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German Pages 256 Year 1992
Johannes Weiß
Max Webers Grundlegung der Soziologie
2., überarbeitete und erweiterte Auflage
Κ · G·Saur München · London · New York · Paris 1992
Johannes Weiß, geboren in Hellenthal/Eifel. Studium der Philosophie, Soziologie und Psychologie an den Universitäten Köln, Bonn und Freiburg i.Br., Dr. phil., Μ. Α., ο. Prof. für Theoretische Soziologie und Philosophie der Sozialwissenschaften an der Universität/Gesamthochschule Kassel. Veröffentlichungen u.a.: Weltverlust und Subjektivität. Zur Kritik der Institutionenlehre Arnold Gehlens, 1971; Wissen und Autonomie des Lehrers, 1974; Das Werk Max Webers in der marxistischen Rezeption und Kritik, 1981 (engl. Ausg. u.d.T. Weber and the Marxist World, 1986); Kultur und Gesellschaft, 1986 (als Herausgeber neben M. R. Lepsius und F. Neidhardt); Max Weber heute. Eitrige und Probleme der Forschung, 1989 (als Herausgeber); Aufsitze theoretischen, theoriegeschichtlichen, kultursoziologischen und philosophischen Inhalts.
Für Reni König und Ludwig Landgrebe
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wein, Jokanae«: Max Webers Grundlegung der Soziologie / Johannes Weiss. 2., Oberarb. und erw. Aufl. - München ; London; New York; Paris: Saur, 1992 ISBN 3-598-11092-8
2. überarbeitete und erweiterte Auflage Gedruckt auf säurefreiem Papier ®
Alle Rechte vorbehalten / All Rights Strictly Reserved K.G. Saur Verlag GmbH & Co. KG, München 1992 A Reed Reference Publishing Company Printed in the Federal Republic of Germany Jede Art der Vervielfältigung ohne Erlaubnis des Verlags ist unzulässig Druck / Binden: StrauB Offsetdruck, 6945 Hirschberg 2 ISBN 3-598-11092-8
Vorwort zur zweiten Auflage
Habent sua fata libelli - atque scriptores. A l s ich das vorliegende Büchlein vor gut 15 Jahren schrieb und herausbrachte, geschah das nicht in der Erwartung oder gar in dem Wunsch, damit der >WeberForschung* beizutreten und fortan als >Weberianer< durchs (akademische) Leben zu gehen. In Wahrheit handelte es sich vielmehr um das Neben- resp. Vorab-Produkt einer geplanten größeren Arbeit über soziale Kausalität, die von den einschlägigen, bis heute nicht ausgeschöpften Überlegungen in Webers Wissenschaftslehre ihren Ausgang nehmen sollte. Daß sich die Dinge dann anders entwickelt haben, will ich aber nicht beklagen. Es ist dies ein ganz normales und auch nicht unverdientes Autoren-Schicksal; zudem habe ich es auf diese Weise im Laufe der Jahre mit vielen Forschungsproblemen und Forscherpersönlichkeiten zu tun bekommen, die mir jederzeit als besonders gewichtig, produktiv und anregend erschienen sind. Bei den >WeberianernEinführung< nicht überholt, und dies, obwohl seit ihrem ersten Erscheinen eine große Zahl sehr beachtlicher A r beiten zur Weberschen Soziologie herausgekommen ist. Insofern ist auch die in der Einleitung unternommene Selbst-Verortung nicht veraltet, so wünschbar es auch gewesen wäre, den Kreis der dort in Betracht gezogenen Autoren und W e r k e zu erweitern. Die Auseinandersetzung mit Weber hat in den vergangenen fünfzehn Jahren an Breite, Differenziertheit, Intensität und Produktivität stark zugenommen, und deshalb müssen einige Bemerkungen über die Selektivität und Oberflächlichkeit der >Weber-Rezeption< (insbesondere in der Einleitung) gewiß als zeitbedingt gelten. Auch sie sollen aber stehenbleiben, und sei es nur, damit die mittlerweile erreichten Rezeptions- und Erkenntnisfortschritte um so leuchtender hervortreten.
5
Aus heutiger Sicht gewiß unvollständig und unausgewogen ist auch das (alte) letzte Kapitel (4.1), in dem das Verhältnis der verstehenden Soziologie zu einigen in der (damaligen) Gegenwart einflußreichen Theorietraditionen erörtert wird. Daß darin den marxistischen Theorien besondere Beachtung geschenkt wird, mag, nach den neuesten Ereignissen, besonders vorgestrig erscheinen. Man sollte aber nicht vergessen, daß das Webersche Werk ohne die marxistische Herausforderung nicht denkbar gewesen wäre und daß - umgekehrt - eben dieses Werk vielen marxistischen Theoretikern lange Zeit als größtes Ärgernis erschienen und neuerdings zum wichtigsten Medium der intellektuellen Selbsterlösung geworden ist. Im (neu verfaßten) zweiten Abschnitt (4.2) des letzten Kapitels habe ich, im Blick auf einige Weber-Interpretationen aus jüngster Zeit, versucht, die Modernität des Theoretikers Weber verständlich zu machen. Mein herzlicher Dank gilt Eveline Fuchs-Wissemann und Silke Stoklossa-Metz, ohne deren Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit ich ein weiteres Mal verloren gewesen wäre. Kassel, im Dezember 1991 Johannes Weiß
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Inhalt 1.
Einleitung
1.1
Beweggründe der vorliegenden Arbeit
9
1.2
Vorblick auf den Gang der Erörterung
19
2.
Grundzüge der Stellung Webers
2.1
Das Interesse an Sozialwissenschaft (Rickert und Weber)
20
2.2
Die theoretische Wendung des Interesses: Wertbeziehung und Kulturbedeutung sozialwissenschaftlicher Forschung
33
Probleme der Methode
45
2.3
2.3.1 Erklären und Verstehen
45
2.3.2 Begiff und Funktion des Idealtypus
65
2.4
Begriffliche und theoretische Setzungen
80
2.4.1 Die Grundanschauung: Das soziale Handeln
82
2.4.2 Soziale Kausalität (Sinn und Wert)
86
2.4.3 Bestand als Chance
88
2.4.4 Zum Individualismus- und Rationalismus-Vorwurf . .
90
2.4.5 Zur allgemeinen Intention der Weberschen Begriffsund Theoriebildung (Soziologie und Geschichte) . . .
93
2.4.6 Kampf als anthropologische Konstante?
96
2.5
Bemerkungen zu Webers Empirie
99
3.
Die Religionssoziologie
3.1
Sinn und Abgrenzung der Erörterung
103
3.2
Webers Verhältnis zur Religion in seiner Entwicklung
105
als Paradigma
3.2.1 Frühe Grundlegung leitender Hinsichten
106
3.2.2 Zur Mitwirkung Webers an den evangelisch-sozialen Bestrebungen
116
3.2.3 Der Widerstreit von christlicher Religion und moderner Welt
125 7
3.3
Religion und Rationalität - Webers Religionssoziologie im Lichte seiner geschichtlichen Erfahrungen
133
3.3.1 Hauptdimensionen des Weberschen Begriffs von Rationalität
137
3.3.2 Verhältnis der Bedeutungsdimensionen zueinander
139
3.3.3 Innerweltliche Askese und Rationalisierung
142
3.4
Zusammenfassung
152
4.
Max Weber im Theorievergleich
4.1
Verhältnisbestimmungen
158
4.2
Über >Weberianische< Theorie
164
Anmerkungen
177
Literaturverzeichnis
210
Personenregister
251
Stichwortregister
255
8
1.
Einleitung
1.1
Beweggründe der vorliegenden Arbeit
Die Allgegenwart Max Webers in der zeitgenössischen soziologischen Literatur scheint anzuzeigen, daß das Thema Weber in seinen Beständen erschöpft und zu wertbeständigen Argumentationsfiguren ausgemünzt ist. Max Weber - das wäre dann: die Protestantismus-Kapitalismus-These, das Wertfreiheitspostulat, das Bestehen auf der Notwendigkeit verstehender und typisierender Verfahren, einige Definitionen, insbesondere die vom sozialen Handeln und von den Formen legitimer Herrschaft usw. Fraglos hatte die Wirkungsgeschichte des Weberschen Werkes niemals den Charakter der Schulbildung. Immerhin ist dem Autor aber wegen seines Beitrags zur Entwicklung der Soziologie der Titel eines eminenten Klassikers dieser Wissenschaft sicher. Zu fragen ist, ob man sich mit derartigen Feststellungen der wissenschaftlichen Tagesordnung überlassen kann, woher diese auch ihre Regeln und Themata beziehen mag. Irritieren müßte zumindest die allgemeine Einsicht in die instrumentalistische, um nicht zu sagen verdinglichende Natur einer solchen Behandlung eines so hoch gepriesenen Autors. Im Falle Webers besteht für eine derartige Erwägung umsomehr Grund, als dessen Beanspruchung in einem seltenen Maße kontrovers ist, und zwar primär auf der Deutungs-, sekundär erst auf der Bewertungsebene. Wo dies stattfindet, liegt die Vermutung sehr nahe, daß man den renommierten Autor und seine Argumentationen von vornherein im Rahmen der eigenen - durchaus theoretischen - Zwecke rezipiert.1 Dieser Vorgang definiert natürlich in einer bestimmten Hinsicht geradezu den Klassiker-Status wissenschaftlicher Autoren. Bei Weber allerdings gewinnt das übliche Verfahren eine neue Qualität. Daß sich die Beanspruchungen auf das ganze Spektrum gegenwärtiger theoretischer und wissenschaftstheoretischer Positionen verteilen und auch dessen Extreme einschließen, ist zwar nicht die Regel, widerfährt aber auch anderen Klassikern wie E. Dürkheim. Das Eigentümliche der Weber-Aneignung scheint darin zu liegen, daß sie über diese große Extensität hinaus durchgehend als sehr prinzipiell verstanden wird. Man beruft sich auf Max Weber regelmäßig gerade dann, wenn es um die allgemeinsten Grundlagen der eigenen Stellung geht - und in der Überzeugung, sich damit auch 9
auf die grundlegenden Intentionen Webers zu beziehen. Nicht an, sondern mit Weber scheiden sich derart die Positionen. Wie ist der Tatbestand zu erklären, daß Max Weber in dieser Weise zum Gegenstand einer allseitigen, ebenso prinzipiellen wie heterogenen Rezeption geworden ist? Hat vielleicht (wie ζ. B. bei Hegel) die Vieldeutigkeit des Werks, seine - angebliche - »magnificent ambiguity« 2 in Verbindung mit der stupenden Gelehrsamkeit des Autors diese Art der Beanspruchung hervorgetrieben? Auf das mutmaßliche Prestige-Motiv ist nicht weiter einzugehen. Sicher erscheint jedenfalls, daß es nicht eine ganz außergewöhnliche Vieldeutigkeit auf Seiten Webers ist, die diesem Motiv die Bahn eröffnet hätte. Tatsächlich zeichnen sich seine Arbeiten durch einen vergleichsweise hohen Grad an Klarheit und Entschiedenheit aus. Die kontroverse Beanspruchung Webers scheint vielmehr im wesentlichen darauf zurückzugehen, daß die mannigfachen Elemente, die Weber in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen bemüht war, im Zuge der Rezeption wieder isoliert, in neue Zusammenhänge versetzt oder - zumindest - mit je verschiedenem relativen Gewicht versehen werden. In der Kontroverse über die angemessene Aneignung Webers werden so die disiecta membra seiner theoretischen Überlegungen gegeneinander gewendet, nachdem ihnen jeweils die fundamentale Bedeutung für Webers Ansatz zugesprochen worden ist. Es ist insbesondere, aber keineswegs ausschließlich, der denkbar radikalste Gegensatz in der Weber-Rezeption, der allein diese Erklärung zuläßt. Gemeint ist der Gegensaz zwischen der Deutung Webers als dem entschiedenen Vorkämpfer einer naturalistischen Sozialwissenschaft auf der einen Seite und als dem die Tradition der geisteswissenschaftlichen Theorie systematisierenden Vertreter eines strikt antinaturalistischen Begriffs einer solchen Wissenschaft auf der anderen Seite. Die Repräsentanten der Naturalismus-Deutung (zuletzt H. Albert 3 ) beziehen sich auf Webers wiederholte Kritik an (primär) ontologisch begründeten Grenzziehungen zwischen den Wissenschaften im allgemeinen und auf das Wertfreiheitspostulat sowie die Behauptung der kausal-analytischen Funktion auch der Sozialwissenschaften im besonderen. Die antinaturalistische Rezeption ihrerseits 4 stützt sich vor allem auf Webers Begriff vom sozialen Handeln und die korrespondierende Rolle verstehender Methodik, sowie darauf, daß nicht nur die Webersche Theorie und Methodologie, sondern auch, erst recht, seine materiellen Arbeiten eindeutig auf einen historischen Wissenschaftsbegriff verwiesen. 10
Gerade bei Vertretern (und Kritikern) der in diesem Sinne kontroversen Weber-Deutungen und Weber-Aneignungen findet sich, wie verständlich, verschiedentlich zur Erklärung dieser Lage nun die These, daß die Webersche Vorstellung von Sozialwissenschaft selbst die entsprechenden Widersprüche enthalte und/oder daß es überhaupt keine systematische oder systematisierbare Vorstellung dieser Art bei ihm gebe, sondern nur eine »unausgeglichene Vielheit von Prinzipien der Begriffsbildung und der Systembildung«.5 Dabei werden die Widersprüche vornehmlich als solche zwischen den methodologischen und den materiellen Arbeiten oder als Widersprüche zwischen den methodologischen Reflexionen verschiedener Phasen (und verschiedener Provenienz) verstanden. Die explizite Schlußfolgerung, daß wegen solcher Widersprüche von einem systematisierbaren Begriff von Sozialwissenschaft bei Max Weber überhaupt nicht gesprochen werden könne, ist allerdings vergleichsweise selten. Sie findet sich naturgemäß vornehmlich in der WeberKritik und dann wiederum primär in der Form, daß die Unvereinbarkeit jeder angemessenen soziologischen Theoriebildung und Methodologie mit dem durchdringenden »Individualismus« des Weberschen Denkens behauptet wird.® Tatsächlich hat Max Weber selbst, wie bekannt, nie eine zusammenfassende und systematische Darstellung seines Begriffs von Soziologie in theoretischer und methodologischen Hinsicht gegeben. Die entsprechenden Ausführungen finden sich über viele Arbeiten verstreut und gehen keineswegs bruchlos ineinander über. Welche Gründe (außer dem frühen Tod) Max Weber davon abgehalten haben dürften, eine diese heterogenen Beiträge integrierende (notwendigerweise stark wissenschaftstheoretisch orientierte) Explikation seiner Vorstellung von Soziologie zu unternehmen, ist hier nicht zu erwägen. Aus der Feststellung, daß Weber selbst seinen Begriff von Soziologie nicht prinzipiell und systematisch entwickelt hat, folgt freilich nicht, daß es unmöglich oder unzulässig sei, derartiges zu versuchen. So hat dieselbe - wahrscheinlich noch verschärfte - Sachlage im Falle von Karl Marx ja keineswegs verhindert, daß eine Unzahl von entsprechenden Arbeiten entstand, was sicherlich nicht nur mit dem ganz anderen historischen und politischen Stellenwert dieses Autors zusammenhängt. Dennoch fehlen in der Fülle der Weber-Literatur derartige Bemühungen fast völlig. Die Arbeit, die als einzige dieser Art ursprünglich in Deutschland herauskam und die auch bis heute immer 11
noch am ehesten den bezeichneten Zweck erfüllt, ist A. v. Scheltings Max Webers Wissenschaftslehre (1934). Scheltings Untersuchung enthält eine sehr lehrreiche und in weiten Teilen auch adäquate Diskussion der zentralen wissenschaftstheoretischen Prinzipien Max Webers, und zwar unter durchgehendem Bezug auf deren Umsetzung in Webers eigene materielle Arbeiten. Dennoch dürfte diese Arbeit nicht besonders gut geeignet sein, die Webersche Position in der heutigen Auseinandersetzung plausibel zu machen. Der wichtigste Grund ist nicht ihr Alter, sondern der Umstand, daß sie allzu stark in der Immanenz der kulturwissenschaftlichen Perspektive verharrt.7 Neben v. Scheltings Arbeit sind hier nur noch zwei Bücher amerikanischer Autoren zu nennen, die allerdings auf ihre Weise der deutschen Wissenschafts tradition eng verbunden sind: Talcott Parsons The Structure of Social Action von 1937 und R. Bendix Max Weber - An Intellectual Portrait von 1960 (deutsch 1964). Zu beiden Arbeiten sind in diesem Zusammenhang nur einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen. T. Parsons ist an Webers (wie an Paretos und Dürkheims) Werk insofern interessiert, als es als Beitrag zum »single coherent body« einer allgemeinen Theorie des sozialen Handelns verstanden werden kann. Trotz dieser Zielsetzung läßt sich Parsons in einer bemerkenswert intensiven Weise auf Webers Stellung ein. So erfährt nicht zuletzt das Problem der Wertbeziehung eine immerhin viel adäquatere Behandlung als bei der Mehrzahl selbst der deutschen Interpreten Webers.8 Bei der genannten Intention von Parsons überrascht es allerdings nicht, wenn an entscheidenden Stellen dennoch die eigentümliche Natur des Weberschen Ansatzes gerade in Differenz zu Dürkheim und Pareto nicht hinreichend entwickelt wird. Daran ändert auch der Tatbestand nichts, daß dies wohl noch mehr für die Ansätze der beiden anderen Autoren gilt.® Reinhard Bendix' Arbeit bietet in der Hauptsache etwas von der vorliegenden durchaus Verschiedenes, wenn auch in seiner Art mindestens ebenso Wichtiges: Nicht auf eine systematische Klärung des Weberschen Begriffs von Soziologie geht sein Interesse, sondern darauf, die ungeheure Fülle und Dichte der theoretischen und historischen Analysen Webers zugänglich zu machen. Unzweifelhaft ist dieses mühevolle Unternehmen in einer hervorragenden Weise gelungen. R. König hat nun anläßlich der Arbeit von Bendix die Auffas12
sung geäußert, daß die Wahl dieser Ebene der Weber-Rezeption die heute angemessene sei, da sie der verbreiteten Überschätzung der wissenschaftstheoretischen Reflexionen Webers entgehe 10 . Diese Feststellung ist angesichts des oft sehr fruchtlosen Streits um Webers Begriff der Sozialwissenschaft sicherlich verständlich. Dennoch soll und kann sie zweifellos nicht bedeuten, daß der Versuch einer systematischen Klärung auf dieser Ebene grundsätzlich als boden- und nutzlos zu gelten habe. Tatsächlich beruht die Monographie von Bendix durchaus auf der Voraussetzung, daß den theoretischen und historischen Analysen Webers eine spezifische Wissenschaftsauffassung zugrunde liege. Eine Explikation derselben, die natürlich auf Webers Selbstinterpretation rekurrieren muß, ist daher nur als notwendiges Korrelat der Bendix-Arbeit anzusehen. Sie ist ebensowenig gegen diese auszuspielen wie durch diese zu ersetzen oder - wenigstens - zu überholen. Die Bendixsche Untersuchung ist ausgezeichnet durch die Entschiedenheit, mit der sie sich auf die Sache Webers einläßt. Der Streit über Webers Wissenschaftstheorie scheint demgegenüber, wie schon oben bemerkt, durch einen allseitigen Mangel an eben dieser Einstellung gekennzeichnet. Von einigen Ausnahmen abgesehen (zu denen sicherlich das genannte Werk von A. v. Schelting, aber auch ζ. B. die Arbeiten von F. Tenbruck und D. Henrich zu rechnen sind), ist das Interesse, mit Webers Hilfe Recht zu bekommen, sehr viel stärker, als das, Weber selbst zunächst einmal gerecht zu werden. Allerdings wäre es sehr falsch, nicht auch in Webers - nicht nur räumlich disparaten - wissenschaftstheoretischen und methodologischen Analysen und in ihrem problematischen Verhältnis zu seinen materiellen Arbeiten wichtige Gründe dafür zu sehen, daß es an einer neueren, hinreichend ausführlichen und systematischen, sowie nicht primär durch ein bestimmtes Verwertungsinteresse geleiteten Darstellung des Weberschen Begriffs von Soziologie fehlt. Die im Vorstehenden kritisierte Art des Umgangs mit den disiecta membra des Weberschen Werks wird sicherlich durch dessen Charakter begünstigt. Dabei ist nicht in erster Linie an einen vergleichsweise ungeordneten Zustand und die verstreute Lage der einschlägigen Reflexionen Webers zu denken. Dies hat, wie gesagt, bei anderen Autoren eine angemessene Behandlung und mannigfache Systematisierungsversuche nicht verhindert. Entscheidend scheinen vielmehr Gründe zu sein, die in der Eigenart der Weberschen Stellung liegen. Diese Eigenart ist häufig als Widersprüch13
lichkeit ausgelegt worden, und zwar sowohl hinsichtlich verschiedener Denkphasen wie auch, was schwerer wiegt, hinsichtlich gleichzeitiger Argumentationen Webers. Nun ist natürlich nicht zu bestreiten, daß sich Unvereinbarkeiten auch im letzteren Sinne in Webers wissenschaftstheoretischen und theoretischen Reflexionen aufweisen lassen. Die Behauptung jedoch, daß die Webersche Position schlechthin von grundsätzlichen Widersprüchen gekennzeichnet sei, scheint durchgehend darauf zurückzugehen, daß Webers Intentionen {als Intentionen) zumindest vorschnell an eigenen Festlegungen der Interpreten gemessen wurden. Wäre es nicht denkbar, daß sich die Weberschen Intentionen den jeweils selbstverständlich erscheinenden Klassifizierungsschemata im allgemeinen und den darin vorgesehenen Alternativen im besonderen nicht fügen? Tatsächlich dürfte die relative Fruchtlosigkeit der bisherigen Diskussion über Webers Wissenschaftsbegriff, dürften die WiderspruchsThese wie die darauf sich gründenden extrem gegensätzlichen Weber-Aneignungen, aus der Wirksamkeit wissenschaftstheoretischer Festlegungen herrühren, auf deren Überwindung gerade Webers Reflexionen gerichtet waren.11 Man wird nach dieser hier zu vertretenden Auffassung der scheinbaren Ambivalenz zentraler Argumentationen und Begriffe Webers gerade nicht gerecht, wenn man hier vorweg dem eigenen Vorverständnis gemäß in der einen oder anderen Richtung Eindeutigkeit herzustellen versucht. Die wichtigsten Themen, bei denen Vermittlungsbemühungen Webers derart als Unentschiedenheit ausgelegt und korrigiert werden, dürften sein: die ganze Frage der Wertbeziehung im Verhältnis zur Werturteilsfreiheit bzw. zur Frage der Objektivität soziologischer Erkenntnis, der Zusammenhang von Verstehen und Erklären, der durch Rationalität bzw. Rationalisierung bestimmte allgemeine Bezugsrahmen der Weberschen Reflexionen sowie schließlich - in diesem Rahmen - die zentralen Kategorien auf theoretischer und methodologischer Ebene, vor allem die Kategorien der Chance einerseits, der Begriff des Idealtypus andererseits. Endlich wird, wie angedeutet, der Individualismus auf beiden genannten Ebenen ja sehr häufig so verstanden, als habe Max Weber sich grundsätzlich nicht zu einer genuin wissenschaftlichen und insbesondere nicht zu einer sozialWissenschaftliehen Stellung entscheiden können. Für alle derart orientierten Interpretationen lassen sich auch innerhalb des Weberschen Werks passende Argumente finden. Dies kann gar nicht anders sein, wenn die Weberschen Überlegungen, 14
wie nicht zu bezweifeln, bei aller Entschiedenheit besonders in ihren kritischen Partien einen viel eher erprobenden als festlegenden und abschließenden Charakter haben. Dennoch scheint mir die Zielrichtung dieser Überlegungen im Grundsätzlichen so klar zu sein, daß danach einzelne Bemerkungen Webers beurteilt werden können und - im Sinne einer immanenten Kritik - auch zunächst beurteilt werden müssen. Damit ist die vielleicht wichtigste Voraussetzung der vorliegenden Arbeit ausgesprochen: Es gibt eine einheitliche und eindeutige Intention in Webers theoretischen und wissenschaftstheoretischen Bemühungen und diese einheitliche Intention läuft nicht, als bloß gute Absicht, gleichsam neben den heterogenen Denkelementen her, sondern hat ihr Ziel in deren Vermittlung. D. Henrich hat es - erfolgreich - unternommen, die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers durch den Rückgang auf dessen ethische Prinzipien zu erweisen 12 . Die vorliegende Arbeit fragt nicht nach dem außerwissenschaftlichen »einzigen Prinzip« 13 dieser Einheit, sondern danach, wie sie sich als wissenschaftstheoretische ausweist und wie sie sich in den theoretischen und in den empirisch-historischen Analysen realisiert. Insofern gilt allerdings auch für sie Henrichs Interpretationsprämisse: »Die Konsequenz des Gedankens setzt sich bei Forschern vom Range Max Webers weit elementarer durch, als oft vermutet wird, und das Bemerken scheinbarer Unstimmigkeiten enthält meist einen Hinweis auf eine noch verborgene sachliche Einheit.« 14 Es läßt sich die einheitliche Intention Webers in der nur scheinbar trivialen Formel ausdrücken, daß es ihm weder um eine naturwissenschaftliche, noch um eine geisteswissenschaftliche, sondern um eine sozialwissenschaftliche Soziologie gegangen sei.15 Die Ambivalenzen und Spannungen, die Webers Stellung kennzeichnen, definieren die Soziologie, sofern sie sich als eigentümliche Wissenschaft jenseits der - in Deutschland vor allem - überkommenen Grenzziehungen zu begründen versucht. Wenn dies aber zutrifft, dann ist vielleicht gerade die interesseloseste Klärung des Weberschen Begründungsversuches die in der gegenwärtigen Lage interessanteste. Dies ist jedenfalls die Ansicht, die sich beim Autor der vorliegenden Arbeit über seine Beschäftigung mit Webers Werk und dessen Interpreten ausgebildet hat und die hier zu begründen und zu entwickeln versucht wird. Gegen die Aktualität des Weberschen Wissenschaftsbegriffs wird nun häufig (nicht erst heute und keineswegs nur von marxistischer 15
Seite) die These gesetzt, daß Weber die Sphäre der Wissenschaft strikt von der des gesellschaftlichen Handelns trenne und damit exemplarisch eine überaus sterile und ohnmächtige Art von Soziologie vertrete.16 Es ist auf die Begründung dieser These im einzelnen später einzugehen. An dieser Stelle ist nur zu bemerken, daß solche Weber-Kritik fast durchgehend ein weniger entwickeltes Problembewußtsein als Weber selbst zu repräsentieren scheint. In der Regel hängt sie sich ausschließlich an dem Gegensatz von Wert- und Tatsachenurteil auf. Es ist demgegenüber eine weitere diese Arbeit motivierende Überzeugung, daß bei Max Weber die Bedingungen einer wechselseitigen Vermittlung von wissenschaftlichen und lebenspraktischen Vollzügen in einer Weise bedacht sind, die bei der üblicherweise verengten Perspektive der Kritik gar nicht ins Blickfeld kommt. Erst neuerdings und immer noch sehr sporadisch findet sich die Einsicht, daß der sogenannte Werturteilsstreit weitgehend an der Sache vorbeigegangen ist bzw. sich mit Pseudoproblemen oder völlig unbegründeten Anmaßungen herumgeschlagen hat. 17 Allmählich dürfte sichtbar werden, daß die Frage überhaupt nicht lauten kann, ob Tatsachenfeststellungen in unbedingte Sollensaussagen zu überführen seien. Die nicht nur sinnvolle, sondern zwingend notwendige Frage ist vielmehr, ob und wie für den Bereich der Sozialwissenschaften eine wechselseitige Übersetzbarkeit lebensweltlicher und lebenspraktischer Aussagen einerseits, wissenschaftlicher Aussagen andererseits zu gewährleisten ist. Nicht die Wissenschaftsfähigkeit von Sollensaussagen ist das Problem, sondern das Verhältnis des gesellschaftlichen Selbstverständnisses geschichtlich handelnder Menschen und Menschengruppen zu den korrespondierenden oder konkurrierenden sozialwissenschaftlichen Aussagensystemen. H. Rickert vor allem verwendete (nach dem Vorgang von G. Simmel) den Terminus Wirklichkeitswissenschaft, um die Affinität der historischen Wissenschaften zur konkreten Situationserfahrung des Menschen auszudrücken.18 Zu den Naturwissenschaften, die durch eine prinzipielle Entfremdung von der alltäglichen und anschaulichen Erfahrung gekennzeichnet sind, rechnete er auch die Soziologie. Rickert selbst meinte, Weber habe sich, und zwar aus praktisch-politischen Gründen, mehr und mehr der Soziologie in diesem Sinne zugewandt.19 Auch in dieser Frage wurde Weber also sehr früh schon und immer wieder 20 auf eine Alternative festgelegt, die offenkundig nicht die seine war. Im Falle Rickerts ist dies sehr verständlich; 16
ihm mußte die von Weber unter Bezug auf zentrale Kategorien seiner (Rickerts) Wissenschaftstheorie angezielte historische Soziologie als contradictio in adiecto bzw. als Abfall erscheinen, auch wenn er selbst durchaus Wissenschaften zwischen reiner Historie einerseits und reiner Naturwissenschaft andererseits anerkannte. In jedem Fall hätten jedoch spätere Weber-Interpreten von der Feststellung ausgehen müssen, daß sich Weber eben auch in seiner Rickert-Rezeption von einer doppelten Notwendigkeit bestimmen läßt: Für ihn gilt es, die Soziologie sowohl als erklärungsfähige Wissenschaft zu begründen, wie sie auf einer Ebene zu entwickeln, die für das Selbst- und Wirklichkeitsverständnis gesellschaftlichen Handelns zumindest zugänglich bliebe. Tatsächlich wird die These von der Wirklichkeitslosigkeit der Weberschen Soziologie aus recht heterogenen Gründen, durchgehend aber gerade nicht in der bezeichneten Rickertschen Weise vertreten. Nicht selten wird auch sie unmittelbar aus dem Wertfreiheitspostulat abgeleitet.21 Die dabei implizierte Gleichung: wirklichkeitsbezogene gleich wertende Wissenschaft beruht nun für Weber, wie gesagt, wieder auf einer ganz falschen Alternative. Nicht praktische Bewertung (die auf eine Ideologisierung der Analysen der Wirklichkeit hinausliefe), sondern theoretische Wertbeziehung kann und soll nach Weber sicherstellen, daß eine auf Beschreibung und Erklärung sozialer Realität zielende Wissenschaft mit dem Realitätsbewußtsein der geschichtlich Handelnden zu vermitteln ist. Gerade auch in dieser Hinsicht ist so das - in der Weberrezeption und -interpretation sehr vernachlässigte - Problem der Wertbeziehung von fundamentaler Bedeutung. Wieweit Webers Behandlung desselben angesichts der eigenen Intentionen hinreicht, ist allerdings ein sehr diskussionswürdiges Problem. Es dürfte unbezweifelbar sein, daß auch diese zuletzt bezeichnete Seite der Weberschen Grundlegung der Soziologie heute noch, oder heute wieder, auf Interesse rechnen kann. Allerdings ist Webers Position in der gegenwärtigen Diskussion über Realitätsverhältnis und Realitätsverlust der Soziologie bisher nicht angemessen ins Spiel gebracht worden. Dies dürfte auch darin seinen Grund haben, daß Weber in dieser Frage wenig explizit ist. Die folgende Untersuchung ist von der Auffassung bestimmt, daß seine Stellung auch in dieser Hinsicht explikations- und begründungsfähig ist. Das Gesagte läßt sich thesenhaft folgendermaßen resümieren: Motivierend für die vorliegende Arbeit ist die Überzeugung, daß gerade der einheitliche Zusammenhang des Weberschen Denkens 17
von großer Fruchtbarkeit für die gegenwärtige Grundlagendiskussion der Sozialwissenschaften ist. Im Gegensatz zu einer Einschätzung, die sehr häufig vertreten wurde, beruht sie näherhin auf der Annahme, daß die wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen Webers als konstitutiver Teil seiner Grundlegung der Soziologie aufzufassen sind, weil nur von ihnen her die Möglichkeit und die Notwendigkeit dieses theoretischen Ansatzes einsichtig werden. Ebenso sichert nur eine angemessene Berücksichtigung der - impliziten oder expliziten - wissenschaftstheoretischen Setzungen Webers schließlich, daß die Gründe der spezifischen Praxisfähigkeit seiner Soziologie hervortreten. 22 Auch dies ist eine bestimmende Voraussetzung der vorliegenden Arbeit; sie steht vor allem dem sehr verbreiteten Verfahren entgegen, aus dem Postulat der Wertfreiheit allein einen praxisfeindlichen (und stattdessen soziotechnischen) Charakter der Weberschen Position abzuleiten.23 Allerdings wird zu zeigen sein, daß sich in Webers persönlichem Verhältnis zur (politischen) Praxis keineswegs seine wissenschaftstheoretische und theoretische Position konsequent durchsetzt, daß sich vielmehr eher die These begründen läßt, hier liege ein schwer auflösbarer, prinzipieller Widerspruch des Weberschen Denkens. Es entspräche nicht den Intentionen der vorliegenden Arbeit, wenn darin Betrachtungen zur Genese der Stellung Webers viel Raum zugestanden würde. Der Entstehungskontext Weberscher Argumentationen ist nur insoweit zu klären, als dies zum näheren Verständnis unerläßlich ist. Dies bezieht sich natürlich primär auf die Beinflussung Webers durch den (südwestdeutschen) Neukantianismus, die der Anlaß zu sehr extensiven geistesgeschichtlichen Interpretationen oder Rekonstruktionen sein könnte. Gegenüber solchen-sehr legitimen-Nachforschungen 24 soll im folgenden der Grundsatz gelten, daß die von anderen Autoren entlehnten Begriffe und Argumente sich im Zusammenhang des Weberschen Denkens rechtfertigen lassen müssen oder aber zu modifizieren oder - endlich - aufzugeben sind. Daß diese entlehnten Elemente bei Weber durchgehend in einen neuen Kontext treten, ist offenkundig - auch wenn dieser Tatbestand Weber selbst nicht immer hinreichend bewußt ist. Das Bemühen, einen Autor (partiell) besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, ist weder illegitim noch anmaßend: Recht verstanden, ist es das genaue Gegenteil willkürlicher, ausbeutender Deutung.
18
1.2
Vorblick auf den Gang der Erörterung
Im ersten Teil sollen die Grundzüge des Weberschen Begriffs einer historischen Sozialwissenschaft erörtert werden. Der spezifische Charakter und die leitenden Prinzipien dieses Wissenschaftsbegriffs scheinen sich mir am besten zu erschließen, wenn man sie auf die Perspektive und die Interessen geschichtlichen Handelns bezieht. Zu zeigen ist also, wie sich Sinn, Notwendigkeit und Einheit aller zentralen Kategorien der Weberschen Grundlegung aus dem Bestreben deuten lassen, dem gesellschaftlichen Handeln in einer konkreten historischen Epoche Möglichkeiten einer dezidiert wissenschaftlichen Orientierung an die Hand zu geben. Nur in diesem Kontext läßt sich nicht zuletzt auch der umstrittene individualistische und rationalistische Charakter des Weberschen Ansatzes angemessen beurteilen. Der zweite Teil der Arbeit ist - im allgemeinen und in seiner spezifischen Durchführung - ebenfalls von dem Leitgedanken bestimmt, daß der Webersche Entwurf einen eigentümlichen Versuch darstellt, die Vermittelbarkeit (das heißt natürlich gerade nicht: Identität) von möglichst exakter Wissenschaft und möglichst unverkürzter Lebenswelt (auf der Wissens- und Handlungsebene) zu sichern. Es soll in diesem Teil der zunächst abstrakt entwickelte Begriff von Sozial Wissenschaft an Webers eigenen religionssoziologischen Untersuchungen exemplifiziert bzw. überprüft werden. Insbesondere sind die für diese Untersuchungen konstitutiven Wertbeziehungen zu bestimmen und hinsichtlich der sie begründenden lebensweltlichen Erfahrungen aufzuklären. Die abschließenden Überlegungen sollen - in ganz vorläufiger Weise - deutlich machen, daß Webers Grundlegung der Soziologie durch neuere und/oder aktuelle Ansätze nicht grundsätzlich überholt ist, daß vielmehr eine stärkere und vor allem systematischere Berücksichtigung der Weberschen Intentionen die Klärung kontroverser theoretischer und methodologischer Probleme entscheidend fördern dürfte.
19
2.
Grundzüge der Stellung Webers
2.1
Das Interesse an Sozialwissenschaft (Rickert und Weber)
Die wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen, die Anstoß und Materialbasis des Weberschen Grundlegungsversuches darstellen, sind von einem in seinen Voraussetzungen nicht hinreichend explizierten Motiv bestimmt. Die Unversöhnlichkeit der beteiligten Positionen hat einen entscheidenden Grund darin, daß dieses Motiv nie hinreichend ins Bewußtsein gehoben und in seinem Recht geklärt wurde. Webers Überlegungen ihrerseits, die auf eine Überwindung des überkommenden Konflikts zielen, sind nur angemessen zu beurteilen, wenn sie im Horizont eben dieses Beweggrundes wissenschaftstheoretischer (und theoretischer) Reflexion aufgefaßt werden. Dies gilt, obwohl auch Max Weber in diesem Punkte keineswegs sehr explizit ist. Der zentrale und ausdrückliche Gegenstand dieser Auseinandersetzungen war die Frage, ob es tendenziell nur eine Art von Wissenschaft (und zwar nach dem Vorbild der exakten Naturwissenschaften) geben könne, oder ob es eine Gruppe von Disziplinen gebe, die auf einem Wissenschaftsbegriff von eigener Legitimität Anspruch hätten. In einem strengeren Sinne ontologisch (d. h.: durch Rekurs auf das Ansichsein des jeweiligen Wirklichkeitsbereichs) wurde die Notwendigkeit (oder aber: die Unmöglichkeit) einer entsprechenden Differenzierung der Wissenschaften kaum begründet - jedenfalls nicht mehr in der hier interessierenden Phase der Diskussion. Insbesondere stellen sich die wichtigsten Anwälte eines eigentümlichen Wissenschaftsstatus der historischen Kulturwissenschaften, auf die sich Max Weber dann bezieht, ausdrücklich gegen einen solchen Begründungs versuch. Weber seinerseits läßt sich in aller Ausführlichkeit auf dessen Widerlegung (bei Vertretern der Historischen Schule der Nationalökonomie wie Roscher, Knies und Schmoller) ein. Nicht die historische oder kulturelle Wirklichkeit an sich, sondern ein spezifisches Interesse des Menschen an dieser Wirklichkeit begründet nach der Ansicht dieser Autoren diesen eigentümlichen Status: Die eigene Legitimität dieses Wissenschaftstypus steht und fällt mit der Legitimität dieses Interesses. Gegenstand des Interesses aber sind zunächst nicht besondere Züge an der historischen Wirklichkeit, sondern diese Wirklichkeit selbst in der Form, wie sie der (außerwissenschaftlichen) Erfahrung 20
immer schon gegeben ist. Es läßt sich also das Motiv der Theorie der Kulturwissenschaften auf die Formel bringen: Diese Wissenschaften sollten sich ihrem Gegenstandsbereich theoretisch und analytisch so nähern, daß keine prinzipielle Entfremdung von der vorwissenschaftlichen Wirklichkeitsauffassung eintrete. Eine solche Entfremdung sei das um willen exakter Berechen- und Beherrschbarkeit des Wirklichen bewußt erzeugte Resultat der Naturwissenschaften, die, wie Windelband25 es formuliert, »aus der farbigen Welt der Sinne . . . ein System von Konstruktionsbegriffen . . . , eine Welt von Atomen, farblos und klanglos« herauspräparieren. Wegen dieser eindeutigen Tendenz nannte G. Simmel Wissenschaften vom Typus der Naturwissenschaften (»Gesetzeswissenschaften«) »ansich wirklichkeitslos«; in demselben Sinne galt ihm die Geschichtswissenschaft als »Wirklichkeitswissenschaft schlechthin«.2® Die systematische Rechtfertigung der historischen Wissenschaft als »Wirklichkeitswissenschaft« leistete dann H. Rickert.27 Rickert war es auch, der - was durch seine Klassifizierung als Neukantianer oft geradezu verdeckt wird - das Recht dieses Typs von Wissenschaft ganz explizit auf der Legitimität des Interesses an der »Welt des wirklichen Lebens«28 begründete.29 Für die »naturwissenschaftliche« Erkenntnisweise, die - unangesehen des Wirklichkeitsbereichs - auf möglichst allgemein-gültige, gesetzesförmige und - im optimalen Fall - mathematische Aussagen abstellt, erweist sich, und zwar mit Notwendigkeit und zu Recht, diese Realität der lebensweltlichen Erfahrung als bloße Erscheinungswelt. Dies gilt, wie schon bemerkt, nach Rickert auch hinsichtlich der gesellschaftlichen Wirklichkeit für die »nomothetisch« verfahrende Soziologie 30 - »sowenig Erfreuliches diese Wissenschaft mit dem wenig erfreulichen Namen auch bisher erreicht haben mag«.31 Die Theorie der historischen Wissenschaften hat sich nach Rikkert nicht gegen diese Wirklichkeitsauffassung schlechthin zu wenden und auch nicht dagegen, daß dieselbe sich auf das Feld des Gesellschaftlichen ausdehnt. Vielmehr hat sie festzustellen und zu begründen, daß 1. ein derartiger naturwissenschaftlicher Wirklichkeitsbegriff das Recht der lebensweltlichen Erfahrungsweise grundsätzlich nicht aufheben kann32 und daß es 2. darüberhinaus eine Möglichkeit gibt, diese Erfahrungsweise ihrerseits auf eine wissenschaftliche Ebene von eigener Legitimität zu heben. Die erste Aufgabe könnte man als Phänomenologie der lebensweltlichen Erfahrung in wissenschaftstheoretischer Absicht bezeichnen. Sie wird von Rickert selbst nicht in Angriff genommen, und 21
zwar auch nicht in den Grenzen der Erfahrung von gesellschaftlicher Wirklichkeit. Man wird darüberhinaus sagen müssen, daß sie bis heute auf eine systematische Behandlung wartet.33 Die wichtigsten einschlägigen, jedoch auch wenig entfalteten Überlegungen stammen vor allem von A. Schütz 34, der die generelle Problemstellung von E. Husserl35 bezog, nicht aber auf die entsprechenden und schon auf die gesellschaftliche Realität konzentrierten Motive des Rickertschen Denkens rekurrierte. Die zweite Aufgabe dagegen versucht Rickert in seinen Analysen grundsätzlich zu lösen. Näherhin konzentrieren sich seine Überlegungen darauf, die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung hinsichtlich der gesellschaftlichen Welt zu bestimmen und die Prinzipien einer darauf gerichteten historischen Wissenschaft zu entwickeln - also die Geschichte im engeren Sinne als Wissenschaft zu begründen. Das »allgemeine Objekt« dieser Wissenschaft nämlich ist für ihn die Gesellschaft36 oder: »das soziale Leben des Menschen«.37 Die spezifische Differenz der Geschichte gegenüber der »naturwissenschaftlichen« Soziologie liegt eben darin, daß die erstere als Wissenschaft sich auf den Boden der gesellschaftlichen Erfahrung des »wirklichen Lebens« hält. Es ist die unableitbare Legitimität dieser Erfahrungsweise, die Rickert zu der Feststellung führt, daß »die Soziologie niemals an die Stelle der Geschichte treten« könne.38 Welches sind nun die Merkmale der historischen Wirklichkeitsauffassung, welche diese von der Perspektive des »wirklichen Lebens« her bezieht und gegen den Absolutheitsanspruch der naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise behauptet? Die Fragestellung macht deutlich, daß ihre Beantwortung wenigstens mittelbar auch Annahmen über die Erkenntnisweise des »wirklichen Lebens« enthalten muß. Die bekannte fundamentale These Rickerts zur Eigenart wissenschaftlich-historischer Erkenntnis lautet, diese verfolge im Gegensatz zur generalisierenden und nomothetischen Tendenz der Naturwissenschaften einen individualisierenden Endzweck (was die Generalisierung als ErkenntnismiiieZ nicht ausschließe, sondern notwendig fordere). In der angemessenen Erfassung und Erklärung des historisch Einzelnen als eines solchen liegt nach Rickert ihr leitendes Interesse. Eben diese individualisierende Intention, die alle weiteren Merkmale der historischen Erkenntnis impliziert, ist es aber auch, die die historische Wissenschaft als »Wirklichkeitswissenschaft«, d. h. als Wissenschaft im Erfahrungshorizont des »wirk22
liehen Lebens« definiert. Die zu erwartende Annahme über diesen Erfahrungshorizont formuliert Rickert folgendermaßen: »Wir leben im Einzelnen, und wir sind wirklich nur als Einzelne. Der Beweis, daß das Interesse am Besonderen unberechtigt sei, müßte erst geführt werden.« 39 An anderer Stelle verbindet er diese These mit einer Erläuterung des unter »wirklichem Leben« Verstandenen, indem er von der »individualisierenden Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens« (Sperrung von mir. J. W.) spricht.40 Die »individualisierende Wirklichkeitsauffassung«, von Rickert auch als »ursprünglichste historische Auffassung« bezeichnet 41 , welche die Geschichte im engeren Sinne auf eine wissenschaftliche Ebene zu heben strebt, wird von ihm also auf die Interessen des Handelns bezogen. Das »generelle Objekt« von Geschichte ist, wie gesagt, die »Gesellschaft« oder das »soziale Leben«. Die historische Wissenschaft zielt so, nach Rickert, darauf, dem wirklichen Leben als Praxis Gesellschaftliches so durchsichtig zu machen, wie es der Praxis immer schon und notwendig begegnet: als je besonderes, einzigartiges. Die näheren Merkmale der »individualisierenden Wirklichkeitsauffassung« des Lebens wie der Wissenschaft werden von Rickert, soweit er sich auf solche Erläuterungen überhaupt einläßt, von eben diesem individualisierenden Grundzug hergeleitet. Einleuchtend erscheint die Verbindung des individuell-konkreten mit dem anschaulichen Charakter von Realität 42 , wobei Anschauung nicht bloß sinnliche Anschauung, sondern die Evidenz des unmittelbar Präsenten meint. Daneben spricht Rickert vor allem davon, daß diese Wirklichkeitsauffassung im Gegensatz zur quantifizierenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisweise sich primär und letzten Endes im Bereich des »Qualitativen« halte.43 Daß Quantifizierung per se ent-individualisierend ist, ist nun zweifellos trivial. Es erscheint jedoch nicht sicher, ob mit dem Terminus Qualität in der allgemeinen Verwendungsweise Rickerts mehr gemeint sein kann als eben: nicht quantifiziert (bzw.: nicht quantifizierbar), ob also eine positive Füllung dieses Terminus überhaupt möglich ist. Schließlich bemerkt Rickert noch, daß die Realität des »wirklichen Lebens« eine emotional besetzte oder emotional wirkende sei, »die Wirklichkeit..., aus der unsere Freuden und unsere Schmerzen stammen«.44 Hier ist der Bezug zum individuellen Grundzug solcher Wirklichkeit ebenfalls offenkundig, sofern Emotionen zwar einen unbestimmten, nicht jedoch einen (begrifflich-)allgemeinen Gegenstand haben können. 23
Es ist nun im vorliegenden Zusammenhang weder möglich noch notwendig, den Versuch einer Explikation der Rickertschen Argumentation in dieser Hinsicht zu unternehmen. Einerseits sind Rickerts Überlegungen, wie bemerkt, so unentwickelt und im übrigen so wenig auf die Zwecke der historischen Sozia/wissenschaft konzentriert, daß diese Arbeit auf eine entsprechende Monographie hinauslaufen müßte. Andererseits muß an dieser Stelle von Rickerts Intentionen nur soviel behandelt werden, wie zur angemessenen Einschätzung der Stellung Webers notwendig ist. Die vorstehenden Bemerkungen lassen im Rahmen dieser Absicht einige abschließende Hinweise auf die Problematik des Rickertschen Grundlegungsversuches zu. Die Frage, inwiefern Rickert sich in seiner Erkenntnistheorie zu Recht auf Kant beruft 45 , ist dabei nicht grundsätzlich zu erörtern. Jedenfalls liegt seine Unterscheidung verschiedener, nicht aufeinander rückführbarer (wissenschaftlicher und lebensweltlicher) Wirklichkeitsauffassungen die Annahme zugrunde, daß es ein die Wirklichkeit an sich in ihrer »extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit« 46 schlechthin abbildendes Erkennen nicht geben könne.47 Das Erkennen ist nach seinem Gegenstand und seinen Formen notwendig bestimmt durch ein je spezifisches Interesse. Dies gilt, wie bemerkt, auch für die Wirklichkeitsauffassung des »wirklichen Lebens«. Allerdings ist sie darauf aus, die anschauliche, konkrete Fülle des Gegebenen festzuhalten. Daß sie deshalb der Wirklichkeit an sich näher sei, ist aber für Rickert offenkundig eine nicht begründbare (metaphysische) Behauptung. Die jeweils bestimmenden Erkenntnisinteressen sind - auch im Falle der Naturwissenschaften - in der Form von Werturteilen zu artikulieren. Als nicht aktuell vollzogene, sondern bloß vorgestellte werden bestimmte Erkenntnisintentionen dementsprechend nur verständlich, wenn sie auf die korrelativen Wertsetzungen bezogen werden. Die »ursprünglichste« wie die wissenschaftliche historische Auffassung des Wirklichen ist nach Rickert vom Interesse an der Erkenntnis des Einzelnen als eines solchen bestimmt. Hier treten daher, was Rickert nicht hinreichend deutlich macht, Wertung oder Wertbeziehung doppelt auf: Erstens, wie in den Naturwissenschaften, um das allgemeine Erkenntnisziel zu definieren; zweitens um im Felde des unmittelbar mannigfaltigen Einzelnen dasjenige »Individuelle« zu bestimmen, welches Gegenstand des Erkennens wird (oder ist). Wie ist nun die besondere Bedeutung zu verstehen, die Rickert 24
der Wertbeziehung in den historischen Wissenschaften zumißt? Die Frage läßt sich so präzisieren: Welche spezielle Rolle spielen Werturteil und Wertbeziehung für eine »individualisierende Wirklichkeitsauffassung« im sozio-kulturellen Feld? Gerade weil die folgenden Überlegungen sich kritisch gegen Rickerts Stellung wenden müssen, ist vorweg noch einmal darauf zu verweisen, daß Rickert selbst in diesen zentralen Fragen bei weitem nicht so klar und ausführlich ist, wie dies zu erwarten wäre. Die konstitutive Rolle von Wertung und/oder Wertbeziehung bei der im sozio-kulturell Individuellen terminierenden Wirklichkeitsauffassung wird offenbar nur einsichtig, wenn diese Wirklichkeitsauffassung als eine von Handlungsinteressen geleitete verstanden wird. Gesellschaftliches Handeln ist definiert als Verwirklichung von (in irgendeiner Beziehung) gesellschaftlich positiv bewerteten Verhältnissen. Wie jedes Handeln zielt aber auch das gesellschaftliche auf die Herstellung von bestimmter, d. h. individueller Wirklichkeit. Als was jedoch diese Wirklichkeit aufzufassen ist, läßt sich nur durch Bezug auf die das Handeln bestimmenden Werte verstehen. Ohne Bezug auf diese Werte sind Prozeß wie Ergebnis des Handelns sowohl für den Handelnden selbst wie für den Beobachter unbestimmt und gleich-gültig (also: allgemein). Der gesellschaftlich Handelnde selbst nun hat, indem er werthaft bestimmte Wirklichkeit realisiert, notwendigerweise ein ausdrücklich affirmatives Verhältnis zu diesem Wert bzw. zu diesen Werten; er geht, anders gesagt, von - zumindest impliziten - Werturteilen aus. Dies ist für den unbeteiligten Beobachter, der sich ein angemessenes Bild des Vorganges machen will, nicht nötig: Für seine Zwecke ist es hinreichend (allerdings auch zwingend notwendig), daß er diesen Wert (diese Werte) als möglichen Bestimmungsgrund des »wirklichen Lebens« wenigstens hypothetisch gelten läßt. Seine Erkenntnisintention ist also nicht ohne theoretische Wertbeziehung einzulösen.49 Allerdings gilt dies nur für die Wertung, die das jeweils zu untersuchende Handeln bestimmt: die erwähnte erste Stufe der »individualisierenden Wirklichkeitsauffassung«, das generelle Interesse am Historisch-Individuellen, muß auch der unbeteiligte Beobachter, der historische Wissenschaftler also, sich zu eigen gemacht haben. Es ist dies ja identisch mit dem Interesse am wirklichen, praktischen Leben und dessen Aufhellung, welches seine Arbeit schlechthin motiviert.
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Für die Einschätzung der Weberschen Position ist es nun entscheidend, daß Rickert mit den bisher referierten und interpretierten Überlegungen den prinzipiellen Gegensatz zwischen den historischen »Kulturwissenschaften« 50 und der Soziologie begründet zuhaben glaubt - und zwar trotz der festgestellten Identität ihres Gegenstandsbereiches. Mir scheint dagegen dieser Gegensatz nur plausibel, wenn bestimmte, bisher nicht behandelte Implikationen der Rickertschen Argumentation akzeptiert werden. Fruchtlos wäre es offenbar, sich bei Rickerts Verwendung des Terminus Soziologie länger aufzuhalten. Vielmehr ist zu zeigen, daß Rickerts abstrakte und absolute Grenzziehungen 1. offenkundig wenig überzeugende Annahmen und Konsequenzen enthalten und 2. zum oben beschriebenen Grundmotiv seiner Reflexionen im Widerspruch stehen. Es ist kein Zufall, daß Rickert bei der Exemplifizierung von Historisch-Individuellem durchgehend auf die große, extra-ordinäre geschichtliche Persönlichkeit rekurriert.51 Vielmehr verweist dies auf die Engführung, welche diese zentrale Kategorie bei ihm erfährt: Obwohl er ausdrücklich, wie gesagt, die Gesellschaft als »generelles Objekt« der Kulturwissenschaften bestimmt, kann er sich nicht dazu verstehen, das Individuelle konkreter gesellschaftlicher (oder sozio-kultureller) Gebilde im allgemeinen zu explizieren oder am Beispiel zu veranschaulichen. Die oben erwähnten allgemeinen Merkmale individueller Wirklichkeit sind ja weder als solche noch gar als Bestimmungen konkreter gesellschaftlicher Realität hinreichend geklärt. Der Grund für diese schwerwiegende Unterlassung läßt sich in Rickerts eigener Terminologie formulieren: Historische Wirklichkeit erscheint ihm vorwiegend aus der Perspektive der durch den Wert »Persönlichkeit« konstituierten Wertbeziehung. Das Interesse am Historisch-Individuellen ist also bei ihm bereits auf der ersten Stufe stark eingeschränkt - und zwar offenkundig durch ganz persönliche Wertsetzungen. Für die Richtigkeit einer solchen Deutung sprechen auch einige eher beiläufige Bemerkungen Rickerts, so insbesondere über das »demokratische Zeitalter« 52 und über die Hegelsche Linke, die nach seiner Auffassung »groß hauptsächlich im Zerstören« 53 war. Entscheidend ist, daß diese Feststellungen auf das generelle Problem einer Begründung der jeweils in der Form der Wertbeziehung bestimmenden Wertgesichtspunkte verweist. Rickert macht dazu sehr wenige und zudem nicht leicht miteinander vereinbarende Bemerkungen. Demnach sollen diese Werte einerseits dem Gegen26
stand selbst entnommen 54 und andererseits möglichst allgemeingültig (d. h.: sozialer Provenienz) 55 sein. Schließlich versucht Rikkert solche Wertgesichtspunkte auf der allgemeinsten Ebene inhaltlich zu bestimmen. Die allgemeinsten Werte für die Wertbeziehung sind nach ihm identisch mit den obersten Werten der Ethik. 60 Als zentrale ethische Kategorie gilt ihm gerade auch in dieser Hinsicht, aber unter ausdrücklicher Ablehnung einer kosmopolitischen Ethik, die »Nation«. 57 Es bedarf nun an dieser Stelle keiner näheren Erläuterung, daß die Suche Rickerts nach den obersten Werten der Ethik und des wertbeziehenden Verfahrens zumal weder de facto konsensfähige Werte trifft, noch auf einem prinzipiell verbindlichen Verfahren ihrer Aufdeckung beruht. Diskussionsbedürftig sind allein 1. das Streben nach schlechthin allgemeingültigen Werten überhaupt und 2. der Grund für das erwähnte und nicht zufällige Ausweichen Rickerts auf persönlichkeitsbezogene Werte, sobald er zur Exemplifizierung seines methodologischen Standpunktes kommt. Zunächst ist festzustellen, daß die von Rickert angezielten »obersten Werte« offenbar nicht die das generelle Interesse am Historisch-Individuellen repräsentierenden sind, sondern daß sie das Interesse an bestimmten Individualisierungen artikulieren bzw. begründen sollen. Dazu sind sie aber auf der anderen Seite gerade als oberste, d. h. allen historischen Wandel transzendierende Werte nicht tauglich - es sei denn, das generelle Interesse am HistorischIndividuellen würde doch als unmittelbar in einer bestimmten Hinsicht inhaltlich festgelegtes aufgefaßt (ζ. B. eben hinsichtlich der sogenannten großen Persönlichkeiten). Im letzteren Falle wäre jedoch die These nicht festzuhalten, daß die leitenden Wertgesichtspunkte in den Kulturwissenschaften in einem grundsätzlich anderen Sinne selbst geschichtlich seien als in den Naturwissenschaften. Ebenso würde Rickerts obenerwähntes Postulat, die forschungsleitenden Wertgesichtspunkte seien dem Gegenstand selbst zu entnehmen, vollends unverständlich. Mir scheint nun, daß Rickerts Überlegungen nicht zuletzt deshalb auf derartige Aporien oder unhaltbare Positionen hinauslaufen, weil er zentrale Punkte seiner leitenden Intention weder hinreichend entwickelt noch durchhält. Entscheidend dürfte dabei sein, daß er sich tatsächlich mit seinen Argumentationen nur nominell auf der Ebene gesellschaftlicher Tatbestände bewegt. Zwar hatte er Notwendigkeit und spezifische Interessenrichtung der Kulturwissenschaften auf unabweisbaren Bedürfnissen des wirklichen prak-
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tischen Lebens begründet. Ferner hatte er ihr Erkenntnisinteresse an Werte gebunden, deren allgemeine Geltung er als gesellschaftliche Legitimität interpretierte. Schließlich hatte er auch als »generelles Objekt« dieser Wissenschaften das »soziale Leben« bestimmt. Bringt man diese Aussagen in einen schlüssigen Zusammenhang, so wäre dieser etwa folgendermaßen zu formulieren: Die Kulturwissenschaften entspringen dem Bedürfnis gesellschaftlich Handelnder, gültigere und verbindlichere Einsicht in diese ihre gesellschaftliche Handlungswirklichkeit zu gewinnen, als sie von den Erkenntnismöglichkeiten des »wirklichen Lebens« her zu erwarten ist. Gesellschaftliches Handeln ist definiert (oder besser: definiert sich selbst) durch die bestimmende Orientierung an gesellschaftlich gültigen (legitimierten) Wertsetzungen. Möglicher Gegenstand eines aus solchem Handeln erwachsenden Erkenntnisinteresses (auch in seiner wissenschaftlichen Modifikation) ist daher ausschließlich durch gesellschaftliche Wertsetzungen strukturierte Wirklichkeit. Die gegenstandsbildenden Wertbeziehungen sichern erstens, daß sich der Erkenntnisprozeß überhaupt auf der so definierten Ebene möglichen gesellschaftlichen Handelns hält. Zweitens konzentrieren sie im konkreten Fall den Erkenntnisprozeß auf die Zusammenhänge gesellschaftlicher Wirklichkeit, die für bestimmte Handlungsinteressen - aktuell oder potentiell - von Bedeutung sind. Eine derartige, die gesellschaftliche Dimension hervorhebende Interpretation erscheint als die einzig haltbare, selbst wenn sie sich auf keinerlei ausdrückliche Bemerkungen Rickerts berufen könnte. In einem Gegensatz zur »individualisierenden Wirklichkeitsauffassung« des »praktischen Lebens« steht sie natürlich in keiner Weise: das Historisch-Individuelle als (möglicher) Spielraum oder Objekt des »praktischen Lebens« ist immer schon durch gesellschaftliche Kriterien abgegrenzt und auch grundsätzlich nur auf dieser Ebene abgrenzbar - und zwar auch im Falle der sogenannten historischen Persönlichkeiten.58 Jede andere Auffassung würde wohl bedeuten, historische Individuen als Korrelate idiosynkratischer, Kommunikationsunfähiger Interessenlagen zu verstehen. Ein Bedürfnis nach Letztbegründung der erkenntnisleitenden Werte, wie Rickert sie versucht, ergibt sich aus obiger Interpretation allerdings nicht. Es wäre, im Gegenteil, sogar die These zu vertreten, daß ein solches Bedürfnis nach dogmatischer Absicherung praktischen Interessenlagen korrespondiert, die der Tendenz auf möglichst umfassende Erhellung gesellschaftlicher Realität gerade entgegenstehen.59 28
Die vorliegende Arbeit versucht, die Prinzipien der Weberschen Grundlegung der Soziologie zu entwickeln. Die vorausgeschickte Beschäftigung mit Rickerts Wissenschaftstheorie der historischen Wissenschaften läßt sich in der These resümieren, daß hier die Kulturwissenschaft höchstens nominell als Sozialwissenschaft begründet wird.60 Weber ist von sehr ähnlichen Grundintentionen bestimmt wie Rickert.61 Die Differenz zu diesem liegt eben darin, daß die Durchführung einer sehr ähnlichen Grundanschauung bei Weber mit der Begründung von Sozialwissenschaft und näherhin von Soziologie korrespondiert. Es ist die - grundsätzliche - Konsequenz in dieser Durchführung, die Max Webers fortwirkende Bedeutung ausmacht. Rickert82 bringt die Entwicklung des Weberschen Denkens von der Geschichte zur Soziologie mit einem zunehmenden Interesse Webers am politischen Handeln zusammen. Dieser Deutung liegt Rickerts Auffassung zugrunde, praktisches Eingreifen in gesellschaftliche Wirklichkeit sei in dem Maße erfolgssicher, in dem es sich auf allgemeingültiges und nomologisches Wissen stützen könne; auf solches Wissen aber zielt seinen Abgrenzungen gemäß die Soziologie. Dazu ist nun einerseits zu sagen, daß eine Wissenschaft, die die Bedingungen gesellschaftlicher Praxis aufdeckt, doch wohl nur in der Konsequenz der »Wirklichkeitsauffassung des praktischen Lebens« (also der »ursprünglichsten Historie«) liegt. Andererseits aber überträgt Rickert das Verhältnis von Wissen und Handeln, wie es in der naturwissenschaftlich begründeten Technik besteht, ohne weiteres auf gesellschaftliche oder politische Praxis. Offenbar gibt es bei ihm gar keine der historischen Erkenntnis im engeren Sinne entsprechende Praxis: Sobald das »wirkliche Leben« auf der Basis wissenschaftlicher Einsicht praktisch wird, bewegt es sich nach dieser Auffassung auf der - wirklichkeitslosen - »naturwissenschaftlichen« Ebene.63 Max Weber hat sich mit einer solchen, offenkundig widersinnigen Alternative von entweder historischer (d. h. auf vergangenes, gegenwärtiges und womöglich auch zukünftiges »wirkliches Leben« bezogener) oder praxisfähiger Wissenschaft nie beschäftigt. Er ließ sich, wie Rickert, bestimmen vom Interesse an der Erkenntnis wirklicher, historischer und damit eben auch in gewisser Weise individueller Realität. Das sich das Interesse bei ihm auf gegenwärtige Wirklichkeit konzentrierte 64, ändert natürlich nichts an seinem historischen Grundzug in diesem Sinne.65 Webers bestimmende Auffassung aber war, daß solche Wirklichkeit wesentlich gesellschaft29
lieh oder gesellschaftlich bedingt sei. Seine Begriffs- und Theoriebildung (und zwar - wenn möglich - noch mehr als das wissenschaftstheoretische Werk) ist deshalb bestimmt von der Annahme, daß diese Wirklichkeit als Feld möglichen gesellschaftlichen Handelns aufzufassen sei. 66 Schließlich aber zielen seine Bemühungen darauf, auch in diesem Bereich einen möglichst hohen Grad der Exaktheit und der Allgemeingültigkeit zu erreichen und - natürlich - auch auf nomologisches Wissen da nicht zu verzichten, wo es der Sache abzugewinnen ist. Webers Denken fügt sich offenbar nicht den Alternativen, die die wissenschaftstheoretischen Diskussionen im Felde der Gesellschaftswissenschaften mindestens seit dem »Methodenstreit« zwischen Schmoller und Menger67 bis auf den »Positivismusstreit« zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie 68 bestimmen und die von Rickert am systematischsten und schärfsten entwickelt worden sind. Warum dies dazu geführt hat, daß man Weber vornehmlich zur Absicherung oder Abgrenzung der je eigenen Stellung beanspruchte, statt seinen Vermittlungsversuch angemessen als solchen wahrzunehmen und zu prüfen, wäre vor allem von wissenschaftssoziologischen Untersuchungen aufzuklären. Vielleicht schafft hier die neuerdings wieder aktualisierte Diskussion zwischen Geschichte und Soziologie eine Änderung.69 Daß sie entscheidend durch die Webersche Argumentation inspiriert sei, läßt sich offenkundig nicht sagen, und zwar noch weniger für die deutschen als für die angelsächsischen Ansätze. 70 Unter soziologischen Theoretikern dürfte überhaupt die Auffassung vorherrschen, daß der Webersche »Syntheseversuch« sich als ein »Provisorium« darstelle - »eine Demarkationslinie für einen Waffenstillstand im Streit der von ihm berücksichtigten Traditionen, etwas, was die Historiker heute mehr zufriedenstellt als die Vertreter der theoretischen Sozialwissenschaft«.71 Die folgende Explikation der Grundzüge des Weberschen Denkens ist darauf gerichtet, Webers Bemühungen um eine Aufhebung der falschen Alternativen deutlich zu machen. Die besondere Intention geht dahin zu zeigen, in welchem Maße Webers Grundlegung der Sozialwissenschaft dem eigenen Recht der lebensweltlichen Erfahrung zu entsprechen, die Sozialwissenschaft also - um den sehr problematischen, aber historischen Terminus zu verwenden - als »Wirklichkeitswissenschaft« zu konstituieren versucht. »Die Sozialwissenschaft, die wir betreiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit 30
des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen.« 72 Der Grundsatz der Stellung Webers in dieser Hinsicht deckt sich mit der These von A. Schütz: »Eben diese Welt, die wir als sinnhafte erleben, ist auch als Gegenstand der sozialwissenschaftlichen Deutung sinnhafte Welt.« 73 Ohne Zweifel beruht die kritisch gemeinte These, Weber betreibe als Soziologe die »Ablösung vom Leben« 74 von der »sonnigen Fülle lebendiger Realität« 75, und verliere damit insbesondere als Beziehung zur »Praxis des Daseins« 7e , sehr häufig auf sehr eigenwilligen Vorstellungen über Struktur und Anforderungen von wirklichem und praktischem Leben einerseits, über die Möglichkeiten wissenschaftlicher Erkenntnis andererseits. Es ist darauf später im einzelnen zurückzukommen. Aus der Intention dieser Darstellung folgt, daß sie von Webers Überlegungen zur Wertbeziehung auszugehen hat. Die Rezeption der Rickertschen Wissenschaftstheorie durch Weber ist nicht zufällig um dieses Thema zentriert. Webers Adaption des Problems zeigt, daß und aus welchen Gründen er die Sozialwissenschaft einerseits als historische Wissenschaft festzuhalten bestrebt ist und sich dabei andererseits doch sehr wesentlich von Rickerts Vorstellungen entfernt.77 Das Verfahren der Wertbeziehung ist die allgemeinste Bedingung der Möglichkeit historisch-sozialwissenschaftlicher Forschung, indem es eine Begriffs- und Theoriebildung auf der Erfahrungsebene geschichtlichen Handelns gewährleistet. Gerade deshalb ist die Frage zu diskutieren, ob sie durch den Terminus Wertbeziehung angezeigte Beschränkung auf Sinn als Wert von Max Weber in der Sache so überwunden wird, wie es notwendig erscheint. Dem methodologischen Problem im engeren Sinne wendet sich der folgende Abschnitt zu. Darin ist zunächst zu erörtern, inwiefern dem Verstehen zentrale Bedeutung gerade für auf sozialwissenschaftliche Erklärung zielende empirische Untersuchungen zukommt. Es zeigt sich dabei, daß die Behauptung eines Widerspruchs zwischen Verstehen und Erklären78 ganz unhaltbar ist und daß darüberhinaus dem Verstehen eine durchaus konstitutive (keineswegs eine bloß marginale, etwa heuristische79) Funktion im Kontext sozialwissenschaftlichen Erklärens zukommt. Das zweite Hauptthema der methodologischen Erörterungen ist das Problem der idealtypischen Begriffs- und Theoriebildung. Während die konstitutive Bedeutung des Verstehens offenkundig nur durch einen Rückgang auf die bestimmende Rolle von Sinnver31
ständnis im »wirklichen (sozialen) Leben« einsichtig wird, scheint die idealtypische Begriffs- und Aussageform entschieden von jeder historischen und wirklichkeitswissenschaftlichen Orientierung abzuführen. 80 Es ist zu erörtern, wiefern Max Weber gerade durch den konstruktiven Charakter des Idealtypus ein Maximum an Kongruenz von wissenschaftlicher und lebensweltlicher Weltorientierung glaubte sichern zu können. Auch die unbezweifelbare Mehrdeutigkeit des Idealtypus-Konzepts Webers 81 wird bei dieser Betrachtungsart verständlich und womöglich auch auflösbar.
Vor Eintritt in die Erörterung der Weberschen Argumentationen ist eine abschließende Bemerkung zur Terminologie nötig. Der Bereich wissenschaftlicher Bemühungen, auf den sich Webers wissenschaftstheoretische wie theoretische Arbeit bezieht, wurde bisher und wird auch im folgenden primär durch den Terminus »Sozialwissenschaften« bezeichnet. Der entsprechend allgemeine Terminus bei Max Weber selbst ist »Kulturwissenschaften« 82; insbesondere im Objektivitätsaufsatz verwendet er allerdings auch die Termini Sozialwissenschaft und sozialwissenschaftlich.83 Weber kam im Zuge der Entwicklung seines Denkens dazu, der Spezialwissenschaft Soziologie einen nicht nur legitimen, sondern hervorragenden Ort innerhalb der Kulturwissenschaften (und auch innerhalb seines weiten persönlichen Interessenspektrums) einzuräumen.84 Es ist dies wohl als Konsequenz der nominell bereits von Rickert vertretenen Auffassung zu verstehen, daß der primäre Gegenstand der Kulturwissenschaften die gesellschaftliche Wirklichkeit sei. Die Soziologie wird von Weber nicht (wie von Rickert) als Naturwissenschaft vom Sozialen aufgefaßt, sondern als die Spezialdisziplin, die die gesellschaftliche Bestimmtheit geschichtlicher Wirklichkeit als solche begrifflich und theoretisch zu fassen sucht.85 Es ist daher mit Webers Intentionen nicht nur vereinbar, den Terminus Sozialwissenschaften zu verwenden, sondern auch, dabei als exemplarische oder auch grundlegende Sozialwissenschaft die Soziologie im engeren Sinne im Blick zu haben.86
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2.2
Die theoretische Wendung des Interesses: Wertbeziehung und Kulturbedeutung sozialwissenschaftlicher Forschung
Man kann mit F. Tenbruck das allgemeine Ziel des Weberschen Denkens darin sehen nachzuweisen, daß »eine an Wertgesichtspunkten orientierte Kulturwissenschaft« nicht nur möglich, sondern unabdingbar sei.87 Die entsprechenden expliziten Überlegungen konzentrieren sich um den - Rickertschen - Begriff der Wertbeziehung. Wie sich Webers eigene Auffassungen in dieser Frage zur Stellung Rickerts verhalten, wird im folgenden nur am Rande thematisch; ins Einzelne gehende Klärungen sind zum Verständnis der Argumentation Webers nicht vonnöten. Die vergleichsweise triviale These Webers von der Heterogenität von Erfahrungswissen und Werturteilen 88 hat die Weber-Interpreten offenbar weit stärker beschäftigt, als das viel gewichtigere und, genau betrachtet, kontroversere Thema der Wertbeziehung.89 Dies mag einerseits damit zusammenhängen, daß die Forderung nach Wertbeziehung bestimmte Deutungen des Wertfreiheitspostulats allerdings unmöglich gemacht hätte. Darauf ist zurückzukommen. Andererseits glaubte man, daß die Wertbeziehung bestimmte kantische oder neukantianische Voraussetzungen impliziere, denen man zumindest keine wissenschaftstheoretische und forschungspraktische Bedeutung zumaß. Tatsächlich aber läßt sich, wie vor allem D. Henrich zu Recht betont hat 90 , das Thema Wertbeziehung im Sinne Webers unter völligem Verzicht auf fundamentale erkenntnistheoretische Reflexionen angemessen behandeln - ganz ebenso, wie dies bei Weber selbst geschieht.91 An dieser Stelle ist allerdings auch zuzugeben, daß Webers eigene Behandlung des Problems vergleichsweise allgemein ist. Sie läßt vor allem die Mehrdeutigkeit gerade der zentralen Kategorien Wertbeziehung und Kulturbedeutung ohne zureichende Klarstellung. So ist es vor allem nicht schlechthin zutreffend, wenn die Wertbeziehung als bloß theoretisches Verhältnis zu Werten dem praktischen Vollzug von Wertungen entgegengesetzt wird.92 Auf der allgemeinsten (vorwiegend als kantianisch verstandenen) Argumentationsebene Webers bezieht sich der Begriff Wertbeziehung vielmehr auf die konstitutive Rolle aktueller Wertung. Von einer Erörterung dieses Tatbestandes ist zur Funktion von Wertbeziehung im engeren und tatsächlich bloß theoretischen Sinne überzugehen. Unter Wertbeziehung will Max Weber »lediglich« verstanden wissen: »die philosophische Deutung desjenigen spezifisch wissen33
schaftlichen Interesses, welches die Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung beherrscht«.93 Daß der Ausdruck Wertbeziehung einer »philosophischen Deutung« zugehöre, besagt, daß er einer eigenständigen Reflexion entspringt, die das alltägliche, aber auch das wissenschaftliche Bewußtsein übersteigt. Der Tatbestand aber, welcher hier Gegenstand eines systematischen Nachdenkens wird, ist, daß die »Auslese und Formung des Objektes einer empirischen Untersuchung« immer von einem bestimmten Interesse beherrscht ist. Werte heißen die Gegenstände oder Inhalte eines solchen (wie eines jeden) Interesses, und zwar vor allem dann, wenn diese Inhalte oder Gegenstände möglichst allgemein oder abstrakt definiert sind. Um überhaupt ein Objekt seiner Untersuchungen zu besitzen, muß der Forscher die Wirklichkeit aus der Perspektive bestimmter Werte aufgefaßt haben. Ohne eine solche wertbestimmte Perspektive betrachtet, ist die Wirklichkeit - alle Wirklichkeit, nicht nur die geschichtlich-gesellschaftliche - nach Max Weber eine »extensive und intensive Mannigfaltigkeit« (Rickert) von Phänomenen, die als solche wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren nicht zugänglich ist. Dies ist nicht so zu verstehen, wie man es in kantianischer Auffassung interpretieren könnte, als werde hier eine Wirklichkeit an sich als ein schlechthinniges Chaos etwa von bloßen Sinnesdaten substituiert.94 Die Webersche These bezieht sich vielmehr auf einen durchaus empirischen Sachverhalt95, den jede Erkenntnisbemühung vorfindet und der für wissenschaftliche Erkenntnisweisen zum ausdrücklichen Thema wird: Jede Wirklichkeit ist von einer derartigen Komplexität, daß schon eine einfache Beschreibung alles je Vorfindlichen völlig unmöglich wäre. Wissenschaftliche Erkenntnis aber zielt darüberhinaus auf die Aufdeckung von Verursachungszusammenhängen. Eine solche Erkenntnisintention jedoch wäre vor der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen ganz ohne Ansatz- und Endpunkt. Es bedarf also jede Erkenntnis und in entscheidend verschärftem Maße alle wissenschaftliche Erkenntnis der vorgängigen Gesichtspunkte für die Ausgrenzung untersuchungsfähiger Sachverhalte. Eben dies sind die das Erkenntnisinteresse leitenden Werte, von denen oben die Rede war. An dieser Stelle sind nun, teilweise unabhängig von Webers Ausführungen, einige kurze Klärungen vonnöten. Erst im Anschluß daran ist es sinnvoll, auf die spezielle Rolle der Wertbeziehung in den Kulturwissenschaften einzugehen. Es ist schon angedeutet worden, daß Wertbeziehung in diesem allgemeinsten Sinne für alle 34
irgendwie auf Dauer gestellte und zielgerichtete Erkenntnis konstitutiv ist. Die Realität der außerwissenschaftlichen Erfahrung ist für die wissenschaftliche Erkenntnisform jedoch einerseits zu wenig und andererseits nach untauglichen Gesichtspunkten (evtl. auch: zu sehr) strukturiert. Es gibt so auf der allgemeinsten Ebene diejenigen Wertgesichtspunkte, die - tendenziell - alle empirisch-wissenschaftlichen von nichtwissenschaftlichen Erkenntnisbemühungen unterscheiden. 96 Sodann gibt es die divergierenden Erkenntnisinteressen (und die diesbezüglichen Werte) der verschiedenen Wissenschaften bzw. Wissenschaftsgruppen, wie sie - gerade auch für Weber idealtypisch ζ. B. von Windelband und Rickert charakterisiert wurden. Sofern es in actu nicht Wissenschaft überhaupt, sondern nur Wissenschaft dieser oder jener speziellen Erkenntnisrichtung gibt, müssen die auf beiden Ebenen konstitutiven Wertgesichtspunkte von den Wissenschaftlern selbst bejaht werden: Sie kennzeichnen ja - zumindest unter anderem - die konkreten Interessen, welche das Betreiben von Wissenschaft bestimmen. Weber nun spricht offenkundig auch hier schon von Wertbeziehung. Diese meint aber in diesen beiden Fällen eindeutig aktuelle Wertschätzung und damit keineswegs ein bloß theoretisches (oder hypothetisches) Verhältnis zu Werten. Diesem letzteren, den Kulturwissenschaften eigentümlichen Sinn von Wertbeziehung ist von dem dieser Wissenschaftsgruppe kennzeichnenden Erkenntnisinteresse her näherzukommen. Das die Naturwissenschaften bestimmende Interesse ist, das Immer-Gleiche in der Wirklichkeit zu erfassen und seine Wirkungsweise in Gesetzesaussagen von höchster Allgemeingültigkeit auszudrücken 97 , ihr Ideal sind »Universalität, Formalismus und Permanenz.« 98 Den Kulturwissenschaften als historischen Wissenschaften gilt das sich Wandelnde als wertvoll: Ihr Interesse richtet sich demnach darauf, dasselbe als solches in der Analyse zu bewahren und zu durchdringen. Das genuin Geschichtliche (im engeren Sinne) ist aber der Sinn, mit dem der Mensch als »Kulturmensch« - oder, mit Henrichs Worten, als »wesentlich sinngebendes Wesen« 99 - die ihn umgebende Wirklichkeit immer schon belegt hat. Das konstituierende Interesse der Kulturwissenschaften richtet sich also auf Wirklichkeit und Wirksamkeit von »Sinn und Bedeutung«. Hierher gehört Webers bekannter Satz, »transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft« sei, »daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.« 100 35
Allerdings betrifft dieser Satz nur die Möglichkeit der Kulturwissenschaft. Deren Notwendigkeit folgt allein aus dem Interesse des erkennenden Subjekts, eben diese Schicht der Wirklichkeit zum zentralen Gegenstand zu machen. Für den »Kulturmenschen« ist Kultur nach Weber ein »Wertbegriff« 101, sofern kulturelle Wirklichkeit durch Bewertung konstituierte Wirklichkeit ist. Davon zu unterscheiden ist der hier zunächst wichtige Tatbestand, daß für den Kulturwissenschaftler Kultur (oder »mit Sinn und Bedeutung bedachte« Wirklichkeit) schlechthin einen Wert darstellen muß: Nur ein entsprechendes aktuelles Erkenntnisinteresse an Kultur überhaupt (das einhergehen kann mit einem völligen Desinteresse an jeder konkreten, vorgegebenen Kultur) motiviert zur kulturwissenschaftlichen Forschung als solcher, da »ohne den Glauben des Forschers an die Bedeutung irgendwelcher Kulturinhalte jede Arbeit an der Erkenntnis der individuellen Wirklichkeit schlechthin sinnlos ist.« 102 Max Weber faßt, wie gesagt, ailch dieses prinzipielle Interesse an Kultur überhaupt (das auch als »historisches Interesse« ohne weitere Bestimmung zu bezeichnen wäre 10s ) unter den Begriff der Wertbeziehung. Es ist dies also noch nicht Wertbeziehung in dem engeren und für die (Rickert-)-Webersche Stellung kennzeichnenden Sinn eines bloß theoretischen Verhältnisses zu (möglichen) Wertsetzungen. Wertbeziehung in diesem speziellen terminologischen Sinne ist jedoch fundiert in dem allgemeinen aktuellen Erkenntnisinteresse an Kultur überhaupt. Die empirische Erforschung der von Menschen mit »Sinn und Bedeutung bedachten« Wirklichkeit wendet sich in ihrem konkreten Vollzug immer schon auf Zusammenhänge, die durch Sinn und Bedeutung je bestimmter Art definiert sind. Kultur überhaupt ist für die Forschung ein untersuchungsunfähiges »heterogenes Kontinuum«. Das Besondere der kulturwissenschaftlichen Forschung ist, daß sie die je speziellen Sinndeutungen nicht in ein Allgemeines und Konstantes aufzulösen versucht, sondern daß sie gerade auf die eigentümliche Wirksamkeit dieser eigentümlichen Wirklichkeiten abstellt. Wertbeziehung im engeren und terminologischen Sinne ermöglicht nach Weber ein derartiges Erkenntnisverfahren. Kulturelle Wirklichkeit existiert nur als Korrelat bestimmter aktueller Wertschätzungen und Sinndeutungen der jeweiligen Akteure. Die Erforschung kultureller Wirklichkeit ist daher nur möglich, wenn eine handlungsbestimmende Geltung dieser bestimmten Wertschätzungen etc. als zumindest möglich vorausgesetzt wird. Wertbeziehung im engeren Sinne ist das Verfahren, in dem derar36
tige Annahmen über potentiell handlungsbestimmende Werte, Sinnorientierungen usw. die Begriffs- und Theoriebildung leiten. Sie stellt ein bloß theoretisches Verhältnis zu Werten dar, sofern für den methodischen Vorgang allein relevant ist, ob der Wissenschaftler diesen Werten eine mögliche Verhaltenswirksamkeit zuschreibt. Wenn er selbst diese Werte bejaht oder sie am eigenen Leibe als verhaltensbestimmend erfährt, so ändert dies nichts an der methodischen Funktion der Werte: In die Begriffs- und Theoriebildung der Wissenschaft gehen Werte immer nur als potentiell gültige, niemals als bejahte oder realisierte ein.105 Daraus folgt nur aber auch Entscheidendes für die Herkunft und die Verbindlichkeit der in der Form der Wertbeziehung fungierenden Werte. Damit bestimmte Wertgesichtspunkte auswählend und formend in die Begriffs- und Theoriebildung einfließen, müssen sie nicht vom Forscher aktuell bejaht sein. Die Wertbeziehung ist also nicht in dem Sinne subjektiv, daß sie die Forschung auf den Bereich der je individuellen Wertschätzungen des Wissenschaftlers festlegte.106 Dies meint Weber, wenn er sich gegen die Ansicht wehrt, vermittels der Methode der Wertbeziehung solle »Kulturbedeutung . . . nur wertvollen Erscheinungen zugesprochen werden.« 107 Wie aus dieser Bemerkung hervorgeht, umschreibt Weber seinerseits den Umkreis der (zu einem bestimmten Zeitpunkt) wählbaren forschungsleitenden Wertideen mit dem Begriff der »Kulturbedeutung«. Dieses Kriterium der Kulturbedeutung soll also eine Subjektivität der Wertbeziehung im Sinne der völligen Beliebigkeit ausschließen.108 Max Weber erläutert das damit Gemeinte folgendermaßen: »Was Gegenstand der Untersuchung wird, und wieweit diese Untersuchung sich in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt, das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen.« 109 Die die Gegenwart der Forschung beherrschenden Wertideen sollen also darüber entscheiden, was an der zu untersuchenden Wirklichkeit als für uns bedeutsam qualifiziert ist. Damit ist allerdings kein eindeutig und verbindlich umschriebener Kreis von Wertideen behauptet, und zwar auch nicht für eine bestimmte Zeit. Tatsächlich werden die Geschichts- und Sozialwissenschaften gerade in dem Maße freigesetzt, als sich die schlechthinnige Verbindlichkeit überkommener Sinngebungen auflöst. Ihrerseits fördern diese Wissenschaften den Auflösungsprozeß; dies war die Erfahrung des Historismus, welche vor allem von Ernst Troeltsch artikuliert wurde.110 Man kann diesen historischen Vorgang auch so kennzeichnen, daß die in der gelebten Kultur 37
herrschenden Wertideen selbst fortschreitend einen Moduswechsel von der Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit zur Möglichkeit vollziehen, also schon hier in wachsendem Maße in der Form der Wertbeziehung gegenwärtig sind.111 Diese Lage ist nun auch (oder besser: gerade) in Webers Überlegungen zur geforderten Kulturbedeutung historischer Forschung vorausgesetzt. Dennoch verlangt Weber vom Kulturwissenschaftler, »daß er verstehen müsse, die Vorgänge der Wirklichkeit - bewußt oder unbewußt - auf universelle >Kulturwerte< zu beziehen und danach die Zusammenhänge herauszuheben, welche für uns bedeutsam sind«.112 Dies kann nach dem Gesagten aber nur so verstanden werden, daß der Forscher aufgefordert ist, sich bei der Orientierung seiner Untersuchungen von einem möglichst allgemeinen Interesse leiten zu lassen. Die Fähigkeit, die eine »ganze Epoche« bestimmenden Werte zu treffen, zeichnet, wie bemerkt, nach Weber den »wissenschaftlichen Genius« aus.113 Ohne auf verbindliche Vorgegebenheiten zurückgreifen zu können, kann und soll er sich nach Weber von den seine Zeit universell bewegenden Wertideen bestimmen lassen.114 Ohne Zweifel tritt Weber darüber hinaus dafür ein, daß der Forscher diese Anforderungen an die leitenden Wertgesichtspunkte ausdrücklich thematisiert und zum bewußten Maßstab der eigenen Orientierung macht. Das Verfahren, sich über fungierende Wertgesichtspunkte auch in dieser Hinsicht höchstmögliche Klarheit zu verschaffen, heißt bei Weber »Wertanalyse« und »Wertdiskussion«.115 Es findet in gewissem Maße immer schon statt, wo der Mensch nicht völlig unreflektiert tradierten Sinnsetzungen folgt. In systematischer und methodischer Weise wird die Wertdiskussion nach Weber in der Sozialphilosophie geübt.110 Bei der Begründung empirischer kulturwissenschaftlicher Forschung wird die Wertdiskussion in methodischer Form, doch ohne systematische Absicht betrieben. Sie bleibt auf den Umkreis der geschichtlich vorgegebenen und möglichen Wertideen bezogen. Die Wertdiskussion muß der empirischen Forschung nicht notwendig zeitlich vorausgehen. Eine Forschung jedoch, die grundsätzlich darauf verzichtete, sich ein kritisches Verständnis der sie (implizit) leitenden Wertbeziehungen zu verschaffen und eine maximale (empirische) Allgemeingültigkeit derselben anzustreben, wäre für Max Weber nicht nur ein nicht verantwortungsfähiges, sondern auch fruchtloses Unterfangen. Sie wäre untauglich, der »Selbstbesinnung verantwortlich handelnder Menschen«117 zu dienen. 118 38
»Subjektiv« 118 sind und bleiben die Wertgesichtspunkte für Weber jedoch insofern, als sich das erkennende Subjekt bei ihrer Bestimmung nicht auf schlechthin verbindliche Vorgaben berufen kann - weder metaphysischer noch geschichtsphilosophischer Provenienz. Als »subjektiv willkürlich« 120 oder dezisionistisch wären sie jedoch nur dann zu qualifizieren, wenn man das bloße Streben nach Allgemeingültigkeit bei Weber durch schlechthin zwingende Normierungen zu überbieten imstande wäre - was bisher nicht demonstriert worden ist.121 Mit dem Wandel der - aktuellen - »Kulturprobleme« (d. h. der »herrschenden Wertideen«) wandeln sich nach Webers Auffassung notwendigerweise auch die forschungsleitenden Gesichtspunkte. Die Forschungen werden sich - wenigstens teilweise - auf andere Gegenstände richten und/oder mit veränderter Intensität vollziehen. Diese Geschichtlichkeit der Kulturwissenschaften, ihre fortdauernde »Jugendlichkeit«, wie Weber sagt122, unterscheidet diese von den Naturwissenschaften, die im Rahmen des einmal festgelegten Erkenntnisinteresses konsequent auf schlechthin generelle Gesetzesaussagen hin fortschreiten. Das heißt natürlich erstens nicht, daß die Richtigkeit der kulturwissenschaftlichen (Kausal-)Analysen selbst dem historischen Wandel unterworfen wäre.123 Die deskriptiven oder explanatorischen Aussagen in diesem Felde beanspruchen a) durchaus allgemeine Geltung für jedes sich dem entsprechenden Erkenntnisprozeß unterwerfende Subjekt und beziehen sich b) auf alle Fälle, die durch die jeweiligen begrifflichen und theoretischen Festlegungen definiert sind. Zweitens läßt sich von einem Fortschritt der kulturwissenschaftlichen Forschung wenigstens in dem Sinne sprechen, daß gerade der Wechsel der Wertbeziehungen eine Akkumulation des Wissens über bestimmte kulturelle Wirklichkeiten zur Folge hat.124 Subjektiv scheint aber schließlich das Verfahren der Wertbeziehung zumindest in dem Sinne zu bleiben, daß es sich zum Objekt der jeweiligen Untersuchung äußerlich, ja zufällig verhält. Die Erörterung dieser Frage leitet mit Notwendigkeit zur Klärung der Funktionsweise von Wertbeziehung über. Nun ist aus Webers Feststellung, daß die forschungsleitenden Wertideen nicht dem Stoff selbst zu entnehmen seien, keineswegs zu schließen, daß sie deshalb dem Stoff äußerlich sein müßten. Vielmehr soll durch sie ja die kausale Analyse von Wirklichkeit ermöglicht werden, auch wenn diese Analyse nur soweit geht, wie es uns wichtig erscheint. Eine Untersuchung, die die bestimmenden Faktoren des jeweiligen Ob39
jekts als für uns unwichtig ausblendete, dürfte wohl schlechterdings ohne Erkenntnisbedeutung für uns sein. Tatsächlich ist Webers Verwendung des Terminus Kulturbedeutung in dem Sinne mindestens zweideutig, daß sie sich sowohl auf das für uns Interessante wie auf das in der gegenständlichen Wirklichkeit Bestimmende, auf »kausale Bedeutung« also,125 bezieht. 126 Diese Zweideutigkeit nun, sofern sie bewußt eingesetzt wird, ist nicht ohne Sinn. Sie verweist nämlich darauf, daß unser Interesse nach Orientierung in der Kulturwirklichkeit allein die Gesichtspunkte zur Analyse auch solcher Wirklichkeiten liefern kann, welche uns - zunächst - ganz fremd sind (sofern wir sie nur als Kulturwirklichkeit untersuchen wollen). Damit aber ist die These ausgesprochen, daß das Verfahren der Wertbeziehung nicht nur der Eingrenzung des Untersuchungsfeldes dient, sondern darüberhinaus Ebene und Richtung der Kausalanalyse bestimmt. 127 E. Nagel faßt Webers Begriff der Kulturbedeutung offenbar nur im zweiten Sinne auf und bemerkt, daß damit sinnvoll nur der »outcome of certain forms of individual activity« gemeint sein könne, und daß ihr damit kein anderer wissenschaftstheoretischer Status zukomme als etwa einem beliebigen »outcome« in der Physiologie.128 Webers Rede von der Kulturbedeutung könne sich demnach nur auf das generelle Problem der empirischen Gültigkeit (validity) von Aussagen über Kausalzusammenhänge beziehen. Eine solche Interpretation beseitigt mit der Mehrdeutigkeit des Terminus den Drehpunkt der Weberschen Argumentation. Dieser Argumentation gemäß soll die Beziehung auf (kulturbedeutsame) Wertideen die der kulturwissenschaftlichen Forschung eigentümlichen Hinsichten bereitstellen - welche nach Webers Auffassung von empirischer Wissenschaft primär Hinsichten für kausale Zurechnung (also für mögliche Kulturbedeutung im zweiten Sinne) zu sein haben. 129 Die hypothetische Beziehung auf Werte leistet eine »Auswahl und Formung« der Forschungsgegenstände derart, daß sie zumindest die entscheidenden Ansatzpunkte für mögliche Hypothesen empirischer Forschung vorgibt. 130 Beziehung auf Werte ist nicht identisch mit der Erstellung von Forschungshypothesen, sie weist denselben jedoch die Bahn. Die Wertideen, in bezug auf welche die Ausgrenzung des Untersuchungsgegenstandes geschieht, werden zugleich verstanden als - potentielle - Orientierungspunkte oder Determinanten des zu erforschenden Handelns, also als - auch - kulturbedeutsam im erwähnten zweiten Sinne. 131 Anders ausgedrückt: Die Wertbeziehung erklärt als solche nichts, bestimmt je40
doch die angemessene Ebene und die allgemeinsten Gesichtspunkte der intendierten Erklärung.132 Nur bei einer solchen Auffassung von Wertbeziehung dürfte dieser Teil der Weberschen Methodologie sich folgerichtig mit den übrigen verbinden lassen. Insbesondere ist nur so die Bedeutung der Wertbeziehung für die Konstruktion von Idealtypen zu verstehen jedenfalls, soweit es sich um Idealtypen mit empirisch-analytischer Abzweckung handelt. Ebenso korrespondiert dieser Auffassung von Wertbeziehung ein Begriff von Verstehen, dem dieses nicht bloß als heuristisches Hilfsmittel, sondern als Konstituens von empirischer Erklärung gilt. Auf diese Fragen ist später einzugehen. Zuvor ist, in aller Vorläufigkeit, eine Schwierigkeit (oder Unzulänglichkeit) der Weberschen Überlegungen zu erörtern, die - nicht zufällig - beim Thema Wertbeziehung besonders deutlich hervortritt und das Verhältnis dieser wissenschaftstheoretischen Argumentationen zu Webers theoretischem Ansatz betrifft. Die Frage lautet, ob die von Weber in den bisher diskutierten Erwägungen bevorzugte Kategorie Wert der von ihm gemeinten Sache durchgehend gerecht werde.133 Ist Kultur wirklich nur ein »Wertbegriff« 134 und kann sich - demnach - eine sachangemessene Erforschung kultureller Tatbestände auf einen Bezug auf Wertideen beschränken? Geht nicht Webers eigene Definition von Kultur als »mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt« der Wirklichkeit über eine solche Festlegung hinaus, und macht nicht der bloß theoretische Charakter der Wertbeziehung (im engeren Sinne) die Rede von Wert zumindest problematisch? Weber setzt, wie Henrich bemerkt 135 , die Termini Sinn, Bedeutung und Wert durchgehend ineins - und zwar unter eindeutiger Dominanz des Wertbegriffs, jedenfalls in den methodologischen Schriften. Henrich gilt dies als ebenso problemlos wie der Tatbestand, daß sich das Gewicht in den späteren (theoretischen) Schriften mehr auf den Terminus Sinn verlagere, da dies keine »sachlichen Differenzen« impliziere. Eben dies erscheint jedoch fragwürdig. Auf die (geistes-)geschichtliche Herkunft der Eingrenzung von Kultur auf einen »Wertbegriff«, wie sie vor allem im Umkreis des Neukantianismus stattfand, ist hier nicht des näheren einzugehen. Entscheidend für diese Entwicklung ist sicherlich die - tatsächlich auf Kant zu beziehende - Überzeugung, daß als Paradigma von Wissen überhaupt die naturwissenschaftliche Erkenntnisform zu gelten habe. Für die lebensweltliche (eben kulturelle) Weltorientierung - sofern sie als nicht wissenschaftsfähig in diesem Sinne angenom41
men wurde - folgte aus dieser Überzeugung, daß sie allein durch Wer/setzungen zu begründen und in ihrem eigenen Recht zu behaupten sei. Daraus wiederum ergab sich das - bei Rickert wohl am besten entwickelte - Bestreben, erstens diesen Wertsetzungen einen möglichst allgemeingültigen Status zu verschaffen und zweitens nachzuweisen, daß auch eine derart auf Wertsetzungen begründete Weltorientierung zum Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis werden könne. Nun bemerkt Rickert gelegentlich 136 (ohne weitere Erläuterung), daß die gemeinsame Wirklichkeit des alltäglichen (praktischen) Lebens durch Wertbeziehung konstituiert sei und daß auf dieser Basis allererst »Wertbeurteilungen« möglich würden. Die Frage ist, ob die derart eine gemeinsame Welt bestimmenden Gesichtspunkte angemessen als Werte gefaßt werden, da sie doch primär theoretisch gelten und in durchaus kognitiver Funktion stehen sollen. Findet hier nicht dieselbe Verkehrung des Fundierungsverhältnisses statt wie in Sprangers These »Sinn ist immer ein Wertbezogenes«? 137 Offenbar wäre eine derartige Deutung von Sinn als Wert nur dann legitim, wenn die gemeinten Gesichtspunkte letzten Endes nur als Korrelate aktueller Bejahung gelten und sich bloßem Erkennen grundsätzlich entziehen. Im anderen Falle jedoch setzt, wie es ζ. Β. H. Gomperz feststellt 138 , alles Bewerten Sinndeutung oder Sinnverständnis voraus. Unter Sinn (oder Bedeutung) soll hier, vor jeder näheren Klärung, die Ebene menschlicher Wirklichkeitsauffassung verstanden werden, welche - mit Notwendigkeit - historischem Wandel unterworfen 139 und in den »symbolischen Formen« (Cassirer), insbesondere in den Sprachen, präsent und tradierbar ist. Dem Sinn in diesem Verstände gehören die Werte als Maßstäbe möglicher Bewertung zu, und zwar - für den sich am Sinn orientierenden Menschen - durchaus als Korrelate einer theoretischen Einstellung. Gegenstand der Bewertung ist keineswegs nur sinnhaft ausgelegte Wirklichkeit (bzw. diese Sinndeutungen selbst), sondern auch das (vermeintlich oder de facto) schlechthin Beharrende an der Realität. Die spezifische Beziehung wertschätzenden Verhaltens zu Sinnsystemen (incl. Wertsystemen) und durch Sinnsysteme strukturierter Wirklichkeit liegt darin, daß hier Wertung im Horizont möglicher (praktischer) Veränderung geschieht. Der Begriff der Kultur, und zwar vor seiner Abspaltung vom Begriff der Zivilisation, umfaßt denselben Phänomenbereich wie der des Sinnes im hier bezeichneten Verstände. Die Engführung 42
zum »Wertbegriff«, an die Max Webers Überlegungen zumindest anschließen, ist weder in der Weber-Rezeption noch in der übrigen Diskussion des Kulturbegriffs als solche angemessen erkannt und überwunden worden.140 Tatsächlich wird man sagen können, daß nicht einmal die bei Weber selbst angelegten Motive 1 4 1 in dieser Richtung wirksam wurden.142 So hebt T. Parsons zwar als Verdienst Webers hervor, daß er auf der eigenen Legitimität nicht-wissenschaftlicher (insbesondere religiöser) Ideen, damit auf einem »cognitive element in the value complex« bestanden habe.143 Zugleich aber kann er die Korrelate von »Wissen oder Glauben« doch nur als untergeordnete »Elemente« des dominierenden »value complex« verstehen, da »Wissen oder Glauben« als solche noch nicht handlungsbestimmend seien. Eine entsprechende Mediatisierung - oder gar eine ausgesprochene Vernachlässigung - der kognitiven Dimension des kulturellen Systems zugunsten der evaluativen ist, wie neuerdings Barnsley 144 kritisch feststellte, auch in der Gegenwart noch der Normalfall. 145 Sie dürfte, wie angedeutet, sehr wesentlich darauf zurückgehen, daß hier Wissenschaft sich als Maßstab jedes möglichen Wissens setzte und - tendenziell - neben sich nur noch Wertung diagnostizieren kann.146 Es dürfte sehr entscheidend das in dieser Form von Weber eben nicht geteilte professionelle Vorurteil gerade der Sozialwissenschaftler sein, welches eine Problematisierung des »Wertbegriffs« von Kultur verhindert hat.147 Die gewichtigere Schwierigkeit ist allerdings ohne Zweifel durch die erwähnte Argumentation von T. Parsons bezeichnet: Muß nicht Sozialwissenschaft, wenn sie der Sinn-Dimension handlungsftesiimmende Bedeutung zumißt, in demselben Zuge Sinn als Wert auffassen? Anders ausgedrückt: Zieht nicht gerade eine explanatorische (und eben nicht bloß hermeneutische) Intention mit Notwendigkeit eine Übersetzung von Sinn-Begriffen in Wert-Begriffe nach sich? Eben dies ist offenbar nicht nur die Auffassung von T. Parsons 148 , sondern auch die von Hans Albert, der es ausdrücklich als Vorzug der Weberschen Stellung bezeichnet, daß hier unter Sinn wesentliche Normen und Maximen verstanden würden, welche dann kausal-analytisch zu beanspruchen wären.149 Zur Unterstützung einer solchen Deutung gerade der Weberschen Auffassung wäre dessen Feststellung zu zitieren: »Interessen (materielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen.« 150 Diese Bemerkung ist ja offenbar so zu verstehen, daß Sinngebungen (Ideen) nur dann das Handeln faktisch bestim43
men können, wenn sie durch einschlägige Interessen besetzt sind, das aber heißt: als Wertsetzungen fungieren. 151 Die - korrelativen Begriffe Wert und Interesse enthalten demnach einen Lösungsvorschlag für das Problem, wie die - für die kausalanalytische Perspektive primär wichtige - Wirklichkeit und Wirksamkeit von Sinn aufzufassen sei.152 Das Besondere dieses Versuches wäre darin zu sehen, daß hier weder eine abstrakte Trennung von Sinn und Faktizität stattfindet (wie exemplarisch bei Max Schelers Unterscheidung von Ideal- und Realfaktoren 153 ), noch Sinngebungen als bloß derivative Epiphänomene gelten wie ζ. B. bei V. Pareto. Daß dies aber auch nicht mehr als ein Ansatz sein kann, ist schon aus der Unbestimmtheit des Interessenbegriffs zu schließen, der eben nur zur Abwehr idealistischer wie naturalistischer Radikallösungen hinreichen dürfte. Die ganze zuletzt erörterte Problematik wird mit Notwendigkeit die folgenden Überlegungen durchdringen. Grundsätzlich wird an ihr deutlich, daß sich die methodologischen Überlegungen nicht strikt von den inhaltlichen (objektbezogenen) trennen lassen, und zwar selbst nicht in der Form einer bewußten und vorläufigen Abstraktion, wie sie von Rickert und Weber intendiert und auch überwiegend geübt wurde. Von sehr großer Bedeutung ist die Problematik für die anschließende Diskussion der Weberschen Bestimmung des Verhältnisses von Verstehen und Erklären in den Sozialwissenschaften. Der Streit um die verstehende Methodik ist ja um die doppelte Frage zentriert, ob dieselbe a) überhaupt Tatbestände treffe, welche erklärungsrelevant sind, und/oder ob sie b) diese Tatbestände so auffasse, wie sie faktisch fungieren. Schon die erste Frage wird da negiert, wo diesem Verfahren eine bestenfalls heuristische Bedeutung zugemessen wird. Die - bei Weber vorfindliche - Unterscheidung von bloßem Sinnverstehen einerseits und - allein erklärungsfähigem Motivationsverstehen andererseits wird dagegen häufig als Basis einer (eingeschränkten) Bejahung der Frage angenommen. Allerdings kann diese Unterscheidung keineswegs als unproblematisch gelten. Die zweite Frage bezieht sich noch unmittelbarer auf die oben umrissene Problematik. Sie wird von Anhängern wie von Kritikern der verstehenden Methodik jedoch oft so verstanden, als sei damit nach der Identität von Verstehen und Nachempfinden (Einfühlen) gefragt - also danach, ob der verstandene Sinn für den Forscher dieselbe aktuelle Wertbesetzung habe, wie für den Akteur. 44
Die anschließenden Überlegungen werden sich kritisch auf eine derart verengte Auffassung vom Motivationsverstehen richten müssen (die Weber nicht vertreten hat) und in demselben Gedankenzuge - als Interpretationsvorschlag für Webers Argumentationen die These entwickeln, daß für die Sozialwissenschaft gerade der Zusammenhang von Sinn- und Motivationsverstehen von konstitutiver Bedeutung ist. Diese Erörterungen leiten mit Notwendigkeit zur Frage der Idealtypen über, sofern ein korrespondierender, ebenfalls bei Weber selbst angelgter Dualismus auch die Diskussion über dieses Konzept bestimmt. Daß auch und erst recht die diesen Teil abschließende Darstellung der begrifflichen und theoretischen Setzungen Webers auf die hier umrissene Problematik eingehen muß, versteht sich von selbst. Der Grundbegriff Sinn wird von Weber im Zuge der expliziten Begründung einer spezialwissenschaftlichen und kausalanalytischen Soziologie terminologisch eingeführt. Die entscheidende Frage wird also sein, warum Weber ihm trotz der angedeuteten (eigenen und fremden) Gegenargumente den Primat gegenüber dem Begriff Wert zuerkennt. 2.3
Probleme der Methode
2.3.1
Erklären und Verstehen
Max Weber definierte die »empirische Soziologie« 154 als jene Wissenschaft, »welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.« 155 Die spezialwissenschaftliche Aufgabe der Soziologie besteht demnach in der Erklärung menschlichen Handelns im weitesten Sinne,156 soweit und sofern dieses ein soziales Handeln (d. h. primär: ein Handeln aus gesellschaftlicher Bestimmung) ist. Diese Aufgabe ist nach Weber nur vermittels eines deutenden Verstehens eben dieses sozialen Handelns angemessen zu realisieren. Dies folgt aus seiner bekannten Definition, nach welcher als sozial solches Verhalten gelten soll, »welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.« 157 Es ist also eine spezifische Sinnorientierung und Sinnbestimmtheit menschlichen Handelns, die dasselbe als soziales kennzeichnet und welche zur Konsequenz hat, daß eine angemessene Erklärung solchen Verhaltens über ein Verstehen des orientierend und bestimmend fungierenden Sinnes vermittelt sein muß. 158 45
Auf Eigenart und Problematik der soziologischen Begriffs- und Theoriebildung Webers ist später einzugehen. An dieser Stelle steht die methodologische Seite seines Ansatzes zur Diskussion. In dieser Hinsicht ergibt sich aus seinen Bestimmungen zunächst grundsätzlich, daß das spezifische Untersuchungsfeld der empirischen Soziologie sich für Max Weber mit der Reichweite der Methode des Sinn-Verstehens (in der bezeichneten Bedeutung) deckt. 159 Die »empirische Soziologie« ist als »verstehende Soziologie« definiert, da sie nur als solche möglich ist. Sie ist nur als solche möglich, da - Webers Feststellungen sind hier ganz unzweideutig nicht weniger als ihre Erklärungsfähigkeit auf der Ebene sozialen Handelns mit der verstehenden Erschließung des handlungsleitenden Sinnes steht und fällt. Ein angemessenes Verständnis der Weberschen Intentionen ist demnach nur möglich, wenn erstens die durchaus konstitutive Bedeutung des verstehenden Verfahrens wahrgenommen und dieses Verfahren zweitens im Kontext der ErklärungshinkVion empirischer Sozialwissenschaft erörtert wird.160 Sowohl eine Minimalisierung der Rolle dieses Verfahrens wie seine Abtrennung von der kausalanalytischen Abzweckung der Soziologie widersprechen eindeutig der Auffassung Webers. 161 Dennoch finden sich beide Tendenzen, und zwar beide - außer in der Weber-Kritik - gerade auch unter dem Titel einer angemessenen Weber-Rezeption. Durch das Verfahren der Wertbeziehung, wie es oben erörtert wurde, entstehen der historischen Forschung Gegenstände und Richtungen der Untersuchung, die sich in den Horizont eines (wenn auch u. U. sehr bedingt) möglichen gegenwärtigen Handelns einfügen. Die Methode des kausalen Verstehens allein vermag auf der durch Wertbeziehung definierten Untersuchungsebene zu operieren und die je konkreten Gegenstände der Untersuchung in ihrer kausalen Verflechtung zu erfassen. 162 Tatsächlich vollzieht sich Wertbeziehung selbst bereits als ein (Sinn-)Verstehen. Dieses aber ist seinerseits grundsätzlich identisch mit der in der Lebenspraxis immer schon geübten Orientierungsform 163 : Das sozialwissenschaftliche Verstehen ist für Max Weber eine Modifikation des lebensweltlichen Sinn- und Situationsverständnisses, welche dem letzteren gegenüber auf (durch die Verfahren der Wertbeziehung und der idealtypischen Begriffsbildung gekennzeichneten) Restriktionen beruht, die ihm einen dem lebensweltlichen Verstehen nicht erreichbaren Grad an Verläßlichkeit und intersubjektiver Überprüfbarkeit sichern sollen.164 Zwar finden sich bei Weber selbst nur Andeu46
tungen zur Fundierung des methodischen Verstehens in dem für das alltägliche soziale Handeln konstitutiven Sinnverständnis.165 Doch ist es offensichtlich gerade dieser Zusammenhang, der nach Webers Auffassung den »wirklichkeitswissenschaftlichen« Status der Soziologie begründet. »Wirklichkeitswissenschaft« ist die Sozialwissenschaft für ihn, sofern sie »die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart (zu) verstehen« strebt.166 An einer anderen Stelle spricht er von dem »gesunden Sinn des empirischen Forschers, der die Wirklichkeit verstehen, nicht sie in Formeln verflüchtigen will.« 167 Zwar redet er hier nicht vom Verstehen im terminologischen Sinne, doch bringt ihn die Konsequenz seiner Überlegungen zu der angeführten Feststellung, daß für die erklärende »Deutung« konkreten sozialen Handelns eine an die Sinn-Orientierung der Akteure anknüpfende verstehende Methodik (im engeren Sinne) erforderlich sei.168 Heinrich Rickert bezog das Verstehen ausdrücklich auf das »Irreale« am historischen Gegenstand, auf die demselben »anhaftenden« Wert- und Sinngebilde als solche (d. h.: in ihrem »reinen« Bedeutungsgehalt).169 Damit steht er in der beherrschenden Tradition des dezidiert geisteswissenschaftlichen Verstehens 17°. Es ist hier das Argument heranzuziehen, mit dem er sich gegen eine explanatorische Zielrichtung der Wertbeziehung wendet. Er kritisiert die Deutung, »als solle durch eine >teleologische< Begriffsbildung in der Geschichte irgendetwas aus den bewußten Zwecksetzungen der Personen, von denen sie handelt, erklärt werden.« Die Frage, ob dies möglich sei, sei in diesem Zusammenhange nicht am Platze, »denn sie bezieht sich auf den Inhalt der Geschichte«.171 Es war oben schon darauf hingewiesen worden, daß für Weber die Wertbeziehung durchaus Ebene und Richtung der kausalen Analyse bestimmen soll - und daß damit allerdings gegenstandsbezogen (inhaltlich) argumentiert wird, ohne daß dies den primär methodologischen Charakter seiner Überlegungen aufhöbe. Dasselbe gilt - mit Notwendigkeit - für das durch Wertbeziehung vermittelte und orientierte verstehende Verfahren: Es ist die Struktur sozialen Handelns, welche nach Weber das Verstehen als Instrument »teleologischer« Erklärung fordert,172 Gegenstand des Verfahrens ist hier nicht der Sinn in seiner Idealität, sondern der Sinn als bestimmender realer Faktor menschlichen Handelns. Inwiefern sich Weber damit nicht in einen einfachen Gegensatz zur Rickertschen Auffassung setzt, sondern - auch hier - auf die Überwindung einer falschen Polarisierung abstellt, wird zu erörtern sein. 47
Weber selbst unterscheidet terminologisch das in den empirischen Sozialwissenschaften zu übende »Motivationsverstehen« vom »aktuellen Verstehen«.173 Unter letzterem versteht er das (angemessene) Erfassen des Bedeutungsgehaltes von Handlungen (einschl. sprachlicher Äußerungen). »Aktuelles Verstehen« in diesem Sinne kann sein: 1. »rationales aktuelles Verstehen von Gedanken« (Verstehen des Bedeutungsgehalts einer Aussage, ζ. B. des Satzes 2 x 2 = 4), 2. »irrationales aktuelles Verstehen von Affekten« (Verstehen des Ausdrucksgehalts von mimischen Bewegungen und von Lautäußerungen, ζ. B. von Gesten der Wut), 3. »rationales aktuelles Verstehen von Handlungen« (Verstehen der Intention eines Handlungsvollzuges, z.B. einer bestimmten Verrichtung eines Handwerkers). »Aktuelles Verstehen« richtet sich demnach auf den Verweisungs- und Darstellungssinn (oder: die symbolische Qualität) von menschlichem Verhalten als solchem, faßt jedoch denselben durchaus als faktisch gemeinten, nicht als ideal-gültigen auf. Es bewegt sich damit grundsätzlich auf derselben Ebene wie das »Motivationsverstehen«. Das Spezifische des letzteren liegt darin, vermittels des Verständnisses des gemeinten Sinnes auf eine Erklärung des manifesten Verhaltens abzustellen. Menschliches Verhalten erklären heißt hier: es zufolge seines (»aktuell verstandenen«) Sinngehalts als fungierendes Glied eines »Sinnzusammenhanges« erweisen.174 Weber definiert: »>Motiv< heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter >Grund< eines Verhaltens erscheint.« 175 An dieser Bestimmung ist zunächst festzuhalten, daß danach auch ein dem Handelnden selbst nicht bewußter Beweggrund den Charakter eines »Sinnzusammenhanges« haben kann und als solcher dem verstehenden Verfahren zugänglich ist. Zu klären ist an dieser Stelle, was Weber mit dem als Definiens eingesetzten Terminus »Sinnzusammenhang« meint. Offenbar bewußt kennzeichnet er den - verstehbaren - Beweggrund sozialen Handelns hier als Sinnzusammenhang und nicht einfach als Sinn.176 Das »kausale Verstehen« 177 kann nach seiner Auffassung die Erklärungsaufgabe nur dann erfüllen, wenn es den motivierenden Sinn als Zusammenhang erfaßt. Der Terminus Sinnzusammenhang stellt also auf die handlungsbestimmende (eben: motivierende) Leistung von Sinn ab.178 Des näheren bezeichnet er die überdauernde (subjektive) Verbindlichkeit bestimmter Sinn- oder Wertsetzungen, 48
welche - was von Weber allerdings unzureichend entwickelt wird der gesellschaftlichen Natur dieser Setzungen entspringt. Soll es ein »zusammenhängend ablaufendes Verhalten« geben, so bedarf es des orientierenden Sinnzusammenhanges. Dies gilt bereits für das Handeln einzelner Akteure in seiner Kontinuität, nicht erst für aktuell auf alter ego bezogenes Verhalten. Sozial ist derart auch individuelles Handeln, weil und sofern eben der Kontinuität gewährleistende Sinnzusammenhang gesellschaftlich vermittelt ist. Auch hier liegt offenkundig ein »sinnhaft am Verhalten des anderen orientiertes eigenes Verhalten« vor. 179 Das Verstehen sozialen Handelns nun tendiert von sich aus darauf, den Zusammenhang eines Handlungsablaufes als »sinnhaft adäquat« auszulegen, d. h. diesen Zusammenhang in erklärender Absicht auf einen möglichst konsequent aufgefaßten Sinnzusammenhang zu beziehen: »>sinnhaft adäquat« soll ein zusammenhängend ablaufendes Verhalten in dem Grade heißen, als die Beziehung seiner Bestandteile von uns nach den durchschnittlichen Denkund Gefühlsgewohnheiten als typischer (wir pflegen zu sagen: >richtiger Eingefühlten < herauszukommen zu derjenigen Art von Bestimmtheit, deren die Erkenntnis individueller geistiger Bewußtseinsinhalte fähig ist. Denn im Gegensatz zum bloßen >Gefühlsinhalt< bezeichnen wir als >Wert< ja eben gerade das und nur das, was fähig ist, Inhalt einer Stellungnahme: eines artikuliert-bewußten positiven und negativen >Urteils< zu werden . . . « . Es sei die »Bestimmtheit des Inhalts«, welche das Objekt möglicher Werturteile aus der Sphäre des »Gefühlten« heraushebe: »Ob irgendjemand das>Rot< einer bestimmten Tapete >ebenso< sieht wie ich, ob es für ihn dieselben >Gefühlstöne< besitzt, ist durch kein Mittel eindeutig festzustellen, die betreffende >Anschauung< bleibt in ihrer Kommunikabilität notwendig unbestimmt. Die Zumutung, ein ethisches oder ästhetisches Urteil über einen Tatbestand zu teilen, hätte dagegen gar keinen Sinn, wenn - bei allem Mitspielen inkommunikabler >Gefühlszugemutete< Inhalt in den Punkten, >auf die es ankommt«, identisch >verstanden< würde.« 180 Das an dieser Bemerkung Webers für den vorliegenden Zusammenhang Wichtige dürfte sich folgendermaßen formulieren lassen 187 : Kommunikabel (da intersubjektiv identisch verständlich) sind (motivierende) Gefühlslagen nur insofern, als sie einer Orientierung an Werten entspringen und also - in erklärender Absicht - auf eine solche Wert-Orientierung zu beziehen sind. Die (nach Webers Setzung) per definitionem artikulationsfähigen Werte allein machen Verstehen von und Kommunikation über Gefühlslagen - im Alltagsleben und in der Wissenschaft - möglich. Ein solches Verstehen ist also - im Gegensatz zu den nach Weber aussichtslosen Bemühungen um »Intuition« - in dem Sinne mittelbar, daß es über ein Verständnis objektivierter oder doch objektivierbarer Wertsetzungen läuft. Es trifft demnach die gemeinte Sache, weil und sofern affektuelle Dispositionen und Zustände tatsächlich durch derartige Wertsetzungen bestimmt und strukturiert sind. Zwar entgeht einem derart über die Werte-Ebene vermittelten Verstehen die Konkretion der jeweiligen Gefühlslage. Es vermag jedoch - grundsätzlich die Elemente und Faktoren zu treffen, welche sich als identische (wenn auch: in wechselnden Kombinationen) intra- und intersubjektiv durchhalten. Die - im einzelnen wie im allgemeinen - überprüfbare Voraussetzung dieses Vermögens ist, um dieses noch ein51
mal hervorzuheben, daß a) die motivierenden Gefühlslagen in diesem Sinne identische oder wenigstens vergleichbare Strukturen an sich haben und daß sich b) diese identifizier- und vergleichbaren Ausformungen von der - durch Sozialisierung und Internalisierung vermittelten - Orientierung an objektivierten oder objektivierbaren Wertmustern herschreiben. Weber selbst formuliert diese Voraussetzung in der Zusammenfassung der zitierten Überlegungen so, daß erstens das kausale Interesse in den historischen Wissenschaften »>sinnvoll< deutbares menschliches Sich-Verhalten (>HandelnWertung< und >Bedeutung< bestimmbar ist«, und daß zweitens menschliches Tun in spezifischer Art »evident« verstanden werden könne, »soweit es an sinnvollen >Wertungen< orientiert, oder mit ihnen konfrontierbar ist.«188 An diesen Formulierungen Webers ist nun bemerkenswert, daß er hier die Begriffe »Sinn« (bzw.: »Bedeutung«) und »Wertung« einmal nebeneinander und dann so gebraucht, daß die gemeinten »Wertungen« ausdrücklich als »sinnvoll« gekennzeichnet werden. Es ist dies eine der Stellen, an denen der Sinn-Begriff nicht nur überhaupt, sondern sogleich als der allgemeinere gegenüber dem Wertbegriff auftritt. Wichtig ist, daß dies in einem Zusammenhang geschieht, in dem es um die angemessene Auffassung aktueller Wertungsvollzüge bzw. der ihnen korrespondierenden affektuellen Verfassungen geht. Die Wertorientierungen, über die ein »einfühlendes Verständnis« 189 von Gefühlslagen laufen muß, werden als »sinnvoll« gekennzeichnet, um ihre Kommunikabilität hervorzuheben. »Werte« müßten als nicht artikulations- und kommunikationsfähig gelten, wenn sie als Korrelate (oder Zielpunkte) eines sinnlosen (triebhaften) Fühlens aufgefaßt würden. Artikulationsfähigkeit und Kommunikabilität machen den Sinn-Charakter von Werten aus. Die letzten Überlegungen sind in folgender Weise zusammenzufassen: 1. Verstehen im Sinne Webers zielt nicht darauf, fremde Innenzustände als eigene aktuelle Erlebnisse oder Vollzüge des Verstehenden nachbildend zu erzeugen. Dies gilt, obwohl Weber die problematischen Attribute »nacherlebend« und »einfühlend« des öfteren mit dem Begriff des Verstehens (im Falle der »affektuellen« Motivation) verbindet. Daß man nicht Cäsar sein müsse, um Cäsar zu verstehen 190 , heißt: Man muß sich nicht in (was allenfalls denk52
bar wäre) äquivalente aktuelle psychische Verfassungen versetzen, um das Verhalten dieses Akteurs verstehend zu erklären.191 2. Ferner heißt Verstehen in Webers Sinne auch nicht, daß man sich Innenzustände eines alter ego in der Form einer ganzheitlichen und unmittelbaren »Intuition« (eine »innere Anschauung«, mit M. Scheler zu sprechen 192 ) zur »Selbstgegebenheit« bringt. Auch einer solchen Auffassung liegt noch die Annahme zugrunde, daß das zu Verstehende der konkrete psychische Vollzug oder Zustand sei. 3. Verstehen im Sinne Webers richtet sich auf die psychische (intellektuelle, affektuelle usw.) Vollzüge orientierenden und strukturierenden Wert- und Sinnmuster. Dies bedeutet zunächst nur, daß sich das Verstehen auf die Bestimmungsmomente des Verhaltens wendet, welche als solche grundsätzlich »kommunikabel« (d. h.: sprachlich mitteilbar) sind. 193 4. Die Bevorzugung des Terminus Sinn rührt von diesem letztgenannten Tatbestand her: Mit dem Postulat eines Bezugs auf Werte in der Kritik der intuitionistischen Position geht es Weber, wie aus den zitierten Ausführungen hervorgeht, zunächst um die Sicherung von Kommunibilität - also um Wert als Sinn. Die zuletzt angestellten Überlegungen gehen, wie bemerkt, über das bei Weber selbst Explizierte teilweise hinaus, versuchen jedoch sich auf die Entfaltung der Weberschen Intentionen zu beschränken. Im folgenden sind einige Punkte des näheren und unter Rekurs auf Webers Ausführungen zu entwickeln und zu begründen. Dabei sind nicht zuletzt bestimmte Einwände gegen die Weberschen Vorstellungen zu diskutieren. Die vorstehenden Interpretationen sind wohl in erster Linie dem Einwurf ausgesetzt, daß darin der rationalistische (oder rationalisierende) Charakter des Verstehens womöglich noch stärker als bei Weber selbst hervortrete, indem auch das einfühlende Verstehen von affektueller Motivation auf artikulationsfähige und kommunikable Sinnzusammenhänge verwiesen werde. Weber unterscheidet das rationale Verstehen vom »einfühlenden Nacherleben« 194: Ersteres erfasse handlungsbestimmende Sinnzusammenhänge, an denen Handelnde sich in intellektuellen Vollzügen orientieren, letzteres versuche »irrationale« Motivation in ihrem jeweiligen »erlebten Ge/ü/i/szusammenhang« nacherlebend zur Evidenz zu bringen. Bei uns sehr fremden Wertorientierungen müsse an die Stelle des »Nacherlebens« die »nur« intellektuelle Deutung treten, bei Gefühlslagen, 53
die »ihrem Grade nach unsre eigenen Möglichkeiten absolut übersteigen«, das bloß »sinnhafte« einfühlende Verstehen.195 Wäre demnach mit Weber eine Differenz zwischen motivierenden »Sinnzusammenhängen« einerseits und »Gefühlszusammenhängen« andererseits anzunehmen? Die im Vorhergehenden bereits angedeutete und hier etwas näher zu erläuternde These ist, daß - zumindest im Falle sozialen Handelns - auch Gefühlszusammenhänge Sinnzusammenhänge sind und daß also das sozialwissenschaftliche Verstehen grundsätzlich sinnhaftes Verstehen ist. Daß diese, die Webersche Stellung allerdings in einer bestimmten Weise zuspitzende Auffassung dennoch nicht rationalistisch (im üblichen Sinne) ist, ist anschließend zu entwickeln. Was eine Disjunktion von (einfühlend-nacherlebbaren) Gefühlsund (intellektuell-verstehbaren) Sinnzusammenhängen betrifft, so wird dieselbe an früherer Stelle (im Logos-Aufsatz von 1913) von Weber ausdrücklich zurückgewiesen: »Subjektiv sinnhaft auf die Außenwelt und speziell auf das Handeln anderer bezogen sind nun auch die Affekthandlungen und die für den Ablauf des Handelns, also indirekt, relevanten >GefühlslagenWürdegefühlStolzNeidEifersuchtsinnhaft< orientiert ist; es kann hemmungsloses Reagieren auf einen außeralltäglichen Reiz sein«.199 Solchem »affektualen Sichverhalten« stehe - in dieser Hinsicht - das »traditionale Verhalten« nahe, das »sehr oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize« sei.200 Es ist aber (angesichts der Weberschen Formulierung) festzustellen, daß ein derartiges quasi-instinktives Verhalten (bzw.: seine Motivation) keineswegs nur soweit sinnhaft (und damit verständlich) ist, wie die »sinnhafte Bezogenheit« dem Akteur selbst aktuell be54
wußt ist. Vielmehr ist von sinnhaften Motivations- und speziell: Gefühlslagen solange zu sprechen, wie dieselben prinzipiell 201 auch für den Akteur bewußtseinsfähig und - daher - adäquat sprachlich kommunikabel sind. Das entscheidende Kriterium sinnhafter Bezogenheit von Motivation ist hinsichtlich der Bewußtseinsfähigkeit wohl am schärfsten so zu formulieren: Sinnhaft muß jede Handlungsorientierung heißen, welche nicht nur bewußtseinsfähig, sondern durch bloße Bewußtmachung (und erst recht durch bewußte Kontrolle) grundsätzlich veränderbar ist. A u f diese letztere Wendung ist später zurückzukommen. Das »einfühlende Verstehen« von Gefühlslagen zielt darauf, »sinnhafte Bezogenheit« in diesem Verstände aufzudecken. W o dies sich als unmöglich erweist, wird verstehendes Verfahren unbrauchbar. Dem Forscher muß eine Orientierung des Affektlebens, wie er sie rekonstruiert, nur als möglich erscheinen. Das Verstehen terminiert mit anderen Worten in dem, was an der angenommenen Motivation als bewußtseinsfähig gilt. Das Vermögen des Forschers, eine ähnliche Gefühlslage aktuell nachzuempfinden, hat die prinzipiell gleiche Bedeutung wie die entsprechende Fähigkeit bei sinnlich wahrnehmbaren Objekten: Es erhöht die (subjektive) Bereitschaft, einen entsprechenden Fall für empirisch vorfindbar zu halten. Empirische Evidenz in diesem Sinne muß jedoch für den Forscher keineswegs mit Bündigkeit des zu verstehenden Sinnzusammenhangs einhergehen. Eher ließe sich sagen, daß ein gewisser Mangel (wiederum nicht: das völlige Fehlen) von sinnhafter Evidenz durch Evidenz im erstgenannten Sinne ausgeglichen werden kann; allerdings ist damit nach dem Gesagten die Grenze des Verstehens im eigentlichen Verstände überschritten. Die letzten Bemerkungen sind dem Einwand ausgesetzt, daß diese Deutung des Verstehens den - expliziten - Weberschen Rationalismus noch überbiete. Weber spricht im Falle des wert-rationalen und des affektualen Handelns tatsächlich von »Evidenz« nur in dem Maße, indem die entsprechende Motivation vom Beobachter selbst aktuell nachvollzogen werden kann. W o dies nicht möglich ist, sei »nur« eine intellektuelle Deutung des betreffenden Sinnzusammenhanges möglich. 202 Zwar betont Weber damit zugleich, daß - wie es oben gesagt wurde - ein distanziertes (affektfreies) Verständnis der »sinnhaften Bezogenheit« hinreichend sei. Dennoch scheint er selbst hier dies Verfahren als bloß rationalistischabstrahierend zu qualifizieren. Der Rationalismus-Vorwurf gegen Weber nun bezieht sich - in diesem Zusammenhang - auf dessen 55
Feststellung, daß bei der »typenbildenden« sozialwissenschaftlichen Betrachtung »alle irrationalen, affektuell bedingten, Sinnzusammenhänge des Sichverhaltens, die das Handeln beeinflussen, am übersehbarsten als >Ablenkung< von einem konstruierten rein zweckrationalen Verlauf desselben erforscht und dargestellt« würden.203 Weber bemerkt dazu, daß dies Verfahren aus einem methodischen (d. h. näherhin heuristischen) »Zweckmäßigkeitsgrunde« gewählt werde und keineswegs auf einem »Glauben an die tatsächliche Vorherrschaft des Rationalen über das Leben« beruhe. An der ersten Feststellung ist zunächst wichtig, daß Weber hier (implizit) darauf verweist, daß ein allfälliges aktuell-nacherlebendes Verstehen nicht das Gemeinsame oder Vergleichbare mehrerer Motiv-Lagen (schon von ego selbst wie erst recht von ego und alter ego) zu treffen imstande ist. Die psychische Verfassung ist je konkret; übertragbar und verständlich ist sie nur durch Maßgabe ihrer Bestimmtheit durch kommunikable Sinnzusammenhänge. Aus diesem Grund ist - und zwar bereits im lebensweltlichen Kontext jedes kommunikationsfähige Selbst-Verständnis und jedes Fremdverständnis typisierend.204 Die kritische Frage zu Webers These muß dann aber lauten, warum solche Typisierung auf zweckrationale Sinnzusammenhänge zielen müsse. Webers Antwort dürfte wohl lauten, daß eine derartige Typisierung den eindeutigsten Vergleichsmaßstab für verschiedene konkrete Handlungen erbringe. Der zweckrationale Sinnzusammenhang läßt sich jeweils mit einem Maximum an Eindeutigkeit konstruieren, da er ausschließlich auf empirisch zu gewinnendem und überprüfbarem Wissen beruht. Er gibt an, »wie das Handeln bei Kenntnis aller Umstände und aller Absichten der Mitbeteiligten und bei streng zweckrationaler, an der uns gültig scheinenden Erfahrung orientierter Wahl der Mittel verlaufen wäre«.205 Tendenziell gibt es also beim zweckrationalen Handeln in diesem Sinne für jede Situation nur einen, für alle Akteure gleich gültigen Orientierungsrahmen. Fragwürdig ist, ob in derart aufgefaßten zweckrationalen Sinnzusammenhängen ein Maximum an möglicher Übereinstimmung und praktischer Vergleichbarkeit für sinnhaftes Handeln überhaupt (also auch für wertrationales, affektuales, traditionales etc. Handeln) zu sehen ist. Offenbar würde dies voraussetzen, daß sich die - verständliche - Sinnhaftigkeit und Bewußtseinsfähigkeit von Handlungsorientierungen nach der Annäherung an Zweckrationalität im genannten Sinne, d. h. letztlich: nach dem Anteil an empiri56
schem Wissen daran, bemäße. Weber selbst scheint tatsächlich auf eine solche Auffassung hin zu tendieren; darauf verweist auch ein Vergleich der entsprechenden Passagen im Logos-Aufsatz von 1913 und in Wirtschaft und Gesellschaft.206 Sie ist jedoch keine einfache Konsequenz aus seinen grundlegenden Bemerkungen über Sinnorientierung des Handelns und Verstehens. Sehr nachdrücklich hebt Weber zumindest noch im Logos-Aufsatz hervor, daß das typisierende Verstehen nicht auf zweckrationale Orientierungsmuster beschränkt sei: »Wir verstehen auch den typischen Ablauf der Affekte und ihre typischen Konsequenzen für das Verhalten«. 207 Ferner war oben entwickelt worden, daß auch in diesem Falle nach Weber ein (bloß) intellektuelles, nicht nacherlebendes Verstehen der betreffenden Sinnzusammenhänge möglich ist, welches für die Zwecke der Erklärung zureicht. 208 »Sinnzusammenhang« aber heißt hier das - allgemeine oder doch verallgemeinerbare - System der Kategorien und Werte, von dem her das jeweilige Welt- und Selbstverhältnis auch als affektuelles bestimmt ist. Die Rationalität von Handlungsmotivationen, auf welche das Verstehen und dessen Evidenzbedürfnis angewiesen ist, ist durch diese Sinnbezogenheit gegeben. »Rational« in diesem weiteren Verstände sind also auch die von Weber »irrational« genannten »Gefühlslagen«, sofern sie auf Sinnzusammenhänge beziehbar sind. Webers Neigung, den Begriff der Rationalität mit Zweckrationalität zu identifizieren, entspricht offensichtlich nicht einmal dem Sachverhalt beim rein zweckrationalen Handeln: Auch bei demselben findet regelmäßig eine Orientierung an Wertsetzungen statt.209 Die hier erreichbare »Evidenz« des Verstehens ist also keineswegs so zu begründen, daß es sich in diesem Falle ausschließlich um logisch und/oder empirisch überprüfbare Setzungen handle. In Webers Terminologie wäre dies so auszudrücken, daß zweckrationales Handeln primär verantwortungsethisch orientiert sei. 210 Dies aber impliziert, daß Zweckrationalität im Sinne Webers nicht als reiner Typus sinnhafter, bewußtseinsfähiger und kommunikabler Handlungsorientierung anzusehen ist, sondern nur als Spezialfall einer solchen. Die Sinnhaftigkeit und Kommunikabilität solcher Handlungsorientierung aber wäre, im Hinblick auf die implizierte Bewußtseinsfähigkeit, als »Rationalität« in einem weiteren Sinne zu kennzeichnen. Die so verstandene Rationalität menschlichen Handelns ist die Grundannahme der verstehenden Soziologie und eben nicht mit dem einem methodischen Zweckmäßigkeitsgrunde entspringenden Instrument zweckrationaler Typisie-
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rung zu verwechseln. Die Kritik an diesem letzteren Verfahren beruht auf Überlegungen forschungstechnischer Opportunität. Schwerwiegender, da die Struktur der gemeinten Sache betreffend, ist die Kritik an Webers Rationalismus (der zugleich Individualismus war), sofern diese Kritik auf die Annahme möglicher Rationalität qua Sinnbezogenheit menschlichen Handelns zielt. Über die Haltbarkeit dieser Annahme ist nicht aufgrund methodischer Zweckmäßigkeitsüberlegungen, sondern allein auf der Basis theoretischer Durchführung und empirischer Prüfung dieses Ansatzes zu entscheiden. Weber selbst hat wiederholt festgestellt, daß die verstehende Soziologie bereit sein müsse, eine nachgewiesene Überlegenheit naturwissenschaftlicher Erklärungsweisen anzuerkennen. Bis zum klaren Beweis des Gegenteils habe sie jedoch an der sie konstituierenden Grundannahme über die Möglichkeit sinnhafter und daher verständlicher Handlungsmotivation festzuhalten.211 Eine Kritik des der verstehenden Soziologie eigentümlichen Rationalismus ist nach dem Gesagten erst dann fundamentalen Charakters, wenn sie sich nicht bei Webers problematischer, wenn auch bloß methodischer Hervorhebung von Zweckrationalität aufhält 212, sondern auf die These von der Rationalität qua Sinnbezogenheit des Handelns abstellt. Mit dieser These nämlich steht und fällt Webers Grundlegung der spezialwissenschaftlichen Soziologie.21» Zweckrationales Handeln im Sinne Webers ist in gewisser Hinsicht das am wenigsten gesellschaftlich bestimmte oder orientierte. Gegen die Betonung dieser Art von Rationalität läßt sich so mit einigem Recht das Interesse der Soziologie an der Sozialität von Handeln vorbringen.214 Gegen die These von der Rationalität als Sinnbezogenheit dagegen wäre eine solche Argumentation offenbar widersinnig: Sinnhafte Orientierung von Handeln ist in aller Regel zugleich gesellschaftliche Orientierung - so daß Webers Unterscheidung von Handeln und sozialem Handeln problematisch wird. Die Sozialität des Sinnes ist dabei allerdings nicht als unvordenkliche Verbindlichkeit oder gar als Zwangsmäßigkeit (etwa im Sinne Dürkheims) aufzufassen: Es ist die von Weber, wie erwähnt, ausdrücklich hervorgehobene Kommunikabilität sinnhafter Bezogenheit welche das notwendige und auch hinreichende Kriterium für gesellschaftlichen Sinn darstellt.215 Gegen diese Bestimmung wäre allerdings einzuwenden, daß sich die Sozialität des Handelns faktisch im Normalfall nicht derart als bloße, entfremdungslose Kommunikabilität realisiere. Vielmehr 58
vollziehe sich Sozialität in der Regel eben doch in zwangshaften und verdinglichten Formen der Handlungsorientierung; das wirklich bestimmende Gesellschaftliche sei gerade nicht kommunikationsfähig. So meint Adorno, daß Webers verstehende Methodik vor zwangshafter (»naturwüchsiger«) Gesellschaftlichkeit des Verhaltens in diesem Sinne versagen müsse.216 Diese Ansicht beruht jedoch offenkundig auf der Annahme, das Verstehen beziehe sich ausschließlich auf den bewußt gemeinten Sinn des Handelns und könne daher nicht über die Meinung der Akteure von den Bestimmungsgründen ihres Handelns hinausgehen.217 Weber meint demgegenüber mit dem »subjektiv gemeinten« jedoch den bewußt oder unbewußt faktisch bestimmenden Sinn - im Gegensatz zu aller dem Handeln (evtl. eben auch durch den Akteur selbst) zugeschriebenen »objektiven« Bedeutung. Gerade die oben erörterte Feststellung Webers, daß auch Gefühlslagen in der Regel sinnhaft strukturiert seien, verweist auf die Möglichkeit, entfremdetes Handeln zugleich sinnhaft zu verstehen wie auch als entfremdetes aufzudecken: Das Verstehen hebt die gesellschaftliche Bestimmtheit der betreffenden affektuellen Orientierung heraus einschließlich der Mechanismen, aufgrund deren diese gesellschaftliche Vermittlung dem Handelnden selbst verborgen bleibt. Die verstehende Soziologie nimmt, anders gesagt, die Sozialität von Sinn nicht als aktuell gewußte an, bringt jedoch durch ihre Analyse die latente gesellschaftliche Vermittlung an den Tag. Sie enthält besondere aufklärerische und ideologiekritische Möglichkeiten, sofern sie den gesellschaftlichen Akteuren die entfremdeten Bestimmungsgründe ihres Handelns als Sinnzusammenhänge sichtbar macht. Als solche nämlich sind diese Bestimmungsgründe einer durch das Selbstverständnis der Akteure vermittelten Veränderung zugänglich. Hier wäre das Marxsche Diktum zu variieren: Nur eine in diesem Sinne interpretierbare Welt ist eine veränderbare Welt. Insbesondere v. Schelting hat gegen Webers Begriff von Verstehen in den Sozialwissenschaften kritisch eingewandt, daß sich dieser einseitig auf das kausale Verstehen faktischer Motivationslagen beziehe.218 Das (»akausal-ideelle«) Verstehen objektiver »Sinngebilde« werde von Weber vollständig in die »normativ-dogmatischen Wissenschaften« verwiesen.219 Gegenüber dieser Kritik ist im Anschluß an obige Bemerkungen - zu sagen, daß sich die verstehende Soziologie im Sinne Webers sehr wohl auf objektivierte Sinngebilde zu richten habe. Allerdings geht es ihr, als einer empirischen Wissenschaft, nicht um eine interesselose Anschauung sol59
eher sinnhafter Objektivationen. Vielmehr faßt sie dieselben als objektivierte (tendenziell: entfremdete), faktisch schlechthin geltende Orientierungssysteme wirklichen Handelns auf. Zu diesem Zweck hat sie sich solche Sinnsysteme sehr wohl zu einem möglichst eingehenden und umfassenden Verständnis auf der Bedeutungsebene zu bringen. Webers eigene materiellen Analysen, insbesondere die religions-soziologischen Arbeiten, sind hervorragende Zeugnisse für solche Verständnisbemühungen. Die Anerkennung oder Begründung einer »an sich« bestehenden Allgemeingültigkeit solcher Sinn- oder Wertsysteme ist allerdings vor einer empirischen Wissenschaft nicht zu erwarten. Das Verstehen von gesellschaftlich objektivierten Sinngebilden ist im Horizont der Weberschen Konzeption so wenig übergangen, daß man das kausale »Motivationsverstehen« nur als ein Verstehen von objektiviertem bzw. zumindest: objektivierbarem Sinn angemessen bestimmen kann.220 Die Termini »Sinn« bzw. »Sinnzusammenhang« bezeichnen als solche bereits eine Form der Deutung von Handlungssituationen, welche über das Hier und Jetzt einmaliger Konstellationen hinaus verweist - also »objektiv« ist. Im Falle des sozialen Handelns ist diese Objektivität näher als intersubjektive Gültigkeit der betreffenden Orientierungsmuster bestimmt. Dies gilt jedenfalls, sobald der Bezug auf das Verhalten anderer ein nicht bloß augenblickshafter ist, sondern als Bezug auf ein gemäß gesellschaftlich geltenden oder - nach Ansicht von ego - gelten-sollenden Normen oder Regeln erwartbares Verhalten gemeint ist. Weber selbst bezeichnet es als »absoluten Grenzfall« 221, daß allein wechselseitige, auf den jeweiligen konkreten Handlungsablauf beschränkte Verhaltenserwartungen ohne intersubjektiv (faktisch oder bloß vermeintlich) geltende Normierungen (»Ordnungen«) das Handeln leiten. Die »Notwendigkeit, Sinn auch als objektiven Bedeutungszusammenhang zu begreifen« 222, besteht nach dem Gesagten bereits da, wo den »gemeinten« Gesichtspunkten und Regeln des Handelns als intersubjektiv gültigen entsprochen wird. Das spezifisch Sinnhafte sozialen Handelns ist seine Sozialität223, und Sozialität im zuletzt umschriebenen Sinne ist die Basis aller höherstufigen und überdauernden Objektivierung von Sinngebilden, einschließlich ihrer Entfremdung zur »zweiten Natur«. Die These, daß Weber das Sinnverstehen zugunsten des Motivationsverstehens vernachlässige, beruht demnach wiederum auf einer Trennung des bei Weber notwendig Verbundenen. Nur wenn Verstehen als nachempfindendes »Einfühlen« mißdeutet wird, ist diese 60
Trennung einleuchtend. Es wurde dargestellt, daß Weber eine solche Auffassung vom Verstehen gerade nicht vertritt. Zutreffend ist, daß Webers Interesse sich auf »kausales Verstehen« konzentriert.224 Dieses zielt jedoch unmittelbar auf das Verständnis objektiver Sinngebilde, sofern diese es sind, welche die »konstanten Motive« 225 gesellschaftlich Handelnder ausbilden und sichern, keineswegs nur legitimieren. Nicht zuletzt, weil das kausale Verstehen sich derart auf der Ebene objektiven oder objektivierbaren Sinnes hält, führt es nach Weber allein noch nicht zu zureichenden, nämlich: empirisch abgesicherten Erklärungen. Zwar stellt das Verstehen durchaus auf »Hypothesen der Zurechnung« 226 ab. Doch ist es dabei seiner Natur gemäß auf die Bestimmung sinnhafter Gründe des Handelns beschränkt. Verstehende Erklärungen, die von Weber auch als »sinnhafte Deutungen« 227 bezeichnet werden, führen menschliches Verhalten auf eine Orientierung an möglichst genau und schlüssig artikulierten »Sinnzusammenhängen« zurück; ihr Maßstab ist die »Sinnadäquanz« des Handelns. Dies ist in doppelter Hinsicht unzulänglich. Einerseits werden in eine empirische Erklärung konkreten Verhaltens Feststellungen über nicht sinnhafte Bestimmungsmomente eingehen müssen. Zur Aufdeckung solcher Momente dient gerade die »sinnhafte Deutung« am Leitfaden der »Sinnadäquanz«. Andererseits hat jede sinnhafte Deutung ganz ebenso wie jede »naturalistische« Erklärung zunächst nur hypothetischen Charakter, besitzt also ganz und gar nicht den Status einer nicht überprüfungsbedürftigen Intuition. Eine »sinnhaft noch so evidente Deutung kann als solche und um dieses Evidenzcharakters willen noch nicht beanspruchen: auch die kausal gültige Deutung zu sein. Sie ist stets an sich nur eine besonders evidente kausale Hypothese« .. ,228 »Kontrolle der verständlichen Sinndeutung durch den Erfolg: den Ausschlag im tatsächlichen Verlauf, ist also, wie bei jeder Hypothese, unentbehrlich.« 229 Als Wege der empirischen Überprüfung nennt Weber: das sehr selten praktizierbare »psychologische Experiment«, die Statistik (nur bei »Massenerscheinungen«), die »Vergleichung möglichst vieler Vorgänge des historischen oder Alltagslebens« sowie das »unsichere Mittel« des »gedanklichen Experiments«.230 Derartige Verfahren der empirischen Überprüfung von Hypothesen verhalten sich andererseits nicht äußerlich zum Verstehen. Schon die Konstatierung oder Identifizierung der durch Hypothesen gesetzten Variablen vollzieht sich als ein Sinn-Verstehen. Die 61
angenommenen (Wirkungs-)Zusammenhänge sind als solche überhaupt nicht wahrnehmbar, sondern allein in der theoretischen Interpretation gegeben - welche in diesem Fall die Form der sinnbezogenen verstehenden Deutung hat. Weber stellt insbesondere fest, daß im Felde sinnhaften Verhaltens selbst der »strengste empirisch statistische Nachweis« 231 nicht das Optimum an erfahrungswissenschaftlicher Überprüfung darstelle: Der durch die statistischen Verfahren wahrscheinlich gemachte Zusammenhang eröffnet sich als Zusammenhang, und nicht bloß als Konkomitanz, allein der verstehenden Deutung. Ein Verzicht darauf hieße, »auf Erkenntnismittel verzichten, die wir nun einmal bei Menschen haben«.232 Die kausale Interpretation eines (statistisch gut gesicherten) post hoc als propter hoc ist im Falle verständlicher Motivationszusammenhänge nicht nur möglich, sondern geboten.233 Der Anthropomorphismus-Vorwurf gegen die Kausalitätskategorie in den Naturwissenschaften setzt dies offenbar geradezu voraus.234 Die - womöglich extrem große -Täuschbarkeit menschlichen Selbst- und Fremdverständnisses hinsichtlich der wirklich bestimmenden Motive des Handelns ist kein grundsätzlicher Einwand, sofern eben die Möglichkeit einer Annäherung an diese Motive durch sinnbezogenes Verstehen zugestanden bleibt. Ganz ebenso sind nach Weber »nomologische« Erklärungen in der Soziologie nicht dem Verstehen äußerlich. Die Brauchbarkeit allgemeiner Regeln oder »Gesetze« in den Wissenschaften von der historischen Realität ist nach Weber durch das spezifische Erkenntnisinteresse dieser Wissenschaften begrenzt: »Denn die Frage, wann es für >deutend< arbeitende Disziplinen irgendwelchen wissenschaftlichen Sinn hat, aus ihrem Material, also dem unmittelbar verständlichen menschlichen Sich-Verhalten, im Wege der Abstraktion für ihre Zwecke besondere Regeln und sogenannte >Gesetze< zu bilden, ist freilich durchaus davon abhängig, ob dadurch für die deutende Kausalerkenntnis . . . bezüglich eines konkreten Problems brauchbare neue Einsichten zu erwarten sind«.235 Maßstab für die Bildung und Beanspruchung allgemeiner Regeln ist demnach, was dieselben zur Erklärung konkreten, sinnhaft bestimmten »menschlichen Sichverhaltens« leisten. Zunehmende Allgemeinheit explanatorischer Aussagen geht, bei einer solchen Erkenntnisintention, häufig mit sinkender Erklärungsfähigkeit einher.236 Allgemeine Theorien menschlichen Sichverhaltens operieren des näheren in der Regel mit psychologischen Gesetzen. Die Psychologie gilt (bis heute) in weiten Kreisen als »Grundwissenschaft« der 62
Geschichte.237 Weber hat einen »besonderen Erkenntniswert« psychologischer Gesetze insbesondere in seinen Erwiderungen auf zeitgenössische Kritiker der Protestantischen Ethik (Η. K. Fischer und F. Rachfahl) bestritten.238 Der Grund ist, daß solche »Gesetze« eben die jeweils konkrete »sinnhafte Bezogenheit« menschlichen Handelns, damit aber die spezifischen Bestimmungsfaktoren desselben außer sich lassen. Die verstehende Soziologie kommt mit den übrigen historischen Wissenschaften darin überein, bei ihren Erklärungsbemühungen gerade auf diese Bestimmungsfaktoren abzustellen. Damit ist der Untersuchungsbereich schon bei der Erforschung historisch-individueller Vorgänge in der Weise eingeschränkt, daß der Maßstab für eine zureichende Erklärung durch die Frage definiert ist, ob die angenommene konkrete Sinnbezogenheit als (sinnhaft) »adäquate Verursachung« des Geschehens gelten könne, bzw.: ob dessen »objektive Möglichkeit« damit gesetzt sei.239 Durch diese grundsätzliche Einschränkung ist auch die Generalisierbarkeit explanatorischer Aussagen, die Ausbildung von »Regeln« des Geschehens also, begrenzt auf die Entwicklung von »Regeln adäquater Verursachung«.240 Diese Grenze wird nach Weber auch für die verstehende Soziologie dort überschritten, wo hinter die wandelbaren »Sinngebungen« menschlichen Verhaltens auf konstante, schlechthin allgemeingültige Faktoren oder Gesetzmäßigkeiten zurückgegangen wird. Weber behauptet nicht, daß solche Konstanten nicht existierten, sondern nur, daß diese als solche zur Erklärung des konkreten geschichtlichen Handelns von Menschen nicht viel hergäben.241 Soweit im Rahmen einer solchen Zielsetzung Generalisierung möglich ist, ist sie nach Webers Auffassung allerdings auch - zumindest für die Soziologie (im Unterschied zur Geschichte) anzustreben.242 Weber faßt seine Stellung für die Soziologie so zusammen: »Nur solche statistische Regelmäßigkeiten, welche einem verständlichen gemeinten Sinn eines sozialen Handelns entsprechen, sind (im hier gebrauchten Wortsinn) verständliche Handlungstypen, also: soziologische Regeln«. Nur solche rationalen Konstruktionen eines sinnhaft verständlichen Handelns sind soziologische Typen realen Geschehens, welche in der Realität wenigstens in irgendeiner Annäherung beobachtet werden können.«243 Auch statistisch gut bestätigte Regelmäßigkeiten sind demnach nur dann für die Soziologie (im engeren Sinne) erklärungsfähig, wenn sie sich durch Rekurs auf vergleichbare (typische) Sinnorientierungen der Akteure 63
verstehend interpretieren lassen. Die hier gemeinten »Sinnorientierungen« beziehen sich auf die Sinnsetzungen, welche normalerweise als gesellschaftlich gültige und wirksame »Ordnungen«, Wert- und Normensysteme oder »Regeln« bezeichnet werden. Die »soziologischen Regeln«, mit deren Hilfe sinnhaft verstehend erklärt wird, verdanken sich demnach dem Tatbestand, daß das zu erklärende Handeln gesellschaftlichen »Regeln« unterliegt.244 Natürlich dürfen soziale und soziologische Regeln nicht verwechselt oder identifiziert werden. Eher ließe sich das Verhältnis beider so formulieren, daß erstere die Bedingung der Möglichkeit der letzteren seien. Eben dieser Zusammenhang ist offenbar gemeint, wenn Weber - sicherlich im bezeichneten Sinn mißverständlich - »statistische Regelmäßigkeiten«, »verständliche Handlungstypen« und »soziologische Regeln« nebeneinander stellt. Die letzten Überlegungen zum Zusammenhang zwischen dem Verstehen und dem Charakter nomologischer Aussagen in der Soziologie verweisen unmittelbar auf Webers These von der idealtypischen Natur sozialwissenschaftlicher Konzepte, die im folgenden Abschnitt erörtert werden soll.245 Das entscheidende Ergebnis des Vorstehenden ist in der Feststellung zusammenzufassen, daß die empirische Soziologie nach Weber keineswegs aufhört, eine verstehende Soziologie zu sein, wenn sie statistische oder nomologische Erklärungsweisen verwendet. Bloß statistische Aussagen bieten nach Webers Auffassung überhaupt keine zureichende soziologische Erklärung von Zusammenhängen.246 Diese liefert allererst eine auf verständliche Regelmäßigkeiten des Handelns abstellende Interpretation. Eine solche Interpretation ist demnach nur als verstehende auch eine - potentiell - »nomologische«. Die These, nomologisches Erklären und Verstehen bezeichneten zwei widerstreitende Intentionen Webers (nämlich die auf technologisches Wissen einerseits, auf »Verständlichmachung« historischer Situationen andererseits 247) läßt sich nicht zureichend auf Webers Versuch einer Vermittlung ein. Ungeklärt bleibt dabei grundsätzlich, wie eine nicht bloß hermeneutische »Verständlichmachung« ohne allgemeine Kategorien und ohne die Beanspruchung empirischer »Regeln« vorzustellen wäre.248 Demgegenüber scheinen mir die Weberschen Überlegungen - ihrer Intention nach - sehr genau dem Postulat zu entsprechen, daß soziologische Klärungen und Erklärungen auf die Zwecke einer möglichen Praxis bezogen sein müßten.
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2.3.2 Begriff und Funktion des Idealtypus Kein Teil der Weberschen Wissenschaftstheorie hat so starkes Interesse gefunden wie seine Überlegungen zum idealtypischen Charakter sozialwissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung.24® Dieses Interesse ist nicht unproblematisch. Das Idealtypuskonzept ist weder isoliert angemessen zu erörtern, noch kommt ihm im Kontext des Weberschen Denkens eine besondere, grundlegende Bedeutung zu, wofür vielleicht die Chronologie der Überlegungen Webers sprechen könnte. Demgegenüber werden die entschiedensten Urteile über Webers Stellung in der Regel gerade aus einer isolierenden Interpretation dieses Konzepts abgeleitet. Vor allem wird auf diesem Wege Weber auf eine bestimmte, nämlich kantianische Erkenntnistheorie festgelegt; 250 dem korrespondiert zumeist die These, daß das idealtypische Verfahren von geringer empirischer Brauchbarkeit sei. Eine spezifische Wendung dieser These wird, wie erwähnt, von seiten der Historie vorgetragen, indem die konstruktive Natur des Idealtypus als Wirklichkeitslosigkeit ausgelegt wird.251 Die folgenden Erörterungen versuchen zu zeigen daß das idealtypische Verfahren in der Konsequenz des Weberschen Denkens liegt, wie dieses bisher entwickelt wurde. Das heißt vor allem, daß sich dies Verfahren nach der hier zu vertretenden Auffassung sehr wohl in die »wirklichkeitswissenschaftliche« Intention Webers einfügt, sofern man es nur im Kontext dieser Intention, und eben nicht isoliert, interpretiert.252 Der vermittelnde Charakter auch und gerade des Idealtypus-Konzepts, auf den zu Recht fast alle Interpreten verweisen, ist nicht als Unentschiedenheit zu deuten und zu korrigieren. In ihm drückt sich - in einer gewissen Zuspitzung - die Vermittlungsabsicht aus, die für Webers Grundlegungsversuch, wie mehrfach betont, konstitutiv ist. Des näheren ist es die unaufhebbar historische Perspektive, welche Weber vermittels des idealtypischen Verfahrens innerhalb der Soziologie abzusichern strebt.253 Es ist oben diskutiert worden, in welchem Sinne das Verfahren der Wertbeziehung die Sozialwissenschaften an den Horizont möglichen geschichtlichen Handelns bindet. Im letzten Abschnitt war zu zeigen, daß die damit gesetzte Ebene und Zielrichtung der Forschung nur im Erkenntnismodus des Verstehens zu treffen und einzuhalten ist. Aus diesen Überlegungen ergab sich bereits, daß sich für Weber historische Forschung nicht in individualisierender Erkenntnis im Sinne Rickerts erschöpft.254 Typisierung und Generali65
sierung stehen keineswegs in einem grundsätzlichen Gegensatz zur historischen Erkenntnis, sofern diese nicht auf das schlechthin Einmalige, sondern auf das prinzipiell Wandelbare am menschlichen Verhalten festgelegt wird. Des näheren war im Vorangehenden die Rede von den Typisierungen und Verallgemeinerungen, von denen sich menschliches Handeln als sinnhaftes und gesellschaftliches immer schon bestimmen läßt. Das unterscheidende Kennzeichen sozialwissenschaftlicher Typenbildung im Sinne Webers liegt darin, bei derartigen lebensweltlichen Typisierungen anzusetzen. Dieser Umstand ist nicht mit der These vereinbar, daß dieses Verfahren geradezu exemplarisch nominalistisch sei.255 Allerdings haben nach Weber die sozialwissenschaftlichen Typen nicht die faktisch »gemeinten« Typifikationen einfach abzubilden, sondern auf dem Wege der Idealisierung in möglichst großer Reinheit und Konsequenz zu entfalten. Dieses Verfahren ist, was bei Weber nicht näher erläutert wird, unter bestimmten Voraussetzungen sowohl notwendig wie legitim. Es ist notwendig, sofern eine exakte Erfassung von tatsächlich gemeintem und handlungsleitendem Sinn vor zwei Schwierigkeiten steht. Zunächst können die Untersuchungstechniken, mit denen sinnhafte Handlungsorientierungen erforscht werden, wahrscheinlich grundsätzlich nicht die Grade von Verläßlichkeit erreichen, die bei restlos objektivierbaren Fakten möglich sind. Den Aussagen über die faktisch bestimmenden sinnhaften Motive des Handelns ist daher ein gewisses Maß von Unsicherheit endemisch. Deshalb auf derartige Verfahren zu verzichten, hieße allerdings für Weber, wie bemerkt, die allein sachgemäßen Erkenntnismittel schlechthin aufzugeben. Die verstehende Soziologie darf jedoch auch nicht, und darin liegt die zweite Schwierigkeit, davon ausgehen, daß Handeln an sich, d. h. unabhängig von den Untersuchungsmöglichkeiten, durchgehend von in sich bündigen Sinnzusammenhängen bestimmt wäre. Die einzig zulässige Annahme kann nur lauten, daß soziales Handeln (und zwar als soziales) auf eine in diesem Sinne »sinnadäquate« Bestimmungsform hin tendiere. Tatsächlich ist es eben diese Annahme, welche das idealtypische Verfahren legitimiert bzw. gegen den Vorwurf der Beliebigkeit sichert. Henrich formuliert diese Hypothese dahingehend, »daß sinnhafte Konsequenz die eigentümliche Möglichkeit des Menschen ist.« 256 Jedenfalls hat die verstehende Soziologie damit zu rechnen, daß faktisches Verhalten in aller Regel nur fragmentarisch oder - be66
stenfalls - annäherungsweise durch Sinnbezogenheit zu erklären ist. Dies bedeutet, daß Sinn-Systeme nicht als solche (nämlich in ihrer Geschlossenheit und Stringenz) einfachhin als faktische Bestimmungsgründe des Handelns zu setzen sind. Vielmehr sollten diese Systeme, zumindest fürs erste, nur so verwandt werden, daß vermittels ihrer der Grad der Sinnbezogenheit faktischen Handelns untersucht wird. Für diesen Zweck ist es offenbar sinnvoll, sie in möglichster Reinheit und Konsequenz zu (re-)konstruieren. Eine solche Idealisierung verhindert überdies die sonst naheliegende Gefahr, diese Sinnsysteme geradehin mit den faktischen Bestimmungsgründen des Handelns zu verwechseln. Die vorstehenden Überlegungen zur Notwendigkeit und Legitimität des idealtypischen Verfahrens sind an Webers Ausführungen zu überprüfen. »Ein spezifisch historisches Gebilde . . . kann zu begrifflicher Deutlichkeit... nur . . . durch Synthese seiner einzelnen Komponenten, wie sie die Realität der Geschichte darbietet, erhoben werden. So zwar, daß wir aus der Realität des historisch Gegebenen jene Einzelzüge, die wir dort in vielfach vermittelter, gebrochener, mehr oder minder folgerichtiger und vollständiger Art, mehr oder minder vermischt mit anderen, heterogenen, sich auswirkend finden, in ihrer schärfsten, konsequentesten Ausprägung auslesen, nach ihrer Zusammengehörigkeit kombinieren und so einen >ideal-typischen< Begriff, ein Gedankengebilde, herstellen, dem sich die faktischen Durchschnittsinhalte des Historischen in sehr verschiedenem Grade annähern.« 257 Im Ausgang von dieser Beschreibung des idealtypischen Verfahrens sind dessen wichtigste Kennzeichen zu erläutern.
Das allgemeinste Bedürfnis, dem auf seine Weise auch das idealtypische Verfahren entspricht, ist das nach »begrifflicher Deutlichkeit«. Weber wandte sich kritisch gegen den Verzicht auf die »Verwendung fester und präziser Begriffe« bei vielen Historikern 258 da klare Begriffe die conditio sine qua non kausaler Zurechnung seien.259 Diese notwendige Präzision ist nach ihm aber in den Wissenschaften von der historischen Realität allein durch die idealtypische Form der Begriffsbildung zu erreichen. Tatsächlich gebrauche »jeder Historiker . . . Begriffe dieser Art, wo er überhaupt scharfe >Begriffe< verwendet«.260 Daß in den historischen Wissenschaften »begriffliche Deutlichkeit« nur auf dem Wege der Bildung
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idealtypischer Begriffe zu gewinnen ist, rührt von der Eigenart des historischen Erkenntnisinteresses her. Dieses Erkenntnisinteresse gilt menschlichem Handeln als einem je konkret sinnbezogenen. De facto ist mögliches Handeln in aller Regel bestimmt von einer unentwirrbaren Verbindung sowohl höchst heterogener sinnhafter wie auch schlechthin sinnfremder Determinanten. Grundsätzlich ist es jedoch eines durchgehend sinnhaften (»sinnadäquaten«) und - auf der Sinnebene - homogenen Vollzugs fähig. Das eigentümliche, durchaus kausale historische Erkenntnisinteresse richtet sich auf Art und Grad konsequenter Sinnbezogenheit menschlichen Handelns. Wenn ein solches Erkenntnisinteresse sich mit »begrifflicher Deutlichkeit« zu artikulieren strebt, so wird es zu Begriffsbildungen kommen, welche auf eindeutig voneinander abhebbare und in sich konsequent ausgeformte Sinnzusammenhänge zielen. Es ist also 1. das Interesse an »Sinnbezogenheit« überhaupt, 2. die faktische Heterogenität und Inkonsequenz von Sinnorientierungen und 3. die prinzipielle Möglichkeit von »Sinnadäquanz«, welche zur Ausbildung der idealtypischen Begriffsform führt. Die »Deutlichkeit« dieser Begriffe ist begründet in der möglichen »Sinnadäquanz« menschlichen Handelns.261 Gewonnen wird der Idealtypus »durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen £mze/erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde«.262 Das Resultat eines solchen Verfahrens der Steigerung und Synthese konstitutiver Elemente nennt Weber »Utopie« 2β3, »Phantasiegebilde«, »Konstruktion« 264 oder, endlich, »rein idealen Grenzbegriff«.265 Diese Namen (insbesondere »Phantasiegebilde« und »Konstruktion«) sollen unzweideutig aussprechen, daß es sich um artifizielle Gebilde handelt, eben um GedankenProduktionen, nicht um Reproduktionen von Wirklichkeit. »Gedankeribilder« sind die Idealtypen jedoch auch noch in einem weiteren, wahrscheinlich entscheidenderen Sinne: Es sind gedankliche Entwürfe auf »Gedanken« hin. Die Steigerung und Synthese der bestimmten Elemente von Wirklichkeit orientiert sich in ihrem Vollzug an »Ideen«: »ganz in der gleichen Art kann man . . . die >Idee< des >Handwerks< in einer Utopie zeichnen, indem man bestimmte Züge, die sich diffus bei Gewerbetreibenden der verschie68
densten Zeiten und Länder vorfinden, einseitig in ihren Konsequenzen gesteigert zu einem in sich widerspruchslosen Idealbilde zusammenfügt und auf einen Gedankenausdruck bezieht, den man darin manifestiert findet« 26β. Zielpunkt der »Steigerung« und einheitsstiftendes »Prinzip« 267 der Synthese ist also die leitende »Idee« eines Orientierungs- und Handlungszusammenhangs. Diese synthetisierende »Idee« ist in demselben Maße nicht faktische Richtschnur des konkreten Handelns (im weitesten Sinne), in dem sich eine darauf konsequent bezogene »Konstruktion« des betreffenden Orientierungs- und Handlungszusammenhangs von der Wirklichkeit selbst entfernt. Das Verhältnis des idealtypischen »Begriffs« zur Wirklichkeit läßt sich in dieser Hinsicht auch so formulieren: Der Idealtypus ist der »Begriff«, auf den gesellschaftlich handelnde Menschen ihre Wirklichkeit zu bringen streben oder zumindest: streben können.™ Es wäre vertretbar, aber wahrscheinlich allzu mißverständlich, wenn man hier Weber eher mit Hegel als mit Kant zusammenbrächte. Auf der anderen Seite erweist sich eine idealtypische Konstruktion dieser Art dann als untauglich (nicht: »falsch«), wenn es im konkreten Verhalten nicht zumindest eine starke, wenn auch noch so unbewußte Tendenz im Sinne dieser übergreifenden »Idee« gibt. Diese Feststellung, daß die Bildung von Idealtypen sich an der Hypothese einer »idee directrice« 269 vom jeweiligen größeren oder kleineren Ganzen orientiert, enthält offenbar die wichtigsten Implikationen hinsichtlich des Weberschen Konzepts.270 Zunächst verweist sie auf den Zusammenhang der idealtypischen mit den lebensweltlich geltenden Einheitsbildungen. Weber macht dies speziell am Beispiel »Staat« ganz deutlich: »Der wissenschaftliche Staatsbegriff, wie immer er formuliert werde, i s t . . . natürlich stets eine Synthese, die wir zu bestimmten Erkenntniszwecken vornehmen. Aber er ist andererseits auch abstrahiert aus den unklaren Synthesen, welche in den Köpfen der historischen Menschen vorgefunden werden«.271 Im Falle des Staates liege die diese lebensweltlichen Synthesen tragende »Idee« in dem »Glauben an tatsächlich geltende oder geltensollende Normen und Herrschaftsverhältnisse von Menschen über Menschen«.272 Das ideal typische Verfahren habe die faktische »Maxime« eines solchen »Glaubens« aufzunehmen und durch Rückgang auf das sie begründende »gleiche Prinzip« in ihrer inneren Einheit zu entfalten 273 Derart sind die Gesichtspunkte zur Herstellung von »Sinnadäquanz« keineswegs schlechthin willkürlich.274 Weber erläutert diese Bindung des Ver69
fahrens an die gelebten Synthesen näher in seiner Einleitung zu den Abhandlungen über die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. In denselben sei, so bemerkt er, abgestellt auf »diejenigen Züge im Gesamtbilde einer Religion welche für die Gestaltung der praktischen Lebensführung in ihren Unterschieden gegen andere Religionen die entscheidenden waren«.275 Diese Bemerkung macht besonders deutlich, daß es gerade die Lebensprajtzs ist, welche Einheit und Stringenz (im Ansatz wenigstens) stiftet: Die übermäßig »theoretisch« erscheinende idealtypische Konstruktion steht in diesem Sinne durchaus in der Konsequenz praktischer Vollzüge. Oben wurde dargestellt, daß die Fundierung wissenschaftlicher in lebensweltlicher Erfahrung durch Wertbeziehung zu leisten und zu sichern sei. Der Umstand, daß die »Auslese und Formung« des Untersuchungsgegenstandes typisierend verfährt (bzw. sich typisierter Bezugshorizonte bedient), hebt nach dem Gesagten diese Funktion der Wertbeziehung keineswegs auf. Notwendig ist dieses Verfahren, weil und sofern eine einfache Abbildung von Wirklichkeit schlechterdings unmöglich ist und eine Subsumtion unter Allgemeinbegriffe und generelle Gesetze geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit als solche auflöst. Die Beziehung auf idealtypische Konstruktionen der verschiedenen Art macht eine sich fortlaufend annähernde Erfassung historisch-gesellschaftlicher Realität in der ihr eigentümlichen Dimension möglich.276 Weber hat die in diesem Sinne geschichtliche Natur nicht nur der bei der Wertbeziehung leitenden »Wertgesichtspunkte«, sondern auch der idealtypischen »Gedankenbilder« wiederholt hervorgehoben. Insbesondere in seinen Erwiderungen auf die zeitgenössische Kritik an der Protestantischen Ethik hat er seine diesbezügliche Intention ganz deutlich gemacht. Demnach ist vor allem das zentrale Konzept vom »kapitalistischen Geist« einerseits als Idealtyp und eben nicht als Beschreibung von historischer Realität zu verstehen.277 Andererseits aber hält sich diese Typisierung auf der Ebene geschichtlichen Weltverständnisses - anders als etwa Rachfahls Gegenentwurf, dessen Untauglichkeit Weber daher durch die Attribute »generell, unhistorisch« kennzeichnet.278 Die vorausgestellten Bemerkungen Webers zur Konstruktion von Idealtypen am Leitfaden einer organisierenden »Idee« grenzen, zweitens, den Bereich der Phänomene ein, auf die hin solche Konstruktionen sinnvoll und geboten sind. Die Vielfalt und Heterogenität der Objekte, die nach Weber idealtypische Bildungen zulassen oder gar verlangen, hat die Diskussion über dieses Verfahren sehr 70
stark beschäftigt. 279 Es liegen die verschiedensten Versuche vor, hier Ordnung zu schaffen, indem die Anwendbarkeit des idealtypischen Verfahrens auf einen möglichst einheitlichen Kreis von Phänomenen eingeschränkt oder zumindest doch eine unvereinbare Vielzahl von Idealtypus-Begriffen bei Weber behauptet wird. 280 Demgegenüber ist an dieser Stelle nur zu erläutern, worin der einheitliche Sinn der idealtypischen Bildungen jenseits aller Differenzierung im einzelnen liegt. Weber selbst nennt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die folgenden Möglichkeiten solcher Bildungen 281 : 1. idealtypische Gattungsbegriffe, 2. Idealtypen von Ideen, 3. Idealtypen von Idealen und 4. theoretische Konstruktionen. Es handelt sich dabei um 1. sinnadäquate Konstruktionen der Merkmale von Gattungsbegriffen, 2. Konstruktionen von Sinnzusammenhängen, bei denen eine leitende und organisierende »Idee« unterstellt wird, 3. Konstruktionen von Sinnzusammenhängen von explizit »formulierten Zielen des Handelns« 282 her und schließlich 4. Konstruktionen von erklärungsfähigen Sinnzusammenhängen komplexerer Art. Eine strenge Klassifikation ist mit einer solchen »Musterkarte« (Weber) sicherlich nicht intendiert. Vielmehr wird hier das Spektrum der Möglickeiten umrissen, welches ζ. B. von einer bestimmten Form der Begriffsdefinition bis zu entwickelten theoretischen Gebilden reicht. Das Verbindende aller dieser und aller außerdem denkbaren Möglichkeiten ist an dem zentralen Fall »Idealtypus von Ideen« abzulesen. Es entspricht dies dem, was oben generell über das Verfahren der Bildung von Idealtypen gesagt wurde. »Ideen« nämlich bestimmt Max Weber hier als »empirisch in historischen Menschen wirksame Gedankenverbindungen«. 283 Die Spannweite des damit Gemeinten wird deutlich, wenn Weber an anderer Stelle 2 8 4 etwa von »Ideen« spricht, die sich in einem politischen Gebilde (ζ. B. dem »Staat Friedrich des Großen«), einer Persönlichkeit (ζ. B. Goethe oder Bismarck) oder einem Literaturprodukt (dem Kapital von Marx) »verkörpert« hätten oder »auswirken«. Es sind dies genau die »Ideen« oder »Prinzipien«, die sich in den lebensweltlichen »Synthesen« als mehr oder minder bewußt wirksam aufdecken lassen, und die, wie oben festgestellt, zur Richtschnur der »Auswahl und Steigerung« bei der idealtypischen Ausformung dieser Synthesen dienen. 285 71
Die »Idealtypen von Ideen« stellen so tatsächlich nicht bloß eine unter vielen Möglichkeiten solcher Bildungen dar, sondern diejenige, an welcher das Eigentümliche dieses Verfahrens und damit das Gemeinsame aller Möglichkeiten am klarsten hervortritt. Immer nämlich sind die leitenden Gesichtspunkte des idealtypischen Konstruierens mögliche Gesichtspunkte von Selbstdeutungen gesellschaftlichen Handelns. Dies gilt auch für die sogenannten »idealtypischen Gattungsbegriffe« Webers. Was diese von einfachen Gattungsbegriffen unterscheidet, ist offenbar dies, daß ein (lebbarer) Zusammenhang ihrer Bestimmungsmomente aus dem Blickwinkel und in der »Logik« eines möglichen Handelns (Weber sagt hier: von »Kulturbedeutung«) entworfen wird.286 Die Differenz zwischen den verschiedenen Möglichkeiten idealtypischer Bildungen liegt demgegenüber a) im Komplexitätsgrad (vom einfachen Begriff bis zur theoretischen Konstruktion) und b) in ihrer relativen Distanz zu den lebensweltlich fungierenden Synthesen. Die »Idealtypen von Ideen« nehmen in beiderlei Hinsicht eine mittlere Position ein. Die hier vorgeschlagene Interpretation löst keineswegs alle Schwierigkeiten des idealtypischen Verfahrens in diesem Punkte. Wohl aber begegnet sie dem Haupteinwand, daß dasselbe sich nicht gleichermaßen auf »historische Individuen« (wie den kalvinistischen Protestantismus oder die Wirtschaftsform des modernen okzidentalen Kapitalismus) und auf abstrakte Generalisierungen (wie »Sekte überhaupt« oder ökonomische Robinsonaden) beziehen könne. Hier liegt deswegen kein »logischer Zwiespalt« 287 vor, weil auch die abstraktesten idealtypischen Synthesen noch als (allgemeinster) Horizont lebensweltlicher Orientierung aufgefaßt werden können - da auch sie aus der Perspektive eines möglichen Sinnverständnisses konstruiert wurden. Ein solches Sinnverständnis ist von sich her eben sehr verschiedener Allgemeinheitsgrade fähig; es ist dies nicht der unwichtigste Aspekt seiner Rationalität in dem oben erörterten Verstände. Zugleich allerdings ist Sinnverständnis auch immer in bestimmter Hinsicht »individualisierend«.288 Doch ist diese Bedeutung von »Individualisierung« identisch mit der Besonderung, welche mit der Ablösung des »Kulturmenschen« von bloßer Naturbestimmtheit gegeben ist - und welche ζ. B. auch nicht unter den Bedingungen eines allgemeinen Weltbürgertums (im Sinne Kants) hinfällig würde. Gegen diese Überlegungen zu den möglichen Ebenen idealtypischer Konstruktionen läßt sich einwenden, daß dabei der Idealtypus 72
durchgehend als Bedeutungszusammenhdiiig aufgefaßt werde. Dies aber sei, so dürfte der Einwand erläutert werden, nur akzeptabel bei der Typisierung etwa von Bedeutungs- und Wertsystemen (ζ. B. der kalvinistischen Ethik) bzw. von korrespondierenden »Gesinnungen« (ζ. B. dem »kapitalistischen Geist«). Sobald dagegen der zu typisierende Objektbereich auch oder wesentlich »materielle« Elemente (Handlungen und Dinge) umfasse wie ζ. B. bei einer bestimmten Wirtschaftsform, bedeute eine solche Auffassung eine idealistische Verdrehung oder Verkehrung der wirklichen Verhältnisse.21« Ein solcher Einwand könnte sich darauf berufen, daß Weber ausdrücklich von einer Berücksichtigung der »Züge des . . . materiellen und geistigen Kulturlebens« spricht 290 und unter die konstitutiven Faktoren bei der typisierenden Konstruktion einer ökonomischen Entwicklung wesentlich solche Fakten wie begrenzten Boden, steigende Volkszahl und Edelmetallzufluß rechnet. 291 Tatsächlich aber werden auch solche Fakten bei der Bildung der entsprechenden Idealtypen mit Notwendigkeit zu Bestandteilen eines »Bedeutungszusammenhanges«. Hier ist an die eigentümliche Ebene der Begriffs- und Theoriebildung der »verstehenden Soziologie« zu erinnern, von der bereits die Rede war. Die soziologische Kausalforschung richtet sich auf die Wirkung psychischer, organisatorischer, dinglicher etc. >Fakten< insofern, als diese gesellschaftlich interpretierte Fakten und Elemente handlungsleitender Sinnzusammenhänge sind.292 Das idealtypische Verfahren seinerseits entspricht diesem Erkenntnisinteresse, sofern es eben seine Synthesen nicht als Sachzusammenhänge, sondern als Synthesen aus der Perspektive möglicher Welt-Interpretationen bildet.293 Der hier vertretene Begriff des Idealtypus korrespondiert also der Weberschen Auffassung von der eigentümlichen Untersuchungsebene der Soziologie, auch wenn dieser Zusammenhang von Weber selbst nicht des näheren expliziert wird. Diese Auffassung ist, um dies noch einmal festzustellen, nicht durch eine unzulängliche Berücksichtigung der »materiellen Verhältnisse« gekennzeichnet, sondern durch die These, daß die Soziologie im engeren Sinne ihre Begriffs- und Theoriebildung auf gesellschaftlich interpretierte (»materielle und geistige«) Verhältnisse abzustellen habe. Wenn dies Idealismus (oder Rationalismus) ist, dann ein solcher, der einem legitimen Erkenntnisinteresse entspringt und im übrigen durch empirische Überprüfung widerlegbar ist. Die bisherigen Erörterungen dürften einen weiteren wichtigen 73
Punkt bereits deutlich gemacht haben: Die idealtypische Begriffsbildung ist den »Wissenschaften von der menschlichen Kultur« nicht nur »in gewissem Umfang unentbehrlich«, sondern auch, wie Weber feststellt, »eigentümlich«.294 Damit ist natürlich nicht behauptet, daß es in anderen, insbesondere den Naturwissenschaften keine typologischen Verfahren gebe. Die These Webers bezieht sich ausschließlich auf den Begriff vom Idealtypus, wie er im Vorangehenden diskutiert wurde. Des näheren ist es eben der Umstand, daß Idealtypen von potentiell lebensweltlichen »Ideen« oder »Synthesen« her gebildet werden, der die spezifische Differenz dieser Art von Typisierung ausmacht. In diesem Umstand nämlich liegt die geschichtliche wie die wirklichkeitswissenschaftliche Natur des Idealtyps beschlossen. Geschichtlich sind die idealtypischen Bildungen, sofern die einheitsstiftenden Ideen sich (im Rahmen des von der jeweiligen Sache bestimmten Erklärungspielraumes)295 mit dem Erkenntnisinteresse wandeln.296 Einen betont »wirklichkeitswissenschaftlichen« Charakter haben diese Konstrukte, sofern sie eben in der Konsequenz wirklicher, lebensweltlicher Synthesen liegen. Zwar stellen sie aus den genannten Gründen möglichst wirklichkeitsfremde Konstruktionen dar - so jedoch, daß sie zugleich idealiter (im »Grenzfall«) mögliche, lebbare Synthesen repräsentieren. Die wirklichkeitswissenschaftliche Natur der Idealtypen liegt also darin, daß diese sich grundsätzlich im Horizont möglicher geschichtlicher Wirklichkeit halten.297 Entsprechendes läßt sich nach Weber für die »Abstraktionen« und, insbesondere, »Modelle« der Naturwissenschaften nicht behaupten; zwischen ihnen und der lebensweltlichen Erfahrung von Natur liegt nach seiner an Rickert anknüpfenden Auffassung ein prinzipieller Bruch.298 Diese Überlegungen stehen keineswegs im Gegensatz zu den Bemerkungen Webers, die in diesem Zusammenhang gegen die Behauptung einer Sonderstellung kulturwissenschaftlicher Idealtypen ins Feld geführt werden 299: »Aber logisch ist es auch kein Unterschied: ob ein Idealtyp aus sinnhaft verständlichen oder aus spezifisch sinnfremden Zusammenhängen gebildet wird. Wie im ersten Fall die gültige >Normreinen< Typus sublimierte Faktizität den Idealtypus«.300 Das entscheidende und auch von Weber selbst hervorgehobene Wort ist offenbar »logisch«: Es verweist darauf, daß in anderer Hinsicht sehr wohl eindeutige Unterschiede zwischen den Typisierungen von sinnhaften und sinnfremden Zusammenhängen bestehen. Diese Unterschiede liegen, nach dem Gesagten, vor allem eben im jeweiligen 74
Ansatzpunkt der idealtypischen Konstruktion und in dem korrespondierenden jeweiligen Verhältnis zur Wirklichkeit. Dies wird an der zitierten Bemerkung besonders deutlich, da hier die lebensweltlich geltende (ideale) »Norm« geradezu ohne weitere konstruktive Bearbeitung als wissenschaftlich zu verwendender Idealtyp gesetzt wird. Die »eigentümliche« Natur kultur- oder sozialwissenschaftlicher Idealtypen läßt sich ebensowenig auf der logischen Ebene demonstrieren oder begründen wie die Eigenart der mit dem idealtypischen Verfahren aufs engste verbundenen Methoden der Wertbeziehung und des Verstehens.301 Die Notwendigkeit und Eigenart dieser Verfahren in ihrem Zusammenhang ist, wie mehrfach festgestellt, nur aus der Natur der zu untersuchenden Sache bzw.: aus dem Interesse an eben dieser Natur herzuleiten. Dies gilt, auch wenn Weber selbst nur gelegentlich explizit die Unzulänglichkeit bloß logischer Begründungen konstatiert. Allerdings heißt dann »logisch« immerhin »methodologisch«, wogegen Weber den Terminus in der vorstehenden Bemerkung offenbar im noch engeren Sinne von »formal-logisch« verwendet. Auf die Frage, ob die Bildung der kulturwissenschaftlichen Idealtypen nicht doch auch einer anderen Logik bedürfe als andere Verfahren der Begriffsbildung, ist abschließend noch einmal zurückzukommen. Zuvor ist auf Status und Verwendungsweise von Idealtypen im Kontext empirischer Untersuchungen einzugehen. Es war oben erörtert worden, in welchem Sinne schon durch die konstituierenden Wertbeziehungen jeweils Ebene und Zielrichtung der empirischen Forschung bestimmt werden. Die Durchführung der Wertbeziehung geschieht, wie bemerkt, in der Form der idealtypischen Begriffsbildung. An derselben orientiert sich so auch, im einzelnen, die Forschung: »Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine >HypotheseGesetze< und Entwicklungskonstruktionen«.316 Wo dieselben jedoch als Darstellung realer »Kräfte« oder »Tendenzen« behauptet oder verstanden werden, wird eine »metaphysische« und einwandsimmune Stellung bezogen.317 Eine derartige Mißdeutung des Status des verwendeten begrifflichen Apparats galt ihm allerdings ganz ebenso wie im Fall der »Kollektivbegriffe« als antiaufklärerisch, sofern er auch darin einen »Deckmantel von Unklarheiten des Denkens oder Wollens, auch oft genug das Werkzeug bedenklicher Erschleichungen, immer aber ein Mittel, die Entwicklung der richtigen Problemstellung zu hemmen«, sah.318 Die Verbindung dieser Kritik von Begriffshypostasierungen mit der angedeuteten zumindest potentiell aufklärerischen Bedeutung des idealtypischen Verfahrens im Sinne Webers liegt darin, daß bei letzterem auf Möglichkeiten des Handelns verwiesen wird, während eine quasi-metaphysische Stellung nur von unbedingten Notwendigkeiten zu sprechen erlaubt.319 Zum Abschluß dieses Abschnitts sei noch, wie angekündigt, in aller Vorläufigkeit auf die Frage eingegangen, ob die idealtypische Begriffsbildung sich auf einer speziellen Logik begründen müsse. Weber selbst bemerkt dazu, daß die »Synthesen des historischen Denkens« weder »nach dem Schema: genus proximum, differentia specifica« zu definieren, noch per »schildernde Auflösung« in ihre Merkmale zu zerlegen seien.320 Das »genetisch« genannte Verfahren, die im Blick auf bestimmte »Kulturbedeutungen« wesent78
liehen Elemente auszuwählen und deren Zusammenhang rein zu konstruieren, füge sich solchen Klassifikationsbemühungen nicht. In einer anderen, etwa gleichzeitigen (also ebenfalls relativ frühen) Bemerkung kennzeichnet er das »spezifische logische Mittel« des idealtypischen Verfahrens als »Bildung von Relationsbegriffen mit stets größerem Inhalt und deshalb stets kleinerem Umfang,«321 Diese wenigen Bemerkungen belegen immerhin, daß Weber keineswegs glaubte, die idealtypische Begriffsbildung mit Hilfe einer klassifikatorischen Logik beschreiben zu können - was offenbar von Kempski ihm unterstellt.322 Allerdings hat Weber selbt nicht die logischen Untersuchungen angestellt, welche seine »skizzenhaften und deshalb vielleicht teilweise mißverständlichen Erläuterungen« 323 über den Idealtypus in einer wichtigen Hinsicht unterbaut hätten. Tatsächlich fehlen derartige Untersuchungen bis heute - jedenfalls, was die spezifischen logischen Probleme des Idealtypus im Sinne Webers betrifft. Die vorliegenden Arbeiten zur Logik der Typen-Begriffe geben zwar wichtige Hinweise zur allgemeinen Kennzeichnung und Abgrenzung derselben als »Ordnungsbegriffe«.324 Diese Hinweise stellen klar, daß die »klassifikatorischen Denkformen der traditionellen Logik« nicht zureichen, um »abstufbare« Wirklichkeit als solche zu erfassen.325 Auf die speziellen logischen Probleme der kultur- oder sozialwissenschaftlichen Idealtypen im Sinne Webers gehen diese Analysen jedoch nicht ein. Bei Hempel und Oppenheim rührt dies offenbar von der Annahme her, daß diese Idealtypen in logischer Hinsicht nicht wesentlich von den übrigen Typenbegriffen abwichen - eine Auffassung, der nach dem Gesagten auch Weber selbst ja nahegestanden zu haben scheint.326 Der Tatbestand, daß bei der Konstruktion von Idealtypen von subjektiven »Wertgesichtspunkten« statt von »eindeutig und intersubjektiv« festgelegten »Ordnungsprinzipien« ausgegangen werde, ist Gegenstand ihrer Kritik, nicht Anlaß zur Untersuchung eventueller logischer Implikationen. Auch J. v. Kempski geht in seinen Analysen der Ordnungsbegriffe nicht auf die Frage ein, ob der Charakter der Idealtypen als geschichtlicher Sinn-Synthesen von logischer Relevanz sei - obwohl er seine Überlegungen ausdrücklich auf die für die Sozialwissenschaften wichtigen Ordnungsbegriffe abstellt.327 Allerdings verweist v. Kempski am Schluß seiner Analyse auf einen »entscheidenden Unterschied zwischen theoretischer Sozialwissenschaft und Physik«. Dieser liege darin, »daß das von den Sozialwissenschaften studierte Verhalten der Menschen stets unter der Voraussetzung steht, daß es von gewissen Maximen beherrscht 79
wird, an die sich die Menschen halten, aber auch nicht halten können«. Für die Ordnungsbegriffe in den Sozialwissenschaften, vor allem für die von der Art des Wirkungssystems, bedeutet dies nach von Kempski: »Die sozialwissenschaftlichen Modelle setzen stets die Geltung von bestimmten Maximen voraus. Daher sind die modelltheoretischen Untersuchungen der Sozialwissenschaften grundsätzlich Untersuchungen über mögliches Handeln, während die theoretische Physik stets auf die wirkliche Natur bezogen und die Feststellung, daß diese sich anders verhält, als die Theorie es erwarten läßt, für physikalische Theorien tödlich ist«.328 Sieht man von der (auch Webers Differenzierungen gegenüber) etwas verkürzenden Darstellung des Verhältnisses von Typus, empirischer Theorie (oder Hypothese) und Realität ab, so fügt sich diese Feststellung sehr gut in das, was oben über den Status der idealtypischen Begriffsbildung ausgeführt wurde. Daß von Kempski seine logischen Analysen nicht davon bestimmen läßt, sondern sie eben nur damit beschließt, könnte darauf hinweisen, daß sie tatsächlich ohne Bedeutung für eine allgemeine Logik der Ordnungsbegriffe ist. Dies muß jedoch nicht heißen, daß diese Feststellung überhaupt keine logischen Implikationen enthielte, da sie sich, wie man annehmen könnte, allein auf das Verhältnis von Begriff und Realität beziehe. Jedoch hätte sich eine allfällige logische Analyse idealtypischer Begriffe und Sätze im Sinne Webers darauf zu richten, daß diese im Modus der Möglichkeit stehen und daß es dabei, näherhin, um Möglichkeiten eines auf Sinnverständnis begründeten Handelns geht. Solche Analysen dürften die genannten bisherigen Versuche an Bedeutung übertreffen, ohne sie natürlich überflüssig zu machen. Wieweit in den vorliegenden Überlegungen zur Modallogik einerseits und zu einer »intensionalen« Logik andererseits die Grundlagen einer derart orientierten logischen Analyse des Idealtyps bereits verfügbar sind, läßt sich im Rahmen dieser Arbeit nicht erörtern.329 2.4
Begriffliche und theoretische Setzungen
Max Weber ist von den wissenschaftstheoretischen Reflexionen, die im Voranstehenden erörtert wurden, nicht zur Entfaltung einer systematischen Theorie der empirischen Soziologie fortgeschritten. Aus diesem Umstand erklären sich - nicht zuletzt - auch die kontroversen Deutungen des Verhältnisses eben dieser wissenschaftstheoretischen Überlegungen zu seinen materiellen (historisch-sozio80
logischen) Arbeiten 330 : Die durchgeführte empirische Theorie wäre Demonstration und Probe der von Weber selbst behaupteten Korrespondenz beider Seiten gewesen. Dennoch ist das entscheidende Problem nicht, daß Weber eine entwickelte soziologische Theorie nicht hinterlassen hat. Dies liegt vielmehr in der Frage, ob Weber - angesichts der erörterten wissenschaftstheoretischen Prämissen - überhaupt auf eine umfassende soziologische Theorie aus gewesen sei. In dieser Hinsicht ist insbesondere der Status der Weberschen Kategorien der verstehenden Soziologie von 1913 und der Grundbegriffe in Wirtschaft und Gesellschaft sowie der übrigen definitorischen Teile darin höchst umstritten. Während Weber den einen als der »Benedict Spinoza der Soziologie« 331 oder, zumindest, als der »wichtigste soziologische Theoretiker der Gegenwart« 332 gilt, demonstrieren diese Grundbegriffe den anderen gerade Webers fehlendes Interesse an einer »einheitlichen Theorie« 333 oder, wenigstens, eine große theoretische Unverbindlichkeit. 334 Die am weitesten gehende kritische These, daß eine »einheitliche Theorie« den ausdrücklichen wissenschaftstheoretischen Intentionen Webers geradezu zuwiderlaufe, begründet sich darauf, daß Weber a) überhaupt nur sehr zögernd zur Anerkennung der spezialwissenschaftlichen Soziologie gekommen sei und b) immer auf den Grenzen der Generalisierbarkeit (d. h.: auf dem unaufhebbar geschichtlichen Charakter) empirisch-soziologischer Aussagen bestanden habe. Das System der Grundbegriffe als »abstrakte Summe des Denkens und der Analyse« Webers 335 stelle die für eine derart historisch orientierte Stellung allein erreichbare Form der Systematisierung (gleichsam ein Theorie-Substitut) dar. Es sei nicht nur selbst keine, durch eine tendenziell allgemeine Erklärungsfunktion definierte empirische Theorie, sondern auch als Ausgangsbasis für die Konstruktion einer solchen weder gedacht noch geeignet. Eine derartige Deutung der Weberschen Stellung im allgemeinen und der Grundbegriffe im besonderen beruht offenbar auf einem seinerseits nicht unumstrittenen Begriff von empirischer Theorie und auf einer speziellen Auffassung des in einer solchen Theorie als Explanans fungierenden Sozialen. Sie entspricht in dieser doppelten Hinsicht nicht dem Selbstverständnis Webers. Die folgenden Erörterungen versuchen demgegenüber die Prämissen und Grundzüge soziologischer Theoriebildung im Sinne Webers darzustellen. Ihre leitende Überzeugung ist, daß die empirische Soziologie Webers sehr wohl einer theoretischen Systematisierung in explanato81
rischer Absicht fähig ist und daß die wichtigsten Gesichtspunkte dazu von Weber selbst (am konzentriertesten eben unter dem Titel Kategorien oder Grundbegriffe) expliziert worden sind.336 In diesen Vorüberlegungen sollten die sehr dezidierten Festlegungen Webers über Ebene, Richtung und Grenzen soziologischer Theoriebildung deutlich werden, die keineswegs wie Dahrendorf meint, beliebige Durchführungen zulassen. Wesentlich um eine Bestimmung der Verbindlichkeit des theoretischen Ansatzes Webers geht es schließlich auch, wenn in diesem Abschnitt abschließend auf das durchaus produktive Verhältnis Webers zur empirischen Forschung eingegangen wird. 2.4.1
Die Grundanschauung:
Das soziale Handeln
Der bestimmende Ausgangspunkt Webers ist seine Grundanschauung vom sozialen Handeln, und zwar so sehr, daß die inaugurierte Theorie insgesamt als »Theorie des sozialen Handelns« zu kennzeichnen ist.337 Allerdings bestimmt eine solche Kennzeichnung zureichend nur die Basis von Webers theoretischem Entwurf, nicht den Umkreis seiner Themen und Gegenstände.338 Die Definition des sozialen Handelns wurde bereits oben im Zuge der Begründung der Notwendigkeit einer verstehenden Methodik eingeführt. Im gegenwärtigen Zusammenhang sind die folgenden Bestimmungsmomente hervorzuheben: a) Weber verwendet einen sehr weiten Begriff vom »Handeln«; dieser übergreift sowohl die Unterteilung von »innerem und äußerem Tun« wie die verschiedenen Grade der Aktivität bis hin zum bloßen Erleiden und Unterlassen. Vermittels dieser beiden Differenzierungsmöglichkeiten ist also für Weber Handeln nicht von menschlichem Verhalten schlechthin abzugrenzen, und dies gilt auch für das soziale Handeln. b) Die spezifische Differenz des Handelns sieht Weber vielmehr in der »Sinnbezogenheit«, und zwar als einer eigentümlichen Form der Bestimmung (Determination) von Verhalten. Letzteres bedeutet, daß Weber seine Definition aus der Perspektive eines Interesses an empirischer Erklärung vornimmt.339 In diesem Sinne ist bereits der Ansatz beim so bestimmten Handeln von - im Wortsinne fundamentaler theoretischer Wichtigkeit. »Sinnbezogenheit« als spezifische Bestimmungsform menschlichen Verhaltens ist nach Weber begrifflich eindeutig abzugrenzen von der Verhaltensbestimmung durch »bloße Tatsache(n)«.340 Tatsächlich erschöpft sich 82
Webers eigene Kennzeichnung der Bestimmungsform »Sinn« nahezu in der Feststellung, daß diese eben nicht blind wirkende Faktizität sei. Zur Erläuterung des Sinnbegriffes wurde oben einiges ausgeführt. Dabei wurde als allgemeinstes positives Merkmal sinnhafter Verhaltensorientierung genannt, daß diese, bzw. deren Bestimmungsgründe, prinzipiell bewußtseins- und sprachförmig und über Kommunikation (welche auch innere Kommunikation sein kann) nicht nur zu vermitteln, sondern auch zu verändern sei341. Damit ist zugleich gesagt (auch darauf wurde bereits hingewiesen), daß Sinnhaftigkeit per definitionem zumindest potentielle Intersubjektivität bedeutet. Eine wirkliche und überdauernde intersubjektive Präsenz handlungsleitender Sinnorientierungen setzt allerdings voraus, daß dieselben durch Symbolisierung identifiziert und auf Dauer gestellt sind: Das »Symbol« bestätigt und bewahrt den (nicht selten durchaus bloß fiktiven) »Zusammen-Fall« der Intentionen einer Mehrzahl von Subjekten. c) Diese potentielle Sozialität jedes handlungsleitenden Sinnes definiert für Weber jedoch noch nicht ein Handeln als soziales. Nicht einmal der Tatbestand, daß Sinnorientierungen tatsächlich gesellschaftlicher Provenienz und von Individuen bloß übernommen (gelernt) sind, reicht nach seiner Auffassung, um vom sozialen Handeln zu sprechen.342 Vielmehr ist seine Definition nur dann erfüllt, wenn in der sinnhaften Verhaltensorientierung selbst der Bezug auf das »vergangene, gegenwärtige oder für künftig erwartete Verhalten anderer« 343 bestimmend eingegangen ist. Dieser Bezug muß dem Akteur zwar nicht aktuell bewußt sein. Jedoch will Weber nur in dem Maße, in dem er an sich für Art, Richtung oder Intensität der Verhaltensorientierung tatsächlich konstitutiv ist, im terminologischen Sinne von sozialem Handeln sprechen. Nur in diesem Falle findet eine sinnhafte und nicht bloß »kausale« 344 Einwirkung von alter auf ego statt, sofern in der Wahrnehmung der handlungsleitenden Gesichtspunkte (Zwecke, Normen, Kategorien, Deutungen) durch ego der Andere in irgendeiner Weise, wenn auch noch so latent, mitgedacht (»gemeint«) ist. Die Einschränkung folgt also aus Webers Bestreben, soziales Handeln von seinem eigentümlichen sinnhaften Bestimmungsgrund her zu definieren. Diese Intention Webers gilt es im folgenden festzuhalten. Um menschliches Verhalten als soziales Handeln und damit als spezifischen Gegenstand der empirischen einzelwissenschaftlichen Soziologie zu identifizieren, ist es so nach Webers Auffassung notwendig, aber auch hinreichend, wenn es durch einen sinnhaften 83
Bezug auf das Verhalten anderer bestimmt ist. Durch die Sinnhaftigkeit dieses Bezugs ist dasjenige Minimum an Objektivierung (d. h. Ablösung vom zufälligen Hier und Jetzt einer Situation) gegeben, ohne welches nicht von der Sozialität eines Handelns gesprochen werden kann. Die Sinnbezogenheit macht die Fremdbezogenheit identifizierbar und verständlich und macht so ein »angemessenes« Antwortverhalten von alter (wie auch ein »folgerichtiges« Verhalten von ego selbst) allererst möglich. Der Sinnbezug ist derart sowohl für die Akteure wie auch für den Forscher der feste Punkt, von dem her das Handeln als solches wahrgenommen, beurteilt und - gegebenenfalls - erklärt werden kann. Bloßes, blindes Nachahmen eines fremden Verhaltens ζ. B. ist aus diesem Grunde gemäß den Weberschen Setzungen zwar sozial bedingtes, doch kein soziales Verhalten.845 Von einer »sozialen Beziehung« ist nach Weber dort zu sprechen, wo das Handeln mehrerer Akteure seinem jeweils gemeinten »Sinngehalt« nach wechselseitig auf das Verhalten des oder der Mithandelnden bezogen ist.346 Entscheidend ist hier, daß »der Handelnde vom Partner (vielleicht ganz oder teilweise irrigerweise) eine bestimmte Einstellung dieses letzteren ihm (dem Handelnden) gegenüber voraussetzt und an diesen Erwartungen sein eigenes Verhalten orientiert.« 347 Kennzeichnend für eine soziale Beziehung ist also nach Weber das Bestehen von Einstellungs- oder Erwartungs-Erwartungen bei den miteinander Handelnden.348 Eine faktische oder auch nur vermeintliche Übereinstimmung (besser: Komplementarität) der das Handeln leitenden »Sinngehalte« 349 ist dagegen keine notwendige Bedingung für die Existenz sozialer Beziehungen. Allerdings ließe sich im Sinne Webers sagen, daß eine soziale Beziehung sich mit wachsender Nichtübereinstimmung in dieser Hinsicht einer bloßen Summierung »einfacher« sozialer Handlungen annähere. Die Erwartungs-Erwartung ist die entwickelte Form der sinnvermittelten Orientierung am Verhalten anderer, welche für das soziale Handeln konstitutiv ist. Sie allein ermöglicht höhere Grade der Objektivität im bezeichneten Sinne und, zugleich, der Flexibilität des Miteinanderhandelns. Sie ist überdies die Weise, wie soziales Handeln zu sich selbst kommt, und die Bedingung der Möglichkeit einer auf Veränderung gerichteten Kommunikation. Ist die Objektivität sozialen Handelns durch den Sinnbezug gestiftet, so wird durch Art, Richtung und Intensität des Bezugs auf den oder die Anderen der Obligations- und Permanenz-Charakter bestimmt. Jedenfalls erscheint es angemessen und klärend, die Be84
deutung der beiden wichtigsten Elemente der Weberschen Definition des sozialen Handelns wenigstens in abstracto so voneinander abzugrenzen. Natürlich stehen im konkreten Handeln der BezugsSinn und der Bezugs-Andere in engster Interdependenz. Auf die obligatorische Qualität sozialen Handelns geht Weber in den Paragraphen 4 ff. von Wirtschaft und Gesellschaft ein. Dies hat Dahrendorf zu der These veranlaßt, daß erst hier »eigentlich« soziologische Kategorien thematisch würden - nachdem Weber abrupt die »Lehre vom sozialen Handeln« verlassen habe. 350 Diese Einschätzung erklärt sich allein aus der gerade von Dahrendorf (mit aller aporetischen Konsequenz) vertretenen Auffassung, das Gesellschaftliche sei für die Soziologie nur als unbedingt zwangshaftes Determinationsgefüge konstruierbar. Dies aber ist nun ausdrücklich nicht die Webersche Ansicht von soziologischer Theoriebildung. Im Gegensatz zur Geschichte, welche es mit der »kausalen Zurechnung wichtiger . . . Einzelzusammenhänge« zu tun habe, geht das spezielle Interesse der Soziologie nach Weber allerdings auf »Regelmäßigkeiten« oder überdauernde Phänomene. 351 Doch hält sie sich damit (wie auf ihre Weise auch die Geschichte) durchaus »innerhalb des sozialen Handelns«: Als »Regelmäßigkeiten« definiert Weber die »in einem typisch gleichartig gemeinten Sinn beim gleichen Handelnden sich wiederholenden oder (evtl. auch: zugleich) bei zahlreichen Handelnden verbreiteten Abläufe von Handeln«. 352 Ob es sich um ein gleichartiges Verhalten handelt, ist durch Rekurs auf den (identisch) gemeinten Sinn zu entscheiden. Daß und mit welchem Stabilitätsgrad eine gleichartige Sinnorientierung stattfindet, erklärt sich dagegen aus dem (verschiedenen) Obligationsgrad, mit dem diese Orientierung durch den oder die Anderen - nach Meinung von ego - besetzt ist. Zur Kennzeichnung verschiedener Obligationsgrade führt Weber die idealtypischen Begriffe »Brauch« und »Sitte« sowie »Konvention« und »Recht« ein353 - nicht ohne den Hinweis, daß natürlich auch hier in concreto alle Übergänge flüssig seien. Diese Weberschen Differenzierungen sind hier nicht im einzelnen zu erörtern. 354 Ebensowenig ist auf seine Ausführungen zu den Formen und der Funktion des Glaubens an das Bestehen einer »legitimen Ordnung« in diesem Zusammenhange näher einzugehen. Diese letzteren Ausführungen haben vor allem die stärker durchgebildeten (auch bewußteren) Formen der Obligation - speziell »Konvention« und »Recht«, aber auch Ethik - zum Gegenstand 85
und untersuchen des näheren die idealtypisch möglichen GeltungsGarantien solcher Ordnungen (§ 6) und die Formen der Begründung ihrer »Legitimität« (§ 7). Die generelle theoretische Bedeutung dieser Differenzierungen liegt auf der Hand - wenn anders es hier um die Bestimmung möglicher Gesichtspunkte (Leitfäden) für die Konstruktion empirischer Hypothesen geht. Im Rahmen dieser allgemeinen Intention expliziert Weber insbesondere a) die verschiedenen Formen und Intensitätsgrade der Kontrolle und Sanktionierung eines »ordnungsgemäßen« 355 Verhaltens 356 und b) Typen des Legitimitätsglaubens gegenüber Ordnungen. Das Spezifische der »legitimen Ordnungen« liegt eben darin, daß ihre Stabilität durch einen expliziten Legitimitätsglauben gesichert ist. Die »Maximen« eines solchen Glaubens sind grundsätzlich kommunikationsfähig und damit auch problematisierbar; die Geltung der Ordnungen aber steht und fällt wiederum grundsätzlich mit der Anerkennung der Maximen. Das Höchstmaß an Transparenz und Kritikfähigkeit in diesem Sinne kommt den durch »Legalitätsglaube« 357 abgesicherten Ordnungen zu. Es ist dies nach Weber die »heute geläufigste Legitimierungsform«. Die an den Bedürfnissen der Gegenwart orientierten begrifflich-theoretischen Explikationen Webers brechen gerade nicht da ab, wo in diesem Sinne rationale Obligationsverhältnisse thematisch werden. Ein Vorbegriff von der contrainte sociale, welcher diese Konsequenz hätte, taugt nach seiner Auffassung nicht für die empirische Soziologie. Der Ausgang von der Sinnbezogenheit sozialen Handelns ist dagegen von der Notwendigkeit bestimmt, die »heute geläufigste« Form sozialer Ordnungen angemessen und nicht als einen in irgendeinem Sinne defizienten Modus von Sozialität erfassen zu können. Daß die auf einem Legalitätsglauben beruhenden rationalen Handungssysteme in der Gegenwart einen unerhörten (sekundären) Zwangscharakter anzunehmen neigen, wird im Rahmen eines solchen Ansatzes zu einer umso eindringlicheren Erfahrung.
2.4.2
Soziale Kausalität (Sinn und Wert)
Sinn (oder Sinnzusammenhang) bestimmt soziales Handeln, sofern er im Horizont einer auf ihn bezogenen gesellschaftlichen Erwartung erfahren wird.358 Zugleich mit dem Sinn selbst ist hier dessen obligatorischer Charakter als ein gesellschaftlicher »subjektiv gemeint« und insofern verhaltensorientierend. Allerdings ist der Verhaltens-Anspruch des oder der anderen selbst nicht factum
86
brutum, sondern wiederum durch einen als verbindlich geltenden Legitimitätsglauben abgesichert, welcher seinerseits im mehr oder weniger engen Zusammenhang mit dem Handlungs-Sinn im engeren Verstände steht. Man hat nun die handlungsbestimmende Macht von Sinnzusammenhängen gesellschaftlicher Provenienz an die Voraussetzung gebunden, daß diese »soziale Vermittlung . . . abgedeckt« bleibe.359 In entschiedenstem Gegensatz dazu scheint Max Weber nur da von sozialer Handlungsorientierung im Unterschied zu sinn-freier »Beeinflussung« sprechen zu wollen, wo diese gesellschaftliche Vermittlung aktuell mitgemeint ist. Eine solche Einschränkung ist jedoch ihrerseits weder von der Sache her durchzuhalten 360 noch durch die Webersche Grundlegung notwendig gesetzt. Gesetzt ist durch diese allerdings die grundsätzliche Möglichkeit einer Aufdeckung (Bewußtmachung) der gesellschaftlichen Vermittlung361 und die speziellere Annahme, daß im sozialen Handeln neben der Tendenz zur Entfremdung eine mindestens ebenso starke zur Aufklärung angelegt ist. Dies bedeutet, daß für die Webersche Stellung gesellschaftlich bedingtes Handeln nicht - wie für die obengenannte Position - dort zu existieren bzw. von soziologischem Interesse zu sein aufhört, wo der Handelnde diese Bedingtheit ins aktuelle Bewußtsein hebt und damit Sinn als Sinn, d. h. als Bestimmung im Horizont anderer Möglichkeiten 362 erfährt. Mit diesen letzten Bemerkungen ist auch die bereits oben angeschnittene Frage im Prinzip beantwortet, ob nicht für die Soziologie »Sinn« nur qua »Wert« (»Norm« etc.) als Grundbegriff fungieren könne. Die entsprechende These wäre damit zu begründen, daß eben für die Analyse sozialen Handelns Sinn nur als mit gesellschaftlicher Obligationsqualität besetzter und als solcher wirkender Sinn von Interesse sei. Ein derart hinsichtlich seiner »kausalen Bedeutung« untersuchter Sinn aber werde angemessen »Wert« genannt. Daß (wie oben betont) Sinn als der allgemeinere Begriff zu gelten habe und auch das Verstehen nur Sinn als solchen zu erfassen vermöchte, dürfte kein Einwand gegen solche Überlegungen sein. Webers Festlegung auf den Begriff Sinn im Zuge seiner wissenschaftstheoretischen und theoretischen Reflexionen beruht nicht auf expliziten Erwägungen in dieser Richtung. Sie kann jedoch keineswegs als ein bloß terminologisches Problem behandelt werden. Vielmehr ist sie auf den erörterten Tatbestand zu beziehen, daß für Weber der gesellschaftlich fest-gestellte und geltende Sinn nicht 87
einen grundsätzlichen Moduswechsel (nämlich: von der Möglichkeit zur Notwendigkeit) erfahren hat. Der handlungsbestimmende Bezug auf die Verhaltenserwartungen des oder der Anderen, welcher Sinn als Wert definiert, ist selbst sinnhaft. Er hat damit, wie gesagt, grundsätzlich den Charakter einer Bestimmung im Horizont anderer Möglichkeiten. Der soziologische Gebrauch des Terminus Wert (aber auch weiterer Termini wie Norm oder Rolle) beruht dagegen sehr häufig auf einer verdinglichenden Auffassung bzw. Konstruktion des sozialen Handelns im allgemeinen und der sozialen Kausalität im besonderen. Es ist diese verbreitete Mißdeutung Anlaß genug, am Grundbegriff des Sinnes festzuhalten.363 2.4.3
Bestand als Chance
Das Bestehen bestimmter sozialer Beziehungen und Ordnungen bemißt sich nach Weber allein an der »Chance«, »daß ein sinnentsprechendes Handeln stattfindet«.364 Der als Maßstab fungierende Sinn, welcher die Beziehung oder Ordnung definiert, kann dabei ebensowohl der von den Handelnden selbst »durchschnittlich gemeinte« 365 wie ein idealtypisch konstruierter sein. Existierten allerdings die Ordnungen überhaupt nicht im Bewußtsein der Akteure (nämlich: als Bezugssystem ihrer wechselseitigen Ansprüche), so gäbe es die Chance eines entsprechenden Handelns nicht. Das primäre und ganz explizite Motiv Webers für die Form der Definition mit dem Begriff der Chance liegt darin, jede Hypostasierung sozialer Gebilde zu Entitäten höherer Ordnung zu vermeiden. In einer soziologischen Verwendung der insbesondere in der Jurisprudenz üblichen »Kollektiva« sah er zumindest eine »Quelle arger Unklarheiten« 36e , wenn nicht ein Instrument metaphysischer Erschleichungen. Der Gebrauch des Begriffs der Chance in diesem Zusammenhang folgt demnach für Weber unmittelbar aus der Intention, die Soziologie als empirische Wisenschaft zu begründen.367 Es steht in dieser Hinsicht in engster Beziehung zum idealtypischen Verfahren der Begriffsbildung: Die überdauernde Identität von sozialen Handlungszusammenhängen als solchen ist, nach Weber, nur auf der Ebene des intersubjektiv gemeinten Sinns zu definieren und festzustellen. Der intersubjektiv identisch gemeinte Sinn(-zusammenhang) ist jedoch nicht als Faktum, sondern als Möglichkeit bzw. als Tendenz anzusetzen. Ein im Sinne dieses Zusammenhangs intersubjektiv einheitliches und überdauerndes Handeln ist daher ebenso 88
nur mit verschiedenen Graden der Wahrscheinlichkeit zu erwarten, nicht in irgendeinem Verstände als notwendig zu behaupten. Auch wenn sich die Chance, »daß ein sinnentsprechendes Handeln stattfindet«, als überaus groß erweist, ist demnach für eine solche Auffassung das einzige empirisch feststellbare »Kollektivum« eben der einheitlich intendierte »Sinnzusammenhang«. Vorstellungen von einer eigentümlichen und höherstufigen Existenz- und Handlungsform des jeweiligen sozialen Ganzen sind natürlich sehr häufig Bestandteil solcher Sinnzusammenhänge.368 Insofern sind nicht nur die idealtypischen Synthesen der Wissenschaft, sondern auch derartige Hypostasierungen realer Kollektiva für die empirische Soziologie heuristisch von Nutzen. 369 O. Spann sah in Webers Verwendung des Begriffs der Chance den Beweis dafür, daß Weber »in der Gesellschaft ein System kausaler Beziehungen« gesehen habe und damit »im induktiv-naturwissenschaftlichen Verfahren« befangen geblieben sei.370 Lazarsfeld und Oberschall glauben, daß mit der Weberschen Argumentationsweise die Basis für statistische Untersuchungen und damit für soziologische Empirie, wie sie sie verstehen, gelegt sei.371 Derartige Deutungen scheinen mir (ob sie mit negativen oder mit positiven Bewertungen einhergehen) die empirische Intention des Chancen-Begriffs entscheidend zu verkürzen. Auffällig ist ja, daß Weber selbst die Verbindung zur Statistik nicht schlägt, obwohl deren Umverzichtbarkeit für die soziologische Forschung für ihn, wie bemerkt, außer Frage stand. Dies spricht sehr für die These, daß er den Terminus »Chance« nicht wählte, um die bloß statistische (quantifizierte) Wahrscheinlichkeit des Auftretens bestimmter Einzelphänomene zu bezeichnen. Es geht in der verstehenden Soziologie um die Frage, in welchem Maße ein »sinnentsprechendes Handeln« stattfindet. Die zählbare Häufigkeit wird bei einer solchen Fragestellung unmittelbar auf die verstehbare Intensität einer bestimmten Sinnorientierung bezogen und von daher theoretisch interpretiert (»erklärt«).372 Die Argumentation mit dem Begriff der Chance folgt bei Weber ohne Zweifel primär aus seiner Grundanschauung vom sozialen Handeln. Sie stellt ab auf den Umstand, daß der von inter subjektiv gemeintem Sinn her Handelnde in der Erwartung von Korrespondenz und Kontinuität des »Zusammenhandelns« (Weber) steht; als sinnbezogene ist diese Erwartung, wie bemerkt, Erwartungs-Erwartung. Die empirische Soziologie untersucht, in welchem Grade sich diese Erwartung jeweils tatsächlich erfüllt oder: in welchem Grade eine derartige Korrespondenz und 89
Kontinuität realiter besteht. Diese »objektivierende« Wendung der Wissenschaft ist durch den Terminus »Chance« auch schon dort ausgedrückt, wo dieser noch unmittelbar aus der Perspektive des Handelnden selbst her gedacht ist, wie in Webers bekannter Definition von Herrschaft.373 Der weitere und definitive Schritt zur Objektivierung liegt dann darin, überhaupt nicht mehr von einer Chance des oder der Handelnden zu sprechen, sondern von der Chance des Auftretens bestimmter Handlungen; hier ist Chance dann identisch mit Wahrscheinlichkeit. Diese methodischen Schritte der Objektivierung (oder Operationalisierung) heben die bezeichnete theoretische Basis so wenig auf, daß sie vielmehr nur von ihr her zu verstehen und zu rechtfertigen sind. Dies wird offenbar von den Interpreten und Kritikern Webers verkannt, die - wie exemplarisch O. Spann - vom Begriff der Chance in Webers Definitionen auf fundamental objektivistische oder gar »mechanizistische« Vorstellungen schließen. 2.4.4
Zum Individualismus-
und
Rationalismus-Vorwurf
Mit der Kritik des Begriffs der Chance geht in aller Regel und aus einsichtigen Gründen die des Weberschen »Individualismus« einher. Diese kann sich auf Webers ausdrückliche und relativ frühe Feststellung beziehen, das »Einzelindividuum und sein Handeln« definiere nicht nur nach unten, sondern auch »nach oben zu« die Grenze soziologischer Untersuchungen.374 Weber begründet dies damit, daß der einzelne der »einzige Träger sinnhaften Sichverhaltens« sei, und bemerkt: »Es liegt in der Eigenart nicht nur der Sprache, sondern auch unseres Denkens, daß die Begriffe, in denen Handeln erfaßt wird, dieses im Gewände eines beharrenden Seins, eines dinghaften oder ein Eigenleben führenden >personenhaften< Gebildes, erscheinen lassen. So auch und ganz besonders in der Soziologie. Begriffe wie >StaatGenossenschaftFeudalismus< und ähnliche bezeichnen für die Soziologie, allgemein gesagt, Kategorien für bestimmte Arten menschlichen Zusammenhandelns, und es ist also ihre Aufgabe, sie auf >verständliches< Handeln, und d. h. ausnahmslos: auf Handeln der beteiligten Einzelmenschen, zu reduzieren«.375 H. Freyer hat demnach sehr Recht, wenn er hinter der Weberschen Argumentation mit dem Chancen-Begriff einen nicht mehr bloß methodologischen Individualismus vermutet.376 Doch arbeitet die Weber-Kritik dieser Provenienz mit einer falschen Alternative: 90
Webers zitierte Feststellung wird so gedeutet, als fasse er die »zusammenhandelnden« Individuen derart als Monaden (ohne Fenster) auf, daß es Übereinstimmungen, Regelmäßigkeiten, Ordnungen etc. überhaupt nur für den außenstehenden, objektiven Beobachter gebe - und zwar nur als Chance (Wahrscheinlichkeit) im Sinne der Statistik, d. h. ohne Möglichkeit einer theoretischen Deutung. Diese Art von Reduktion ist jedoch nicht die von Weber gemeinte.377 Sie nimmt den einzelnen gerade nicht als »Träger sinnhaften Sichverhaltens«, der sich vermittels des je gemeinten Sinnes auf das Verhalten oder die Erwartungen anderer bezieht. Der Rückgang auf den so verstandenen einzelnen Akteur bestimmt zugleich, wie im Rahmen der Weberschen Soziologie überindividuelle Gebilde vorkommen. Sie kommen vor als »Sinngebilde« oder Sinn-Synthesen, die in reiner Form als Idealtypen aufzufassen sind, tendenziell jedoch (nämlich nach Maßgabe ihrer faktischen Geltung für die Handelnden) wirklich und wirksam sind. Sehr diskussionswürdig ist die Frage, ob Weber sich in seinen begrifflichtheoretischen Reflexionen hinreichend auf die Entfremdungs- und Verdinglichungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Systeme eingelassen habe; diese Frage ist wahrscheinlich zu verneinen. Grundsätzlich macht jedoch gerade nur ein Ansatz von der Art des Weberschen es möglich, von »Entfremdung«, »Verdinglichung« etc. zu sprechen, weil bei einer solchen Argumentation immer, wenn auch noch so latent, der einzelne »Träger sinnhaften Sichverhaltens« als Bezugspunkt mitgedacht ist. Der Webersche Standpunkt ist, nach meiner Auffassung, der notwendige Standpunkt der empirischen Soziologie: Genuin gesellschaftliche Einheitsbildungen sind die intersubjektiv geltenden SinnSynthesen. Existenz, Bestand und Wirksamkeit dieser Gebilde resultieren aus dem »Zusammenhandeln« sinnhaft aufeinander bezogener Individuen. Ihre faktische Geltung ist ihre Geltung für diese aufeinander bezogenen Akteure. Ursprünglich soziologisch und eben nicht »individualistisch« ist diese Aufassung insofern, als der Einzelne weder als »Privatmensch« oder »Egoist« noch als »autonomes Subjekt« (im Sinne der Ethik) gemeint ist..Gegenstand ist das Verhalten des Einzelnen als ein gesellschaftlich bestimmtes. Die Sozialität des Verhaltens ist jedoch nur als Einstellung der einzelnen Handelnden existent und der empirischen Forschung zugänglich.378 Allerdings verweist Webers Intention, am einzelnen gesellschaftlichen Akteur als oberster Einheit soziologischer Wirklichkeitsauffassung festzuhalten, über die immanenten Bedürfnisse empiri91
scher Wissenschaft hinaus. Die konstitutive Rolle von Wertbeziehung, wie sie oben erörtert wurde, gilt auch für die allgemeinste Orientierung der Sozialwissenschaften (und nicht etwa nur für die Auswahl der Untersuchungsgegenstände im einzelnen). Das bestimmende, wertrelative Interesse Webers liegt offenbar darin, die Perspektive und die Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Akteurs in der soziologischen Theoriebildung soweit wie eben möglich zu erhalten - und sie auf keinen Fall durch die »Hypothese« höherer gesellschaftlicher Entitäten im Ansatz aufzugeben. Über die wissenschaftliche Brauchbarkeit und die empirische Tragweite dieses Vorgehens ist nur durch die Forschung selbst zu entscheiden. Das außerwissenschaftliche Interesse daran ist für den Sozialwissenschaftler, wenn nicht absolut zwingend, so doch überaus gut begründet: Zumindest die Form des Wissens von sozialen Tatbeständen, welche der Sozialwissenschaftler selbst repräsentiert, vermag als solche von sich aus nur über das individuelle Bewußtsein gesellschaftlich Handelnder wirksam zu werden. Ein theoretischer Entwurf sozialen Verhaltens, welcher eine solche Möglichkeit im Ansatz ausschließt, bedeutet, daß sozialwissenschaftliches Wissen (also auch dieser Entwurf selbst) entweder prinzipiell diesem Verhalten äußerlich bleibt oder nur in entfremdeter Gestalt Wirkungen entfaltet bzw. technologisch verwertbar ist.379 Eine entsprechende Argumentation wäre auch dem Rationalismus-Vorwurf entgegenzuhalten, welcher aus evidenten Gründen in der Regel mit der Individualismus-These (sowie mit der Kritik des Chancen-Begriffs) zusammen auftritt. 380 Die spezielle Favorisierung des (zweck-)rationalen Schemas rechtfertigt Weber selbst, wie erörtert, mit methodischen Zweckmäßigkeitsgründen; tatsächlich kann sie, wie oben bemerkt, aus solchen Gründen für die Soziologie nicht als unproblematisch gelten. Der Rationalismus-Vorwurf zielt jedoch zumeist, genereller, auf Webers Festlegung der Soziologie auf sinnhaftes Verhalten und die dabei unterstellte Rationalität desselben im weiteren (ebenfalls bereits erläuterten) Verstände. Auch diese Festlegung ist zunächst mit Zweckmäßigkeitsargumenten und insbesondere im Hinblick auf ihre empirische Fruchtbarkeit zu diskutieren. Dessen ungeachtet liegt ihr ein außerwissenschaftliches Interesse zugrunde, und zwar grundsätzlich dasselbe wie der Auffassung des einzelnen gesellschaftlich Handelnden als unterster und oberster Einheit der soziologischen Theoriebildung. 381 Dieses Interesse (bzw. die dasselbe leitende Wertbeziehung) ist nicht »subjektivistisch«, sondern gründet in der 92
Einsicht in die bestimmende »Kulturbedeutung« von Rationalität für die moderne okzidentale Gesellschaft.382 Die Soziologie hat sich in ihrer Begriffs- und Theoriebildung sowie in ihrem methodischen Instrumentarium darauf einzustellen, daß einerseits Rationalität (in der vielfachen Bedeutung des Begriffs) gesellschaftliches Handeln zunehmend faktisch bestimmt und daß andererseits tendenziell nur noch solche gesellschaftlichen Institutionen »Legitimitätsglauben« beanspruchen können, welche auf eine rationale Weise zu rechtfertigen sind.383 Tatsächlich stellen sich die Vertreter des Rationalismus-Vorwurfs in aller regel kritisch zur Rationalität als faktisch bestimmender Regel gesellschaftlichen Handelns und gesellschaftlicher Institutionen und als vorherrschendes Kriterium von Legitimität. Dies führt sie zu einer theoretischen Bestimmung sozialen Handelns und seiner Faktoren, welche Rationalität in jedem Sinne als Gefährdung, wenn nicht als schlechthinnigen Gegensatz von Sozialität definiert. Allenfalls können solche Theoretiker noch der Zwangshaftigkeit vermeintlich einwandsimmuner rationaler »Sachgesetzlichkeiten« (Freyers »sekundären Systemen«) ein soziologisches Interesse abgewinnen. Einer solchen Disjunktion von Rationalität und Sozialität steht der Webersche Ansatz, wie oben bereits erörtert, grundsätzlich entgegen, auch wenn er selbst trotz der häufigen Hervorhebung des sehr weiten Bedeutungsspektrums 384 einer Engführung von Rationalität zu Zweckrationalität nicht immer entgeht. 3 ^ 2.4.5
Zur allgemeinen Intention der Weberschen Begriffs- und Theoriebildung (Soziologie und Geschichte)
Die doppelte Zielrichtung der begrifflichen und theoretischen Ansätze Webers wird von J. Rex formuliert: »The great merit of Max Weber was that he tried to achieve as exact definitions and proof of sociological concepts and propositions as was possible without abandoning the actual problems with which sociology was faced.« 386 Mir scheint dieses Urteil über Webers Bemühungen auf den allein angemessenen Kriterien zu beruhen. Diese Bemühungen sind gekennzeichnet durch die Verbindung des Strebens nach höchstmöglicher begrifflicher Klarheit und empirischer Überprüfbarkeit mit einem außergewöhnlich hohen und differenzierten Bewußtsein vorgegebener Problemlagen. Die Notwendigkeit einer solchen Verbindung ist in Webers Begriff einer historischen Sozio93
logie gesetzt. Eine solche Soziologie hält sich bei aller empirischexplanatorischen und auch generalisierenden Intention grundsätzlich im Horizont geschichtlichen Handelns und seiner »aktuellen (oder auch potentiellen) Probleme«. Die in Wirtschaft und Gesellschaft über die Grundbegriffe hinaus zusammengestellten Explikationen und Analysen betreffen durchgehend, wie Rothacker es formulierte, »theoretische Gehalte historischer Darstellungen überhaupt«. 387 Im Zuge seiner Begründung einer empirischen und verstehenden Soziologie hat Weber so keineswegs einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel von der Geschichte zu einem schlechthin Beharrenden, Allgemeinen vollzogen. Vielmehr zielen auch die allgemeinsten seiner Kategorien und Konstrukte in Wirtschaft und Gesellschaft auf gesellschaftlich kontingente »Sinnzusammenhänge« menschlichen Handelns. Zwar sind ζ. B. Religion überhaupt, Stadt überhaupt oder Herrschaft überhaupt keine möglichen Orientierungssysteme eines konkret - geschichtlichen Handelns; erst recht ist letzteres in concreto nie »gesellschaftlich« ohne nähere Bestimmung. Doch bezeichnen diese und alle weiteren Kategorien ebensowenig Tatbestände oder Faktoren jenseits aller geschichtlichen Wirklichkeit; auch sind sie nicht oberste Allgemeinbegriffe, unter die historische Fälle (letztlich) zu subsumieren wären. Vielmehr ist ihr Verhältnis zu wirklich gelebten Sinnzusammenhängen am angemessensten als das von allgemeinstem Horizont und konkreter Bestimmung zu verstehen. Grundsätzlich kann sich die verhaltensbestimmende Sinnesorientierung auch auf diese Horizonte selbst richten.388 In diesem Falle ist also das Allgemeine doch im geschichtlichen Handeln wirksam - wenn auch (als Horizont) nur insoweit, als es aus der Perspektive je bestimmter Orientierungen in den Blick kommt. Gerade weil das so verstandene Historisch-Allgemeine dem Besonderen auch nicht »an sich« (und als Bedingung seiner Möglichkeit) vorausgeht, kann ihm in einem strengeren Sinne ein transzendentaler Status weder im Hinblick auf das historische (wissenschaftliche) Erkennen noch auf das geschichtliche Handeln zugeschrieben werden. Dies wurde oben bereits bei der Behandlung der idealtypischen Begriffsform im allgemeinen festgestellt, gilt jedoch auch für die obersten Kategorien und Konzepte der Weberschen Soziologie. Diese zielt also weder auf Faktoren jenseits aller geschichtlichen Handlungsorientierung noch auf die apriorischen Voraussetzungen von Geschichte. Dennoch wird die Webersche Auffassung auch
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nicht zutreffend gekennzeichnet, wenn man, wie L. Mises,389 konstatiert, daß danach Soziologie »so etwas wie eine stärker generalisierende und zusammenfassende Geschichte« sei, und zwischen beiden Disziplinen damit nur ein »Gradunterschied« bestehe. Zwar ist das Interesse der Historie an konkreten »Einzelzusammenhängen« und näherhin an der »uns umgebenden Wirklichkeit« für Weber zugleich das konstituierende Interesse aller Kultur- oder Sozialwissenschaften. Der Umstand jedoch, daß die Wendung der Soziologie auf »Regelmäßigkeiten« und »Typen« des sozialen Handelns letztlich von diesem Interesse bestimmt ist, impliziert durchaus nicht, daß dies eine nur graduelle Wendung sei. Eine generalisierende oder allgemeine Geschichte stellt für die Webersche Auffassung eine contradictio in adiecto dar - nicht jedoch eine Theorie des sozialen Handelns in generalisierender Absicht, welche sich grundsätzlich auf der Ebene oder im Horizont des Selbstverständnisses geschichtlicher Akteure hält.390 Auch für L. Mises können die Sätze der intendierten »Wissenschaft vom menschlichen Handeln schlechthin« Allgemeingültigkeit natürlich nur in dem Sinne beanspruchen, daß sie überall gelten, »wo die vorausgesetzten, streng zu bestimmenden Bedingungen gegeben sind«.391 Die soziologische Theorie hat es nach Weber allerdings mit sinnhaften, d. h. geschichtlichen Bedingungen zu tun.392 Sie beruht auf der Annahme, daß es auf dieser Ebene auch interkulturelle Gleichförmigkeiten gebe und schließt darüber hinaus die Existenz von kulturellen Konstanten keineswegs aus. Wie speziell die Bedingungen angesetzt werden (auf welcher Ebene also Allgemeingültigkeit beansprucht wird), hängt vom jeweiligen Untersuchungszweck bzw. Erklärungsinteresse ab. Auch wenn sich dieses Interesse auf das nach aller bisherigen Erfahrung Einmalige an einem Geschehen richtet (etwa auf die eigentümlichen Merkmale des modernen okzidentalen Kapitalismus), verfährt jedoch die Soziologie immer noch in einer doppelten Hinsicht generalisierend: Erstens sind die von ihr zu untersuchenden gesellschaftlichen Determinanten per definitionem allgemein im Sinne von intersubjektiv gültig bzw. wirksam. Zweitens verwendet die Soziologie in Gestalt der Idealtypen ein begriffliches Instrumentarium zur Kennzeichnung der angenommenen Bedingungen, das, wie oben erörtert, von sich her auf die verschiedenen Grade der Generalisierbarkeit (oder besser: Vergleichbarkeit) verweist. Bereits ein solches theoretisches Minimal-Interesse unterscheidet die Soziologie prinzipiell eindeutig von der Historie.393 Ebenso prinzipiell jedoch bleibt sie auch bei höheren Graden 95
der Reichweite ihrer Konzepte und Hypothesen an die historische Perspektive gebunden.394 2.4.6
Kampf als anthropologische Konstante ?
Der historischen Intention der Weberschen Soziologie stehen - gemäß der oben entwickelten Interpretation - weder der Webersche »Individualismus« oder »Rationalismus« im allgemeinen, noch die konstitutive Rolle des Begriffs der Chance im besonderen entgegen. Tatsächlich schwer zu vereinbaren ist diese dagegen mit einem unvermittelten Rekurs auf bestimmte anthropologische Annahmen, welcher bei Max Weber (keineswegs beiläufig) stattfindet. Gemeint sind näherhin Annahmen über einen fundamentalen, der Natur des Menschen zugeschriebenen Willen zur Macht und über die daraus folgende Universalität des zwischenmenschlichen Kampfes. Weber behandelt die Kategorie des »Kampfes« in einem eigenen Paragraphen (§ 8) der Grundbegriffe. Allerdings unterscheidet er hier ausdrücklich zwischen verschiedenen Formen des Kampfes als »sozialer Beziehung« und dem »ohne sinnhafte Kampfabsicht gegeneinander stattfindenden (latenten) Existenzkampf menschlicher Individuen oder Typen um Lebens- oder Überlebenschancen«.395 Im letzteren, nicht-soziologischen Sinne von (sozialer oder biologischer) »Auslese« gilt ihm der Kampf als tatsächlich (»nach aller bisherigen Erfahrung«) oder gar prinzipiell unaufhebbar.396 Auf die Beanspruchung dieser Annahme im Rahmen der Weberschen Soziologie ist nicht im einzelnen einzugehen. Auch ist nicht ihre Herkunft und nähere Begründung bzw. Motivation bei Weber zu überprüfen.397 Es ist sowohl in genetischer wie in sachlicher Hinsicht einleuchtend, warum sie außer in den ökonomischen Teilen des Weberschen Werks vor allem (aber nicht ausschließlich) in der politischen Soziologie zur Wirksamkeit kommt. Die hier zu vertretende These lautet, daß die Weberschen Argumentationen in demselben Maße, in dem sie zu Erklärungszwecken auf einen natürlichen und »unausschaltbaren«, »ohne sinnhafte Kampfabsicht« ablaufenden Auslesekampf rekurrieren, die durch Weber selbst bestimmte theoretische Ebene der Soziologie verlassen haben. Daß sie deshalb nicht empirisch falsch sein müßten, läßt sich ebensowenig bestreiten wie die Feststellung, daß Weber selbst es gegenüber anderen (nämlich rassenbiologischen) anthropologischen Ansätzen zur Maxime der Soziologie erhoben hat, daß diese ihre eigenen Erklärungsmöglichkeiten zu erschöpfen habe, bevor sie die Pro96
bleme an ungeschichtlich-generalisierende Naturwissenschaften abgebe.398 Ε. Baumgarten hat die These vertreten, daß der Kampf-Paragraph in Wirtschaft und Gesellschaft nicht als »spezielles AufbauElement nur gerade an dieser Stelle« aufzufassen sei, sondern als »Medium . . i n dem alle Verhaltensweisen und Bildungen, die eine moderne Gesellschaft bei der äußeren und inneren Formierung zu einem Staatswesen tragen, eingefangen sind.« 399 Im Zuge einer solchen Deutung gelangt er zu der Feststellung, die Weberschen Grundbegriffe insgesamt »behausten«, in diesem Sinne rückwärts gelesen, das »Herrschaftsinstrumentarium von Staat und Kirche« und dementsprechend sei ein Demagoge als jemand zu definieren, »der sich auf Webers Grundbegriffe vollständig versteht«. 400 An die Baumgartensche Interpretation schließt von Ferber an mit seinem Versuch, die »politische Deformation der theoretischen Grundbegriffe« Webers nachzuweisen.401 Die oben gegebene Deutung der Weberschen Grundanschauung und ihrer bestimmenden Motive steht einer solchen Auffassung offensichtlich entschieden entgegen. Tatsächlich wird diese auch weder durch Baumgarten noch durch von Ferber in der Weise begründet, daß die Grundbegriffe im einzelnen einer entsprechenden UmInterpretation unterzogen würden. Darüberhinaus ist eine solche Auffassung jedoch sehr schwer damit zu vereinbaren, daß erstens die Kategorie des »Kampfes« im Kategorien-Aufsatz noch ganz fehlt, daß zweitens dieselbe auch in den Grundbegriffen eben nicht in irgendeiner Weise als konstitutiv eingeführt wird und daß, drittens, Weber ausdrücklich zwischen sinnhaftem (d. h. sozialem) Konflikt-Handeln einerseits und Auslese-Vorgängen andererseits unterscheidet. Mir scheint aus dieser dreifachen Feststellung gerade zu folgen, daß Weber sich in seiner theoretischen Grundlegung weder durch eine agonistische Persönlichkeitsstruktur noch durch seine Ansicht vom unaufhebbaren Kampf letzter Wertpositionen402 noch schließlich durch konkrete Erfahrungen mit Macht-Politik bestimmen ließ. Eine solche These läßt sich in dieser Apodiktizität nicht einmal für die begrifflichen und theoretischen Setzungen in der politischen Soziologie halten. Die Definition des Staates durch das »Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit« 403 (auf die auch von Ferber wesentlich abstellt) dürfte zwar auf einen persönlichen und gesellschaftlichen Hintergrund der bezeichneten Art zu beziehen sein.404 Doch erfolgt ζ. B. Webers Definition von Herrschaft vermittels des Kriteriums gesellschaftlicher Legitimität aus einer so 97
dezidiert soziologischen Perspektive, daß anthropologisch orientierte Macht-Theoretiker darin zweifellos eine unangebracht historisierende oder gar idealisierende Stellung erkennen müssen. 405 Nicht die begriffliche und theoretische Grundlegung der Soziologie ist nach meiner Ansicht politisch bzw. - in theoretischer Wendung - anthropologisch »deformiert«. Viel eher lassen sich die in Webers empirischen Analysen auftretenden anthropologischen und machtpolitischen Argumentationen als Abweichung von eben dieser Grundlegung und der erwähnten Maxime Webers deuten. Darüberhinaus widersprechen sie gelegentlich (durchaus nicht immer) auch Webers Wertfreiheitspostulat, so vor allem in der viel diskutierten Antrittsrede von 1895. 406 Die Anerkennung des sozialen Auslese-Kampfes als einer unausrottbaren Gegebenheit findet sich, außer in den politischen und wirtschaftspolitischen Analysen, vor allem in den Untersuchungen zur Lage der Landarbeiter und der Arbeiter in der Großindustrie, und zwar teilweise in einer überaus harten Ausdrucksweise. 407 Dennoch läßt sich Weber durch diese anthropologische Grundannahme in aller Regel eben nicht von einer sehr genauen Analyse der historischen (sozio-ökonomischen und kulturellen) Bedingungen der jeweiligen Konflikt-Lagen (unter ausdrücklicher Hervorhebung der genuin soziologischen Perspektive) abhalten. Eine empirisch-soziologische Kritik dieser Annahme wird sich daher der von Weber selbst vorgegebenen theoretischen, methodischen und auch inhaltlichen Mittel bedienen können. Im Anschluß an die Ausführungen über die Provenienz forschungsleitender Wert-Beziehungen wird man sagen müssen, daß Weber sich bei seinen begrifflich-theoretischen Setzungen keineswegs vordringlich durch seine persönlichen und Klassen-Wertgesichtspunkte hat bestimmen lassen. Die oben gegebene Interpretation speziell der Grundbegriffe versucht zu zeigen, daß der Webersche Ansatz Kriterien entspricht, welche eine - tendenziell - allgemeine »Kulturbedeutung« beanspruchen könne. Je nachdrücklicher gerade angesichts der Auslesekampf-These Max Weber als hervorragender bürgerlicher Ideologe eingeordnet und abgetan wird, desto erstaunlicher wird es, daß die Soziologie Webers im grundsätzlichen und im einzelnen die entschiedensten kritischen Möglichkeiten gegenüber einer derartigen Position entwickelt.
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2.5
Bemerkungen zn Webers Empirie
Max Weber muß, wie F. Jonas feststellt,408 als der einzige deutsche Soziologe seiner Zeit gelten, der entschieden für die Notwendigkeit einer wechselseitigen Vermittlung von Theorie und Empirie eintrat. Überdies stellt Webers eigenes Werk das Wechselspiel von theoretischer (und wissenschaftstheoretischer) Reflexion und empirischer Forschung exemplarisch dar - auch wenn letztere zu einem großen Teil über die Phase der Voruntersuchung oder gar des Entwurfs nicht hinausgelangte. Zu Webers empirischen Analysen gehören - natürlich - zunächst seine groß angelegten historisch-soziologischen Untersuchungen, insbesondere zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Daß es sich dabei nicht um »rein historische Arbeit(en)« handelt, hebt Weber selbst hervor.409 Der allgemeinste, durch eine entsprechende Wertbeziehung konstituierte theoretisch-soziologische Rahmen ist durch die Frage bestimmt, welches die spezifischen Kennzeichen des »ökonomischen Rationalismus von demjenigen Typus« seien, »der den Okzident als eine Teilerscheinung der dort heimisch gewordenen Art der bürgerlichen Lebensrationalisierung seit dem 16. und 17. Jahrhundert zu beherrschen begann«,410 und aus welchen spezifischen Bedingungen dieser »Rationalismus« zu erklären sei.411 Aus diesem allgemeinsten Forschungs- und Erklärungsinteresse folgt unmittelbar, daß sich Webers Analysen vor allem auf das Bedingungsverhältnis zwischen sozio-ökonomischen Faktoren und religiös-ethischen Deutungssystemen richten. Daß Weber dabei in durchaus extensiver Weise auch von dem sogenannten »materialistischen« Erklärungsansatz Gebrauch macht 412 , ist nach meiner Einschätzung nicht der entscheidende Punkt, auch wenn daran jeder Versuch scheitert, aus der (im übrigen ja ausdrücklichen) Einseitigkeit der Protestantischen Ethik eine generelle antimarxistische theoretische Stellung Webers abzuleiten.413 Wichtiger erscheint mir, daß beide Erklärungsrichtungen sich grundsätzlich im Horizont soziologischer Theorie halten: Sowohl bei den ökonomischen wie bei den religiösen Tatbeständen handelt es sich um gesellschaftliche, d. h. durch sinnbezogene Interaktion konstituierte Wirklichkeit. Näherhin richtet sich das spezielle Erklärungsinteresse der Soziologie auf diese Wirklichkeit gerade insofern, als dieselbe als in diesem Sinne gesellschaftliche verhaltensbestimmend ist.414 Auch bei historisch-soziologischen Untersuchungen sind zur empirischen Überprüfung der aufgestellten Hypothesen statistische 99
Verfahren in aller Regel nicht anzuwenden, weil die erforderlichen Daten nicht (mehr) verfügbar sind. Dies heißt jedoch für Weber nicht, daß hier von empirisch-soziologischen Erklärungen nicht gesprochen werden dürfe. Tatsächlich bewegen sich, wie oben erörtert, spezifisch soziologische Erklärungen auf der Ebene des Sinnverstehens. In der kausalen Deutung menschlichen Verhaltens durch Rückgang auf die es bestimmenden »Sinnzusammenhänge« terminiert soziologische Erkenntnis; zugleich ist eine solche verstehende Erklärung - für Weber - womöglich der einzige Fall, in dem angemessen von kausaler Erklärung zu sprechen ist. Eine Kontrolle derartiger Erklärungen nicht nur durch vergleichende, sondern auch durch statistische Verfahren ist natürlich sehr wünschbar und nach Maßgabe der Möglichkeiten anzustreben. Einen Zuwachs an theoretischer Einsicht vermögen statistische Erhebungen als solche jedoch nicht zu erbringen. Dies ist allerdings beim vergleichenden Verfahren (dessen sich Weber sehr ausdrücklich bedient) der Fall, sofern dieses dazu dient, die Generalisierbarkeit der Erklärungen zu überprüfen bzw. diese auf eine höhere Allgemeinheitsstufe zu heben. Diese theoretische Leistung der Vergleichung folgt jedoch gerade daraus, daß sie sich auf der Ebene des kausalen Sinnverstehens hält. Weber sah offensichtlich keinen prinzipiellen Unterschied zwischen seinen historischen Analysen einerseits und den soziologischen Untersuchungen der zeitgenössischen Gesellschaft andererseits.415 Die thematische Einheit ist durch sein übergreifendes Interesse an der Einsicht in Eigenart, Bedingungen und Zukunftschancen der sozio-ökonomischen und kulturellen Entwicklung im Okzident gegeben.416 Darüberhinaus ist aber auch in theoretischer und methodischer Hinsicht von einer grundsätzlichen Homogenität aller materiellen (empirischen) Arbeiten oder Projekte Webers zu sprechen. Nach dem Gesagten steht dieser Feststellung durchaus nicht entgegen, daß Weber sich (insbesondere im Verein für Sozialpolitik und in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie) für eine möglichst extensive Verwendung quantifizierender und statistischer Verfahren einsetzte417 - dies um so weniger, als er einen selbstkritischen Umgang mit diesen Verfahren forderte.418 Im unmittelbar evidenten Zusammenhang mit Webers (allerdings erst später systematisierten) theoretischen und methodologischen Grundannahmen steht die Bedeutung, welche er der Befragung als soziologischer Forschungstechnik beimaß. Im Rahmen eines 100
theoretischen Ansatzes, welcher soziales Handeln von seiner »Sinnbezogenheit« her zu erklären versucht, muß die direkte oder indirekte, schriftliche oder mündliche Befragung der Akteure hinsichtlich des tatsächlich handlungsleitenden Sinnes als primäres Erhebungsinstrument gelten. Zumindest im Ansatz waren Weber die vielfältigen Schwierigkeiten bewußt, welche einer Aufdeckung der tatsächlichen Sinn-Orientierungen entgegenstehen. Die Folgerung daraus konnte für ihn jedoch nur lauten, daß dieses Forschungsinstrument fortschreitend zu verbessern sei. Nicht zuletzt in diesem Sinne hatte er bestimmenden Anteil an der Vorbereitung der Erhebungen des evangelisch-sozialen Kongresses und des Vereins für Sozialpolitik. 418 Weber lenkte bei den Erörterungen über die Erhebungen, an denen er maßgeblichen Anteil hatte, regelmäßig die Aufmerksamkeit auf die große, in den Fragebögen selbst und/oder in deren Auswertung nicht hinreichend berücksichtigte Bedeutung der sogenannten »psychologischen« Faktoren, d. h. der Einstellungen (Wertorientierungen, Situationsdefinitionen etc.) der jeweils zu untersuchenden Akteure. 420 Tatsächlich ist eine solche Orientierung des Forschungsinteresses ebenso wie die daraus folgende Tendenz auf direkte Befragung für eine empirische Soziologie im Sinne der Grundbegriffe nichts mehr als selbstverständlich. Sofern diese begrifflich-theoretischen Reflexionen auch in ihrer ersten Fassung zu jener Zeit noch nicht vorlagen, ist es nicht erstaunlich, daß Webers Bemerkungen zur spezifisch-soziologischen Perspektive nicht häufiger und - vor allem - nicht systematischer sind. Es erscheint dagegen sicher, daß nicht zuletzt die intensive Beschäftigung mit den mannigfaltigsten Forschungsprojekten Weber 1. überhaupt auf die Notwendigkeit einer systematischen Klärung des soziologischen Erkenntnisinteresses gestoßen 421 und 2. die Art seines Lösungsvorschlags wesentlich bestimmt hat. Es sind die »subjektiven« oder »psychologischen« Faktoren, welche Weber mit der Kategorie der »Sinnbezogenheit« sozialen Handelns faßt und so (unter ausdrücklicher Absetzung von einer psychologischen Perspektive) als zentrales Element soziologischer Erklärung definiert. Wichtige Merkmale solcher »Sinnbezogenheit« finden sich verstreut bereits in diesen forschungsbezogenen Überlegungen. Vor allem wird diese Ebene der Verhaltensbestimmung auf Erziehung (statt auf Vererbung etc.) bezogen 422 , wobei des näheren deren klassenspezifischer Charakter hervorgehoben wird.423 Es wäre sicherlich wenig sinnvoll, Mutmaßungen darüber anzu101
stellen, wie systematisch und entschieden Weber, nachdem er sich über das genuin soziologische Forschungsinteresse Klarheit verschafft hatte, dieses Interesse zum Leitfaden späterer Forschungsprojekte gewählt hätte.424 Möglich und im vorliegenden Zusammenhang auch hinreichend ist dagegen die Feststellung, daß dieser begrifflich-theoretische Systematisierungsversuch nicht nur mit seinen historisch-soziologischen Arbeiten, sondern - grundsätzlich auch mit seinen durchgeführten oder projektierten Analysen zeitgenössischer gesellschaftlicher Tatbestände korrespondiert. Sofern Weber bei seinen empirischen Analysen bereits dezidiert und explizit als Soziologe zu argumentieren beansprucht, bewegt er sich auf der Erklärungsebene, welche er später als die einer spezialwissenschaftlichen, historischen und empirischen Soziologie ausdrücklich bestimmte und entwickelte. Das Urteil, Webers statistisch-empirische Arbeiten und Projekte seien gekennzeichnet durch eine »Ambivalenz« von »quantitativem Ansatz« einerseits und historischer (idealtypischer) Begriffs- und Theoriebildung andererseits,425 ließe sich nur halten, wenn das von Weber selbst intendierte Zusammenspiel von soziologischer Theorie und Empirie als Fiktion erwiesen wäre.
Überleitung zum folgenden Abschnitt Im Vorangehenden wurde versucht, eine möglichst systematische Explikation der Weberschen Grundlegung der Soziologie zu geben. Im nächsten Abschnitt sollen im Lichte dieser theoretischen und wissenschaftstheoretischen Überlegungen die spezifischen Voraussetzungen von Webers Religionssoziologie geklärt werden. Zu zeigen ist, daß sich Webers Auffassung von einer historischen, d. h. im lebensweltlichen Erfahrungs- und Handlungskontext fundierten Soziologie auch in seiner eigenen Durchführung bewährt.
102
3.
Die Religionssoziologie als Paradigma
3.1
Sinn und Abgrenzung der Erörterung
Unter den Interpreten Max Webers herrscht weitestgehende Übereinstimmung darüber, daß der Religionssoziologie im Gesamtentwurf von dessen soziologischem Werk eine Schlüsselbedeutung zukomme. R. Bendix versteht gar die übrige Soziologie Webers als »Fortsetzung der Religionssoziologie«.426 Des öfteren wurde auch bemerkt, daß darin eine zweifellos nicht zufällige Parallele zur Durkheimschen (und evtl. auch Paretoschen) Soziologie liege.427 Für unser Thema sind allerdings gerade die für Weber spezifischen Voraussetzungen dieser Priorität der Religionssoziologie wichtig. Webers >soziologische< Erstlingsschrift über die Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus ist es, die - nicht nur zu seinen Lebzeiten - den Ruhm seiner Soziologie und damit auch das Bewußtsein der Priorität der Religionssoziologie begründete. Trotz der zweifellos zentralen Bedeutung dieser Untersuchung reicht die Beschränkung auf sie nicht zu einer angemessenen Beurteilung der Weberschen Religionssoziologie selbst und ihrer Bedeutung für sein soziologisches Gesamtwerk aus. In angemessener Weise aufschließend ist die Protestantische Ethik für das Ganze des Weberschen Werks erst, wenn sie in den Prozeß der Entwicklung dieses Werks zurückgenommen wird. Die religionssoziologische Fragestellung Webers, um welche sein Gesamtwerk zentriert ist, gründet ihrerseits in konkreten vorwissenschaftlichen (»lebensweltlichen«) Erfahrungen. Die Bedeutung seiner prinzipiellen Reflexionen über die Voraussetzungen und Möglichkeiten empirischer Kultur- und Sozialwissenschaft liegt in diesem Zusammenhang darin, eine solche Fundierung zu rechtfertigen, ja: als notwendig zu erweisen. Nun tritt in der Weber-Literatur, gerade wenn der Vorrang der religionssoziologischen Forschungen bei Max Weber bemerkt wird, auch mit Notwendigkeit die Frage nach Webers persönlichem Verhältnis zur Religion auf. Diese Frage, wie auch die Folge-Frage nach der Bedeutung dieses Verhältnisses für die Religionssoziologie, wird in ganz kontroverser Weise beantwortet. Diese Widersprüchlichkeit in den Auffassungen scheint mir wesentlich in einer unangemessenen Fragestellung begründet. Gefragt wird nämlich gemeinhin nach der Religiosität (oder noch unmittelbarer ausgedrückt: nach der persönlichen Frömmigkeit) Webers.428 Das Spektrum der 103
Annahmen reicht hier von der Feststellung tiefster und genuiner Religiosität 429 bis zur Behauptung entschiedener Glaubenslosigkeit.430 Bei vielen Autoren wird das Problem so gelöst, daß Max Weber eine »säkularisierte« oder Quasi-Religiosität (meist calvinistischer 431 aber auch gelegentlich lutherischer 432 Provenienz) oder auch eine »negative Theologie« 433 zugeschrieben wird. Die Absicht des folgenden Abschnitts ist nicht, Art und Intensität der Religiosität Webers (in welchem Sinne auch immer) aufzuklären. Mir scheint eine solche Aufgabe nicht nur kaum erfüllbar, sondern sachlich wenig sinnvoll, zumal das vorliegende Material nur sehr allgemeine Auskünfte darüber enthält. Gerade dieser Umstand mag erklären, daß die Ansichten über diesen Punkt so kontrovers sind. Eines steht allerdings ohne jeden Zweifel fest (und ist auch von Interesse für das Folgende): Als »glaubenslos« oder atheistisch kann Max Weber nicht gelten. Dem widersprechen zunächst einige ausdrückliche Feststellungen Webers. Er nannte sich selbst zwar »religiös unmusikalisch« aber »weder antireligiös noch irreligiös«.434 Gelegentlich bekannte er, um ein persönliches Verhältnis zu Gott bemüht zu sein 435 und fand in sich zumindest die Möglichkeit mystischer Religiosität angelegt.436 Für das Folgende sind diese Aussagen insofern bedeutsam, als sie unzweideutig dokumentieren, daß Max Weber zur inneren Möglichkeit religiöser Existenz und zur »echten Sinnhaftigkeit des Religiösen« 437 eine lebendige Beziehung besaß. Dies ist die Bedingung für seine »dauernde Auseinandersetzung mit dem Religiösen«, in der Marianne Weber die mütterliche Religiosität verwandelt in ihm fortleben sah.438 Allein diese Anerkennung der begründeten Möglichkeit genuin religiöser Existenz (und seine dadurch motivierte Reflexion auf die Bedingungen ihrer Realisierung in der modernen Welt) scheint mir für die Klärung der Voraussetzungen der Religionssoziologie Webers wichtig zu sein. Gemeinhin wird mit der Frage nach der Weberschen Religiosität das Problem auf die Frage verkürzt, ob persönliche Werturteile die Resultate der Weberschen Forschungen beeinflußt hätten. Indem man diese Frage durchaus zu Recht grundsätzlich verneint (was immer man als Webers persönliche Stellung annimmt), glaubt man sich ohne weiteres den sachlichen Problemen der Weberschen Religionssoziologie überlassen zu können. Nach meiner Ansicht läßt sich eine adäquatere Fragestellung gewinnen, wenn man sich von Webers eigenen Reflexionen über die Voraussetzungen kulturwissenschaftlicher Forschung leiten läßt und sich dabei nicht auf die
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Unterscheidung von Tatsachen- und Wert-Urteilen beschränkt, in welcher sich für Weber selbst die wissenschaftstheoretische Problematik durchaus nicht erschöpft. Es ist erstaunlich genug, daß, soweit ich sehe, noch kein systematischer Versuch gemacht worden ist, Webers eigene inhaltliche wissenschaftliche Produktion im Lichte dieser Reflexionen zu untersuchen. Natürlich finden sich mannigfache Einzelbemerkungen zu diesem Problem bei verschiedenen Autoren,439 aber hier wäre eine sehr grundsätzliche Untersuchung geboten. Das Fehlen eines solchen Vergleichs des Weberschen Werks mit seinen eigenen Maximen ist um so schwerwiegender, als Weber seine wissenschaftstheoretischen und methodologischen Arbeiten nicht als Selbstzweck betrieb, sondern zum Zweck der Selbsterhellung im Zuge seiner historisch-soziologischen Forschungen. Gefragt wird im folgenden nach der Art und der Entfaltung der spezifischen »Wertgesichtspunkte«, welche von der vorwissenschaftlichen Erfahrung her die »Formung und Begrenzung« des religionssoziologischen Gegenstandes bei Max Weber bestimmen. Daß der Religionssoziologie Max Webers sehr bestimmte Erfahrungen mit der Religion und der modernen Welt (und deren Verhältnis zueinander) zugrundeliegen, wurde schon oft bemerkt. Im folgenden werden die Hauptzüge dieser Erfahrungen (die sich eben wesentlich im Medium der theoretisch-distanzierten »Sinn-Diskussion« vollzogen) beschrieben. Sodann wird verfolgt, wie der sich darin aufbauende Sinn-Horizont die religionssoziologischen Forschungen Webers bestimmt. Dabei müssen wir uns allerdings darauf beschränken, das Leitthema der Religionssoziologie Webers: Religion und Rationalität, in dieser Hinsicht in den Blick zu nehmen, und selbst hier wird die Problemstellung eher umrißhaft exponiert, als im einzelnen durchgeführt.440 3.2
Webers Verhältnis zur Religion in seiner Entwicklung
Die folgende Darstellung des (vorwissenschaftlichen) Verhältnisses Max Webers zur Religion hat drei Abschnitte. Der erste behandelt die Entwicklung in der Jugend einschließlich der Studienjahre, der zweite den Charakter der Mitarbeit Webers an den »evangelischsozialen« Bestrebungen und der dritte die endgültige Stellung Webers.441
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3.2.1
Frühe
Grundlegung
Vorbemerkung: Zum Folgenden könnte der Einwand gemacht werden, daß hier Äußerungen des jungen Weber zu viel sachliches Gewicht beigemessen werde. Dazu ist zu sagen, daß schon viele Bemerkungen des Fünfzehnjährigen ein solches Maß an intellektueller Durchdringung der Probleme verraten, daß vielmehr eine bloß biographische Berücksichtigung unangemessen wäre. Es ist der in Webers Entwicklung fortwirkende sachliche Gehalt, der ihre Behandlung im vorliegenden Zusammenhang erfordert. Daß Max Weber schon sehr früh (nämlich als 24jähriger) eine im Grundsätzlichen »fertige« und gefestigte Ausprägung der intellektuellen und charakterlichen Kräfte bewiesen habe, hebt Marianne Weber hervor. 442 Für E. Baumgarten »drängt sich die Überzeugung auf«, daß die leitenden Gesichtspunkte der Weberschen »religionsanalytischen Studien« in »mindestens einigen entscheidenden Teilstükken sogar weit früher geformt waren«. 443 Damit begründet Baumgarten seinerseits den Abdruck großer Passagen aus Webers Jugendbriefen. Über seinen Vater, den Stadtrat M. Weber, Abgeordneter der national-liberalen Partei im Landtag und zeitweilig Mitglied des Reichstages, stand Max Weber vor frühester Jugend an in unmittelbarem, lebendigem Kontakt mit der praktischen Politik. Im Hause des Vaters verkehrten Politiker wie R. v. Bennigsen, J. v. Miquel, F. Kapp, A. Hobrecht (zeitweise preußischer Finanzminister) und L. Aegidy; außerdem (teilweise stark politisierende) Historiker wie H. von Sybel, H. von Treitschke, Dilthey und Mommsen. Diese frühe und intensive Begegnung mit den politischen Kämpfen der Zeit entband in Max Weber die Auseinandersetzung mit den - bald ins Grundsätzliche gewendeten - Problemen der Politik, welche ihn bis zu seinem Tode nicht mehr losließ.444 Man kann nun sagen, daß eine ähnliche Rolle, wie sie der Vater bei der Einführung Max Webers in die politische Problematik hatte, die Mutter hinsichtlich der Fragen der Religion besaß. 445 (Innerhalb der Familie Baumgarten gab es eine entsprechende Rollenverteilung zwischen Hermann Baumgarten, Max Weber seniors Freund, und dessen Frau, der Schwester von Max Webers Mutter - deren Erbe wiederum der Sohn Otto Baumgarten auch an Max Weber vermittelte.) Allerdings war die Art des Einflusses hier eine typisch andere: In politischen Fragen war die national-liberale Haltung des Vaters und seiner politischen Freunde immerhin auch der Ausgangspunkt für die eigenen Stel106
lungnahmen Max Webers gewesen.446 Die Einwirkung der Mutter (und der vor allem durch sie vermittelten religiösen Tradition ihrer Familie) in religiösen Dingen war dagegen schon sehr frühzeitig von einer viel indirekteren Art. Sie besaß mehr den Charakter eines (allerdings zwingenden und dauernden) Anstoßes zur selbständigen Bewältigung der Probleme.447 Max Webers Mutter war, wie alle bezeugen, welche mit ihr zusammenkamen, von einer genuinen, unmittelbaren Religiosität. Diese Religiosität war jedoch betont undogmatisch, anti-institutionell448 und (ganz übereinstimmend damit) ohne Verständnis für rituellliturgische Manifestationsformen. Positiv war sie gekennzeichnet durch eine starke Besinnung auf die sozial-ethischen Gehalte des biblischen Christentums und das Bemühen, ihnen unter den gegebenen politisch-sozialen Verhältnissen zur Anerkennung und Wirksamkeit zu verhelfen. Vor allem dies letzte Moment trennte sie deutlich von dem - im Zeichen der Allianz von »Thron und Altar« im preußischen protestantischen Bürgertum vorherrschenden staatsfrommen Konservatismus. Es ist aber, wie angedeutet, nicht diese Religiosität selbst, welche die Mutter (sowie deren Schwester und der Vetter Otto) ihrem Sohn vermittelte. Helene Weber selbst glaubte zu ihrer großen Bekümmernis feststellen zu müssen, daß trotz ihrer Bemühungen bereits dem Fünfzehnjährigen die »tiefere religiöse Bewegtheit« fehle.449 Unmittelbar gelebte Existenzform vermochte eine solche Religiosität nicht zu werden bei einem Menschen, der sich schon als Zwölfjähriger genötigt sieht, alle Erfahrungen in objektiver und theoretischer Einstellung zu durchdringen, d. h.: bestimmte eigene oder an Fremden beobachtete Erfahrungs- und Deutungsweisen alsbald als mögliche unter anderen anzusehen und einer vergleichenden Betrachtung zu unterziehen. Mit Webers eigenen späteren Kategorien ist dieser Vorgang zu beschreiben als Ubergang aus der praktisch-wertenden Stellung zur Wertinterpretation, wobei aber die (theoretische) Wertbeziehung als gegenstandsgebend vorausgesetzt ist. Die Religiosität der Mutter (wie die der anderen religiösen Existenzen im familiären Umkreis, aber auch unter den begegnenden Geistlichen) versicherte den jungen Weber der Erfahrung einer möglichen religiösen Sinngebung des Daseins derart, daß die theoretische Umwandlung in eine Möglichkeit doch deren Ernst, und d. h. genauer: deren wissenschaftlich nicht in Frage zu stellender Legitimität keinen Eintrag zu tun vermochte. Es ist dies als erstes Ergebnis festzuhalten: Die Weise, in der dem 107
jungen Max Weber gelebte Religiosität entgegentrat, machte es ihm unmöglich zu glauben, man könne diese mit wissenschaftlichen Mitteln auf heterogene (etwa psychische oder soziale) Ursachen hin auflösen. Auch wenn für Max Weber selbst das theoretisch-objektivierende Weltverhältnis zumindest notwendige Durchgangsstufe war, so meint er doch nie auf diese Weise das Eigenrecht der so analysierten Möglichkeiten grundsätzlich beeinträchtigen zu können. 450 Es ist für den Weberschen Begriff von Religionssoziologie von größter Tragweite, daß er in dieser Weise mit der lebensbestimmenden Macht religiöser Orientierungen konfrontiert wurde. Aus dem Zusammenstoß dieser Erfahrung mit dem an sich selbst erfahrenen zwingenden Bedürfnis zur objektiven Durchdringung entwickelte sich konsequent die methodologische Position des Soziologen. Das Verhältnis des jungen Max Weber zur Religion, und d. h.: ganz vorwiegend zum Protestantismus 451 , war, soweit überhaupt darüber Nachrichten vorliegen, derart das einer dauernden, obzwar nicht immer gleich intensiven, »Sinninterpretation« in theoretischer Einstellung und bei weitestgehender Urteilsenthaltung. Wie dies Verhältnis sein entscheidendes Motiv ohne Zweifel in der Erfahrung lebendiger Religiosität bei sehr nahestehenden Menschen besaß, so eine Reihe von Leithinsichten, welche teils ebenfalls aus dieser Lebenserfahrung, teils aber auch aus der schon sehr frühzeitig ganz eigenständigen Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Theologie hervorgingen. Die Lektüre gerade spezifisch theologischer Werke, wie auch die lebendige Diskussion theologischer Probleme, 452 war zeitweise offensichtlich sehr intensiv und erreichte einen Höhepunkt während des mit Otto Baumgarten in Heidelberg verbrachten Semesters (Sommersemester 1882). Max Weber selbst bemerkt in einem Brief aus jener Zeit nach Hause, daß er »ziemlich tief in die Theologie hineingeraten« sei. 453 In einem späteren Brief finden sich durchaus eigenständige historisch-kritische Überlegungen Webers zur Johannes-Apokalypse. 454 Als Lektüre werden neben dem unvermeidlichen (von Max Weber übrigens als überzogen kritisierten 455 ) Leben Jesu von D. F. Strauß ausdrücklich genannt: Schleiermacher (ohne großen Eindruck), der liberale Pfleiderer (Paulinismus), später (1883) die Dogmatik von Biedermann 456 und von Aegidy. 457 Was die erbauliche Literatur betrifft, so macht sich Max Weber (hier wohl unter direktem Einfluß der Mutter) mit Schriften der nominell unitarischen, jedoch undogmatischen, stark ethisch orientierten Parker und Channing, sowie des Straß-
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burger Pfarrers Riffle bekannt. Das vornehmlich theoretische Verhältnis Webers zur Religion wird bestätigt, wenn dieser nach der Lektüre Channings hervorhebt: »Seit verschiedenen Jahren die ich zurückdenken kann, ist es das erstemal, daß etwas Religiöses für mich ein mehr als objektives Interesse gewonnen hat.« 459 Dazu bemerkt er, daß die Channingsche Auffassung des Wesens der Religion wohl kaum christlich zu nennen sei.460 Ein solches Urteil ist allerdings auch auf dem Boden eines »bloß objektiven Interesses« möglich. Es hält sich im Rahmen der rein logischen Explikation eines vorgegebenen Sinnzusammenhangs. Dasselbe gilt für eine Abgrenzung des als Christentum Vertretbaren von dem »extremen Christianismus«, den der junge Weber bei Laura Baumgarten erlebt.461 Was Max Weber hier nicht mehr Christentum nennen will, ist eine spiritualistische Vereinzelung des religiösen Subjekts, welche den Anderen in ethischen Dingen höchst intolerant an astrakten Prinzipien mißt und aburteilt.462 Im Baumgartenschen Haus findet Max Weber überhaupt eine religiös-sittliche Einstellung vorherrschend, die sich ihm später zum Idealtyp einer konsequenten »Gesinnungsethik« kristallisiert.463 In einem Brief nach Hause bezeichnet er als ihren Hauptzug das »Abwenden von der Wirklichkeit und die Verachtung der Rücksichtnahme darauf«.464 Ein fast unheimliches Beispiel eines solchen religiös begründeten ethischen Rigorismus gibt der Vetter Otto Baumgarten: Er lehnt eine ledige Amme zur Rettung des eigenen Kindes ab, weil diese Rettung die »Ausnutzung einer unehelichen Geburt« darstelle und damit mit einer Sünde erkauft wäre.465 Max Weber kontrastiert mit einer solchen Haltung die in der eigenen Familie herrschende Lebensauffassung; 466 sich selbst empfindet er solchen Übersteigerungen gegenüber gar als »Weltmenschen«. Fragen wir nun, worin Max Weber, wenn er derartige Abgrenzungen vornimmt, zu jener Zeit positiv den Kern der christlichen Religion sah. Hier stehen nun im wesentlichen zwei Urteile Max Webers nebeneinander, welche von ihm nicht in Einklang gebracht werden und ihm später offenbar als unvereinbare Polarisierungen erscheinen (von denen aber letztlich nur die eine wirklich legitim, d. h. rational im Sinne der Folgerichtigkeit ist). Diese beiden Urteile über den »zentralen Sinn« des Christentums sind etwa folgendermaßen zu formulieren: a) Christliche, näherhin protestantische Religion ist ein wesentlich inneres Geschehen: fides qua, nicht fides quae creditur. Der Mensch vermag durch sittliche oder religiöskultische Werke das Erlösungsgeschehen nicht selbst zu betreiben; 109
anstaltsmäßige (d. h. kirchliche) Unternehmungen zu diesem Zweck sind das Extrem einer falschen Veräußerlichung und Kollektivierung des religiösen Verhaltens, b) Das Christentum, näherhin der Protestantismus, ist eine der wichtigsten, vielleicht die kulturformende Macht des Abendlandes, insbesondere der Neuzeit. In der heilsamen Durchdringung der Welt liegt sein eigentlicher Sinn beschlossen. Die erste Position, welche man am kürzesten durch die Priorität der religiösen Innerlichkeit vor allen objektiv vorgegebenen Glaubenssätzen und -Vollzügen definiert sehen kann, wird von Max Weber kaum ausdrücklich herausgestellt. Sie ist jedoch der Grundzug der Religiosität, welche er anschaulich an seiner Mutter und den Baumgartschen Verwandten erfuhr, und als deren pervertierte Form er den »extremen Christianismus« der Laura Baumgarten verstand. Als »Inbegriff des Christentums« (und, wie Max Weber ergänzt, der »rechten Toleranz«) in diesem Sinne bezeichnet M a x Weber anläßlich des Todes seiner Großmutter das Bibelwort: »Dir, deinem Herzen geschehe, wie es geglaubt«. 467 Dieser auf die einzelne gläubige Seele konzentrierten Auffassung des Christentums korrespondiert - jedenfalls in der Gestalt, die Max Weber vor Augen stand - eine Radikalisierung der sittlichen Ansprüche an das Subjekt, Ansprüche, die über das von Weber selbst an dieser Stelle bezeichnete, aber bloß negative Merkmal der »rechten Toleranz« entschieden hinausgehen: Mit der Betonung der persönlichen Verantwortlichkeit in religiösen Dingen geht einher die Freisetzung der ethischen Selbstbesinnung zunächst im Geiste der religiösen Erfahrung. Die Entdogmatisierung und Entkirchlichung des christlichen Glaubens führt eine derartige Entfaltung der radikalen ethischen Reflexion mit sich, weil sie, wie man formelhaft sagen kann, die unmittelbare und selbstverständliche Identifizierung von Glauben und Moralität, oder von transzendierendem und innerweltlichem Wertsystem, auflöst. Werden alle durch Offenbarung oder Lehrtradition vorgegebenen Glaubensinhalte dabei um willen einer ursprünglichen Erfahrung des Subjekts abgewiesen, so liegt sogar der Umschlag der religiösen in eine primär ethische Einstellung nahe, wenn anders hier sittliches Handeln dadurch definiert gilt, daß es ein Handeln aus dem Grunde je individueller, unaustauschbarer Verantwortlichkeit ist. Einer solchen Aufhebung des entdogmatisierten und verinnerlichten Christentums in eine als Christus-Nachfolge gedeutete Sittlichkeit kommt der genannte Channing sehr nahe. So gilt ihm »Gott, wie er durch Christus offenbart 110
ist«, als »ein anderer Name für intellektuelle und moralische Vortrefflichkeit«.468 Wenn Max Weber seinerseits Channing, wie gesagt, eine »wohl kaum christlich zu nennende Auffassung des Wesens der Religion« zuschreibt, dann hat dies Urteil wesentlich in dieser ethisierenden Tendenz Channings seinen Grund. Diese erste in den Jugendbriefen Webers vorkommende Auffassung vom »Inbegriff« des Christentums findet sich später entfaltet und in idealtypisch reiner Form dort, wo Max Weber den prinzipiell »akosmistischen« Zug christlicher Religion feststellt. Als »Charta« gleichsam dieses Begriffs vom Christentum (der dann Max Weber als der einzig konsequente gilt) versteht er die Seligpreisungen der Bergpredigt (s. unten S. 127). In seiner Jugend bemerkt er zwar auch die faktische Möglichkeit eines Risses zwischen religiösen Überzeugungen und dem Handeln in der Welt; des näheren scheint ihm ein solcher unvermeidlich bei der Channingschen Ableitung des Pazifismus aus dem christlichen Glauben.469 Doch gelten ihm solche Folgerungen in dieser Zeit als Grenzüberschreitung der christlichen Religion, nicht als nur konsequente Erfüllung ihres eigentlichen Sinns (der sich, wie gesagt, in der Innerlichkeit des Gläubigen realisieren soll). Er spricht gegenüber Channings pazifistischen Tendenzen von »angeblichen« Forderungen des Christentums. Jedoch glaubt der junge Max Weber, indem er diese verinnerlichte Auffassung der christlichen Religiosität im Blick hat, an die Möglichkeit eines prinzipiell spannungslosen Bestehenkönnens derselben neben den weltlichen Anforderungen an den Menschen. Andererseits erscheint in seinen frühen Bemerkungen eine Anschauung vom Christentum, bei der das Verhältnis von Religion und Gesamtkultur in ein sehr anderes Licht tritt: Weder die reinliche Scheidung beider Sphären noch eine Realisierung der religiösen Prinzipien im Sinne Channings erscheint als adäquate (d. h. in der Konsequenz der leitenden Werte liegende) Manifestationsweise des Christentums. Als Zwanzigjähriger gibt Max Weber (als »Bruder und Christ«) seinem Bruder Alfred zu dessen Konfirmation die folgende Interpretation der »Bedeutung« der christlichen Religion, um dem Bruder die Pflichten eines »christlichen Gemeindemitglieds« vorzustellen: Die christliche Religion, so sagt Max Weber hier, ist »eine der Hauptgrundlagen, auf denen alles Große, was in dieser Zeit (den »letzten zweitausend Jahren«, J. W.) geschaffen iet; die Staaten, welche entstanden, alle großen Taten, welche dieselben geleistet, die großen Gesetze und Ordnungen, welche sie aufgezeichnet haben, ja auch die Wissenschaft und 111
alle großen Gedanken des Menschengeschlechts haben sich hauptsächlich unter dem Einfluß des Christentums entwickelt. Die Gedanken und die Herzen der Menschen sind nie, seit die Welt denken kann, vor etwas so erfüllt und bewegt worden, wie von den Ideen des christlichen Glaubens und der christlichen Menschenliebe.« 470 Der Blick in die Geschichte lehre, daß »alles, was wir unter dem Namen >unserer Kultur< zusammenfassen, in erster Linie auf dem Christentum beruht, daß heute in den Einrichtungen und Ordnungen der ganzen menschlichen Gesellschaft, in ihren Denk- und Handlungsweisen, alles mit ihm zusammen und von ihm abhängt, so sehr sogar, daß wir selbst es gar nicht immer merken und gar nicht mehr bewußt sind, daß wir bei allem, was wir tun und denken, unter dem Einfluß der christlichen Religion stehen«.471 In die durch diese gemeinsame Wurzel verbundene »große Gemeinschaft des Menschengeschlechts« trete der Bruder mit seiner Konfirmation nun ein; daraus folge für ihn die Pflicht, »an der Entwicklung der großen christlichen Kultur und damit der ganzen Menschheit« mitzuarbeiten.472 Die bewußte »Weiterentwicklung der Welt« sei »die Frucht wahren Christentums«.473 Etwa ein Jahr später kommt Max Weber, wieder in einem Brief an Alfred, im Zusammenhang einer Erörterung der Straußschen Kritik der bisherigen theologischen Richtungen noch einmal auf die Bedeutung des Christentums in diesem Sinne zu sprechen. Für entschieden gilt ihm, daß die religiösen Dinge mit ihrer Unbegreiflichkeit noch nicht »abgetan« seien.474 Die Frage sei dann vielmehr: »Wie stelle ich mich zu diesem Unbegreiflichen? Welchen Wert hat es für die Menschen in der Weltgeschichte gehabt und welchen hat es für mich? Oder hat es vielleicht für mich überhaupt keine Bedeutung, eben seiner Unbegreiflichkeit wegen?« Dies, so beantwortet der junge Max Weber selbst die letzte Frage, »dürfte . . . unter keinen Umständen zu bejahen« sein, auch wenn das Problem der Bedeutung durchaus »nicht so leicht« zu erledigen sei.475 In diesen Äußerungen Max Webers wird das Christentum wesentlich von seiner »Kulturbedeutung« (ein wissenschafts-theoretischer Schlüsselbegriff des Soziologen) her aufgefaßt. Dabei geht es nicht darum festzustellen, daß das Christentum auch gewichtige Einwirkungen auf die Gestaltung der abendländischen Kultur gezeitigt habe. Vielmehr ist es an diesen Stellen ganz offenbar Webers Meinung, daß man, sofern man sich auf der Höhe des wissenschaftlichen Bewußtseins (gerade auch in der Theologie selbst) zu befinden beanspruche, überhaupt nur von der »Kultur112
bedeutung« her einen vertretbaren Begriff vom Christentum gewinnen könne. Der Sinn der christlichen Religion erscheint hier als weitgehend identisch in ihrer historischen und kulturellen Bedeutung. Ganz in diesem Sinne sagt Max Weber auch, daß mit der Konfirmation (hier des jüngsten Bruders Karl), das aber heißt, mit dem Eintritt in die Rolle des erwachsenen verantwortlichen Christen, die »praktische Bedeutung des Christentums« der Hauptgesichtspunkt werde. 476 Das Bemerkenswerteste an diesen Äußerungen ist offenbar, daß Max Weber eine Wirksamkeit des Christentums nicht zuletzt in der politischen Sphäre annimmt (und auch postuliert). Es ist dies noch erstaunlicher als seine Annahme, daß sich die neuzeitlichen Wissenschaften nicht ohne das Christentum hätten entwickeln und durchsetzen können. Allerdings äußert sich Max Weber in diesem Zusammenhang überhaupt nicht dazu, wie denn und in welcher Hinsicht die christliche Religion einen solchen bestimmenden Einfluß ausgeübt haben soll. Es ist offensichtlich, daß es eben diese Frage der »Kulturbedeutung« der christlichen Religion ist, welche später den Religionssoziologen Max Weber vordringlich beschäftigt. Die Untersuchung über die protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus vor allem ist als ein Schritt in der Auflösung des in der berichteten Weise in der Jugend gestellten Problems anzusehen. Allerdings auch nur als ein erster Schritt, selbst wenn man einzelne Äußerungen Max Webers (in dieser Schrift und an anderer Stelle), Wissenschaft und politische Haupttendenzen der Neuzeit betreffend, berücksichtigt. Die Untersuchungen Max Webers beschränken sich im Kern auf die Auswirkungen, welche eine bestimmte, nicht repräsentative Ausformung protestantischer Religiosität und Sittlichkeit in einer bestimmten geschichtlichen Epoche und in bestimmten Ländern auf die vorherrschende neuzeitliche Wirtschaftsgesinnung hatte. Demgegenüber steht dem jungen Max Weber eine viel umfassendere »Kulturbedeutung« des Christentums vor Augen. Im vorliegenden Zusammenhang geht es um den Begriff von der christlichen Religion, welcher derart vordringlich an deren Kulturbedeutung orientiert ist. Wie sind dabei die »Ideen des christlichen Glaubens und der christlichen Menschenliebe« aufgefaßt? Weber selbst gibt, wie gesagt, keine näheren Erläuterungen dazu, und es wäre müßig, hier ins Blaue hinein Vermutungen anzustellen. Soviel ist jedoch unbezweifelbar: Der hier, wie unbestimmt auch immer, 113
leitende Begriff von der christlichen Religion impliziert ein prinzipiell anderes Verständnis des Verhältnisses von eigentlich religiöser und »innerweltlicher« Sphäre als der oben festgestellte »subjektivistische« Begriff; der Versuch, diesen in der alltäglichen Wirklichkeit durchzusetzen wurde von Max Weber ja als »extremer Christianismus« bezeichnet. Tatsächlich wird jetzt die »große christliche Kultur« als die Realisierungsform der Ideen des christlichen Glaubens aufgefaßt. Und diese gegenseitige Durchdringung von Religion und Kultur gilt nicht als historisch und vergangen, sondern gerade als die dem zeitgenössischen Christentum aufgegebene Form der Wirksamkeit. Hier ist auch Webers Stellungnahme zum Kulturkampf interessant: Verwerflich erscheint ihm diese Eindämmung des »Ultramontanismus« nur, sofern sie aus bloß politisch-pragmatischen (Max Weber sagt: »opportunistischen«) Gründen unternommen worden wäre; gerechtfertigt dagegen, wenn Gründe des »Gewissens« (d. h. doch wohl: der Verantwortung gegenüber der »christlichen Kultur«) dahinterstehen. 477 Es ist hier nun nicht im einzelnen Herkunft und Charakter der derart vom jungen Max Weber konzipierten Idee einer »christlichen Kultur« als Hauptsinn des Christentums zu erörtern. Tatsächlich vertritt er damit die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts im preußischen bürgerlichen Protestantismus vorherrschende Auffassung vom Christentum, den sogenannten Kulturprotestantismus (der allerdings ein weites Spektrum von Positionen in sich befaßt). Der Kulturprotestantismus ist als Versuch zu verstehen, dem Christentum eine Funktion zuzuweisen, nachdem insbesondere die historisch-kritische Forschung die Offenbarungsquelle der neutestamentlichen Berichte des übergeschichtlichen (d. h. dogmatischen) Anspruchs entkleidet hatte. Man kann sagen, daß die leitende Absicht des Kulturprotestantismus (der in engster Beziehung zur liberalen Theologie steht) darin liegt, dem durch die historischen Forschungen in seinen Fundamenten erschütterten Christentum einen neuen Boden von seinen kulturellen Auswirkungen (seiner »Kulturfunktion«) her unterzuschieben. Darin liegt begründet, daß es hier kein eigentlich theologisches Lehrgebäude mehr geben kann und andererseits die Neigung groß ist, die kulturellen Errungenschaften des Christentums zu identifizieren mit den Werten des Bildungsbürgertums. Diese Neigung ist deutlich ζ. B. bei Ernst Troeltsch. 478 Dieser sieht die Zukunft des Christentums in einem »philosophisch und wissenschaftlich beeinflußten Humanitätschristentum vom protestantischen Charakter« 479 ; für eine Tren114
nung von Kirche und Staat fehlen nach ihm noch 1909 in Deutschland »irgendwelche ernste Voraussetzungen und Möglichkeiten«.480 Die starke Bindung des Kulturprotestantismus an die bürgerliche Kultur481 erklärt auch, warum die offene Krise der letzteren auch seine Fragwürdigkeit ans Licht brachte. Die Einsicht drang, nur sehr allmählich zwar, durch, daß die Aufhebung (im Hegeischen Sinne von Auflösung und Aufbewahrung) des Christentums in die vom gebildeten und besitzenden Bürgertum gepachtete »christliche Kultur« die Entmachtung der christlichen Religion in den »weiten Schichten des Volkes« definitiv machte. Es ist diese Einsicht, welche vor allem den in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts aufkommenden vielfältigen evangelisch-sozialen Bestrebungen (hier im nicht-terminologischen Sinne verstanden) zugrunde lag. Die Art der Beteiligung Max Webers an diesen Bestrebungen bildet das nächste Hauptthema der vorliegenden Darstellung. Dazu ist zuvor noch einmal auf die Bemerkungen des jungen Max Webers zurückzukommen, von denen diese letzten Überlegungen ausgingen. Es galt in diesen Überlegungen den Horizont wenigstens anzudeuten, in den die Äußerungen des jungen Webers zum kulturellen Auftrag des Christentums am ehesten verweisen. Die Behauptung, der junge Max Weber sei (zeitweilig) ein Anhänger des Kulturprotestantismus gewesen, ginge allerdings entschieden zu weit. Bei der Beurteilung der zitierten Äußerungen muß man davon ausgehen, daß das Verhältnis des jungen Max Weber zur christlichen Religion überhaupt das einer rationalen Erwägung der unter den bestehenden Bedingungen (den theologisch-wissenschaftlichen wie den allgemeinen kulturellen, politischen und gesellschaftlichen) denkbaren und vertretbaren Möglichkeiten christlichen Lebens war. Als unmöglich galten die Formen desselben, welche einer solchen rationalen Besinnung selbst ihr Recht streitig machen, gesicherten Ergebnissen einer solchen (wie sie für Max Weber etwa in der Straußschen Kritik vorliegen) widersprechen oder endlich mit einer rationalen Gestaltung der Welt nicht vereinbar sind. Den verbleibenden Möglichkeiten gegenüber beharrt Max Weber weitgehend in der theoretischen Einstellung, und dies gilt grundsätzlich auch für die kulturprotestantische Auffassung des Christentums. Zwar sind die Äußerungen als praktische Belehrung an den Bruder verfaßt, doch überwiegt in ihnen ganz deutlich die theoretischdistanzierte Erörterung bestimmter Zusammenhänge über Wertung, Bekenntnis oder Ermahnung. Dafür, daß der junge Max 115
Weber hier viel eher eine bestimmte, in jener Zeit in seinem gesellschaftlichen Milieu verbreitete Interpretation des Christentums zur näheren Prüfung vor Augen stellt, als daß er sie schon als Richtschnur des eigenen Handelns verträte, spricht auch folgendes: Er äußert sich derart nur gegenüber dem Bruder (Alfred), will also offenbar diesem, in dessen frühem radikalen Mißtrauen gegenüber dem Christentum, eine immerhin bedenkenswerte Auffassung desselben vorstellen, und er macht keinen Versuch, diese Möglichkeit mit der oben berichteten und in bestimmtem Sinne gegensätzlichen eines innerlichen und persönlichen Glaubens in Verbindung oder gar in Einklang zu bringen. Die in frühester Jugend begonnene Beschäftigung Max Webers mit der Frage nach der möglichen Auffassung und Funktion der christlichen Religion in der modernen Welt setzt sich bis an sein Lebensende fort. Im folgenden ist in dieser Hinsicht zunächst Max Webers Beteiligung an den »evangelisch-sozialen« Bestrebungen am Beginn seiner akademischen Laufbahn in den Blick zu nehmen. Diese Bestrebungen wurden Max Weber zum Anlaß, seine Vorstellungen über die Möglichkeiten des Christentums (als Religion und als gesellschaftlich-kulturelle Macht) zu klären, zu präzisieren, zum Teil auch zu modifizieren. Die Hauptrichtung der Entwicklung der Weberschen Vorstellungen geht dabei deutlich auf eine immer strengere Scheidung von recht verstandener christlicher Religiosität und »Welt«. Die kulturprotestantische Interpretation des Christentums erscheint als in der Gegenwart nicht mehr mit Konsequenz vertretbar. Jeder Versuch, aus christlichen Prinzipien Gesichtspunkte welthaften Handelns abzuleiten, gilt als hoffnungslos, und zwar in demselben Maße, in dem diese Prinzipien adäquat aufgefaßt werden. Channings Pazifismus gilt dann nicht mehr als Mißbrauch des Christentums, sondern als konsequent apolitischchristlich. 3.2.2
Zur Mitwirkung Webers an den evangelisch-sozialen Bestrebungen Einige biographische Daten seien vorausgeschickt: 1889 promoviert Max Weber (bei Goldschmidt in Berlin). Er ist keineswegs entschlossen, die akademische Laufbahn einzuschlagen. Fragwürdig ist ihm, ob diese seinen als stark empfundenen pädagogischen Neigungen 482 Genüge tun wird. Darüberhinaus aber fühlt er ein starkes Bedürfnis, als Jurist praktisch zu wirken. So bewirbt er sich auch 1891 um eine Syndikusstelle bei der Stadt Bremen. Erst als 116
dies fehlschlägt, schließt er seine Habilitation über römische Agrargeschichte ab. Im folgenden Jahr vertritt er neben der intensiven wissenschaftlichen Arbeit (vor allem an der Untersuchung über die Lage der ostelbischen Landarbeiter) her einen Rechtsanwalt beim Berliner Kammergericht. 1889 beteiligt sich Max Weber (fürs erste offenbar noch als blosser Zuhörer) am ersten »evangelisch-sozialen Kongreß« (von A. Stöcker einberufen) und nimmt im Zusammenhang damit Beziehungen auf u. a. zu F. Naumann, P. Göhre und A. von Harnack, alle drei an der Arbeiterfrage interessierte liberale Theologen mit verschiedener und wechselnder Gewichtung des politischen und des theologischen Moments. Seinen Vetter Otto Baumgarten unterstützt Max Weber bei den Vorbereitungsarbeiten für die mit Unterstützung des evangelisch-sozialen Kongresses herausgegebene Schriftenreihe Evangelisch-soziale Zeitfragen. Nach Otto Baumgartens Auskunft 483 hat Max Weber sogar mit ihm zusammen das Programm der Evangelisch-sozialen Zeitfragen entworfen, welches es als »gemeinsame Verpflichtung« bestimmte, »die evangelische Kirche wieder zu machen zu dem Gewissen des evangelischen Volkes gegenüber den wirtschaftlich schwächeren Gliedern der Nation«. Etwa gleichzeitig wird Max Weber Mitarbeiter an der von M. Rade herausgegebenen Christlichen Welt.48* Diese Zeitschrift, ein lehrreicher Spiegel des kirchlichen und theologischen Lebens jener Zeit,485 entstammt dem sogenannten »freien Protestantismus«, der - auf A. Ritschis Theologie zurückgehend auf eine Versöhnung von moderner Kultur, bürgerlicher Bildung und Christentum hinarbeiten, dabei aber im Gegensatz zur liberalen Theologie positives Luthertum und geschichtliches Denken festhalten wollte. Bald nimmt die Erörterung der sozialen Fragen einen wichtigen Platz in ihrem Redaktionsprogramm ein. Webers Beiträge in der CW zu jener Zeit haben insgesamt mit diesen sozialen Fragen zu tun. So ist sein erster Beitrag gleich eine Rechtfertigung Göhres. Der junge Theologe Paul Göhre hatte drei Monate als Fabrikarbeiter gelebt, um die Lage der arbeitenden Bevölkerung aus unmittelbarer Anschauung kennenzulernen. Den Unwillen der offiziellen Kirche über seinen Bericht darüber artikulierte in der CW der Oberkonsistorialrat Cremer. Max Weber rechtfertigt (neben M. Rade selbst) Göhres Intentionen gegenüber dieser Kritik und wendet sich gegen die Haltung der kirchlichen Hierarchie (erst recht gegen die der politischen Machthaber) in diesen Fragen. Es ist nicht leicht, die Absichten der evangelisch-sozialen bzw. 117
christlich-sozialen Bewegung dieser Jahre auf einen Hauptnenner zu bringen. Das einigende Band aller in ihr verbundenen Strömungen läßt sich zwar noch recht eindeutig bezeichnen. Es ist dies das Bestreben, dem beherrschenden Einfluß der Sozialdemokratie in der Arbeiterschaft entgegenzutreten; dies erschien besonders dringend nach der Aufhebung der Sozialistengesetze 1890. Die allgemeine Überzeugung in diesem Kreise war, daß »das unheimliche Anwachsen der Sozialdemokratie . . . den geistigen Umsturz, den Abfall der Massen vom Christentum und ihre Emanzipation von den überkommenen Autoritäten in bedrohliche Nähe rücke.« 486 In der Einschätzung des Gewichts des religiös-missionarischen, des staatserhaltenden und des dritten, des eigentlich sozialpolitischen Moments und in der Beurteilung des Zusammenhangs dieser verschiedenen Momente gingen, wie sich mehr und mehr herausstellte, die Auffassungen innerhalb der evangelisch-sozialen Bewegung (im weiteren Sinne) bis zur Unvereinbarkeit auseinander. Wenn Marianne Weber die zum ersten evangelisch-sozialen Kongreß Eingeladenen als Leute charakterisiert, »die auf staatserhaltendem und kirchenfreundlichen Boden stehen« 487, so trifft sie damit offenbar nicht das ganze Spektrum der vertretenen Strömungen. Am ehesten läßt sich so wohl der Hofprediger A. Stöcker und sein Kreis kennzeichnen; bei Leuten wie P. Göhre (oder auch Otto Baumgarten) war das Staatserhaltungsmotiv weniger vorrangig, und Leute wie Naumann oder auch A. von Harnack sind nicht gerade als Männer der Kirche anzusehen.488 Die deutlichste Trennungslinie verlief geradezu zwischen denen, die primär auf politische und kirchliche Integrierung (oder gar Disziplinierung) der Arbeiterschaft hinarbeiteten, und denjenigen, bei denen die Erfahrung der sozialen Ungerechtigkeit bestimmend war und die sich den entsprechend interpretierten Geist des Evangeliums zur Leitschnur ihrer sozial-politischen Bestrebungen machten. Erstere (vor allem Stöcker und sein Kreis) vertraten mehr oder weniger deutlich die Auffassung von der Kirche als dem vornehmsten Disziplinierungsorgan des Staates; ebenfalls waren ihnen die sozialpolitischen Maßnahmen nur Mittel zum staatserhaltenden Zweck.489 Letztere (Göhre, Naumann, Harnack u. a.) waren zwar entschieden nicht revolutionär gesonnen, ließen sich aber durch die Erfahrung der Lage des Proletariats zu grundsätzlichen Fragen an die bürgerliche Gesellschaft und Kultur verleiten und vertraten die Überzeugung, daß einer Veränderung der Verhältnisse zum Besseren der Arbeiter ein unveräußerliches Recht zugrunde liege. 118
Wie stellt sich nun Max Weber zu diesem durchaus heterogenen Bestrebungen und was sind für den Zweck vorliegender Arbeit entscheidende Punkte? Weber selbst verstand seine Rolle als die des (nationalökonomischen) Fachmannes. Wenn die evangelisch-soziale Bewegung (des näheren der evangelisch-soziale Kongreß) eine Hauptaufgabe darin sah, Männer der Kirche mit den Wirtschafts(bzw. Geschichts-)fachleuten zusammenzubringen,490 so betonte Max Weber immer den rein akademischen Charakter seiner Beiträge zu diesen Verständigungsbemühungen. In seiner Rechtfertigung Göhres legt er sich ausdrücklich als »ein dem kirchlichen Leben ferner stehender Laie« 491 Urteilsenthaltung sogar in theologisch-theoretischen Fragen auf. Daß Max Weber die religiösen Motive anderer Mitarbeiter an der christlich-sozialen Sache nicht geteilt habe, wurde wiederholt festgestellt: »Die christlich-religiösen Antriebe der jungen Pfarrer berührten den jungen Gelehrten nicht unmittelbar. Aber sie hatten die Bindung zur Mutter, Helene Weber, gegeben, die in dem Aufbruch solcher Gesinnung die Beruhigung ihrer eigenen empfindlichen und starken Seele fand; Helene Weber pflegte und schützte diese aufwachsende Freundschaft ihres Sohnes, neben ihr die Schwester, Otto Baumgartens Mutter.« 492 Diese Äußerung von Theodor Heuß läßt es so erscheinen, als sei der Fachmann Max Weber durch eher zufällige Umstände mit den christlich-sozialen Tendenzen in Konflikt gekommen: vermittels der Fürsprache der Mutter. Doch scheint uns eine solche Deutung des nur mittelbaren Charakters des Weberschen Verhältnisses zur christlich-sozialen Tendenzen in Kontakt gekommen: vermittels der die kürzeste Formel gebracht, Max Weber habe diese um bestimmter Personen, nicht um ihrer selbst willen unterstützt. Das trifft aber nach unserer Auffassung durchaus nicht die wirkliche Sachlage. Vielmehr scheint uns Max Webers Stellung zu der religiös-theologischen Begründung der sozialpolitischen Arbeit in einem anderen Sinne nur mittelbar - in einem Sinne, der für uns interessant ist. Es ließe sich mit der von Max Weber oft und früh bekundeten Eigenständigkeit des politischen Urteils einerseits, dem entschiedenen Willen zur »Übereinstimmung mit sich selbst« 493 andererseits nicht vereinbaren, wenn seiner Arbeit für die evangelisch-soziale Sache kein Interesse daran korrespondiert hätte. Zwar sind in der Tat offensichtlich keine eigenen unmittelbar religiösen Motive für diese Teilnahme verantwortlich. Auch hat sich Max Weber fast ganz der Äußerung »zu den eigentlich religiösen Fragen in jener Zeit« 494 enthalten. Dennoch waren ihm diese Fragen und näherhin 119
das Verhältnis von Religion und gesellschaftlich-politischem Handeln nicht gleichgültig. Theologische Detailfragen in der Begründung des sozialpolitischen Engagements scheinen ihn zu jener Zeit allerdings nicht interessiert zu haben. Doch ist unbezweifelbar, daß er selbst eine solche Aktivität der Geistlichen grundsätzlich für sinnvoll, ja für geboten, also keineswegs für anachronistisch, erachtete - Naumann und seiner praktischen Arbeit drückte Max Weber öffentlich seine »aufrichtige Sympathie« aus 495 - und daß er sich gerade deshalb die Ablehnung bestimmter Vertreter der Bewegung vorbehielt. So ist es zu verstehen, daß er die Evangelischsoziale Korrespondenz nicht nur als ein Unternehmen zur Belehrung der Geistlichen (»in usum pastorum« 4öe ) auffaßte, sondern ihr die Aufgabe zuwies, ihnen bei den sozialpolitischen Praktikern Gehör zu verschaffen, sie - wie Max Weber 1891 an den Onkel Hermann Baumgarten schreibt497 - »mit den von ihnen ad acta gelegten Schwarzröcken zusammenzubringen«. Für Max Weber sind die »Schwarzröcke« also nicht »ad acta« gelegt. Er bemerkt nur, gerade angesichts der »sozialen Frage«, eine »ungeheure Steigerung der Schwierigkeiten des verantwortungsvollen Seelsorgeberufs« 498. Seine »fachmännische« Unterstützung der christlich-sozialen Bestrebungen versteht er als Beitrag zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten. Als »verantwortungsvoll« gilt ihm nicht die Auffassung der Seelsorgearbeit als Disziplinierungsdienst im Sinne der Staatsmacht. Dies sind nicht die Schwierigkeiten, die Max Weber meint. Er richtet sich gegen das autoritäre Bevormundenwollen der kirchlichen Hierarchie gegenüber den unteren Schichten, das mit den »staatserhaltenden« Absichten konvergiert. Scharf wendet sich Max Weber gegen den »hierarchischen Bürokratismus« 4 ", der die Menschen »in erster Linie augenscheinlich als Objekt der Amtstätigkeit betrachtet.«500 Die These, daß Max Webers Mitarbeit an den christlich-sozialen Bestrebungen begleitet war von einer wertinterpretierenden Besinnung auf die Möglichkeit einer derartigen Verbindung von Christentum und praktischer Politik, wurde bisher weitgehend indirekt belegt (von der Art dieser Mitarbeit her). Eine ausdrückliche und grundsätzliche Äußerung in dieser Hinsicht findet sich in den ersten Jahren nicht. Solche erscheinen erst am Ende dieser Zusammenarbeit - und nicht zufällig hier. Sie aber enthalten das Resultat des angenommenen vorausgehenden Besinnungsprozesses. Eine erste bemerkenswerte Überlegung äußert Max Weber 1894 120
in seiner kritischen Besprechung der in demselben Jahre unter dem Titel Was heißt christlich-sozial? erschienenen gesammelten Aufsätze von F. Naumann. Der Passus scheint uns gerade im Hinblick auf die zentrale Problematik der späteren Religionssoziologie wichtig genug, um ausführlich dargelegt zu werden. Zunächst entdeckt Max Weber bei Friedrich Naumann eine deutlich realistischere Einschätzung der gesellschaftlich-politischen Lage und der Möglichkeiten einer Sozialpolitik aus christlichem Geist als in manchen »illusionären Vorstellungen kirchlicher Sozialpolitiker«. Der Kern dieses »Fortschritts zum Realismus« ist für Max Weber die Anerkennung (»Legalisierung«) des Klassenkampfes durch Naumann, indem dieser bewußt den proletarischen Standpunkt gewählt habe. 501 Im unmittelbaren Zusammenhang damit steht für Max Weber offenbar, daß Friedrich Naumann »nicht Kirchlichkeit, sondern Brüderlichkeit« als leitende Sozial-Idee des Christentums versteht. Eine entscheidende Schwierigkeit der Naumannschen Position (die diese mit der traditionellen Einstellung der Kirche verbinde) sieht Max Weber aber in Naumanns starkem Mißtrauen gegen die »Evolution der bürgerlich-geldwirtschaftlichen Wirtschaftsorganisation«, d. h. der typisch modernen Ausformung ökonomischer Betriebsführung. In diesem Mißtrauen erkennt Max Weber ebensowenig wie in der entsprechenden »relativen Sympathie« für den »persönlich geleiteten industriellen Großbetrieb« 502 eine Idiosynkrasie Naumanns, sondern den - Naumann selbst wohl nicht bewußten - Ausdruck einer inneren Notwendigkeit bei der von diesem eingenommenen Position. Weber erläutert seine Deutung folgendermaßen: »Das Charakteristikum der modernen Entwicklung ist der Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse als Grundlage der Arbeitsverfassung und damit der subjektiven, psychologischen, einer religiös-ethischen Deutung und Ausprägung zugänglichen Voraussetzungen der Abhängigkeit der beherrschten Klassen«. Persönliche Herrschaftsbeziehungen seien charakteristisch für landwirtschaftliche und handwerkliche Betriebe. »Die moderne ökonomische Entwicklung setzt an ihre Stelle zunehmend die unpersönliche Herrschaft der Klasse der Besitzenden, rein geschäftliche an die Stelle der persönlichen Beziehungen, Tributpflichten an eine unbekannte, nicht sichtbare und greifbare Macht an die Stelle der persönlichen Unterordnung« - womit eben die Möglichkeit aufhöre, »das Verhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten ethisch und religiös zu erfassen«. Und Max Weber beschließt diese Feststellungen, indem er nachdrücklich betont: »Dies, und nicht irgendwelche wirt121
schaftlichen und sozialen Schäden der Besitzverteilung, ist vom religiösen Standpunkt aus das Problem.« 503 Hier konstatiert Max Weber also, daß die vorherrschende, immer weitere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens prägende Organisations· und Herrschaftsform einer religiös-ethischen Beurteilung prinzipiell entzogen, religiös-ethisch »inkommensurabel« sei. Wichtig ist, dazu zu bemerken, daß Max Weber hier nicht von »Wirtschaft« und »Religion« im allgemeinen, sondern von bestimmten geschichtlichen Ausprägungen beider »Kulturmächte« spricht. Uns interessiert hier vor allem, daß er einen ganz spezifischen Begriff von Religion (religiöser Ethik) im Blick hat, der - wie er sagt - mit einer früheren ökonomischen Organisationsform sehr wohl vereinbar gewesen sei. Max Weber würde ohne Zweifel nicht bestreiten, daß es faktisch vielfältige Versuche gebe, die modernen ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse mit religiösen Deutungen zusammenzubringen (ζ. B. auch in der marxistischen Weise, daß letztere als ideologische Sanktionierung ersterer verstanden werden). Offenbar ist es aber seine Meinung, daß in allen solchen Fällen (gehe es dabei um eine Rettung oder um eine Destruktion von Religion) eine - in der Gegenwart! - unhaltbare Auffassung von Religion vorausgesetzt sei. Als unhaltbar gilt ihm, wie aus der zitierten Argumentation hervorgeht, eine Auffassung der (christlichen) Religion, bei welcher nicht die Sinngebung des individuellen (persönlichen) Handelns den wesentlichen Kern ausmacht. Es ist dies eine - im Sinne der Unterscheidungen des späteren Weber ethisierte und (was für Max Weber in diesem Zusammenhang dasselbe meint) »rationalisierte« Ansicht von der Religion. Doch ist darauf erst später näher einzugehen. Im vorliegenden Zusammenhang gilt es nur festzustellen, daß sich in der zitierten Äußerung Max Webers im Prinzip die Einstellung zum Verhältnis von Religion und (moderner) Welt bekundet, welche in bestimmter Modifizierung und Ausgestaltung auch das Denken des Religionssoziologen Weber leiten wird. Diese Einstellung ist das Resultat einer Beschäftigung mit der Problematik seit früher Jugend, einer Beschäftigung, die allererst durch das beschriebene Sicheinlassen Max Webers auf politisch-praktische Bestrebungen zu einer Entscheidung kommen mußte. Ohne daß Max Weber es in dieser kritischen Besprechung der Aufsätze Naumanns schon ausspräche, ist diese Entscheidung nun zweifellos derart, daß sie die Voraussetzungen einer Sozialpolitik aus christlichem Geiste aufhebt. Wenn die Verhältnisse, von denen 122
eine realistische Sozialpolitik ausgehen muß, im erwähnten Sinne religiös-ethisch inkommensurabel sind, dann ist eben die Absicht einer unmittelbaren Ausdeutung des Christentums für sozialpolitische Zwecke im Prinzip verfehlt. 504 Für Weber kommt die Gelegenheit, diese gewonnene Überzeugung gegen Naumann auszudrücken, als dieser mit der Gründung einer national-sozialen Partei den entscheidenden Schritt zur Durchsetzung seiner Ideen tun will. 505 Diese Äußerungen sind nicht zufällig etwa gleichzeitig (1895) mit der Freiburger Antrittsvorlesung (über den Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik), in welcher Max Weber die eigenen leitenden politischen Überzeugungen (nämlich: den Primat des nationalen machtstaatlichen Gesichtspunktes) öffentlich vertritt. Zwei Hauptpunkte des Naumannschen Parteiprogramms sind für Max Weber mit der eigenen Stellung unvereinbar: Einmal sei, so sagt er, für ihn in einer Partei »natürlich kein Platz«, die sich auf den Standpunkt einer bestimmten Klasse stelle. Für Max Webers Selbstverständnis ist es dabei offenbar nicht der entscheidende Punkt, daß dies bei Naumann der Standpunkt der nichtbürgerlichen, unteren Klassen ist - wiewohl er bereits in dem letzterwähnten Aufsatz dem von Naumann prätendierten proletarischen Klassenstandpunkt betont den eigenen Bourgeois-Standpunkt entgegenstellt 506 und sich auch später immer ausdrücklich als Sohn des Bürgertums verstand.507 Wichtiger erscheint es Max Weber, daß hier überhaupt ein beschränkter Klassenstandpunkt eingenommen werden soll, wo allein eine umfassende nationale Perspektive zum Ausgleich der Interessen führen könne. So äußert er an anderer Stelle: »Mir wenigstens steht das Staatsinteresse turmhoch über dem Interesse jedes noch so zahlreichen Standes, sowohl des Großgrundbesitzes wie des Proletariats, als dessen Interessenvertreter ich mich ebensowenig gebärde, wie mir die soziale Frage sich in der Arbeiterfrage erschöpft«. 508 Noch mehr als der »Klassenstandpunkt« der geplanten Partei stört Max Weber aber deren Bindung an ein religiöses Bekenntnis. Ihm sei ein Beitritt »vollends unmöglich«, äußert er in der Gründungsversammlung, wenn man jetzt »einen neuen Gewissensdruck« ausüben wolle, indem man verlange, »daß der christliche Glaube zum öffentlichen Versammlungsbekenntnis gemacht werde«. 509 Nach Webers Ansicht ist also der christliche Glaube - recht verstanden - schon seiner Vollzugsform nach ungeeignet, in einem politischen Programm fixiert zu werden und einen verbindli123
chen Anspruch zu machen, weil er nur als je individuell verantworteter möglich ist. Gleich anschließend fügt Max Weber aber hinzu, daß auch »inhaltlich« (vom Sinn der betreffenden »Werte« her beurteilt) die christliche Religion und Ethik einer politischen Beanspruchung prinzipiell entgegenstehe. Diese Auffassung steht jedenfalls im Hintergrund, wenn Weber sich gegen die im Naumannschen Programm enthaltenen, an die »ethische Kultur« erinnernden »miserabilistischen Gesichtspunkte« wendete »Miserabilismus«: das ist jetzt und fernerhin Webers Charakterisierung aller Versuche, aus der nach seiner Auffassung recht verstandenen christlichen Religion politische Konsequenzen zu ziehen. Eine »miserabilistische« Politik wäre eine solche, die die Sorge für die »Mühseligen und Beladenen« zum höchsten Prinzip erhöbe. Dabei würden die »Mühseligen und Beladenen« der Bibel (wie bei Friedrich Naumann) unmittelbar mit den ökonomisch und sozial Benachteiligten der modernen Industriegesellschaft gleichgesetzt. Webers Kritik richtet sich nun nicht primär gegen diese, wenigstens in solcher Verkürzung sehr fragwürdige Auslegung der biblischen Aussagen; am Rande kommt er, wie gesagt, allerdings darauf zu sprechen.511 Nicht daß die »Nächstenliebe« sich auf die materiell oder geistig (kulturell) Armen richtet, ist entscheidend, sondern: daß hier überhaupt eine solche religiös-ethische Relation zwischen Menschen als politisch verbindlich angesetzt wird. Das Religiös-Ethische dieser Beziehung liegt dabei nach Weber (s. das oben erwähnte Zitat aus: Was ist christlich-sozial?) ganz wesentlich darin, daß hier das Schicksal des je einzelnen (bzw. das Verhältnis von Personen zueinander) maßgebend ist. Die von Max Weber kompromißlos verworfene Idee einer »ethischen Kultur« wäre durch das Vorherrschen einer solchen Auffassung der sozialen Beziehungen gekennzeichnet. Der »Miserabilismus« wäre die gebotene praktische Konsequenz aus einer solchen Auffassung unter aer Bedingung, daß die große Masse der Menschen ihre »erbärmliche« Lage einer Behandlung verdankt, die an technisch-ökonomischen statt an sittlichen Gesichtspunkten orientiert ist. Max Weber bestreitet (aus Erfahrungsgründen), daß die wechselseitige Achtung als sittliche Person (im Sinne Kants) jemals die vorherrschende (oder zumindest durchgehend geforderte) soziale Beziehungsform sein könne. Die Regeln der gesellschaftlichen Wirklichkeit, mit denen ein Politiker zu rechnen habe, seien nicht die eines solchen sittlichen Verkehrs. Also: »Wer irdische Politik trei124
ben will, muß illusionsfrei sein und die fundamentale Tatsache des ewigen Kampfes der Menschen untereinander kennen.« 512 Den »ewigen Kampf der Menschen untereinander« hält Max Weber hier für das bleibende, mehr oder weniger manifeste Grundgesetz des sozialen und politischen Verhaltens. Die Anerkennung dessen führt hinsichtlich des Verhältnisses der staatlichen Gruppierungen zueinander zur Verteidigung einer nationalen Machtpolitik. »Auch der nationale Standpunkt verträgt sich (zufolge dieser Begründung) nicht mit dem Miserabilitätsstandpunkt«. 513 Naumann und seine Parteifreunde wollten das Christentum beanspruchen zur Bekämpfung bestehender politisch-gesellschaftlicher Machtverhältnisse, zu einer Reform »von unten«. Ebenso unzulässig ist es für Max Weber aber, wenn die Repräsentanten der bestehenden Macht sich zur Stabilisierung derselben der Kirche bedienen. In seiner schon erwähnten Antrittsvorlesung (1895) sagt er, daß es dem Geist der Politik gerade entgegengesetzt sei, »wenn das bracchium saeculare nach der Hand der Kirche greift zur Stütze zeitlicher Autoritäten«. 514 Diese auch für Webers spätere Haltung repräsentative Äußerung zeigt, daß nach Max Weber für eine Politik des Willens zur Macht durchaus nicht jedes Mittel recht war; im Gegensatz zur machiavellistischen Position, die ihm gelegentlich zugeschrieben wurde, will er die beiderseitige Anerkennung der Grenzen zwischen Politischem und ReligiösEthischem. Das heißt auch: Machtbewahrung und Machtsteigerung waren für Max Weber nicht die »höchsten Werte« schlechthin, sondern - bestenfalls - die höchsten genuin politischen Werte.
3.2.3 Der Widerstreit von christlicher Religion und moderner Welt Es war oben beschrieben worden, daß auch für den jungen Weber zwar das Verhältnis von Religion und Welt das eigentliche Problem gewesen war. Dessen Lösung hatte er aber in der »richtigen« praktischen (d. h. ethischen) Auffassung des Christentums gesehen. Wo religiöse Prinzipien mit einem verantwortlichen Handeln in der Welt in Widerstreit gerieten, schien ihm eine falsche Übersteigerung (»Christianismus«) vorzuliegen. So wenig wie das Ende jeder dogmatischen Religion schien Max Weber zu jener Zeit die blei125
bende »Kulturbedeutung« des Christentums fragwürdig. Seine Unterstützung der christlich-sozialen Bestrebungen endlich bezeugt zumindest, daß sich Webers Überzeugungen in diesem Punkt nicht prinzipiell geändert haben - sei es auch, daß er eine eingehendere Besinnung auf die Problematik zunächst nur zurückgestellt hatte. Wie kommt Max Weber nun schließlich zu dem Resultat, daß eine unvermittelbare Kluft zwischen christlicher Religion und dem Handeln in der modernen Welt bestehe (d. h. konkret ζ. B.: daß die christliche, näherhin lutherische, Religiosität nur eine Wohlfahrtspflege, keine sozialpolitische Reform begründen könne 515 ?) Er selbst findet den Grund in einem wirklich konsequenten Verständnis der christlichen Religion. Dieses ist ihrerseits ein Gebot der »intellektuellen Redlichkeit«, also der von Max Weber selbst als sittlich verstandenen Pflicht, der rationalen Selbstverständigung den weitestmöglichen Raum zuzugestehen. Webers abschließende Auffassung vom Christentum und dessen aktuellen, insbesondere politischen und kulturellen Möglichkeiten entsprang einer derartigen rationalen Analyse. Einerseits bildete er sich ein kritisches Urteil über den Stand der theologischen, insbesondere der historisch-kritischen Forschung. (Wie bereits in der Jugend, so war Max Weber auch späterhin aufs beste mit dem Stand der theologischen Forschung - und dem Zustand der kirchlichen Praxis - vertraut.) 516 Eine Auffassung vom Christentum, welche hinter dem hier erreichbaren Maß an rationaler Durchdringung zurückbleibt, war für ihn dem Geist und den Ansprüchen der Zeit nicht gewachsen. Die bestimmenden Grundzüge der Zeit bildeten die andere Seite der Besinnung, die Max Weber hinsichtlich der Möglichkeit der Religion in der modernen Welt unternahm. Als Signum der Zeit erschien ihm die fortschreitende unaufhaltsame Rationalisierung aller Lebensgebiete, mit ihrer Kehrseite: der Entzauberung der Welt. Nicht der anthropologische Tatbestand des »ewigen Kampfes des Menschen mit dem Menschen« für sich genommen, sondern dieser Kampf unter den Bedingungen der Entzauberung und durchgreifenden Rationalisierung des innerweltlichen Handelns (unter der Voraussetzung also, daß die Zeit »gottfremd« und »prophetenlos« geworden ist) 517 stellt das eigentliche Problem hinsichtlich der Möglichkeiten der christlichen Religion dar. Anderenfalls wäre für Max Weber ja nicht zu erklären, wie Motive religiöser Provenienz einen einschränkenden Einfluß auf diesen Kampf hätten haben können. (So läßt sich der Dualismus von Religion und Welt für Max Weber nicht auf ge126
wisse konstante anthropologische Voraussetzungen reduzieren; er ist - auch - geschichtlich bedingt.) Nur wenn man beide Seiten zusammennimmt: Webers rational durchleuteter Begriff der christlichen Religion und seine Beurteilung der beherrschenden Zeittendenzen, ist sein Urteil über die geschichtlichen Möglichkeiten des Christentums verständlich. Dabei erscheinen beide Seiten in einer eigentümlichen Verflechtung: bei der Fassung des allein noch möglichen Begriffs von der christlichen Religion spielen rationale Wissenschaften (insbesondere die wissenschaftliche Theologie 518 und die historische Forschung) eine unerläßliche Rolle; auch hier hat sich also der »Geist der Zeit« durchgesetzt. Andererseits wird Max Weber in der Religionssoziologie zeigen, daß die Herrschaft der Rationalität geschichtlich auch entscheidende religiös-ethische Voraussetzungen hat. Wenden wir uns nunmehr dem endgültigen Weberschen Begriff der christlichen Religion selbst zu. »Weber hatte vom Christentum die Auffassung Tolstois: einer außerweltlichen Religion der Liebe mit radikaler Verneinung aller irdischen Werte« 51fl. Diese Feststellung ist richtig (im übrigen auch von der Weber-Literatur fast einstimmig akzeptiert), wenn 1. der Vergleich mit Tolstois Auffassung so allgemein gehalten wird und 2. nicht beliebige Wahl, sondern ein Prozeß intensiver Erfahrung und Besinnung als Grund dieser Auffassung angenommen wird. (Es handelt sich, dies sei noch einmal betont, nicht um die von Weber selbst vertretene, sondern um die von ihm als allein möglich angesehene Gestalt christlichen Glaubens.) Als Inbegriff der christlichen Lehre galt Max Weber wie Tolstoi 520 - in diesem Sinne die Bergpredigt. Dieser innerste und harte (d. h. die historische Kritik überstehende) Kern des Christentums schien ihm am reinsten in der slavisch-orthodoxen Christenheit verwirklicht zu sein.521 An diesem Begriff vom Christentum erscheint (im vorliegenden Zusammenhang) vor allem das Folgende bemerkenswert: Wird die Bergpredigt als Zentrum der Lehre Christi (und als Kriterium der Beurteilung der übrigen biblischen Aussagen) angenommen, so bedeutet dies eine grundsätzlich ethische Auffassung vom Christentum. Im Mittelpunkt steht nicht der Glaube an ein göttliches Erlösungshandeln in der Person Christi, sondern die Forderung einer bestimmten inneren Gesinnung und eines bestimmten Verhaltens der Menschen zueinander. Der Glaube an ein überweltliches (und eschatologisches) Erlösungsgeschehen ist nicht mehr verlangt, auch wenn er noch einen mehr oder weniger unbestimmten 127
Hintergrund der ethischen Postulate bildet. Jedenfalls haben Glaubensüberzeugungen aufgehört, als Dogmen überliefert und in verbindlichen Riten dargestellt zu werden. In einem bestimmtenSinne wird das Christentum so durch die Reduktion auf die Bergpredigt gerade von seinen außer- oder überweltlichen Ansprüchen befreit und auf eine »innerweltliche« Aufgabe konzentriert. Damit stimmt durchaus und gerade zusammen, daß dies Christentum, mit Weber zu sprechen, keine »religiöse Sinngebung der Welt« im Ganzen einschließt: Es ist eine wesentlich ethische Lehre, damit auf das Handeln in der Welt orientiert - zugleich aber auch ohne eine theologische Sinndeutung dieser weltlichen Wirklichkeit. Seine Ethik ist eine Ethik des inneren Menschen, der Gesinnung. Sie enthält keine Aussagen über die wirklichen und wünschbaren Bedingungen, unter denen das sittliche Handeln in der Welt sich vollzieht; in diesem Sinne ist sie, mit Webers bevorzugtem Ausdruck gesprochen »akosmistisch«.522 Die Schwierigkeit der Lehre der BergPredigt liegt offenbar gerade darin, zugleich gleichsam die Quintessenz des Christentums für das innerweltliche Verhalten zu sein und sich doch auf die Welt-Wirklichkeit keineswegs einzulassen. Damit hängt nun auch engstens der »individualistische« Charakter dieser religiösen Ethik zusammen: eine Ausprägung in gesellschaftlichen Institutionen hätte nicht nur keine Grundlage in einer Sinndeutung der weltlichen Kräfte, sondern schlösse unvermeidlich die Gefahr einer Aufgabe des Prinzips der Gesinnung, eine Veräußerlichung der Handlungsmotive also, ein. Es wurde bereits gesagt, daß Max Weber diese Auffassung des Christentums keineswegs als Resultat persönlicher Vorliebe betrachtet, sondern als einzig konsequente Möglichkeit unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen. Fragen wir nun, worin genauer das Konsequente dieser Aufassung im Gegensatz zu anderen (faktisch vertretenen) nach Max Weber liegt. Die Antwort lautet, daß sie als einzige mit dem Grundzug der Zeit - der Entzauberung bzw. Rationalisierung der Welt - vereinbar ist. Daß sie - in anderer Hinsicht - zugleich im Widerspruch zur Entzauberung der Welt steht, verweist auf (notwendige) Spannungen im Begriff der Rationalisierung; darauf ist im einzelnen zurückzukommen. Wie schon erwähnt, setzt sich die wissenschaftliche Rationalität gegenüber der Religion einmal bei dieser selbst, in der theologischen und historischen Forschung nämlich, durch. Die Resultate dieser Forschung bilden die erste Grenze des noch möglichen Begriffs vom Christentum. Das hier liegende Gebot intellektueller 128
Redlichkeit fand Max Weber in der liberalen Theologie erfüllt. Daher war er auch an deren Verbreitung an den Universitäten interessiert.523 Sodann aber findet die Religion durch die wissenschaftliche Rationalität (und die darauf begründete Technik) den Bereich möglicher Sinngebung radikal beschnitten: Soweit die »Entzauberung der Welt«, d. h. die Überzeugung, daß es grundsätzlich keine unberechenbaren Mächte mehr gebe,524 reicht, ist nach Max Weber die religiöse Sinngebung unmöglich geworden. Die Religion findet sich auf die Innerlichkeit des einzelnen als ihr Gebiet verwiesen. Einer religiösen »Weltanschauung« ist für eine nicht absehbare Zukunft der Boden entzogen. Angesichts dessen erscheint Max Weber nunmehr jeder Versuch, in der modernen Kultur und Gesellschaft unmittelbar religiöse Sinngehalte zu verwirklichen, inkonsequent und unhaltbar. Dabei wird entweder die fortschreitende Rationalisierung als Grundgesetz der Zeit verkannt, oder aber die Religion ist bis zur Unkenntlichkeit an die Zeitbedürfnisse angepaßt. Aber auch die verinnerlichte Religiosität darf nach Max Weber nicht als Rückzugsgebiet eines weltflüchtigen Irrationalismus aufgefaßt werden. Dies ist der Versuch, einen Totalitätsanspruch der Religion zu bewahren, indem man die entzauberte Welt und ihre Anforderungen als bloß uneigentliche Wirklichkeit beiseite läßt. Von einer solchen eskapistischen »Romantik des Irrationalen« 525 sieht Max Weber vor allem weite Kreise der zeitgenössischen Intellektuellen erfaßt. P. Honigsheim berichtet, wie Max Weber den Diederichs-Verlag in Jena kritisiert, der sich dieses modischen weltflüchtigen Irrationalismus besonders annahm.526 Ebenso wandte sich Max Weber gegen die (pseudo-)»religiösen Tendenzen des Kreises um St. George« 527. Marianne Weber verweist auf den entscheidenden Grund dieser Ablehnung, wenn sie bemerkt: »Auch die . . . neue Verkündigung des großen Dichters St. George verneint alle Herrschaftsmächte des Maschinenzeitalters, Rationalismus, Kapitalismus, Demokratie, Sozialismus«.528 Gelegentlich führt Max Weber diesen pseudo-religiösen Eskapismus auch ideologiekritisch auf die politisch-praktische Frustration der entsprechenden Literaten- und Intellektuellengruppen zurück: »Das etwas geschwätzige sogenannte religiöse Interesse unserer deutschen Intellektuellen-Schichten in der Gegenwart hängt intim mit politischen Enttäuschungen und dadurch bedingter politischer Desinteressiertheit zusammen.« 529 Solcher religiöser Irrationalismus ist nach Max Weber hoffnungslos und zum Scheitern verurteilt. Dabei ist das im engeren Sinne 129
soziologische Problem nicht einmal entscheidend, daß solche esoterischen Zirkel von Intellektuellen keinen Boden einer »ernsthaften Gemeindereligiosität« bilden können.530 Vielmehr liegt der Grund für die Aussichtslosigkeit solcher Versuche letztlich darin, daß sie ihren Anhängern nicht erlauben, zugleich den Anforderungen der Zeit gerecht zu werden. Die Forderung der Zeit ist Rationalität. Ein Mensch kann nicht in Übereinstimmung mit sich selbst bleiben, wenn er einerseits dieser Forderung genügetun, sich andererseits aber eine Insel des unberührten Irrationalismus bewahren will. Rationalität ist nicht nur das Gesetz bestimmter Lebenssphären (Wissenschaft, Technik, Ökonomie, Politik), sondern sie ist auch das Gebot der Lebensführung überhaupt. Genau betrachtet ist allerdings schon die Forderung der Übereinstimmung mit sich selbst die genuin rationalistische Maxime der Lebensführung. Sie wird für Max Weber jedoch unvermeidlich in dem Augenblick, in dem man sich ernsthaft und redlich auf die neuzeitlichen Wissenschaften einläßt. Daß die »Entzauberung der Welt« eine Grenze jeder möglichen Religion bezeichnet, ist, mit Max Weber zu reden, ein verantwortungsethisches Argument. Es betrifft den Widerspruch zu den äußeren Bedingungen, unter denen sich jede mögliche Religion in der Gegenwart verwirklichen müßte. Demgegenüber geht Webers Kritik am weltflüchtigen Irrationalismus offenbar auf die gesinnungsethische Unmöglichkeit einer solchen Position: Die formale Bedingung eines gesinnungsethischen Handelns ist eine in rationaler Selbstpüfung gewonnene und bewahrte Übereinstimmung des Handelnden mit sich selbst. (Insofern ist Webers Grundsatz der »intellektuellen Redlichkeit« als durchaus gesinnungsethisches Prinzip zu verstehen.) Mit dieser Bedingung unvereinbar ist es, wenn die das Weltverhalten zutiefst bestimmende Sphäre, die des Religiösen, als schlechterdings irrationale einer solchen klärenden Durchdringung entzogen sein soll. Unter den gegebenen Verhältnissen (d. h.: bei Vorliegen dieser Möglichkeiten zur rationalen inneren Selbstklärung) bedeutet das Zurückfallen in eine unmittelbare Gefühlsreligiosität ein ethisch überhaupt inkommensurables, ästhetisches Verhältnis zu den religiösen Dingen.531 »Ästhetizismus« heißt hier der Verzicht auf eine rationale Kontrolle gerade der am höchsten eingeschätzten persönlichen Werthaltungen. Jeder »wirklich religiös musikalische Mensch« wird sich nach Weber bewußt sein, daß die Zeit »gottfremd« und »prophetenlos« ist, und auf solche Religionssurrogate verzichten. 130
Der Vergleich des Geistes der einzig noch möglichen Form von Religion mit dem herrschenden Geist der Zeit bringt Max Weber zu dem Schluß, daß die (christliche) Religion in der Gegenwart und in einer überschaubaren Zukunft keine unmittelbar und kulturell bestimmende Rolle mehr spielen werde. Es steht für Max Weber im engsten Zusammenhang mit dem »Schicksal der Zeit« (»mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem Entzauberung der Welt«), wenn nur noch »innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes etwas pulsiert, das dem entspricht, das früher als prophetisches Pneuma in stürmischem Feuer durch die großen Gemeinden ging und sie zusammenschweißte.« 532 Dennoch vertritt Max Weber keineswegs die Ansicht, daß das wissenschaftlich-technische Zeitalter die Macht der Religion für alle Zukunft gebrochen habe. Dies liegt nach seiner Auffassung (bezüglich der Selbständigkeit der religiösen Erfahrung) gar nicht im Bereich des wissenschaftlich Feststellbaren. Uber die Art einer möglicherweise in der Zukunft wieder erstarkenden Religion läßt sich nach ihm nichts Näheres sagen. Dennoch steht sie für ihn unter zwei unerläßlichen Bedingungen: Einmal wird sie die »Entzauberung der Welt« nicht rückgängig machen können; sie wird nicht von ihrer Abschaffung, sondern von einem neuen (wie immer vorstellbaren) Verhältnis zu ihr auszugehen haben. Damit hängt nach Max Weber unmittelbar zusammen, daß eine solche zukünftige Religiosität nur prophetischen Charakters (bzw. Ursprungs) sein könnte. (Ein Wiedererstarken der Religion ist für Max Weber ohne weiteres identisch mit dem Auftreten neuer, echter Propheten.) Der Grund dafür ist offenbar (Max Weber geht auf die Begründung nicht ein), daß eben nur eine prophetische Religion mit den Bedingungen der modernen Welt grundsätzlich vereinbar ist. Es war (wie er es in seiner Vorlesung Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte im Wintersemester 1919/20 ausführt) die dem Judentum und Christentum gemeinsame »rationale Prophetie« allein in der Lage, »die Entzauberung der Welt . . . und damit auch die Grundlage für unsere moderne Wissenschaft die Technik und den Kapitalismus« zu schaffen. 533 Zwar haben sich die so ausgelösten geschichtlichen Entwicklungen von diesen Ursprüngen gelöst, sich verselbständigt - und machen ihnen darüberhinaus nunmehr Boden und Wirkungsmöglichkeit streitig. Dies (die faktische Ausschaltung und auch die Schwierigkeit, die Bedingungen einer zukünftigen neuen Wirksamkeit zu 131
bestimmen) ändert jedoch nichts daran, daß dem Sinne nach allein eine prophetische Religion einer entzauberten Welt gemäß ist. Worin liegt dies begründet? Webers nirgendwo explizierte Antwort dürfte in die folgende Richtung gehen: Prophetische Religion erhebt sich auf dem Grunde einer intensiven Besinnung des Menschen über die Welt und seine Stellung darin. Sie ist die Religion des in höchster geistiger Wachheit (ein Definiens von Rationalität bei Max Weber; s. unten S. 138) auf seine Lage in der Welt reflektierenden Menschen. Nicht die äußere Welt (Natur), sondern sich selbst (als bewußten und verantwortlichen Handelns fähiges Wesen) erfährt der Mensch als einzig möglichen Ort der Heilsbedürftigkeit und Heilsgewißheit. Prophetische Religion ist so durch ein Höchstmaß an Rationalität gekennzeichnet in dem doppelten Sinne, daß 1. die Welt als durchaus »weltliche« aufgefaßt wird und 2. die Lebensführung der hochbewußten und also verantwortlichen Kontrolle durch das Individuum unterstellt ist. (»Eine echte Prophetie schafft eine systematische Orientierung der Lebensführung an einem Wertmaßstab von innen heraus, dergegenüber die Welt als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt.« 534) In dem zweiten Punkt liegt der Zusammenhang zwischen dem rationalen und dem ethischen Charakter der Orientierung solcher Religiosität beschlossen. Auf diese Überlegungen ist zurückzukommen. Im bisherigen Verlauf der Darstellungen ging es um Max Webers Stellung zu Begriff und Schicksal der christlichen Religion in seiner Zeit. Die Situation des Christentums in der modernen Welt wurde dem jungen Weber als Problem durch seine Umwelt, insbesondere durch seine Familie vorgegeben. Es wurde aber von ihm nicht bloß passiv rezipiert, sondern sehr früh als wesentlich anerkannt und deshalb in ausdrücklicher und intensiver Beschäftigung verfolgt. Diese aus aktueller Lebenserfahrung erwachsende Beschäftigung ging der wissenschaftlichen (insbesondere religionssoziologischen) Arbeit und Produktion Webers voraus und lief bis an sein Lebensende neben ihr einher. Die Frage ist jetzt, wie sich diese lebensweltliche Anteilnahme und Beschäftigung Webers zu den religionssoziologischen Forschungen verhalte. Dazu ist gleich zu bemerken, daß die Grenze zwischen vorwissenschaftlichen und wissenschaftlichen Überlegungen nicht streng zu ziehen ist bei einem Manne, der von früher Jugend an bestrebt war, auch existenziellen Fragen gegenüber den Wissenschaften das weitestmögliche Recht einzuräumen.535 Auch beruhen ja die folgenden Erör132
terungen (wie die Arbeit insgesamt) auf der Überzeugung, daß diese Grenze bei Max Weber aus grundsätzlichen Erwägungen heraus nicht als starre Scheidewand anerkannt wird. Auswahlhinsicht der bisherigen Darstellung war so auch nicht die (mangelnde) Wissenschaftlichkeit oder Wissenschaftsfähigkeit der Äußerungen Webers, sondern deren Zugehörigkeit zu ganz konkreten Lebenssituationen und -erfahrungen.
3.3
Religion und Rationalität - Webers Religionssoziologie im Licht seiner geschichtlichen Erfahrungen
Wie verhalten sich nun Webers religionssoziologische Forschungen zu den bisher behandelten Prozessen geschichtlicher Situationserhellung und deren Resultaten? In allgemeinster Form muß die Antwort lauten: In einer wesentlichen Hinsicht gehen diese Forschungen den Bedingungen der geschichtlichen Situation auf den Grund, deren Fragwürdigkeit Weber so früh und drängend erfuhr. Sie gehen der Frage nach, wie es dazu kam, daß die christliche Religion in dieser bestimmten Weise (also: nicht schlechthin) zum Problem wurde. Das Problem ist das vermittlungslose Auseinandertreten des allein noch möglichen Verständnisses von christlicher Religion und der herrschenden Tendenzen der Zeit. Um diese strenge Geschiedenheit der beiden Sphären als notwendig einzusehen, müssen beide Seiten als Resultat einer unumkehrbaren Entwicklung einsichtig gemacht werden. Der Schlüsselbegriff für die Entwicklung auf beiden Seiten (und deren Zusammenspiel) lautet: Rationalisierung. Struktur und Herkunft des spezifisch abendländischen Rationalismus aber ist auch das Leitthema der religionssoziologischen Forschung Max Webers. Der moderne Kapitalismus ist das, soziologisch betrachtet, bedeutungsvollste Produkt der okzidentalen Rationalisierungsgeschichte.536 Insofern kommt der ersten religionssoziologischen Abhandlung Webers über die Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus besonderes Gewicht zu. Doch wird darin in Webers eigenen Augen das Problem des modernen Rationalismus, sowohl was dessen Ausprägung wie dessen Gründe betrifft, nur in einem ganz bestimmten Ausschnitt behandelt. Nach beiden Seiten finden sich darin so Anweisungen für eine Ausdehnung des Untersuchungsfeldes. Diese werden von Max Weber im einzelnen nicht verfolgt. Dennoch verstand er selbst es als tiefstes Motiv seiner 133
gesamten religionssoziologischen Arbeit, die Bedingungen der Entstehung und Durchsetzung des abendländischen Rationalismus aufzudecken. Wenn er seine religionssoziologische Analyse der Richtungen und Stufen religiöser Weltablehnung einen Beitrag zu einer umfassenden »Typologie und Soziologie des Rationalismus«537 nennt, so hat er damit ohne Zweifel die leitende Tendenz nicht nur seiner Religionssoziologie, sondern seines soziologischen Gesamtwerkes bezeichnet. Die Befassung mit der jüdischen Religion und den nicht-abendländischen Weltreligionen stand entsprechend unter der Leitfrage, warum in deren Einflußsphäre eine entsprechende Entwicklung unterblieben sei.533 Diese Leittendenz der Weberschen Religionssoziologie (und Soziologie überhaupt) steht in einer wesentlichen inneren Beziehung zu der Situation, in der sich Max Weber selbst bei ihrer Konzeption gerade als empirischer Wissenschaftler erfuhr. In der oben behandelten lebenslangen außerwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Problematik der Religion in der modernen Welt steht für ihn nicht nur die Religion und nicht nur die moderne Welt, sondern gleichrangig die eigene Position zur Frage. Max Weber erfuhr als Charakteristikum der eigenen Position ein gleichsam natürliches Bedürfnis nach rationaler, und d. h. tendenziell: wissenschaftlicher, Klärung aller begegnenden Probleme, und zwar bis an die Grenze des existentiell Erträglichen: »Ich will sehen, wie viel ich aushalten kann«, bezeichnete er einmal als Motiv seiner Forschung.539 Gleichzeitig verstand er sich gerade darin als »Sohn der modernen Kultur«, als deren schicksalhaftes Symbol er den »Baum der Erkenntnis« ansah. Diese innere Nötigung zur Rationalität trat auf neben der Erfahrung genuiner und lebensbestimmender Religiosität. Zwar glaubte Max Weber nie, daß die Rationalität den wesentlichen Kern solcher Religiosität aufheben könne, aber er stellte fest, daß sie, einmal radikal geübt, erstens alle Unbefangenheit und Unmittelbarkeit in religiösen Dingen unmöglich machte, darüberhinaus aber, zweitens, die praktischen Konsequenzen beider Haltungen in unauflösliche Realrepugnanz zueinander gerieten und geraten mußten. Beide »Mächte«, Religiosität und Rationalität, waren nach Webers Auffassung aber auch zu sehr eigenen Rechts, als daß die eine um der andere willen hätte einfach verabschiedet werden können. Das Festhalten an der Rationalität erschien ihm nicht nur als faktische, unausweichliche Zumutung der Zeit, sondern als sittliche Pflicht, als Fundamentalbedingung eines verantwortlichen Verhaltens in der modernen Welt.
134
Das Leitthema der Weberschen Religionssoziologie, das aus seiner Lebenserfahrung und einem beständigen Prozeß der Sinnreflexion erwächst, lautet so: Religion und Rationalität. Die Rationalität ist - und das rührt von der beschriebenen Herkunft seiner religionssoziologischen Bemühungen her - nicht nur (wie es sich für eine empirische Soziologie nicht anders gebietet) das Gesetz seiner Forschung, sondern zugleich deren zentraler Gegenstand. Weber teilt weder die Ansicht, daß Rationalität (und so auch eine wissenschaftliche Untersuchung) für die Religionen etwas schlechthin Fremdes und Äußerliches, noch die (aufklärerische) Vorstellung, daß sie die Religion abzulösen berufen sei; in letzterem Falle käme der Religionssoziologie die Schlüsselfunktion ideologiekritischer Entlarvung von Religion zu.540 Die Webersche Religionssoziologie zieht ihre Motive und Leithinsichten gerade aus der Erfahrung (die nur einem verständnisvollen Sich-Einlassen auf die Sinngehalte und inneren Entwicklungen der Religionen entspringt), daß zwischen Religion und Rationalität eine eigentümliche Verflechtung besteht, die ihrem in anderer Hinsicht antagonistischen Verhältnis nicht widerstreitet: Bestimmte Formen innerreligiöser Rationalisierung können die Kräfte des Rationalismus in der Welt entbinden (und haben dies geschichtlich getan), wie andererseits - was natürlicher scheint - innerweltlich wachsende Rationalität Rationalisierungsprozesse im Felde der Religion nach sich zieht (sei es auch nur aus apologetischen Gründen541)· Der soziologische Charakter der Weberschen Untersuchungen zum genannten Thema - das eigentlich Soziologische an Webers Religionssoziologie überhaupt - scheint nicht unmittelbar einsichtig.542 Er liegt für Weber im weiteren Sinne darin beschlossen, daß der Ort des Austrags der Spannung und Verflechtung von Religion und Rationalität primär die praktische Lebensführung (oder: die gesellschaftliche Praxis) ist. Dabei ist es entscheidend, daß für Weber innerreligiöse Rationalisierung in einem wichtigen und vorrangigen Sinne identisch ist mit Ethisierung, d. h. mit einer systematischen Besinnung auf die Konsequenzen der religiösen Stellung für das soziale Verhalten. Weber fand, daß es in der Konsequenz der »rational-ethischen Prophetie« der jüdisch-christlichen Tradition liege, alle gleichsam »natürlich« vorgegebenen sozialen Ordnungen zumindest als nur relativ verbindlich anzuerkennen, wenn nicht: sie zu verwerfen. Weber sah so, und das unterscheidet seine Perspektive sehr grundsätzlich von der etwa Dürkheims 543 (welche in der nachfolgenden Religions-Soziologie viel mehr Schule mach135
te), die primäre soziale Bedeutung der Religion gerade in der abendländischen Geschichte nicht darin, das oberste integrierende und stabilisierende Wertsystem für die konkreten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu liefern. Daß faktisch in der Geschichte auch des »christlichen« Abendlandes der »Gebrauch der religiösen Organisationen zur politischen Domestikation der Massen, das Bedürfnis insbesondere nach religiöser Legitimitätsweihe der bestehenden Gewalten« verbreitet war, entging Weber natürlich nicht. Er fand hier aber eine (inkonsequente) »Relativierung der religiösen Heilswerte und ihrer ethisch rationalen Eigengesetzlichkeit«.544 (Daß Max Weber entsprechende Tendenzen bzw. Tatbestände in Preußen kritisierte, wurde oben erwähnt.) Eine solche (bloß) funktionalistische Bestimmung der Religion widerspricht für Max Weber der eigentümlichen Rationalität speziell der prophetischen jüdisch-christlichen Religion, nicht aber den Formen der Religion, bei denen sich in der noch nicht entzauberten Welt, und gerade auch in den überkommenen gesellschaftlichen Ordnungen, das Heilige selbst darstellt. Jahwe (und auch der christliche Gott) ist in Webers Augen ein Gott des geschichtlichen Handelns, nicht: der ewigen Ordnungen.545 Andererseits erweist sich auch die außerreligiöse Rationalisierung - im Sinne von Verwissenschaftlichung und Technisierung als von großer Tragweite für die Entwicklung der gesellschaftlichen und politischen Strukturen: Eine fortschreitende Differenzierung der sozialen Beziehungen geht einher mit der Auflösung der traditionellen zu Gunsten der rationalen (d. h.: kontraktuellen) Form sozialer Legitimierung, hier im weiteren Sinne verstanden. In diesem Sinne ist für Max Weber der Gegensatz zu »innerweltlich-rational«: »traditionell und konventionell«.546 An diesem (noch keineswegs abgeschlossenen) Vorgang interessiert ihn nicht die Frage, was dabei aus dem sozialen System im ganzen werde, und auch nicht, welche Auswirkungen diese »Versachlichung« und Differenzierung auf die Ausbildung der sozial-kulturellen Person habe. Der entscheidende Punkt ist für ihn vielmehr, daß diese Rationalisierung im gesellschaftlich-ökonomischen und politischen Feld nicht im Prinzip, wohl aber im geschichtlichen Resultat eine »Verunpersönlichung«547 der sozialen Beziehungen bedeute. Die Herrschaft der Sachgesetzlichkeiten und Sachzwänge macht es unmöglich, hier noch Ansatzpunkte individueller ethischer Zurechnung und Verantwortlichkeit zu finden. Es ist an dieser Stelle nicht zu entwikkeln, wie sich hier die Grundorientierung der Weberschen Soziolo136
gie ausdrückt - als einer Soziologie nämlich, die in ihrer Begriffsund Theoriebildung immer primär das Schicksal des einzelnen handelnden Menschen im Blick hat.548 3.3.1
Hauptdimensionen des Weberschen Begriffs von Rationalität
An diesem Punkt der Darstellung wird es dringend, eine wenigstens umrißhafte Klärung des Weberschen Begriffs von Rationalität zu versuchen. Tatsächlich ist - wie Max Weber selbst wiederholt feststellt 549 - dieser Begriff auch in Webers Verwendung durchaus vieldeutig. Jedoch bestehen zwischen den verschiedenen Bedeutungen Beziehungen; sie sind es nicht zuletzt, welche die Weberschen Untersuchungen in Spannung halten. Max Weber spricht von Rationalität und Rationalisierung in zumindest dreifachem Sinne,550 und zwar von Rationalität 1. im Sinne der empirischen Wissenschaften, 2. in der Sinninterpretation und 3. in der Ethik. Zu 1. Rationalität in diesem Sinne vollendet sich in den neuzeitlichen empirischen Wissenschaften, und zwar vor allem, sofern diese mathematisiert und experimentell sind. Rationalität steht hier für die Anstrengungen, die Gesetzmäßigkeiten der Natur im hypothetisch-experimentellen Verfahren aufzudecken und zu fixieren. Unmittelbar mitgemeint ist jedoch auf solcher wissenschaftlicher Forschung begründete Technik. Ferner fällt unter Rationalität oder Rationalisierung in diesem Sinne alle Steuerung und Organisation im Felde von Gesellschaft, Ökonomie und Politik, sofern sie (in wachsendem Maße) auf der Basis wissenschaftlich erarbeiteter Theorien geschieht; insofern auch der »moderne okzidentale Kapitalismus« 551 und ebenfalls etwa der moderne bürokratisch-zentralistische Staat. Rationalisierung der natürlichen und sozialen Welt des Menschen in dieser Bedeutung erfüllt den Tatbestand der »Entzauberung der Welt« in einem ersten Sinne. Max Weber glaubte, daß eine Wirklichkeit, die zum Objekt empirisch-analytischer (tendenziell raathematisierter) Forschung geworden ist, nicht mehr Bezugsfeld einer religiösen Sinngebung oder Sinnerfahrung sein könne.552 Zu 2. Hier bedeutet Rationalisierung soviel wie: konsequentes und systematisches Zuendedenken gegebener Sinn- oder Wertgehalte. Dabei heißt Zu-Ende-Denken sowohl, auf die letzten zugrundeliegenden Prinzipien zurückgehen, wie: die äußersten Konsequen137
zen bzw. das systematische Ganze der Folgerungen entwickeln. Dies ist eine der Bedeutungen von Rationalisierung im Felde der Religionsgeschichte: ein Auf-Prinzipien-Bringen und Systematisieren der Glaubensinhalte. (Vergl. die schon erwähnte Definition der Theologie als »Rationalisierung religiösen Heilsbesitzes«). Rationalisierung in diesem Sinne sind auch ζ. B. entsprechende Entwicklungen in der Geschichte des Rechts. Zu 3. Im ethischen Sinne meint Rationalität für und bei Max Weber: die Auffassung des wachen individuellen Selbstbewußtseins als eigentlicher Instanz sittlichen Handelns. Persönliche Verantwortlichkeit ist nur möglich bei höchstmöglicher Klarheit über die Ziele, Mittel und Umstände des eigenen Handelns und permanenter bewußter Kontrolle desselben.553 Eine »rationale Ethik« in diesem Sinne (nicht zu verwechseln mit einer systematisch durchgearbeiteten Ethik, welche »rational« im zweiten Sinne wäre) findet Max Weber vorzüglich in der rationalen ethischen Prophetie jüdisch-christlicher Provenienz 554 und dann in der innerweltlichen Askese des puritanischen Protestantismus. Letzterer verlangte vom Einzelnen nach Weber eine »konstante Reflexion« 555 und eine permanente und methodische Kontrolle der Lebensführung, oder, wie Weber an anderer Stelle 556 diese ethische Rationalität definiert, eine »stetige wache Beherrschung aller natürlichen Triebhaftigkeit«. Max Weber spricht bei dieser ethischen Rationalisierung (oder Rationalisierung der Ethik bzw. des Ethos) auch von »Sublimierung«. Das ist nicht im Freudschen Sinne gemeint, sondern als Steigerung der Bewußtheit und Feinheit der sittlichen Kriterien. Ein sublimiertes Ethos ist in diesem Sinne das Gegenteil einer unreflektierten, naiven oder traditionalistischen Sittlichkeit; rational heißt: durch Wissen sublimiert.557 Weber nennt eine derartig rationale Ethik auch »gesinnungsethisch sublimiert«. Dies bedeute nicht, daß »rationale Ethik« im hier behandelten Sinne mit Webers Idealtyp der »Gesinnungsethik« zusammenfalle. Rationalität zeichnet sowohl die Gesinnungs- wie die Verantwortungsethik im Weberschen Sinne aus; sie definiert im gewissen Sinne für Max Weber allererst den Spielraum möglichen ethischen Handelns. Vielmehr ist das Sublimierungsmoment jeder rationalen Ethik bei der Gesinnungsethik spezifisch ausgeprägt. Rationalität und Rationalisierung in diesem letzten Sinn hat nun, wie schon oben angedeutet wurde, nach Weber spezielle Bedeutung für die inner-religiöse Entwicklung speziell im Abendland. Man muß sogar sagen, daß für Weber offenbar dieser Sinn von Ratio138
nalisierung der für die jüdisch-christliche okzidentale Religiosität eigentlich kennzeichnende und unterscheidende ist. Man kann - was der Weberschen Auffassung gemäß ist - dort, wo der selbstverantwortliche Einzelne zum eigentlichen Subjekt religiösen Handelns wird, von einer Ethisierung der Religion sprechen. Das Ethische ist dabei gerade in der durch Rationalität im zuletzt behandelten Sinne definierten Weise verstanden. Sofern eine Ethik immer eine Anweisung zum Handeln bedeutet, widerspricht alle ethische Religiosität grundsätzlich kontemplativ-mystischen Religionsformen - die natürlich Rationalisierung im Sinne von Systematisierung des religiösen Handelns sehr wohl kennen. 3.3.2
Verhältnis der Bedeutungsdimensionen
zueinander
Fragen wir nun, wie sich die dargestellten hauptsächlichen Bedeutungsinhalte von Rationalität zueinander verhalten. Dabei ist natürlich eine Beschränkung auf die für vorliegende Arbeit wichtigen Aspekte unvermeidlich. Die ethische Rationalisierung der Religion steht für Max Weber offenbar (es wird dies bei ihm nicht im einzelnen entwickelt) in einem positiven Verhältnis zur »Entzauberung der Welt«. Das gilt schon, wie das oben angeführte Zitat aus der Vorlesung von 1919/ 20 bezeugt, für die jüdische Prophetie. Die »Welt« (speziell die nichtmenschliche Naturwelt) ist religiös indifferent; nicht in ihr, sondern im prophetischen Wort, das Anspruch an den einzelnen ist, begegnet die Offenbarung des Heiligen. Der Gott, der sich offenbart, ist selbst nicht Naturmacht, sondern rational (gerecht) handelnde Person. »Entzauberung der Welt« gibt es für Max Weber nicht erst unter der Herrschaft neuzeitlicher Naturwissenschaft und Technik, also bei faktischer Verfügbarkeit und Berechenbarkeit der Natur, sondern bereits als notwendiges Korrelat rationalethischer Religiosität in beschriebenen Sinne. Damit verweist Max Weber bereits auf den Vorgang einer Säkularisierung genuin religiöser Provenienz, wie sie neuerdings im Felde der protestantischen Theologie (bei Gogarten besonders) diskutiert wird.558 Allerdings findet sich bei Max Weber die Feststellung, daß innerreligiöse Rationalisierung in prinzipieller Spannung zur Welt stehe, und zwar um so schärfer, als diese Welt ihrerseits durchrationalisiert sei.559 Dies wird auch gemeinhin ohne weitere Differenzierungen als die Stellung Webers zum Problem ausgegeben. Webers Bemerkung gilt nun ohne Zweifel nicht für eigentlich ma139
gische Religionsformen, denn diese richten sich - gerade wenn sie rationalisiert im Sinne von systematisiert sind - auf eine geregelte Beeinflussung der Alltagswelt.560 In der angeführten Allgemeinheit kann die These Webers nur meinen, daß eine Religion, die die Erlösung nicht in die irdische, sondern in eine jenseitige Welt verlegt und die ihre Anhänger, bzw. deren Lebensführung, konsequent auf diese bessere jenseitige Welt hin orientiert, den Ansprüchen der diesseitigen Welt nicht gerecht werden könne. Eine wissenschaftliche und technische Rationalisierung (1. Bedeutung) des menschlichen Verhältnisses zur Welt dokumentiert für diesen konsequent religiösen Standpunkt das Sich-Verlieren des Menschen an diese Welt und das Bestreben, sich darin aufs Vollkommenste einzurichten. Soweit verweist die Webersche Feststellung auf eine spezielle Spannung zwischen Rationalisierung im ersten und im zweiten Sinne. Ebenso grundsätzlich, aber streng davon zu unterscheiden, ist der Widerstreit, den Max Weber zwischen dem wissenschaftlichen und dem ethischen Rationalismus findet. Je mehr der Mensch seine Welt nach wissenschaftlichen und technischen Prinzipien geordnet sein läßt, desto unpersönlicher wird sie. Von »Sachgesetzlichkeiten« geregelte Verhältnisse lassen für persönliche Verantwortung und Zurechnung keinen Platz. Rationalisierung im religiös-ethischen Sinne bedeutet aber, wie beschrieben, gerade Personalisierung. Nun war aber andererseits schon gesagt worden, daß nach Max Weber selbst dieser ethisch-rationale Typ der Religion (und zwar bereits im jüdischen Prophetismus) die »Entzauberung der Welt« von sich aus fordert (oder wenigstens impliziert). Der asketische Protestantismus aber ist für Max Weber nicht nur ein exemplarischer Fall ethischer Rationalisierung des Christentums, sondern repräsentiert darüberhinaus die Vollendung des »großen religionsgeschichtlichen Prozesses der Entzauberung der Welt«,561 der mit der altjüdischen Prophetie eingesetzt hatte.562 Hier wird also von Max Weber ausdrücklich die Entzauberung der Welt (die Säkularisierung) als ein re/z'gz'orcsgeschichtlicher Vorgang behauptet. Dies positive (wenn nicht ursächliche) Verhältnis einer durchaus rationalen Ausprägung christlicher Religion zur »Entzauberung der Welt« wird nun von Max Weber nicht nur mit der Hauptargumentation seiner religionssoziologischen Erstlingsschrift belegt. Den Rationalismus der modernen Kultur glaubt Max Weber nicht allein auf dem Gebiet der Ökonomie, sondern auch im Felde der wissenschaftlichen Forschung selbst563 und endlich auch in der politisch-gesellschaftlichen Sphäre durch genuin religiöse 140
Motivationen entscheidend gefördert. Und zwar liegt das Fördernde im wissenschaftlichen und politischen Felde noch viel deutlicher als im ökonomischen nicht nur darin, daß die aus religiös-ethischen Gründen eingeübte permanente Selbstkontrolle zu einer generellen Haltung auch in weltlichen Dingen geworden wäre. Die Förderung ist nach Weber durchaus aus dem religiös-ethischen Sinngehalt solchen Verhaltens abzuleiten. Für das Verhältnis zur Natur (für die Emanzipation der Naturwissenschaften nämlich) war der entscheidende Punkt der nicht nur un-, sondern antimagische Charakter der Auffassung des Christentums im puritanischen Protestantismus, die konsequente Ausschaltung aller Magie als Heilsmittel.564 Die Natur als solche (nicht die Ziele der Verwendung ihrer Kräfte) wurde damit völlig heilsneutral. Für die Entzauberung in der gesellschaftlich-politischen Sphäre ist das Entscheidende die schon erwähnte antitraditionalistische und personalistische Tendenz jeder rational-ethischen Religiosität, insbesondere des Puritanismus. 565 Weber geht auf diesen Zusammenhang im Rahmen der Protestantismus-Abhandlung und auch späterhin nur beiläufig ein. Daß er ihn aber für ganz unbezweifelbar und empirisch nachweisbar hielt, zeigt die folgende Äußerung gegenüber Rachfahl, der die entsprechenden Wirkungen primär der Aufklärung zuschreiben, die Rationalisierung der Welt also primär geradehin aus dem Rationalismus ableiten wollte: »Jener Einfluß (»religiöser MomenteNichts-als-Politiker< unter den Historikern, die unter den >großen Mächten< nur die großen Bataillone verstehen. . . . Noch so viele >Mächte< dieser Art haben ζ. B. den einen Satz der Bibel: >Man soll Gott mehr gehorchen als den MenschenMensehenrechte< . . . wurde, soweit er >ideell< bedingt war, zum einen Teil (außer durch den optimistischen Glauben an die >Interessenharmonie der freien IndividuenAffekten< zu behaupten und zur Geltung zu bringen«, oder: »ein waches, bewußtes, helles Leben führen zu können«.576 Wo die Persönlichkeit in diesem Sinne das Zentrum der sittlichen Lebensführung bildet, spricht Max Weber, wie oben gesagt wurde, von Rationalität oder Rationalismus im ethischen Sinne; rationalisierte und personalisierte Sittlichkeit meinen insofern dasselbe. Das Besondere der puritanischen Lösung in Gestalt der innerweltlichen Askese liegt also nach Weber darin, daß hier der Rationalismus im erwähnten ethischen Sinne den rationalen Ausgriff auf die Welt leitet und unter Kontrolle hält. Dem rationalen Ausgriff ist gerade auch in diesem Zusammenhang neben dem rationalen Wirtschaften auch die wissenschaftliche Forschung, bzw. die praktische Nutzung ihrer Resultate, zuzurechnen: »Die praktische und zwar nicht nur gelegentliche, sondern methodische Einbeziehung der Naturwissenschaft in den Dienst der Wirtschaft ist eine der Schlußsteine jener Entwicklung der >Lebensmethodik< überhaupt...« 577 Solange dieses Zu- oder besser: Unterordnungsverhältnis der beiden Rationalismen besteht, kann nicht der prinzipielle Widerstreit auftreten, den Max Weber - an anderer, späterer Stelle - zwischen ihnen sieht: der Widerstreit zwischen dem Personalismus des ethischen und der Entpersönlichung des ökonomischen und wissenschaftlichen Rationalismus. 144
Dies Unterordnungsverhältnis aber ist nur möglich unter sehr spezifischen Voraussetzungen, die spätestens durch seine konkretgeschichtliche Verwirklichung in Frage gestellt und schließlich aufgehoben werden. Max Weber stellt dar, wie die praktischen Resultate der innerweltlichen Askese nicht nur deren Wirksamkeit, sondern - darüberhinaus - deren Notwendigkeit aufheben. Das asketische Verhältnis zum Konsum übersteht auf die Dauer nicht die »Versuchung« des durch es selbst geschaffenen Reichtums. Dieser selbstzerstörerische Zug an der innerweltlichen Askese, den diese mit der mönchischen Askese teilt, bleibt solange verborgen, wie sie ganz formal betrachtet wird: als umfassende rationale Methodik mit einer (abstrakten) theologischen Sinngebung - aber ohne Rücksicht auf die durch sie geschaffenen innerweltlichen Verhältnisse. (Reichtum oder Armut stehen ja als bloße Zeichen der Erwählung oder Verdammnis, nicht als konkrete Lebenslagen mit vielfältigen sozialen Implikationen im Blick.) Die innerweltliche Askese konnte also nur solange als Lösung des Widerstreits von Religiosität und Weltlichkeit gelten, als die rationale Weltgestaltung nur hinsichtlich ihrer asketisch-rationalen Form im Blick stand. Eine solche - abstrakte - Betrachtungsweise erwies sich aber durch die tatsächlichen Auswirkungen dieses Verhaltens mit wachsender Deutlichkeit als inadäquat und unrealistisch. Daß eine solche Betrachtungsweise überhaupt möglich war, der puritanische Kapitalist also ein von den Wirkungen des Handelns kaum berührtes »pharisäisch« gutes Gewissen 578 haben konnte, hängt nach der anderen Seite hin mit dem ganz formalen Charakter der betroffenen Ethik und des erwähnten Persönlichkeitsbegriffs zusammen. Das weitestgehende Fehlen materieller sittlicher Pflichten (Inbegriff der Pflichten ist ja der Beruf, wie er durch die Verhältnisse strukturiert ist!) ist die Kehrseite der Verwerfung aller Wirklichkeit als solcher. Das sittliche Handeln vermittelt nur die Gewißheit, daß man im Gnadenstand sich befindet, nicht spiegelt sich in ihm die jenseitige Glückseligkeit selbst; der Wohlstand ist viel eher Zeichen denn Symbol des im Jenseits Erwarteten. Max Weber nennt, wie gesagt, den hier beanspruchten Persönlichkeitsbegriff »formal-psychologisch«. Diese Kennzeichnung gilt nicht nur aus der Perspektive des (empirischen) Wissenschaftlers, sondern betrifft ein wesentliches Moment auch in der Selbstauffassung des innerweltlichen Asketen: Sie betrifft den Sinn der auf dem Boden dieses rationalen Ethos praktizierten Rationalität selbst. Offenbar impliziert nämlich dieser formal-psychologische Persön145
lichkeitsbegriff eine bestimmte Einschränkung der möglichen ethischen Rationalität. Diese Einschränkung des Rationalismus scheint uns im Zurücktreten des Moments der individuellen Verantwortlichkeit (das schon früher herangezogen wurde) hinter dem der strengen Methodik, der »Wachheit« der Kontrolle der Lebensführung zu liegen. Auch dies ist auf den calvinistischen Glauben an die Prädestination zu beziehen, der für individuelle Verantwortung im strengen Sinne keinen Raum bot. Er drückte sich in der Auffassung aus, daß das sittliche Handeln bloßer Erkenntnisgrund der Begnadung sei. Das Fehlen einer eigenständigen materialen Ethik wiederum hängt mit der Verneinung der individuellen Verantwortlichkeit insofern unmittelbar zusammen, als diese Verantwortlichkeit die treibende Kraft zur Entwicklung eines materiellen, mit den weltlichen Verhältnissen rechnenden Pflichtenkodex wäre. »Formal« ist der Persönlichkeitsbegriff insofern, als er primär eine bloße Methode, nicht aber ein eigenständiges Prinzip des Handelns meint. Gerade die hier besprochenen Zusammenhänge verbieten es, die protestantisch-asketische Ethik mit der Kantischen zusammenzubringen.579 Dagegen wendet sich Max Weber indirekt - aber eindeutig - , wenn er hervorhebt, daß »strenge formale Legalität« die Richtschnur des protestantischen Asketen gewesen sei.580 Für Kant ist solch bloß legales Handeln gerade nicht sittlich; der Legalität stellt er die Moralität gegenüber, die nur ein von handelnden Subjekt innerlich verantwortetes Handeln meint. Die Unterscheidung von ethischer Rationalität als Methode und als Prinzip erweist sich als sinnvoll und wichtig gerade im Hinblick auf das Webersche Kernproblem von Personalisierung und »Verunpersönlichung«. »Persönlichkeit« bezeichnet nämlich eine prinzipielle Grenze der entpersönlichenden Tendenzen des neuzeitlichen Rationalismus in dem Maße, als sie nicht bloß Methode rationaler Kontrolle, sondern Prinzip im Sinne der individuellen Verantwortlichkeit ist. Andererseits bezeichnet die Persönlichkeit in dem Maße kein Hemmnis für die rationale Gestaltung aller Verhältnisse, als sie als bloßes Steuerzentrum der rationalen Methodik aufgefaßt wird. Hier liegt offenbar der kritische Punkt der asketisch-protestantischen Lösung der Antinomie von Religion und innerweltlicher Rationalität. Dieser Punkt erklärt, warum diese Lösung in ihrer reinen Form nicht lange bestand und durchaus keine materielle ethische Durchdringung der modernen Zivilisation im Gefolge hatte - oder, mit Webers Worten, deren Tendenz auf fortschreitende »Verunpersönlichung« gerade nicht hinderte. 146
Im folgenden sind diese Feststellung hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Orientierung des Religionssoziologen Max Weber an den Problemen seiner Gegenwart in den Blick zu nehmen. Dazu ist auszugehen von der in der Weber-Literatur verbreiteten Ansicht, die »innerweltliche Askese« des puritanischen Gläubigen (insbesondere dessen Berufskonzeption) habe Max Weber doch irgendwie als vorbildhaft gegolten, und zwar gerade wegen ihrer durchdringenden, kompromißlosen Rationalität.581 Diese Ansicht besagt etwa, der radikale Rationalist Max Weber habe sich zutiefst verwandt fühlen müssen mit einer Stellung, bei der eine umfassende rationale Lebensführung (die auch die Wissenschaften als wesentliche Mittel einbezog) aus dem »innersten ethischen Kern der Persönlichkeit« selbst hervorging. Gelegentlich wird diese innere Wahlverwandtschaft Webers mit dem analysierten Ethos ausdrücklich als Ermöglichungsbedingung der Analyse behauptet582 - eine These, die für unsere Fragestellung besonders interessant ist. Allerdings wird in der Regel diese Ansicht dahingehend modifiziert, daß den Wissenschaftler Max Weber notwendigerweise nur eine von den religiösen Motiven emanzipierte, also säkularisierte Form der innerweltlichen Askese möglich erscheinen konnte.583 Soviel Richtiges diese Meinung enthält, so fällt sie doch hinter das Maß der in Webers eigenen Analysen enthaltenen Differenzierung zurück. Dabei ist es (im Sinne einer klaren Abgrenzung der Aussageebenen) entscheidend, daß solche Differenzierung durchaus das Produkt rationaler Überlegungen darstellt, welche allererst den Rahmen des sinnvollerweise (»rational«) überhaupt Erstrebbaren klären. In dieser Hinsicht ist es nun wichtig, daß, wie die obige Darstellung ergab, die »innerweltliche Askese« keineswegs die Lösung der von Weber selbst bezeichneten Problematik darstellt. In einem zentralen Punkt, dem des Widerstreits zwischen einer persönlichen Ethik und den entspersönlichenden Tendenzen des technisch-wissenschaftlichen Rationalismus, gibt die »innerweltliche Askese« nicht einmal den Ansatzpunkt einer Lösung vor, weil dies Problem sich bei ihren spezifischen religiösen (besser: theologischen) Voraussetzungen gar nicht stellt. Deshalb kann sie erst recht dann keinen Modellcharakter mehr haben, wenn, wie es nach Max Weber in der Gegenwart der Fall ist, die »Verunpersönlichung« durch die Rationalisierung des ganzen Lebens sich zu einem umfassenden »Gehäuse der Hörigkeit« entwickelt und verfestigt hat. Es wurde oben bereits festgestellt, daß für Weber schon vor den religions-soziologischen Untersuchungen allein das Christentum der Bergpre147
digt als in der Gegenwart konsequenterweise vertretbar galt. Diese Auffassung des Christentums steht aber im strengsten Sinn-Widerspruch zum asketischen Protestantismus, wie auch Naumanns Äußerung beweist, die englische Verbindung von Puritanismus und Kapitalismus sei »moralische Heuchelei«.584 Dies ist vom Standpunkt eines die Würde des Einzelmenschen betonenden Christentums ganz richtig - auch im Sinne Webers. Von hierher fällt nun nach unserer Auffassung auch Licht auf Webers Stellung zu dem Umstand, daß sich das rationale innerweltliche (speziell das beruflich-ökonomische) Verhalten inzwischen fast restlos von allen religiös-ethischen Motivationen befreit und sich - von der erfahrenen Nützlichkeit her - eine eigenständige Motivbasis geschaffen hat. Keineswegs wird von ihm die für die Gegenwart konstatierte »innere Lösung jener Einheit« (von Beruf und »innerstem ethischen Kern der Persönlichkeit«) 585 als Abfall verstanden. Das liegt nicht - nur - daran, daß er sich als Wissenschaftler hier jeden Urteils enthalten müßte. Denn ein entsprechendes Urteil ließe sich durchaus in rationaler Weise fällen, indem man die geschichtliche Entwicklung aus der hypothetisch angenommenen Perspektive der einstigen Einheit betrachtete und begrifflich faßte, diese Einheit also als idealtypischen Maßstab der eingetretenen Veränderungen beanspruchte. Dies geschieht aber bei Max Weber durchaus nicht. Wenn es bei ihm so etwas wie eine »nostalgie de la foi qui etait possible dans la passe« 586 gab, so richtete sie sich nach unserer Auffassung nicht auf jene Einheit - auch nicht in der Form einer methodischen Objektivierung zum Idealtyp. Die (wissenschaftlich vertretbare) Wahl eines entsprechenden Leitgesichtspunktes würde die doppelte Annahme Webers ausdrükken, daß die früheren Zustände a) eine wirkliche Lösung und b) in der Gegenwart wiederherstellbar seien. Umgekehrt verrät Max Webers Verzicht auf diese Perspektive, daß beide Annahmen nicht seiner Meinung entsprechen. Zunächst einmal ist »innerweltliche Askese« im strengen puritanischen Sinne offensichtlich nicht Webers persönliches Ideal. So hielt er keineswegs die »erkältende Schwere« 587, mit der sich jene auf das ganze Leben (und insbesondere auf die künstlerische Produktion) legte, für vorbildlich und erstrebenswert. Entscheidend für seine (persönliche) Stellung sind aber zweifellos nicht (irrationale oder subjektive) Neigungen, sondern die Einsicht, daß die »innerweltliche Askese« nicht die Lösung der Antonomie von Sittlichkeit und innerweltlichem (wissenschaftlich-technischem) Rationalismus darstelle. Was nach Weber un148
möglich geworden ist, ist gerade das »pharisäisch« gute Gewissen, das den puritanischen rationalen Berufsmenschen auszeichnete und seine Dynamik begründete. Das gute Gewissen verbietet sich für Weber angesichts der Auswirkungen der Rationalisierung des Lebens, zu der auch der innerweltliche Asket seinen Teil beigetragen hatte. Zwar müssen »wir modernen Menschen« 588, wenn wir überhaupt etwas Sinnvolles schaffen wollen, das sein, was der Puritaner sein wollte: 589 »Fachmenschen«. Berufliche Askese im Sinne der Unterwerfung unter die Erfordernisse des rationellen Systems der Arbeitsteilung ist unvermeidlich und - in Webers Augen - (verantwortungs-)ethische Pflicht. Diese Askese sichert jedoch nicht, wie die innerweltliche Askese einst, die Einheit der Lebensführung, die sich im »guten Gewissen« ausdrückte. Sie dokumentiert vielmehr gerade deren Zerbrechen. Die moderne Berufsaskese steht im Dienst der umfassenden Rationalisierung des Lebens. Diese aber ist vom ethischen Standpunkt betrachtet: »Verunpersönlichung«. Die »Persönlichkeit« im ethischen Sinne der verantwortlichen Individualität ist weder das eigentliche Subjekt noch (und erst recht nicht) der Bezugspunkt des durchrationalisierten sozial-ökonomischen und technischen Systems. Das systemkonforme (»rationale«) Handeln ist als solches weder sittlich noch unsittlich, sondern: sittlich neutral. Keineswegs ist es also als solches »verantwortungsethisch«: Gesinnungs- wie Verantworiungsethik gehören auf die Gegenseite, die der sittlichen Persönlichkeit. Diese handelt allerdings dann verantwortungsethisch, wenn sie in ihre Entscheidungen das Wissen von der unter dem Gesetz der Rationalität stehenden Wirklichkeit einbezieht, und dabei die notwendige Begrenztheit des sittlichen Wollens erfährt. Derart ist die Unzulänglichkeit und Unwiederholbarkeit der einstigen »innerweltlichen Askese« für Max Weber primär nicht darin begründet, daß der sie tragende Glaube vergangen ist. Davor ist Weber allerdings überzeugt: »Niemand von uns könnte selbst Sekten-Mensch, Quäker, Baptist etc. sein . . . die Zeit für Sekten oder etwas ihnen wesengleiches ist, vor allem, historisch vorbei.« 590 Der zentrale Grund ist vielmehr, daß die einstige innerweltliche Askese weder eine Einsicht in die Wirkungen der konsequenten ökonomisch-technischen Rationalisierung der Welt enthielt, noch das Prinzip der sittlichen Persönlichkeit in der Radikalität, wie es in Webers Augen unverzichtbar geworden ist - und also auch kein Bewußtsein des notwendigen und unlöslichen Widerstreits zwischen beiden Seiten. 149
Man könnte, in Anknüpfung an die erwähnte Äußerung Webers, den Unterschied zwischen der Lage des asketischen Protestanten und der des »modernen Menschen« auf die Formel bringen: Ersterer mußte eine sittliche »Persönlichkeit« sein, wir wollen es sein. Dabei läge in dem Gegensatz von Müssen und Wollen der prinzipielle Unterschied im jeweiligen Begriff der Persönlichkeit selbst beschlossen. Im ersten Fall meint er: die Instanz methodischer Kontrolle der Lebensführung an vorgegebenen (d. h. nicht selbst wieder gerechtfertigten) »Werten«, im zweiten Falle: die ihre leitenden Werte selbst noch verantwortende Individualität, die sich und ihresgleichen als »Selbstzweck«, mit Kant zu sprechen, auffaßt. Dazu ist noch die Bemerkung wichtig, daß diese Unterscheidung nicht die zwischen einer religiös basierten und einer »emanzipierten« Persönlichkeit ist: Die methodische Kontrolle der Lebensführung kann sehr wohl außerreligiös motiviert sein, wie andererseits die sittliche Autonomie (im Sinne Kants) gerade religiöses oder theologisch-metaphysisches Postulat sein kann. Sittliche Autonomie im Sinne Webers ist nicht (wie offenbar Löwith591 meint) unmittelbar identisch mit Atheismus. (Honigsheim spricht im Gegenteil sogar von einem »religiös basierten Autonomismus« bei Max Weber.592) Wenn man in dieser Weise den Widerstreit zwischen dem unpersönlichen Rationalismus der modernen Welt und der sittlichen Persönlichkeit als ein Hauptproblem des Weberschen Denkens feststellt, so muß man »Persönlichkeit« im zweiten Sinne verstehen. Falsch wäre es auch, verstünde man darunter das humanistische Ideal eines allseitig ausgebildeten Menschentums. (Es wäre dies in gewissem Sinne das gerade Gegenteil des »formal-psychologischen« Begriffs im Sinne der innerweltlichen Askese.) Die Zeiten eines derartigen allseitigen (unentfremdeten) Menschentums sind nach Max Weber 593, wie schon Goethe schließlich festgestellt habe, endgültig vorbei; das Fachmenschentum ist ein unvermeidliches Erfordernis der Zeit. Der modische Kult der Persönlichkeit in diesem (nicht ethischen, sondern eher ästhetischen) Sinne verrät für Max Weber nur Einsichtslosigkeit oder Schwäche 594 gegenüber dem Schicksal der Zeit. Schließlich erscheint es uns auch nicht angemessen, wenn der Webersche Begriff der autonomen sittlichen Persönlickeit unmittelbar mit dem des Charismas zusammengebracht wird.595 Der moderne Widerstreit zwischen den Erfordernissen des ökonomischtechnischen Rationalismus und der sittlichen Persönlichkeit wäre 150
dann nur eine spezifische Ausprägung des die ganze Geschichte durchziehenden »wechselvollen Kampfes zwischen Disziplinierung und individuellem Charisma«.596 Die hier liegenden Zusammenhänge sind zwar zu komplex, nicht zuletzt wegen der Vieldeutigkeit des Charisma-Begriffs selbst, als daß sie hier im einzelnen untersucht werden könnten. Folgende Bemerkungen müssen daher genügen, um die Heterogenität des Prinzips der »individuellen Verantwortlichkeit« 597 und des Charismas anzudeuten. Das Charisma ist persönlich insofern, als es außergewöhnliche Qualitäten einzelner hervorgehobener Individuen bezeichnet: »magische Fähigkeiten, Offenbarungen oder Heldentum, Macht des Geistes und der Rede«.598 Der Gegensatz gegen den innerweltlichen (ökonomisch-technischen, auch politischen) Rationalismus erwächst aus dieser Eigenschaft, eine unberechenbar an ausgewählten einzelnen auftretende »Macht« zu sein.599 Die individuelle Verantwortlichkeit des einzelnen ist in diesem Sinne keine charismatische Qualität: Sie kommt (potenziell) jedem Menschen zu und ist ihrerseits, wie beschrieben, durch eine spezifische Rationalität ausgezeichnet. Sie ist keine unmittelbar wirkende Macht, sondern setzt ein Höchstmaß an rationaler Selbstbesinnung und Selbstkontrolle des Einzelnen voraus. Die Persönlichkeit als selbstverantwortliche Individualität und als »Selbstzweck« widersteht der Erfassung durch das rationalisierte System nicht wie ein unvorhergesehenes Naturereignis, sondern zufolge einer bewußten, durch individuelle Anstrengung vermittelten Behauptung ihrer Autonomie. Allerdings nahm Max Weber selbst wenigstens in einem wichtigen Punkt einen Zusammenhang zwischen der Rettung der persönlichen Freiheit eines jeden vor den entgegengesetzten Zeittendenzen und der Heraufkunft charismatischer Begnadung an. Ein charismatischer politischer Führer sollte nach ihm (in der »plebiszitären Führerdemokratie«) gegen die Ubermacht der Staatsbürokratie den Freiheitsspielraum der Staatsbürger sichern. Doch scheint uns das Ins-Spiel-bringen des Charismas gerade im Hinblick auf den intendierten Zweck wenig schlüssig zu sein. Nicht nur steht dabei die Befreiung des politischen Führers selbst (von den Sachzwängen) im Vordergrund: die dadurch zweifellos erreichbare Personalisierung der Herrschaftsbeziehungen bedeutet primär nicht eine Sicherung der individuellen Freiheit der politischen Subjekte, sondern eine neue, irrationale und vom Einzelnen unkontrollierbare - insofern also, gerade auch im Weberschen Sinne unsittliche - Bindung. Grundsätzlich scheint es mir demnach nicht in der richtig ver151
standenen Konsequenz des Weberschen Denkens zu liegen, wenn der Kategorie des Charismas Schlüsselbedeutung für die Analyse der politisch-gesellschaftlichen Gegenwart beigemessen wird. Am ehesten schlüssig dürfte der Gebrauch dieser Kategorie im Kontext der Frage sein, ob eine zukünftige Religion von Bedeutung für die Begründung oder Sicherung der »rationalen sittlichen Persönlichkeit« sein könne. Offenbar ist es Webers Überzeugung, daß das religiöse Charisma einzelner »prophetischer« Menschen diejenige Form religiöser Erfahrung ist, welche die Rationalisierung der Welt zugleich prinzipiell zu rechtfertigen und in ihren Grenzen zu bestimmen vermöchte. 3.4
Zusammenfassung
Gefragt war nach der Bedeutung des Verhältnisses Max Webers zur Religion für seine Religionssoziologie. Nachdem im ersten, referierenden Teil Entwicklung und Aufbau des Weberschen Verhältnisses zur Religion im Felde der außerwissenschaftlichen Lebenserfahrung verfolgt worden war, wurde zuletzt untersucht, wie die dort gewonnenen Problemstellungen im Rahmen der Religionssoziologie bestimmend auftreten. Die Religionssoziologie Max Webers erweist sich in einer wichtigen Hinsicht als eine Fortsetzung der ihm lebensweltlich aufgegebenen Auseinandersetzung mit anderen (methodisch schärferen) Mitteln und an einem auf weltgeschichtliche Dimensionen ausgedehnten Material. Die Leitfrage, welche für die Weberschen Forschungen als oberster Orientierungspunkt fungiert, ist die Frage nach den spezifischen Bedingungen der Heraufkunft des modernen okzidentalen Rationalismus. Daß und wie diese Frage gestellt werden müsse, bestimmt sich bei Max Weber aus Selbsterfahrungen, die der Ausbildung der Religionssoziologie vorausgingen. Es liegt in diesen vorwissenschaftlichen Sinn-Analysen vor allem begründet, daß sich das Problem für Max Weber nicht (wie bei anderen Autoren häufig) in der Form einer einfachen Alternative von Religion hier und Rationalismus dort stellt, sodaß die Rationalisierung der Welt identisch wäre mit einem Zerfall von Religion in jedem Sinne. Auf Grund ihrerseits durchaus rational geklärter lebensweltlicher Erfahrungen standen für Max Weber folgende Überzeugungen fest: a) Die uneingeschränkte Berücksichtigung der wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse ist für den »modernen Kulturmenschen« ein Gebot der Ehrlichkeit gegenüber sich selbst, b) Religiöse (und 152
sittliche) Erfahrung ist eine Erfahrungsweise sui generis und daher durch wissenschaftliche Forschung nicht aufzuheben; 600 d. h. aber nicht, daß jeder Anspruch auf genuin religiöse Erfahrung berechtigt ist und nicht unter Umständen mit empirischen Mitteln zurückgewiesen werden kann, c) Wenn religiöse Erfahrung auch irrational in dem Sinne ist, daß sie empirisch nicht verifiziert werden kann, so ist zVmerreligiöser Rationalismus doch ebenso notwendig wie (geschichtlich) verbreitet. Max Weber bemerkte nun, daß gerade die konsequenteste (in diesem Sinne rationalste) und insofern auch der Zeit angemessenste Form der christlichen Religion in offenbarem Widerstreit zu den »Gesetzlichkeiten« der modernen, vom Rationalismus bestimmten Gesellschaft stand. Er stellte fest, daß das rationalisierte ökonomisch-gesellschaftliche und politische System sich weitgehend selbst trug und steuerte zufolge seiner Effizienz. Der »Wille zur Macht« erschien ihm als das den technischen Mitteln einzig gemäße (gar immanente) Motiv der allumfassenden Rationalisierung. Wo die Religion noch in den Dienst des Systems gestellt wurde, sah er Inkonsequenz und mangelnde Einsicht am Werk. Webers religionssoziologischen Forschungen ging also die Erfahrung voraus, daß ein a-religiöses gesellschaftlich-ökonomisches und politisches System nicht nur denkbar, sondern schon weitgehend realisiert war. Dieser Erfahrung korrespondierte aber bei ihm, wie gesagt, das Bewußtsein, daß eine Religion durchaus nicht mit ihrer gesellschaftlichen Funktion stehe und falle. Vielmehr war er überzeugt, daß es für eine Religion unter gewissen Umständen ein Gebot der Selbstbewahrung sei, sich von unmittelbaren gesellschaftlichen Beanspruchungen freizuhalten. Dies schien ihm die Situation eines konsequent aufgefaßten Christentums in seiner Gegenwart zu sein. Doch dachte Weber gerade hierin nicht dogmatisch, sondern geschichtlich. Sowohl die religiöse Erfahrung wie auch die Rationalisierung der Welt (und so auch ihr Verhältnis zueinander) war nach ihm einem geschichtlichen Sinnwandel unterworfen. Diese ebenfalls in persönlicher Erfahrung erwachsene Einsicht lag als allgemeinste Hypothese seiner ersten religionssoziologischen Arbeit zugrunde und wurde durch sie empirisch unterbaut. Weber entdeckte hier, daß genuin religiöse Sinngebungen eine entscheidende Rolle bei der Schaffung der Bedingungen für die umfassende Rationalisierung der menschlichen Welt gespielt haben. Insofern wird die »Genealogie der modernen Gesellschaft« von Weber (wie von 153
Sombart, Tönnies und Scheler) sehr wesentlich als ein religionssoziologisches Problem verstanden.601 Dabei ist jedoch festzuhalten, daß diese bestimmte Religion durchaus von sich aus und bewußt auf die Entzauberung der Welt hingearbeitet hat. Die Säkularisierung geschah also im Sinne dieser Religion, nicht gegen sie. Eine Säkularisierung der Welt aus religiösen Motiven ist ein Paradox nur dann, wenn man einen dogmatischen Begriff von Religion besitzt. Der Vorgang, daß die in Gang gesetzte Rationalisierung sich dann von den religiösen Motiven ablöste und verselbständigte (ja: deren Bestand in Frage stellte), ist ebenfalls nicht eigentlich paradox, sondern - so glaubte jedenfalls Max Weber - empirisch zu erklären. Die Religion wird dadurch nicht notwendigerweise aufgehoben oder gar widerlegt, womöglich aber zu einer Überprüfung ihres Selbstverständnisses bewegt.602 Ein solcher Vorgang ist aber nach Webers Auffassung ebenfalls für den Religionssoziologen interessant. Zwar hebt er gerade in der Protestantischen Ethik hervor, daß es der Religionssoziologie (im Gegensatz zur Theologie) nur auf die praktischen Auswirkungen religiöser Überzeugungen auf die Lebensführung ankomme bzw. auf die Wechselwirkung zwischen religiösen Sinngebungen der Lebensführung und ökonomisch-gesellschaftlichen »Lebensmächten«. Wie schon Webers extensive Beschäftigung mit der theologischen Literatur im Rahmen der religionssoziologischen Erstlingsarbeit beweist, faßte er diese Aufgabenstellung jedoch keineswegs eng auf. Er hielt es geradezu für unmöglich und unangemessen, wenn die empirische Religionssoziologie ihr Interesse auf die geschichtlich eingetretenen (Wechsel-)Wirkungen einschränkte. Eine solche Selbstbeschränkung widerspricht für Weber der Grundorientierung der Soziologie auf die Erhellung der Bedingungen und Möglichkeiten gegenwärtigen menschlichen Handelns. Denn für den gegenwärtig Handelnden ist es ein ganz entscheidender Punkt, wie konsequent die bestimmte Lebensführung aus den religiösen Prämissen folgt, wie legitim also in diesem Sinne die religiös-ethische Sinndeutung ist. Die Religionssoziologie hat es deshalb nicht bloß mit dem Faktum, sondern auch mit der Möglichkeit und der Legitimität der Auswirkungen religiös-ethischer Sinngehalte zu tun.603 Wenn also eine Religion (wie der asketische Protesantismus) ihren praktischen Einfluß verliert, so nicht notwendig damit auch das Interesse des Soziologen. Denn unter den diesen interessierenden Fragen ist auch die, wiefern die gewandelten Verhältnisse sich tatsächlich den überkommenen religiösen Sinndeutun154
gen entziehen. Ferner kann es für den Religionssoziologen wichtig sein, innerreligiöse Entwicklungen, die durch die erfahrene Entfremdung von der Welt motiviert sind, daraufhin zu untersuchen, ob sie - bei innerer Stringenz - Möglichkeiten einer künftigen praktischen Wirksamkeit enthalten. In der Offenheit für solche Fragen scheint sich mir das unterscheidende Kennzeichen der Weberschen Religionssoziologie aufs deutlichste auszusprechen. Dies unterscheidende Kennzeichen liegt nach allem Gesagten darin, daß von Weber die Ebene religiöser Sinndeutung des Lebens als eine grundsätzlich eigenständige und gerade in ihrer Eigenständigkeit soziologisch bedeutsame anerkannt wird.604 Der Verzicht auf eine strikte Reduktion religiöser Gehalte auf soziale oder psychische Tatbestände 605 sicherte ihm die Möglichkeit, im konkreten Fall die Bestimmtheit solcher Sinngehalte durch gesellschaftliche Faktoren (vor allem: Klassenlagen) festzustellen.609 Es scheint mir hier auch der eigentliche Grund dafür zu liegen, daß Weber sich innerreligiöse Prozesse der Rationalisierung zum Thema macht, wie es oben angedeutet wurde. Seine Intention wird sehr mißverstanden, wenn man darin eine rationalistische Entstellung des schlechthin Irrationalen entdeckt.607 Die religiöse Erfahrung selbst galt Max Weber, wie gesagt, durchaus als irrational. Ebensosehr war er aber davon überzeugt, daß jede Religion, um Wirkung zu haben (d. h. zunächst einfach: um kommunizierbar zu sein), auf eine rationale Durcharbeitung, Klärung und Systematisierung ihres »Heilsbesitzes« angewiesen sei. Außer solcher immanenter Rationalisierung bedarf sie einer rationalen Auseinandersetzung mit den nicht-religiösen Sinngebungen. Mit dem so verstandenen Rationalen an den Religionen hat die verstehende empirische Soziologie zu tun. Unter Umständen muß sie dabei allerdings im idealtypischen Verfahren eine religiös begründete Einstellung rationaler, d. h. in sich schlüssiger und hinsichtlich ihrer Folgen bewußter machen, als sie faktisch ist. Dies geschieht, um die in ihr enthaltenen Deutungs- und Wirkungsmöglichkeiten klarzustellen.008 Auf diese Weise erfüllt die Religionssoziologie auch eine ideologiekritische Funktion, indem sie einen bestimmten Anspruch oder auch einen faktischen Einfluß der Religion als illegitim feststellt. (In der Protestantischen Ethik will Max Weber nicht nur zeigen, daß ein faktischer Zusammenhang bestand, sondern daß die innerweltliche Askese mit ihren Folgen konsequent aus den gegebenen religiöstheologischen Annahmen hervorging. Die »Protestantische Ethik« war ursprünglich nach Weber nicht der bloß ideologische Uberbau 155
zur kapitalistischen Produktionsweise. Sie konnte es allerdings leicht werden, hörte jedoch damit für Max Weber auf, religiösen Anspruch machen zu können.) Der Vorwurf des unangemessenen Rationalismus gegen Webers Religionssoziologie verkennt deshalb, wenn er nicht überhaupt auf einem Mißverständnis des vieldeutigen Begriffs der Rationalität beruht, daß die Konzentration auf die Rationalitätsproblematik dem Bestreben entspringt, die Eigenständigkeit religiöser Erfahrung anzuerkennen und trotzdem eine wissenschaftliche (d. h. im allgemeinsten Sinne: intersubjektiv überprüfbare) Gegenstandsbildung sicherzustellen. Einer totalen Irrationalisierung des religiösen Verhaltens vermöchte die Wissenschaft nur durch eine naturwissenschaftlich-objektive Einstellung zu entsprechen. Ebenso setzt ζ. B. ein rein funktionalistischer Ansatz in der Religionssoziologie einen blinden, unreflektierten (und insofern auch nicht rationalen) Ablauf des religiösen Verhaltens voraus. Man könnte in Webers Hervorhebung des Rationalitätspro"blems endlich eine Folge seines Ausgangs von den hochbewußten und durchreflektierten (d. h. auch: individualistischen) Formen der Religiosität in der Neuzeit sehen. Kritisch gewendet hieße das (im geraden Gegensatz zum genannten Vorwurf), daß Weber einen zu anspruchsvollen Begriff von Religion in seinen Untersuchungen zugrundelege. Diese Kritik hätte einige Berechtigung, wenn Weber nicht ausdrücklich, wie erwähnt, keine allgemeine Religionsgeschichte oder Religionsphänomenologie hätte liefern wollen, sondern bewußt die modernen abendländischen Verhältnisse als zentrales und die Perspektive der gesamten Forschung bestimmendes Thema gewählt hätte. So kommen andere Religionen vornehmlich in den Blick, soweit es für einen Vergleich mit den modernen okzidentalen Formen wichtig ist; das aber heißt: vor allem im Hinblick auf die ihnen eigentümlichen Weisen der Rationalisierung, Ethisierung usf. Ohne Zweifel bestimmt ein sehr spezifisches Erkenntnis- und praktisches Interesse bei Weber die Formierung des religionssoziologischen Gegenstandes und hier insbesondere des religiösen Faktors. Dies sollte die vorliegende Darstellung und Diskussion zeigen. Webers Religionssoziologie bezog ihre leitenden Hinsichten aus Fragestellungen, die ihm in der eigenen Existenz notwendig erwuchsen. Sie ist daher als »Verwissenschaftlichung einer weltanschaulich sich aufdrängenden Problematik zu kennzeichnen« βοβ , wenn dabei nur beachtet wird, daß die Nötigung zur Rationalität 156
für Weber selbst ein Moment seiner Weltanschauung war. Die Religion galt ihm nicht bloß als interessantes Objekt der Wissenschaft; andererseits war er von ihr (in ihren überkommenen Formen) auch nicht als homo religiosus unmittelbar betroffen. Vielmehr erfuhr Weber die Religion als begründeten Anspruch an die Wissenschaft und die wissenschaftlich-technische Welt, sich über die eigenen Möglichkeiten, Voraussetzungen und Grenzen Klarheit zu verschaffen. Wenn Weber sich vorzüglich auf die eigentümliche Rationalität der Religionen konzentriert, so ist der wichtigste Grund dafür offenbar die Absicht, die religiöse Position möglichst stark (nämlich in sich stringent und ethisch ernsthaft) zu machen. Zugleich entzieht er damit kurzschlüssigen Entgegensetzungen von säkularer - Rationalität und religiös-überweltlicher Irrationalität den Boden. Mit dieser Vorgehensweise wird nicht jede religiöse Position einverstanden sein, wohl aber - prinzipiell - eine jede, die sich ihrerseits auf die Kommunikation mit den weltlich-rationalen »Mächten« einlassen will.610
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4.
Max Weber Im Theorievergleich
4.1
Verhältnlsbestimmungen
Die vorliegende Explikation der Weberschen Grundlegung der Soziologie ist von der Auffassung geleitet, daß es gerade die einheitliche Zielrichtung dieser Grundlegung sei, welche das Interesse an Webers Soziologie in der gegenwärtigen Diskussion begründe. Diese einheitliche Intention wurde darin gefunden, die Soziologie als (um bei diesem überkommenen Terminus zu bleiben) Wirklichkeitswissenschaft zu entwickeln. Dies bedeutet für Weber, daß die Soziologie einerseits als möglichst strenge und erklärungsfähige Wissenschaft aufzufassen ist, daß sie sich aber andererseits grundsätzlich in Theorie und Forschung auf der Erfahrungsebene (möglichen) geschichtlichen Handelns zu halten hat. Es wurde in dieser Arbeit versucht darzulegen, in welcher Weise Weber, geleitet von diesem Interesse, das methodische und begrifflich-theoretische Instrumentarium der Soziologie zu entwickeln unternahm und wie und in welchem Maße er selbst seine Vorstellungen von empirischer Soziologie - auf dem religions-soziologischen Felde - realisierte. Diese Darstellung mag die Webersche Stellung homogener erscheinen lassen, als sie sich in Webers Arbeiten selbst darbietet. Es ist dies nicht unzulässig, wenn sie (gleichsam idealtypisch) die beherrschenden und durchgehenden Züge der Position Webers trifft und konsequent entwickelt. Wünschbar ist ein solches Vorgehen darüberhinaus, wenn, wie es hier beabsichtigt ist, die Aktualität des Weberschen Ansatzes in prinzipieller Hinsicht möglichst scharf heraustreten soll. Ebenso dürfte gerade eine solche Darstellung einsichtig machen, daß eine konsequente Fortentwicklung der Weberschen Grundlegung möglich ist und auch: an welchen Punkten diese vor allem anzusetzen hat. In den folgenden, abschließenden Erörterungen sollen in knapper und vorläufiger Weise einige wichtige Punkte bezeichnet werden, in denen nach meiner Auffassung die Bedeutung Webers für die gegenwärtige Soziologie liegt. Indem diese Erörterungen verschiedene neuere Ansätze mit dem Weberschen konfrontieren, verfolgen sie eine durchaus systematische Absicht; diese korrespondiert der oft betonten einheitlichen Intention der Grundlegung Webers. Tatsächlich scheint mir die grundsätzliche Einheitlichkeit und Kohärenz des wissenschaftstheoretischen und theoretischen Entwurfes Webers derart zu sein, daß damit eine große Vielfalt empirisch158
soziologischer Ansätze im einzelnen notwendig gesetzt ist. Es folgt dies nicht zuletzt aus der oben diskutierten Geschichtlichkeit sozialwissenschaftlicher Begriffs- und Theoriebildung. Das dominante, wenn auch nicht allenthalben gleich explizite Problem der gegenwärtigen Soziologie (wie, in ähnlicher Weise, aller Sozialwissenschaften) dürfte sein, wie die notwendige Vermittlung der Wissenschaft mit der gesellschaftlichen Praxis zu fassen und zu realisieren sei. Des näheren setzt sich allmählich die Einsicht durch, daß über die Vermittlungsfähigkeit von Wissenschaft in diesem Sinne bei der Begriffs- und Theoriebildung entschieden wird, daß dies also kein dem Wissenschaftsprozeß selbst äußerliches Problem ist. Der wichtigste und auch folgenreichste systematische Ansatz in dieser Richtung aus jüngerer Zeit dürfte der von Berger und Luckmann sein, sofern hier als primärer Bezugsbereich soziologischer Theoriebüdung das handlungsbestimmende, gesellschaftlich konstituierte Wissen festgestellt wird.611 Entscheidend ist nicht nur, daß die Soziologie (im Zuge ihrer Erklärungsabsicht) damit die lebensweltliche Selbsterfahrung gesellschaftlich Handelnder ernstnimmt, sondern daß lebensweltliche und wissenschaftliche Situations- und Verhaltensdeutung sozusagen miteinander kommensurabel werden und in ein Verhältnis wechselseitiger Kritik treten. Dieser Ansatz steht in einem expliziten Zusammenhang mit der Weberschen Grundlegung und bezieht sich vor allem auf deren einschlägig orientierte - Interpretation und Entwicklung bei A. Schütz. Dennoch wird auch bei dieser Rezeption nicht hinreichend deutlich, wie entschieden und ausdrücklich Weber auf eine derart mit geschichtlichem Handeln vermittelbare empirische Soziologie abstellte.612 Vor allem die Weberschen Überlegungen zur Methodologie sind jedoch nur aus dieser Perspektive angemessen zu beurteilen. Es könnte daher sehr wohl sein, daß aus der ausstehenden methodologischen Entfaltung des wissenssoziologischen Ansatzes613 gerade den Bemühungen und Vorschlägen Webers eine neue Aktualität und Plausibilität zuwächst. In ihrer (dialektischen) Verflochtenheit mit gesellschaftlicher Praxis liegt nach eigenem Urteil das spezifische Merkmal und die Überlegenheit marxistischer Sozialwissenschaft. Max Weber gilt vielen marxistischen Theoretikern demgegenüber noch immer als Exponent einer der Praxis-Wirklichkeit entfremdeten und diese Entfremdung selbst perpetuierenden bürgerlichen Soziologie614 welche als objektivistische, nominalistische und wertfreie zugleich 159
Spiegel wie ideologische Rechtfertigung verdinglichter Verhältnisse sei. Bei einer derartigen Qualifizierung der Stellung Webers scheinen mir Gesichtspunkte vernachlässigt zu werden, die zu bedenken eine entschieden auf Handlungsinteressen hin orientierte Sozialwissenschaft allen Anlaß hätte. Die entscheidende Frage an marxistische Begriffs- und Theoriebildung dürfte sein, ob sie die postulierte Einheit von Analyse und Kritik 615 verdinglichter Verhältnisse tatsächlich realisiere. Die kritische Dimension marxistischer Analyse ist es ja, welche gesellschaftliches Handeln als solches allererst freisetzt, sofern sie die verdinglichten, »naturwüchsigen« Verhältnisse in ihrem gesellschaftlichen und geschichtlichen Wesen sichtbar macht. Ohne Zweifel ist entfremdetes Verhalten als solches nur aufzudecken, wenn die Analyse geleitet ist von einem Vorbegriff von Sozialität und den in ihr angelegten Entfremdungsmöglichkeiten. Mir scheint nun tatsächlich, daß im Rahmen marxistischer Ansätze bisher das begriffliche und methodische Instrumentarium zur Erfassung genuin sozialen Handelns nur unzulänglich entwickelt ist. Habermas hat den Grund für dieses Defizit in der »Reduktion des Selbsterzeugungsakts der Menschheit auf Arbeit« gesehen.616 Sowenig gegen Marx mit einer abstrakten Trennung (oder gar Entgegensetzung) von Arbeit und Interaktion argumentiert werden kann, so begründet erscheint mir die These, daß die Vernachlässigung der Ebene der Sozialität von einem unaufgeklärten Begriff der Materialität herrührt. Zwar enthalten speziell Marx' frühe Schriften die anthropologische Grundlegung einer Theorie sozialen Handelns.·17 Die Politische Ökonomie (als »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft«) jedoch konzentriert sich darauf, die »Naturgesetze der kapitalistischen Produktion«, . . . »diese mit eherner Notwendigkeit wirkende und sich durchsetzenden Tendenzen« 618 als solche (d. h.: in ihrer verdinglichten, naturwüchsigen Erscheinungsform) aufzudecken. Es werden die gesetzmäßigen Abläufe und Tendenzen nicht, wie es der analytischen und kritischen Intention entspräche, auf eine systematische Weise als verdinglichte gesellschaftliche Prozesse (oder: als noch nicht zu sich selbst gekommene Sozialität) enthüllt. Mir scheint dieses sowohl begrifflichtheoretische wie methodische Defizit der marxistischen Stellung nicht nur nicht ausgefüllt, sondern bei vielen ihrer Repräsentanten noch nicht einmal als solches erkannt zu sein.619 Die Webersche Theorie sozialen Handelns ist, wie wiederholt festgestellt, ergänzungsbedürftig, vor allem im Hinblick auf die Mechanismen und Formen der Verfestigung (Materialisierung) 160
sinnbezogenen sozialen Verhaltens zur »zweiten NaturWeberiamsche< Theorie
Ein besonders auffälliges und erklärungsbedürftiges Kennzeichen der jüngeren (und noch andauernden) Weber-Rezeption besteht darin, daß Weber auch als bedeutender, vielleicht sogar bedeutendster Theoretiker der Soziologie gesehen und beansprucht wird. Dabei geht es nicht um die theoretische Natur vieler Konzepte und Analysen, die sich im gesamten, und zwar auch dem frühen, präsoziologischen Werk, vor allem aber natürlich in Wirtschaft und Gesellschaft verstreut finden, sondern um dasjenige allgemeine theoretische >SystemPhilosophen< »nur im abschätzigen Sinne: für jemanden, der die Tatsachen lieber seiner Theorie anpaßt als umgekehrt«631. Talcott Parsons war es auch, der es als erster und zugleich für viele Jahre als letzter unternommen hat, Webers Beitrag zur theoretischen Soziologie in seiner fundamentalen Bedeutung zu bestimmen und für die Ausarbeitung eines »single coherent body of theory«, und dies in Gestalt einer einheitlichen »theory of social action«632, nutzbar 164
zu machen. Einen solchen Versuch hatte es in Deutschland bis dahin (bzw. bis 1933) nicht gegeben; nach 1945 aber beherrschten zunächst einige aus den Vereinigten Staaten stammende Paradigmen (insbesondere die Struktur-funktionale Theorie, eine häufig trivialisierte Form der Rollentheorie oder aber die Verhaltenstheorie) und dann die materialistische Konzeption das Feld der allgemeinen Theorie in Westdeutschland. Talcott Parsons seinerseits geht in seiner Hochschätzung Webers so weit zu behaupten 633 , dieser sei in der frühen deutschen Soziologie fast der einzige gewesen, der »die logische Notwendigkeit allgemeiner Konzepte für eine empirische Erkenntnis, die ihren Namen verdient«, erkannt habe, und damit tut Parson allerdings solchen Denkern wie Tönnies oder Simmel durchaus Unrecht - von Marx, der kein >Soziologe< war und sein wollte, ganz abgesehen. »Webers eigene Theoriearbeit«, so sagt Parsons, »setzte bei der historistischen Tradition an, zielte aber am Ende auf ihre Überwindung« 634 . Eben darin liegt nach ihm die Größe und Bedeutung, aber auch die Grenze Webers als eines soziologischen Theoretikers. Diese Grenze sieht Parsons nämlich genau darin, daß Weber, anders als Pareto und Dürkheim (der »fast den reinen Typus eines theoretischen Kopfes« repräsentierte), »sich nicht daran gemacht( habe), ein allgemeines theoretisches System auf dem Felde des Gesellschaftlichen zu errichten«, und Parsons fügt hinzu: »Tatsächlich spricht wenig dafür, daß er eine klare Vorstellung von der Möglichkeit resp. der Nützlichkeit hatte, derartiges zu unternehmen« 635 . Es handelt sich also hier, nach Parsons' richtiger Einsicht, um eine bewußte Selbstbeschränkung Webers. Sie erscheint ihm aber, alles in allem, doch als eine »Sache minderer Bedeutung«, und dies nicht nur angesichts der Verdienste, die sich Weber um die soziologische Theoriebildung erworben habe. Noch wichtiger ist es für Parsons, daß man auch in diesem Falle den Autor besser verstehen kann und muß, als er sich selbst verstanden hat. Implizit nämlich enthält Webers Werk nach seiner Auffassung sehr wohl »den Umriß eines allgemeinen theoretischen Systems«, nämlich diejenige die falschen Antithesen von Positivismus (oder Materialismus) und Idealismus, Utilitarismus und Organizismus, Historizismus und Naturalismus etc. überwindende - »voluntaristische Theorie des Handelns«, deren Ausarbeitung und Systematisierung die Absicht von »The Structure of Social Action« ist. Es ist hier nicht der Ort nachzuzeichnen und zu erörtern, wie sich die Beurteilung Webers als eines soziologischen Theoretikers bei 165
Parsons im Zuge der Entwicklung des eigenen Systems verändert hat. Es ist keine Frage, daß sich dieser Parsonianische »single coherent body of theory« sehr bald sehr weit - und zwar nicht nur der Entfernung, sondern auch der Richtung nach - von dem fortbewegt hat, was er ursprünglich als das implizite »generalized theoretical system« Webers glaubte identifizieren zu können. Ebenso unbestreitbar erscheint mir aber, daß er sich auch weiterhin von fundamentalen Motiven der theoretischen Arbeit Webers hat bestimmen lassen. Dies betrifft einerseits die allgemeine Orientierung an einem action frame of reference und andererseits die von Weber intendierte Überwindung bzw. Vermittlung falscher theoretischer bzw. metatheoretischer und methodologischer Alternativen. Beides bringt Parsons sehr deutlich in dem kurz vor seinem Tode, aus Anlaß seiner Heidelberger Ehrenpromotion (1979), gehaltenen Vortrag On the Relation of the Theory of Action to Max Weber's Verstehende Soziologie zum Ausdruck. Die »wichtigsten Beiträge Max Webers zu einer Theorie des Handelns« liegen nach Parsons »auf drei verschiedenen Ebenen« 6 3 6 : Auf der methodologischen Ebene habe Weber sich gegen das »falsche Dilemma« von Naturwissenschaft versus Kulturwissenschaft (als Geisteswissenschaft) und gegen die Auffassung gestellt, »daß nur die Naturwissenschaften mit einer verallgemeinernden Konzeptualisierung zu tun haben«. Er habe in seiner Methodologie und in seinem materiellen Werk gezeigt, daß in den historischen Sozialwissenschaften ein »Gleichgewicht zwischen dem subjektiven und dem objektiven Aspekt« möglich und die Verbindung von kausalem Erklären und »deutendem Verstehen« notwendig sei. Auf der philosophischen Ebene habe Weber das »Dilemma der Dichotomisierung der Handlungs-Realität in Begriffen von >Realfaktoren< und »Idealfaktoren*« (resp. von >Positivismus< und »Idealismus«) hinter sich gelassen. Auf der soziologischen Ebene schließlich habe er die Unfruchtbarkeit der »Entweder-oder-Frage« im Hinblick auf die Gemeinschaft-Gesellschaft-Dichotomie aufgewiesen. Dieses letzte, von Parsons so deutlich hervorgehobene und übernommene Motiv nun hat in der nachfolgenden Rezeption des Theoretiker Weber eine wichtige Rolle gespielt. Nur wenigen Interpreten ist entgangen, daß dies ein entscheidendes und unterscheidendes Merkmal Weberianischer Theorie ist. Übersehen wurde es nur da, wo man Weber, unter Verzicht auf jedes breitere und genauere Studium seiner Schriften, als »Idealisten« ( also als >AntiMarxWertfreiheit< stützte. Wer dagegen, wie die meisten Interpreten, Webers Bemühungen um einen »dritten Weg< wahrnahm und auch für prinzipiell berechtigt hielt, mußte diese Bemühungen dennoch nicht für erfolgreich und überzeugend halten. Tatsächlich war dies lange Zeit wohl eher die Ausnahme, und dies ist übrigens auch ein wichtiger Grund dafür, daß es einen einigermaßen geschlossenen >Weberianismus< bis heute nicht gibt. Es ist, auch unter >WeberianernSynthese< als nicht nur unvollendet, sondern auch als (nach der einen oder anderen Seite hin) unausgewogen bzw. als mehrdeutig und nicht kohärent beurteilt wird. Eine auch heute noch häufig vertretene Kritik besagt so, daß es deutliche Inkongruenzen oder Diskrepanzen nicht nur zwischen den verschiedenen Phasen des Weberschen Denkens, sondern auch zwischen den verschiedenen Teilen oder Dimensionen von dessen Soziologie gebe, und zwar insbesondere zwischen den konzeptuellen, theoretischen und methodologischen Arbeiten einerseits, den materiellen Analysen der historischen und vergleichenden Soziologie andererseits. Für die Weber-Rezeption der letzten Jahre gilt nicht nur, daß der Theoretiker (und Methodologe) Max Weber eine ganz neue Bedeutung erlangt hat, sondern auch, daß der multidimensionale und »synthetische« Charakter der theoretischen Konzeption Webers betont und sehr häufig auch als deren besonderer Vorzug gegenüber den konkurrierenden Auffassungen bewertet wird. Der Tatbestand, daß Weber »allen Interpreten etwas bietet - den parsonianischen Funktionalisten, den Anti-Marxisten, den Idealisten ebenso wie den Evolutionisten, aber auch den Anti-Funktionalisten, den symbolischen Interaktionisten, der Sozialphänomenologie und der Konflikttheorie« (und, so wäre zu ergänzen, auch den marxistischen Theoretikern verschiedener Observanz) - wird so von Collins637 zwar mit dem Fehlen der »one grand synthesis« erklärt, aber doch eher als Ausdruck der Komplexität denn als Mangel des Weberschen Denkens betrachtet. Jeffrey Alexanders großangelegtes Werk Theoretical Logic in Sociology ist von der Annahme bestimmt, daß »es in der Soziolo167
gie nie einen vollständigen Konsens geben wird, daß sie aber desungeachtet nach einer allgemeinen und synthetischen Theorie streben muß«638. Genau dies ist der Grund, weshalb die Rekonstruktion des Weberschen Denkens für sein Vorhaben von ganz besonderer Wichtigkeit ist. Ohne Zweifel haben Marx und Dürkheim viel entschiedener und ausdrücklicher an einer »general and synthetic theory« gearbeitet, und deshalb sind sie auch jederzeit als eminente Theoretiker betrachtet worden. Sie konnten ihre jeweiligen Generalisierungen und Synthesen jedoch nach Alexanders zutreffender Einsicht nur um den Preis einer ebenso entschiedenen Einseitigkeit erreichen, die Alexander639 im Falle von Marx, wenig glücklich, als »instrumentalistisch«, im Falle von Dürkheim als »normativistisch« oder auch »idealistisch« kennzeichnet. Im Vergleich mit ihnen (und anderen, weniger gewichtigen Klassikern) ist Weber für Alexander deshalb der größere und auch der aktuellere Theoretiker, weil ihm der Ehrentitel gebührt, den »classical attempt at synthesis« in der soziologischen Theorie unternommen zu haben640. Noch eindeutiger und nachdrücklicher als Parsons behauptet Alexander also, daß es nicht nur eine Vielzahl heterogener theoretischer Einflüsse im Weberschen Denken und auch nicht nur vorsichtige und mehr oder minder latente Ansätze zu ihrer Versöhnung gebe, sondern daß Webers späteres Werk »a powerful strand of synthetic and multidimensional theory«641 aufweise: »Weber gelangt in seinem späten Werk zur ersten wahrhaft synthetischen Form von soziologischer Theorie, einer multidimensionalen Analyse, die in einer sehr fundamentalen Weise die idealistische und die materialistische Theorie rekonstruiert, statt sich ihrer nur zu bedienen«642. Diesen »theoretical breakthrough« hin zu einem »komplexen und differenzierten Modell des gesellschaftlichen Lebens«643 das sich insbesondere auf die Religion, die religiöse Evolution, die Klassenprobleme und die städtische Revolution beziehe - bzw. zu einem »multidimensionalen Verständnis von Handlung und Ordnung«644 verortet Alexander in die Zeit unmittelbar nach Webers psycho-physischem Zusammenbruch (d.h. in eine Zeit, in der Weber noch durchaus kein klares und eindeutig positives Verhältnis zur >Soziologie< besaß). Vor allem in seinen späteren Arbeiten ist es Weber nach Alexanders Interpretation allerdings nicht immer gelungen, sich auf der »Höhe des schon Erreichten« zu halten. Teile der Religionssoziologie, größere Teile der politischen Soziologie und Webers »portrayal of modern industrial society« sogar insgesamt sind nach seiner 168
Meinung vielmehr charakterisiert und verdorben durch einen Rückfall in jene »dichotome und instrumenteile Logik«, jene materialistische bzw. »mechanizistische« und »deterministische« Orientierung645, die die frühen historisch-politischen Analysen Webers geprägt habe. Hier, im Verkennen der fortwirkenden Bedeutung der »normativen« und speziell der religiösen Dimension, sieht Alexander auch den Hauptgrund für Webers Schwierigkeiten, den »Übergang zur Modernität« und die Modernität selbst theoretisch adäquat zu erfassen. Erst Parsons habe, so meint Alexander, »eine umfassende, multidimensionale >Weberianische< Soziologie der Modernität«646 entwickelt. Die meisten der Theoretiker, die in den letzten Jahren versucht haben, das Webersche »Programm« fortzuführen, haben demgegenüber nach Alexander den »instrumentalistischen« Rückfall Webers mitvollzogen oder sogar noch überboten. Dies gilt nach seiner Auffassung für die verschiedenen Varianten des Webero-Marxismus (bei Mills, Rex oder Lockwood), für den »Weberianischen Marxismus« von Habermas und schließlich auch für Randall Collins, der in seiner Conflict Sociology, wie Alexander meint, »in einer ganzen Serie von weitreichenden empirischen Behauptungen einen hypertrophen Instrumentalismus entfaltet« habe647. Jeffrey Alexanders Interpretation und Kritik Webers kann als Leitfaden des Versuchs dienen, einige Kernfragen der gegenwärtigen Diskussion über Weber als master theorist der Soziologie zu identifizieren und zu klären. Diese Fragen betreffen 1. das - tatsächliche oder vermeintliche Scheitern der von Weber - tatsächlich oder vermeintlich - intendierten großen theoretischen Synthese, 2. die Gründe dieses »Scheiterns« und 3. das - tatsächliche oder vermeintliche - Unvermögen Webers, die Moderne (und den Übergang zur Moderne) theoretisch angemessen zu erfassen und zu erklären. Was die erste Frage angeht, so wird das fragliche Scheitern Webers - aus leicht verständlichen Gründen - seit jeher von allen Interpreten behauptet, die glauben, daß die Soziologie eines »single coherent body of theory«, einer einheitlichen, geschlossenen und gleichsam »absorptiven« Theorie der Gesellschaft bedürftig und fähig sei. So findet sich eine derartige Feststellung und Kritik regelmäßig bei marxistischen Autoren, aber z.B. auch bei Leopold von Wiese, der, erstaunlich genug, fest überzeugt war, mit seiner Beziehungslehre Weber in dieser Hinsicht weit übertroffen zu haben. In der Gegenwart wird sie - im Gefolge von T. Parsons - außer von 169
Alexander vor allem, und zwar im Rahmen anspruchsvoller eigener theoretischer Bemühungen, von Richard Münch vorgetragen. Münch meint, wie angemerkt, im Unterschied zu Alexander auch, daß es trotz aller »ungelösten Probleme« doch Dürkheim gewesen sei, der »unter allen klassischen Soziologen die tiefste und geschlossenste theoretische Konzeption« erreicht habe648. Außer Alexander und Münch wird man in diesem Zusammenhang auch Habermas nennen müssen. Dessen Theorie des kommunikativen Handelns weist zwar bemerkenswerte Fortschritte in der Rezeption und Hochschätzung Webers auf (auch hält Habermas nunmehr - bis auf weiteres - eine System und Lebenswelt übergreifende theoretische Synthese für unmöglich), doch betont er auch hier die prinzipiellen Unzulänglichkeiten der Weberschen Theorie des sozialen Handelns. Nur auf den ersten Blick ist es erstaunlich, daß, was die zweite der genannten Fragen (also die Gründe des Scheiterns Webers) angeht, Alexander, Münch und Habermas durchaus ähnlich, nämlich mit der Dominanz des instrumentalistischen Begriffes vom Handeln und der daraus folgenden »Eindimensionalität«649 der theoretischen Perspektive Webers, argumentieren. Münch glaubt darüber hinaus, daß Weber - zugleich oder trotzdem? - allzu sehr dem »historischen Idealismus« verpflichtet gewesen sei650, um über die immer perspektivische Konstruktion einer Mehrzahl von idealtypischen Modellen hinaus zu dem vorzustoßen, was Münch eine »tiefere Struktur«, ein »abstrakteres, allgemeingültiges Gesamtmodell« bzw. ein »geschlossenes Modell«651 nennt. Die Vielzahl und der Wechsel der theoretischen Perspektiven als solche gelten Münch also als der eigentliche Mangel. Der dadurch ermöglichten »Verabsolutierung« der einen oder anderen Perspektive durch verschiedene Interpreten - so des »rationalistischen Idealismus« (sie!) durch Tenbruck oder des »macht- und konflikttheoretischen Positivismus« durch Mommsen und Collins - könnte man, Münchs Idealen folgend, immerhin noch zugute halten, daß sie ja jeweils zu »geschlossenen Modellen« führt. Unterschiedlicher, aber insgesamt doch deutlich positiver, sind die Urteile der genannten und vieler weiterer Interpreten, was die dritte der genannten Kernfragen - Webers Bedeutung für eine Theorie der Moderne und ihrer Genese - betrifft. Tatsächlich steht in diesem Punkt Alexander mit seiner sehr negativen Meinung ziemlich isoliert da. Auch wo das Fehlen einer umfassenden theoretischen Synthese und die Dominanz einer instrumentalistischen 170
Perspektive kritisiert wird, wird in aller Regel doch festgestellt, daß Weber sich - viel eher als Marx und auch als Dürkheim - als der scharfsinnigste, nüchternste und differenzierteste Theoretiker der okzidentalen Moderne - ihrer Eigenart, ihrer Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen und ihrer Antagonismen - erweise (und daß in dieser Hinsicht allein Georg Simmel neben, wenn nicht sogar über ihn zu stellen sei). Aus welchen Gründen ist Weber, insbesondere in den letzten Jahren, derart zum wichtigsten, jedenfalls zum - innerhalb wie außerhalb der Profession - am meisten zitierten Theoretiker der Moderne geworden, und zwar einschließlich der sogenannten »Postmoderne« (die man wohl als den neuesten Versuch betrachten muß, den Zwängen und Antinomien der Moderne mit den Mitteln der Moderne zu entkommen)? Wie immer man diese Frage beantwortet, eines ist sicher: Dieser Grund liegt nicht darin, daß Weber eine umfassende, alle relevanten Dimensionen und Faktoren in einem »integrierten« Modell verknüpfende und in diesem Sinne »geschlossene« Theorie der Gesellschaft im allgemeinen und der modernen Gesellschaft im besonderen zur Verfügung stellte. Derartiges findet man bei ihm nicht, und es ist auch höchst unwahrscheinlich, daß er es jemals unternommen hätte, eine umfassende und abgeschlossene »Theorie der Moderne« (oder auch nur eine »Theorie der modernen Kultur«, etwa nach Art des jüngsten Buches von Richard Münch) zu konstruieren. Wäre es möglich, daß die Attraktivität und Fruchtbarkeit der Ideen und Analysen Webers zur Moderne gerade umgekehrt damit zu tun haben, daß Weber dabei, und zwar nicht nur aus kontingenten Gründen, auf höhere Grade der Generalisierung und der Integration (der »Synthese«) verzichtet hat? Könnte es sein, daß zumindest dieser Gegenstand sich - bei näherer Betrachtung - nicht vermittels eines abstrakten, einheitlichen und geschlossenen theoretischen »Modells« erfassen und erklären läßt? Wäre Weber (wie Simmel) vielleicht genau deswegen nicht nur ein eminenter Theoretiker der Moderne, sondern auch ein eminent moderner Theoretiker (auf dem Felde der Sozial Wissenschaften), weil seine »Theorie« zugleich eine Kritik der Theorie ist - »Kritik« verstanden im Kantischen Sinne einer begründeten, rationalen Selbstlimitierung des Erkennens? Diesen Fragen ist, in ganz vorläufiger Weise, der abschließende Teil dieser Überlegungen gewidmet. Zuvor wäre es eigentlich notwendig, Webers Verhältnis zur Soziologie als theoretischer Sozial171
Wissenschaft im einzelnen (und in seiner Entwicklung) nachzuzeichnen, und zwar auch deswegen, weil hier ein großes Defizit auch noch der gegenwärtigen Diskussion des soziologischen Theoretikers Weber liegt. Unter den gegebenen Bedingungen müssen einige Hinweise genügen. Webers tätiges Interesse an einer theoretischen Sozialwissenschaft geht seinen Bemühungen um eine methodologische und theoretische Grundlegung der Soziologie zeitlich und sachlich voraus. Tatsächlich ist Weber immer, also auch schon vor seinen Veröffentlichungen zur Methodologie, dafür eingetreten, daß die historischen Kultur- und Sozialwissenschaften sich bei ihren kausalen Erklärungen im Rahmen des Möglichen theoretischer Generalisierungen bedienen müßten. So heißt es dann im »Geleitwort der Herausgeber« des 1. Bandes des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik (1904), dessen Sprache eindeutig auf Weber als Autor verweist: In dieser Zeitschrift werde man den »Anforderungen strenger Wissenschaftlichkeit« auch durch regelmäßige »erkenntniskritisch-methodologische Erörterungen über das Verhältnis zwischen den theoretischen Begriffsgebilden und der Wirklichkeit« entsprechen. Man werde sich bemühen, den immer stärker werdenden »Hunger nach sozialen Theorien« zu stillen; der »i.e.S. >Theorie< genannten Forschung« wird als spezifische Aufgabe die »Bildung klarer Begriffe« zugeordnet652. Es macht demnach keinen Sinn, zwischen einer frühen »historistischen« oder »idiographischen« und einer nachfolgenden theoretischen oder »nomothetischen« Phase in Webers Methodologie und/ oder Forschungspraxis zu unterscheiden. Über alle terminologischen Veränderungen und alle Verschiebungen der Perspektive hinweg vertritt Weber im Prinzip von Anfang an die Auffassungen, die er am Ende seines Lebens (nämlich im ersten Teil von Wirtschaft und Gesellschaft) noch einmal in konzentrierter und präzisierter Form vorgetragen hat: Um reale geschichtliche Verhältnisse und Entwicklungen begreifen und erklären zu können, muß sich die historische Sozialwissenschaft a) ohne Vorbehalt als empirischkausale Wissenschaft verstehen und sich als solche b) hinsichtlich ihrer Konzepte und Erklärungen um so viel theoretische Generalisierung bemühen, wie dies mit der Eigenart der jeweiligen »Sache« vereinbar ist. Die Soziologie, der sich Weber vergleichsweise spät und ohne besonderen Enthusiasmus zugewandt hat653, wurde von ihm als theoretischer Teil der historischen Sozialwissenschaft verstanden und 172
entwickelt. Der Artikel Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie und die Definitionen und Theoreme von Wirtschaft und Gesellschaft, aber auch viele Passagen der Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen, entsprangen der Absicht, diesen theoretischen Teil in einer »endlich ... streng wissenschaftlichen« Weise (anstelle der »Dilettanten-Leistungen geistreicher Philosophen«) auszuarbeiten. Die primär instrumenteile Funktion der Soziologie (»Typenbegriffe und generelle Regeln des Geschehens« zu bilden) hebt Weber mit der Feststellung hervor, daß die Soziologie »nicht um ihrer selbst willen« (sondern eben: wegen ihrer Unverzichtbarkeit für die Arbeit der historischen und vergleichenden Sozialwissenschaften) betrieben werde. Dieser Auffassung korrespondiert auch Webers Überzeugung, daß die von ihm vorgeschlagenen Konzeptualisierungen, etwa seine »soziologischen Einteilungsprinzipien der Herrschaftsformen«, keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Ausschließlichkeit erhöben und daß sogar die »verstehende Soziologie« insgesamt niemandem aufgenötigt werden könne. Nicht nur die - viel gelobte - »Multidimensionalität«, sondern auch die - viel beklagte - Unfertigkeit und der - viel kritisierte Mangel an »Synthese« (also das Fehlen eines einheitlichen und geschlossenen theoretischen Modells) ergeben sich so aus dem Tatbestand, daß die Soziologie von Weber nie als separate Wissenschaft (und schon gar nicht als höchste und am meisten synthetische Wissenschaft), sondern als theoretischer Teil einer umfassenden historischen Sozialwissenschaft verstanden wurde. Dies bedeutet nicht, daß nicht höhere Grade der Vollständigkeit, der Kohärenz und der Systematik erreichbar wären, als sie sich in Webers - gerade in dieser Hinsicht unvollendetem - Werk finden. Es bedeutet aber, daß alle Versuche, die Soziologie als eine einzige und einheitliche, kohärente, absorptive und geschlossene Theorie der geschichtlich-gesellschaftlichen Realität zu verstehen, sich nicht nur dem Grade nach, sondern prinzipiell von Webers Vorstellungen unterscheiden«54. Mit diesen Bemerkungen sei zu den aktuellen Diskussionen und des näheren zu den Fragen zurückgekehrt, die oben gestellt, aber nicht beantwortet wurden. Diese Fragen beziehen sich auf den tatsächlichen oder vermeintlichen Gegensatz zwischen der überragenden Bedeutung, die Weber als einem Theoretiker, und insbesondere als einem Theoretiker der modernen Kultur und Gesellschaft, zugeschrieben wird einerseits und dem Mangel an Homogenität, 173
Vollständigkeit oder Geschlossenheit seiner theoretischen Synthesen andererseits. Es spricht viel dafür anzunehmen, daß es sich hier, wenn überhaupt, um einen »dialektischen« Gegensatz handelt - in dem (Marxschen) Sinne, daß er nicht vermieden und in keiner höheren Synthese aufgehoben werden kann. Dies bedeutet, mit anderen Worten, daß die Stärken des Weberschen Denkens mit Notwendigkeit geknüpft sind an die von verschiedenen Interpreten hervorgehobenen Schwächen, und daß man die spezifischen Möglichkeiten dieser Art des Theoretisierens nicht nutzen kann, ohne ihre Grenzen zu akzeptieren. Darüber hinaus glaube ich, daß die Offenheit, Vielseitigkeit und auch Vieldeutigkeit der Weberschen Denkweise der modernen Kultur und Gesellschaft und der Verfassung des modernen Bewußtseins in besonderem Maße adäquat sind. Ganz zu Recht sehen die oben zitierten Autoren die Aktualität Webers vor allem darin begründet, daß er - in seiner Wissenschaftslehre, in seinen theoretischen Arbeiten und in seinen materiellen Analysen gleichermaßen - die Unhaltbarkeit und Sterilität der erwähnten Dichotomien und Alternativen demonstriert hat. Darüber hinaus bin ich überzeugt, und zwar noch mehr als einige von diesen Autoren, daß es in Webers Werk nicht nur eine ungeordnete, äußerliche Ansammlung, sondern eine wirkliche Verknüpfung vermeintlich gegensätzlicher Prinzipien und Methoden (Materialismus/Positivismus versus Idealismus, Kausalität versus Sinn, Erklären versus Verstehen, idiographische versus nomologische Orientierung, Wertfreiheit versus Wertbeziehung etc.) gibt. Schließlich erscheint es mir unbestreitbar, daß diese Synthese sich folgerichtig aus dem »action frame of reference« der Weberschen Theorie ergibt. Dieser Bezugsrahmen nämlich führt nicht nur zu einer bestimmten (und spezifischen) Menge von allgemeinen Begriffen oder Kategorien, sondern auch zu einer durchaus eigentümlichen und distinkten Form der Wahrnehmung, Ordnung und kausalen Erklärung historischer und sozio-kultureller Tatbestände. Die Webersche »Synthese« (bzw. die Webersche Form der Bildung und Verwendung konzeptueller Synthesen) gründet in den (sinnhaften) Synthesen, vermittels derer sich menschliches Handeln als sinnhaftes, gesellschaftliches, geschichtliches Handeln definiert, konstituiert und vollzieht. Diese Rückbindung an die »action reality« (Talcott Parsons) hat Weber im Zuge der Entfaltung seines Werkes nie aufgegeben; sie ist gemeint, wenn er auch im Blick auf die historische Soziologie von der Idee der »Wirklichkeitswissen174
schaft« spricht. Sie verweist auf die Grenzen nicht der Möglichkeit, wohl aber der Nützlichkeit einer generalisierenden Begriffs- und Theoriebildung in den historischen Sozialwissenschaften und erklärt, warum Weber seine eigenen Konzeptualisierungen 1. als weder erschöpfend noch exklusiv verstand und sie 2. hinsichtlich ihres logischen Status, als »idealtypisch« interpretierte. Nur diese Art der Konzeptualisierung ist nach seiner Auffassung imstande, dem wissenschaftlichen Bedürfnis nach Klarheit und Distinktheit zu genügen und zugleich das Bewußtsein der Differenz zwischen diesen analytischen Konstrukten und der lebensweltlichen Erfahrung wachzuhalten. Ein weiteres, sehr wichtiges Merkmal der Denkweise Webers (das von manchen Interpreten schon eindeutig zu deren >Defiziten< gerechnet wird) liegt darin, daß Weber die Soziologie weniger als spezielle Disziplin denn als theoretischen Teil der historischen Kultur- und Sozialwissenschaften (neben bzw. in Verbindung mit der theoretischen Nationalökonomie) verstand. Es ist ganz auffällig, daß Weber sich nicht, wie in prototypischer Weise Emile Dürkheim, abgemüht hat, die Soziologie als ganz neue Wissenschaft, und zwar als Wissenschaft sui generis, wenn nicht gar als Über-Wissenschaft, zu erweisen. Diesem Desinteresse korrespondiert seine Überzeugung, daß allgemeine Propositionen über »die Gesellschaft« oder »das Soziale« als solche zwar möglich und wohl auch unvermeidlich seien, daß sie aber aus der Sicht der historischen Soziologie kaum Erklärungswert besäßen. Die Soziologie existiert also, wie bemerkt, für Weber nicht nur nicht um ihrer selbst willen, sie stellt sich für ihn vielmehr überhaupt nicht als »reine«, von den anderen empirischen Wissenschaften vom menschlichen Verhalten klar geschiedene Disziplin dar. Nur deshalb ist es übrigens auch legitim, die Abhandlung zur Protestantischen Ethik als eine »soziologische« zu qualifizieren, wie Weber selbst es ja tut, indem er sie unter die Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie aufnimmt. Allerdings muß man, wenn man gerade aus dieser Abhandlung so etwas wie ein »allgemeines theoretisches Modell« herausdestillieren möchte, beachten, daß Weber sich - in den Antikritiken - gegen eine übermäßig generalisierende (psychologische) und für eine dezidiert historische Erklärungsweise ausgesprochen hat. Die soweit angedeuteten >guten Gründe< für den Mangel an Integration und Einheitlichkeit der theoretischen Konstruktionen Webers werden noch wesentlich plausibler, wenn man sich dem Problem der Moderne zuwendet und bedenkt, daß die Moderne nicht 175
nur der zentrale Gegenstand, sondern auch die - sehr bewußte Voraussetzung (oder: das intellektuelle Medium) dieser Theorie ist, daß wir es hier also mit einer Theorie der Moderne zu tun haben, die sich selbst als ein Produkt und Element der Moderne, und zwar in einem fortgeschrittenen Stadium ihrer Entwicklung, versteht. Tatsächlich kann es keine überzeugende und ihrem Gegenstand angemessene Theorie der Moderne geben, die sich nicht selbst, als konstitutives Element eben dieser Moderne, zum Thema und zum Problem werden müßte. Eine solche Reflexivität aber ist ein besonderes Kennzeichen des Weberschen Denkens. In diesem Denken, mit seiner tiefen Skepsis gegenüber den großen philosophischen Synthesen und den umfassenden politischen und/oder kulturellen Entwürfen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts, wird mit aller Konsequenz eine geistige Situation ins Bewußtsein gehoben, in der die Entzauberung durch die Wissenschaften sich zur Selbstentzauberung der Wissenschaften radikalisiert hat. Es wäre ein leichtes Unterfangen zu zeigen, daß so gut wie alles, was als spezifisches Merkmal des Wissenschafts- und insbesondere des Theorieverständnisses Webers gilt, aus eben diesem Bewußtsein entspringt, das Weber im übrigen mit größter Klarheit in einer seiner letzten Schriften (Wissenschaft als Beruf) zum Ausdruck gebracht hat655. Nicht wenigen Interpreten ist es höchst problematisch, wenn nicht widersinnig erschienen, daß der moderne okzidentale Individualismus nicht nur ein zentraler Beweggrund und Gegenstand der Weberschen Analysen ist, sondern auch seine theoretische und methodologische Perspektive prägt. Aber wenn hier ein tiefes Problem (vielleicht sogar eine Paradoxie) liegt, so kann sich die Soziologie diesem Problem doch nicht entziehen, solange sie nicht aufhört, so reflexiv und selbstkritisch zu sein, wie es die schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit von ihr fordert. Zugleich aber mag eben diese problematische Existenz der Hauptgrund jener erfrischenden und inspirierenden »ewigen Jugendlichkeit« sein, von der Weber gesprochen hat. Es ist sehr üblich, die Schwierigkeiten der Soziologie, eine reife und >erwachsene< Wissenschaft zu werden, zu beklagen. Unter den gegebenen kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen erscheint es mir aber viel angemessener und produktiver, diese »ewige Jugendlichkeit« nicht als Fluch, sondern viel eher als einen wahren Segen zu sehen und nach Kräften zu nutzen.
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Anmerkungen Verwendete Abkürzungen (vgl. die Bibliographie): WL SSP RS SWG PS WG W JB PE CW
Ges. Aufsätze z. Wissenschaftslehre Ges. Aufsätze z. Soziologie u. Sozialpolitik Ges. Aufsätze z. Religionssoziologie (I, II, III) Ges. Aufsätze z. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Ges. Politische Schriften Wirtschaft und Gesellschaft Wirtschaftsgeschichte Jugendbriefe Die Protestantische Ethik, Hrsg. v. J. Winckelmann (Bd. 2: ΡΕ II) Christliche Welt
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»Weber became in American Sociological History the form of legitimation for the conservatism of a Parsons, but no less for the liberalism of a Merton and the radicalism of a Mills.« (Horowitz 1964, 354) Ein eindrucksvolles Beispiel in dieser Richtung ist auch Marcel Mauss' Interpretation von »verstehender Soziologie« (CEuvres, Paris, Vol. II, 304). Eine verbreitete »interessierte Selektivität« bei der Rezeption speziell der Weberschen Organisationssoziologie konstatiert R. Mayntz (1971, 32 ff.). 2 Horowitz, a.a.O., 351 3 1972, insbesondere S. 41 ff. und 195 ff. * Schütz 1932, von Schelting 1934, Henrich 1952, Girndt 1967 u. a. s Freyer 1930, 146 β Spann 1925, Steding 1932 u. 1938, Freyer, a.a.O.; in methodologischer Hinsicht vor allem Tenbruck 1959. 7 Speziell in dieser Hinsicht ist die Abhandlung von Walther (1926) dem Scheltingschen Werk überlegen. 8 Allerdings will Parsons nidit zugestehen, daß mit dem Konzept der Wertbeziehung eine prinzipielle Differenz zwischen Natur- und Sozialwissenschaften (hinsichtlich der Gegenstandskonstitution) gesetzt sei (1968, 594 f., vgl. 1965, 52). Daß auch er damit dies Konzept um den entscheidenden Punkt verkürzt, bemerkt zu Recht J. Habermas in: Stammer, Hrsg., 1965, 76. 9 Ein sehr bezeichnendes Beispiel ist die »Note on the Role of Ideas« (1968, 533 ff.), wo Parsons erstaunlicherweise eine weitgehende Übereinstimmung zwischen Weber und Pareto konstatiert. Vgl. dazu audi das Urteil Dahrendorfs (Die angewandte Aufklärung, Frankfurt 1968, 141 f.). 10 1960, 536. König selbst postuliert an gleicher Stelle ausdrücklich eine theoretisch orientierte Einführung in Webers Soziologie (540 f.). 11 So auch Runciman 1967,14 ff. 12 Im Rahmen dieser Zielsetzung finden sich bei Henrich sehr aufschließende Interpretationen der zentralen wissenschaftstheoretischen Argumente Webers, aus welchen audi die vorliegende Arbeit viel Nutzen zog.
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13 Henrich 1952, 2 " a.a.O. Auch Parsons (1965, 171) stellt - für Weber - fest: »Incompleteness and fragmentation at certain levels is entirely compatible with clarity of direction.« is Vgl. Fletcher in: Eldridge, Hrsg., 1970, 1 16 Unter den dezidiert anti-marxistischen Weber-Kritikern in dieser Frage sind vor allem von Kahler (1920), Freyer (1930) und Steding (1932) zu nennen. Nach v. Kahlers Ansicht (a.a.O., 97) soll die Wissenschaft »herausgeführt werden aus dem Bedürfen unseres heutigen Deutschtums und Menschentums« und »wieder einmünden in das Handeln unseres heutigen Deutschtums und Menschentums«. Natürlich ist mit diesen Hinweisen keine weitergehende Übereinstimmung zwischen der marxistischen und der anti-marxistischen WeberKritik behauptet. 17 Zu einigen - längst fälligen - Klarstellungen in dieser Frage vgl.: E. König, Wertfreiheit und Rechtfertigung von Normen, in: ZfS 1/1972, 225 ff. is G. Simmel 1892, 43; H. Rickert 1902, passim. Η. Freyer ist also keineswegs, wie häufig angenommen, der Erfinder von Terminus und Begriff der »Wirklichkeitswissenschaft«. ι» Rickert 1926 2 ® Am systematischsten durch H. Freyer in seinem einschlägig betitelten Werk (1930). Vgl. ferner besonders die Kritik O. Spanns, die mit der Gleichung Individualismus = Nominalismus = Wirklichkeitslosigkeit operiert. 21 G. Weippert sagt so zu der von ihm gemeinten »Wirklichkeitswissenschaft«: Die »Überwindung der falschen und ungerechtfertigten Trennung von Sein und Sollen, von Empirie und Norm ist dabei die erste Voraussetzung«. (1939, 41 f.) Für eine derartige Auffassung vgl. auch Κ. H. Wolff 1968, insbes. 148 ff. 22 Der Zusammenhang zwischen den wissenschaftstheoretischen Grundannahmen einerseits, der Stellung zur Theorie-/Praxis-Frage andererseits, den Albert (1972, 283 ff.) bei Habermas feststellt, dürfte allgemein zwingend sein. 23 Eine differenzierte Position nimmt hier Habermas ein, der zwischen einer (selbstverständlichen) wissenschaftstheoretischen und einer in diesem Sinne gefährlichen wissenschaftspolitischen Wertfreiheit bei Weber unterscheidet (in: Stammer, Hrsg., 1965, 78); gegen den für Habermas selbstverständlichen Sinn von Wertfreiheit: Lefevre 1971, 99 f. 24 Vgl. dazu außer der Arbeit von Tenbruck ζ. B. Wegener (1962), der allerdings auf diesem Wege die Unhaltbarkeit bzw. Inaktualität der Weberschen Stellung erweisen will. 25 1900, 18 2® 1892, 43 27 1902, zum Terminus >Wirklichkeitswissenschaft< vgl. insbesondere S. 327 f., 369, 535. Hier verwendet Rickert natürlich einen ganz anderen Begriff von »Wirklichkeit« als dort, wo er Wirklichkeit definiert als das physische und psychische Sein, »wie es abgesehen nicht allein von seiner wissenschaftlich begrifflichen Umformung, sondern auch von allem daran haftenden Wert und Sinn in reiner Tatsächlichkeit besteht«. (Vorwort zur 3. u. 4. Auflage der Grenzen, 1921, S. XVI) Bei einer solchen Definition ist offenbar die Rede von »Wirklichkeitswissenschaft« zumindest sehr irreführend. Die Unklarheit des Wirklichkeitsbegriffs wird deutlich, wenn Rickert trotz der zuletzt zitierten Definition feststellt: »Die Geschichte behandelt als Realwissenschaft nicht den unwirklichen Gehalt der Kultur in seiner begrifflichen Isolierung,
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sondern die sinnvollen Kulturwirklichkeiten in ihrem einmaligen zeitlichen Verlauf.« (a.a.O., 407) Bestimmend für diese Unklarheit ist wohl die Unbestimmtheit des Verhältnisses von formaler (methodologischer) und >materieller< Perspektive bei Rickert. Immerhin argumentiert er gelegentlich so, daß es gerade der »irreale« Sinn sei, welcher die eigentümliche Kulturwirklichkeit konstituiere. (a.a.O., 408 ff.) 28 1902, 354 28 Dieses bestimmende Motiv Rickerts wird ζ. B. in dem folgenden Urteil J. von Kempskis (1964, 84) völlig übergangen: »Die Geschichtswissenschaft erscheint als eine gänzlich imaginäre Größe, als eine Art Zurechnungspunkt methodologischer Forderungen, die der Rickertschen Wertphilosophie entfließen.« so a.a.O., 19, 286 f., 293 f., 497 f., 575, passim. 31 a.a.O., 287. Die Möglichkeit einer »theoretischen Sozialwissenschaft«: ist also keineswegs, wie es etwa bei v. Kempski (1964, 230) gesdiieht, gegen Rikkert vorzubringen. 32 Tatsächlich ist die Erfahrungsweise des »wirklichen Lebens« für R. von höherer Dignität als die naturwissenschaftliche: »Ich beabsichtige lediglich, das absolute Recht der unmittelbaren empirischen Wirklichkeit gegenüber dem doch immer nur relativen Recht der naturwissenschaftlichen Abstraktionen zur Geltung zu bringen.« (a.a.O., 556) 33 Vgl. die entsprechende Feststellung bei E. Ströker 1973, 8 f. 34 Collected Papers, 3 Bde., den Haag, 1971 35 Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, den Haag 1954. Vgl. auch die bei Merleau-Ponty (Le Philosophe et la Sociologie, Cah. Int. Soc. 10/1951, 50 ff.) zitierten Passagen aus einem Brief Husserls an Levy-Bruhl. Zur Lebensweltproblematik bei Husserl s. vor allem: Paul Janssen, Geschichte und Lebenswelt. Ein Beitrag zur Diskussion von Husserls Spätwerk, den Haag 1970, sowie: Hans Blumenberg, Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie, Turin 1963. Zur - wenig entwickelten - gegenwärtigen Diskussion vgl.: P. Chr. Ludz, Soziologie und Sozialgeschichte, in: Ludz, Hrsg., 1972, insbes. 12 ff. 36 287 37 5 74 38 294, v g l . 594 f . 3» 252, vgl. 715 (Der Mensch lebe »als Individuum im Individuellen«.) und 237 (... »einzige Wirklichkeit, die wir keimen«.) 40 3 54 41 a.a.O. 42 Vgl. insbes. 236 f., 509 f. 43 86f., 4 ff., 656ff.; vgl. auch 1899, 35. 44 243. Die Gefahr der Entfremdung der Wissenschaften von der affektuellen Qualität lebensweltlicher Wirklichkeit erörtert audi J. Dewey (Theory of Valuation, Chicago/London 1965, 64 f.). 45 Vgl. insbes. 659 f. 46 36 ff., 185 ff., passim 47 Zur Zurückweisung eines entsprechenden Begriffs von »wissenschaftlicher Objektivität« vgl. 660. 48 Allerdings spricht R. gelegentlich (1899, 35) davon, daß der »Gehalt« der Begriffe der Wirklichkeitswissenschaft der »Wirklichkeit selbst prinzipiell näher« stehe als das »Homogene und Quantitative«. Was R. hier »Wirklichkeit
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selbst« nennt, ist wohl die außerwissenschaftliche, lebensweltlidie Wirklichkeitsauffassung. Vgl. dazu S. 44 f., wo sich R. gegen die These FrischeisenKöhlers (1922) wendet, er schreibe der Naturwissenschaft eine »Flucht vor der Wirklichkeit« zu. Die Wirklichkeit, von der sich die Naturwissenschaft entfernt, ist eben nicht die »Wirklichkeit an sich«, sondern die des alltäglichen Lebens. 49 Zur Unterscheidung von »praktischem« Werturteil und »theoretischer« Wertbeziehung vgl. 633 (Anm.), 701 f. In keinem Falle gilt Rickert - wie dann Weber - die »Fällung von Werturteilen« als Aufgabe der Geschichtswissenschaften als solchen (363 f.). 50 Dies ist nach R. der inhaltlich gefüllte Terminus für die Geschichte im engeren Sinne (577). 51 483, 487, 497 f. Zur Dominanz eben dieser Auffassung vom HistorischIndividuellen in der überkommenen historischen Forschung vgl. die kritischen Bemerkungen bei Wehler 1973,14. 52 496 53 741 54 566 f. 55 574, 577 5® 716 57 720 ff. 58 Zumindest überaus mißverständlich ist daher die schon zitierte Formulierung Rickerts, wir lebten nur »als Individuen im Individuellen«. (715) 5® Vgl. dazu Rickerts erwähnte Kritik der Hegeischen Linken. 60 Nicht zufällig wird ein brauchbarer Ansatz erst sichtbar, wo Rickert (in der 3. u. 4. Auflage der Grenzen) sich dem Begriff des Sinnes und der »sinnvollen Kulturwirklichkeit« zuwendet. Vgl. etwa seine Bemerkungen über die »Gemeinde« (a.a.O., 417 f.). β1 Er fand, wie Marianne Weber (1926, 273) berichtet, in Rickerts Buch im wesentlichen Überlegungen, die den - logisch weniger durchgearbeiteten - eigenen entsprachen. Zum Verhältnis Webers zu Rickert vgl. vor allem die - teilweise sehr kontroversen - Ausführungen bei von Schelting, Henrich (1952), Tenbrock (1959), Janoska-Bendl (1965), Wegener (1962), Burger 1976 sowie Tenbrock 1989. «2 1926, 228 ff. «3 Zur Unklarheit Rickerts hinsichtlich des Verhältnisses von Wirklichkeitsauffassung und Praxismöglichkeit vgl. 1899, 47 f. R. behauptet hier einerseits, die individualisierende Begriffsbildung sei für das »praktische Leben« nicht tauglich, betont aber andererseits, daß ζ. B. der Mediziner ohne Individualisierung (d. h.: nur auf der Basis naturwissenschaftlichen Wissens) wenig werde ausrichten können. β« »At every moment, despite his almost perfect knowledge of history, his consciousness of the world and of himself was wholly directed to the present.« (Baumgarten 1964 [a], 257) es Eine zwar interessante, aber kaum durchzuhaltende Differenzierung zwischen Geschichte und Soziologie schlägt H. Oppenheimer (ein Schüler Rickerts) vor: Erstere fasse »Sinnhaft-Verstehbares« als »verwirklicht« (also als »Tatsache«) auf, letztere dasselbe als »möglicherweise verwirklichbar« (bzw. als »Realgrund« einerseits, als »Erkenntnisgrund« andererseits). 1925, 57 f. ββ Vgl. zu diesem Punkt Henrichs Erläuterung der Annahme, »daß dem Werk Max Webers eine Theorie der Erfahrungswissenschaft in ihrem Verhält-
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nis zu möglicher Praxis zugrundeliegt, die über herkömmliche Alternativen hinausführen könnte...« (in: Stammer, Hrsg., 1965, 81; vgl. S. 86: »Erfahrungswissenschaft ist nicht Technik der Machtausübung, sondern Diagnose einer Situation«.) Das Unbegründete, ja Widersinnige der Dahrendorfschen Weber-Kritik in dieser Frage (ζ. B. 1967, 191 f.) liegt darin, daß D. gegen Weber mit einer Vorstellung des Wissenschaft-Praxis-Verhältnisses operiert, die allein seinem eigenen, auf eine unbedingte contrainte sociale abstellenden Begriff der Soziologie entspringt, welcher - im Gegensatz zum Weberschen allerdings in einer aporetischen Beziehung zum Handeln steht. Vgl. dazu seinen Homo Sociologicus und die Diskussion darüber. 67 Vgl. dazu Pfister 1928, 6 ff., sowie die - parteiliche - zeitgenössische Darstellung bei O. Spann, Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre auf lehrgeschichtlicher Grundlage, Leipzig 1923,148 ff. «> Adorno, Hrsg., 1972 β» Vgl. dazu W. J. Cahnman/A. Boskoff, Hrsg., 1964, Ludz, Hrsg., 1972, und Wehler, Hrsg., 1972; bei Ludz und bei Wehler 1973 die wichtigste weitere Literatur. S. auch die kritische Diskussion der neueren Ansätze bei Habermas 1970, 91 ff., insbes. 122 ff. Zu Webers Bedeutung vgl. Hughes 1960 und, neuerdings, Mommsen 1974, 182 ff. und 208 ff. 70 Vgl. die relative Präsenz Webers in Cahnman/Boskoff, a.a.O., verglichen mit Ludz, a.a.O. Als Fall eines angelsächsischen Historikers, der gegen die »constructive method« des Soziologen Weber (u. zw. in der Protestantischen Ethik) kritisch das »accurately describing facts« setzt, vgl. Η. Μ. Robertson 1933 (hier zitiert nach dem Auszug bei R. W. Green, Hrsg., 1959, 65). Dazu wiederum kritisch: T. Parsons 1935. 71 Η. Albert, Einführende Bemerkungen zur deutschen Ausgabe von: A. Malewski, Verhalten und Interaktion, Tübingen 1967, VII. S. dagegen die m. E. angemessenere Einschätzung der Bedeutung Webers bei Wehler (1973, 13 f.). 7 2 WL 170, vgl. S. 5. Ferner S. 172: »Ausgangspunkt des sozialwissenschaftlichen Interesse ist nun zweifellos die wirkliche, also individuelle Gestaltung des uns umgebenden sozialen Kulturlebens...« Hartfiel (1968, 182) schließt paradoxerweise an diese Bemerkung die Behauptung an, »Wirklichkeitswissenschaft« im Sinne Webers habe es »also . . . gar nicht mit Wirklichkeiten zu tun«, da sie auf der Annahme einer »an sich form- und strukturlosen Wirklichkeit« beruhe. 7 ® 1932, 7. Allerdings muß dabei, wie bei Max Weber, mit »Deutung« auch »Erklärung« gemeint sein. ™ E. Wolf, 1924, 366 f. " E. von Kahler (1920, hier nach Albert/Topitsch, Hrsg., 1971, 71) ™ Wolf, a.a.O. 77 Die doppelte These Henrichs (1952, 7 bzw. 4 f.), daß Weber einerseits die Sozialwissenschaft als Wirklichkeitswissenschaft verstehe und andererseits in allen wesentlichen Punkten mit Rickerts Wissenschaftstheorie übereinstimme, scheint mir in sich widersprüchlich. 78 Diese Behauptung wird vornehmlich von den Repräsentanten einer betont geisteswissenschaftlichen Methodologie vertreten, exemplarisch bei O. Spann. 7 » Zu einer solchen Auffassung tendiert offenbar H. Albert (1972, 195 ff.). so Vgl. außer Robertson (a.a.O.) ζ. B. Seiterich 1930, 123. ei S. ζ. B. von Schelting 1934 und Schütz 1932. 82 So noch in >Wissenschaft als Berufe (WL 600).
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83 WL 146 ff. 84 In der ersten Phase findet sich bei Weber eine deutliche, durch Apostrophierung des Terminus hervorgehobene Reserve gegenüber der Soziologie (vgl. WL 48, 53, 92). « Insoweit machen Webers eigene begrifflichen und theoretischen Bemühungen seine anfängliche Kritik einer »allgemeinen Sozialwissenschaft« (WL 165) hinfällig, ohne daß damit die Soziologie als eine alle übrigen Wissenschaften vom Sozialen in sich auflösende Überwissenschaft behauptet würde. 8β Zu Webers endgültiger Stellung zur Soziologie vgl. seinen Rechenschaftsbericht für die abgelaufenen beiden Jahre (in: Verhandlungen des 2. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1913, 75 ff.). Weber drückt hier die Hoffnung aus, daß es der Gesellschaft für Soziologie gelingen möge, »der soziologischen Wissenschaft audi in Deutschland endlich denjenigen Platz zu erringen, welchen sie im Auslande längst besitzt und dieser früher mit einem gewissen Recht verschrieen gewesenen Disziplin nach ihren jetzigen Leistungen audi unbedingt zukommt«. (78 f.) 87 Tenbruck 1959, 592. Daß, wie Tenbruck bemerkt, Weber sich damit als »Erbe und Verteidiger der historischen Bildung« verstanden habe (595 ff.), kann nur dann gelten, wenn dabei »historische Bildung« nicht mehr als Gegenpol zu wissenschaftlicher Rationalität aufgefaßt wird. 88 Vgl. die recht präzise Formulierung (»Es gibt schlechterdings keine Brükke ...«) WL 61; femer - außer den bekannteren Äußerungen zum Thema - auch die einschlägig orientierte Stammler-Kritik (WL 291 ff., insbesondere 322 ff.) sowie die Diskussionsbemerkung (SSP 417 ff.) und das Gutachten von 1913 (abgedr. in: Baumgarten 1964, 102 ff.). Grenzüberschreitungen von Seiten speziell der Naturwissenschaften bezeichnet W. gelegentlich als »Naturalismus« (WL 425); dies erinnert an G. E. Moores Begriff vom »naturalistischen Fehlschluß«. 89 Die angemessenste neuere Behandlung des Themas lieferte Henrich 1952; vgl. dazu die Diskussion in: Stammer, Hrsg., 1965, und die Ausführungen von F. Loos 1970, 4 ff. In der angelsächsischen Soziologie fand das Thema - außer bei Parsons - kaum Beachtung (P. Honigsheim 1951, 410). Zu Mertons und Mills Rezeption des Konzepts: Horowitz 1964, 351 ff.; s. audi Runciman 1967 und Dawe 1971. Ganz verständnislos steht offenbar H. Albert dem Verfahren der Wertbeziehung gegenüber (1972, 46). »o 1952, insbes. 9 ff. 91 Dieser Verzicht auf Erkenntnistheorie ist nicht identisch mit deren Auflösung in Methodologie, wie sie Habermas bereits bei Nietzsche vollendet sieht (Nachwort zu: F. Nietzsche, Erkenntnistheoretische Schriften, Frankfurt 1971). Allerdings verwendet Weber (anders als Rickert) für seine wissenschaftstheoretischen Überlegungen unreflektiert audi den Terminus »Erkenntnistheorie«. »2 So Weber selbst: WL 199, 252. Vgl. Rickert 1899, 96 ff. »3 WL 511 94 Schaaf (1946, 42) spricht in diesem Sinne von einem »metaphysischen Vorurteil« bei Weber. 05 S. dazu Henrich 1952, 11 ff. 96 Darauf geht Weber vor allem in Wissenschaft als Beruf ein. 97 Natur heißt in diesem Sinne mit Kant (Prolegomena, Akademie-Ausg., Berlin 1903, 294) das Dasein der Dinge, »sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist« (zit. in Rickert 1899, 6,16).
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β» S. Κ. Langer, Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt 1965, 274 β® Henrich 1952, 43 loo WL 180 ιοί WL 175 loa WL 180 103 WL 182. Der Tatbestand, daß das oben erwähnte allgemeinste wissenschaftliche Erkenntnisinteresse seinerseits in das Feld des Erkenntnisinteresses an »Kultur« fällt, ist hier nicht zu erörtern, ίο* WL 83 f. 105 Vgl. j. Freund 1969, 37. Daß der Terminus »Wert« überhaupt nur bloß vorgestellte, also entmachtete Verhaltensregulative bezeichne, meint A. Gehlen (Urmensch und Spätkultur, 2. Aufl., Bonn/Frankfurt 1964, 257). ιοβ £)ie Distanzierung von unmittelbaren Gefühlsbeziehungen gegenüber dem Untersuchungsobjekt postuliert Weber ausdrücklich: WL 123 f. ιόν WL 181 ιοβ Ohne jede nähere Diskussion der Problematik spricht ζ. B. Lefevre (1971, 19) von einem »vollständig individualistischen Auswahlprinzip« Webers. io» WL 184 "ο S. Ernst Troeltsch 1922. Vgl. auch Habermas 1976 (91 ff.), der seinerseits auf J. Ritter (Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft) verweist; Ritter identifiziert allerdings zu unvermittelt den Abbau schlechthin verbindlicher Traditionen mit Geschiditslosigkeit. in Die These E. Rothackers (Die dogmatische Denkform in den GeistesWissenschaften und das Problem des Historismus, Mainz 1954), die Aufdeckung konkreter Sinngehalte sei auf eine »dogmatische« Methode angewiesen, geht an diesem fundamentalen Tatbestand vorbei. Das mit dem Konzept der Wertbeziehung angezielte Verfahren entspricht ihm, ohne in die Alternative der Entwicklung »reiner Strukturtheorien« zu verfallen, wie sie J. von Kempski (1964, 81 f.) gegen Rothacker vertritt. «2 WL 181 us WL 182 114 Höchste Allgemeingültigkeit kommt für Weber in diesem Sinne - und zwar im Horizont des allgemeinsten Gesichtspunkts der »Rationalisierung« (vgl. dazu insbes. RS I, 537) - dem Grundrechtsgedanken zu, »dem wir alles verdanken« (PE, 227; vgl. dazu PS, 59 ff.). Daß Weber die entsprechenden Wertideen in seiner politischen Soziologie nicht mit hinreichender Konsequenz ins Spiel gebracht habe, ist eine berechtigte und sogar immanente Kritik; s. dazu ζ. B. Loos 1970, 141. Es sei aber auch auf G. Manns (1973, 46) Argumentation verwiesen: »Um die Erde nicht den Russen und den Angelsachsen zu überlassen, hat Weber im Krieg einmal erklärt, sei der deutsche Machtstaat in der Mitte des Alten Kontinents notwendig gewesen, . . . so daß Deutschland . . . auch um einen universalen Wert gekämpft habe«. Mann meint, daß darin »ein Stück Verklärung, aber auch ein Stück zeitbedingter vergänglicher Wahrheit« liege. us S. vor allem WL 245 ff. und 510 ff. sowie die Bemerkungen SSP 417 f. und 420 f. Auch auf dieses durchaus nicht marginale Thema lassen sich nur wenige Weber-Interpreten ein. Vgl. W. Schluchter 1971 (50 f.) sowie Albert (1972,67 ff.), der Webers Ansatz zu entfalten versucht, «β WL 151, 508 117 WL 150. Auf die Notwendigkeit nicht bloß logischer, sondern audi empirischer (und damit ideologiekritischer) Analyse von »Wertideen« geht
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Weber vor allem in Wissenschaft als Beruf ein. Zur Kritik an Webers Auffassung, die letzten Wert-Axiome seien nicht mehr diskussionsfähig, vgl. Albert 1972 (69 ff.), Runciman 1963 (156 ff.) sowie Baumgarten in: Stammer, Hrsg., 1965 (149 f.). "β s. dazu die Andeutungen bei Kocka 1973, 73. » e W L 183 120 So Habermas (1970, 19); vgl. dagegen die folgende Anmerkung. 121 Tatsächlich scheint das von H. Baier (1969, 27) gegen den angeblichen Subjektivismus Webers gestellte Habermassche >Diskussionsmodell< der Legitimierung von Erkenntnisinteressen nicht notwendig mit Webers Grundsätzen und Intentionen (im Felde der Wissenschaftstheorie) unvereinbar zu sein. 122 W L 205, vgl. 206 f., 209, 213, 261 f. S. auch Henrich 1952, 33 f. 123 W L 184 12i Parsons begründet die Möglichkeit eines Fortschritts sozialwissenschaftlichen Wissens (audi im Sinne einer »asymptotischen Annäherung« an eine »endliche Totalität«) von Webers Annahme her, daß die Zahl der möglichen letzten Wertsysteme groß, aber nicht unendlich sei (1968, 601). 125 W L 287 ΐ2β Vgl. WL 170 f. Das vermittelnde Glied dieses doppelten Sinns von »Kulturbedeutung« stellt eine dritte Bedeutungsvariante dar, mit der das für die gegenwärtige Kultur kausal Bedeutsame an einer vergangenen gemeint ist. S. dazu WL 194 und RS I, 205 f. (Kulturbedeutung der protestantischen Ethik) sowie W L 101 (Kulturbedeutung der Schlacht von Marathon). 127 Henrich 1952, 79 128 Nagel 1952, 51 12» »Urteile über die Wesentlichkeit einer historischen Erscheinung sind nun aber entweder Wert- oder Glaubens-Urteile - dann nämlich, wenn das an ihr allein >Interessierende< oder allein dauernd >Wertvolle< damit gemeint ist. Oder es ist das wegen seines Einflusses auf andere historische Hergänge kausal Bedeutsame gemeint: dann handelt es sich um historische Zurechnungsurteile.« (ΡΕ I, 118) Über wissenschaftlich unzulässige Werturteile im hier gemeinten Sinne bei Ritsehl: a.a.O., 222 f. 130 Dies ist offenbar auch die Auffassung von F. Jonas (1969, IV, 60) und D. Henrich (1952, 79). F. Loos (1970, 15) will demgegenüber an einer prinzipiellen Trennung von »wertbeziehender Interpretation« und »kausaler Zurechnung« festhalten. Das von Weber »wertbeziehende Interpretation« genannte und als »geschichtsphilosophisch« qualifizierte Verfahren (WL 122 f.) soll sich allerdings auf die Formung des »historischen Individuums« beschränken, erschöpft aber offenbar nicht den Begriff der Wertbeziehung. Immerhin soll die genannte »Interpretation« von Werten audi dazu befähigen, (neue) »Möglichkeiten und Nuancen des Lebensstiles als solche zu erfassen und zu durchdenken« (WL 247). 131 Diese Funktion der Wertbeziehung verweist darauf, daß für Weber (wie auch schon für Rickert) die spezifische Differenz der »Kulturwissenschaften« nicht ohne einen materiellen Begriff von Kultur - also nicht bloß vom Erkenntnisinteresse her - zu begründen ist. Darauf ist beim Thema Verstehen zurückzukommen. 132 Vgl. Webers Bemerkung, durch die »Beziehung auf Kultur->BedeutungenDeutung der Kultur erscheinungenDeutung< konkreter historischer Gebilde nachgeben (a.a.O., 113) 237 Die entsprechende Annahme formulierte Simmel (1892, 2, vgl. 33), ohne sie zu akzeptieren: »Gäbe es eine Psychologie als Gesetzeswissenschaft, so würde Geschichtswissenschaft in demselben Sinne angewandte Psychologie sein, wie Astronomie angewandte Mathematik ist.« Ein solcher Status wird der Psychologie gegenwärtig vor allem in den verhaltenstheoretischen Ansätzen (Homans, Opp u. a.) zuerkannt, so auch (im Kontext einer WeberRezeption) bei Grimm 1973. 238 ΡΕ II, 33, 49 ff., passim. Allerdings stellt Weber hier (51) die Soziologie noch im Sinne Rickerts neben die Psychologie und die Naturwissenschaften im engeren Sinne. Vgl. dagegen seine Bemerkungen zu Begriff und Nutzen einer (historischen) »Sozialpsychologie«: WL 189. 23« S. Anm. 202 240 WL 113 241 Trieb-Theorien des Verhaltens können nach dieser Auffassung nur insofern als erklärungsfähig gelten, als sie von der konstitutiven Plastizität (Sprachmäßigkeit) des menschlichen Antriebslebens ausgehen. 242 Selbst Nagel (1952, 61) hält es für zulässig, daß die »historischen Gesetze« nur eine »eng begrenzte Universalität« besitzen. 243 WG 9 244 Weber befaßte sich mit diesem Zentralbegriff der (faktisch geltenden) gesellschaftlichen »Regeln« zuerst 1907 anläßlich seiner Auseinandersetzung mit Stammlers normativer Stellung (WL 291 ff., insbes. 322 ff.). Die grundlegende Bedeutung dieser Überlegungen hebt er selbst in der Vorbemerkung von Wirtschaft und Gesellschaft (S. 1, vgl. S. 23 f.) hervor. Vgl. hierzu Walther 1926, 21 ff., Abel 1929, 145 ff. und Engisch 1966, 76 ff. 245 Vgl. dazu noch: »Die >GesetzeGesetz< - sind durch Beobachtung erhärtete typische Chancen eines bei Vorliegen gewisser Tatbestände zu gewärtigenden Ablaufes von sozialem Handeln, welche aus typischen Motiven und typisch gemeintem Sinn der Handelnden verständlich sind.« (WG 13) 246 S. dazu Tuckers (1965, 165) zutreffende Kritik an Abel (1953); ferner: Munch 158 (insbes. 31 f.). Eine mittlere Position auf der Basis einer Trennung von empathetischem und rationalem Verstehen versucht R. Gruner (1967) einzunehmen; dagegen - wieder im Sinne Münchs - F. Cunningham (1967). 247 Habermas 1970, 85 ff. S. auch die einschlägige - allerdings anders gewendete - Weber-Kritik bei Winch 1966, 149 ff. 248 Über die Diskussion innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Soziolo-
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gie (insbesondere auf den Kongressen von 1926 und 1929) zum Verhältnis von Verstehen und Erklären vgl. L. von Wiese 1930. 249 Die wichtigsten einschlägigen Arbeiten sind: von Schelting 1922 und 1934 (354 ff.), Flug 1923, Mettler 1934 (25 ff.), Henrich 1952 (87 ff.), Hempel 1952, Blies 1953, Stammer (Hrsg.) 1965 (265ff.),Janoska-Bendl 1965, Dieckmann 1967, Rogers 1969, von Kempski 1972 (in: Albert, Hrsg., 1972). Zur Geschichte des Konzepts (insbesondere zu Menger und Jellinek): Bienfaitl930 (73 ff.), Seiterich 1930 (15 ff.), Pfister 1928, Tenbruck 1959 (588, 623 ff.), Machlup 1960/61 und Fleischmann 1964. 250 So insbesondere Pfister 1928 und Bienfait 1930. 251 So ζ. B. Seiterich 1930, 123. Zur marxistischen Wendung des Arguments vgl. ζ. B. von Korf 1968 und Hofmann 1969, insbes. 692. 252 Audi in diesem Punkt erscheint mir die Analyse Henrichs als die bei weitem angemessenste und lehrreichste. 253 Dazu insbesondere Aron 1967, 519. 254 Zum Verhältnis des Weberschen Idealtyps zu Rickerts »relativ historischen Individuen« vgl. vor allem Janoska-Bendl 1965, 8 ff., 34 f. (Vgl. audi Rickerts eigene Bemerkungen zum Typus: 1902, 529, und auch Webers briefl. Äußerung gegenüber Rickert, zit. b. Mommsen 1974, 279.) Eine Diskussion des idealtypischen Verfahrens aus der Perspektive der Rickertschen Wissenschaftslehre gibt Oppenheimer 1925. 255 So ζ. B. Korf 1968. Vgl. dagegen H. Plessner: »Wenn das Material . . . von sich aus typisch ist, dann stimmt der nominalistische Ansatz des Neukantialismus nicht mehr, dann gibt es universalia in rebus, und der Weg der Phänomenologie ist offen« (in: König/Winckelmann, Hrsg. 1963, 33). Plessner meint allerdings, Weber habe bis zuletzt das »Typisieren« für den Kantianismus retten wollen. Einige notwendige Klärungen und Differenzierungen in diesem Zusammenhang gibt Janoska-Bendl, die Webers Position mit dem Konzeptualismus verbindet (1965, 32 ff.). 254 1952, 101. Allerdings bezieht Henrich diese Möglichkeit auf den Menschen als »Persönlichkeit«, nicht bereits auf seine Sozialität. 257 ΡΕ II, 303 f. Weber bezieht sich hier auf das Beispiel »Geist des Kapitalismus«. 2 S W G , 280 (Agrarverhältnisse im Altertum) 2 5» a.a.O., 288 2 «o ΡΕ II, 304 261 Über Sinnadäquanz als bestimmendes Kriterium bei der Typenbildung: WG 9, 10. Vgl. in diesem Zusammenhang audi die Hinweise zum Weberschen Begriff des »Rationalen« in Anmerkung 213 (besonders bzgl. RS I, 537 f.). 262 WL 191 2 «3 WL 190,194 2 β4 WL 190 u. ö. 2 «s WL 194 2ββ WL 191 (Hervorhebung von Weber); vgl. vorher die Rede von der Idee der »historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft« oder der Idee der Stadtwirtschaft des Mittelalters (190 f.). 2«7 WL 191 2β8 Gegenüber der These (vgl. vor allem Hofmann 1969), das idealtypische Verfahren stelle gesellschaftliche Entwicklung gleichsam still, ist festzustellen, daß Weber a) ausdrücklich die Möglichkeit idealtypischer Konstruktionen von Entwicklungen hervorhebt und daß darüber hinaus b) Idealtypen nie wirkliche, sondern immer mögliche Zustände bestimmen.
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269 Der Terminus wurde - in anderer Verwendung - von Hauriou geprägt; dazu Weiß 1971, 198 ff. 270 Zum Terminus »Idee« in diesem Zusammenhang vgl. noch WL 333 und 253, sowie Henrich 1952, 97. WL 200 f. 272 WL 200 273 WL 191 274 So audi Henrich 1952, 85 275 RS I, 267 27β Zur unmittelbaren Verknüpfung von Idealtypus und Wertbeziehung vgl. WL 199 und 438. Die genannten leitenden »Ideen« der idealtypischen Synthesen sind mit den Kulturwertideen in den Ausführungen über die Wertbeziehung identisch. 277 ΡΕ II, 303 f. 278 ΡΕ II, 292 27» Man bezog sich dabei vor allem auf Webers Ausführungen im Objektivitäts-Aufsatz (WL 189 ff.) und des näheren auf seine »Musterkarte« von Typisierungsmöglichkeiten (WL 205). 280 Kontrastiert wurden so vor allem 1. Idealtypen von Sinngebilden und von Historisch-Realem bzw. 2. historische und soziologische Idealtypen. Zur zweiten Differenzierung vgl. vor allem: von Schelting 1922, Walther 1926 sowie Freyer 1930, 149 f. Als Überblick über die - ältere - Diskussion vgl. Seiterich 1930, 124 ff. Die vorliegenden Ausführungen wenden sich kritisch speziell gegen die These, die genannten früheren Ausführungen Webers seien nur für die Historie, nicht aber für die Soziologie gültig. (Waither 1926, 11; Schütz 1932, 278.) 281 WL 205; hier formuliert nach Henridi 1952, 95 ff. Vgl. auch den - abweichenden - Differenzierungsversuch bei Janoska-Bendl 1965, 54 f. 282 Henridi 1952, 97. 283 WL 205 284 WL 252 f. 285 Hier sei noch auf SSP, 467 f.. verwiesen, wo Weber hervorhebt, daß die verschiedenen Begriffe von »Kirche« in der Soziologie sich letztlich auf divergierende Vorstellungen der (jeweiligen) Gläubigen selbst bezögen. Vgl. schließlich WL 535 f. 286 Vgl. besonders WL 201 f. (202: »Je mehr es sich um einfache Klassifikation von Vorgängen handelt, die als Massenerscheinungen in der Wirklichkeit auftreten, desto mehr handelt es sich um Gattungsbegriffe, je mehr dagegen komplizierte historische Zusammenhänge in denjenigen ihrer Bestandteile, auf welchen ihre spezifische Kulturbedeutung ruht, begrifflich geformt werden, desto mehr wird der Begriff - oder das Begriffssystem - den Charakter des Ideally pus an sich tragen.« Weber unterscheidet dieses Definitionsverfahren terminologisch als »genetisches« vom bloß klassifikatorischen (s. besonders WL 194). Zum Sinn dieses Terminus vgl. Henrich 1952, 87 ff. 287 So Schmidt (1923, 162) im Anschluß an von Schelting (1922 und 1934), an dessen Kritik auch Parsons (1968, 601 f.) anknüpft. Vgl. auch die Klassifizierungsversuche bei Rogers (1969, 89) und Dieckmann (1967, 34 f.). 288 Dazu Walther 1926, 30 289 Vgl. die entsprechende Kritik Janoska-Bendls an Henrichs Argumentationen (1965, 85 ff.), von der sie jedoch in demselben Zusammenhang (86 f.) selbst wieder abzurücken scheint.
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290 WL 192 291 W L 203 292 s. hierzu auch Girndts (1967, 38 f.) Bemerkungen zu Webers (WL 545) Beispiel vom Einbruch des Dollart. 293 In demselben Maße, in dem dabei Interpretationen im Sinne des empirischen Wissens und der Logik unterstellt wird, nähert sich der Idealtyp der Form des (zweck-)»rationalen Schemas« (WL 131). 294 WL 190. Vgl. dazu die etwa gleichzeitige Bemerkung (a.a.O., 6) eine derartige Form der Begriffsbildung sei nicht das ausschließlich oder auch nur überwiegend verwendete Mittel der Kulturwissenschaften, sondern dasjenige, »welches sie von den exakten Naturwissenschaften unterscheidet«. 2»5 Diese und auch die oben (beim Thema Wertbeziehung) behandelte Einschränkung werden ζ. B. audi von C. Antoni übersehen, wenn er eine »gewisse Willkür« des idealtypischen Verfahrens kritisiert (1950, 245). 29β Dies ist auch nach Hempel und Oppenheim (1936, 84) das spezifische Kennzeichen der Idealtypen gegenüber den anderen Typenbegriffen, begründet aber nach ihrer Auffassung keinen logischen Sonderstatus. 297 Vgl. die (frühe) Bemerkung, daß das »Arbeitsgebiet« einer derartigen Begriffsbildung dort liege, »wo das Wesentliche, d. h. das für uns Wissenswerte an den Erscheinungen, nicht mit der Einordnung in einen Gattungsbegriff erschöpft ist, die konkrete Wirklichkeit als solche uns interessiert«. (WL 6; Hervorhebung von Weber.) 298 S. dazu oben S. 20 ff. 299 So insbesondere H. Vetter in: Stammer, Hrsg., 1965, 267, sowie in Baumgarten 1965, 598. Eine weitgehende Identifizierung des Idealtyps mit dem naturwissenschaftlichen Modell unternimmt ferner vor allem Hempel (1952, 74 ff.), allerdings ausdrücklich gegen Weber. Hempels Favorisierung behavioristischer Theorien ohne »introspective terms« (75) folgt notwendig aus seinem Verständnis einer »methodologischen Einheit der empirischen Wissenschaft« (84). 300 WL 438 (Logos-Aufsatz v. 1913). Ausgehend von der Feststellung, daß für die Soziologie der »Richtigkeitstypus« nur eine Möglichkeit idealtypischer Bildungen darstelle, verweist Weber an dieser Stelle - darüberhinaus - darauf, daß dieses Verfahren aus logischen Gründen überhaupt nicht auf den Untersuchungsbereich der verstehenden Soziologie beschränkt sei. 301 Daß Janoska-Bendl in ihrer Monographie zum Idealtypus bewußt (S. 53, Anm.) auf eine Erörterung des Zusammenhangs zwischen idealtypischer Begriffsbildung und verstehender Methode verzichtet, überzeugt nicht. Albert (1962, 58), auf den Janoska-Bendl verweist, übersieht offenbar, daß zwar nicht Typisieren überhaupt, wohl aber natürlich das idealtypische Verfahren im Umkreis der verstehenden Soziologie etwas mit dem Verstehen zu tun hat. 302 WL 190. Außer dieser heuristisch genannten Funktion erfüllt der Idealtyp nach Weber noch die Aufgabe, der Darstellung »eindeutige Ausdrucksmittel« zu liefern. Angemerkt sei, daß die heuristische Funktion im Sinne Webers sich über den »context of discovery« und den »context of validation and justification« hinweg erstreckt. Eine alternative Fragestellung, wie sie sich ζ. B. bei Rudner (1966, 54) findet, trifft auch hier nicht Webers Auffassung. 303 Aus diesem Grunde ist Watkins (1972) Unterscheidung von »heuristischen« und »individualistischen« Idealtypen nicht überzeugend. Auch erstere sind im Sinne Watkins' (insbes. S. 338) »individualistisch«. 304 Es sei hier bemerkt, daß in diesem Bezug auf eine immerhin mögliche
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Realität der wesentliche Unterschied der idealtypischen Konstrukte i. S. Webers auch zu den »zweckmäßigen Idealisierungen« (Felix Klein) der Geometrie liegt. Die These von einer diesbezüglichen vollkommenen Identität vertritt - auch unter Verweis auf Einsteins Diktum von der Korrespondenz zwischen Exaktheit und Wirklichkeitsferne geometrischer Definitionen - E. Reigrotzki, Exakte Wirtschaftstheorie und Wirklichkeit, Göttingen 1948, 16 f. 305 Eine solche Deutung läge um so näher, als Weber selbst anläßlich der Einführung des Idealtypus-Konzepts auf die »auf Kant zurückgehende moderne Erkenntnislehre« anspielt (WL 208). Gegen eine Überschätzung auch dieser Anspielung zu Recht: Henrich 1952, 90, 103 f. In diesem Sinne auch F. Jonas (IV, 29) unter Bezug auf H. Baier (1968, 61). »β WL 199, vgl. audi 203 f. 307 s. besonders WL 131. Hier hebt Weber die idealtypischen »Deutungsschemata«: ausdrücklich in dieser Hinsicht von naturwissenschaftlichen Hypothesen ab. see WL 206 so» F. Jonas, a.a.O., 17 3io WL 436. Festzuhalten ist im Bezug auf oben Gesagtes, daß Weber hier die Bildung soziologischer Idealtypen auf den Umkreis sinnhaften Handelns einschränkt. β" Martindale 1960, 382 312 Vgl. WL 547 f., wo Weber es in diesem Sinne rechtfertigt, »daß die Soziologie ihre Begriffe durch Klassifikation des möglichen >gemeinten Sinnes< bildet, also so, als ob das Handeln tatsächlich bewußt sinnorientiert verliefe«. 313 S. WL 130 und 194 314 Vgl. i n dieser Hinsicht ζ. B. den Artikel Idealtyp in: Marxistisch-leninistisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von G. Klaus und M. Buhr, Reinbek 1972, 2. Bd. S. demgegenüber die Beanspruchung des Idealtypus-Konzepts (und audi des Begriffs der »objektiven Möglichkeit«) bei G. Lukäcs, Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923. 62 (92). 315 WL 207 sie WL 204 und 205 317 Dies geschieht nach Webers Urteil de facto am allerwenigsten bei Marx selbst. 318 WL 212. Zur Diskussion über den konservativen oder aufklärerischen Charakter des idealtypischen Verfahrens vgl. im übrigen die Hinweise bei Hufnagel 1971, 231 ff. 3i® Die angemessenste Diskussion des Verhältnisses von Marx und Weber in dieser Hinsicht liefert Kocka (1973); vgl. ferner Janoska-Bendl 1965 (89 ff.) und Landshut 1969 (34 ff.). Kocka tritt für eine wechselseitige Korrektur der beiden Autoren ein, welche sich in bezug auf Weber in dem Postulat formulieren lasse, daß »innerhalb der Weberschen Theorie Möglichkeiten der Kontrolle gefunden werden (müßten), die die Gesichtspunktwahl von dem Vorwurf befreien, bloßer dezisionistischer Akt zu sein« (72). Kocka interpretiert Weber allerdings zu sehr als Repräsentanten des Neu-Kantianismus, als daß er Webers Anschluß an die lebensweltliche Erfahrung im allgemeinen und seine Ansätze zur Rechtfertigung der forschungsleitenden Wertgesichtspunkte im besonderen (s. oben) in angemessener Weise berücksichtigen könnte. 32β WL 194 321 WL 6. Relationsbegriffe erläutert er dabei als Begriffe, »welche die konkrete historische Erscheinung einem konkreten und individuellen, aber mög-
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liehst universellen Zusammenhang einordnen«. Trotz des offenkundigen und audi expliziten (S. 7) Anschlusses an Rickert steht Webers Verwendung des Terminus im direkten Gegensatz zur Rickertschen (1902, insbesondere Kap. IV). 322 1972, 121 323 WL 131 324 Vgl. insbesondere: Hempel/Oppenheim 1936, Hempel 1952, von Kempski 1972. S. auch A. Seiffert, Die kategoriale Stellung des Typus, Meisenheim 1953, sowie - schließlich - das Referat der Überlegungen Sigwarts, Wundts und Rickerts bei Seiterich 1930, 129 ff. 325 Hempel/Oppenheim, a.a.O., 1. Vgl. Hempel, a.a.O., 65 f. 32β Vgl. ihre Kennzeichnung des Idealtyps a.a.O., 83, und auch Hempels (1952) durchgehende Argumentation. 327 Dazu rechnet er außer den »Typenbegriffen im engeren Sinne« (welche eine Reihenordnung der betreffenden Fälle ermöglichen) die »Gestaltbegriffe« und die »Wirkungssysteme« (Modelle). 32 ® a.a.O., 137. An anderer Stelle (1964, 206) bemerkt von Kempski, um die Notwendigkeit einer Überwindung der Weberschen Stellung durch eine strukturtheoretische Sozialwissenschaft zu kennzeichnen: »Diese Strukturtheorie bezieht sich zwar auf mögliches Handeln, aber sie hat nur Sinn unter der Voraussetzung, daß das wirkliche Handeln in gewisser Weise strukturiert ist.« Eben dies ist auch eine Voraussetzung Webers. 329 Zur Anwendung modaler Begriffe auf die Differenz von »intensiver« und »extensiver« Klassenlogik: O. Becker, Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim 1952, 51 f.; vgl. ferner 56 ff. (Modalkalkül und Ontologie der Modalitäten) und 69 ff. (Möglichkeit als Existenzial i. S. Heideggers Grenzen der formalen Logik). 330 Dazu Prewo u. a. 1973, 171. Vgl. auch die ganz gegensätzlichen Urteile bei Κ. H. Wolff (in: Stammer, Hrsg., 1965, 298) einerseits und Sahay (in: Sahay, Hrsg., 1971, 6) andererseits. 331 Horowitz 1964, 344 332 Sahay a.a.O., 1. Als eine ausdrücklich theoretisch orientierte Deutung Webers vgl. audi Hungar 1971. 333 von Kempski 1972, 120 334 Dahrendorf 1967, 54 ff. (insbes. 58) 335 Dahrendorf a.a.O., 54 33β Vgl. die generelle und kaum bestreitbare Feststellung C. G. Hempels, »that concept formation and theory formation in science are so closely interrelated as to constitute virtually two different aspects of the same procedure«. (Fundamentals of Concept Formation in Empirical Science, in: Intern. Encyclop. of Unified Science, vol. II, 7, Chicago 1952, 2, 45 ff.) 337 Unter dieser Überschrift wird Weber als Theoretiker zumeist auch abgehandelt - wobei allerdings nicht immer Theorie im terminologischen Sinne verstanden ist. Vgl. z.B.: Don Martindale 1960, S. 377 ff. 338 WG 17 33» Dies bringt die (frühere) Formulierung im Logos-Aufsatz unmittelbar zum Ausdruck (WL 429). 340 WG 16. Weber spricht hier auch von »Beeinflussung« im Gegensatz zur (sinnhaften) »Orientierung« im ersteren Fall (a.a.O. 17). 341 Diese Bestimmung deckt die von Girndt (1967, S. 27 ff.) angeführten Merkmale der Reflexivität und Intentionalität (Spontaneität), ist jedoch weiter als der Umkreis der von Girndt genannten Arten von Sinn. (S. 24 ff.)
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WG 17 WG 16 344 WG 17 345 WG a.a.O., mit Verweis auf G. Tarde we WG 19 347 A.a.O. 348 Di e Erwartungs-Erwartung ist also keine Entdeckung der jüngeren Soziologie. 349 Weber nennt als Beispiele von solchen: »Freundschaft«, »Liebe«, »Pietät«, »nationales Gemeinschaftsgefühl«, aber auch »Feindschaft« und »Kampf«. Seine »Typen des sozialen Handelns« (WG § 2), auf die nicht näher eingegangen wird, stellen den Versuch einer - nicht für erschöpfend gehaltenen (WG 18) - allgemeinsten Klassifikation möglicher Sinnbezogenheit dar. Durchaus parallel dazu sind die Beziehungstypen »Vergemeinschaftung« und »Vergesellschaftung« (WG § 9) bestimmt. Vgl. schließlich die früheren, im ganzen übereinstimmenden und im einzelnen ausführlicheren Differenzierungsversuche im Logos-Aufsatz. 350 a.a.O., 59 f. 351 WG 20 352 a.a.O. 353 a.a.O., 21 und 24 f. Vgl. ζ. B. 240 f. Die Kategorie »Interessenlage« führt offenbar - gerade im Hinblick auf das Obligationsproblem - aus dem sozialen Handeln im terminologischen Sinne hinaus. Allerdings ist die Stabilität auch einer Interessenlage nach Weber (22) gesellschaftlicher Provenienz. Nicht zufällig knüpft Hungar (1971, 15) in seinem Versuch, Weber von Homans her zu intepretieren, gerade bei dieser Kategorie an. 354 Zu Webers begrifflichen und theoretischen Bemühungen im Umkreis von Wirtschaft und Gesellschaft im ganzen (und in ihrer Chronologie) vgl. vor allem Hungar 1971. 44 ff. 355 WL 445 »se So ist ζ. B. für Rechts-Ordnungen nach Weber die »Existenz eines Erzwingungs-Staöes« kennzeichnend (WG 25). 357 WG 27 358 Dies bringt besonders die Definition des sozialen Handelns im LogosAufsatz (WL 429 f.) zum Ausdruck. 35» A. Gehlen 1964, 160. 3βο Hier ist vor allem an die fundamentale Rolle der Internalisierung (gerade der Obligationsqualität) gedacht. Tatsächlich glaubt Weber (WL 442) das »wertorientierte« vom »erwartungsorientierten« (d. h. im engeren Sinne sozialen) Handeln begrifflich trennen zu müssen. 361 Und zwar ohne parallele Auflösung der Sozialität des Verhaltens. 362 Vgl. dazu vor allem die wichtigen Klärungen bei Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie (in: Habermas/Luhmann 1971). Allerdings kann auch Luhmann, wie Gehlen, im Rahmen seines eigenen theoretischen Ansatzes Sinn nur als geschlossenen Horizont zulassen. Die bei Luhmann stattfindende Abtrennung der wissenschaftlichen Bestimmung von Sinn von seiner lebensweltlichen Funktionsweise widerspricht den Prinzipien der Weberschen Wissenschaftstheorie. 363 Auf einen weiteren Grund wurde oben verwiesen: Verhindert werden sollte eine vorschnelle Polarisierung von Wissen und Wertung im Felde menschlicher Weltorientierung. 342
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364 WG 20. Vgl. S. 19 sowie WL 170, S. 200 f., 439 f. Siehe dazu ζ. Β. Weinreich 1938, S. 92 ff. und Hufnagel (1971, S. 175 ff. und 179 ff.); dort weitere Literatur. »es So Weber a.a.O. 366 WL 88 367 Dies bemerkt Hufnagel (1971, 180), der Weber allerdings sogleich als »positivistischen Empiriker« klassifiziert. 388 WG 10 36» a.a.O. 11 370 Gesellschaftslehre, 4. Auflg., Graz 1969, S. 47 f. 371 1965. S. in dieser Hinsicht auch K. W. Deutsch: Bemerkungen zu Webers Definition der Herrschaft (in: Stammer, Hrsg., 1965, S. 142 f.). 372 WL 456. W. spricht hier von seiner »Beziehung der verständlidi adäquaten Verursachtheit«. 373 Dies erklärt Deutschs (a.a.O.) objektivistische Deutung des ChancenBegriffs gerade in diesem Fall, rechtfertigt sie aber nicht. 374 WL 439 375 a.a.O. 376 1930, 177 377 Vgl. Eldrige 1970, 17 ff. Dies verkennt offenbar Hungar (1971) wenn er den Weberschen Ansatz als vorläufig (oder sekundär) gegenüber Homans Theorie des elementaren Verhaltens deutet (20). 378 Zu Webers terminologischem Gebrauch des Einstellungsbegriffs vgl. WG 21, 29, 35. 379 Vgl. j n diesem Zusammenhang H. Lübbe 1962. Zur hier liegenden Aporie konservativen Denkens vgl. J. Weiß 1971, 227 ff. und 1972; ferner: M. Greif fenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland, München 1971. »so Vgl. insbesondere Grab 1927. 381 S. dazu R. Königs (1964, S. 21) These, von der »theoretisch-praktischen Doppelbedeutung« von Rationalität bei Weber. 382 Zwischen dieser lebensweltlichen Erfahrung von Kulturbedeutung und der darauf begründeten Theoriebildung und Forschung besteht durchaus ein Verhältnis von der Art eines hermeneutischen Zirkels. Es handelt sich nicht um einen geschlossenen Zirkel, sofern das Vorverständnis sich hier nicht nur der Möglichkeit einer Korrektur, sondern auch einer Widerlegung aussetzt. 383 Vgl. die entsprechende These Gehlens, zitiert bei Weiß 1972, 465. Ferner: H. Schelsky, Auf der Suche nach Wirklichkeit, Düsseldorf/Köln 1965, 45. Mir scheint vor allem dieser letztere Gesichtspunkt in der Ideologie-Kritik am Weberschen Bezugsrahmen »Rationalität« bei Marcuse (1965) und auch Habermas (1968) nicht hinreichend berücksichtigt; vgl. in diesem Zusammenhang noch Löwith 1932 (75 ff.) und 1964 (514) sowie Mommsen 1974, 174 ff. 384 S. dazu unten S. 137 ff. 385 Vgl. speziell zu diesem letzten Punkt Vogel 1973. 386 1971, 29 387 1922, 433. Allerdings unterschätzt Rothacker selbst (434) die theoretische Tragweite eben der Grundbegriffe für eine spezialwissenschaftliche Soziologie. 388 So kann ζ. B. ein konkretes Herrschafts- oder audi religiös-ethisches System dem Handelnden selbst als Repräsentation von Herrschaft oder Religion überhaupt gelten. 389 1929, 471. Entsprechend will Mises bei Weber überhaupt nicht von soziologischer Theorie, sondern nur von »Allgemeine(n) Lehren der Geschichte
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oder kürzer allgemeine(r) Geschichte« sprechen (496). Demgegenüber erkannte Rickert (3. und 4. Aufl. der Grenzen, XX) an, daß Webers »Verbindung von Geschichte und Systematik in keines der üblichen methodologischen Schemata« passe und der »Spezialforschung« durchaus neue Wege weise. Im übrigen hält R. hier die Zuordnung Webers zum Neukantianismus für falsch. 390 Für Webers »empirische Analyse und begriffliche Typologisierung sowohl der Geltungsvorstellungen als auch der Herrschaftsstrukturen« bemerkt dies J. Winckelmann 1952,4. sei a.a.O. 511 392 Vgl. in dieser Hinsicht noch die Kritik einer »Weber fremde(n) ahistorisch-abstrahierende(n) Neigung«, in der allgemeinen Organisationssoziologie bei R. Mayntz 1971, 31. 393 Vgl. dazu Webers Unterscheidung von »historischer« und »theoretischer« Perspektive WL 442, vgl. 434. 394 Baumgartens These (1964, 589), daß »in Webers Augen Historiker längst relativ uninteressant geworden« seien, da er auf »Naturforschung (Klinik der Sozialität« ziele, ist nach meiner Ansicht nicht haltbar; audi Baumgartens eigene Überlegungen zum Verstehen stehen ihr völlig entgegen (592f.; vgl. allerdings wiederum 603 f.). 395 WG 27 39« WG 28 vgl. WL 517. 397 Die Bedeutung lebensgeschichtlicher und psychischer Faktoren ist unbezweifelbar und wird von der einschlägigen Literatur ausgiebig erörtert. S. insbesondere Mommsen 1959, vor allem 46 f. 3»8 s. oben S. 58. 3 " 1964, 556 400 A.a.O., 557. Diese Baumgartensche Perspektive übersieht Hungar, wenn er sich auf dessen These vom Fundamental-Charakter der Kampf-Kategorie bezieht (1971, 17, 77) und diese dann seinerseits mit Homans Tausch-Kategorie zusammenbringt - wiewohl diese für Weber ohne Zweifel ein sinnhaftsoziales Handeln bezeidinet. 401 1970, 89 ff. Von Ferber meint, die Merkmale des »sozialen Handelns« (Zeitlosigkeit, Personengebundenheit und Subjektivität; S. 97) habe Weber am dezisionistischen und interventionistischen Handeln zeitgenössischer Politiker abgelesen. Soziales Handeln überhaupt käme nach dieser Deutung mit politischem Handeln für Weber darin überein, daß es die »legitimen, feste Verantwortlichkeiten begründenden Ordnungen überschreitet« (84). Die Ferbersche These wird in dieser Allgemeinheit auch nicht durch die Analysen W. Mommsens gestützt, wiewohl dieser Art und Bedeutung der politischen Auffassungen Webers am systematischsten und kritischsten untersucht. 402 S. dazu vor allem die beiden Berufs-Vorträge von 1919. 403 WG 1043 404 Immerhin ist (angesichts der Ferbersdien Interpretation) festzuhalten, daß hier staatlich-politisches Handeln natürlich nicht mit der Anwendung physischer Gewalt identifiziert, sondern physische Gewaltsamkeit als legitime letzte Möglichkeit desselben verstanden wird. Hier wäre auch auf Webers durchaus soziologische und nicht quasi-biologische Diskussion des NationBegriffs (vor allem in Wirtschaft und Gesellschaft) zu verweisen; vgl. dazu auch SSP 484 ff. 405 Vgl. besonders WL 456: Herrschaft bedeute nicht, »daß eine stärkere Naturkraft sich irgendwie Bahn bricht«, sondern: »ein sinnhaftes Bezogen-
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