieval Monasticism in the Latin West  I (Cambridge 2020), S. 485–501, und Emilia Jamroziak, «East-Central European Monasticism: Between East and West?», ebenda II, S. 882–900. 23 Clark, The Benedictines in the Middle Ages, S. 53 f. 24 TianJun Zhou, Bo Li, WenMin Man, LiXia Zhang und Jie Zhang, «A Comparison of the Medieval Warm Period, Little Ice Age and 20th-Century Warming Simulated by the FGOALS Climate System Model», in: Chinese Science Bulletin 56 (2011), S. 3028–3041. 25 Eine in Lynn White Jr., Medieval Technology & Social Change (Oxford 1962) entwickelte These, die in jüngster Zeit starke Unterstützung erhielt durch Thomas Barnebeck Andersen, Peter Sandholt Jensen und Christian Stejner Skovsgaard, «The Heavy Plough and the Agricultural Revolution in Medieval Europe», in: Discussion Papers of Business and Economics (University of ­Southern Denmark, Department of Business and Economics, 2013). 26 Ein Historiker spricht in diesem Zusammenhang davon, dass man «um gute Werke wetteiferte». Siehe R. I. Moore, The First European Revolution, c.970– 1215 (Oxford 2000), S. 75. 27 Smith, Early History of the Monastery of Cluny, S. 143–146, die sich dabei auf die fast zeitgenössische Lebensbeschreibung Odilos durch den Cluniazenser Jotsaldus stützt. 28 Wer eine kurze Zusammenfassung der Bautätigkeit in Cluny in dieser Zeit sucht, beginnt am besten mit Brenda M. Bolton und Kathryn Morrison, «Clu-

Anmerkungen

723

niac Order», Grove Art Online, https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054. article.T018270. 29 Die Regel des Heiligen Benedikt, XIX, 7. 30 Zur Musik der Benediktiner im Allgemeinen siehe Clark, The Benedictines in the Middle Ages, S. 102–105. 31 Sébastien Biay, «Building a Church with Music: The Plainchant Capitals at Cluny, c. 1100», in: S. Boynton und D. J. Reilly (Hg.), Resounding Image: Me­ dieval Intersections of Art, Music, and Sound (Turnhout 2015), S. 221 f. 32 Noreen Hunt, Cluny under Saint Hugh, 1049–1109 (London 1967), S. 105. 33 Peter King, Western Monasticism: A History of the Monastic Movement in the Latin Church (Kalamazoo 1999), S. 128. Siehe auch Hunt, Cluny under Saint Hugh, S. 101 ff. 34 Annie Shaver-Crandell und Paula Gerson, The Pilgrim ’s Guide to Santiago de Compostela: A Gazetteer with 580 Illustrations (London: 1995), S. 72 f. 35 Edwin Mullins, In Search of Cluny: God ’s Lost Empire (Oxford 2006), S. 72 f. 36 Jean Mabillon, Annales Ordinis  S. Benedicti Occidentalium Monachorum ­Patriarchæ Bd.  IV (Paris 1707), S. 562. 37 Zum Wahren Kreuz in Poitiers siehe Cynthia Hahn, «Collector and Saint: Queen Radegund and Devotion to the Relic of the True Cross», in: Word & Image 22 (2006), S. 268–274. 38 Otto Karl Werkmeister, «Cluny  III and the Pilgrimage to Santiago de Compostela», in: Gesta 27 (1988), S. 105. 39 Zum Traum siehe Carolyn  M. Carty, «The Role of Gunzo ’s Dream in the Building of Cluny III», in: Gesta 27 (1988), S. 113–123. 40 Die vitruvianischen Proportionen von Cluny III wurden erstmals beschrieben von Kenneth J. Conant, «The after-Life of Vitruvius in the Middle Ages», in: Journal of the Society of Architectural Historians 27 (1968), S. 33–38. 41 Bolton und Morrison, «Cluniac Order», Grove Art Online. 42 Mullins, In Search of Cluny, S. 79 f. 43 Noreen Hunt, Cluny under Saint Hugh, 1049–1109 (London 1967), S. 145 f. 44 Mullins, In Search of Cluny, S. 197–205. 45 Ebenda, S. 221. 46 Viertes Laterankonzil – 1215, in: Josef Wohlmuth (Hg.), Konzilien des Mittelalters: vom ersten Laterankonzil (1123) bis zum fünften Laterankonzil (1512–1517) (= Dekrete der ökumenischen Konzilien. Band 2), 3. Aufl. (Paderborn 2000), S. 227–271. 47 Bernhard von Clairvaux, Liber ad Milites Templi. De Laude Novae Militiae (Turnhout 2010) https://web.archive.org/web/20080606091014/http://www. uan.it/alim/letteratura.nsf/(testiID )/9A02F221E6CAB 50DC 1256E380040 BC61!opendocument.

724 Anmerkungen 7. Ritter 1 Bei diesen Sternschnuppen, auch als Laurentiustränen bezeichnet, handelt es sich um die Perseiden, die zu sehen sind, wenn die Erde eine Kometenspur kreuzt. Die Beschreibung stammt aus einem maßgeblichen Werk zur Schlacht auf dem Lechfeld: Charles R. Bowlus, The Battle of Lechfeld and its Aftermath, August 955 (Aldershot 2006). Viel von dem, was ich im Folgenden über die Schlacht schreibe, stützt sich auf Bowlus ’ rekonstruierte Erzählung der komplizierten und langwierigen Kampfhandlungen und auf seine Übersetzungen wichtiger zeitgenössischer Quellen, die im Anhang seines Buchs enthalten sind. 2 Widukind von Corvey, Res gestae Saxonicae / Die Sachsengeschichte, LateinischDeutsch, übers. und hg. von Ekkehart Rotter und Bernd Schneidmüller (Stuttgart 1981), S. 201. 3 Ebenda, S. 301. 4 Gerhard von Augsburg, Vita Sancti Uodalrici: Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Ulrich, Lateinisch-Deutsch, eingel., hg. und übers. von Walter Berschin und Angelika Häse (Heidelberg 1993), Buch I, 12, S. 193. 5 Ebenda, S. 195. 6 Widukind von Corvey, Die Sachsengeschichte, S. 201 ff. 7 Christon I. Archer, John R. Ferris, Holger H. Herwig und Timothy H. E. Travers, World History of Warfare (Lincoln 2002), S. 136 f. 8 Xenophon, Über die Reitkunst, übertr. von Richard Keller (Stuttgart 2010), 12.6, S. 91. 9 Ann Hyland, The Medieval Warhorse: From Byzantium to the Crusades (London 1994), S. 3. 10 Anna Komnene, Alexias, übers., eingel. und mit Anm. vers. von Diether Roderich Reinsch (Köln 1996), Buch XIII, Kap. 8, S. 453. 11 Maurice Keen, Chivalry (New Haven/London 1984), S. 23. 12 Hyland, Medieval Warhorse, S. 11. 13 Siehe zum Beispiel das Exemplar in der British Library, Shelfmark Add MS 11695, f.102 v. Online abrufbar unter: www.bl.uk/catalogues/illuminated manuscripts/record.asp?MSID=8157&CollID=27&NStart=11695. 14 Bei der großen Steigbügel-Kontroverse geht es im Grunde um die These von Lynn White Jr., der in den 1960er Jahren argumentierte, dass die Ankunft des Steigbügels im mittelalterlichen Europa nicht nur die Art und Weise veränderte, wie man auf dem Pferderücken kämpfte, sondern auch den Aufstieg des Feudalismus beförderte. Eine kurze und nützliche geschichtswissenschaftliche Diskussion bietet Richard W. Kaeuper, Medieval Chivalry (Cambridge 2016), S. 65–68. 15 Keen, Chivalry, S. 25. 16 Ob der «Feudalismus» oder ein «feudales System» je außerhalb der Vorstel-

Anmerkungen

725

lung von Historikern offiziell existierte, liefert Stoff für eine der größten und anhaltendsten Debatten in der mittelalterlichen Geschichtswissenschaft. In ihrer aktuellen Form tobt sie mindestens seit den 1950er Jahren. Der Architekt der Idee einer feudalen «Revolution» war Georges Duby – siehe zum Beispiel Georges Duby, The Chivalrous Society (Berkeley 1977); ein wichtiger Essay für die Gegenargumente ist Elizabeth A. R. Brown, «The Tyranny of a Construct: Feudalism and Historians of Medieval Europe», in: The American Historical Review 79 (1974), S. 1063–1088. Einen aktuelleren Stand der geschichtswissenschaftlichen Haltung zum Feudalismus in Europa bieten auch die Artikel in Sverre Bagge, Michael  H. Gelting und Thomas Lindkvist (Hg.), Feudalism: New Landscapes of Debate (Turnhout 2011). Für eine lokale Studie zu Nordwesteuropa siehe Charles West, Reframing the Feudal Revolution: Political and Social Transformation between the Marne and the Moselle, c.800 – c.1100 (Cambridge 2013). 17 Christon et al., World History of Warfare, S. 146. 18 Zu Ungarn siehe Janos M. Bak, «Feudalism in Hungary?», in: Bagge, Gelting und Lindkvist (Hg.), Feudalism: New Landscapes of Debate, S. 209–212. 19 Historia Roderici, übersetzt in: Simon Barton und Richard Fletcher, The World of El Cid: Chronicles of the Spanish Reconquest (Manchester 2000), S. 99. 20 Ebenda, S. 100. 21 Kaeuper, Medieval Chivalry, S. 69. 22 Ebenda, S. 101. 23 Ebenda. 24 Ebenda, S. 109. 25 Ebenda, S. 111 f. 26 Ebenda, S. 113. 27 Ebenda, S. 117. 28 Ebenda, S. 133. 29 Ebenda, S. 136. 30 Ebenda, S. 137. 31 Richard Fletcher, The Quest for El Cid (Oxford 1989), S. 172. 32 Barton und Fletcher, World of El Cid, S. 138. 33 Fred Eggarter (Übers.), Der Cid. Das altspanische Heldenlied (Stuttgart 1985), Strophe 95, S. 93 f. 34 Fletcher, The Quest for El Cid, S. 174. 35 Der spanisch-arabische Dichter Ibn Bassam, ins Engl. übersetzt ebenda, S. 185. 36 Edwina Livesey, «Shock Dating Result: A Result of the Norman Invasion?», in: Sussex Past & Present 133 (2014), S. 6. 37 Das Rolandslied: Das älteste französische Epos, übers. von Wilhelm Hertz (Stuttgart 1861), S. 154. 38 Ebenda, S. 155.

726 Anmerkungen 39 Die jüngsten Verfilmungen der Artuslegende sind Guy Ritchies King Arthur: Legend of the Sword (2017) und Frank Millers und Tom Wheelers Netflix-Serie Cursed: Die Auserwählte (2020). 40 Chrétien de Troyes, Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal: Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral, Altfranzösisch-Deutsch, übers. u. hg. von Felicitas Olef-Krafft (Stuttgart 2009), S. 9–13. Die Passage inspirierte auch die ersten Seiten von Richard Barber, The Knight and Chivalry (überarb. Ausg.) (Woodbridge 1995), S. 3. 41 Zum Beispiel Thomas Asbridge, Der größte aller Ritter und die Welt des Mittelalters (Stuttgart 2015), die aktuelle Standardbiografie. 42 A. J. Holden (Hg.), S. Gregory, S. (Übers.) und D. Crouch, History of William Marshal I – Histoire de Guillaume de Maréchal (London 2002), S. 30 f. 43 Ebenda, S. 38 f. 44 Ebenda. 45 Ebenda, S. 52 f. 46 Ebenda, S. 60 f. 47 David Crouch, Tournament (London 2005), S. 8. 48 Ulrich von Zatzikhoven, Lanzelet: Text, Übersetzung, Kommentar, hg. von ­Florian Kragl, 2. Aufl. (Berlin 2013), Z. 2615–2670. 49 Holden et al. (Hg.), History of William Marshal I, S. 186 f. 50 Lancelot ou Le Chevalier de la charrette, in: William W. Kibler (Übers.), Chrétien de Troyes / Arthurian Romances, überarb. Ausg. (London: 2001), S. 264 f. 51 Holden et al. (Hg.), History of William Marshal I, S. 268 f., 276 f. 52 Ebenda, S. 448 f. 53 Ebenda, S. 60–63. 54 Nach der Übersetzung von J. Gillingham, «The Anonymous of Béthune, King John and Magna Carta», in: J. S. Loengard (Hg.), Magna Carta and the England of King John (Woodbridge 2010), S. 37 f. 55 Holden et al. (Hg.), History of William Marshal II, S. 406 f. 56 Marc Morris, A Great and Terrible King: Edward I (London 2008), S. 164. 57 Ebenda. 58 Ein weites Feld, gut in den englischen Kontext eingebett von Gerald Harris, Shaping the Nation: England 1360–1461 (Oxford 2005), S. 136–186. 59 Wie ausführlich dargelegt in Guy Stair Sainty und Rafal Heydel-Mankoo (Hg.), World Orders of Knighthood and Merit (2 Bde.) (Wilmington 2006). 60 Dan Jones, «Meet the Americans Following in the Footsteps of the Knights Templar», in: Smithsonian ( Juli 2018), online archiviert unter www.smithsoni anmag.com/history/meet-americans-following-footsteps-knights-tem plar–180969344/.

Anmerkungen

727 8. Kreuzfahrer

1 Eine ausführliche Schilderung der Schlacht von Manzikert findet sich in John Haldon, The Byzantine Wars (Stroud 2008), S. 168–181. 2 Für eine kurze Zusammenfassung des Themas siehe Dan Jones, Crusaders: An Epic History of the Wars for the Holy Lands (London 2019), S. 30–41. Eine ausführlichere Darstellung bietet Colin Morris, The Papal Monarchy: The Western Church, 1050–1250 (Oxford 1989). 3 Siehe H. E. J.  Cowdrey, «The Peace and the Truce of God in the Eleventh ­Century», in: Past & Present 46 (1970), S. 42–67. 4 Die beste Darstellung zur Motivation für den Ersten Kreuzzug in Reaktion auf Bitten aus Byzanz bietet Peter Frankopan, The First Crusade: The Call From the East (London 2012). 5 Bertholds und Bernolds Chroniken, hg. von Ian Stuart Robinson, übers. von Helga Robinson-Hammerstein, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters: Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe, Bd.  14 (Darmstadt 2002), S. 413. 6 H. E. J. Cowdrey (Übers.), The Register of Pope Gregory: 1073–1085: An English Translation (Oxford 2002), S. 50 f. 7 Frances Rita Ryan und Harold S. Fink (Hg.), Fulcher of Chartres: A History of the Expedition to Jerusalem, 1095–1127 (Knoxville 1969), S. 65 f. 8 Carole Sweetenham (Übers.), Robert the Monk ’s History of the First Crusade: Historia Iherosolimitana (Abingdon 2016), S. 81. 9 Siehe Robert, Chazan, In the Year 1096: The First Crusade and the Jews (Phila­ delphia 1996). 10 Albert von Aachen, Geschichte des ersten Kreuzzugs, übers. u. eingel. von Hermann Hefele ( Jena 1923), Buch I, Kap. 26–28. 11 Anna Komnene, Alexias, übers., eingel. und mit Anm. vers. von Diether Roderich Reinsch (Köln 1996), Buch X, Kap. 5, S. 335. 12 Ebenda, Buch XIII, Kap. 10, S. 459. 13 Albert von Aachen, Geschichte des ersten Kreuzzugs, Buch III, Kap. 4. 14 Rosalind Hill (Hg.), Gesta Francorum et Aliorum Hierosoliminatorum: The Deeds of the Franks and the Other Pilgrims to Jerusalem (Oxford 1962), S. 19 f. 15 Albert von Aachen, Geschichte des ersten Kreuzzugs, Buch IV, Kap. 23. 16 John Hugh Hill und Laurita L. Hill (Übers.), Raymond d ’Aguilers / Historia Francorum Qui Ceperunt Iherusalem (Philadelphia 1968), S. 127. 17 D. S. Richards (Übers.), The Chronicle of Ibn al-Athir for the Crusading P ­ eriod from al-Kamil fi ’l Ta ’rikh I (Farnham 2006), S. 22. 18 Die Reise wird auf unterhaltsame Weise in den nordischen Sagen beschrieben, siehe Snorri Sturluson, Heimskringla: Sagen der nordischen Könige, hg., übers. und komm. von Hans-Jürgen Hube (Wiesbaden 2006), S. 584–606.

728 Anmerkungen 19 John Wilkinson, Joyce Hill und W. F.  Ryan, Jerusalem Pilgrimage 1099–1185 (London 1988), S. 100. 20 Ebenda, S. 171. 21 Jonathan Riley-Smith, The First Crusaders, 1095–1131 (Cambridge 1997), S. 169–188. 22 David Jacoby, Medieval Trade in the Eastern Mediterranean and Beyond ­(Abingdon 2018), S. 109–116. 23 Ehud Galili, Baruch Rosen, Sarah Arenson, Yoram Nir‐El und David Jacoby, «A Cargo of Lead Ingots from a Shipwreck off Ashkelon, Israel 11th–13th Centuries AD», in: International Journal of Nautical Archaeology 48 (2019), S. 453–465. 24 Ryan und Fink (Hg.), Fulcher of Chartres: A History of the Expedition to ­Jerusalem, S. 150. 25 Eugens Kreuzzugsbulle Quantum Praedecessores (1145) in englischer Übersetzung in: Jonathan und Louise Riley-Smith (Hg.), The Crusades: Idea and Reality, 1095–1274 (London 1981), S. 57 ff. 26 Virginia Gingerick Berry, Odo of Deuil / De Profectione Ludovici VII in Orientam (New York 1948), S. 8 f. 27 J. Bédier und S. Aubry (Hg.), Les Chansons de Croisade avec Leurs Melodies (Paris 1909), S. 8 ff. 28 Die beste Einführung zum Thema Zweiter Kreuzzug bietet Jonathan Phillips, The Second Crusade: Extending the Frontiers of Christianity (New Haven 2008). 29 Emily Atwater Babcock und A. C. Krey (Übers.), A History of Deeds Done Beyond the Sea: By William Archbishop of Tyre II (New York 1943), S. 180. 30 Die beste Einführung zum Thema bietet Eric Christiansen, The Northern Crusades, 2. Aufl. (London 1997). 31 Die aktuellste Biografie ist Jonathan Phillips, The Life and Legend of the ­Sultan Saladin (London 2019). 32 Roland Broadhurst (Übers.), The Travels of Ibn Jubayr (London 1952), S. 311. 33 Malcolm Barber und Keith Bate, Letters from the East: Crusaders, Pilgrims and Settlers in the 12th–13th Centuries (Farnham 2010), S. 76. 34 Lotario de Segni (Papst Innozenz  III.), Vom Elend des menschlichen Daseins, übers. und eingel. von Carl-Friedrich Geyer (Hildesheim 1990). 35 Alister E. McGrath, The Christian Theology Reader, S. 498. 36 Jessalyn Bird, Edward Peters und James M. Powell, Crusade and Christendom: Annotated Documents in Translation from Innocent III to the Fall of Acre, 1187– 1291 (Philadelphia 2013), S. 32. 37 Die grundlegenden Texte zum Vierten Kreuzzug sind Jonathan Phillips, The Fourth Crusade and the Sack of Constantinople (London 2011), und Michael ­Angold, The Fourth Crusade: Event and Context (Abingdon 2014).

Anmerkungen

729

38 Konstantinopel 1204: Die Hystoria Constantinopolitana des Gunther von Pairis und andere Berichte vom Vierten Kreuzzug, Lateinisch-Deutsch, übers. und komm. von Gernot Krapinger (Stuttgart 2020), S. 27. 39 Harry J. Magoulias (Übers.), O City of Byzantium, Annals of Niketas Choniates (Detroit 1984), S. 316. 40 Riley-Smith, The Crusades: Idea and Reality, S. 156. 41 Ebenda, S. 78 f. 42 Ebenda, S. 81. 43 Siehe Malcolm Barber, The Trial of the Templars, 2. Aufl. (Cambridge 2006); Dan Jones, Die Templer: Aufstieg und Untergang von Gottes heiligen Kriegern, 2. Aufl. (München 2021).

Dritter Teil: Wiedergeburt (ca. 1215 bis 1347) 9. Mongolen 1 Edward Peters (Hg.), Christian Society and the Crusades 1198–1229. Sources in Translation including The Capture of Damietta by Oliver of Paderborn (Philadelphia 1971), S. 113. 2 Der Text von Jacques de Vitrys Brief über «König David» ist als Relatio de ­Davide bekannt und ist (auf Französisch) enthalten in: R. B. C.  Huygens (Hg. und Übers.), Lettres de Jacques de Vitry, Edition Critique (Leiden 1960), S. 141–150. 3 Der berühmte gefälschte Brief des Priesterkönigs Johannes an den byzantinischen Kaiser Manuel I. Komnenos ist übersetzt in Malcolm Barber und Keith Bate, Letters from the East: Crusaders, Pilgrims and Settlers in the 12th–13th Centuries (Farnham 2013), S. 62–68. 4 Zum Verhältnis zwischen dem Priesterkönig Johannes und «König David» siehe Bernard Hamilton, «Continental Drift: Prester John ’s Progress through the Indies» in: Joan-Pau Rubiés, Medieval Ethnographies: European Perceptions of the World Beyond (Abingdon 2016). 5 Richard Smith, «Trade and Commerce across Afro-Eurasia», in: Benjamin Z. Kedar und Merry  E. Weisner-Hanks, The Cambridge World History Bd. 5: ­Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500  C.E–1500  C. E. (Cambridge 2013), S. 246. 6 Manfred Taube (Übers.), Geheime Geschichte der Mongolen (München 2005), S. 5. 7 Ebenda, S. 18. 8 Neil Pederson, Amy E. Hessl, Nachin Baatarbileg, Kevin J. Anchukaitis und

730 Anmerkungen Nicola Di Cosmo, «Pluvials, Droughts, the Mongol Empire, and Modern Mongolia», in: Proceedings of the National Academy of Sciences (25. März 2014). 9 Michael Biran, «The Mongol Empire and Inter-Civilizational Exchange», in: Benjamin Z. Kedar und Merry E. Weisner-Hanks, The Cambridge World History Vol. 5: Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500  C. E.  – 1500  C. E. (Cambridge 2013), S. 538. 10 Ebenda, S. 546. 11 Manfred Taube (Übers.), Geheime Geschichte der Mongolen, S.136. 12 Ebenda, S. 119. 13 Ebenda, S. 181. 14 J. A. Boyle (Übers.), Genghis Khan: The History of the World Conqueror by ’Ala-ad-Din ’Ata-Malik Juvaini, überarb. Aufl. (Manchester 1997), S. 107. 15 Frank McLynn, Genghis Khan: The Man Who Conquered the World (London 2015), S. 299. 16 Zitiert nach ebenda, S. 327. 17 Joachim Dietze (Hg.), Die Erste Novgoroder Chronik nach ihrer ältesten Redaktion (Synodalhandschrift) 1016–1333/1352 (München 1971), S. 94. 18 Ebenda, S. 96. 19 D. S.  Richard, The Chronicle of Ibn al-Athir for the Crusading Period from ­al-Kamil fi ’l Ta ’ rikh III (Farnham 2006), S. 215. 20 Eine lebhafte Diskussion der verschiedenen möglichen Todesursachen bietet McLynn, Genghis Khan, S. 378 f. 21 Marco Polo, Von Venedig nach China: Die größte Reise des 13. Jahrhunderts, neu hg. und komm. von Theodor A. Knust (Stuttgart 1983), S. 103. 22 Maurice Michael (Übers.), The Annals of Jan Długosz: Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae (Chichester 1997), S. 180. 23 Eine detaillierte Beschreibung des Kreuzzugs gegen die Mongolen bietet Peter Jackson, «The Crusade against the Mongols», in: Journal of Ecclesiastical History 42 (1991), S. 1–18. 24 Ebenda, S. 15, Anm. 72. 25 Janet Martin, Medieval Russia, 980–1584, 2. Aufl. (Cambridge 2007), S. 155. 26 Serge Zenokovsky, Medieval Russia ’s Epics, Chronicles and Tales (New York 1974), S. 202. Siehe auch Martin, Medieval Russia, S. 151. 27 Johannes von Plano Carpini, Kunde von den Mongolen: 1245–1247, übers., ­eingel. und erl. von Felicitas Schmieder (Sigmaringen 1997), S. 101. 28 Ebenda, S. 104. 29 Ebenda, S. 106. 30 Ebenda, S. 43. 31 Ebenda, S. 50 f. 32 Ebenda, S. 60.

Anmerkungen

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33 Ebenda, S. 107. 34 Ebenda, S. 117. 35 Für eine ausführliche Darstellung der Gesandtschaften Richtung Osten, da­ runter viele im Auftrag von Papst Innozenz  IV., siehe Igor de Rachewiltz, ­Papal Envoys to the Great Khans (London 1971). 36 Wilhelm von Rubruk, Beim Großkhan der Mongolen, 1253–1255, hg. von Hans Dieter Leicht (Lenningen 2003), S. 188 f. 37 Ebenda, S. 201. 38 Ebenda, S. 226. 39 Für eine Diskussion der verschiedenen möglichen Todesursachen und der Quellen, in denen sie genannt werden, siehe Stephen Pow, «Fortresses that Shatter Empires: A look at Möngke Khan ’s failed campaign against the Song Dynasty, 1258–1259», in: Gerhard Jaritz, Kyra Lyublyanovics, Judith A. Rasson, und Zsuzsanna Reed (Hg.), Annual of Medieval Studies at CEU 23 (2017), S. 96–107. 40 Barber und Bate, Letters from the East, S. 157 ff. 41 Martin, Medieval Russia, S. 156. 42 H. A. R. Gibb (Übers.), Ibn Battuta: Travels in Asia and Africa 1325–1354 (London 1929), S. 166. Siehe auch Ibn Battuta, Die Wunder des Morgenlandes: Reisen durch Afrika und Asien (München 2010), S. 70. 43 Peter Jackson, The Mongols and the West, 1221–1410 (Abingdon 2005), S. 236. 44 Ebenda, S. 237. 45 Syed Jamaluddin, «Samarqand as the First City in the World under Temür», in: Proceedings of the Indian History Congress 56 (1995), S. 858 ff. 46 Biran, «The Mongol Empire and inter-civilizational exchange», S. 553 f. 47 Jack Weatherford, Genghis Khan and the Quest for God (New York 2016).

10. Kaufleute 1 Marco Polo, Von Venedig nach China: Die größte Reise des 13. Jahrhunderts, neu hg. und komm. von Theodor A. Knust (Stuttgart 1983), S. 21. 2 Ebenda, S. 124 ff. 3 Ebenda, S. 129. 4 Ebenda, S. 33. 5 Ebenda, S. 76. 6 Ebenda, S. 78 f. 7 Ebenda, S. 83. 8 Ebenda, S. 96. 9 Ebenda, S. 99. 10 Ebenda, S. 214.

732 Anmerkungen 11 Ebenda, S. 267. 12 Ebenda, S. 278 f. 13 Ebenda, S. 297. 14 Ebenda, S. 307 ff. 15 Ebenda, S. 231–245. 16 Ebenda, S. 57 f. 17 Ebenda, S. 166. 18 Ebenda, S. 172. 19 Nick Blegen, «The Earliest Long-Distance Obsidian Transport: Evidence from the ~200 ka Middle Stone Age Sibilo School Road Site, Baringo, Kenya», in: Journal of Human Evolution 103 (2017), S. 1–19. 20 Gojko Barjamovic, Thomas Chaney, Kerem Cosar und Ali Hortaçsu, «Trade, Merchants and the Lost Cities of the Bronze Age», in: The Quarterly Journal of Economics 134 (2019), S. 1455–1503. 21 Herodot, Historien, übers., hg. und erläutert von Heinz-Günther Nesselrath, 5., neu bearb. Aufl. (Stuttgart 2017), Buch 4, Kapitel 152,3, S. 353. 22 Robert  S. Lopez, The Commercial Revolution of the Middle Ages, 950–1350 (Cambridge 1976), S. 8. 23 Michael McCormick, Origins of the European Economy: Communications and Commerce, A. D. 300–900 (Cambridge 2001), S. 729–734. 24 Edwin S. Hunt und James Murray, A History of Business in Medieval Europe, 1200–1550 (Cambridge 1999), S. 20–23. 25 Ebenda, S. 26. 26 Lopez, Commercial Revolution, S. 60 f. 27 Zu anderen regionalen Messen, vor allem nach 1350, siehe S. R. Epstein, «Regional Fairs, Institutional Innovation, and Economic Growth in Late Medieval Europe», in: The Economic History Review 47 (1994), S. 459–482. 28 Wim Blockmans, «Transactions at the Fairs of Champagne and Flanders, 1249–1291», in: Fiere e mercati nella integrazione delle economie europee secc. XIII–XVIII – Atti delle Settimane di Studi 32, S. 993–1000. 29 J. A. Boyle (Übers.), Genghis Khan: The History of the World Conqueror / by ’Ala-ad-Din ’Ata-Malik Juvaini, überarb. Aufl. (Manchester 1997), S. 272. 30 T. H.  Lloyd, The English Wool Trade in the Middle Ages (Cambridge 1977), S. 1 ff. 31 Der Rat des Bardibankiers Francesco Balducci Pegolotti an florentinische Kaufleute, die Geschäfte mit den Chinesen machten, ist in seinem Handbuch für Händler enthalten, La Practica della Mercatura. Siehe Allan Evans (Hg.), Francesco Balducci Pegolotti / La Practica della Mercatura (Cambridge, Mass., 1936). Siehe auch Lopez, Commercial Revolution, S. 109 ff., und Edwin S. Hunt, The Medieval Super-Companies: A Study of the Peruzzi Company of Florence (Cambridge 1994), S. 128 f.

Anmerkungen

733

32 Edwin S. Hunt, «A New Look at the Dealings of the Bardi and Peruzzi with Edward III», in: The Journal of Economic History 50 (1990), S. 151–154. 33 Die Ordinances von 1311, ins Engl. übersetzt in: Harry Rothwell (Hg.), English Historical Documents III: 1189–1327, neue Ausg. (London 1996), S. 533. 34 Allen Evans (Hg.), Francesco Balducci Pegolotti / La Practica della Mercatura (Cambridge, Mass., 1936), S. 255–269. 35 Hunt, «A New Look at the Dealings of the Bardi and Peruzzi with Edward III», S. 149 f. 36 Eileen Power, The Wool Trade in Medieval English History (Oxford 1941), S. 43. 37 Siehe E. B. Fryde, «The Deposits of Hugh Despenser the Younger with Italian Bankers», in: The Economic History Review 3 (1951), S. 344–362. 38 Ebenda. Natürlich besteht für Historiker die Gefahr, dass sie beim Anblick einer Fülle neuer Unterlagen annehmen, eine Revolution sei in Gang, doch selbst wenn man diesen Aspekt berücksichtigt, ist offensichtlich, dass der Handel im Spätmittelalter boomte. 39 Lloyd, The English Wool Trade in the Middle Ages, S. 144–150. 40 Mark Ormrod, Edward III (New Haven 2011), S. 230. 41 Hunt, Medieval Super-Companies, S. 212–216. 42 Hunt, «A New Look at the Dealings of the Bardi and Peruzzi with Edward III», sieht Villanis Schätzung von Eduards Schulden ebenso kritisch wie das Verhalten der Historiker, die sie unhinterfragt akzeptieren. 43 Diego Puga und Daniel Trefler, «International Trade and Institutional Change: Medieval Venice ’s Response to Globalization», in: The Quarterly Journal of Economics 129 (2014), S. 753–821. 44 Roger L. Axworthy, «Pulteney [Neale], Sir John (d. 1349)», in: Oxford Dictionary of National Biography. 45 Marion Turner, Chaucer: A European Life (Princeton 2019), S. 22–28. 46 Ebenda, S. 145 ff. 47 Caroline M. Barron, «Richard Whittington: The Man behind the Myth», in: A. E. J. Hollaender und William Kellaway, Studies in London History (London 1969), S. 198. 48 Nigel Saul, Richard II (New Haven 1997), S. 448 f. 49 Barron, «Richard Whittington: The Man behind the Myth», S. 200. 50 Siehe Jonathan Sumption, Cursed Kings: The Hundred Years War IV (London 2015), S. 208. 51 Barron, «Richard Whittington: The Man behind the Myth», S. 206, 237. 52 Anne  F. Sutton, «Whittington, Richard [Dick]», in: Oxford Dictionary of ­National Biography (2004). 53 Sumption, Cursed Kings, S. 419 ff. 54 Barron, «Richard Whittington: The Man behind the Myth», S. 237. 55 Anne Curry, Agincourt (Oxford 2015), S. 189 f.

734 Anmerkungen 11. Gelehrte 1 Martin Bouquet (Hg.), Receuil des historiens des Gaules et de la France 21 (Paris 1855), S. 649. Siehe auch Paul F. Crawford, «The University of Paris and the Trial of the Templars», in: Victor Mallia-Milanes (Hg.), The Military Orders, Bd. 3: History and Heritage (London 2008), S. 115. 2 Ebenda, S. 244 f. 3 Laut Clemens V. hatte ihn Philipp wegen der Templer bereits bei seiner Papstkrönung 1305 in Lyon unter Druck gesetzt. Siehe Malcolm Barber und Keith Bate (Hg. und Übers.), The Templars (Manchester 2002), S. 243. 4 Malcom Barber, The Trial of the Templars, 2. Aufl. (Cambridge 2006), S. 80. 5 In der unter dem Titel Pastoralis Praeeminentiae bekannten Bulle vom November 1307. Eine detaillierte Darstellung der Ereignisse bei der Vernichtung des Templerordens bieten Barber, The Trial of the Templars, oder auch Dan Jones, Die Templer: Aufstieg und Untergang von Gottes heiligen Kriegern, 2. Aufl. (München 2021). 6 C. R. Cheney, «The Downfall of the Templars and a Letter in their Defence», in: F. Whitehead, A. H. Divernes und F. E. Sutcliffe, Medieval Miscellany Presented to Eugène Vinaver (Manchester 1965), S. 65–79. 7 Übersetzt nach Barber und Bate, The Templars, S. 258 ff. 8 Barber und Bate, The Templars, S. 262. 9 Crawford, «The University of Paris and the Trial of the Templars», S. 120. 10 Übersetzung nach Stephen  A. Barney, W. J.  Lewis, J. A. Beach und Oliver Berghof (Hg.), The Etymologies of Isidore of Seville (Cambridge 2006), S. 7. 11 Zu den Igeln siehe Nicole Eddy und Mary Wellesley, «Isidore of Seville ’s ­Etymologies: Who ’s Your Daddy?», in: British Library Medieval Manuscripts Blog (2016), https://blogs.bl.uk/digitisedmanuscripts/2016/04/isidore-of-seville. html. 12 Seb Falk, The Light Ages: A Medieval Journey of Discovery (London 2020), S. 83. 13 Barney et al. (Hg.), The Etymologies of Isidore of Seville, S. 16. 14 Ebenda, S. 7. 15 Hieronymus, Epistulae, Brief 107: «An Laeta über die Erziehung ihrer Tochter», in: Des heiligen Kirchenvaters Eusebius Hieronymus ausgewählte Briefe, übers. von Ludwig Schade, Bd. 2–3 (Kempten, München 1936–1937). 16 Charles Homer Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century (Cambridge, Mass., 1927), S. 34. 17 Zu Bec siehe ebenda, S. 38. 18 Eine Einführung in das Thema bietet Paul Vincent Spade, «Medieval Philo­ sophy», in: Edward  N. Zalta (Hg.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Sommer 2018). Detaillierter ist Raymond Klibancky, The Continuity of the

Anmerkungen

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­ latonic Tradition during the Middle Ages, Outlines of a Corpus Platonicum Medii P Aevi (London 1939). 19 Eine rückblickend gestellte Diagnose lautet Zerebralparese, also Bewegungsstörungen aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung. Für eine zeitgenössische Beschreibung von Hermanns Krankheit siehe Ian S. Robinson, Eleventh Century Germany: The Swabian Chronicles (Manchester 2008), S. 108. 20 Berthold von der Reichenau, Vita Herimanni, in: Bertholds und Bernolds Chroniken, hg. von Ian Stuart Robinson, übers. von Helga Robinson-Hammerstein, Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters (Darmstadt 2002), S. 37. 21 Ebenda, S. 39. Siehe auch Falk, The Light Ages, S. 49 f. 22 Siehe Charles Burnett, «Morley, Daniel of», in: Oxford Dictionary of National Biography. 23 Nach Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century. 24 Ebenda, S. 129 ff. 25 Terence Smith, «The English Medieval Windmill», in: History Today 28 (1978). 26 Siehe Paolo Nardi, «Relations with Authority», in: Hilde De Ridder-Symoens (Hg.), A History of the University in Europe I (Cambridge 1992), S. 77 ff. 27 Denys Turner, Thomas Aquinas: A Portrait (New Haven 2013), S. 12. 28 Bei den hier und im Anschluss wiedergegebenen Ereignissen stütze ich mich auf die biografische Zusammenfassung in Eleonore Stump, Aquinas (London 2003), S. 3–12. 29 Auszüge aus diesem enormen Werk finden sich (auf Englisch) in der gut zu ­lesenden Zusammenstellung von Timothy McDermott, Aquinas  / Selected Philosophical Writings (Oxford 2008). Zu einer neuen deutschen Fassung siehe das laufende Projekt: Die Übersetzung der Summa theologiae für das 21. Jahrhundert: https://summa21.de/. 30 T. H. Aston, «Oxford ’s Medieval Alumni», in: Past & Present 74 (1977), S. 6. 31 Zitiert nach Michael Markowski, abgerufen unter https://sourcebooks.ford ham.edu/source/eleanor.asp. 32 Malcolm de Mowbray, «1277 and All that – Students and Disputations», in: Traditio 57 (2002), S. 217–238. 33 De Ridder-Symoens, A History of the University in Europe I (Cambridge 1992), S. 100 f. 34 Die Auswirkungen von Arundels Constitutiones werden untersucht in K. Ghosh und V. Gillespie (Hg.), After Arundel: Religious Writing in FifteenthCentury England (Turnhout 2011). Danke an Dr. David Starkey  – einen ge­ ächteten Häretiker unserer Zeit –, der mich in diesem Zusammenhang auf Arundel hingewiesen hat.

736 Anmerkungen 12. Baumeister 1 Calendar of Various Chancery Rolls: Supplementary Close Rolls, Welsh Rolls, Scutage Rolls, A. D. 1277–1326 (London 1912), S. 281. 2 Die Details der Hinrichtung wurden von dem Chronisten Thomas Wykes aus Oxfordshire festgehalten. Siehe H. R. Luard, Annales Monastici, Bd. 4 (London 1869), S. 294. 3 Für eine Biografie von Master James siehe A. J.  Taylor, «Master James of St. George», in: The English Historical Review 65 (1950), S. 433–457. 4 Informationen zum römischen Stützpunkt und eine hervorragende Darstellung des Baus von Caernarfon bietet H. M. Colvin (Hg.), The History of the King ’s Works I: The Middle Ages (London 1963), S. 369–395. 5 Jeffrey Gantz (Übers.), The Mabinogion (London 1973), S. 119 f. 6 Für einen Plan der Festung siehe Colvin (Hg.), History of the King ’s Works  I, S. 376. 7 Nick Barratt, «The English Revenue of Richard I», in: The English Historical Review 116 (2001), S. 637. 8 Colvin, History of the King ’s Works I, S. 333. 9 Ebenda, S. 344. 10 Ebenda, S. 371–374. 11 Ebenda, S. 395–408. 12 J. M.  Bradbury, The Capetians: Kings of France 987–1328 (London 2007), S. 205. 13 Eine Einführung zum Thema bietet Roger Stalley, Early Medieval Architecture (Oxford 1999). 14 Jean Bony, French Gothic Architecture of the 12th and 13th Centuries (Berkeley 1983), S. 61. Mein besonderer Dank geht an Dr. Emma Wells, die mir bei diesem umfangreichen Thema beratend zur Seite stand und mir Vorabauszüge aus ­ihrem mittlerweile erschienenen Buch zu lesen gab: Emma Wells, Heaven on Earth: The Lives and Legacies of the World ’s Greatest Cathedrals (London 2022). 15 Siehe zum Beispiel William  W. Clark, «Early Gothic», Oxford Art Online, https://doi.org/10.1093/gao/9781884446054.article.T024729. 16 Erwin Panofsky und Gerda Panofsky-Soergel (Hg.), Abbot Suger on the Abbey Church of St.-Denis and its Art Treasures, 2. Aufl. (Princeton 1979), S. 6. 17 Ebenda, S. 48 f. 18 Alain Erlande-Brandenburg, The Cathedral Builders of the Middle Ages (London 1995), S. 141 f. 19 Panofsky und Panofsky-Soergel, Abbot Suger on the Abbey Church of ­St.-Denis, S. 72 f. 20 Robert A. Scott, The Gothic Enterprise: A Guide to Understanding the ­Medieval Cathedral (Berkeley 2003), S. 132.

Anmerkungen

737

21 Christopher Wilson, The Gothic Cathedral: The Architecture of the Great Church, 1130–1530 (London 2000), S. 44. 22 Erlande-Brandenburg, Cathedral Builders of the Middle Ages, S. 47. 23 Siehe Maury I. Wolfe und Robert Mark, «The Collapse of the Vaults of Beauvais Cathedral in 1284», in: Speculum 51 (1976), S. 462–476. 24 Wilson, The Gothic Cathedral, S. 224. 25 Jonathan Foyle, Lincoln Cathedral: The Biography of a Great Building (London 2015), S. 19. 26 Erlande-Brandenburg, Cathedral Builders of the Middle Ages, S. 105 ff. 27 Foyle, Lincoln Cathedral, S. 34 f. 28 Obwohl England nicht auf größeren seismischen Verwerfungslinien liegt, hat es eine relativ ereignisreiche Bilanz an Erdbeben. Siehe R. M. W.  Musson, «A History of British Seismology», in: Bulletin of Earthquake Engineering 11 (2013), S. 715–861, worin auch das Erdbeben von 1185 erwähnt wird. Siehe ­außerdem R. M. W. Musson, «The Seismicity of the British Isles to 1600», in: British Geological Survey Open Report (2008), S. 23. 29 Zur Westseite siehe David Taylor, «The Early West Front of Lincoln Cathedral», in: Archaeological Journal 167 (2010), S. 134–164. 30 Charles Garton (Übers.), The Metrical Life of St Hugh (Lincoln 1986), S. 53. 31 Decima L. Douie und David Hugh Farmer, Magna Vita Sancti Hugonis / The Life of St Hugh of Lincoln II (Oxford 1985), S. 219. 32 Ebenda, S. 231. 33 Siehe dazu Stuart Harrison, «The Original Plan of the East End of St Hugh ’s Choir at Lincoln Cathedral Reconsidered in the Light of New Evidence», in: Journal of the British Archaeological Association 169 (2016), S. 1–38. 34 Wilson, The Gothic Cathedral, S. 184. 35 Ebenda, S. 191–223. 36 Ebenda, S. 192. 37 Eine Zusammenfassung dieser sich überschneidenden Konflikte bietet Christopher Hibbert, Florence: The Biography of a City (London 1993), S. 18–34. 38 Für Argumente, warum Italien die Gotik ablehnte, die in anderen Ländern so dominierte, siehe Wilson, The Gothic Cathedral, S. 258 f. 39 Eine detaillierte Analyse von Arnolfos Entwurf findet sich ebenso wie Argumente, warum er der maßgebliche Architekt des Doms von Florenz war, bei Franklin Toker, «Arnolfo ’s  S. Maria del Fiore: A Working Hypothesis», in: Journal of the Society of Architectural Historians 42 (1983), S. 101–120. 40 Ross King, Brunelleschi ’s Dome: The Story of the Great Cathedral in Florence (London 2000), S. 6. 41 Siehe Joachim Poeschke, «Arnolfo di Cambio», in: Grove Art Online https:// doi.org/10.1093/gao/9781884446054.article.T004203. 42 King, Brunelleschi ’s Dome, S. 10.

738 Anmerkungen Vierter Teil: Revolution (ca. 1348 bis 1527) 13. Überlebende 1 Wendy R. Childs (Übers.), Vita Edwardi Secundi (Oxford 2005), S. 120 f. Zu den Preisschwankungen siehe Philip Slavin, «Market Failure during the Great Famine in England and Wales (1315–1317)», in: Past & Present 222 (2014), S. 14–18. 2 Das Standardwerk zur Hungersnot ist William C. Jordan, The Great Famine: Northern Europe in the Early Fourteenth Century (Princeton 1996). Siehe auch Ian Kershaw, «The Great Famine and Agrarian Crisis in England 1315–1322», in: Past & Present 59 (1973), S. 3–50, und aktueller Bruce  M. S. Campbell, ­«Nature as Historical Protagonist: Environment and Society in Pre-Industrial England», in: The Economic History Review 63 (2010), S. 281–314. 3 Philip Slavin, «The Great Bovine Pestilence and its Economic and Environmental Consequences in England and Wales, 1318–50», in: The Economic History Review 65 (2012), S. 1240 ff. 4 Kershaw, «The Great Famine», S. 11. 5 Johannes de Trokelowe, in: Riley, H. T. (Hg.), Chronica Monasterii S. Albani III (London 1865), S. 92–95. Auch in Irland wurde über Kannibalismus berichtet. Kershaw, «The Great Famine», S. 10, Fußn. 41. 6 Childs (Übers.), Vita Edwardi Secundi, S. 120–123. 7 Siehe zum Beispiel Gifford H. Miller (et al.), «Abrupt Onset of the Little Ice Age Triggered by Volcanism and Sustained by Sea‐Ice/Ocean Feedbacks», in: Geophysical Research Letters 39 (2012), https://doi.org/10.1029/2011GL050168; TianJun Zhou (et al.), «A Comparison of the Medieval Warm Period, Little Ice Age and 20th Century Warming Simulated by the FGOALS Climate ­System Model», in: Chinese Science Bulletin 56 (2011), S. 3028–3041. 8 Die aktuelle Forschung nennt starke Argumente für ein Vorkommen des Schwarzen Todes in den Ländern südlich der Sahara während des Mittel­ alters. Siehe Monica  H. Green, «Putting Africa on the Black Death Map: ­Narratives from Genetics and History», in: Afriques 9 (2018), https://doi. org/10.4000/afriques.2125. 9 Siehe zum Beispiel die Beschreibung der Symptome und der Übertragung über Tiere und Vögel bei Christos  S. Bartsocas, «Two Fourteenth-Century Greek Descriptions of the ‹Black Death›», in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 21 (1966), S. 395. 10 Zum Ausbleiben der Infektionswelle in Indien siehe George  D. Sussman, «Was the Black Death in India and China?», in: Bulletin of the History of Medicine 85 (2011), S. 332–341.

Anmerkungen

739

11 Gabriele de Mussis, Ystoria de morbo sive mortalitate quae fuit anno Domini 1348, zitiert in Klaus Bergdolt (Hg.), Die Pest 1348 in Italien: Fünfzig zeitgenössische Quellen (Heidelberg 1989), S. 20. 12 Ebenda, S. 21. 13 Ebenda, S. 22 f. 14 Zitiert nach Rosemary Horrox (Hg. und Übers.), The Black Death (Manchester 1994), S. 19. 15 Die These, dass Böhmen wundersamerweise vom Schwarzen Tod verschont blieb, war lange populär, wurde jedoch kürzlich widerlegt. Siehe David  C. Mengel, «A Plague on Bohemia? Mapping the Black Death», in: Past & Present 211 (2011), S. 3–34. 16 Horrox, The Black Death, S. 111–184, passim. 17 Ebenda, S. 250. 18 Bartsocas, «Two Fourteenth-Century Greek Descriptions», S. 395. 19 Francesco Petrarca, Dichtungen  – Briefe  – Schriften, hg. und eingel. von Hanns W. Eppelsheimer (Frankfurt am Main 1956), S. 61. 20 Francesco Petrarca, «Brief an Socrates», Ep. VIII, 8, in: Familiaria: Bücher der Vertraulichkeiten, hg. von Berthe Widmer, Bd. 1 (Berlin 2005), S. 438. 21 Mit der Metapher des «Schwarzen Schwans» für ein unerwartetes Ereignis beziehe ich mich auf Nassim Nicholas Taleb, Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse (München 2008). 22 Edward Maunde Thompson (Hg.), Adae Murimuth Continuatio Chronicarum / Robertus De Avesbury De Gestis Mirabilibus Regis Edwardi Tertii (London 1889), S. 407 f. 23 Norman Cohn, The Pursuit of the Millennium: Revolutionary Millenarians and Mystical Anarchists of the Middle Ages (London 1970), S. 125. 24 Horrox, The Black Death, S. 118. 25 J. R.  Lumby (Hg.), Chronicon Henrici Knighton vel Cnitthon, Monachi ­Leycestrensis II (London 1895), S. 58. 26 Ebenda. 27 Ins Englische übersetzte Auszüge aus dem Arbeiterstatut und eine Zusammenfassung finden sich in A. R. Myers, English Historical Documents IV, 1327– 1485 (London 1969), S. 993 f. 28 Wie es Barbara Tuchman im Titel ihres Buchs Der ferne Spiegel. Das dramatische 14. Jahrhundert (Düsseldorf 1980) formuliert. 29 Chris Wickham, «Looking Forward: Peasant Revolts in Europe, 600–1200», in: Justine Firnhaber-Baker und Dirk Schoenaers (Hg.), The Routledge History Handbook of Medieval Revolt (Abingdon 2017), S. 156. 30 Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean 400–800 (Oxford 2005), S. 530 ff. 31 Wickham, «Looking Forward», S. 158–162.

740 Anmerkungen 32 Snorri Sturluson, Heimskringla: Sagen der nordischen Könige, hg., übers. und komm. von Hans-Jürgen Hube (Wiesbaden 2006), S. 341. 33 Siehe Megan Cassidy-Welch, «The Stedinger Crusade: War, Remembrance, and Absence in Thirteenth-Century Germany», in: Viator 44 (2013), S. 159– 174. 34 Samuel Cohn Jr., «Women in Revolt in Medieval and Early Modern Europe», in: Firnhaber-Baker und Schoenaers, The Routledge History Handbook of Medieval Revolt, S. 209. 35 William Burton Wilson (Übers.), John Gower / Mirour de l ’Omme (The Mirror of Mankind) (Woodbridge 1992), S. 347 f. 36 Eine kurze, klassische Zusammenfassung des Aufstands bietet Raymond ­Cazelles, «The Jacquerie», in: R. H. Hilton und T. H. Aston, The English Rising of 1381 (Cambridge 1984), S. 74–83. Das neue Standardwerk (auf Englisch) ist ­Justine Firnhaber-Baker, The Jacquerie of 1358: A French Peasants ’ Revolt ­(Oxford 2021). 37 Übersetzung nach Samuel K. Cohn Jr., Popular Protest in Late Medieval Europe (Manchester 2004), S. 150 f. 38 Zur Bezeichnung der Jacques siehe Justine Firnhaber-Baker, «The Eponymous Jacquerie: Making Revolt Mean Some Things» in: Firnhaber-Baker und Schoenaers, The Routledge History Handbook of Medieval Revolt, S. 55–75. 39 Jean Froissart, auf Englisch bei Cohn Jr., Popular Protest in Late Medieval ­Europe, S. 155–158. 40 Anonimalle Chronicle, ins Englische übersetzt ebenda, S. 171 ff. 41 Justine Firnhaber-Baker, «The Social Constituency of the Jacquerie Revolt of 1358», in: Speculum 95 (2020), S. 697–701. 42 Cohn Jr., Popular Protest in Late Medieval Europe, S. 121. 43 Ebenda, S. 99. 44 Ebenda, S. 100. 45 Ebenda, S. 235. 46 Ebenda, S. 217. 47 Ebenda, S. 219. 48 Ebenda, S. 269. 49 Siehe B. H.  Putnam, The Enforcement of the Statutes of Labourers during the First Decade after the Black Death, 1349–59 (New York 1908). 50 Siehe Dan Jones, Summer of Blood: The Peasants ’ Revolt of 1381 (London 2009), S. 15 f. 51 Rosamond Faith, «The ‹Great Rumour› of 1377 and Peasant Ideology», in: Hilton und Aston, The English Rising of 1381, S. 47 f. 52 Andrew Prescott, «‹Great and Horrible Rumour›: Shaping the English Revolt of 1381», in: Firnhaber-Baker und Schoenaers, The Routledge History Handbook of Medieval Revolt, S. 78.

Anmerkungen

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53 Balls Briefe sind praktischerweise enthalten in R. B. Dobson, The Peasants ’ Revolt of 1381, 2. Aufl. (London 1983), S. 380–383. 54 Ebenda, S. 311. 55 Cohn Jr., Popular Protest in Late Medieval Europe, S. 341–346; Jonathan Davies, «Violence and Italian Universities during the Renaissance», in: Renaissance Studies 27 (2013), S. 504–516. 56 Davies, «Violence and Italian Universities during the Renaissance», S. 504. 57 Cohn Jr., Popular Protest in Late Medieval Europe, S. 345. 58 Eine kurze Zusammenfassung der Rosenkriege in diesem Zusammenhang bietet Dan Jones, The Hollow Crown: The Wars of the Roses and the Rise of the Tudors (London 2014), S. 111–119. 59 Cades Forderungen sind abgedruckt bei Dobson, The Peasants ’ Revolt, S. 338– 342. 60 Joseph F. O ’ Callaghan, A History of Medieval Spain (Ithaca 1975), S. 614 f.

14. Erneuerer 1 Für eine kurze Geschichte des Studio siehe Paul F. Grendler, «The University of Florence and Pisa in the High Renaissance», in: Renaissance and Reformation 6 (1982), S. 157–165. 2 Zu Filelfos Charakter siehe Diana Robin, «A Reassessment of the Character of Francesco Filelfo (1398–1481)», in: Renaissance Quarterly 36 (1983), S. 202– 224. 3 Es gab sogar Überlegungen, einen speziellen Stuhl in der Kathedrale aufzustellen, auf dem Filelfo sitzen und aus Dantes Werken vorlesen konnte. Siehe Deborah Parker, Commentary and Ideology: Dante in the Renaissance (Durham 1993), S. 53. 4 Simon Gilson, Dante and Renaissance Florence (Cambridge 2005), S. 99. 5 Mary Hollingsworth, The Medici (London 2017), S. 80 f. 6 Übersetzung nach Diana Robin, Filelfo in Milan (Princeton 2014), S. 19 f. 7 Ebenda, S. 45. 8 Vespasiano da Bisticci, Große Männer und Frauen der Renaissance: Achtunddreißig biographische Porträts (München 1995), S. 300. 9 James Hankins (Übers.), Leonardo Bruni  / History of the Florentine People ­Volume I: Books I–IV (Cambridge, Mass., 2001), XVII–XVIII, S. 86–89. 10 Francesco Petrarca, Sonett 9  – «Quando ’ l pianeta che distingue l ’ ore», in: Francesco Petrarca, Canzoniere, nach einer Interlinearübersetzung von Geraldine Gabor in deutsche Verse gebracht von Ernst-Jürgen Dreyer (Basel und Frankfurt am Main 1989), S. 23. 11 Natürlich sind Shakespeares Sonette auch eine Gegenreaktion auf die Petrar-

742 Anmerkungen c­ a ’sche Konvention. Hier möchte ich mich bei Dr. Oliver Morgan bedanken, der mich mit Informationen zu Petrarca und zur Dichtung der Renaissance versorgte. 12 Wilfrid S. Mustard, «Petrarch ’s Africa», in: The American Journal of Philology 42 (1921), S. 97. 13 Petrarca, Sonett 10 – «Gloriosa columna in cui s ’ appoggia», in: Petrarca, Canzoniere, S. 25. 14 Gerhard Regn und Bernhard Huss, «Petrarch ’s Rome: The History of the ­Africa and the Renaissance Project», in: MLN 124 (2009), S. 86 f. 15 Übersetzt nach Ernest  H. Wilkins, «Petrarch ’s Coronation Oration», in: Transactions and Proceedings of the Modern Language Association of America 68 (1953), S. 1243 f. 16 Ebenda, S. 1246. 17 Ebenda, S. 1241. 18 Petrarca, Dichtungen – Briefe – Schriften, hg. und eingel. von Hanns W. Eppelsheimer (Frankfurt am Main 1956), S. 81. 19 Ebenda, S. 88. Siehe auch Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien: Ein Versuch (Stuttgart 1860), S. 403. 20 Richard Vaughan, Philip the Good: The Apogee of Burgundy, Neuaufl. (Woodbridge 2002), S. 67. Vaughan stützt sich hier auf G. Besnier, «Quelques notes sur Arras et Jeanne d ’ Arc», in: Revue du Nord 40 (1958), S. 193 f. 21 Die beste aktuelle Biographie von Jeanne d ’ Arc ist Helen Castor, Joan of Arc: A History (London 2014). Zur Krönung des Dauphin siehe S. 126 f. 22 George Chastellain, Übersetzung nach Vaughan, Philip the Good, S. 127. 23 Ebenda, S. 128. 24 Ebenda, S. 138. Van Eyck hat möglicherweise zur Ausstattung der Räume mit Scherzartikeln beigetragen; auf jeden Fall war er an der Umgestaltung Hesdins beteiligt. Siehe Maximiliaan Martens et al. (Hg.), Van Eyck (London 2020), S. 74. 25 Martens et al. (Hg.), Van Eyck, S. 22. 26 Vaughan, Philip the Good, S. 151. 27 Fritz Schillmann (Hg.), Giorgio Vasari  / Künstler der Renaissance  – Le­ bensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance (Berlin 1948), Bd. I, Teil  2, Kap. 12 (Vita Antonello da Messinas). 28 Martens et al. (Hg.), Van Eyck, S. 70. 29 Ebenda, S. 74. 30 Ebenda, S. 141. 31 Vaughan, Philip the Good, S. 151. 32 Martens et al. (Hg.), Van Eyck, S. 22. 33 Martin Kemp, Leonardo by Leonardo (New York 2019), S. 10.

Anmerkungen

743

34 Leonardo da Vinci, Tagebücher und Aufzeichnungen, hg. und übers. von Theodor Lücke (Leipzig 1940), S. 889 ff. 35 Fritz Schillmann (Hg.), Giorgio Vasari  / Künstler der Renaissance, Bd. II, Teil 3, Kap. 22 (Vita Leonardo da Vincis). 36 Walter Isaacson, Leonardo da Vinci: Die Biografie (Berlin 2018), S. 60 ff. 37 Niccolò Machiavelli, Geschichte von Florenz, übers. von Alfred von Reumont, hg. von Ludwig Goldscheider (Wien 1934), Buch 8, Kap. 11. 38 Ebenda. 39 Isaacson, Leonardo, S. 223. 40 Ebenda, S. 232. 41 Zum Verhältnis zwischen Leonardo und Cesare siehe Paul Strathern, The ­Artist, the Philosopher and the Warrior: Leonardo, Machiavelli and Borgia: A Fateful Collusion (London 2009). 42 Siehe Irma A. Richter (Hg.), Leonardo da Vinci / Notebooks (Oxford 2008), S. 318–324. 43 Pietro C. Marani, Leonardo: Das Werk des Malers (München 2001), S. 179. 44 Fritz Schillmann (Hg.), Giorgio Vasari  / Künstler der Renaissance, Bd. II, Teil 3, Kap. 22 (Vita Leonardo da Vincis). 45 Hans Rupprich (Hg.), Dürers schriftlicher Nachlass, Bd. 1 (Berlin 1956), S. 155. Siehe auch Peter Hess, «Marvellous Encounters: Albrecht Dürer and Early Sixteenth-Century German Perceptions of Aztec Culture», in: Daphnis 33 (2004), S. 163, Anm. 5.

15. Seefahrer 1 Dukas, Chronographia – Byzantiner und Osmanen im Kampf um die Macht und das Überleben (1341–1462), eingel., neu ediert und übers. von Diether Roderich Reinsch (Berlin/Boston 2020), Buch 35, I, S. 437 und Buch 37, I, S. 455. 2 Ebenda, Buch 35, III, S. 439. 3 Rezepte für Schießpulver waren im Mittelmeerraum seit Mitte des 13. Jahrhunderts im Umlauf, vermutlich gelangten sie durch mongolische Eroberungen in den Westen. Die Beschreibung dieser Zusammensetzung findet sich in: Kritobulos, Mehmet  II. erobert Konstantinopel: Die ersten Regierungsjahre des Sultans Mehmet Fatih, des Eroberers von Konstantinopel (1453); das Geschichtswerk des Kritobulos von Imbros, übers., eingel. und erkl. von Diether Roderich Reinsch (Graz 1986), S. 86. 4 Ebenda, S. 82. Siehe auch Jonathan Harris, Constantinople: Capital of Byzantium, 2. Aufl. (London 2017), S. 192. 5 Die klassische Biografie über Mehmed ist Franz Babinger, Mehmed der Eroberer: Weltenstürmer einer Zeitenwende (München 1953).

744 Anmerkungen 6 Kritobulos, Mehmet II. erobert Konstantinopel, S.85. 7 Eine mitreißende Schilderung der Eroberung bietet Roger Crowley, Konstantinopel: Die letzte Schlacht (Stuttgart 2012), S. 195–204. 8 Kritobulos, Mehmet II. erobert Konstantinopel, S.114. 9 Ebenda, S. 121. 10 Crowley, Konstantinopel: Die letzte Schlacht, S. 232. 11 Kritobulos, Mehmet II. erobert Konstantinopel, S. 133. 12 Robert Schwoebel, The Shadow of the Crescent: The Renaissance Image of the Turk, 1453–1517 (New York 1967), S. 11, Siehe auch Crowley, Konstanti­nopel, S. 242. 13 Für eine Diskussion der diplomatischen und kulturellen Bedeutung des Bellini-Porträts siehe Antonia Gatward Cevizli, «Bellini, Bronze and Bombards: Sultan Mehmed II ’s Requests Reconsidered», in: Renaissance Studies 28 (2014), S. 748–765. 14 John Freely, The Grand Turk: Sultan Mehmet II – Conqueror of Constantinople, Master of an Empire and Lord of Two Seas (London 2010), S. 12 f. 15 Peter Frankopan, The Silk Roads: A New History of the World (London 2015), S. 199. 16 Michel Balard, «European and Mediterranean Trade Networks», in: Benjamin Z. Kedar und Merry E. Weisner-Hanks, The Cambridge World History Bd. 5: Expanding Webs of Exchange and Conflict, 500  C.E.–1500  C. E. (Cambridge 2013), S. 283. 17 Eine Zusammenfassung des aktuellen Forschungsstands bietet Ruth Gruhn, «Evidence Grows for Early Peopling of the Americas», in: Nature 584 (August 2020), S. 47 f. 18 Donald Ugent, Tom Dillehay und Carlos Ramirez, «Potato Remains from a Late Pleistocene Settlement in Southcentral Chile», in: Economic Botany 41 (1987), S. 17–27. 19 Eine unterhaltsame und zugleich typische Untersuchung zum Heiligen Brendan bietet Geoffrey Ashe, Land to the West: St Brendan ’s Voyage to America (London 1962). 20 J. F. Webb (Übers.), The Age of Bede, überarb. Ausg (London 1998), S. 236, 266. 21 Aloys Sprenger (Übers.), El-Masudi ’s Historical Encyclopaedia Entitled «Meadows of Gold and Mines of Gems» I (London 1841), S. 282 f. 22 Ebenda. 23 Für eine Zusammenfassung der aktuellen Forschung zu polynesisch-amerikanischen Kontakten im Mittelalter siehe Terry L. Jones et al. (Hg.), Polynesians in America: Pre-Columbian Contacts with the New World (Lanham 2011). 24 Eine hervorragende aktuelle Darstellung zur Erkundung Islands, Grönlands und Nordamerikas durch die Wikinger bietet Price, Children of Ash and Elm, S. 474–494.

Anmerkungen

745

25 Ebenda, S. 491. 26 Zur These einer «globalisierten» Welt um das Jahr 1000 siehe Valerie Hansen, The Year 1000: When Explorers Connected the World – and Globali­zation Began (London 2020). 27 Die englischsprachige Standardbiographie über Heinrich den Seefahrer ist Peter E. Russell, Henry «the Navigator»: A Life (New Haven/London 2000). 28 Eine kurze Zusammenfassung der Umstände, unter denen Johann auf den Thron kam, findet sich in A. R. Disney, A History of Portugal and the Portuguese Empire I (Cambridge 2009), S. 122–128. 29 Fernando Cervantes, Conquistadores: A New History (London 2020), S. 6. 30 Bis zu 30 Tonnen Gold wurden jedes Jahr aus den afrikanischen Minen auf die Märkte des Mittelmeerraums gebracht. Siehe Ray A. Kea, «Africa in World History, 1400–1800», in: Jerry  H. Bentley, Sanjay Subrahmanyam und Merry E. Weisner-Hanks, The Cambridge World History Bd. 6: The Construction of a Global World 1400–1800 C. E. / Part I: Foundations (Cambridge 2015), S. 246. 31 Gomes Eanes de Azurara, übersetzt nach Malyn Newitt, The Portuguese in West Africa, 1415–1670: A Documentary History (Cambridge 2010), S. 27. 32 Zur Segeltechnik im 15. Jahrhundert siehe J. H. Parry, Das Zeitalter der Ent­ deckungen: Von 1450 bis 1630 (Zürich 1963), S. 112–136, 155 f. 33 Alvise da Cadamosto, übersetzt nach Newitt, The Portuguese in West Africa, S. 55 ff. Es gibt auch eine frühneuhochdeutsche Version: Norbert Ankenbauer (Hg.), Paesi novamente retrovati – Newe unbekanthe landte. Eine digitale Edition früher Entdeckerberichte (Wolfenbüttel 2017, work in progress), digital abrufbar unter: http://diglib.hab.de/edoc/ed000145/start.htm. 34 Gomes Eanes de Azurara, übersetzt nach Newitt, The Portuguese in West Africa, S. 150. 35 Ebenda, S. 151. 36 Übersetzung nach Pius Onyemechi Adiele, The Popes, the Catholic Church and the Transatlantic Enslavement of Black Africans 1418–1839 (Hildesheim 2017), S. 312 f. 37 Duarte Pacheco Pereira, Esmeraldo de Situ Orbis, übersetzt nach Newitt, The Portuguese in West Africa, S. 44. 38 Zu dieser Episode einschließlich der Rede Muhammads siehe Elizabeth Drayton, The Moor ’s Last Stand: How Seven Centuries of Muslim Rule in Spain Came to an End (London 2017), S. 113–127. 39 J. M.  Cohen (Übers.), Christopher Columbus  / The Four Voyages (London 1969), S. 37. 40 John Mandeville, Reisen des Ritters John Mandeville: Vom Heiligen Land ins ferne Asien, 1322–1356, übers. und hg. von Christian Buggisch (Stuttgart 2004), S. 56.

746 Anmerkungen 41 Ernst Gerhard Jacob (Hg.), Christoph Columbus: Bordbuch – Briefe – Berichte – Dokumente (Bremen 1956), S. 77. 42 Ebenda, S. 80. 43 Ebenda, S. 89. 44 Ebenda, S. 90. 45 Ebenda. 46 Laurence Bergreen, Columbus: The Four Voyages 1492–1504 (New York 2011), S. 14. 47 Jacob (Hg.), Christoph Columbus: Bordbuch, S. 91. 48 Ebenda, S. 118f; zu Ferdinand siehe Cohen (Übers.), Christopher Columbus / The Four Voyages, S. 81. 49 Jacob (Hg.), Christoph Columbus: Bordbuch, S. 140. 50 Ebenda, S. 207. 51 Cohen (Übers.), Christopher Columbus / The Four Voyages, S. 114. 52 Petrus Martyr, Acht Dekaden über die neue Welt, hg. von Hans Klingelhöfer, 2 Bände (Darmstadt 1972–1976), Bd. 1, Dekade I, S. 46. 53 Robert Grün (Hg.), Christoph Columbus: Das Bordbuch 1492 – Leben und Fahrten des Entdeckers der Neuen Welt in Dokumenten und Aufzeichnungen (Stuttgart 1983), S. 148. 54 Christoph Kolumbus, Der erste Brief aus der Neuen Welt, Lateinisch-Deutsch; übers., komm. und hg. von Robert Wallisch (Stuttgart 2015), S. 27. 55 Cervantes, Conquistadores (London 2020), S. 31. 56 Cohen (Übers.), Christopher Columbus / The Four Voyages, S. 319. 57 Vasco da Gama, Die Entdeckung des Seewegs nach Indien: Ein Augenzeugen­ bericht 1497–1499 (Stuttgart 1990), S. 35. 58 Ebenda, S. 37. 59 Ebenda, S. 47. 60 Ebenda, S. 54. 61 Ebenda, S. 81 f. 62 Zu Magellan siehe Laurence Bergreen, Over the Edge of the World: Magellan ’s Terrifying Circumnavigation of the Globe (New York 2003).

16. Protestanten 1 Übersetzung nach Martin Davies, «Juan de Carvajal and Early Printing: The 42-Line Bible and the Sweynheym and Pannartz Aquinas», in: The Library 17 (1996), S. 196. 2 Die Ausgaben auf Papier und Vellum kann man auf der Website der British Library bestaunen. Siehe www.bl.uk/treasures/gutenberg/. Es gibt auch eine schöne dreibändige Faksimile-Edition: Stephan Füssel (Hg.), Die Gutenberg-

Anmerkungen

747

Bibel von 1454: Faksimile und Kommentar zu Leben und Werk von Johannes ­Gutenberg, zum Bibeldruck, den Besonderheiten des Göttinger Exemplars, dem «Göttinger Musterbuch» und dem «Helmaspergerschen Notariatsinstrument» (Köln 2018). 3 Elizabeth L. Eisenstein, «Some Conjectures about the Impact of Printing on Western Society and Thought: A Preliminary Report», in: The Journal of ­Modern History 40 (1968), S. 1–56. 4 Francis Bacon, «Novum Organum», in: Basil Montagu (Übers.), The Works of Francis Bacon, Lord Chancellor of England: A New Edition, Bd. 14 (London 1831), S. 89. 5 Janet Ing, «The Mainz Indulgences of 1454/5: A Review of Recent Scholar­ ship», in: The British Library Journal 9 (1983), S. 19. 6 Es gab allerdings interessante regionale Variationen in der allgemeinen Begeisterung für Buße und der Angst vor dem Fegefeuer. Siehe Diarmaid MacCulloch, Reformation: Europe ’s House Divided 1490–1700 (London 2003), S. 10–16. 7 Falk Eisermann, «The Indulgence as a Media Event: Developments in Communication through Broadsides in the Fifteenth Century», in: R. N. Swanson (Hg.), Promissory Notes on the Treasury of Merits Indulgences in Late Medieval Europe (Leiden 2006), S. 312 f. 8 Zu Ockham und für diese Übersetzung aus dem Engl. siehe MacCulloch, A History of Christianity, S. 559. 9 Lawrence S. Buck, «‹Anatomia Antichristi›: Form and Content of the Papal Antichrist», in: The Sixteenth-Century Journal 42 (2011), S. 349–368. 10 Zur genauen Geschichte des Ablasses siehe Robert W. Shaffern, «The Me­ dieval Theology of Indulgences», in: Swanson (Hg.), Promissory Notes, S. 11–36. 11 Geoffrey Chaucer, Canterbury-Erzählungen, in: Geoffrey Chaucers Werke, übers. von Adolf von Düring, Bd. 2 (Straßburg 1886), «Die Erzählung des ­Ablasskrämers», S.  159. 12 Zitiert nach Karlheinz Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 8: Das 15. und 16. Jahrhundert: Vom Exil der Päpste in Avignon bis zum Augsburger Religionsfrieden (Reinbek 2004), S. 192. Siehe auch Josef Macek, The Hussite Movement in Bohemia (Prague 1958), S. 16. 13 Elizabeth Eisenstein, The Printing Press as an Agent of Change: Communi­ cations and Cultural Transformations in Early-Modern Europe (Cambridge 1979), S. 375. 14 Eisermann, «The Indulgence as a Media Event», S. 327, Anm. 50. 15 MacCulloch, Reformation, S. 15; Eamon Duffy, The Stripping of the Altars: Traditional Religion in England 1400–1580 (New Haven 1992), S. 288. 16 Der Text der Bulle Salvator noster ist abgedruckt in Stuart Jenks (Hg.), Documents on the Papal Plenary Indulgences 1300–1517 Preached in the Regnum Teutonicum (Leiden 2018), S. 224–266.

748 Anmerkungen 17 Ton Croiset van Uchelen und Paul Dijstelberge, «Propaganda for the Indulgence of Saintes», in: Paul Valkema Blouw et al., Dutch Typography in the Sixteenth Century: The Collected Works of Paul Valkema Blouw (Leiden 2013), S. 25. 18 Patrick Collinson, The Reformation (London 2003), S. 34 f. 19 Stephan Füssel, Gutenberg und seine Wirkung (Darmstadt 1999), S. 96 f. 20 Ebenda, S. 98. 21 Ebenda, S. 102 f. 22 Martin Luther, «Disputation zur Klärung der Kraft der Ablässe» («95 Thesen»), neu übers. von Johannes Schilling und Günther Wartenberg unter Mitarbeit von Michael Beyer, in: Martin Luther, Christusglaube und Rechtfertigung, hg. von Johannes Schilling, Lateinisch-Deutsch, Studienausgabe Martin Luther, Bd. 2 (Leipzig 2006), S. 1–15. 23 Preserved Smith, «Luther and Henry VIII», in: The English Historical Review 25 (1910), S. 656. 24 Alle Thesen zitiert aus Martin Luther, «Disputation zur Klärung der Kraft der Ablässe» («95 Thesen»), in: Martin Luther, Christusglaube und Rechtfertigung, hier S. 3 und 5. 25 Übersetzt nach Shaffern, «Medieval Theology of Indulgences», S. 15. 26 Luther, «95 Thesen», S. 7. 27 Ebenda, S. 15. 28 MacCulloch, Reformation, S. 121. 29 Zweite Invokavitpredigt, 10. März 1522, in: Martin Luther, Martin Luthers Werke, krit. Gesamtausgabe, 120 Bände (Weimar 1883–2009), WA 10, Bd. III, S. 18,10. 30 Martin Luther, «An den christlichen Adel deutscher Nation von des christ­ lichen Standes Besserung», in: Martin Luthers Werke, WA 6, S. 415. 31 Muriel St. Clare Byrne (Hg.), The Letters of King Henry VIII (New York 1968), S. 11. 32 Zur schwierigen Frage der wahren Autorenschaft der Assertio siehe Richard Rex, «The English Campaign against Luther in the 1520s: The Alexander Prize Essay», in: Transactions of the Royal Historical Society 39 (1989), S. 85–106. 33 Louis O ’ Donovan (Hg.), Assertio Septem Sacramentorum or Defence of the Seven Sacraments by Henry VIII, King of England (New York 1908), S. 188 f. 34 J. S. Brewer (Hg.), Letters and Papers, Foreign and Domestic, Henry VIII, Bd. 3, 1519–1523 (London 1867), Nr. 1510, S. 622. 35 Luis Quijada, zitiert nach Geoffrey Parker, Der Kaiser: Die vielen Gesichter Karls V. (Darmstadt 2020), S. 17. 36 Luthers Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms, https://www.pro jekt-gutenberg.org/luther/misc/chap008.html. 37 Das Wormser Edikt in sprachlich geringfügig modernisierter Fassung in:

Anmerkungen

749

­ etlef Plöse und Günter Vogler (Hg.), Buch der Reformation: Eine Auswahl D zeitgenössischer Zeugnisse (1476–1555) (Berlin 1989), S. 252 f., oder: https:// www.worms.de/de/web/luther/Worms_1521/Reichstag/Wormser_Edikt. php. 38 Erasmus von Rotterdam, Vom freien Willen (1524), übers. von Otto Schumacher (Göttingen 1956), S. 11. 39 František Graus, «From Resistance to Revolt: The Late Medieval Peasant Wars in the Context of Social Crisis», in: Janos Bak (Hg.), The German Peasant War of 1525 (Abingdon 2013), S. 7. 40 Henry J. Cohn, «The Peasants of Swabia, 1525» in: Ebenda, S. 10. Siehe auch Govind S. Sreenivasan, «The Social Origins of the Peasants ’ War of 1525 in Upper Swabia», in: Past & Present 171 (2001), S. 30–65. 41 Der vollständige Wortlaut der Zwölf Artikel findet sich in: David von Mayenburg, Gemeiner Mann und Gemeines Recht: Die zwölf Artikel und das Recht des ländlichen Raums im Zeitalter des Bauernkriegs; Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 311 (Frankfurt am Main 2017). 42 Theodor Eitner, Erfurt und die Bauernaufstände im XVI. Jahrhundert, Diss. (Halle 1903), S. 74. 43 «Das Strafgericht von Weinsberg», in: Plöse und Vogler (Hg.), Buch der Reformation, S. 367. 44 Zur Reaktion des Adels auf den Aufstand siehe Thomas F. Sea, «The German Princes ’ Responses to the Peasants ’ Revolt of 1525», in: Central European History 40 (2007), S. 219–240. 45 Johann Rühl, Mannsfeldischer Rat, berichtet Martin Luther, 21. Mai 1525, in: Günther Franz (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, Ausgewählte Quellen zur Geschichte der Neuzeit, Bd. II (Darmstadt 1963), S. 528 f. 46 Abschied des Reichstages zu Speyer, 27. August 1526, in: Ebenda, S. 598. 47 Judith Hook, The Sack of Rome 1527, 2. Aufl. (Basingstoke 2004), S. 46. 48 Siehe Parker, Der Kaiser, S. 209. 49 Hook, Sack of Rome, S. 156. 50 Parker, Der Kaiser, S. 213 f. 51 James  H. McGregor (Übers.), Luigi Guicciardini  / The Sack of Rome (New York 1993), S. 78. 52 Kneale, Rome: A History in Seven Sackings, S. 194. 53 McGregor, Luigi Guicciardini, S. 81 f. Siehe auch Hook, Sack of Rome, S. 161. 54 McGregor, Luigi Guicciardini, S. 97. 55 Ebenda, S. 98. 56 Kneale, Rome: A History in Seven Sackings, S. 201. 57 McGregor, Luigi Guicciardini, S. 98. 58 Ebenda, S. 114. 59 Idan Sherer, «A Bloody Carnival? Charles V ’s Soldiers and the Sack of Rome

750 Anmerkungen in 1527», in: Renaissance Studies 34 (2019), S. 785. Siehe auch Hook, Sack of Rome, S. 177. 60 Parker, Der Kaiser, S. 221. 61 Zum Vermächtnis des Protestantismus und seinen Auswirkungen auf politische Systeme und Werte siehe Alec Ryrie, Protestants: The Faith that Made the Modern World (New York 2017), S. 1–12. 62 Martin Luther, «Sendbrief vom Dolmetschen und Fürbitte der Heiligen», in: Martin Luthers Werke, WA 30, Bd. II, S. 646.

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Karten © Peter Palm, Berlin

Personenregister al-Abbas, Onkel Mohammeds  187 Abbo von Saint-Germain, Schriftsteller 237 Abd al-Aziz, umayyad. Statthalter  177 Abd al-Malik, Kalif  171, 177–181, 189 Abd al-Rahman, Feldherr  184–186 Abu al-Abbas al-Saffah, Kalif  187 Abu Bakr al-Baghdadi  187 Abu Bakr II. von Mali  636 Abu Bakr, Kalif  144, 154, 157 f., 160 f., 168 f., 181 Abu Lu ’ lu ’ a (Piruz Nahavandi)  163 Abu Muslim al-Churasani, Rebell  187 Abu Talib, Onkel Mohammeds  152, 155 Adam of Eynsham, Chronist  541 Adelard von Bath, Gelehrter  497 Adhémar, Bischof  335, 338, 340 Adolf II., Graf von Schauenburg u. Holstein 457 Adrian VI., Papst  693 Adso von Montier-en-Der, Abt  200 Æthelbert, König von Kent  485 Aethelwold, Bischof  259 Aëtius, weström. Feldherr  81, 91–93 Agathias, Chronist  115 Aistulf, langobard. König  206 Akakios von Konstantinopel, Patriarch 113 Alarich, got. Heerführer  73–79, 85, 97 Alberico da Romano  381 Albert von Aachen, Chronist  339 Albertus Magnus, Theologe  502, 504 Albrecht, Erzbischof  676, 679

Alexander der Große, König von Mazedonien  35, 226, 307, 696 Alexander III., Papst  538 Alexander IV., Papst  381 Alexander VI., Papst  621 Alexander Newski, Großfürst  421 Alexander of Abingdon, Baumeister  544 Alexios I. Komnenos, byz. Kaiser  332, 335, 339–341 Alexios III. Angelos, byz. Kaiser  370 Alexios IV. Angelos, byz. Kaiser  370 f. Alexios von Dukas «Murtzuphlos», byz. Kaiser  371 Alfons von, König von Aragón  609 Alfons VI., König von León u. Kastilien  270, 298–300, 336, 345, 491 Alfons X., der Weise, König von Kastilien 493 Alfons XI., König von Kastilien  561 Alfred, König von Wessex  233 Ali, Cousin Mohammeds  154, 166–169 Alkuin von York, Gelehrter  215, 228, 485 Allenby, Edmund, Feldmarschall  381 Alp Arslan, Sultan der Seldschuken  329–331 Amalasuntha, ostgot. Regentin  132 Amalrich, König von Jerusalem  361 Amalrich, westgot. König  100 Ambrogini, Angelo (Poliziano), Dichter 617

780 Personenregister Ambrosius Aurelianus, Legionär  81 Ambrosius, Kirchenlehrer  481, 483, 504, 711 Ammianus Marcellinus, Historiker  20, 23 f., 57, 60, 64 f., 67 f., 101 Amr ibn al-As, Feldherr  145, 150, 158 f. Anastasios I., oström. Kaiser  99 Andrea, Novella u. Bettina d ’, Rechts­gelehrte  508 Andreas I., König von Ungarn  276 Andronikos Dukas, byz. Mitkaiser  331 Anna Komnene, byz. Prinzessin  292, 339 f. Anna von Böhmen, Königin von England 468 Anthemios von Tralleis  122 Antonius, Heiliger  249, 251, 254 Apuleius, Schriftsteller  42 Arcadius, oström. Kaiser  69, 75 Archimedes  121, 492 Ardo, König der Westgoten  177 Ariq Böke Khan  416 Aristoteles  115, 480, 486, 493 f., 503, 510 f. Arnolfini, Giovanni  612 Arnolfo di Cambio, Bildhauer  545–550 Arnulf von Soissons  268 Artus, König  81, 197, 303, 308, 315, 322–324, 328, 364, 636 Ascelin von der Lombardei  412 Ata al-Mulk Dschuwaini, Geschichtsschreiber  386, 396, 445 Athanasius, Bischof  249 Athaulf, got. Heerführer  78 Attalus, weström. Gegenkaiser  76 Attila, Hunnenkönig  88–92, 96 f. Augustinus Triumphus, Gelehrter  477

Augustinus von Hippo, Kirchenlehrer  78, 84, 86, 253, 281, 481, 483, 485, 504, 602 Augustus, röm. Kaiser  26 f., 30 f., 41, 63 f., 106, 110, 230, 264, 599 Averroes siehe Ibn Ruschd Avicenna siehe Ibn Sina Babur, Mogul  425 Bacon, Roger, Gelehrter  496 Bacon, Sir Francis, Philosoph  666 Balduin I. (v. Flandern), lat. Kaiser von Konstantinopel 371 Balduin II., lat. Kaiser von Konstanti­ nopel  431, 530 Balduin I. (v. Boulogne), König von Jerusalem  340, 343, 348, 354 Balduin II. (v. Bourcq), König von Jerusalem  348, 350 Balduin III., König von Jerusalem  359 Balduin IV., König von Jerusalem  362, 507 Balduin von, König von Jerusalem  362 Ball, John, Rebell  579, 582, 586 f. Bamme, Adam, Lord Mayor von London 464 Bandini del Baroncelli, Bernardo  618 Barry, Charles  545 Bartolomeo Fazio, Humanist  611 Batu Khan  405, 408, 412, 416, 419 Baudouin de Lannoy  613 Becket, Thomas, Lordkanzler  506, 539, 652 Beda Venerabilis, Kirchenlehrer  185, 258 f., 494, 504 Béla III., König von Ungarn  316 Béla IV., König von Ungarn  402 f., 527 Belisar, byz. Feldherr  120, 125 f., 128 f., 132, 137–139, 289 Bellini, Gentile, Maler  633

Personenregister Benedikt von Aniane  256 Benedikt von Nursia  245, 251–258, 260, 265 f. Berke Khan  416 Bernhard von Clairvaux  278–280, 282, 353, 356–358, 360, 373, 508 f., 510, 533 Bernhard, langobard. König  224 f. Berno, Abt  244–246 Bernold von St. Blasien, Chronist  335 Berrecci, Bartolommeo, Maler  625 Berthold von Reichenau  488 f., 495 Bertrada, fränk. Königin  205 Boccaccio, Giovanni, Dichter  259, 461, 561, 601 f. Boëthius, Anicius Manlius Severinus, Schriftsteller  101 f., 216, 480, 486, 494, 503 Bohemund IV., Fürst von Antiochia  386 Bohemund von Tarent  340, 341, 343 Boleslav I. von Böhmen, Fürst  536 Bolesław der Tapfere, Herzog  261 Boleyn, Anne  327, 684 Bonifatius VIII., Papst  470 f., 478, 545 f., 549, 669 Bonifatius, Erzbischof  203 Bonifatius, röm. Statthalter  83 Börte, Ehefrau von Dschingis Khan  391, 416 Botticelli, Sandro, Maler  595, 616 f., 625 Boudicca, Kriegerkönigin  33 Bramante, Donato, Maler  623 Brandano, Prediger  694 Braulio von Sevilla  481 Brembre, Nicholas, Lord Mayor von London  459, 464 Brendan, Heiliger  636 Brunelleschi, Filippo, Mathematiker  550, 595, 614

781 Burckhardt, Jacob  602 Bury, Adam  459 Byron, George  591 Caboche (Simon Lecoustellier), Rebell  585 f. Cabot, John (Giovanni Caboto), Seefahrer 655 Cabot, Sebastian, Seefahrer  655 Cabral, Pedro Àlvares, Seefahrer  659 Cadamosto, Alvise  641 Cade, Jack, Hauptmann  586 f. Caillet, Guillaume, Rebell  569–571 Cajetan, Thomas, Kardinal  680 Calgacus, kaledon. Heerführer  33 f. Calixt II., Papst  498 Calvin, Johannes, Reformator  701 Caracalla, röm. Kaiser  39 f., 55 Carpini, Johannes de Plano  405 f., 408, 410–413, 416, 419, 432 Cäsar, Gaius Julius, röm. Diktator  26 f., 33, 37, 62, 128, 216 Cassiodor, röm. Staatsmann  484 Cato, Marcus Porcius  481, 494 Chadidscha, Ehefrau Mohammeds  154 f. Chalid ibn al-Walid, Feldherr  143–147, 150, 158, 165 Charles de Bourbon, Herzog  695–697 Charles III., König von England  520 Chaucer, Geoffrey  259, 308, 460 f., 463, 490, 591, 603, 671 Childerich I., fränk. König  199 f. Childerich III., fränk. König  196, 202 f. Chlodwig, fränk. König  200 f. Chochilaicus, dän. Herrscher  230 Chosrau I., König von Persien  119, 124, 129, 136, 138 f. Chosrau II., König von Persien  139, 141 f.

782 Personenregister Chrétien de Troyes, Schriftsteller  308 f., 315 Christine de Pizan, Philosophin  603 al-Chwarizmi, Mathematiker  487 Cicero, Marcus Tullius  49 f., 216, 480, 494, 601 Cimabue, Maler  547 Claudian, Dichter  70, 74 Claudius, röm. Kaiser  23, 33, 36 f., 39, 80 Clemens von, Papst  474, 478, 601, 734 Clemens VI., Papst  561, 671 Clemens VII., Papst  448, 693 f., 697, 699 f. Clemens VIII., Gegenpapst  334, 382 Clothilde, fränk. Königin  200 Clouet, François, Maler  625 Clouet, Jean, Maler  625 Colonna, Giacomo «Sciarra»  471 Colonna, Giovanni, Kardinal  599 Columban von Iona  255 Columban(us) von Luxeuil  255 Cook, Thomas  661 Coppo di Marcovaldo, Maler  547 Cortés, Hernán, Konquistador  627, 653 f. Costain, Thomas  328 da Gama, Vasco, Seefahrer  656–659, 662 da Vinci, Leonardo  122, 271, 497, 595, 603, 614–626 Dafydd ap Gruffydd, walis. Fürst  515 f., 520 Dandolo, Andrea  430 Dandolo, Enrico, Doge  368 f., 371, 430, 443 Daniel von Morley, Philosoph  492 Daniel, Fürst von Halytsch  399 Dante Alighieri  106, 547, 590–592, 597, 601 f., 604

Datini, Francesco di Marco  429, 453 Decius, röm. Kaiser  52 Demetrius, Illustrator  216 Desiderius, langobard. König  208 f. Despenser, Henry, Bischof  382 Despenser, Hugh  450 Dias, Bartolomeu, Seefahrer  655 f. Diokletian, röm. Kaiser  52–54 Domingo de Guzmán, Priester  501 Domitian, röm. Kaiser  108 Donatello, Maler  603, 625 Doria, Lamba, General  429 f. Dschābir ibn Hayyān, Chemiker  488 Dschingis Khan (Temüdschin), mongol. Großkhan  389–403, 405, 416, 418 f., 421–427, 433 Dschötschi Khan  419 Dudo von Saint-Quentin, Geschichtsschreiber  239 f., 242 Duns Scotus, Theologe  495 Dunstan, Erzbischof  259 Dürer, Albrecht  595, 625–627, 654 Edmund, König von East Anglia  233 Eduard der Bekenner, angelsächs. König 542 Eduard I. «Langbein» , König von England  323–325, 350, 352, 431, 441, 446, 449, 515–520, 522, 524–526, 528, 530, 542–545 Eduard II., König von England  325, 449 f., 454, 555 Eduard III., König von England  328, 454–456, 512, 526, 561, 566, 576 f. Eduard IV., König von England  527 Eduard Plantagenet, der Schwarze Prinz  459, 577 Einhard, Chronist  201 f., 207 f., 211, 214, 219 f., 485 El Cid (Rodrigo Díaz de Vivar), Ritter  296–303, 307, 310, 318, 326, 336

Personenregister Elcano, Juan Sebastián, Seefahrer  661 Eleonore von Aquitanien  312, 314, 358 f., 504 Eleonore von Kastilien  323, 520, 543 f. Eleonore von Portugal  562 Elisabeth II., Königin von England  520 Emicho von Flonheim  339 Eminem, Rapper  591 Erasmus von Rotterdam, Humanist 680 f.,  687 Erik der Rote, Wikinger  637 Este, Isabella d ’, Markgräfin  620 f. Eugen III., Papst  278, 353 f., 356–358, 360, 367 Euklid, Mathematiker  122, 492, 494 Eusebius von Caesarea  52 Evagrius Scholasticus  130 al-Farabi, Philosoph  492 al-Farghani, Mathematiker  492 Fatima al-Fihri  487 Ferdinand I., König von León u. Kastilien  270, 296 f. Ferdinand II., König von Spanien  644, 646–648, 650, 652 f., 658, 682, 685 Ferdinand, Erzherzog von Österreich  692 Fibonacci, Leonardo da Pisa, Mathematiker 497 Filelfo, Francesco, Gelehrter  590–597, 603, 616 Fisher, John, Bischof  683 Fitzwarin, Alice  467 Flavius Constantius, röm. General  53, 78 Fouacière, Jeanne  458 Foxe, John, Historiker  14, 17, 684 Franco, Francisco, General  193

783 Franz I., König von Frankreich  623–625, 682, 684, 693, 695 Frescobaldi, Amerigo, Banker  449, 451, 453 Friedrich I. Barbarossa, dt. Kaiser  220, 364, 499 Friedrich II., dt. Kaiser  378–380, 402 f., 457, 493, 502, 528, 560, 597, 669 Friedrich III., der Weise, Kurfürst von Sachsen  680, 686 Frundsberg, Georg von  697 Fugger, Jakob  679 Fulcher von Chartres, Kaplan  354 Fulko, König von Jerusalem  350 Fust, Johannes  663–665 Gabriele de Mussis, Rechtsgelehrter  554, 558 f. Galen(os) von Pergamon, Arzt  494 Galileo Galilei, Physiker  548 Galla Placidia, oström. Regentin  83 Geiserich, vandal. König  83–85 Gelimer, vandal. König  103, 125–128, 138, 142 Geoffrey von Monmouth  308 Geoffroy de Charny  309 Georg IV., König von Georgien  398 Gerald von Wales  322, 495 Gerhard von Cremona  491–493 Ghazan, Ilchan  418 Gherardini del Giocondo, Lisa (Mona Lisa)  621, 623 Ghirlandaio, Domenico, Maler  617 Gibbon, Edward  25, 185 Gildas, Geschichtsschreiber  81 f. Giotto di Bondone, Maler  547 Giovanni de Marignolli, Missionar  432 Gnaeus Julius Agricola, röm. Statthalter  33 f.

784 Personenregister Gomes Eanes de Azurara, Chronist  642 f. Gottfried «Götz» von Berlichingen, Ritter  326 f. Gottfried von Anjou  350 Gottfried von Bouillon  340 f., 347 f. Gower, John, Dichter  569 Gozzadini, Bettisia, Rechtsgelehrte  507 f. Gratian, weström. Kaiser/Usurpator  66, 73, 79 Gregor I. der Große, Papst  139, 251–255, 482, 485, 504 Gregor IV., Papst  225 Gregor IX., Papst  379 f., 402, 478, 569 Gregor VII., Papst  276 f., 333–335 Gregor von Narek, Kirchenlehrer  504 Gregor X., Gegenpapst  498 Gregor XI., Papst  475, 601 Guicciardini, Luigi, Historiker  695, 697–699 Guido I., König von Jerusalem  361, 363 Guillaume d ’ Orange, Graf  307 Guillaume de Nogaret  470–473, 505 Guillaume de Paris, Kleriker  474 Guinevere, Königin  315, 322 Gunther von Pairis  369 Gunzo, Mönch  271 Guo Kann, chin. General  415 Gutenberg, Johannes  662 f., 666 Güyük Khan, Großkhan der Mongolen  408, 410 f., 413 Hadrian I., Papst  217 Hadrian, röm. Kaiser  39, 44 al-Haddschādsch ibn Yusuf, umayyad. Statthalter 177 al Hakim, Kalif  332 Hales, Sir Robert  580 Hannibal, karthag. General  32, 599

Hans von Reutlingen, Goldschmied  216 Hans von Kulmbach, Maler  625 Harald Hardrada, König von Norwegen 241 Hardiknut, König von England u. Dänemark 233 Harold Godwinson, König von England  241, 291 Hasan, Enkel Mohammeds  167 Hashim ibn Utbah  159 f. Haussmann, Georges-Eugène, Baron 473 Heinrich der Jüngere von England  314–316 Heinrich der Seefahrer, Prinz von Portugal 638–644 Heinrich I., König von England  275 Heinrich II., Herzog von Schlesien  402 Heinrich II., König von England  311 f., 314, 316 f., 320, 322, 359, 500, 505 f., 539 Heinrich II., ostfränk. König  264 Heinrich III., röm.-dt. Kaiser  276 Heinrich III., König von England  321, 323, 375, 382, 496, 542 f. Heinrich IV. (Bolingbroke), König von England  464–466, 463 Heinrich IV., dt. Kaiser  276 f., 334 Heinrich von, dt. Kaiser  498 Heinrich von, König von England  466 f., 513, 529, 604 f. Heinrich VI., dt. Kaiser  365 Heinrich VI., König von England  535, 543, 586, 605 f. Heinrich VII., dt. Kaiser  549 Heinrich VII., König von England  527, 655 Heinrich VIII., König von England  327, 529, 623, 625, 681–685, 700

Personenregister Helena von Konstantinopel  54, 209 Helgeland, Brian  313 Héloïse, Äbtissin  279, 509 Henry Bolingbroke siehe Heinrich IV. Henry de Sully, Abt  322 Herakleios, oström. Kaiser  140–142, 145, 147–149, 159 Hermann der Lahme  488–491, 485 Herodot, Geschichtsschreiber  438 Hezelo, Mathematiker  271 Hieronymus, Kirchenlehrer  57, 72, 77 f., 483, 504, 665 Hildegard von Bingen  497 Hildegard, röm.-dt. Kaiserin  214 Hilderich, vandal. König  125 Hill, Lauryn  591 Höelün, Mutter von Dschingis Khan 391 Holbein, Hans, der J.  625 Honoria, weström. Kaisertochter  90 Honorius III., Papst  377, 398 Honorius, weström. Kaiser  69 f., 74–76, 79 Horaz (Quintus Horatius Flaccus)  24, 600 Hormizd IV., König von Persien  139 Hugo der Große, Abt  268, 270 f., 274–279, 333, 336 Hugo von Lincoln, Heiliger  539–541, 543 f. Hugo von Payns, Templer  353 Hugo von Vermandois, Kreuzfahrer  340 Hülegü Khan  415 f., 418 f., 487 Hunerich, vandal. König Hus, Jan, Reformator  382, 511 Hypatius, oström. Gegenkaiser  120 f. Ibn al-Athir, Chronist  345 f., 354, 400 Ibn al-Haitham («Alhazen»), Arzt 492

785 Ibn Bassam, Dichter  302 f. Ibn Battuta, Rechtsgelehrter  420 Ibn Chordadbeh, Geograf  234 Ibn Ruschd («Averroes»), Philosoph  488, 493, 503 Ibn Sina («Avicenna»), Mediziner  488, 492 al-Idrisi, Muhammad, Kartograf  488 Iftikhar ad-Daula, fatim. Statthalter  343 f. Imad ad-Din Zengi  355 Innozenz III., Papst  319, 365–369, 372–37, 376 f., 379, 668 f., 506 Innozenz IV., Papst  405 Irene, byz. Kaiserin  212, 220 Irnerius, Rechtgelehrter  498 Isaak II. Angelos, byz. Kaiser  370 f. Isabel de Clare  317 Isabella I., Königin von Spanien  639, 644, 646–648, 653, 658, 682, 685 Isabella von Portugal  609 Isidor von Milet,  121 f. Isidor von Sevilla, Universalgelehrter  134, 479–486, 489, 494, 503 f. Ivar der Knochenlose, Wikingerführer  232 f. Jakob II., König von England  327 James of St. George, Master  518 f., 521, 523, 525, 529 Jan de Leeuw  613 Jan Długosz, Geschichtsschreiber  402 Jay-Z, Rapper  591 Jean de Saint-Victor, Chronist  471 Jean le Bel, Kleriker  569 Jeanne d ’ Arc  15, 604–606 Jebe, mongol. General  398 f. Jesus von Nazareth  53, 141, 154, 171, 176, 248 f., 530, 567 Johann «Gnadenlos», Herzog  607

786 Personenregister Johann ( João) I., König von Portugal  638–640 Johann ( João) II., König von Portugal  649, 655 f. Johann (Ohneland), König von England  317 f., 319 f., 322, 372–374, 506, 522 f. Johann II. von Luxemburg  605 Johann II., König von Aragón  588 Johann II., König von Frankreich  571 Johann Ohnefurcht, Herzog von Burgund 607 Johann VI. Kantakuzenos, byz. Kaiser 561 Johann, König von Böhmen  536 Johanna «die Wahnsinnige», Königin von Kastilien u. Aragón  685 Johannes Cassianus, Abt  253 Johannes Chrysostomos, Geschichtsschreiber 44 Johannes der Täufer  144, 182, 209, 611 f., 622 Johannes Malalas, Geschichtsschreiber  107, 114 f., 118, 120, 131 Johannes von Antiochia, Geschichtsschreiber  99, 131 Johannes von Ephesos, Bischof  103–105, 130 Johannes von Kappadokien, Präfekt 119 Johannes von Montecorvino  432 Johannes von Salerno, Biograf  258 Johannes XXII., Papst  505, 670 Johannes, Priesterkönig  388 f., 645, 657 John of Battle, Baumeister  544 John of Gaunt ( Johann von Gent), Herzog von Lancaster  382, 463, 512, 580, 638 Julian «der Apostat », röm. Kaiser  54 Justin, röm. Kaiser  106

Justinian, oström. Kaiser  104–116, 118–128, 131–138, 140, 142, 149, 269, 274, 289, 393, 498, 532, 551 Kaidu Khan  416 al-Kamil, Sultan von Ägypten  377, 379, 386, 412, 493 Karl der Einfältige, westfränk. König  197, 242, 239 f., 242 Karl der Kühne, Herzog von Burgund  617 Karl I. der Große, Kaiser  184, 197 f., 205, 207–221, 224, 226, 228, 231, 236–238, 256, 274, 287, 290, 295, 305, 307, 334, 440, 485, 532, 685, 699 Karl I., König von England  327 Karl II. der Kahle, röm. Kaiser  197, 227 f., 235–237 Karl II. der Böse, König von Navarra  570 f. Karl III. der Dicke, röm. Kaiser  197, 226, 237 f. Karl IV., König von Frankreich  441 Karl Martell, Hausmeier  184–187, 197, 201 f., 237, 290, 302 Karl von, König von Frankreich  575 Karl IV., röm.-dt. Kaiser  536 Karl V., röm.-dt. Kaiser  626, 661, 684–686, 691–696, 699–702 Karl VI., König von Frankreich  575, 585, 603–605 Karl VII., König von Frankreich  604–606 Karl von Anjou, König von Neapel u. Sizilien 546 Karlmann I., fränk. König  205, 208 f., 224 Karlmann, Bruder Pippins der Jüngeren  202, 205 Kasimir III. der Große, König von Polen 527

Personenregister Katharina von Aragón  683–685, 700 Katharina von Bora  688 Kavadh II., König von Persien  141 Keynes, John Maynard  456 Kilij Arslan I., Sultan der Seldschuken  339–342, 358 Kleopatra, Königin von Ägypten  30 Knighton, Henry, Chronist  566 f. Kolumbus, Christoph  382, 645–653, 660, 662, 675 Konrad der Rote, Herzog von Lothringen  285, 287 Konrad III., dt. König  357–359 Konradin, König von Jerusalem  380 Konstans II., byz. Kaiser  164 Konstantin I. der Große, röm. Kaiser  44, 53–55, 106, 149, 178, 209, 214, 219, 519, 532 Konstantin III., röm. Gegenkaiser  21, 73, 75, 78 f. Konstantin IV., byz. Kaiser  173 Konstantin VI., byz. Kaiser  212 Konstantinos XI. Palaiologos, byz. Kaiser  630 f. Kopernikus, Nikolaus  624 Kublai Khan, mongol. Großkhan  416 f., 423, 431, 433, 445 Kyros II., König von Persien  136 Lamar, Kendrick  591 Lanfrank von Mailand, Mediziner  507 Langton, Stephen, Kardinal  372, 506 Lannoy, Charles de  692 Las Casas, Bartolomé de, Historiker  646 Laura de Noves, Petrarcas Muse  561, 597 f., 600 Laurentius von Portugal  412 Leander, Bischof  480, 482 Leif Eriksson, Entdecker  637 Leo der Isaurier, General  175

787 Leo I. der Große, Papst  91 Leo III., Papst  217–220 Leo X., Papst  448, 622, 674, 678 f., 681–683, 686, 693 Leo XI., Papst  448 Leonardo Bruni, Humanist  595, 603 Libanios, Rhetoriker  44 Licinia Eudoxia, weström. Kaiserin  85 Lippo, Filippino, Maler  618 Livius, Geschichtsschreiber  24, 77 Llull, Ramon  309 Llywelyn ap Gruffudd, Fürst von Wales 324 Longjumeau, André u. Jacques de  412 Lothar, röm. Kaiser  224–226, 228 Lotzer, Sebastian, Prediger  689 Lucan(us), Marcus Annaeus, Philosoph  494, 599 Ludwig I., der Fromme, röm. Kaiser  220 f., 224–227, 256 Ludwig II., der Deutsche, ostfränk. König 228 Ludwig IV., das Kind, ostfränk. König  284, 286 Ludwig IX., König von Frankreich  326, 377, 411 f., 414, 418, 441, 448, 496, 530 f., 544, 546 Ludwig VI., der Dicke, König von Frankreich 280 Ludwig VII., König von Frankreich  357–359, 500, 533 f. Ludwig VIII., der Löwe, König von Frankreich 376 Ludwig von Bayern, röm. Kaiser  505 Ludwig XVI., König von Frankreich  473 Ludwig, Graf von Helfenstein  689 f. Luschner, Johann  672 Luther, Martin  508, 675–692, 694, 696, 702 f. Lyons, Richard  459

788 Personenregister Machiavelli, Niccolò, Philosoph  548, 595 Magellan, Ferdinand, Entdecker  660–662 Magnus Maximus, weström. Kaiser  519 Maimonides, Philosoph  503 Mandeville, Sir John, Ritter  628, 645 f. Mani, Prophet  51 Manuel I. Komnenos, byz. Kaiser  358 Manuel I., König von Portugal  658 Manuel II. Palaiologos, byz. Kaiser  465 Marcel, Etienne, Kaufmann  571 Marcus Antonius, Staatsmann  30 Marcus Aurelius, röm. Kaiser  35, 55, 86 Marcus, weström. Kaiser/Usurpator  73, 79 Margarete von England  587 Margarete von Frankreich  316 Marie Antoinette, Königin von Frankreich 473 Marshal, William, Ritter  310–322, 326 Marsilius von Padua, Mediziner  505 Martin von, Papst  612, 669 Martin, Bischof  250 Marwan II., Kalif  187 Mas ’ ud, Sultan von Rum  358 al-Masʿūdī, Geograf 636 Matilda, dt. Kaiserin  311 Matthäus Paris, Chronist  496 Mauricius, oström. Kaiser  139 f. Maxen Wledig siehe Magnus Maximus Maximian, Erzbischof  132 Maximilian I., dt. Kaiser  626, 675, 685 Medici, Caterina de ’, Königin von Frankreich  448, 625 Medici, Cosimo de ’,  592–594, 596 f., 616, 618

Medici, Giovanni de ’  siehe Leo X. Medici, Giulino de ’  618 Medici, Giulio de ’ siehe Clemens VII. Medici, Lorenzo de ’, der Prächtige  594, 616–618, 622, 675 Medici, Maria de ’, Königin von Frankreich 448 Mehmed II., osman. Sultan  629–633, 667 Melisende, Königin von Jerusalem  350 MF Doom, Rapper  591 Michael Kritobulos, Chronist  629–631 Michael of Canterbury, Baumeister  544 Michael Scotus, Übersetzer  492 f. Michael VII. Dukas, byz. Gegenkaiser  331 f. Michael VIII. (Palaiologos), byz. Kaiser 431 Michelangelo Buonarotti, Maler  548 Milton, John, Dichter  591 Moctezuma II., aztek. Herrscher  627, 654 Mohammed, Prophet  143 f., 148, 152–158, 161–163, 165–169, 171 f., 178–181, 187, 392, 432, 632 Molay, Jacques de, Templer  472, 474, 478 Möngke Khan, mong. Großkhan  413–416, 427 Moustereul, Erembourc de  458 Mstislaw der Tapfere, Fürst von Nowgorod 399 Mstislaw III., Großfürst von Kiew  399 f. Muawiya ibn Abi Sufyan, Kalif  164 f., 167 f., 172 Muhammad XII. («Boabdil»), Sultan  644 f.

Personenregister Müntzer, Thomas, Prediger  691 Murad II., osman. Sultan  590, 629 Musa ibn Nusayr, Feldherr  176 Musk, Elon  509 al-Mu ’ tamid, Emir  298 al-Musta ’ sim, Kalif  415 Napoleon I. Bonaparte, Kaiser der Franzosen  226, 701 al-Nasir, Kalif  372 Neri di Fioravanti, Baumeister  550 Niketas Choniates, Geschichts­ schreiber 372 Nikolaus II., Zar von Russland  221 Nikolaus von, Papst  633, 667 Notker der Stammler, Chronist  208, 212 Notorious B. I. G., Rapper  591 Numa der Sabiner, König von Rom 36 Nur Ad-Din, Sultan von Ägypten  358, 361 f. Odilo, Abt  263–265, 268, 279 Odo von Châtillon siehe Urban II. Odo von Metz, Baumeister  213 Odo, Abt  257–260 Odo, westfränk. König  237, 239 Odoaker, Hunnenkönig  96–99, 101 Odorich von Pordenone  432 Ögedei Khan, mongol. Großkhan  403, 408, 416 f., 423 Olav Haraldsson, König von Norwegen 569 Olympiodoros von Theben, Geschichtsschreiber 71 Orderic Vitalis, Chronist  470, 484 Orestes, Feldherr  96 Orientius, Dichter  72 Osman I., Sultan  629 Oswald, Erzbischof  259

789 Otto I., röm.-dt. Kaiser  282, 284–287 Ovando, Nicolás de, Vizekönig  652 Ovid, Dichter  24, 494, 600 Paschalis I., Papst  225 Paschalis II., Papst  498 Paulus, Apostel  51, 91, 271, 483, 698 Pecche, John  459 Pegolotti, Francesco Balducci, Bankier 449 Pereira, Duarte Pacheco, Seefahrer  644 Peter der Einsiedler  339 f. Peter der Grausame, König von Kastilien 382 Peter II., König von Aragón  376 Petrarca, Francesco, Dichter  461, 561, 564, 590, 597–603, 610, 626, 669 Petrarca, Gherardo  602 Petrus Abaelardus, Theologe  279, 509 f., 533 Petrus Damiani, Kardinal  266 Petrus Lombardus, Gelehrter  494, 503 Petrus Martyr, Historiker  650 Petrus Venerabilis, Gelehrter  278 f., 510 Petrus von Blois, Diplomat  505 f. Petrus von Poitiers, Theologe  678 Petrus, Apostel  91, 271, 698 Philipp der Gute, Herzog von Burgund  605–610, 612–614, 617, 639 Philipp I., König von Frankreich  276 Philipp II. Augustus, König von Frankreich  317, 363 f., 374, 376, 441 Philipp II., König von Spanien  700 Philipp IV. der Schöne, König von Frankreich  381, 441, 448, 470–472, 474–478, 505, 546, 669 Philipp, Graf von Savoyen  518

790 Personenregister Philippa von Lancaster  638 Phokas, oström. Kaiser  140 Pico della Mirandola, Giovanni  595, 617 Pierre de Castelnau  374 Pippin der Jüngere, König der Franken  184, 197, 202–208, 215, 218, 238 Pippin von Aquitanien  235 Pippin, König von Italien  220 f., 224 Pius II., Papst (Aeneas Silvius Piccolomini)  633, 665 Pius IV., Papst  448 Platon, Philosoph  115, 486 Plinius der Jüngere, Senator  49–51 Pollaiuolo, Antonio u. Piero del, Bildhauer 617 Polo, Maffeo  431, 433 f. Polo, Marco  399, 401, 404, 430–437, 445 f., 645 f., 658, 662 Polo, Niccolò  431, 433 f. Polybios, Geschichtsschreiber  32 Pompeius, oström. Gegenkaiser  120 Pontius Pilatus, röm. Statthalter  51 Priskos, Geschichtsschreiber  88, 93 Proklos, Philosoph  494 Prokopios von Caesarea, Geschichtsschreiber  83, 85, 87, 104, 106–110, 119–123, 125 f., 128–131, 134, 137 Ptolemäus, Mathematiker  491, 645 f., 654 f., 664 Pulteney, Sir John  458 f. Pytheas, Seefahrer  229 Quovultdeus, Bischof  86 Radagaisus, got. Feldherr  71f., 74 Radegund, fränk. Königin  269 Rædwald, König von East Anglia  82 Raffael (Sanzio da Urbino), Maler  595, 622, 625, 700

Ragnar (Lodbrok), dän. Feldherr  227 f., 232, 235, 237 Raimund Berengar, Graf von Barcelona 300 Raimund von Aguilers  344 Rashid ad-Din, Chronist  396 Raymond, Fürst von Antiochia  359 Raymond, Graf von Toulouse  335, 340, 374 ar-Razi («Rhazes»), Mediziner  492 Rej, Mikolaj, Dichter  625 Rekkared I., westgot. König  482 Remigius, Bischof  539 Richard I. Löwenherz, König von England  317 f., 322 f., 350, 352, 363–365, 522 Richard II., Herzog der Normandie  242 f. Richard II., König von England  459, 463 f., 466, 468, 512, 577–583 f. Richard III., König von England  624 Richard von Cornwall  323 Richards, Timothy, Missionar  61 Rinaldo degli Albizzi  592 Robert «Kurzhose», Herzog der Normandie 340 Robert Bruce, König von Schottland  325 Robert de Luzarches, Baumeister  535 Robert de Verre, Earl of Oxford  463 Robert der Mönch, Chronist  337 Robert Guiskard von Tarent  340 Robert I., westfränk. König  239 f. Robert of Avesbury  565 Robert von Ketton  492 Robert, Graf von Flandern  340 Robert, König von Neapel  599 Roderich, westgot. König  176 Roger II., König von Sizilien  346 Rogier van der Weyden, Maler  595, 607 f.

Personenregister Roland, fränk. Ritter  211 f., 303, 305–307 Rollo (Robert), Herzog der Normandie 239–242 Romanus IV. Diogenes, byz. Kaiser 329–331 Romanus von Subiaco  252 Romulus Augustus («Augustulus»), röm. Kaiser  96, 101 Romulus, König von Rom  36, 308 Rossini, Gioachino, Komponist  548 Rua, hunn. Anführer  88 Rufinus, oström. Staatsmann  69, 71 Rühel, Johann  691 Rusudan, Königin von Georgien  398 Sæwulf, Pilger  349 Saladin, Sultan von Syrien  361–364, 367, 377, 473, 524, 601, 632 Salaj (Gian Giacomo Caprotti da Oreno) 619 Salimbene von Parma, Chronist  493 Samostrzelnik, Stanisław, Maler  625 Sancho II., König von Kastilien  297 f. Saphadin (al-Adil I.), Sultan von Ägypten 364 Saye and Sele, Lord  587 Schöffer, Peter  665 Scholastika von Nursia  245, 252, 254 f., 260 Scipio Aemilianus, röm. Feldherr  86 Scipio Africanus, röm. Feldherr  599 Seneca, Lucius Annaeus  494 Septimius Severus, röm. Kaiser  39 Sforza, Francesco, Herzog  615, 619 Sforza, Ludovico, «il Moro», Herzog  614–616, 619 f. Shelley, Percy  591 Sigurd I., König von Norwegen  348, 357

791 Silvester II., Papst (Gerbert von Aurillac)  485, 490 Simon IV. de Montfort, Kreuzfahrer  375 f., 381 Simon von de Montfort, Kreuzfahrer  375, 381 f. Simon von Saint-Quentin  412 Sinibald, Abt  501 Sixtus IV., Papst  594, 618, 673 f. Sophia, oström. Kaiserin  138 Sophronius, Patriarch  147, 160 Stafford, Sir Humphrey  587 Stephan II., Papst  204 Stephan, König von England  310 f. Stilicho, weström. Staatsmann  69–76 Strabo, Geschichtsschreiber  43 Strozzi, Palla  592 Subedei, mongol. General  398 f. Sudbury, Simon, Erzbischof  580 Suger, Abt  533 f., 539 Suleiman der Prächtige, osman. Sultan 694 al-Tabari, Chronist  146, 162, 176 Tacitus, Geschichtsschreiber  27, 33 f. Tamerlan siehe Temür Tempier, Étienne, Bischof  510 Temür/Timur Lenk, mongol. Heerführer 422–426 Tennyson, Alfred, Dichter  591 Terenz, Dichter  494 Tetzel, Johann, Prediger  677 f. Theoderich Strabo, ostgot. Führer  98 Theoderich, ostgot. König  98–102 Theodora, byz. Prinzessin  590 Theodora, Einsiedlerin  250 Theodora, oström. Kaiserin  108 f., 113, 120, 132 f. Theodosius I., röm. Kaier  69, 711 Theodosius II., oström. Kaiser  114 Theodosius III., oström. Kaiser  175

792 Personenregister Theophanes, Chronist  173 f. Theuderich IV., König der Franken  202 Thomas Arundel, Erzbischof  513 Thomas Morus, Humanist  625, 682, 684 Thomas of Woodstock, Herzog von Gloucester 463 Thomas von Aquin, Gelehrter  495, 501–504, 680 Thomas von Split, Chronist  403 Thomas von Tolentino  432 Thorbjarndóttir, Karlsefni u. Gudríd 637 Tiberius, oström. Kaiser  138 f. Titus, röm. Kaiser  47, 126, 170 Tizian 595 Tolui Khan  397, 416 Totila, ostgot. König  132, 134 f., 252 Trajan, röm. Kaiser  30, 39, 51, 126 Tribonian, Rechtsgelehrter  110–114, 119 Trota von Salerno, Medizinerin  507 Tschagatai Khan  418 Tyler, Wat, Rebell  579, 581, 583, 586 f. Ulrich, Bischof  285 Umar, Kalif  147, 158–163, 168 f., 181 Urban II., Papst  277 f., 333–340, 345 f., 356 f., 367 Urban von, Papst  601 Uthman, Kalif  158, 160, 163–169, 176 Valens, oström. Kaiser  63–69 Valentinian I., oström. Kaiser  63, 184 Valentinian III., weström. Kaiser  81, 83, 88–90, 92 Valerian, röm. Kaiser  52 van Eyck, Hubert  607, 611 van Eyck, Jan  595, 606–613, 639

van Eyck, Margarete  609 Varus, Dichter  600 Vasari, Giorgio, Biograf  547, 609, 616, 619, 623 f. Vergil (Publius Vergilius Maro)  24, 32, 494, 599, 601 Verrocchio, Andrea del, Künstler  614, 616 f. Vespasian, röm. Kaiser  40 Vijdt, Joost u. Lysbet  612 Villani, Giovanni, Chronist  455 Vitruvius, Architekt  271 Vitry, Jacques de, Erzbischof  387 f., 398 Waifar, Herzog von Aquitanien  206 f. al-Walid, Kalif  177, 181, 183, 189 Walsingham, Thomas, Chronist  582 f. Walter of Hereford, Baumeister  525 Walworth, William, Lord Mayor von London  579, 581 Wenzel von Böhmen, Fürst  536 Whittington, Richard (Dick), Lord Mayor von London  462–469 Widukind von Corvey, Chronist  283, 286 Wilhelm «Langschwert», Herzog der Normandie  241 f. Wilhelm I., der Eroberer, König von England  80, 241, 291, 340, 518, 538 f., 577 Wilhelm II., dt. Kaiser  221 Wilhelm II., König von Sizilien  505 Wilhelm von Ockham, Philosoph  495, 505, 670 Wilhelm von Rubruk, Gesandter  404, 412–414, 416, 418 f., 432, 534 Wilhelm von Sens, Baumeister  540 Wilhelm von Tyrus, Erzbischof  506

Personenregister Wilhelm, Herzog von Aquitanien  244–246, 257, 262 William ostgot. König der Ostgoten  129 Władisław II. Jagiełło, König von Polen 590 Władysław I. „Ellenlang“, König von Polen 527 Wolsey, Thomas, Lordkanzler  682–684 Wren, Christopher, Architekt  122, 468 Wyatt, Thomas, Dichter  591 Wyclif, John  511–513, 670

793 Xenophon, Geschichtsschreiber  289 Xuanzong, chin. Kaiser  395 Yaghi-Siyan, seldsch. Statthalter  342 Yazdegerd III., König von Persien  160 Yusuf ibn Taschfin, Feldherr  301, 303 Zacharias, Papst  203 f. Zenon, oström. Kaiser  96, 98 f. Zosimos, Geschichtsschreiber  62, 71 f., 75 Zwingli, Ulrich (Huldrych), Theologe 687

Die Plünderung Roms im Jahr 410 n. Chr., dargestellt auf einem Gemälde von Thomas Cole aus dem 19. Jahrhundert. Rom war zwar 410 nicht mehr die Hauptstadt des Römischen Reichs, dennoch symbolisierte die Plünderung der Stadt durch Alarich und die Goten das Ende einer Supermacht.

Kein römischer Kaiser hinterließ dem Mittelalter ein so großes Vermächtnis wie Konstantin der Große (reg. 306–337). Seine Entscheidung, zum Christentum überzutreten, gab dem mittelalter­ lichen Abendland die dominierende Religion, noch dazu erhielt es mit der Neugründung Konstantinopels eine seiner wichtigsten Städte.

Der im 6. Jahrhundert lebende byzantinische Kaiser Justinian führte eine umfassende Reform des Römischen Rechts durch. Die hier gezeigte Manuskriptseite stammt aus einer Abschrift seiner Digesten, die Ende des 13. Jahrhunderts angefertigt wurde. Der Rechtstext in der Mitte des Blatts ist umgeben von eng geschriebenen Kommentaren, die zeigen, wie intensiv sich Generationen mittelalterlicher Juristen mit dem Römischen Recht auseinander­ setzten.

Attila der Hunne (gest. 453) ist einer der berühmtesten Männer in der Geschichte des Abendlandes und kam an die Macht, als das Weströmische Reich zu bröckeln begann. Sein Name wurde zum Synonym für grau­ same Eroberungen, dabei war er weit mehr als nur ein blutrünstiger Warlord. Dieser Holzschnitt entstand in Deutschland über tausend Jahre nach seinem Tod.

Die beeindruckenden Mosaiken der Basilica di Sant’Apollinare Nuovo in Ravenna stammen aus der Zeit Theoderichs des Großen, der im frühen 6. Jahrhundert als König der Ostgoten in Italien herrschte. Theoderich war in den Augen der Römer vielleicht ein Barbar, dennoch war er ein bedeutender Herrscher mit Weitblick und einer echt römischen Vorliebe für Kunst und Architektur.

Kaiser Justinian übergibt das Prunkstück seiner Wieder­ aufbau- und Verschönerungs­ kampagne Konstantinopels, die Hagia Sophia, der Jungfrau Maria und dem Kind. Mosaik am Südwest­ portal der Hagia Sophia.

Eine Burlesque-Tänzerin, die Kaiserin von Byzanz wurde: Theodora ist eine der faszinie­ rendsten Personen in der Frühzeit der mittelalterlichen Geschichte. Ihre Ehe mit Justinian war eine Partnerschaft unter Gleichgesinnten, zudem bewahrte ihn Theodora beim Nika-Aufstand vor einer Niederlage. Das Mosaikporträt befindet sich in der Basilica di San Vitale in Ravenna.

Die Hagia Sophia, die seit Kurzem wieder als Moschee genutzt wird, wurde ursprünglich als die größte Kirche im byzantinischen Konstantinopel gebaut. Ihre riesige Kuppel wurde von Justinian nach dem Nika-Aufstand von 532 in Auftrag gegeben, bei dem er fast gestürzt worden wäre und ein Großteil des Stadtzentrums zerstört wurde.

Der Felsendom in Jerusalem wurde vom Umayyadenkalifen Abd al-Malik im 7. Jahrhundert erbaut und unter den Osmanen umgestaltet. Er ist einer der ältesten Bauten der Welt mit einem hohen Wiedererkennungswert und ein Symbol für die Pracht- und Machtentfaltung islamischer Herrscher im Mittelalter.

Diese spätmittelalterliche persische Illustration zeigt die Kamelschlacht, die 656 n. Chr. in der Nähe von Basra im heutigen Irak stattfand. Ali, der Cousin des Propheten Mohammed, kämpfte gegen dessen Witwe Aisha, die links oben auf einem Kamel zu sehen ist. Der Ausgang der Schlacht zeigt sich auch heute noch in der Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten.

Karl der Große, wie ihn sich Albrecht Dürer lange nach dessen Tod vorstellte. Er gilt zu Recht als «Vater Europas». Seine Eroberungen, die das heutige Frankreich, Deutschland, Belgien, Luxemburg und Norditalien vereinten, haben die Träume europäischer Politiker von Napoleon bis zu den Architekten der Europäischen Union beflügelt.

Von der Eisernen Krone der Langobarden, die Karl 774 in seinen Besitz brachte, glaubte man, das Eisenband sei aus einem Nagel vom Kreuz Christi gefertigt worden, doch moderne Analysen haben ergeben, dass das ein Mythos ist.

Diese spätmittelalterliche Buchmalerei zeigt die Schlacht von Roncesvaux im Jahr 778 und den Tod Rolands. Das Rolandslied, das auf einem Feldzug Karls des Großen basiert, machte den titelgebenden Roland zum idealen ritterlichen Helden. Die Sage war eine der beliebtes­ ten Erzählungen des Mittelalters.

Das Große Wikingerheer, das im 9. Jahrhundert in England einfiel, ermordete König Edmund von East Anglia, der später als Heiliger verehrt wurde. Die Legende, dass ihn die Wikinger an einen Baum fesselten und mit Pfeilen beschossen, kündet von der Angst, die Generationen von Menschen im Mittelalter vor den wilden skandinavischen Kriegern hatten.

Eleonore von Aquitanien (1124–1204) heiratet den französischen König Ludwig VII., während bereits ein Schiff wartet, um die beiden zum Zweiten Kreuzzug ins Heilige Land zu bringen. Eleonores Besuch dort war nicht sehr erfolgreich, und bei ihrer Rückkehr nach Europa wurde die Ehe geschieden.

Bernhard von Clairvaux – wie ihn sich der im 16. Jahrhundert lebende Maler El Greco vorstellte. Der Abt, der wenige Jahrzehnte nach seinem Tod heiliggesprochen wurde, war die treibende Kraft für den Aufstieg der Zisterzienser und spielte eine entscheidende Rolle bei der Genehmigung des Papstes zur Gründung des Templerordens im 12. Jahrhundert.

Nur noch ein Bruchteil der burgundischen Klosteranlage, die als Cluny III bezeichnet wird, ist heute noch erhalten. Doch im Hochmittelalter war die Abteikirche eines der höchsten Gebäude in Europa und ein Symbol für den immensen Reichtum und Einfluss des cluniazensischen Ordens.

Ein Eindruck vom opulenten Dekor, das einst Cluny III geschmückt haben muss: Diese Fresken, die von Abt Hugo von Cluny in Auftrag gegeben wurden, wurden Ende des 19. Jahrhunderts in der Chapelle des Moines von Berzé-la-Ville entdeckt. Die cluniazensische Reformbewegung inspirierte zu einigen der größten Kunstwerke und Musikstücke vor der Renaissance.

Die Familie Polo erhält von Kublai Khan, dem obersten Herrscher des Mongolenreichs, eine goldene Tafel. Marco Polo war als Kaufmann und Diplomat ein Wegbereiter für Reisen nach Asien. Sein Reisebericht war eines der bekanntesten Bücher des Mittelalters.

Die Mongolen praktizierten einen mittelalterlichen «totalen Krieg». Als Dschingis Khans Nachfahr Hülegü 1258 Bagdad belagerte, töteten seine Truppen den Abbasiden-Kalifen und warfen so viele unvorstellbar kostbare Manuskripte in den Tigris, dass der Fluss schwarz von Tinte war.

Der im 13. Jahrhundert lebende Kriegsherr Temüdschin, besser bekannt als Dschingis Khan, schuf mit seinen Eroberungen ein mittelalterliches Weltreich. Heute wird er als Nationalheld verehrt: Diese riesige Statue dominiert die Landschaft in der Umgebung von Ulaanbaatar.

William Marshal, 1. Earl of Pembroke, war nach seiner eigenen Einschätzung der größte aller Ritter. Er diente fünf Plantagenet-Königen in England und stürzte sich auch noch mit siebzig ins Schlachtgetümmel. Sein Grabmal befindet sich in der Temple Church in London.

Fliesen des ehemaligen Benediktinerklosters Chertsey Abbey in England zeigen Richard Löwenherz im Turnier mit Saladin während des Dritten Kreuzzugs. Ein derartiger Kampf fand nie statt, doch im Spätmittelalter war die Rivalität zwischen den beiden Herrschern legendär.

Die Sainte-Chapelle in Paris ist eines der atemberaubendsten Bauwerke der gotischen Architektur. Von Ludwig IX. in Auftrag gegeben, um seiner Reliquiensammlung (darunter die Dornenkrone Christi) den passenden Rahmen zu geben, erwecken die riesigen Buntglasfenster und hoch aufragenden Strebepfeiler den Eindruck, man käme von der Erde direkt in den Himmel.

Die Vernichtung des Templer­ordens fand in Paris im März 1314 mit der Verbrennung Jacques de Molays auf dem Scheiterhaufen ihren traurigen Höhepunkt. Die Illustration stammt aus den Fleurs des ­chroniques des Dominikaners Bernard Gui (gest. 1331), einer der mächtigsten Inquisitoren des Mittelalters.

Abaelard und Héloïse sind eines der berühmtesten Liebespaare des Mittelalters. Petrus Abaelardus war der größte Gelehrte seiner Zeit, doch seine Affäre mit Héloïse brachte Schande über beide. Abaelard wurde brutal kastriert, Héloïse in ein Nonnenkloster gesteckt.

Richard «Dick» Whittington (geb. um 1350) war ein talentierter Kaufmann und Lord Mayor von London. Sein gesamtes Erbe kam karitativen Zwecken zugute, unter anderem der Guildhall Library, wo ihm zu Ehren diese Statue errichtet wurde.

Nach der Zerstörung im Ersten Weltkrieg originalgetreu wiederaufgebaut, zeugen die Tuchhallen von Ypern vom enormen Reichtum der europäischen Kaufleute im Spätmittel­ alter – vor allem, wenn sie im englischen Wollhandel aktiv waren.

Caernarfon Castle im Norden von Wales wurde für den englischen König Eduard I. vom großen Master James of St. George errichtet. Die Burg verband den State of the Art im Festungsbau mit Anklängen an die berühmte Theodosianische Mauer von Konstantinopel und sollte die walisischen nationalen Mythen für die englische Krone vereinnahmen.

Die rekonstruierte Grabfigur Eleonores von Kastilien, Königin von England und Frau Eduards I., in der Westminster Abbey. Eleonore starb in der Nähe von Lincoln, daher wurden ihre Eingeweide entfernt und in der dortigen Kathedrale bestattet. Für eine mittelalterliche Kathedrale konnte eine Verbindung zum Königshaus enormen Wert haben, da sie nicht nur royale Unterstützung brachte, sondern auch Touristen zur Finanzierung der Baukosten motivierte.

Eines der berühmtesten Kunstwerke, die vom Schwarzen Tod inspiriert wurden, war das Decamerone, eine Sammlung von Geschichten, die sich eine Gruppe junger Leute erzählt, die vor der Pest aus Florenz geflohen sind. Ihr Autor war Giovanni Boccaccio, der hier mit einer im 19. Jahrhundert entstandenen Statue an der Fassade der Uffizien geehrt wird.

In England lösten Pestwellen, der lange Krieg mit Frankreich und eine überzogene Besteuerung den Bauernaufstand von 1381 aus. Während der Unruhen in London wurden der Erzbischof von Canterbury und der königliche Schatzkanzler getötet. Fast wäre auch die Regierung gestürzt worden.

Der italienische Dichter Petrarca wird oft als der erste Autor der Renaissance bezeichnet. Die Muse für seine Sonette war Laura de Noves. Dieses Porträt ist allerdings erst nach ihrem Tod entstanden, sie starb während der ersten europäischen Pestwelle.

Vier Millionen Ziegelsteine wurden im 15. Jahrhundert beim Bau des Duomo, der Kathedrale Santa Maria del Fiore in Florenz, an Ort und Stelle gehievt. Der Bau der Kuppel war über mehrere Generationen eine architektonische Herausforderung, die schließlich von Filippo Brunelleschi gemeistert wurde.

In der ersten Welle des Schwarzen Todes starben zwischen 1347 und 1351 mindestens 40 Prozent der europäischen Bevölkerung. Die hohe Sterblichkeit zog Jahrzehnte der Unruhen und Aufstände nach sich, sie bereitete aber auch den Weg für ein neues Zeitalter der Erfindungen, Entdeckungen und Erkundungen.

Die Arnolfini-Hochzeit von Jan van Eyck zeigt einen reichen Kaufmann und seine Braut. Der spielerische Umgang mit Perspektive und Spiegelung zeigt van Eyck auf dem Höhe­ punkt seines Schaffens. Ihm wird häufig nachgesagt, er habe die Ölmalerei erfunden.

Salvator Mundi war bei der Entstehung dieses Buchs das teuerste Gemälde, das je bei einer Auktion verkauft wurde. Sein enormer Wert ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass es Leonardo da Vinci zugeschrieben wird, dem Künstler und Universalgenie der Renais­ sance, der das Mittelalter mit unserer Zeit verbindet.

1453 belagerte der osmanische Sultan Mehmed II. Konstantinopel. Die aus Frankreich stammende Darstellung zeigt die riesige Kanone, die er gegen die Mauern der antiken Stadt in Stellung brachte. Der Fall der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs erschwerte den Handel im östlichen Mittelmeerraum und beflügelte so die Erkundungsfahrten über den Atlantik.

Christoph Kolumbus’ Reise in die Karibik 1492/93 gilt als entscheidender Moment in der Geschichte der mittelalterlichen transatlantischen Kontakte. Ohne die Unterstützung Isabellas von Kastilien, eine der beiden «Katholischen Könige», wäre er jedoch nicht in See gestochen, denn sie finanzierte Kolumbus, nachdem ihn andere Monarchen abgewiesen hatten.

Die Karte, die 1507 von einem deutschen Kartografen erstellt wurde, zeigt eine Landmasse im Westatlantik mit der Bezeichnung «Amerika». Außerdem zeigt sie, dass der Indische Ozean vom Süden erreichbar ist. Beide geografische Entdeckungen waren erst kurz zuvor gemacht worden und für die Europäer des Spätmittelalters noch relativ neu.

Martin Luther war der intellektuelle Architekt der aufkommenden protestantischen Reformation. Seine wortgewaltige Kritik an der katholischen Glaubenslehre und der kirchlichen Korruption fügte der mittelalterlichen römischen Kirche irreparablen Schaden zu.

Die Gutenberg-Bibel, die 1455 produziert wurde, war das erste große gedruckte Buch der abendländischen Geschichte. Die Erfindung des Buchdrucks veränderte die europäische Politik, Kultur und Religion. Sie trug maßgeblich dazu bei, die neuen Ideen der Reformation zu verbreiten.

1527 wurde Rom von einer Armee geplündert, die Karl V. aufgestellt hatte, der zukünftige Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Das Panorama von Pieter Bruegel deutet das furchtbare Blutvergießen nur an, das von Karls außer Rand und Band geratenen Truppen verübt wurde. Die mittelalterliche Welt war damit endgültig vorüber.

Zum Buch Als das einst mächtige Römische Reich zerfiel und neue, „barbarische“ Herrscher an die Macht kamen, begann im Westen Eurasiens eine tausendjährige Phase der Transformation. Dan Jones schlägt souverän Schneisen durch die ferne Welt der Könige und Königinnen, Päpste, Bauern, Mönche und Kreuzfahrer, Kaufleute, Künstler und Gelehrten. Sein fesselndes Buch verdichtet die Geschichte des Mittelalters in all ihrer Komplexität und auf dem neuesten Forschungsstand zu einer großen epischen Erzählung. Das Mittelalter ist von Augustin und Attila über den Propheten Mohammed, Dschingis Khan und Eleonore von Aquitanien bis hin zu Kolumbus und Luther mit großen Namen verbunden, aber es wurde mindestens ebenso stark von anonymen Kräften geformt, die uns bis heute beschäftigen: Veränderungen des Klimas, Seuchen, Vertreibungen und Migrationen, technologischen Revolutionen und Entdeckungen. Es war die Zeit, in der die großen Nationen entstanden, Grundsätze des Rechts und der Regierung kodifiziert wurden, die Kirchen als politische und moralische Machtfaktoren auftrumpften und Kunst, Architektur, Philosophie und Wissenschaften neu erfunden wurden. Dan Jones erzählt mit klarem Blick für das Wesentliche und mit Sinn für das vielsagende Detail, wie sich die Veränderungen mal still und leise, mal laut und gewaltsam vollzogen, und wirft so neues Licht auf den großen Umbruch, der unser Leben bis heute prägt.

Über den Autor Dan Jones, Historiker und Journalist, wurde in Großbritannien und den USA durch historische Bestseller und Fernsehdokumentationen zur Geschichte der Frühen Neuzeit und des Mittelalters bekannt. Bei C.H. Beck erschienen von ihm „Die Templer. Aufstieg und Untergang von Gottes heiligen Kriegern“ (2019) sowie „Kampf der Könige. Das Haus Plantagenet und das blutige Spiel um Englands Thron“ (Paperback, 2023).