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German Pages 290 [291] Year 2022
Das Matriarchat Herausgegeben von Heide Göttner-Abendroth Band II
Heide Göttner-Abendroth
Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart Band II: Amerika, Indien, Afrika
W. Kohlhammer
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1. Auflage 2022 Alle Rechte vorbehalten © W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart Titelbild: Ahnin-Figur; Lindenmuseum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde, Inv.No. F51.596L. Print: ISBN 978-3-17-039382-0 E-Book-Formate: pdf: ISBN 978-3-17-039383-7 epub: ISBN 978-3-17-039384-4 Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Inhalt
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Arawak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die Amazonen vom Amazonas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika 1.4 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaft (Fortsetzung) . . . . . . . .
13 13 26 35 46
Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika . . . . . 2.1 Die Kuna, das »Goldene Volk« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Religion und Zeremonien der Kuna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die »starken und schönen« Frauen von Juchitán . . . . . . . . . . . 2.4 Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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48 48 56 61 69 76
Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden . . . . 3.1 Die Hopi, das »Friedliche Volk« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Lebensstadienfeste und Agrarzeremonien der Hopi . . . . . . . . . . 3.3 Gottheiten und Mythologie der Pueblo-Indianer . . . . . . . . . . . . 3.4 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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. 79 . 79 . 90 . 100 . 107
Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Geschichte der Irokesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Bildung der irokesischen Liga . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Verfassung und politischen Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Gesellschaftsordnung und Ökonomie der Irokesen . . . . . . . . . . 4.5 Medizinbünde und Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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109 109 114 121 125 132 141
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144 144 149 154
Einleitung zu diesem Buch
Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien 5.1 Matriarchat im Kastensystem . . . . 5.2 Frauen und Männer der Nayar . . . 5.3 Nayar, Pulayan und Parayan . . . . .
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6 5.4 5.5 5.6
Inhalt
Sozialordnung der Nayar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Religion und Feste der Nayar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Patriarchale Brahmanen und matriarchale Nayar: eine problematische Verbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Untergang des Matriarchats bei den Nayar . . . . . . . . . . . . Die Ausgestoßenen: »Adivasi« und »Zigeuner« . . . . . . . . . . . . . Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
. . . . 157 . . . . 161 . . . .
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166 174 176 181
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182 183 186 190 196 202 206
Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika . . . . . . . . 7.1 Die Geschichte der Akan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Die Königinmutter und die früheste Form der Akan-Reiche . . . . . 7.3 Matriarchale Könige bei den Akan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Die Religion der Akan und die sakralen Rollen von Königinmutter und König . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die Entwicklung patriarchaler Tendenzen in den Akan-Reichen . . 7.6 Die Aschanti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7 Verbreitung matriarchaler Königin-Königreiche in Schwarzafrika . 7.8 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung) . .
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209 209 213 218
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223 229 232 235 241
Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika . . . . . 8.1 Die Frauen der Tuareg: Herrinnen der Zelte . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Soziale und ökonomische Macht bei den Tuareg . . . . . . . . . . . . 8.3 Die politische Organisation der Tuareg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4 Die Geschichte: Auszug in die Wüste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Die alte Religion der Berber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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243 243 249 255 259 264 274
5.7 5.8 5.9
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Die Bantu-Völker . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die unlenkbaren Bemba-Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Die Religion der Bemba . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Die duale Gesellschaft der Luapula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Patriarchale und matriarchale Viehzüchter-Völker . . . . . . . . . . 6.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280
Danksagung
Wie schon der erste Band aus dieser Reihe mit dem Titel: »Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Ostasien, Indonesien, Pazifischer Raum«, der vollständig überarbeitet neu erschienen ist, so beruht auch dieses Buch auf der älteren Version des Teilbandes II, 2 von »Das Matriarchat« (2000 im Kohlhammer Verlag). Es ist den matriarchalen Gesellschaften der Gegenwart in Amerika, Indien und Afrika gewidmet und stellt, wie schon der neue Band I, eine verbesserte und erweitere Neuerscheinung dar. Damit sind die noch lebenden matriarchalen Kulturen, soweit sie heute bekannt sind, weltweit erfasst und präsentiert. Wie ich schon beim Erscheinen von Band I erklärte, haben sich seit dem Beginn meiner Veröffentlichungen zu diesem komplexen Thema meine Erkenntnisse weiterentwickelt. Sie sind in die vollständige englische Ausgabe mit dem Titel: »Matriarchal Societies« (New York, 2013) eingeflossen; diese erweiterte Version kursiert mittlerweile international. Umso mehr freut es mich, dass diese aktuelle Version nun in den beiden Bänden I und II auch in deutscher Sprache vorliegt. Dafür bin ich dem Kohlhammer Verlag, der meine wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Matriarchat von Anfang an großzügig gefördert hat, außerordentlich dankbar. Diese neue Version wäre ohne die solidarische Unterstützung vieler Menschen, durch die mein Wissen wachsen konnte, kaum möglich gewesen. Noch einmal danke ich meiner damaligen Übersetzerin Karen Smith, die vom Deutschen ins Englische übersetzte und mich als Kennerin der Gesichtspunkte von indigenen Menschen als Erste beriet; es kam der englischen Version sehr zugute. Besonders wertvoll waren dann die Vorträge und Werke der indigenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus matriarchalen Kulturen selbst, die während der drei »Weltkongresse für Matriarchatsforschung« (2003, 2005, 2011) zu hören waren. Was sie mich durch ihre Vorträge, Bücher und auch durch persönliche Informationen wissen ließen, ist, wie schon in den ersten Band, auch in dieses Buch eingeflossen. Dafür danke ich ausdrücklich: Usria Dhavida (Minangkabau, Sumatra, Indonesien), Wilhelmina J. Donkoh (Asante, Ghana, Westafrika), Fatimata Oualet Halatine (Targia/Tuareg, Zentral-Sahara), Hengde Danschilacuo (Mosuo, Südwest-China), Lamu Gatusa (Mosuo, Südwest-China), Makilam (Kabylin, Algerien, Nordafrika), Barbara Alice Mann (Seneca-Irokesin, Ohio, USA), Marina Meneses (Juchiteca, Mexiko), Patricia Mukhim (Khasi, Meghalaya, Nordindien), Bernedette Muthien (Khoe San, Südafrika), Gad Asyako Osafo (Akan, Ghana, Westafrika), Valentina Pakyntein (KhasiPnar, Meghalaya, Nordindien), Taimalie Kiwi Tamasese (Samoa, Polynesien), Savithri Shanker de Tourreil (Nayar, Südindien).
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Danksagung
Ebenso danke ich den nicht-indigenen Wissenschaftlerinnen, die matriarchale Völker besuchten und dort wertvolle Forschungen unternahmen. Auch ihnen begegnete ich während der Weltkongresse und wiederholt danach und verdanke ihrem Wissen viel: Veronika Bennholdt-Thomsen (Deutschland), Susan Gail Carter (USA), Hélène Claudot-Hawad (Frankreich), Shanshan Du (China), Carolyn Heath (Großbritannien), Antje Olowaili (Deutschland), Peggy Reeves Sanday (USA), Ruxian Yan (China). Besonders danke ich Christina Schlatter für ihre jahrzehntelange, unermüdliche Unterstützung beim Recherchieren von oft schwer zugänglicher, wissenschaftlicher Literatur und beim Ergänzen von Daten zum Zitieren. Sie ist die Gründerin des »MatriArchivs« in der Kantonsbibliothek St. Gallen (Schweiz) und hat dort mein Gesamtwerk gesammelt. Sehr herzlich danke ich den Spenderinnen und Spendern in den »Fonds für Matriarchatsforschung«, der vom Förderverein der Akademie HAGIA e.V. verwaltet wird. Alle ihre Beiträge stellen eine große Hilfe für mich als unabhängige, »freie« Wissenschaftlerin dar, damit die umfangreiche Forschung zum Thema Matriarchat von mir geleistet und publiziert werden konnte und weiterhin kann.
Einleitung zu diesem Buch
Das vorliegende Buch: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Band II: Amerika, Indien, Afrika, setzt das matriarchale Paradigma und damit die Matriarchatstheorie fort. In der philosophischen und methodologischen Einleitung von Band I, die auch für diesen zweiten Band gilt, habe ich die Schritte des matriarchalen Paradigmas genannt, die mit diesen beiden Bänden verwirklicht werden. Denn die ethnologischen Analysen, in denen konkrete, heute noch lebendige matriarchale Gesellschaften vorgestellt werden, sind der systematische Ort, um aus ihrer Fülle die vollständige strukturelle Definition von »Matriarchat« zu entwickeln. Diese fehlt sonst überall in der traditionellen Matriarchatsforschung, was Tür und Tor für Vorurteile geöffnet hat, und genau darin unterscheidet sich die moderne Matriarchatsforschung von der älteren. Diese Definition ist das Ergebnis meiner Forschung zu den lebenden matriarchalen Gesellschaften und wurde ihr nicht vorausgesetzt. Denn die Definition wird induktiv und sukzessive aus meinen Analysen gewonnen, ein Vorgang, der für jede Leserin und jeden Leser nachvollziehbar ist. Das wurde bereits in Band I hinsichtlich der Völker in Ostasien, Indonesien und dem Pazifischen Raum begonnen und wird in diesem Band II für die Kontinente Amerika, Afrika und den indischen Subkontinent fortgesetzt. Durch die Zusammenfassungen eines jeden Kapitels werden nicht nur die Grundprinzipien matriarchaler Gesellschaften sichtbar gemacht, sondern auch der Reichtum an Lebensweisen, den sie umfassen. Ebenso führe ich die Hypothesen über Wanderungen und Ausbreitung von matriarchalen Gesellschaften in diesen Weltgegenden fort, um weiträumige kulturelle Zusammenhänge sichtbar zu machen, die es einst gegeben hat. Das verhindert, dass die dargestellten einzelnen Gesellschaften als isolierte Inseln wahrgenommen werden, wie es in der heutigen Ethnologie meist üblich ist. Das macht es nötig, auch die kulturgeschichtliche Perspektive einfließen zu lassen, doch ich bin mir dessen bewusst, dass sie hier noch rudimentär bleibt. Es ist der Weiterentwicklung meines Werkes vorbehalten, sie auszuführen und aus den entsprechenden wissenschaftlichen Fachgebieten gründlich zu belegen. Außerdem möchte ich noch einmal daran erinnern, wenn ich von »Gegenwart« spreche, dass darunter nicht nur das unmittelbare Hier und Heute verstanden wird, sondern der Zeitraum der ethnologischen Berichterstattung über solche Gesellschaften, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht. Obwohl alle diese Berichte von patriarchal geprägten Wissenschaftlern westlicher oder östlicher Herkunft ideologische Verzerrungen aufweisen, sind sie doch Augenzeugenberichte. Das meine ich mit »gegenwärtig«, denn mit Augenzeugenberichten begann die Phase der empirischen Ethnologie.
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Einleitung zu diesem Buch
Der thematische Schwerpunkt in Band I lag auf der Analyse der inneren Strukturen matriarchaler Gesellschaften, den Mikrostrukturen, das heißt, den Regeln und Bräuchen, welche die Sozialordnung und die Gemeinschaften konstituieren, ebenso ihre Ökonomie, Politik und Religion. Die Ergebnisse fasse ich hier nochmals stichwortartig zusammen. Die ökonomischen Muster matriarchaler Gesellschaften sind: Subsistenzwirtschaft, die meistens, aber nicht immer auf Garten- und Ackerbau beruht; Land und Häuser sind Eigentum des Clans, Privatbesitz ist unbekannt; die Frauen sind die Hüterinnen der wesentlichen Lebensgüter: Felder, Häuser, Nahrungsmittel, und verteilen sie gerecht (Verteilungsmacht statt Besitz). Durch lebhaften Kreislauf der Güter bei Festen in der Gemeinschaft wird ein ständiger Ausgleich bezüglich des Reichtums hergestellt. Ich nenne sie deshalb auf der ökonomischen Ebene Ausgleichsgesellschaften. Die sozialen Muster matriarchaler Gesellschaften sind: Bildung von Clans, die durch Matrilinearität (Mutterlinie) und Matrilokalität (Wohnsitz bei der Mutter) zusammengehalten werden; Wechselheirat zwischen je zwei Sippen mit »Besuchsehe« aufseiten der Gatten oder anderen offenen Eheformen; sexuelle Freiheit für beide Geschlechter; »soziale Vaterschaft« des Mannes, die sich auf seine Schwesterkinder bezieht, denn biologische Vaterschaft ist unbekannt oder unbedeutend; das Heiratssystem dient der verwandtschaftlichen Vernetzung der ganzen Gesellschaft. Ich nenne sie deshalb auf der sozialen Ebene nicht-hierarchische, horizontale Verwandtschaftsgesellschaften. Sehr wichtig ist dabei, die große Bedeutung der Matrilinearität als Grundregel zur Bildung dieser Verwandtschaftsgesellschaften zu erkennen. Sie ist deshalb weitaus mehr als die meist zitierte »Benennung von Verwandtschaft und Vererbung in der Mutterlinie«, denn sie ist das gesellschaftsformende Prinzip. Wenn die Verteilungsmacht der Frauen über die Lebensgüter hinzukommt, also ihre starke Stellung in der Ökonomie, handelt es sich nicht mehr um »nur matrilineare« Gesellschaften, sondern um matriarchale. Diese Unterscheidung zwischen matrilinearen und matriarchalen Gesellschaften wird in der Ethnologie nicht gemacht, was der Anlass für viel Verwirrung ist. Die politischen Muster matriarchaler Gesellschaften sind: Entscheidungsfindung nach dem Konsensprinzip auf allen Ebenen: im Rat des Clanhauses, im Rat des Dorfes oder der Stadt (lokal), im Rat des ganzen Volkes (regional); Männer als Delegierte der Clans für die umfassenderen Ratsversammlungen; sie sind jedoch nur Kommunikations- und keine Entscheidungsträger; Abwesenheit von Herrschaftsmustern und Klassen. Ich nenne sie deshalb auf der politischen Ebene egalitäre Konsens-Gesellschaften. Die religiös-kulturellen Muster matriarchaler Gesellschaften sind: Verehrung der Ahninnen und Ahnen als dem anderen Teil des Clans; sehr konkreter Wiedergeburtsglauben, nach dem jeder Mensch im selben Clan wiedergeboren wird; Heiligung der Erde und des Kosmos als Schöpfergöttinnen; Göttlichkeit der ganzen Welt; es gibt kein dualistisches Weltbild und keine dualistische Moral; alles im Leben ist Teil des symbolischen und rituellen Systems. Ich nenne sie deshalb sakrale Gesellschaften als Kulturen der Göttin.
Einleitung zu diesem Buch
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In vorliegenden Band II richtet sich der Fokus nun auf die Makrostrukturen matriarchaler Gesellschaften, das heißt, auf Institutionen, die über die Sippenordnung hinausgehen und auf das gesellschaftliche Gefüge insgesamt verweisen. Es werden auch Gefüge von mehreren matriarchalen Völkern untereinander dargestellt. Diese Großformen politischer Organisation können sehr verschiedene Strukturen haben. Man kann dabei erkennen, dass matriarchale Gesellschaften mit ihrer ganz eigenen Politik »Staaten« bilden – wenn man das überhaupt so nennen kann. Ich gebrauche diesen Begriff nicht, denn unter »Staat« wird von Beginn der Geschichtsschreibung an bis heute eine Struktur von hierarchisch organisierter Herrschaft verstanden, das heißt, eine patriarchale Gesellschaftsform. In diesem Sinne haben matriarchale Gesellschaften keine »Staaten«, obwohl sie Großformen bilden können. Diese Großformen sind staats- und herrschaftsfrei. Das heißt, matriarchale Gesellschaften sind keineswegs zu klein oder zu »primitiv«, um große Gebilde aus mehreren Völkern politisch hervorzubringen. Das können sie durchaus und haben es in ihrer Geschichte oft getan. Das Erstaunliche an diesen Großformen ist, dass sie nicht wie bei patriarchalen Gesellschaften durch hierarchischen Druck von oben zusammengehalten werden, sondern dass auch diese komplexen Strukturen auf dem Boden von Egalität und Konsens aller Mitglieder gebildet werden. Das setzt eine hohe Kunst politischer Integration voraus, die wir bei ihnen beobachten können. Gleichzeitig geschieht es durch eine grundsätzlich friedfertige Politik, mit der sie solche Großformen stiften, nicht durch flächendeckende Eroberung, wie bei der Entstehung von patriarchalen Staaten und Reichen üblich. Die Kontinente Westasien und Europa kommen in diesen beiden Bänden nicht vor, weil sie keine gegenwärtigen, indigenen matriarchalen Gesellschaften mehr besitzen. Das heißt aber nicht, dass ihre Gesellschaften keine restlichen matriarchalen Elemente mehr haben können. Doch ich konzentrierte mich bei meiner Forschung auf jene Gesellschaften, die noch vollständige oder nahezu vollständige matriarchale Muster aufweisen. Würde ich in allen Kontinenten jene Gesellschaften hinzunehmen, die heute noch mehr oder weniger restliche matriarchale Elemente haben, so ginge ihre Zahl in die Hunderte, eine Aufgabe, die hier nicht das Thema ist. Vollständige matriarchale Gesellschaften hat es jedoch für einen langen Zeitraum in der Geschichte Westasien und Europas gegeben. Das habe ich in Band III dieser Reihe dargestellt: »Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Westasien und Europa« (2019). Zum Schluss möchte ich meinen Wunsch aussprechen, dass die hier begonnene Forschung viele aufgeschlossene Menschen in patriarchalen Gesellschaften erreichen möge. Denn sie kann Frauen in ihrem feministischen Kampf unterstützen, indem sie eine andere, bessere Gesellschaftsform kennen lernen, die zutiefst mit ihnen zu tun hat. In derselben Weise kann sie Männer in alternativen Bewegungen unterstützen, weil sie einen anderen männlichen Typ präsentiert und zeigt, dass Gewalt und Krieg der Menschheit nicht angeboren sind. Es gibt eine Alternative zu patriarchalen Rollenbildern und zur patriarchalen Gesellschaftsform. Diese ist keine abstrakte Utopie, weil sie Jahrtausende lang friedfertig existierte. Sie ist ein Erbe der ganzen Menschheit.
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Einleitung zu diesem Buch
Ebenso ist es mein Wunsch, dass diese Forschung zu den Menschen in indigenen matriarchalen Gesellschaften zurückkehrt, damit ihnen zunehmend bewusst wird, dass sie dieses wertvolle Erbe noch besitzen und dass es eine weltweite Geschichte hat. Damit verknüpft sich meine Hoffnung, dass diese Erkenntnisse sie in ihrem politischen Kampf um ihre kulturelle Identität und Selbstbestimmung stärken mögen. Auf dem Weghof, März 2021
Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
für Amana, Mondfrau und Große Schlange, Schöpferin des Universums, und für Mamona, die Erdmutter der Arawak
1.1
Die Arawak
Als Kolumbus Amerika entdeckte, brach über die indigenen Völker das Schicksal als eine Serie von Terror herein: Krankheiten, Versklavung, Kulturzerstörung und Völkermord, Gräuel, die noch heute nach 500 Jahren nicht beendet sind. Nach seiner Reise über den Atlantik landete Kolumbus auf den Bahamas (1492), besuchte von hier aus das nördliche Kuba und das nördliche Haiti. Die ersten Indianer, die er antraf, waren die Arawak (Aruak), die damals auf den Inseln der Großen und Kleinen Antillen lebten. Auf diesen Inseln hatten sie eine hoch entwickelte Kultur geschaffen, die »Taino-Kultur« genannt wird. Nach Kolumbus Abreise zerstörten sie sein Fort. Auf seiner zweiten Reise (1493–96) entdeckte er alle Inseln der Großen Antillen, etablierte die feste Siedlung Isabela auf Haiti und »pazifierte« die Indianer, indem er sie tributpflichtig machte. Alle drei Monate sollten sie eine bestimmte Menge Gold abliefern. Bei seiner dritten Reise (1500) setzte er einen spanischen Gouverneur über Haiti ein, und das Tributsystem wurde der ganzen Insel aufgezwungen. Aber die Einheimischen Haitis waren nicht in der Lage, den Tributforderungen nachzukommen, deshalb wurden Goldminen gebaut und die männliche Hälfte der Taino-Arawak-Bevölkerung zur Sklavenarbeit in den Goldminen oder auf den Plantagen der Kolonialherren gezwungen. Das geschah nach Meinung der Spanier zum »Wohl der Indianer«: Sie durften nun Spanisch lernen und zum Christentum übertreten. Jedoch verhungerten die versklavten Taino-Arawak bei der Arbeit oder begingen Selbstmord. Mütter töteten ihre Kinder, um ihnen das Los der Erwachsenen zu ersparen. Schwarze Pocken grassierten und dezimierten die Bevölkerung, so dass schon 1535 von sechs Millionen Indianern (Schätzung) nur noch 500 auf der ganzen Insel übriggeblieben waren.1 Um die verlorene Arbeitskraft zu ersetzen wurden nun Taino-Arawak von anderen Inseln des Karibischen Meeres importiert, aus Puerto Rico und Jamaika; damit
1 I. Rouse: »The Arawak«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 4, New York 1963, Cooper Square Publications, S. 517–519.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
waren diese zu demselben Schicksal verdammt. In der gleichen Zeit begannen die spanischen Herren mit dem Handel von Sklaven aus Afrika, weil sich die indigenen Taino-Arawak als »arbeitsuntauglich« erwiesen. Als sich die Indianer gegen diese Behandlung wehrten und rebellierten, wurden ihre Aufstände schnell und äußerst brutal niedergeschlagen, die Gefangenen grausam massakriert. Zwischen 1540 und 1550 waren die Goldminen auf Haiti erschöpft und die umliegenden Inseln boten nicht viel von diesem Metall. Da wandten sich die Spanier den sagenhaften Goldländern Mexiko und Peru zu, wo sie denselben zerstörerischen Prozess einleiteten. In Haiti wurde die Sklaverei abgeschafft, aber es war zu spät, als dass die Einheimischen noch etwas davon hatten. Denn als Francis Drake 1585 Haiti besuchte, gab es dort keinen einzigen Indianer mehr.2 Dennoch leben heute noch einzelne, verstreute Gruppen von Insel-Arawak an anderen Orten. Auf der Antillen-Insel Kuba konnten sich ungefähr 2000 von ihnen vor den spanischen Eroberern verstecken, andere flohen von Kuba aus nach Florida. Nachdem die Antillen für die Spanier uninteressant geworden waren und sie die Zwangsarbeit aufhoben, konnten die Taino-Arawak auf Kuba in relativer Ruhe in ihren Siedlungen wohnen. Sie vermischten sich mit den Spaniern und nahmen deren Kultur an, so dass um 1900 nur noch 400 Indigene übrig waren. Auch am südlichen Ende der Antillen-Inseln, auf Trinidad, wo Kolumbus 1498 gelandet war, überlebten Insel-Arawak, denn diese Insel diente den Spaniern nur als Stützpunkt auf der Suche nach »El Dorado«, dem Goldland im Süden. Ihre Zahl wurde jedoch durch Sklaverei, Revolten und Krankheiten drastisch reduziert, so dass 1830 gerade noch 726 von ihnen lebten, heute sind es nur 200 Taino-Arawak.3 – Die Geschichte der Arawak geht bis auf die Anfänge der Besiedelung Amerikas durch Ackerbaukulturen zurück, sie sind ein uraltes, geheimnisvolles Volk. Für das hohe Alter ihrer Kultur spricht, dass sie verblüffende Ähnlichkeit mit den alten Ackerbaukulturen der Vor-Inka-Zeit in den Anden haben (Chibcha in Kolumbien, Tiahuanaco in Bolivien, um 550 n.u.Z.). Diese Kulturen gehen ihrerseits auf die noch ältere Chavin-Kultur in den Anden zurück (1000 v.u.Z.). Die Chavin-Kultur wiederum hat ihre Wurzeln in der sehr alten Valdivia-Kultur an der Pazifikküste von Ecuador, eine der ersten Ackerbaukulturen auf dem Boden ganz Amerikas überhaupt (ab 3000–1500 v.u.Z.).4 Die Frage wird uns noch beschäftigen, woher diese kam und in welch große historische Tiefe die Arawak-Tradition zurückreicht. In der Zeit vor Kolumbus zogen sie, die heute als Insel-Arawak bekannt sind, von Südamerika kommend über Trinidad zu den Kleinen Antillen und diesen folgten sie nordwärts wie auf einer Stufenleiter zu den Großen Antillen. In früherer Zeit bewohnten sie weite Gebiete im Norden Südamerikas, so lebten sie sowohl an den Küsten Kolumbiens und Venezuelas rings um die Karibik (Zirkumkaribische Arawak) wie auch in den Urwaldgebieten Guayanas und Nordbrasiliens (Wald-Arawak).
2 Ibid. 3 Ibid. 4 Julian H. Steward: »South American Cultures. An interpretative Summary,« in: Handbook of South American Indians, Bd. 5, Washington D.C. 1949, U.S. Governing Printing Office, S. 763.
1.1 Die Arawak
Karte 1: Wanderungsbewegungen und Verteilungsgebiet der Arawak in Südamerika
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
Entlang der Wasserläufe des Orinoko-Beckens und über den Rio Negro bis hin zum Amazonasbecken fand ihre Kultur weiteste Verbreitung, ihre Spuren wurden am gesamten Oberlauf des Amazonas und in Enklaven an der Amazonasmündung gefunden. Denn sie waren in ihren Einbaumbooten überaus geschickte Fluss- und Seefahrer. Noch heute finden sich Volksteile der Arawak in Ostbolivien und Ostperu als Sub-Anden-Arawak, wie die Campa, und isolierte, den Arawak verwandte Gruppen sogar auf dem Anden-Hochland, wie die Uru am Titicaca-See und die Chipaya am Copaisa-See. Sie sind Zeugen für die weite geografische Ausdehnung, die ihr Gebiet einst besaß (Karte 1).5 In dieser riesigen Region waren sie die Kulturgeber, was sich nicht nur auf die materielle Kultur, sondern auch auf die Sozialordnung bezieht. Ihre materielle Kultur hat sich durch ihre verschiedenen geographischen Lebensbedingungen sehr unterschiedlich entwickelt, aber ihre gemeinsame Sprache und ihre besonderen sozialen und religiösen Muster verbinden sie. Ihre Sozialordnung ist matrilinear und matrilokal, sie leben in Sippen zusammen.6 Gewisse Einzelzüge wie Matrilinearität finden sich auch bei benachbarten Stämmen bis nach Südbrasilien und Argentinien (Ge, Bororo) und gehen auf die Arawak zurück.7 In der jüngeren Geschichte waren die Arawak diejenigen Volksgruppen, die am härtesten von der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus getroffen wurden. In ihrem weiten Verbreitungsgebiet auf dem südamerikanischen Kontinent, in dem die spanischen Eroberer sie nach der Vernichtung der Antillen-Arawak antrafen, ereilte sie überall dasselbe Schicksal. Ganze Stämme brachen im Kampf ums Überleben gegen Ausbeutung, Krankheiten und Krieg zusammen. Durch den permanenten Genozid wurden indigene Völker entlang der Küsten und der großen Wasserwege sehr schnell ausgelöscht oder absorbiert. Selbst diejenigen, die sich verstecken konnten, erlitten bereits vor jedem Kontakt mit den Weißen durch Flucht und Krankheit Schaden. Dabei ist es gleichgültig, ob die Fremden als Eroberer, Kolonialherren, Missionare oder Siedler kamen, denn die Wirkung für diese Völker blieb dieselbe. So waren Missionsstationen oft der erste Kontakt, aber durch sie wurden Seuchen eingeschleppt, ganz zu schweigen von der Kulturzerstörung durch aufgezwungene christliche Werte.8 Diejenigen, die bei den Missionsstationen blieben, starben zuerst aus, während ihre widerspenstigen Stammesgenossen sich in den Urwald zurückzogen und zu ihrer alten Lebensweise zurückkehrten. Aber diese Überlebenden konnten hier, in die unwirtlichsten Gebiete des Kontinents vertrieben und von ihren anderen Stammesmitgliedern getrennt, die Höhe der Kultur, die sie einst besessen hatten und über welche die Archäologie beredtes Zeugnis abgibt, nicht aufrecht
5 Ibid.; Karte der Völker Südamerikas, in Bernatzik/Krickeberg (Hgs.): Große Völkerkunde, Bd. 3, Leipzig 1939, Bibliographisches Institut. 6 Steward: »South American Cultures«, S. 763. 7 W. Schmidt: Das Mutterrecht, Wien-Mödling 1955, Verlag der Missionsdruckerei St. Gabriel, S.75–78. 8 Siehe den Dokumentarfilm von Gordian Troeller/Marie-Claude Deffarge über die Campa: Abschied vom Lachen, Reihe: Frauen der Welt, CON-Film, Bremen 1981.
1.1 Die Arawak
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erhalten. Massive Dekulturation war die Folge.9 Sie sanken auf die Stufe einfachster Urwald-Kultur herab, wie die Campa,10 oder überlebten als Sekundär-Viehzüchter in glühender Wüste, wie die Goajiro auf der Halbinsel Guajira am Golf von Maracaibo (Kolumbien). Da die Goajiro-Arawak mit 60.000 Menschen die größte indigene Gesellschaft in Kolumbien und in Venezuela sind, können wir uns anhand von ihnen ein genaueres Bild von der Arawak-Gesellschaft machen. Sie haben ihr Schicksal sehr anpassungsfähig gemeistert. Als die Spanier auf sie stießen, lebten sie schon auf der wüstenhaften Halbinsel Guajira und hatten ihr Auskommen durch Fischfang und reiche Perlengründe, deren Geheimnis der Nutzung nur sie kannten. Davor waren sie wahrscheinlich Ackerbauern gewesen, doch lange vor der Ankunft der Spanier waren sie, durch andere Indianervölker verjagt, auf der Halbinsel eingewandert.11 Die Perlengründe konnten ihnen die Spanier nicht so leicht wie Gold wegnehmen, und so kam es zu einem Tauschhandel. Die Goajiro-Arawak erwarben als Gegenwert von den Spaniern Haustiere wie Ziegen, Schafe, Schweine, Hühner, Rinder und Pferde und bauten eine nomadische Viehzüchterwirtschaft auf, die neue Basis ihres Überlebens. Außerdem begannen sie Salz zu verkaufen, das sie aus den Salzpfannen am Meer gewannen. Heute arbeiten viele von ihnen in der Erdöl-Industrie am See von Maracaibo. Der Wasserknappheit auf ihrer trockenen Halbinsel begegnen sie mit dem Bau technisch hochentwickelter Brunnenschächte. Ihre Häuser sind heute durch das nomadische Leben sehr einfach. Kommt es aber durch etwas Wohlstand zu einem festen Dorf von 200–250 Bewohnern, dann bauen sie stabile Ziegelhäuser, decken diese mit Schindeln aus gespaltenen Kakteen und umhegen das Dorf zuletzt mit einer Kaktushecke.12 Die Goajiro bilden etwa dreißig große Clans, die in der Mutterlinie organisiert sind, jede Sippe mit eigenem Territorium und mit einem verschiedenen Tier als Erkennungszeichen. Die älteste Frau, die Sippenmutter oder Matriarchin, hält ihren Clan zusammen. Ihr ältester Bruder ist der Vertreter des Clans nach außen und genießt hohes Ansehen. Aus diesen männlichen Sippenvertretern wird der Dorfhäuptling gewählt und die Wahl fällt immer auf den, dessen Clan den relativ größten Wohlstand hat. Als Häuptling muss er sich für das Dorf verausgaben, denn er ist nun verpflichtet, mit dem Vermögen seiner Sippe allen anderen Schutz zu geben. Dadurch sinkt der Wohlstand seines Clans beträchtlich. Sobald dessen Mittel sich verringert haben, wird der nächste Mann eines wohlhabenden Clans mit denselben Pflichten zum Häuptling gewählt. Mit dieser intelligenten Methode werden
9 Steward: »South American Cultures«, S. 763–766. 10 J. Elick: »Die Campa des Gran Pajonal, Peru«, in: Bild der Völker, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, Bd. 5, S. 174 f. (original in Englisch: Peoples of the World, London 1972–1974). Vgl. dazu den Dokumentarfilm von Troeller/Deffarge (a. a. O.), der die Situation der CampaFrauen viel besser wiedergibt. 11 Armstrong/Métraux: »The Goajiro«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 4, S. 370; W. Divale: Matrilocal Residence in Pre-Literate Society, Ann Arbor, Michigan 1974/84, UMI Research Press, S. 87. 12 A. Baring: »Die Goajiro in Kolumbien und Venezuela«, in: Bild der Völker, Bd. 5, S. 138–144.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
die Güter in Umlauf gehalten, und es kann nicht zu einer Güterhäufung bei einigen wenigen kommen, der allgemeine Lebensstandard gleicht sich immer wieder aus. Außerdem haben diese Häuptlinge keinerlei Befehlsgewalt, sondern nur die Aufgabe, das Dorf nach außen zu vertreten.13 Mit der Verteilung ihrer Güter gewinnen sie und ihre Sippen nichts außer »Ehre«. Dieses Ansehen bewirkt jedoch, dass sie in Notzeiten von den anderen nicht im Stich gelassen werden. Der Lebenslauf jeder einzelnen Person ist untrennbar mit der Sippe verbunden, denn die Sippe, repräsentiert durch die Clanmutter, schützt ihre Angehörigen. Diese erwidern es dadurch, dass sie alles zur Stärkung und Verteidigung ihrer Sippe tun. Die wirtschaftliche Basis jeder Sippe ist das Vieh, es ist Gemeinschaftsbesitz und wird gemeinschaftlich betreut. Die Männer weiden und tränken die Herden, die Frauen melken, stellen Käse her und bereiten das Fleisch zu. Viehdiebstahl ist ein ebenso großes Verbrechen wie die Vergewaltigung einer Frau, beides wird mit der strengsten Strafe geahndet, denn dadurch ist die Ehre einer ganzen Sippe beleidigt worden.14 Die Sippen der Goajiro sind exogam (Heirat außerhalb der Sippe) und paarweise einander zugeordnet. Das heißt, je zwei Sippen stehen durch dauernde Wechselheirat miteinander in Verbindung, wie zum Beispiel die Sippe Urania mit der Sippe Puschania und die Sippe Epieyues mit der Sippe Secuana. Gruppenehe gibt es nicht, sie wurde durch die Ehe von Einzelpersonen abgelöst. Heute zieht die junge Frau bei der Heirat ins Haus des Gatten, für sie erhält ihr Mutterclan Vieh als Hochzeitsgabe. Es handelt sich dabei nicht um einen »Brautpreis«, denn die junge Frau ist nicht nur diejenige, die ihren Gatten ernährt und kleidet, sondern sie kann jederzeit die Scheidung durch Rückkehr ins Mutterhaus vollziehen. Die Hochzeitsgabe an Vieh, die unterdessen von ihrem Clan gehütet und vermehrt wurde, bleibt dabei ihr persönliches Eigentum und fällt ihr bei der Scheidung als Besitz zu.15 Wenn eine junge Frau ein Kind gebiert, wird sie dabei ausschließlich von den Frauen ihres eigenen Clans begleitet. Die Geburt eines Mädchens ist erwünschter als die eines Knaben (Abb. 1). Über einen Knaben freut man sich »wie über ein kleines Pferd«, über ein Mädchen »wie über eine kleine Kuh«, wobei Kühe der größte Reichtum der Clans sind (Ausspruch eines Goajiro). Die Mutter gibt dem Kind nach der Geburt den Namen einer Ahnin oder eines Ahnen und den Namen ihres eigenen Clans, als dritten erhält es einen Namen nur für Außenstehende. Allein der mütterliche Clan feiert mit ihr das Ereignis. Die Vaterlinie ist bekannt, spielt aber keine Rolle. Die Kinder wohnen zuerst bei der Mutter, später übernimmt eine Schwester der Mutter die weitere Erziehung der Mädchen oder ein Bruder der Mutter die der Knaben. So werden sie bei den nächsten Verwandten im Mutterclan groß.16
13 P. Kirchhoff: »Die Verwandtschaftsorganisation der Urwaldstämme Südamerikas«, in: Zeitschrift für Ethnologie, Nr. 63, Berlin 1931, Reimer Verlag, S. 154. 14 Baring, S. 145. 15 Kirchhoff, S. 151–153. 16 Baring, S. 145–146.
1.1 Die Arawak
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Abb. 1: Arawak-Goajiro-Mädchen mit ihrem zahmen Kaninchen (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 144)
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
Ihr Vieh behandeln die Goajiro-Arawak genauso gut wie die eigenen Sippenmitglieder. Wie man einen Angehörigen der eigenen Sippe nicht heiraten darf, ebenso wenig darf man die Rinder des eigenen Clans essen, denn sie gelten als direkte Verwandte. Wird ein Rind krank, dann wird es genauso wie ein Mensch zur schamanischen Heilerin gebracht.17 Stirbt jemand in einem Clan der Goajiro, dann werden Rinder geopfert und ihr Fleisch zur Bewirtung der Gäste aus den anderen Clans zubereitet. Ihre Seelen jedoch, so glauben die Goajiro, begleiten den toten Menschen auf der langen Jenseitsreise und vermehren zahlenmäßig die Seelen des eigenen Clans.18 Obwohl die Arawak-Kultur der Goajiro sich unter verschiedenen Bedrohungen mehrfach gewandelt hat, ist sie doch immer matriarchal geblieben. Zugleich ist sie ein gutes Beispiel gegen die verbreitete Legende, dass Viehzucht notwendig mit Patriarchat gekoppelt sein müsse. – Aus Archäologie und vergleichender Ethnologie lassen sich die grundsätzlichen Züge auch der historischen Arawak-Kultur erschließen. Die traditionelle Ökonomie der Arawak war der Ackerbau, der teils als Gartenbau mit dem Grabstock ausgeführt wurde (Antillen), teils als Brandrodungsfeldbau mit Wanderungen (Amazonas-Urwald), teils als Ackerbau in offener Landschaft, verbunden mit Terrassen und Bewässerungsanlagen (Berge, Hügel, Savannen im Sub-Anden-Gebiet und den Orinoko-Bergen). Fast überall war der Anbau Frauensache, das Roden hingegen Männersache.19 Die Feldfrüchte wurden durch die Beute aus Jagen und Fischen ergänzt. Die Arawak fischten mit Netzen, Haken, Harpunen und Körben und jagten mit Keulen, Steinschleudern, Speeren, Fanggehegen, assistiert von Hunden und Lockvögeln. Pfeil und Bogen kannten sie nicht.20 Aller Besitz war Gemeinschaftsbesitz der Muttersippe, bei einigen Stämmen besaßen die Frauen Felder und Häuser allein.21 Persönliches Eigentum sowie Titel und Würden wurden nur in weiblicher Linie vererbt.22 Bei den Küsten-Arawak (Zirkumkaribische Kultur) und den Insel-Arawak (Antillen) gab es bis ins 20. Jahrhundert noch große Gemeinschaftshäuser für die Sippen, und eine Siedlung bis 3000 Personen bestand aus mehreren solchen Häusern. Die Sippen waren ausschließlich matrilinear, der Bräutigam siedelte für eine kürzere oder längere Zeit ins Haus der Schwiegermutter über und arbeitete für ihren Clan. Die Vermählung folgte strenger Sippen-Wechselheirat zwischen je zwei Sippenhäusern in derselben Siedlung (lokale Endogamie). Bei den Urwald-Arawak (in Guayana, Brasilien und im Orinoko-Becken, ebenso im Becken des Rio Negro und Amazonas) waren die Siedlungen erheblich kleiner und weiter verstreut; ein Dorf bestand aus 17 18 19 20
Armstrong/Métraux, S. 382. Baring, S. 147. Steward: »South American Cultures«, S. 717. Julian Steward: »The Circum-Caribbean Tribes«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 4, S. 23/24. 21 R.H. Lowie: »Social and Political Organization of the Tropical Forest and Marginal Tribes«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 5, S. 353. 22 Rouse, S. 530.
1.1 Die Arawak
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einer einzigen Sippe, daher wurde die Sippenheirat zwischen je zwei Dörfern praktiziert (lokale Exogamie).23 Auch hier zog der Mann ins Haus der Frau und arbeitete für den Clan der Schwiegermutter, das heißt, sie hatten strikte Matrilokalität.24 Wie überall entstand bei diesen Regeln die generationenlange Kreuz-Basen-VetternHeirat »cross cousin marriage«). Im Allgemeinen scheint sich die Paarungsehe statt der Gruppenehe eingebürgert zu haben. Doch gelegentlich ist die Heiratsform von einer Schwesterngruppe des einen Clans mit einer Brüdergruppe des anderen Clans von den Forschern überliefert, und diese Hinweise legen den alten Brauch der Schwestern-Brüder-Gruppenehe nahe.25 Die Häuptlingswürde wurde nur matrilinear vererbt. Dabei hatten die Häuptlinge keine große Macht. Sie waren im Dorf Friedensstifter, Vorsänger und Vortänzer bei Festen; nach außen repräsentierten sie ihr Dorf gegenüber anderen Gemeinschaften; sie empfingen Gäste, leiteten Jagden und Fehden. Sie waren leicht abwählbar.26 Die reale Macht hatten die Sippenmütter und die Frauen der Clans im Sippenhaus, abgesehen davon sind bei den Arawak auch weibliche Häuptlinge bekannt.27 Mit allen diesen Zügen bewahrten die Arawak die klassischen Muster der matriarchalen Gesellschaftsform über enorm lange Zeiträume. Außerdem ist wichtig, dass bei ihnen häufig Kriegerinnen erwähnt werden, die bei den Aufständen gegen die Spanier kämpften, ein Phänomen, dem wir gleich nachgehen werden. Dennoch gelten die Arawak im Gegensatz zu benachbarten Stämmen als sehr friedlich. – Was hat die Arawak schon in vorkolumbischer Geschichte bewogen, von Südamerika aus auf die Antillen-Inseln zu ziehen? Dies war nicht ganz freiwillig geschehen, denn sie waren aus vielen früheren Wohngebieten in Südamerika verdrängt worden. Sie waren das Ziel aggressiver, patriarchalisierter Nachbarstämme, wie die Kariben und die Tupi, die ihnen mit den Waffen Pfeil und Bogen überlegen waren. Vor ihnen flohen die Arawak an die nördlichen Küsten und wanderten die Kleinen Antillen nordwärts hinauf. Aber die Kariben folgten ihnen, so dass bei der Ankunft von Kolumbus die Kleinen Antillen bereits von den Kariben erobert worden waren, während die Arawak weiter nach Norden hinaufgezogen waren und die Großen Antillen besiedelt hatten.28 Die sie verdrängenden Kariben waren die Erb- und Erzfeinden der Arawak. Sie hatten seltsame Praktiken, die darauf abzielten, die matriarchale Ordnung der Arawak zu schädigen. So unternahmen sie routinemäßig Raubzüge gegen die Taino-Arawak, um weibliche Gefangene zu erbeuten, die gezwungen wurden Kariben-Häuptlinge zu
23 Kirchhoff, S. 147 f. 24 A.a.O., S. 155 f.; Steward: »South American Cultures«, S. 718. 25 Lowie, S. 314 f. – Siehe zum Muster der Schwestern-Brüder-Gruppenehe: Heide GöttnerAbendroth: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Ostasien, Indonesien, Pazifischer Raum, Band I aus dieser Reihe, Stuttgart 2021, Kohlhammer Verlag, Kapitel 4.4. 26 Lowie, S. 341. 27 Rouse, S. 529; siehe auch: The 38th Annual Report of the Bureau of American Ethnology, Washington D.C. 1924, Smithsonian Institution, S. 573, Abschnitt 750. 28 Michael Coe/Dean Snow/Elizabeth Benson: Weltatlas der Alten Kulturen. Amerika vor Kolumbus, München 1993 (6.), Christian Verlag, S. 160–162 (original in Englisch 1986).
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
heiraten. Damit schwächten sie die Muttersippen der Arawak. Die männlichen Gefangenen wurden gefoltert, getötet und dann aufgegessen, während man aus ihren Knochen, besonders den Köpfen, Trophäen machte, wie die sogenannten »Schrumpfköpfe«. Solche grausamen Sitten waren den Arawak fremd.29 Wenn sie ihrerseits männliche Gefangene machten, adoptierten sie diese in ihre Clans, vermählten sie mit ihren Töchtern und behandelten sie wie die eigenen Schwiegersöhne.30 Sie waren wegen ihrer unkriegerischen Art daher nicht sehr erfolgreich, sich gegen die Kariben zu verteidigen; stattdessen zogen sie es in ihrer langen Geschichte immer wieder vor, diesen feindlichen, patriarchalen Völkern aus dem Weg zu gehen.31 Auch die Jagd nach Kopftrophäen ist ein Beispiel dafür, wie die Kariben die matriarchalen Sitten der Arawak störten und pervertierten. Sie hängt mit den Begräbnissitten der Arawak zusammen, denn diese praktizierten die Mehrfachbestattung ihrer verstorbenen Sippenmitglieder, zuerst als Erdbegräbnis, danach pflegten sie die Gebeine und Schädel, um sie erneut feierlich zu begraben. Dazu gehörten die Verehrung und Speisung der Ahnenwesen, zu denen die Verstorbenen nun geworden waren. Der sorgfältige Umgang mit dem Kopf oder Schädel der Toten garantierte diesen die sichere Wiedergeburt, denn es ist der Kopf des Kindes, der bei der Geburt zuerst hervortritt. Weil aber die Arawak in ihrer Geschichte wegen der Eroberung ihrer Wohngebiete oft weiterziehen mussten, sie sich jedoch nicht von den Gebeinen, besonders den Schädeln ihrer Ahninnen und Ahnen trennen wollten, hatten sie den Brauch entwickelt, diese Reliquien in Urnen oder Körben mitzunehmen.32 Nur so war den Ahnen die Wiedergeburt durch junge Frauen der eigenen Sippe sicher. Das ist der Grund, weshalb es ihre Feinde auf die Schädel und die Köpfe abgesehen hatten, um ihre Arawak-Gegner, nachdem sie sie erschlagen hatten, auch an jeglicher Wiedergeburt zu hindern. Eine Schädeltrophäe war daher das Zeichen ihres doppelten Triumphes. Die Sitten von Frauenraub, Menschenopfer von Gefangenen, Kannibalismus und Kopf- oder Skalpjagd, die bei den Urwaldstämmen vorherrschten, waren jedoch nicht auf diese beschränkt. Sie sind auch aus anderen Teilen der Welt bekannt. Die meisten Beispiele stammen aus Nord-, Mittel- und Südamerika, ebenso von den Inseln des Pazifik. Aber sie sind auch aus Afrika, Ostasien und in zwei Fällen aus dem Mittemeerraum überliefert. Die verschiedenen Formen des Kannibalismus wurden in der Regel rituell ausgeübt und dienten ebenfalls religiösen Zwecken, sei es als Art der Ahnenverehrung oder als Dienst an den Gottheiten.33 Die Arawak-Kultur kannte solche Sitten nicht und ebenso keine Männerhäuser und geheimen Männerbünde, die von Kariben, Tupi und vielen anderen südameri-
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Steward: »The Circum-Caribbean Tribes«, S. 23–25. Kirchhoff, S. 138 f. Rouse, S. 532; Steward: »South American Cultures«, S. 723 f. W. Schmidt: »Kulturkreise und Kulturschichten in Südamerika«, in: Zeitschrift für Ethnologie, Nr. 45, Berlin 1913, Reimer Verlag, S. 1075 f. 33 Vgl. Peggy Reeves Sanday: Divine Hunger. Cannibalism as a Cultural System, New York, Melbourne 1986, Cambridge University Press.
1.1 Die Arawak
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kanischen Stämmen berichtet wurden. Solche Männerbünde sind aus allen Kontinenten der Welt bekannt, auch aus der Frühgeschichte Europas; sie wurden gebraucht, um patriarchale Keimzellen zu bilden, die matriarchale Gesellschaften in der Umgebung schwächen und eine junge, noch unstabile patriarchale Ordnung durchsetzen sollten. Auch sie haben einen religiösen Hintergrund, der in der Regel mit Kriegsgöttern verbunden ist. Die allgemeinen Eigenschaften dieser geheimen Männerbünde sind, dass sie in erster Linie kriegerischen Ritualen der Männer dienten und in manchen Kulturen dem Kannibalismus und dem Wettbewerb um Kopftrophäen. Jünglinge, die in die Männerbünde aufgenommen werden wollten, wurden strengen, oft blutigen Initiationsriten unterworfen; doch auf diese Weise wurden sie von den Männern zum zweiten Mal »geboren«, nämlich in die Welt der Männer, was sie überhaupt erst zum »Mann« machte. Frauen waren grundsätzlich aus diesen Bünden ausgeschlossen. Außerdem dienten die Männerhäuser als Geheimtempel, von denen alle spirituellen Aktivitäten ausgingen, die in der Weitergabe von patriarchal uminterpretierten Stammestraditionen bestanden, die ursprünglich einmal andere Inhalte hatten. Hier wurden auch Raubzüge und Fehden gegen andere Stämme geplant, ebenso der terrorisierende »Geisterspuk« gegen die Frauen und Kinder der eigenen Gesellschaft. Die Frauen dieser patriarchalisierten Stämme büßten dabei ihre spirituelle Autorität ein, die sie einst besessen hatten.34 Bei den matriarchalen Arawak gab es hingegen keine Männerhäuser und Männerbünde. Die Rituale um ihre »Zemis«, die Figuren von Ahninnen und Ahnen, heiligen Tieren und heiligen Pflanzen waren, standen allen Sippenmitgliedern offen und wurden gemeinsam in den Sippenhäusern gefeiert. Die Rituale um die Zemis des Dorfes wurden im Haus der Häuptlingssippe ausgeführt und waren allen Dorfbewohnern zugänglich.35 Das heißt, die Religionsausübung, bei der die Ahnenverehrung einen prominenten Platz einnahm, war öffentlich und nicht mit Geheimbünden verknüpft. – Die Glaubensinhalte der matriarchalen Völker Südamerikas waren in ihrer Mythologie enthalten, diese ist jedoch nur noch in Fragmenten überliefert. Besonders die Mythologie der Arawak wurde von den Missionaren als »heidnischer Aberglaube« bekämpft und unterdrückt. Geduldige Forscherarbeit hat einiges davon wieder zusammenfügen können. So glaubten diese Völker an eine Urgöttin »Mamona«, die Erdgöttin und Mutter des Himmelsgottes; sie wird von ihrem Bruder an ihrer Seite beschützt.36 Häufig gibt es nicht einmal diesen Himmelsgott, so dass er als eine spätere Zufügung betrachtet werden muss. Die Erdgöttin trägt fünf Namen und wurde mit fünf Köpfen von verschiedenen Tieren dargestellt und in Höhlen ver-
34 Vgl. Bruno Bettelheim: Die symbolischen Wunden. Pubertätsriten und der Neid des Mannes, München 1975, Kindler; Helmut Blazek: Männerbünde. Eine Geschichte von Faszination und Macht, Berlin 1999, Ch. Links; Gisela Vögler/Karin von Welck (Hgs.): Männerbande-Männerbünde. Zur Rolle des Mannes im Kulturvergleich, 2 Bde., Köln 1990, Rautenstrauch-Joest-Museum. 35 Steward: »South American Cultures«, S. 725. 36 Rouse, S. 538.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
ehrt.37 Entsprechend hat jeder Mensch als Kind der Erdmutter fünf Seelen, die verschieden stark mit der Erde verhaftet sind. Die hellste, himmlische Seele von ihnen wandert nach dem Tod durchs Geisterreich und wird dann wiedergeboren.38 Gleichermaßen uralt ist die Mondgöttin »Amana«. Amana als die »Mondmutter« und Mamona als die »Steinmutter«, die Erde, gelten als die Ahnfrauen aller Arawak.39 Amana ist dabei eine Jungfrau-Mutter und die Schöpferin des ganzen Universums. Niemand hat sie geboren, aber sie gebar alles. Sie kann alle Formen annehmen, doch meist stellt man sie sich als wunderschöne, junge Frau vor, deren Körper in einem Schlangenschwanz endet. Ihre Haut ist weiß wie der Mond, sie hat langes, schwarzes Haar und leuchtende Augen, ihre Stirn ist mit sieben Sternen geschmückt. Sie spricht so zu ihrem Volk: Ihr nennt mich die Große Schlange, aber ich bin keine. Ich bin oft eine Schlange gewesen. Ich bin Ich. Ich wechsle ständig meine Haut. Ich bin die, welche jung bleibt, während sie altert.
Sie, die sich wie eine Schlange stets verjüngt, ist das Wesen der Zeit, denn der Mond ist der Zeitmesser. Ebenso ist sie das Wesen des Schicksals, das sich wie der Mond ständig wandelt. Zugleich ist sie der mütterliche Geist nicht nur aller Pflanzen, Tiere und Menschen, sondern auch aller Kultur: der Magie, der Sprache, des Gesanges, der Belehrung. Als Schlange personifiziert sie auch den Geist des Wassers, besonders der Flüsse und großen Ströme, die sich in den Augen der Arawak wie Schlangen durch das Land winden.40 Ihre Residenz ist das Himmelswasser, der himmlische Ozean. Auf der Erde spiegelt das Meer den Himmelsozean wider, und es gehört mit all seinen Fischen und Wasserschlangen, seinen vielfältigen Meereswesen ebenfalls zu Amanas Reich. Überhaupt spiegelt die Erde alles, was sich am Himmel ereignet – eine Idee, die das alte matriarchale Prinzip der Verbindung von Makrokosmos und Mikrokosmos zeigt. Der Palast Amanas sind die Pleijaden, das Siebengestirn, sie sind das »Haupt aller Sterne«. Denn wenn sie am Himmel erscheinen, kommt die Regenzeit und bringt die Erneuerung der Natur und damit beginnt das neue Jahr.41 Das Reittier der Mondgöttin ist häufig die Schildkröte, denn ihr Panzer zeigt 13 Segmente, die den Mondmonaten des Jahres entsprechen. Sogar am Tageshimmel erscheint Amana, nämlich als die Regenbogenschlange, von der die Vögel die bunten Farben für ihr Federkleid leihen. Als Große Schlange vereinigt sie nicht nur alle Gewässer und alle Lebensgeister der Welt in sich, sondern als Regenbogenschlange
37 Rouse, S.538 und Abb. 92. 38 C. H. de Goeje: »Philosophy, Initiation, and Mythos of the Indians of Guayana«, in: Internationales Archiv für Ethnographie, Bd. XLIV, Leiden 1943, S.8 und 15. – Das Buch ist in jeder Hinsicht eine hervorragende Rekonstruktion der fast zerstörten indianischen Mythologie Südamerikas (besonders interessant die Hinweise auf die Arawak). 39 Schmidt: »Kulturkreise«, S. 1071. 40 Goeje, S. 26. 41 A.a.O., S. 27.
1.1 Die Arawak
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verkörpert sie auch alles Licht und alle Farben.42 Diese uralte Symbolik verweist insgesamt auf die großen Mondgöttinnen des Pazifischen Raumes, ebenso die Regenbogenschlange bis nach Australien, auch die Vorstellung von Flüssen als Schlangen und die Schildkröte als Urtier bis zum ostasiatischen Kontinent. Aus Amana ging das erste polare Prinzip hervor, die helle und die dunkle Seite des Kosmos, anschaulich in der hellen und dunklen Seite des Mondes, gespiegelt im Meer als Ebbe und Flut. Die Göttin inkarnierte dieses Prinzip in ihren beiden Söhnen Tamulu, dem Älteren, und Tamusi, dem Jüngeren. Tamulu, der Dunkle, wurde bei der Abenddämmerung geboren, Tamusi, der Helle, dagegen beim ersten Morgenlicht. Die Gattinnen dieser Söhne sind die beiden Aspekte von Amana selbst, der dunkle und der helle.43 Tamulu, der Dunkle, verkörpert alle Naturwesen und die Naturkraft auch im Menschen. Er ist der Gesetzgeber der Magie, der erste Richter und Medizinmann, in allem der ausführende Geist der Göttin. Sein jüngerer Bruder Tamusi, der Helle, verkörpert dagegen das menschliche Bewusstsein, wobei sein Intellekt noch recht unvollkommen ist und er oft in egoistische Tricksterei verfällt, so dass er selbst in Schwierigkeiten gerät. Er soll durch seine Streiterei das Goldene Zeitalter der Welt beendet haben. Meistens sind beide Brüder gute Freunde, nur bei Mondfinsternis nicht. Dann versucht der ältere Bruder Tamulu in Gestalt des Großen Jaguars den jüngeren Bruder Tamusi zu fressen. Als Jaguar ist er der Rächer für allen Unfug, den Tamusi in der Welt angerichtet hat. Auch als Wilder Jäger mit Donner und Blitz kommt Tamulu gelegentlich daher und verdunkelt zeitweilig das Licht des Tamusi. Er gibt ihn aber stets wieder frei, für den Augenblick. Doch am Ende der Zeit, wenn alles in der Schöpfung verdorben ist, kommt Tamulu als Blauer Jaguar zurück und zerstört die Welt und verschlingt die ganze Menschheit.44 – Diese matriarchale Mythologie gibt eine uralte Schicht im indianischen Denken Südamerikas wieder. Sie tritt am deutlichsten bei den Arawak hervor. Bei den anderen patriarchalisierten Stämmen wurde die helle Seite des Mondes, Tamusi, immer stärker zum männlich-guten Prinzip gemacht, während die Mondfrau als Urmutter allmählich durch einen himmlischen »Großvater« verdrängt wurde. Zuletzt ersetzte der militante, patriarchale Sonnenkult der Inka in Peru und der Azteken in Mexiko die matriarchale Weltauffassung der Arawak-Kultur. Von einer hochentwickelten Arawak-Kultur können wir zu Recht sprechen, denn die Archäologie entdeckte die von ihnen geschaffenen Megalithbauten und die kunstvolle Keramik, welche die Gefäßform mit Tier- und Menschengestalten verbindet. Die Arawak gelten als die eigentlichen Träger der Töpferei in Südamerika.45 Die Megalithbauten von teils erstaunlicher Kunstfertigkeit wurden in ihrem ganzen Wohngebiet gefunden.46 Diese Megalithsteine werden von den Arawak noch heute
42 43 44 45 46
A.a.O., S. 28, 31–32. A.a.O., S. 35–36. A.a.O., S. 39–41. Schmidt: »Kulturkreise«, S. 1067–1068. Rouse, S. 507 f. (Abbildungen).
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
verehrt; sie hüten sie, damit sie nicht beschädigt werden oder verloren gehen. Außerdem glauben sie, dass die Steine Regen und Glück bringen können und Krankheiten heilen.47 Am bemerkenswertesten sind die sogenannten »Ballplätze«, die in jeder Siedlung vorkommen. Es sind rechteckige Areale, manchmal so lang wie Straßen, ringsum mit stehenden Steinen, das heißt, mit Platten und Menhiren geschmückt. Auf den Steinen kommen wie in Megalithgräbern und in Höhlen häufig Felszeichnungen vor. Gelegentlich sind diese Plätze auch rund oder oval. Sie erinnern außerordentlich an die Marae, die offenen Tempel der Polynesier im Pazifik.48 Alle diese Plätze sind Anlagen für Zeremonien, und das mit ihnen verbundene »Ballspiel« hatte religiöse und politische Bedeutung. Archäologen haben äußerst gleichmäßige, mannshohe Steinkugeln gefunden, die man für dieses Spiel brauchte. Die Indianer-Kulturen Mittelamerikas kannten ebenfalls Ballplätze und ein Ballspiel, zum Beispiel die Azteken in Mexiko; sie führten es mit einer großen Kautschuk-Kugel aus. Es war ein Spiel, bei dem es auf Leben und Tod ging, denn der Anführer der Siegerpartei wurde feierlich geopfert.49 Auch die Arawak spielten mit einem Kautschuk-Ball auf ihren Zeremonialplätzen.50 Den Nachbarstämmen fehlt dieses Spiel. Wie sollen wir das Ballspiel verstehen? Der politische Zweck war vielleicht, Feindseligkeiten zu beschwichtigen und Konflikte rituell zu lösen, die zwischen verschiedenen Sippen oder Gemeinschaften entstanden waren. Die religiöse Bedeutung ist mit dem Symbol des Balles selbst verknüpft, der vielleicht den »Ball des Schicksals« als den Mond oder die ganze Welt bedeutete. Wir wissen nicht genau, welche Bedeutung dieses Symbol im matriarchalen Kontext hatte, aber vermutlich war es mit einer weiblichen Gottheit verknüpft. Es gibt einen indirekten Hinweis dafür, denn bei den späteren patriarchalen Azteken symbolisierte der Ball die zyklische Reise des Sonnengottes durch die Unterwelt und dann wieder zum Himmel hinauf. Vor dem Sonnengott gab es jedoch die Mondgöttin Amana der Arawak. Doch warum wurde der Anführer der Siegerpartei geopfert und nicht der Verlierer? Das kann aus der matriarchalen Vorstellung erklärt werden, der Großen Göttin nur den Besten von allen Menschen zu opfern, was in manchen Kulturen den Heiligen König betraf. Deshalb war es hier der Sieger im Ballspiel als der beste Mann.
1.2
Die Amazonen vom Amazonas
Die eben erwähnten archäologischen Funde weisen zurück auf den langen Wanderweg und die rätselhafte Herkunft der Arawak und ihrer Kultur. Um der Lösung
47 Marquis de Wavrin: Rites, Magie et Sorcellerie des Indiens de l’Amazonie, Monaco 1979, Edition du Rocher, S. 116–117. 48 Siehe dazu Göttner-Abendroth, Band I aus dieser Reihe, Kapitel 10 und Abbildung 25. 49 Doris Stone: »The Basic Cultures of Central America«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 4, S.181, Abb.30; Coe/Snow/Benson, S. 108–109. 50 Steward: »The Circum-Caribbean Tribes«, S. 25.
1.2 Die Amazonen vom Amazonas
27
dieses Rätsels näher zu kommen, greifen wir die Überlieferung von Kriegerinnen in Südamerika wieder auf, einem weit verbreiteten Phänomen, das von europäischen Forschern oft beschrieben, aber kaum verstanden wurde.51 Berichte von kämpfenden Frauen in wohltrainierten Verbänden, die zusammen mit den Männern fochten oder in Abwesenheit der Männer allein ihre Dörfer verteidigten, sind von vielen südamerikanischen indigenen Völkern während des Widerstandes gegen die spanischen Eroberer überliefert.52 Doch in dem Gebiet, in dem die Arawak wohnten, verdichten sich diese Berichte über weibliche Kampfeskunst und reichen bis zu klaren Zeugnissen von rein weiblichen Gesellschaften. Das weist auf das noch viel weniger verstandene Phänomen von Amazonen hin, die als unabhängige Kriegerinnen und Gründerinnen von Städten ohne Männer handelten.53 Man muss sie klar von den viel häufiger vorkommenden Mitkämpferinnen an der Seite der Männer unterscheiden, um zu verstehen, was Amazonen sozialhistorisch bedeuten. Aber damit entsteht die Frage, warum wir ausgerechnet im Gebiet der Arawak, einer nach allgemeinen Aussagen friedlichen, matriarchalen Kultur, das Phänomen der Amazonen finden. Folgen wir zunächst den Berichten und Zeugnissen: Auf den Antillen, besonders der Insel Santa Cruz, hatte schon Kolumbus nicht nur Männer, sondern auch kämpfende Arawak-Frauen gegen sich.54 Als patriarchale, christliche Männer waren die Spanier einen solchen Anblick nicht gewohnt und schrieben es deshalb genau auf. Waren diese Frauen noch Mitkämpferinnen an der Seite ihrer Männer, so ändert sich das Bild in einer alten Sage der Warraua, aufgezeichnet in Guayana.55 Nach dieser Erzählung soll es auf einer geheimnisvollen Insel namens Matenino (Tobago) in der Nähe von Trinidad ein kleines, unabhängiges Amazonen-Reich gegeben haben. Dorthin zogen Frauen ohne Männer und lebten als waffenkundige Kriegerinnen in großem Reichtum, sie besaßen schöne Gewänder und prächtige Rüstungen. Diese auch auf den Antillen bekannte Sage weist darauf hin, dass es Kriegerinnen schon lange vor der Ankunft der Spanier gegeben hat und dass sie unabhängig kämpften und männerlose Gesellschaften bildeten. Sie waren also echte Amazonen. Warum entstanden ihre Gründungen? Den Amazonen bei Trinidad begegneten die Spanier nicht mehr, dafür hatten sie eine gefährliche Begegnung mit den Amazonen vom Amazonas. Dieses zur Zeit der spanischen Eroberung noch sehr lebendige Amazonenreich lässt sich nicht in den Bereich der Sage verweisen: Nachdem die Brüder Pizarro das Inka-Reich in Peru zerstört und die indigenen Anden-Völker brutal unterworfen hatten, beschlos-
51 Vgl. zur weiten Verbreitung weiblicher Kriegskunst R. Briffault: The Mothers. A Study of the Origins of Sentiments and Institutions, 3 Bände, New York, London 1969 (Nachdruck), The Macmillan Company, Bd. 1, S. 451–459. 52 Steward: »South American Cultures«, S. 723. 53 Der Begriff »Amazonen« wird hier im selben Sinn als rein weibliche Kampfeseinheit und Gesellschaft gebraucht, wie ihn Herodot (5. Jh. v.u.Z.) und andere für Westasien und den Mittelmeerraum verwendet haben. 54 Steward: »South American Cultures«, S. 723. 55 K. R. Röhl: Aufstand der Amazonen, Düsseldorf, Wien 1982, S. 157.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
sen sie, um noch mehr »Goldland« zu finden, jenen sagenhaften, großen Strom im Osten zu erforschen, von dem die Indianer ihnen berichtet hatten. Der tatsächliche Entdecker des Amazonas wurde einer ihrer spanischen Offiziere namens Orellana, nach dem der Strom ursprünglich heißen sollte. Aber Orellana erlebte derartige Überraschungen, dass der größte Strom der Erde einen anderen Namen erhielt. Im Jahr 1542 erreichte er mit seiner Expeditionsmannschaft über zwei Nebenflüsse den Amazonas, und der das Tagebuch führende Priester Carvajal begleitete ihn.56 Carvajal berichtet, dass sie zuerst auf Siedlungen am Flussufer stießen, in denen Hoheitstafeln aufgestellt waren, auf denen eine ummauerte Stadt abgebildet war. Ortsansässige Indianer sagten dazu aus, dieses Zeichen sei das Emblem ihrer Herrin; sie wären ihre Untertanen und würden Tribut in Form bunter Papageienfedern für ihre Tempel bringen. Diese Herrin gebiete über das Land der Amazonen, das nördlich vom Strom im Inland läge. Weiter stromabwärts sichteten die Spanier noch mehr Siedlungen mit solchen Hoheitstafeln, aber die Bewohner waren nicht immer freundlich, und es kam zu ersten Kämpfen. Am 24. Juni 1542, nicht weit von der Mündung des Rio Negro entfernt, dem größten Nebenfluss des Amazonas, hatten sie ihre denkwürdige Begegnung mit den Amazonen selbst. Denn unterdessen hatten die am Stromufer wohnenden Leute ihre Herrin um Hilfe gegen die fremden Eindringlinge gebeten. Zehn oder zwölf große Kanus kamen den Booten der Spanier entgegen, voll mit indianischen Kriegern besetzt, die von Amazonen an der Spitze jedes Kanus kommandiert wurden. Diese Frauen kämpften so unerbittlich, dass keiner ihrer Leute einen Rückzug wagte, und wenn einer in Deckung ging, schlug die Kommandantin vor den Augen der Spanier mit einem Stock auf ihn ein. Sie lieferten ein gefährliches Gefecht, und die spanischen Boote gerieten derart in Bedrängnis, dass sie »von den vielen Pfeilen gespickt wie Stachelschweine aussahen« (Carvajal). Diese Amazonen werden als sehr groß und weißhäutig – vermutlich weiß bemalt – geschildert, das lange, schwarze Haar trugen sie geflochten um den Kopf gelegt. Ihre Gestalt war muskulös und splitternackt, Bogen und Pfeile gebrauchten sie mit großer Kraft, und Carvajal bestätigt, dass eine jede so tapfer kämpfte wie zehn Männer zusammen. Die Spanier stießen Stoßgebete aus, denn sie brauchten gegen die Amazonen offenbar viel Mut von ihrem Herrgott. Schließlich gelang es ihnen, einige Kriegerinnen zu besiegen und aus dieser gefährlichen Situation zu entkommen. Ein Indianer, den sie gefangen hatten, sagte danach aus, dass dieses ganze Land um den Strom dem großen Herren Couynco gehöre, aber auch dieser Herr sei den Amazonen untertan. Deshalb wären sie gekommen, um das Ufer zu beschützen. Weiter berichtete er, dass die Amazonen ganz ohne Männer lebten und dass ihre Königin Conori hieße. Ihr Reich läge sieben Tagesreisen nördlich vom Strom, und er selbst, der als Tributbringer häufig dorthin kam, kannte allein 70 Siedlungen der Amazonen, die er mit Namen aufzählte. Diese Siedlungen würden nicht aus Holz und Stroh wie die Dörfer im Urwald bestehen, sondern sie wären Städte aus
56 Gaspar de Carvajal: Descubrimiento del Río de las Amazonas, Handschrift 1542, Hg. T. Medina, Sevilla 1894; deutsche Passagen in Röhl, S. 145–146.
1.2 Die Amazonen vom Amazonas
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Stein mit Toren und Straßen. Als der Indianer gefragt wurde, wie die Amazonen denn Kinder bekämen, antwortete er, dass sie bisweilen, wenn sie Lust dazu hätten, einem großen Nachbarstamm den Krieg erklärten und nach dem Sieg dessen Männer in ihr Land wegführten und bei sich behielten, bis sie sich schwanger fühlten. Dann würden sie die Männer mit Geschenken heimschicken. Wenn sie später Söhne gebären würden, töteten sie diese oder schickten sie zu ihren Vätern, bekämen sie aber Töchter, dann zögen sie diese mit großer Feierlichkeit auf und lehrten sie die Kampfeskunst. Weiter berichtete er, was die Größe des Amazonenreiches betreffe, so seien alle Gebiete, die das weite Land der Amazonen umgeben, diesen untertan. Manchmal kämen andere Indianer den Strom von den Anden heruntergefahren, eine Reise bis zu 1400 Meilen, nur um die Amazonen zu besuchen. Doch kein Mann dürfe dort bleiben, sondern bei Sonnenuntergang müsse er aus ihren Städten fort sein.57 – So kam es, dass der größte Strom der Erde »Rio las Amazonas«, der »Fluss der Amazonen« heißt, benannt nach den Kriegerinnen, welche die Spanier nach europäischem Vorbild als »Amazonen« bezeichneten. Deshalb trägt der große Strom in Südamerika bis heute den Namen der Heldinnen, über die einige griechische Autoren schrieben. Die Berichte von 1542 regten zu weiteren europäischen Expeditionen an, die das Reich der Amazonen finden wollten, aber niemand von diesen hat es je betreten. 1580 bereiste Walter Raleigh die Küsten von Guayana und hörte von einem Amazonenreich, das östlich von Guayana im Gebiet der Amazonasmündung liegen sollte. Die Amazonen wurden ihm als sehr reich an Gold und Silber geschildert, sogar ihr Hausgerät machten sie aus den edlen Metallen. Ihren Liebhabern schenkten sie beim Abschied grüne Steine, die »Amazonit« heißen, wobei Grün vermutlich die Farbe der Fruchtbarkeit ist. Genau in diesem Gebiet der großen Inseln in der Amazonasmündung hat die Archäologie jüngst eine sehr alte, städtische Kultur ausgegraben. Diese Menschen hatten Maisanbau, hochentwickelte Keramik, große Sippenhäuser auf künstlichen Hügeln und Göttinnenfiguren – alles in verblüffender Ähnlichkeit mit den frühesten, frauengeprägten Ackerbaukulturen an der Westküste Südamerikas (Valdivia und nachfolgende Kulturen).58 1639 versuchte wieder ein spanischer Offizier das reiche Land der Amazonen zu finden, aber er gelangte nur zur Mündung eines nördlichen Nebenflusses des Amazonas, der aus ihrem Reich kommen sollte. Dabei erfuhr er, dass die Amazonen dort auf hohen Bergen wohnen, wo die Stürme das ganze Jahr über toben, und dass sie mit ihrem unermesslichen Reichtum die ganze Welt reich machen könnten. Eine weitere Expedition unternahm 1744/1745 der Franzose La Condamine. Indige-
57 Carvajal, übersetzt bei Röhl, S. 147–150. 58 Vgl. Anna C. Roosevelt: Moundbuilders of the Amazon: geophysical archaeology on Marajo Island, Brazil, San Diego, California, 1991, Academic Press; Anna C. Roosevelt (Hg.): Amazonian Indians from prehistory to the present: anthropological perspectives, Tuscon, Arizona, 1994, University of Arizona Press. Siehe auch den Artikel zu den Ausgrabungen Anna Roosevelts, M. Leite: »Die Spur der Amazonen«, in: Bild der Wissenschaft, Nr. 11, Nov. 1989, Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
ne Leute erzählten ihm, dass die Amazonen nach den Eroberungszügen der weißen Männer ihre Wohnsitze noch weiter in die unzugänglichen Berge am Rio Negro und an der Quelle des Orinoko verlegt hätten. Die vorletzte Suche unternahm der deutsche Forschungsreisende Schomburgk im 19. Jahrhundert, der zwar keine Amazonen sah, aber eine Sage von ihrer Reichsgründung mitbrachte, nach der das Amazonenland in der Sierra Parima ansiedelt ist.59 In der Sierra Parima entspringt die Quelle des Orinoko, ebenso liegen dort die Quellen aller nördlichen Nebenflüsse des Rio Negro, der selber der größte, nördliche Nebenfluss des Amazonas ist (siehe Karte 1). Der Gebirgszug Parima setzt sich in der Sierra Pacaraima fort; beide sind Teil des großen Gebiets der Orinoko-Berge in Venezuela, die bis 3000 Meter aufsteigen und das Becken des Orinoko von dem des Amazonas trennen. Dieses von Urwald umgebene, unzugängliche Bergland erstreckt sich weit nach Osten. Jenseits des breiten Tales des Rio Branco, auch ein nördlicher Nebenfluss des Amazonas, dehnt es sich östlich in der Sierra Roraima, Sierra Acari und zuletzt in den Tumuc-Humac-Bergen aus, einer unnahbaren und sehr wenig erforschten Region von 1000 Metern Höhe, um oberhalb der Mündung des Amazonas zu enden. Dieses riesige Areal muss das alte Wohngebiet eines großen Amazonenreiches gewesen sein. Wo sonst hätten die Frauen eine bessere Gegend finden können, um ihre zahlreichen Städte aus Stein zu bauen, die ihnen Schutz gegen die kalten Bergwinde boten, wo sonst hätten sie so viel Gold und Silber gewinnen können? Fast alle Berichte verweisen auf dieses Gebiet. Von hier aus konnten die Amazonen in ihren Booten mit Leichtigkeit das gesamte Flussnetz des Orinoko befahren, das genau vor den Inseln Trinidad und Tobago endet (siehe die Warraua-Mythe). Außerdem konnten sie von den nördlichen Nebenflüssen des Amazonas, die von diesen Gebirgsketten herunterfließen, große Strecken auf dem Stromsystem des Amazonas zurücklegen, die vom Rio Negro bis zur Amazonasmündung reichen, und sich alle ansässigen Indianerstämme entlang dieses Weges untertan machen. Auf diese Weise muss ihr Reich einmal eine ungeheure Ausdehnung oder einen weitgespannten Einfluss gehabt haben, wovon die Insel Tobago bei Trinidad vor dem Orinoko-Delta im Norden und die Inseln im Mündungsgebiet des Amazonas im Osten vielleicht die äußersten Teile gewesen sind. Es fällt zudem auf, dass alle diese Berichte aus verschiedenen Jahrhunderten in der Schilderung des sozialen Gefüges und der Kulturhöhe der Amazonen, die den Urwaldstämmen weit überlegen war, übereinstimmen. Danach waren die Amazonen kultivierte Städtebauerinnen, sie besaßen Häuser, Stadtmauern, Tore, Tempel und Straßen aus Stein. Sie hatten kostbare Metalle und Edelsteine, trugen schöne Gewänder und Rüstungen oder waren in der heißen Schwüle des Urwalds manchmal unbekleidet. Die häuslichen Künste wie Töpferei und Weberei waren ebenfalls gut entwickelt, dazu kam gemäß einem Bericht der Gebrauch der Hängematte. Sie brachten damit für ihre Reichsgründung den kollektiven Hintergrund der weiblichen Künste mit, die typisch für matriarchale Kulturen sind.
59 Röhl, S. 150–153.
1.2 Die Amazonen vom Amazonas
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Solche eindeutigen und übereinstimmenden Berichte, die teils von Augenzeugen, teils von einheimischen Gewährsleuten stammen, unter fadenscheinigen Vorwänden immer wieder ins Reich der Fabel zu verweisen, ist ein von patriarchalen Forschern zwar lange geübtes, jedoch unseriöses Vorgehen. Außerdem sind diese Berichte aus Südamerika nicht die einzigen über Amazonen in der menschlichen Kulturgeschichte. Was die Amazonen vom Amazonas betrifft, so dürften sich die letzten Zweifel durch den Augenzeugenbericht des bisher einzigen weißen Mannes auflösen, der sie besuchen und mit ihnen sprechen konnte. Das geschah in den 50iger Jahren des 20. Jahrhunderts, also am Rande der Gegenwart. Dieser Bericht ist einzigartig, so dass ich ihm hier mehr Platz geben möchte: Der Brasilianer Eduardo Prado, in Manaus im Herzen des Amazonasbeckens aufgewachsen und ein profunder Kenner des Urwaldes und seiner Völker, sammelte zunächst Berichte von den Indigenen über die »Ycomiabas«, die »Frauen ohne Ehemann«, wie die Amazonen genannt wurden. So sollten sie noch am Oberlauf des Rio Nhamunda und des Rio Trombetas sowie im Quellgebiet des Rio Jari zu Füßen des Tumuc-Humac-Gebirges wohnen, alles nördliche Nebenflüsse des Amazonas. Dort läge zwischen zwei Bergen ein See, der »Yacura« oder »Spiegel des Mondes« genannt werde, hier sollten sie ihre Zeremonien feiern und aus dem Wasser den »Amazonit« oder grünen Stein herausholen, den sie ihren Liebhabern als Talisman schenkten.60 Mit einer Kanu-Expedition, begleitet von befreundeten, indigenen Führern, welche die Amazonen gut kannten, gleichzeitig in Gesellschaft eines der besten Kameramänner Brasiliens, machte Prado sich 1954 auf den Weg und fuhr den Rio Nhamunda flussaufwärts. Bei zwei Nebenflüssen des Nhamunda fanden sie tatsächlich diesen See, der von zwei spitzen Bergkegeln flankiert war, und erblickten sechs Dörfer der Amazonen, die symmetrisch angelegt waren, mit dem See als Mittelpunkt. Hier also lebten sie nicht mehr auf den kühlen, windigen Bergen, sondern an deren Fuß im Urwald, was ihre Lebensweise verändert hatte. Die Frauen hießen ihre Gäste freundlich willkommen, denn sie hielten sie für die alljährlich erscheinenden Freier. Die Verständigung gelang gut über einen Dolmetscher, und so klärte sich das Missverständnis bald auf – die Amazonen nahmen es mit Humor. Sie waren kräftige Frauen mit stolzer Haltung, dunkelbrauner Haut und üppigem, schwarzen Haar, das ihnen über den Rücken herabfiel. Ihre Kleidung bestand von den Hüften abwärts lediglich in Bemalung und Tätowierung, nur die älteren Frauen trugen Gewänder. Prado schildert ihre Gastfreundschaft als überwältigend, der Aufenthalt seiner Expedition bestand aus einer ununterbrochenen Reihenfolge von Gastmählern mit köstlichen Speisen von Fisch, Wildbret, Geflügel und Früchten. Die jungen Frauen, kaum der Kindheit entwachsen, gingen auf die Jagd, wobei ihre Geschicklichkeit, Schnelligkeit und Kraft den Forscher in Erstaunen versetzte. Noch mehr wuchs sein Respekt vor diesen Frauen, als sie ihn zu der gefährlichen Alligatorjagd einluden, die sie mit außergewöhnlicher Kühnheit erfolgreich abschlossen. Drei
60 Eduardo Barros Prado: Zauber des Amazonas, Frankfurt/Main 1959, Frankfurter SocietätsDruckerei, S. 131–155, Fotos von den Amazonen S. 73, 74 (Original Buenos Aires 1958).
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
jugendlichen Frauen gelang es sogar, nur mit einem kurzen Speer bewaffnet, einen Jaguar zu töten, das gefährlichste Raubtier des Urwaldes. Sie berichteten ihre Tat so sachlich kühl, als ob es sich für die Amazonen um eine Routinesache handelte. Das soziale Leben verlief in Heiterkeit und Offenheit, doch zugleich mit Anstand und Disziplin, zum Beispiel wurde der Forscher nicht von Bettelei um Geschenke behelligt, wie er es von anderen Indianerstämmen kannte. Der außerordentlichen Freundlichkeit der »Königin« Kuyta verdankte es der Forscher, dass er einiges über das Sozialleben der Amazonen erfuhr. In den Dörfern der erwachsenen Frauen waren keine Kinder zu sehen, sondern es gab für die Mädchen ein besonderes Mädchendorf, wo sie unter der Leitung der ältesten Frauen groß wurden. Ebenso gab es ein besonderes Knabendorf für die Knaben, sie lebten dort bis zu ihrem zehnten Lebensjahr. Danach wurden sie den Männern von den Stämmen der Mundurucu, Bares, Parintintin oder Macuxi, die als Freier jedes Jahr die Amazonen besuchten, übergeben, ein Ereignis, auf das sich die älteren Knaben schon jetzt freuten. Als durch das Urwald-Telefon, die Trommeln, die Nachricht eintraf, dass eine Schar Freier vom Stamm der Parintintin sich näherte, wurden etwa hundert jugendliche Frauen, die nun als alt genug für die Liebe galten, von zwei Priesterinnen geschmückt und sorgfältig mit Mustern bemalt. Dem Forscher fiel auf, dass diese Muster mit denen aus sehr alten Hochkulturen auf der Anden-Hochebene, wie zum Beispiel der Tiahuanaco-Kultur, fast identisch waren, was ihn sehr erstaunte. Als die Freier eintrafen, zelebrierten diese einen langanhaltenden, rituellen Tanz, bei dem die jugendlichen Frauen sie kritisch musterten und sich dann ihre Liebhaber auswählten. Es folgten noch weitere Rituale, begleitet von der »Königin«, die ein wundervolles Gewand trug, das in allen Regenbogenfarben schillerte. Als ein ausgiebiges Schmausen begann, bei dem die Frauen ihre Liebhaber mit köstlichen Speisen überhäuften, zog sich die Expedition diskret zurück, um die Liebesfeiern nicht zu stören. Nach zwei Wochen kehrte der Forscher auf Einladung der Amazonen zurück und konnte noch den Abschied der Liebhaber miterleben, die mit reichen Geschenken beladen und mit einigen der Knaben, die ihnen feierlich übergeben worden waren, wieder abfuhren. Die Amazonen standen in zwei Reihen auf einer Böschung oberhalb des Flusses und sangen klagende Abschiedslieder. Prado schließt seinen Bericht mit den Worten, dass er hier in eine Lebensform Einblick nehmen durfte, die als Stammestradition uralt ist und sich im Laufe von langen Zeiträumen sehr gut bewährt hat.61 – Amazonengesellschaften sind nicht so selten, wie man meinen möchte. Es handelt sich bei ihnen um eine besondere Form des Zusammenschlusses von Frauen, die sich unter extremen Umständen entwickelte. Die Bedingungen ihres Entstehens sollten erforscht und analysiert werden, denn es ist besser, Erklärungen zu suchen als das
61 Ibid. – Es sei hier klargestellt, dass die soziale Organisation von Amazonengesellschaften nicht mehr typisch matriarchal ist, da die männliche Seite fehlt. Das wird auch von Prado verwechselt; er setzt Matriarchat wie üblich mit »Frauenherrschaft« gleich, obwohl er dort weibliche Herrschaft gar nicht erlebt hat.
1.2 Die Amazonen vom Amazonas
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Thema zum Tabu zu machen.62 Bevor ich eine Erklärung für die südamerikanischen Amazonen versuche, möchte ich die Frage beantworten, zu welcher indigenen Volksgruppe sie gehören. Es gibt dafür keine direkten, aber sehr deutliche indirekte Hinweise. Die Gebiete, die für ihre Wohnungen angegeben werden, sind identisch mit Siedlungsgebieten der Arawak: Trinidad und Tobago und Umgebung, die OrinokoBerge, das Orinoko-Becken, das Rio Negro- und Amazonas-Becken, die Mündung des Amazonas (siehe Karte 1). Ferner sprechen die Arawak eine Sprache der großen Amazonas-Region, auch wenn sie nicht mehr am Amazonas wohnen, und in ihren Enklaven haben sie die besonderen Muster der Matrilinearität und Matrilokalität weitgehend bis heute bewahrt.63 Die Arawak gelten auch als die Träger bestimmter Künste, wie Keramik, Webstuhlweberei, Flechten von Körben und besonders von Hängematten, Handwerke, die sie an andere Urwaldstämme weitergegeben haben (Abb. 2).64 Die archäologischen Funde von Steinbauten und Megalithen aller Art fanden sich außerdem in Arawak-Gebiet. Alle diese Übereinstimmungen erlauben deshalb den Schluss, dass die Amazonen Arawak-Frauen waren, die ihr Reich auf dem Hintergrund der sehr alten, matriarchalen Kultur ihres Volkes aufbauten.
Abb. 2: Capaya-Frau mit ihrem Kind in der Hängematte, eine Erfindung der Arawak und typisch für ihre Kultur (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 161)
62 Vgl. dazu das Kapitel über die Amazonen in: Heide Göttner-Abendroth: Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Westasien und Europa, Band III aus dieser Reihe, Stuttgart 2019, Kohlhammer Verlag, Kapitel 5.2. 63 Steward: »South American Cultures«, S. 763. 64 Ibid.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
Doch warum griffen einige ihrer Stämme zu der extremen Lösung der Bildung von Amazonengesellschaften? Der Forscher Schomburgk berichtet eine Sage, die uns Indizien gibt, wie es zur Bildung des Amazonenreiches in den Orinoko-Bergen gekommen sein könnte. Es ist die Sage von der »Verschwörung des Jaguars«, sie stammt aus dem Gebiet der Worisianas.65 »Worisianas« heißt übersetzt: »Land der Frauen von den Müttern«, was wohl auf die Mutterlinie in diesem Land hinweist.66 Die Sage lautet so: Unter Anführung der mutigen Toeyza, der Frau des Häuptlings, kamen alle verheirateten Frauen eines Stammes zusammen und bildeten den »Geheimbund des Jaguars« gegen die Tyrannei ihrer Ehemänner. Denn die Männer zwangen die Frauen ständig zu arbeiten und demütigten sie täglich. – Der Jaguar ist das Tier des Schwarzmondes, des Tamulu, des kosmischen Richters und Rächers von allem Unrecht. – Aber der Geheimbund wurde von drei Männern belauscht, und der Jaguar, das heilige Tier, vor den Augen der Frauen getötet. Daraufhin vergifteten die Frauen ihre Ehemänner und zogen durch die Wälder davon zu einem fernen Land im Osten. Sie nahmen Lebensmittel, Hängematten und Waffen mit sich, proklamierten ihre Freiheit und nannten sich »das Volk der Frauen« (Worisianas). Als sie von Freunden ihrer Männer verfolgt wurden, verteidigten sie sich erfolgreich mit Pfeil und Bogen. Zuletzt ließen sie sich nieder und gründeten ihr Reich in der Sierra Parima. Toeyza wurde ihre erste Königin und erließ genau jene sozialen Gesetze, welche die Expeditionsforscher über die Amazonen herausfanden. – Diese Sage ist kein »Mythos, den Männer erfanden, um ihre Herrschaft über Frauen zu rechtfertigen«, ein Argument, mit dem diese Art von Erzählungen üblicherweise beiseitegeschoben wird. Denn warum sollten verheiratete Frauen plötzlich gegen den Status quo rebellieren, wenn sie nichts anderes als diese Art von ehelichen Umgangsformen kannten? Was hätte sie damit unzufrieden machen sollen? Viel wahrscheinlicher ist, dass ihnen ihre Versklavung durch die Ehemänner neu war, weil sie vorher in einer anderen Sozialordnung lebten, nämlich einer matriarchalen. Deshalb besaßen sie noch genug Selbstbewusstsein und Kraft, um sich dieses männlichen Zwanges zu entledigen. Bei Frauen von Arawak-Stämmen, um die es sich hier handelt, ist dieser matriarchale Hintergrund gesichert. Ihr Handeln ist dann nur konsequent und spiegelt den Umschlag von matriarchalen Mustern in amazonische Muster, mit denen sie sich gegen die ersten, patriarchalen Versuche von männlicher Seite, sie zu versklaven, wehrten. Wer aber waren diese »Ehemänner«? Es können nicht Angehörige des eigenen Stammes der Frauen gewesen sein, da diese weder einen dauernden EhemannStatus noch eine Herabwürdigung der Frauen kannten. Die »Ehemänner« müssen Angehörige anderer Völker gewesen sein, die den Stamm, zu dem die Frauen gehörten, angegriffen und erobert hatten, dann die Frauen entführten und zur Heirat zwangen. Solche Handlungsweisen sind von den patriarchalisierten Stämmen der
65 Röhl, S. 141–143. 66 Siehe zur Etymologie: Goeje, S. 15, 17, 19.
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
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Kariben und Tupi belegt. Sie überfielen Arawak-Gemeinschaften, töteten die Männer und zwangen die Frauen in die Ehe und Sklaverei. Die Antworten der Arawak-Stämme auf diese fortwährende Bedrohung waren verschieden. Wie schon gesagt wichen viele den patriarchalisierten Stämmen aus und flohen in neue Gebiete. Andere, die bereits besiegt waren, kamen durch eine Frauenrebellion zu amazonischen Mustern, indem sie sich der Waffen der Feinde, Pfeil und Bogen, bedienten um ihre Freiheit zu verteidigen; gleichzeitig wählten diese Frauen den Rückzug in die unzugänglichen Orinoko-Berge. Wieder andere Besiegte gingen in den Stämmen der Gegner auf, weil sich die zwangsverheirateten Frauen nicht befreien konnten. Das führte allmählich zur Akkulturation, indem die Eroberer einige Kulturgüter und Bräuche von ihren Arawak-Frauen übernahmen. Zum Beispiel weisen die Küsten-Kariben manchmal Matrilinearität oder Matrilokalität auf und kennen das »Peito«-System, die lange Dienst-Ehe des Schwiegersohnes bei der Sippe der Gattin. Aber hier bleiben die Frauen immer von den spirituellen und politischen Angelegenheiten der geheimen Männerbünde ausgeschlossen.67 Diese jahrtausendelange Entwicklung zwischen einer uralten, matriarchalen Kultur und immer stärker nachdrängenden, patriarchalisierten Stämmen erklärt, wie aus einem friedlichen Ackerbauvolk ein Kriegerinnenreich hervorgehen konnte. Amazonische Gesellschaften entstehen in der schwierigen und leidvollen Übergangszeit, in der patriarchale Volksgruppen zerstörerisch auf ältere matriarchale Kulturen prallen.
1.3
Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
Die Amazonen errichteten ihr Reich in einem Gebirgsland, denn nur dort konnten sie Städte aus Stein erbauen. Sie brachten die Kunst der Steinbearbeitung und die weiteren handwerklichen Künste aus einem anderen Gebirgsland mit, in dem das Volk der Arawak einmal heimisch gewesen war, aus den Anden Kolumbiens und Perus. Lange vor dem Inka-Reich (ab 1440 n.u.Z.) gab es hier verschiedene kulturelle Zentren, die auf uralter Ackerbautradition und matriarchaler Sozialordnung beruhten. Ein jüngeres Zentrum, das an die Zeit der Inka heranreicht, war die ChibchaKultur mit fünf größeren, aufeinander folgenden Reichen, an Bedeutung den Reichen von Mexiko und Peru vergleichbar.68 Die Chibcha-Kultur begann ab 500 n.u.Z. als matriarchale Ackerbau- und Handelskultur, sie hat viele Kulturelemente mit den Arawak gemeinsam.69 Die archäologischen Funde zeigen, dass diese Kultur sich mit solchen Eigenschaften wie Steinhäusern, Terrassen, Bewässerungsanlagen, Straßen, Dämmen und Megalithplätzen in den Anden Kolumbiens und in Mittelamerika bis 67 Kirchhoff, S. 123–146. 68 H. Trimborn: »Das Recht der Chibcha in Kolumbien«, in: Ethnologica, Leipzig 1930, Hiersemann, S. 6–7. 69 A.a.O., S. 34, 49–55; Lowie, S. 327.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
zur Halbinsel Yucatán ausgebreitet hat. Zugleich stieß sie, von den Anden kommend, energisch nach Osten in die Sub-Anden-Gebiete des Urwalds vor und siedelte besonders an den Oberläufen der großen Stromsysteme. Erst in den weiten, flachen Zonen des Urwalds wird sie allmählich schwächer. Unter dem Druck von neu einwandernden, patriarchalisierten Völkern, die von Westen kamen, wurde die Chibcha-Kultur immer stärker männerzentriert, bis sie zuletzt patriarchale Reiche ähnlich dem Inka-Reich bildete. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Arawak, die vermutlich die ältesten Träger der Chibcha-Kultur waren, dem Druck der Völker von Westen in den Anden Kolumbiens und Perus ausgewichen sind und in die weiten Gebiete der Nordküste Südamerikas und des östlichen gelegenen Urwalds auswanderten. Dabei nahmen sie ihre alte, hochentwickelte Kultur mit. Einige Arawakstämme werden wohl auch im Anden-Gebiet von den Neuankömmlingen unterworfen und in deren patriarchale Reiche eingegliedert worden sein.70 Es gibt noch heute kleine Volksgruppen, die mit den Chibcha verwandt sind. Sie haben zwar die Kulturhöhe ihrer Vorfahren verloren und leben sehr verborgen, weisen aber interessante Züge auf: So folgen die die Capaya im Bergwald von Ecuador noch immer der Matrilinearität, errichten Sippenhäuser als Pfahlbauten und besitzen eine hohe Bootsfahrkunst (Abb. 3, siehe auch Abb. 2).71 Ein anderes Beispiel sind die Schipibo im Regenwald von Ost-Peru; auch sie besitzen noch Matrilinearität und Matrilokalität, und die Frauen haben ein großes Selbstbewusstsein im Vergleich zu Frauen von anderen Urwaldstämmen (Abb. 4).72 In der Sierra Nevada de Santa Martha im Norden Kolumbiens leben die Kagaba-Kogi; sie sind jetzt bilateral organisiert, das heißt, die Verwandtschaft der Töchter geht nach den Müttern, die der Söhne nach den Vätern, und sie kennen noch Sippenwechselheirat. Sie glauben an eine Schöpferingöttin namens »Gauteaovan«, die in Gestalt der Gebärmutter verehrt wird. Dabei werden sowohl die Erde und alle ihre Berge wie auch der Himmel als Gebärmutter aufgefasst, und der ganze Kosmos stellt in neun Schichten die neun Töchter dieser Urmutter dar.73 Jeder Tempel der Göttin, den sie errichten, hat die Form einer Gebärmutter und ist für sie ein Abbild des Kosmos (Abb. 5).
70 Steward: »South American Cultures«, S. 759–760. 71 M. Altschuler: »Die Capaya in Ecuador«, in: Bild der Völker, Bd. 5, S. 160 f; Lowie, S. 328. 72 Carolyn Heath: »Women and Power: The Shipibo of the Upper Amazon«, in: Heide Goettner-Abendroth (Hg.): Societies of Peace. Matriarchies Past, Present and Future (Selected papers of the First and Second World Congresses on Matriarchal Studies 2003 and 2005), Toronto 2009, Inanna Press, York University, S. 92–105. 73 G. Reichel-Dolmatoff: »Die Kogi in Kolumbien«, in: Bild der Völker, Bd. 5, S. 168 ff.; W. Z. Park: »Tribes of the Sierra Nevada de Santa Martha Colombia«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 2, Washington 1946, S. 885 f.; Krickeberg/Trimborn/Müller/Zerries: Die Religionen des alten Amerika, Stuttgart 1961, Kohlhammer Verlag, S. 95; Th. Preuss: Forschungsreise zu den Kágaba, Mödling bei Wien 1926, Verlag der Missionsdruckerei St. Gabriel, S. 64–68, 118.
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
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Abb. 3: Capaya-Frauen in ihrem Sippenhaus (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 162)
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
Abb. 4: Ältere Schipibo-Frau (Foto: Sandra Schett)
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
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Abb. 5: Kágaba-Kogi-Indianer bei ihrem Bergheiligtum in der Form einer Gebärmutter (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 171)
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
Außer der hochstehenden historischen Chibcha-Kultur geht sehr wahrscheinlich auch die megalithische Tiahuanaco-Kultur am Titicaca-See in Bolivien (ab 550 n.u.Z.) mit den archäologischen Stätten in der Umgebung auf die Arawak zurück. Denn auch im bolivianischen Hochland haben sich kleine Gruppen mit abgesunkener Kultur erhalten, die mit den Arawak verwandt sind, sogar eine arawak-ähnliche Sprache sprechen. Es sind die Chipaya am Copaisa-See und bis vor kurzem die Uru am Titicaca-See, die ich bereits erwähnt habe (siehe Karte 1).74 Die Vorläuferin der Chibcha-Kultur und der Tiahuanaco-Kultur war die frühe Ackerbaukultur von Chavin (Peru, ab 1000 v.u.Z.), begleitet vom Kulturzentrum auf der Halbinsel Paracas (Peru, ab 600 v.u.Z.). Auf sie folgten die Kulturzentren Nazca und Moche (Peru, ab 0 u.Z.). Zu den Vorläuferinnen gehört auch die Malagana-Kultur im südlichen Kolumbien. Es ist auffallend, dass alle diese frühen Kulturen an der Pazifikküste Südamerikas liegen, mit einigen Ausläufern entlang kleiner Flüsse am Fuß der Anden. Der Ursprung von diesen allen war jedoch die erste matriarchale Kultur auf amerikanischem Boden überhaupt, die Valdivia-Kultur, mit großen Königinmüttern und einer Fülle elementarer Göttinnenskulpturen (ab 3000–1500 v.u.Z.). Auch sie erschien an der Pazifikküste Südamerikas, nahe beim Golf von Guayaquil in Ecuador, und breitete sich dann in diesem Gebiet aus.75 Obwohl sehr einfache Keramik vereinzelt schon früher vorkam, aber das gesamte kulturelle Erscheinungsbild vorkeramisch blieb, tauchte mit der Valdivia-Kultur plötzlich eine ungewöhnlich hoch entwickelte Keramik und Skulpturenkunst auf, in voller Blüte und scheinbar aus dem Nichts. Auch der Ackerbau nahm hier einen plötzlichen Aufschwung. Die Nahrungspflanze Mais war schon früh in Mittelamerika kultiviert worden (ca. 5000 v.u.Z.). Aber es dauerte noch lange, bis sie zum Grundnahrungsmittel wurde und sich die Ökonomie ganz auf sie stützte.76 Fast zeitgleich mit der Valdivia-Kultur und örtlich benachbart begann die Machalilla-Kultur, die wie Valdivia mit Fischfang verknüpft war, doch zugleich mit der systematischen Zucht der für Amerika typischen Pflanzen begann: Mais, Maniok, Bohnen, Kürbis und Kartoffeln. Auch in der Valdivia-Kultur hatte man sich bereits überwiegend vom Pflanzenanbau ernährt. Die zeitlich unmittelbar anschließende Kultur von Chorrera, an einem benachbarten Flusslauf gelegen, besitzt dann voll entwickelten Ackerbau.77 Dieses sehr frühe Zentrum Valdivia an der Bucht von Guayaquil (Ecuador) ist die erste Kultur in ganz Amerika, die alle Errungenschaften der Jungsteinzeit besitzt, mit ihr beginnt diese Epoche.78 Daher hatte die Valdivia-Kultur einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung in Süd- und Mittelamerika, wovon die Ausbreitung dieser kulturellen Güter entlang der Pazifikküste sowohl nach Süden als auch
74 T. Morrison, »Die Chipaya in Bolivien«, in: Bild der Völker, Bd. 5, S. 222 f.; R. K. Skipton, »Der Titicacasee und die Kulturen der Vor-Inka-Zeit«, in: Bild der Völker, Bd. 5, S. 204 f. 75 Coe/Snow/Benson, S. 8–9, 176. 76 Chris Scarre (Hg.): Past Worlds. The Times Atlas of Archaeology, London 1988, Times Books Ltd., S.208, 209. 77 Coe/Snow/Benson, S. 171–172. 78 In der amerikanischen Archäologie wird die Jungsteinzeit »Formative Periode« genannt.
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
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nach Norden zeugt. Denn diese Menschen waren geübte Bootsfahrer, und mit dem Schiff gingen ihre Reisen entlang der Küste leicht und schnell. Funde dieser frühen Keramik-Kunst wurden sogar an der nördlichen Atlantikküste Südamerikas gemacht, die über einen Flusslauf, der nahe der Pazifikküste in den Bergen entspringt, aber an der Atlantikküste mündet, gut zu erreichen war (Karte 2). Damit stand der weiteren Ausbreitung an der gesamten Nordküste Südamerikas kein Hindernis mehr entgegen, so dass auch die Flussmündungen der großen Ströme Orinoko und Amazonas entdeckt werden konnten (siehe Karte 1). Mit dieser Kulturwanderung verbunden waren eine weit entwickelte Ackerbaukultur, eine hohe Keramik-Kunst und die matriarchale Sozialordnung in Südamerika – wie die Arawak sie später noch zeigen. Daher verlief der Kulturstrom in Amerika, was die jungsteinzeitliche Epoche betrifft, nicht von Norden nach Süden, sondern von Süden nach Norden.79 Die matriarchale Gesellschaftsform mit Ackerbaukultur begann in Südamerika also eindeutig an der Pazifikküste, und zwar auf der ganzen Länge von Kolumbien und Ecuador bis Peru und Chile. Von dort verbreitete sie sich ebenfalls von Westen nach Osten, nicht umgekehrt. Von Westen nach Osten drängten später patriarchalisierte Stämme nach, wobei der immer schärfer werdende Patriarchalisierungsprozess sich im Westen abspielte, insbesondere auf dem Anden-Hochland. Dadurch ausgelöst ging der Auswanderungsweg der Arawak ebenso nach Osten, teils auf die Orinoko-Berge im Urwald, teil an die Nordküste Südamerikas und später nordwärts auf die Antillen-Inseln. Daraus ergibt sich als erste Frage: Woher kamen die Menschen der matriarchalen Valdivia-Kultur, die so plötzlich an der Pazifikküste Südamerikas erscheint und die jungsteinzeitliche Epoche auslöste? Eine zweite Frage ist: Wodurch entstand die Patriarchalisierung von Stämmen in Südamerika, welche die ältere, matriarchale Kultur der Arawak nach Osten und später nach Norden verdrängten? Zunächst soll die Antwort auf die erste Frage gefunden werden: Es liegt der Schluss nahe – den auch etliche Forscher und Forscherinnen gezogen haben – dass die Kulturwanderung sporadisch schon in sehr früher Zeit und danach zunehmend verstärkt über den Pazifischen Ozean gegangen ist und die Küsten Süd- und Mittelamerikas erreichte. Denn es gibt auffallende Ähnlichkeiten zwischen den frühen matriarchalen Kulturen und ihrer Keramik-Kunst in Ostasien, besonders der YüehKultur in Südchina, und den Kulturen von Valdivia und Umgebung. Dieser Zusammenhang war oft das Thema detaillierter Nachforschungen.80 Leider haben diese
79 Meggers/Evans/Estrada: Early Formative Period of Coastal Ecuador: The Valdivia and Machalilla Phases, Washington D.C. 1965, Smithsonian Institution; Steward: »South American Cultures«, S. 759. 80 Vgl. die ausgezeichnete Diskussion dieses Themas und die gute Kritik am theoretischen Isolationismus vieler Amerikanisten bei: S.C. Jett: »Precolumbian Transoceanic Contacts«, in: Ancient North Americans, Hg. J. D. Jennings, San Francisco 1978, 1983, W. H. Freeman Publishing, S. 557 f.; G. F. Ekholm: »Transpacific Contacts«, in: Prehistoric Man in the New World, Hg. Jennings/Norbeck, Chicago 1964, University of Chicago Press, S. 489 f.; Betty J. Meggers: »The Transpacific Origin of Mesoamerican Civilization«, in: American Anthropologist, Nr. 77,1 (1975), American Anthropological Association, Arlington, S. 1 f.; Meggers/ Evans/Estrada, a. a. O.; Steward, »South American Cultures«, S. 744–745.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
Karte 2: Kulturausbreitung entlang den nordwestlichen und nördlichen Küsten von Südamerika
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
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Forschenden ihre Untersuchungen mit der sehr unwahrscheinlichen Hypothese verknüpft, dass diese Menschen ihre Fahrt über den Pazifik in einer einzigen, ununterbrochenen Reise machten. Sie sollen gleichermaßen ahnungslos – wie später Kolumbus in den Atlantik – von China in den Pazifik aufgebrochen sein und schließlich per Zufall an der Westküste Südamerikas angekommen sein, irgendwie durch die Ozeanströme dorthin getrieben. Das ignoriert die viel plausiblere Erklärung, dass diese Kulturwanderung über den Pazifik in wohlgeordneter Auswanderung von Inselgruppe zu Inselgruppe im Zeitraum von Jahrtausenden stattfand, genauso langsam wie sie von den Polynesiern in einer späteren Kulturphase vollbracht wurde. Sie haben auch die Osterinsel erreicht, wo sie jedoch schon andere Volksgruppen antrafen, unter diesen ein rätselhaftes, sehr altes Kulturvolk, die »Steinleute«, die schon lange vorher auf der Insel lebten.81 Nach indigener Tradition unternahmen Männer und Frauen von der Osterinsel aus Erkundungsreisen zu dem »Großen Land im Osten« – was ihr Name für den südamerikanischen Kontinent war.82 Ebenso konnten andere Volksgruppen in wohlgeordneter Entdeckungsreise um neues, bewohnbares Land zu finden auf die Galápagos-Inseln gelangt sein, die wie ein letzter Trittstein vor der Küste Ecuadors liegen, genau auf der Höhe der Bucht von Guayaquil. Von diesen Inseln ist es nicht mehr weit zum Kontinent, und genau dort blühte die Valdivia-Kultur auf (siehe Karte 1). Für diese Auffassung spricht vieles. Denn es gibt außer der Keramik-Kunst noch weitere verblüffende Ähnlichkeiten zwischen den pazifischen Inselkulturen und den frühen Kulturen Südamerikas, insbesondere was ihre Megalith-Architektur betrifft; das stellt einen sehr wahrscheinlichen, frühgeschichtlichen Zusammenhang her.83 Auch ihre Schifffahrttechnik – die man diesen frühen Menschen nicht zutraute – war weit entwickelt genug für solche Reisen. So haben die späteren Polynesier längst bewiesen, dass ihre einfach wirkenden, doch technisch raffinierten Auslegerboote über Tausende von Meilen hochseetüchtig sind, mit denen sie die pazifische Inselwelt über riesige Wasserstrecken hinweg zum zweiten Mal besiedelten (1000 v.u.Z. bis 1000 n.u.Z.). Diese Perspektive bringt Licht in sonst unverstandene Legenden und Berichte aus Polynesien. Denn als die späteren Polynesier, geführt von ihren Kriegerhäuptlingen, den »Raiatea«, diese Inselwelten während zweitausend Jahren nochmals entdeckten, fanden sie überall schon Ansässige vor, was sie zu kriegerischen Eroberungen der Inseln veranlasste. Diese frühesten Inselbewohner konnten nicht anders als sie selbst, nämlich mit außerordentlich seetüchtigen Booten, dorthin gekommen sein. Sie besaßen den ersten Ackerbau und waren matriarchal organisiert, was zum Beispiel die Mythen von Pelés Clan auf Hawai’i eindrücklich schildern. Pelé war eine Göttin-Königin,
81 Vgl. Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart, Band I aus dieser Reihe, Kapitel 10. 82 Song of Waitaha. The Histories of a Nation, Indigenous oral traditions, reported by Te Porohau, Peter Ruka, Te Korako et al., Darfield, Neuseeland, 2003, Wharariki Publishing, S. 33–35. 83 R. von Heine-Geldern: »Die Megalithen Südostasiens und ihre Bedeutung für die Klärung der Megalithenfrage in Europa und Polynesien«, in: Anthropos, Nr. 23 (1928), Wien-Mödling, Missionsdruckerei St. Gabriel.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
die mit ihrem Volk die Inseln von Hawai’i in Schiffen erreichte und besiedelte, lange bevor die polynesischen Kriegerhäuptlinge ankamen.84 Der Sohn Pelés sowie ihr Volk hießen »Menehune«, und diese Menehune sollen in allen Künsten außerordentlich geschickt gewesen sein. Sie konnten Mauern aus behauenen Steinen errichten, die sie ohne Mörtel mit perfekten Fugen aufeinandersetzten (archäologische Funde auf Hawai’i), und auf diese Weise bauten sie Häuser, Terrassen, Bewässerungsanlagen, Aquädukte und Straßen. Sie werden von manchen Forschern als die Urbevölkerung der polynesischen Inselwelt angesehen, die eine erstaunlich hochstehende Kultur besaßen, die sie auf Tahiti und Hawai’i wie auch auf der Osterinsel entfalteten. Doch als später die stolzen, polynesischen Kriegerhäuptlinge ankamen und sie bekämpften, flohen die Menehune in die dichten Bergwälder und »verschwanden spurlos« von den Inseln, so dass sie heute als Legende gelten. Sehr wahrscheinlich sind sie mit Booten aus dem Holz der Bergwälder weiter übers Meer gezogen, in Richtung Osten vor ihren Bedrängern. Dabei erreichten einzelne Sippen dieser Menehune die Osterinsel, die Galápagos-Inseln und Mittel- und Südamerika, wo noch heute die Zeugnisse ihrer hoch entwickelten Megalith-Architektur zu finden sind. Dies zeigt den Weg, den die Valdivia-Kultur nahm. Sie kam als die Kultur der Urbevölkerung des Pazifik, der Menehune, übers Meer und stieß als früheste matriarchale Ackerbaukultur die weitere jungsteinzeitliche Entwicklung in Süd- und Mittelamerika an. Es würde das plötzliche Erscheinen dieser Kultur auf amerikanischem Boden erklären, wobei ihr Weg allerdings nicht plötzlich war, sondern als die erste Besiedelung der pazifischen Inselwelt lange Jahrtausende brauchte. Auch die Besonderheit dieser Kultur zeigt die Kontakte zwischen Polynesien und Südamerika, zum Beispiel ist die Süßkartoffel, eine Pflanze, die in den Anden kultiviert wurde, auch in Polynesien verbreitet.85 Zusätzlich zur Ähnlichkeit der Kulturgüter bestätigt die moderne Genetik solche Kontakte: Es gibt eine genetische Abstammungslinie, die als einzige nicht nach Sibirien oder Alaska verweist – woher angeblich alle frühen Völker in den amerikanischen Doppelkontinent eingewandert sein sollen. Sie ist in Südund Mittelamerika am stärksten vertreten und reicht mit dem nördlichsten Ausläufer bis zu den Inselkulturen der Nordwestküste von Nordamerika. Ihre Herkunft verweist nach Südostasien.86 Damit markiert Valdivia den frühesten Beginn des Matriarchats in Südamerika, das über den Pazifik kam.87 Die Arawak und die südamerikanischen Amazonen spiegeln dagegen eine späte Phase derselben Kultur, als diese durch nachrückende patriarchale Stämme in Bedrängnis gerieten und aus ihren angestammten Gebieten nach Osten und Norden vertrieben wurden. Damit kommen wir zur zweiten Frage:
84 Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart, Band I aus dieser Reihe, Kapitel 10. 85 Chris Scarre (Hg.), Past Worlds, S. 268. 86 Bryan Sykes: The Seven Daughters of Eve, London 2001, Bantam Press, S. 311. 87 Jett, ibid.; Ekholm, ibid.; Meggers/Evans/Estrada, ibid.; zur allgemeinen archäologischen Situation in Ecuador auch: P. Baumann: Valdivia. Die Entdeckung der ältesten Kultur Amerikas, Hamburg 1978.
1.3 Der geschichtliche Faden zurück, oder: Der Seeweg nach Südamerika
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Wodurch entstand die Patriarchalisierung in Südamerika, die diese Verdrängung verursachte? Auch darauf lässt sich eine Antwort finden: Es gibt ebenfalls bemerkenswerte Ähnlichkeiten zwischen der Kultur der späteren polynesischen Kriegerhäuptlinge und den Sitten patriarchalisierter, südamerikanischer Stämme, wie zum Beispiel den Kariben und Tupi. Beide Gesellschaften bildeten geheime Männerbünde und schlossen Frauen generell aus ihren offenen Tempeln aus, die in Polynesien »Marae« heißen.88 In diesen Ahnentempeln schworen sich die Männer Bündnistreue, führten die Vaterlinie ein, nachdem sie Jünglinge rituell selbst »neugeboren« hatten, und tauschten Geheimnisse aus, die unter Androhung strenger Strafen vor Frauen und Nichteingeweihten bewahrt werden mussten. Eine Hierarchie wurde aufgebaut, an deren Spitze der Kriegerhäuptling mit reichen Privilegien stand. So kamen diese Geheimbünde einer Kriegerkaste gleich, in der Raub, Krieg und Beuteverteilung organisiert wurden. Der Inhalt der Geheimnisse bestand in der Verehrung von patrilinearen Ahnen, denen in den offenen Tempeln männliche Gefangene geopfert wurden. Zuletzt wurden Trophäen aus ihnen gemacht. Kannibalismus, Schädelkult, Tänze mit Vermummung und Gesichtsmasken dienten ebenfalls dieser Art von Ahnenverehrung.89 Die Medizinmänner des Stammes waren regelmäßig Mitglieder der Bünde. Sie besaßen besonders zauberkräftige Sprüche und Substanzen, und sie erzählten die alten Mythen des Stammes neu, nämlich vermännlicht und mit herabsetzender Ideologie gegen die Frauen. Religion wurde auf diese Weise in soziale und politische Macht pervertiert.90 Im pazifischen Raum und Südamerika zeigen diese geheimen Männerbünde die hier genannten, gleichen Muster. Die polynesischen Kriegerhäuptlinge bildeten mit ihren Kriegern solche Bünde, die sie durch die langen Wanderungszüge auf dem Ozean und die anschließenden Kriege gegen die ansässige Urbevölkerung der pazifischen Inseln aufgebaut hatten. Sie unterwarfen diese Erstbevölkerung, soweit sie nicht fliehen konnte, und machten sie zu Sklaven, welche die Last der Arbeit zu tragen hatten. Dabei wurden deren handwerkliche Künste durch die neuen Herren ausgenutzt. Strenge Sozialhierarchie gliederte ab jetzt die allgemeine Gesellschaft, was den Reichtum der Häuptlinge und eine Intensivierung der polynesischen Seefahrt erst zuließ. Auf den Gesellschaftsinseln mit Tahiti und dem Marquesas-Archipel hieß diese versklavte, arbeitende Urbevölkerung noch »Manahune« oder »Makaainana«, und mit letzterem Wort wurde sie auch in Hawai’i benannt.91 Aber wie weit einzelne Stämme der Urbevölkerung, die Menehune mit ihrer matriarchalen Kultur, auch über den Ozean reisten, die Bedränger folgten ihnen
88 Vgl. zu diesen Charakteristika Schmidt: Das Mutterrecht, S.170–171. 89 Valerio Valeri: Kingship and Sacrifice-Ritual and Society in Ancient Hawai’i, Chicago-London 1985, S. 336–339. 90 Vgl. zu den Veränderungen in der polynesischen Mythologie: Briffault: The Mothers, Bd. 2, S. 718. 91 Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart, Band I aus dieser Reihe, Kapitel 10.
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Kapitel 1: Matriarchale Kulturen in Südamerika
irgendwann. Denn auch deren Stämme wuchsen allmählich und suchten neues Land, auch sie fanden die Küsten Südamerikas (später als 1000 n.u.Z.). Hier stießen sie auf ähnliche Verhältnisse wie im Pazifik, das heißt, das Land war schon vor ihnen besiedelt worden. Darum ließen hier die patriarchalen Formen von permanentem Kleinkrieg, Raubzügen und Verdrängung oder Unterwerfung der Urbevölkerung keineswegs nach. Vermutlich wurden auch sie selbst schließlich durch weitere patriarchale Neuankömmlinge bekämpft und weitergedrängt. Es entstand ein Bevölkerungsdruck und Völkergeschiebe in der Küsten- und Andenregion im Westen Südamerikas. Aber wie weit die älteren, matriarchalen Völker, wie die Arawak, auch über Land vor ihren Bedrängern flohen, diese folgte ihnen irgendwann mit der immer gleichen Aggressivität. Zuletzt wurde das südamerikanische Drama zwischen matriarchalen und patriarchalen Völkern schlagartig beendet durch Kolumbus und die Spanier, die ihrerseits eine verheerende, tödliche Art von Patriarchat mitbrachten.
1.4
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaft (Fortsetzung)
Allgemein: • Die erste Entwicklung der matriarchalen Ackerbaukulturen in Amerika begann im Süden, und zwar an der Westküste von Süd- und Mittelamerika. Von hier aus verbreiteten sie sich in den östlichen und nördlichen Teil des Kontinents. • Die Einwanderung einiger agrarischer, matriarchaler Volksgruppen in Südamerika fand über die pazifischen Inselkulturen statt (Südroute), sie stießen die jungsteinzeitliche Entwicklung in Südamerika an.
Auf der sozialen Ebene: • Das Phänomen von matriarchalen Frauen als Kriegerinnen an der Seite der Männer war weitverbreitet. Es tritt auf, wenn matriarchale Kulturen durch Eroberung von außen vom Untergang bedroht sind. • Amazonenreiche hat es gegeben (in verschiedenen Kontinenten). Amazonen unterscheiden sich von den mit ihren Männern kämpfenden Frauen, indem sie Berufskriegerinnen sind und männerlose Gesellschaften bilden. • Amazonenreiche stellen eine rudimentäre Variante der matriarchalen Sozialordnung dar. Sie entstehen unter extremen Bedingungen in der Übergangsphase zwischen matriarchalen und frühpatriarchalen Gesellschaften. • Geheime Männerbünde von Kriegern sind Zellen von frühen Patriarchalisierungsprozessen. Sie können entstehen, wenn durch Landknappheit und gegenseitige Verdrängung von Völkern charismatische Führer und Berufskrieger wichtig werden.
1.4 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaft (Fortsetzung)
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• Männerbünde verhalten sich in ihren Gesellschaften parasitär: Sie leben ökonomisch auf Kosten der Gesellschaft, haben oberste Führer, bilden männliche Hierarchien und Erzwingungsstäbe. Sie entwickeln eine rituelle Patrilinearität als neuen Wert, indem die jungen Männer durch Männer »neugeboren« werden. • Geheime Männerbünde sind aus dem Pazifischen Raum und Südamerika ethnologisch zahlreich belegt, ihre Muster gleichen sich. Sie führen zu einer Vermännlichung oder Patriarchalisierung ihrer Völker, bedrängen und vertreiben benachbarte matriarchale Völker durch Raub und permanente, kriegerische Aggression.
Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
für Mu Olokukurdilisob, Große Erdmutter und Blaue Schmetterlingsgöttin der Kuna
2.1
Die Kuna, das »Goldene Volk«
Die zirkumkaribische Zone erstreckt sich über die Antillen-Inseln und entlang der Nordküste Südamerikas, die dem Karibischen Meer zugewandt ist: Kolumbien, Venezuela, Guayana. Sie umfasst auch die Landengen Mittelamerikas: Panama, Costa Rica, Nicaragua, schließt ebenso die Halbinsel Yucatán ein und reicht über die Landenge von Tehuantepec bis nach Mexiko hinauf (Karte 3). Dieses gesamte Gebiet besaß eine dichte indigene Bevölkerung und große Bevölkerungszentren. Die einzelnen Kulturgruppen hatten sich zwar auf verschiedene Weise an die sehr unterschiedliche natürliche Umgebung angepasst, sie zeigten aber viele gemeinsame Züge, die in den frühen geschichtlichen Phasen der Anden-Kultur vorhanden waren. Es muss also kontinuierliche Auswanderung vom Andengebiet über Nordkolumbien nach ganz Mittelamerika hinein stattgefunden haben, wobei die Wanderungsbewegung auch hier von Süd nach Nord ging. Diese frühen Kulturen erstreckten sich einst von den Anden über das Maya-Gebiet bis nach Mexiko.1 Die Träger dieser zirkumkaribischen Kultur waren die Stämme der Arawak, deren matriarchale Sozialordnung und Kultur weiteste Verbreitung fanden und auch in der gesamten Zone rings um die Karibik prägend gewesen sind.2 Ecuador und Kolumbien waren das Ausstrahlungsgebiet ihrer Lebensform, deren Kulturmuster große Teile Südamerikas umfassten und auch in Mittelamerika die Grundlage für spätere Entwicklungen bildeten. Auch in Mittelamerika waren die Dörfer oder kleine Dorfverbände die politische Einheit, die sich um religiöse Zentren bildeten und als autonome Dorf-Republiken funktionierten. Die effiziente Ökonomie beruhte auf Ackerbau, besonders mit einer sehr alten Maissorte; er wurde je nach den Bedingungen ohne oder mit Terrassenbau und Bewässerungssystemen ausgeführt, zu denen Dämme, Kanäle und Aquädukte gehörten. Heilige Hügel, steinerne Altäre
1 Siehe dafür und für das Folgende: Julian H. Steward: »The Circum-Caribbean Tribes«, ibidem; derselbe: »South American Cultures«, S. 669–772. 2 Steward: »South American Cultures«, S. 763.
2.1 Die Kuna, das »Goldene Volk«
49
Karte 3: Mittel- und Nordamerika. Einwanderungen von Süden und von Norden
und Zeremonialplätze, die sogenannten »Ballplätze«, sowie steinerne Ahnenfiguren waren überall in der Region bekannt.3
3 A.a.O., S. 758–759; H. Feriz: »Zwischen Peru und Mexiko«, in: Afd. Cultural en Physical Anthropologie, Nr. 63, Amsterdam 1959, Koninklijk Instituut voor de Tropen, S. 216; W. M. Duncan Strong: »The Archeology of Costa Rica and Nicaragua«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 4, New York 1963, Cooper Square Publications, S. 142.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Doch auch in Mittelamerika drängten – wie schon in Südamerika – zahlreiche Karibenstämme nach, nach denen die zirkumkaribische Zone den Namen »Karibik« erhielt. Sie vermischten sich teilweise mit den Arawak und nahmen Aspekte von deren Kultur an. Diese Situation wurde wiederum überlagert von den frühen Formen der Chibcha-Gesellschaft, die eine Verbindung aus Arawak, Kariben und anderen Stämmen war. Während ihr kulturelles Zentrum in Kolumbien sich allmählich patriarchalisierte, behielten ihre Außenbezirke, die weit nach Mittelamerika hineinreichten, die ältere, matriarchale Sozialform bei. Aber mit der Invasion der Europäer und den damit verbundenen Zerstörungen der indigenen Kulturen wurde diese Situation nachhaltig verändert. Dennoch sind einige weit voneinander getrennte indigene Volksgruppen bestehen geblieben, die ihr uraltes, matriarchales Erbe noch heute bewahren.4 Am nächsten benachbart zu den alten Kulturzentren Kolumbiens lebt das Volk der Kuna. Sie gelten als Nachkommen der Chibcha und sprechen noch heute die Chibcha-Sprache; früher besaßen sie eine viel höhere Kultur, bevor sie unter den Druck vonseiten der europäischen Eroberer gerieten.5 Durch ihren erbitterten Widerstand und die Unzugänglichkeit ihres Gebietes gelang es ihnen, autonom zu bleiben und wenigstens die Grundzüge ihrer Kultur zu retten. Sie bewohnten früher das ganze Gebiet der Landenge von Darien, das von Kolumbien bis zum Isthmus von Panama (heute Kanalzone) reicht. Diese Gegend ist durch Sümpfe, Urwälder und Moskitos so unwirtlich, dass sogar der »Pan-American Highway«, die große Straße von Alaska bis Feuerland, hier unterbrochen ist. Damit ist diese Region auf der ganzen Länge völlig straßenlos.6 Die Kuna konnten hier, verborgen im Urwald und an versteckten Flussläufen, lange ihre kulturellen Traditionen fortführen. Sie bewegten sich mit ihren Einbaumkanus auf den Flüssen im Inland von den Darien-Bergen bis zur Küstengegend von Panama. Doch zuletzt mussten sie das Festland verlassen; sie flohen vor den Spaniern auf die San Blas-Inseln vor der atlantischen Küste des Isthmus von Darien (siehe Karte 3). Eine Malaria-Epidemie, die ihre Dörfer auf dem Festland dezimiert hatte, soll ebenfalls zu ihrer Flucht auf die Inseln beigetragen haben. Sie besiedelten diese flachen Koralleninseln, wo beständig eine frische Brise weht und schlanke Kokospalmen wachsen. Wegen des Seewinds und der Vegetationsarmut ist das Klima auf den Inseln viel besser und bietet Schutz vor Mücken. Heute bewohnen die San Blas-Kuna fünfzig der 400 Inseln, die sich zwischen dem Golf von San Blas und dem Kap Tiburón wie Perlen an einer Kette in Sichtweite der Küste hinziehen, vor dem offenen Meer durch ein großes Barriere-Riff geschützt.
4 In einer gemeinsamen Erklärung an das »Permanente Forum indigener Völker« der UNO in New York beschrieben die Indigenen der Karibik und Antillen ihre Kultur als »wohlgeordnete matriarchale Gesellschaften«. Siehe CAIPCD, Januar 2006, Saint Lucia, Antillen. 5 Disselhoff/Zerries: Die Erben des Inkareiches und die Indianer der Wälder, Berlin 1974, SafariVerlag, S. 146 f. 6 G. Hartmann: Molakana. Volkskunst der Kuna, Berlin 1980, Museum für Völkerkunde, S. 9–10.
2.1 Die Kuna, das »Goldene Volk«
51
Einige Tausend von ihnen sind im Innern der Landenge geblieben, wo sie als Hochland-Kuna in freiwilliger Isolation leben. Andere siedeln entlang der Küste, die Küsten-Kuna, wo sie von den San Blas-Kuna täglich besucht werden. Die Frauen fahren mit ihren Kanus zu den Küstendörfern in Sichtweite um frisches Wasser zu holen, und die Männer kommen in ihren Booten wegen Holz und anderer notwendiger Dinge, die man auf den trockenen Koralleninseln nicht findet. Dabei meistern die Frauen die Kunst des Navigierens mit den starken Mahagoni-Einbaumbooten genauso glänzend wie die Männer.7 Auf der ganzen Länge des Isthmus von Darien, dessen Territorium zum größeren Teil zum Staat Panama, zum kleineren Teil zu Kolumbien gehört, variiert die Anzahl der Kuna (nach verschiedenen Quellen) zwischen 30.000 Einheimischen im Jahr 1993 und 60.000 im Jahr 2006. Ihr Volk ist eins der größten in Mittelamerika, das seine indigene Kultur bewahren konnte. Sie nennen ihr Land »Kuna Yala«, das sie 1925 der Regierung von Panama mithilfe der USA abgetrotzt haben. Kuna Yala ist politisch unabhängig und sie hüten es so streng, dass niemand, der sie besucht, über Nacht dort verweilen darf. Ihre gegenwärtige Politik ist sehr geschickt, so dass sie ihre eigene Kultur beibehielten und zugleich von den Panama-Offiziellen, den christlichen Missionaren und sogar den Ethnologen als »modernisiert« betrachtet werden. Auch diese Bezeichnung halten die Kuna für das Resultat ihrer erfolgreichen Diplomatie und sind, zu Recht, stolz auf ihren gleichermaßen kreativen wie konservativen Umgang mit modernen Zeiten.8 Dennoch haben sich viele von ihnen heute kulturell angepasst, insbesondere wegen der missionarischen Aktivität der katholischen Kirche, dem städtischen Lebensstil in Panama City und der Zunahme des Tourismus.9 Aber der Fokus meiner Analyse liegt hier auf ihrer traditionellen Kultur, die Jahrtausende lang praktiziert wurde und die heute noch in den Walddörfern auf dem Festland und auf vielen Inseln lebendig ist. Sie selbst nennen sich Olodule, das »Goldene Volk«, und manches in ihrem Erscheinungsbild bestätigt diesen Namen. Sie sind kleine, doch kräftige Menschen mit bronzener Hautfarbe und dichtem, schwarzen Haar. Unter ihnen gibt es viele Albinos, die sie »Mondkinder« nennen und denen sie besondere spirituelle Fähigkeiten zuschreiben.10 Bevor christliche Missionsschulen bei ihnen errichtet wurden, trugen die Männer nichts bis auf eine goldene Penishülle und Federschmuck, heute gehen sie in den billigsten Kleidungsstücken der westlichen Zivilisation. Die Frauen
7 Parker/Neal: Molas. Folk Art of the Cuna Indians, New York 1977, Barre Publications, S. 30. 8 A.a.O., S. 26, 69; Disselhoff/Zerries, S. 146–147; Hartmann, S. 15–17; D. B. Stout: San Blas Cuna Acculturation: An Introduction, New York 1947, Viking Fund, S. 13; A. Moore: »Lore and Life – Cuna Indian Pageants, Exorcism, and Diplomacy in the Twentieth Century«, in: Ethnohistory, Bd. 30.2, Durham NC 1983, Duke University Press, S. 93–106. 9 Antje Olowaili: Schwester der Sonne, Königstein/Taunus 2004, Ulrike Helmer Verlag; dieselbe: »Goldmother bore human children into the world. The culture of the Kuna«, in: Heide Goettner-Abendroth (Hg.): Societies of Peace. Matriarchies Past, Present and Future, Toronto 2009, Inanna Publications, York University, S. 80–91. 10 Parker/Neal, S. 26; Hartmann, S. 23.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
hingegen sind gut gekleidet. Früher gingen sie bis auf einen langen Wickelrock auch nackt, doch sie waren vom Kopf bis zu den Hüften mit kunstvoller Körperbemalung geschmückt, deren phantastische Formenvielfalt sie selbst entwickelten und auftrugen. Zugleich stellten sie das Gold der Familie zur Schau, das in runden, schweren Scheiben am Ohr und um den Hals hing, ergänzt durch goldene Brustplatten und einen feinen Nasenring. Obwohl die Missionare darauf bestanden, dass die KunaFrauen sich bedeckten, sind sie ihrem traditionellen Stil treu geblieben. Als begabte Malerinnen übertrugen sie nun die Formen der Körpermalerei auf Baumwollblusen, und noch später begannen sie, ihre Kunst als Stickerei auszuüben. Diese Stickereien sind noch immer so formenreich und phantasievoll, dass die Blusen, »Molas« genannt, ihre gesamte mythische Kosmologie abbilden, einschließlich moderner Eindrücke wie amerikanische Werbespots im Fernsehen. Die Molas waren daher zuerst bei Ethnologen und sind heute bei Touristen begehrte Sammelobjekte, und die Kuna-Frauen verkaufen sie als Teil ihrer selbständigen Ökonomie gegen gute Dollars.11 Auch ihren Goldschmuck behielten sie größtenteils, denn er repräsentiert den Reichtum und damit die Ehre der Sippe (Abb. 6). Silbermünzenschmuck ergänzt ihn heute, und an Armen und Beinen ist der Goldschmuck durch Glasperlenschnüre ersetzt worden. Mädchen werden schon von Geburt an geschmückt: Sie sind erwünschter als männliche Kinder und werden bereits beim ersten Bad mit einem Goldschmuck der Sippe geehrt.12 In ihrer traditionellen Tracht mit Hüftrock, Kopftuch, Mola und schön gearbeitetem Goldschmuck ist jede Kuna-Frau noch heute ein bemerkenswerter Anblick. Die Ökonomie der Kuna-Frauen beschränkt sich nicht auf den Verkauf von Molas. Den Frauen gehört auch das Sippenhaus, dessen Rahmen aus kräftigem Holz vom Festland gebaut ist, das Werk der Männer, während die Wände aus Bambus-Matten und das Dach aus geflochtenen Palmblättern bestehen, das Werk der Frauen. Innen befinden sich Hängematten, hölzerne Sitzschemel und früher die waagerechten Webstühle vom Arawak-Typus.13 Ebenso gehört den Frauen das unverkäufliche Land mit allem, was darauf wächst, vor allem die Kokospalmen. Die Männer ernten die Kokosnüsse und händigen sie den Frauen aus, die sie an Handelsboote der Weißen verkaufen; fast der ganze Reichtum der Sippe stammt von den Kokospalmen. Fischfang ergänzt wesentlich den geringen tropischen Ackerbau, den die Männer auf den Feldern ausüben; mit Mais, Maniok, Yams, Zuckerrohr, Tabak, Pfeffer, Kakao, Kaffee und Bananen dient er lediglich der Selbstversorgung. Zusätzlich sammeln die Männer, die in den Festlanddörfern wohnen, eine Vielzahl an Früchten, die der Regenwald zu bieten hat, und gehen gelegentlich auf die Jagd. So sind es die Männer, welche die rohe Nahrung besorgen, doch sie überreichen sie den Frau-
11 Hartmann, S. 33–38. 12 Disselhoff/Zerries, S. 147; Parker/Neal, S. 33–52, 100; C. E. Keeler: Cuna Indian Art: the Culture and Craft of Panama’s San Blas Islanders, New York 1969, Exposition Press; D. B. Stout: »The Cuna«, in: Handbook of South American Indians, Bd. 4, New York 1963, Cooper Square Publications, S. 34. 13 Disselhoff/Zerries, ibid.; Stout: »The Cuna«, S. 259, 261.
2.1 Die Kuna, das »Goldene Volk«
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Abb. 6: Junge Kuna-Frau mit Goldschmuck und bestickter Bluse (aus: Parker/Neal: Molas. Folk Art of the Kuna Indians, New York 1977, Barre Publications, Umschlag-Rückseite)
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
en, geben alles in die Hände der Clanmutter, der Matriarchin. Diese gibt die Lebensmittel an die Frauen weiter, die dann die Mahlzeiten zubereiten und verteilen; daher gelten die Frauen als die Ernährerinnen. Die Clanmutter überblickt, was benötigt wird, und weist die Männer für die Feldarbeit an, ebenfalls teilt sie den Frauen die anfallenden Pflichten in der Hauswirtschaft zu (Abb. 7).14 Zusätzlich arbeiten die Männer als Tagelöhner in der Kanalzone, und das Geld, das sie dort verdienen, wird in Goldschmuck angelegt, den die Frauen zu ihrer Ehre und zur Ehre der Sippe an Festtagen noch immer öffentlich vorführen. In einem Sippenhaus der Kuna wohnen alle in weiblicher Linie blutsverwandten Frauen zusammen: die Matriarchin, ihre Schwestern und Töchter und die Kinder der Töchter. Obwohl dicht gedrängt leben sie in Harmonie miteinander, und eine Frau hat immer Schutz im Haus der Mutter. Die Verwandtschaft ist also matrilinear, und die Frauen bleiben matrilokal im Mutterhaus wohnen, während ihre Brüder und Söhne ins Haus der Schwiegermütter ziehen. Daher sind der Gatte der Matriarchin und ihre Schwiegersöhne auch ein Teil der Wohngemeinschaft. Das Wort für »Gatte« ist »Sui«, das einen Mann als »Sammler der Nahrung« bezeichnet, denn das ist die Aufgabe eines Mannes, wenn er heiratet. Wenn ein »Sammler der Nahrung« nicht in Übereinstimmung mit den Wünschen seiner Gattin handelt, wird er ins Haus seiner Mutter zurückgeschickt.15 Durch den Einfluss der christlichen Missionare ist die Paar-Ehe und die bilaterale Verwandtschaft (Verwandtschaft nach beiden Linien) eingeführt worden. So kennen die Kinder heute auch ihren biologischen Vater, aber die männliche Linie ist unbedeutend. Eine Paar-Ehe kann jederzeit ohne Probleme von beiden Seiten aufgelöst und eine andere eingegangen werden. Nur beim Schwiegervater, dem Gatten der Matriarchin, gilt Dauerhaftigkeit in der Ehe und strenge Befolgung der Regeln, denn er arbeitet direkt mit den Schwiegersöhnen zusammen. Tyrannische Tendenzen können bei ihm aber kaum aufkommen, denn er wird von den Vätern der jungen Männer scharf beobachtet und notfalls öffentlich kritisiert, denn diese leben im selben Dorf. Es wird stets im selben Dorf geheiratet, denn die Kuna folgen dem üblichen Muster der Clan-Exogamie, verbunden mit Dorf-Endogamie, das heißt, Heirat außerhalb des Clans, aber innerhalb des Dorfes. Dies ist ein Hinweis, dass es einmal Sippen-Wechselheirat zwischen je zwei bestimmten Clans im Dorf gegeben haben mag. Der Gatte der Matriarchin hat nach außen eine Vermittlerrolle inne als Delegierter der Sippe im Dorfrat und gegenüber der Außenwelt – weshalb etliche Ethnologen ihn für den »Haushaltsvorstand« hielten. Tatsächlich liegt alle ökonomische und soziale Macht bei der Matriarchin, die sie als Verantwortung für das Wohl des ganzen Clans versteht und gebraucht.16 Die Männer besprechen im Versammlungshaus des Dorfes die Angelegenheiten der Gemeinschaft, da sie für die Politik verantwortlich sind. Die Themen ihrer Debatten sind das Schicksal ihrer Inseln, die Verbesserung der Infrastruktur, Konflikt-
14 Ibid; Stout, Acculturation, S. 25–26. 15 Olowaili, S. 4. 16 Disselhoff/Zerries, S. 147; Stout, Acculturation, S. 25–26.
2.1 Die Kuna, das »Goldene Volk«
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Abb. 7: Porträt einer Kuna-Matriarchin (aus Parker/Neal: Molas. Folk Art of the Kuna Indians, New York 1977, Barre Publications, S. 181)
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
lösungen und die Organisation von Festen. Diese Versammlungen werden von den »Saila«, den Häuptlingen, geleitet, die gewählt und leicht absetzbar sind. Die meisten Häuptlinge sind die Delegierten ihrer Clans und vertreten in der Versammlung die Position ihrer Sippenmitglieder, insbesondere der Frauen, während andere nur zeitweise Häuptlinge sind und als Moderatoren oder Interpreten agieren. Das Verhalten der Häuptlinge wird genauestens beobachtet, und sie müssen über alle ihre Handlungen Rechenschaft ablegen. In den Versammlungen entscheiden sie niemals etwas allein, sondern sie leiten lediglich den Vorgang der kollektiven Entscheidungsfindung. Immer müssen sie ein viel besseres Betragen zeigen als gewöhnliche Leute, zugleich wird von ihnen im Voraus stets das Schlimmste vermutet. Die Kuna verwenden viel Energie darauf, ihre Häuptlinge zu überwachen, und diese Wachsamkeit hat sie davor geschützt, dass jene mit den Kolonialmächten, die ihr Land umgeben, kollaborieren konnten.17
2.2
Religion und Zeremonien der Kuna
Die Glaubenswelt der Kuna ist überaus reich und hat sich, trotz der oberflächlichen Christianisierung, in ihren Grundzügen erhalten. Die Traditionshüter sind die »Saila«, die Häuptlinge, ebenso die »Kandule«, die schamanischen Sänger-Heiler, und die »Nele«, die weiblichen und männlichen Seher und Propheten. Die verschiedenen Rollen sind nicht immer streng voneinander zu trennen, denn die Kandule und Nele haben denselben Rang wie die Saila, die Häuptlinge, die ihrerseits an den Aufgaben der Nele und Kandule teilhaben. Diese weisen Frauen und Männer sind das singende Gedächtnis ihres Volkes, sie halten die Traditionen und Religion lebendig. Zweimal in der Woche singen sie den reichen Mythenschatz im Versammlungshaus für die Dauer von mehreren Stunden dem Publikum aus Frauen und Männern vor. Gelegentlich halten die Häuptlinge von mehreren Inseln das Singen gemeinsam ab, was drei bis sieben Tage dauern kann.18 Diese langen, mythologischen Gesänge enthalten die Welterklärung und Geschichte der Kuna und haben große, Identität stiftende Wirkung für das Volk. Als Hilfe dafür gebrauchten die Häuptlinge, Heiler und Seher eine Art religiöser Bilderschrift, die heute im Aussterben begriffen ist. Diese Bildzeichen, denen die Muster und Symbole auf den Molas gleichen, dienten den Sängern als Gedächtnisstütze und konnten nur von diesen sehr geachteten Männern gelesen werden. In der Vergangenheit nannten sie es »die Bilder singen«. So wird dieselbe sakrale Sprache, die auf den Geheimnissen des Lebens beruht, von allen diesen Kuna-Traditionen geteilt: von den heiligen Gesänge der weisen Männer, von der Kunst der Frauen,
17 Ibid.; Stout: »The Cuna«, S. 267–268; J. Howe: »How the Cuna keep their Chiefs in Line«, in: MAN, Bd. 13, 1978, Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland. 18 Olowaili, S. 6.
2.2 Religion und Zeremonien der Kuna
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mit Bildern Geschichten zu erzählen und sie in den traditionellen Mustern der Molas festzuhalten, deren Namen aus den rituellen Liedern stammen.19 Die dynamische Lebendigkeit dieses mythologischen Erbes hat wesentlich zur Bewahrung der Kultur der Kuna beigetragen. Am stärksten werden die Geheimnisse um die Große Erdmutter, ihre Mondtochter und das männliche Sonnenkind gehütet und sorgfältig geschützt, nach schlechten Erfahrungen mit den christlichen Missionaren, die ihnen einen »Vater Gott« aufdrängen wollten.20 Dabei gehören die Vorstellungen um »Mu«, die Große Erdmutter, zur ältesten Schicht der Kuna-Kosmologie, in der Mu verschiedene Namen während der Epochen der Welt hat. Zu verschiedenen Zeiten wurde sie »Mu Gabayai« genannt, das heißt »Großmutter der Kuna«, oder »Nana Dummad« in der Bedeutung »Große Mutter«, oder auch »Olodilisobi« oder vollständiger »Olokukurdilisob«, denn – wie das Wort besagt – liebt sie es, als leuchtend blaue Riesenschmetterlings-Dame zu erscheinen. Sie ist dank ihrer Fruchtbarkeit Schöpferin von allem, den Pflanzen, Vögeln, Tieren und Menschen, wobei sie mit der weißen, roten und gelben Schildkröte begann. Als Urmutter gebar sie auch ihre Tochter »Olowaili«, den Mond, und ihren Sohn »Ibelele«, die Sonne, danach gleichzeitig sieben heilige Wesen, die als die Planeten gedeutet werden. Aber noch mehr: Sie ist die Göttin, die das Leben im Diesseits und Jenseits formt. Die Kultur wurde den Kuna von den »Nele« geschenkt, die zuerst ausschließlich weibliche Propheten waren. Sie stiegen als drei schöne Frauen auf einer goldenen Scheibe vom Himmel herab und trafen auf der Erde drei Brüder an. Die eine, Nadili mit Namen, blieb bei diesen und wurde die Mutter des KunaVolkes. So kam es, dass die Kuna-Frauen noch immer goldene Scheiben tragen.21 Mutter Erde hat eine enge Verbindung mit ihrem Sohn, der Sonne, der auch ihr Gatte ist. Durch den »Baum des Lebens« bleibt er mit ihr wie durch eine Nabelschnur verbunden.22 Dieser heilige Baum der Kuna ist der Sabtur-Baum (Genipa Americana), dessen roter Saft als das Menstruationsblut der Göttin angesehen wird.23 Um diese zentrale Achse, die der Baum darstellt, wölben sich Himmel und Unterwelt in jeweils vier Sphären, und alle acht Sphären werden reich mit einer Geisterwelt bevölkert gedacht. Deshalb macht es den Kuna keine Mühe, die christliche Vorstellung von Himmel und Hölle in zweien dieser Sphären unterzubringen, eine oben und eine unten, und ansonsten ihr angestammtes Weltbild beizubehalten.24 Alles in der Welt gilt als beseelt, Steine, Wasser, Winde, Pflanzen, Tiere und Menschen tragen Seelen in sich.25 Sogar die Seele der Göttin hat ihren eigenen Ort, es sind – wie allgemein in den Kulturen Süd- und Mittelamerikas – die Pleijaden.26 19 20 21 22 23 24 25 26
Ibid.; Hartmann, S. 31. C. E. Keeler: Secrets of the Cuna Earthmother, New York 1960, Exposition Press, S. 11. Ibid.; Olowaili, S. 5. Keeler, S. 56; Disselhoff/Zerries, S. 151–152. Keeler, S. 126 ff. A.a.O., S. 83; Stout: »The Cuna«, S. 266. Disselhoff/Zerries, S. 149. Keeler, S. 84.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Die Seelen der sterblichen Wesen, wie Pflanzen, Tiere und Menschen, machen nach ihrem Tod eine Reise durch die Unterwelt, wahrscheinlich bis sie wiedergeboren werden – ein Glaubensbestandteil, den die Kuna wegen der Missionierung kaum noch verlauten lassen. Sie glauben zumindest noch an die Wiedergeburt von Kindern, die sehr jung sterben, denn die Kleinen werden unter der Hängematte ihrer Mutter begraben, damit sie bald in deren Schoß zurückkehren können. Die Seelen entscheiden dabei selbst über ihre Wiederkehr, und solche, die nicht wiedergeboren werden wollen, bleiben im großen Mutterleib der Erde wohnen. Dort erhalten sie einen Körper aus purem Gold und leben ein seliges Leben.27 Interessant daran ist, dass Menschenseelen im Jenseits Pflanzen- und Tiergestalt annehmen können und dass die Seelen der Pflanzen und Tiere in Menschengestalt erscheinen können. Die Pflanzenseelen sind Frauen und die Tierseelen Männer. Diese Vertauschungsmöglichkeiten erklären die Kuna damit, dass Menschen, Tiere und Pflanzen gleichartig seien. Tier- und Pflanzenseelen scheinen sogar überlegen zu sein, denn sie kommen als Lehrmeisterinnen zu den Menschen, indem sie ihnen zeigen, wie eine Pflanze oder ein Tier zur Nahrung und Heilung gebraucht werden kann. Aus dieser Vorstellung sind die »Nutchu«, die Schutzgeister, hervorgegangen, deren Figuren aus Balsaholz geschnitzt und bei Heilungszeremonien verwendet werden.28 Das heiligste Fest der Kuna ist »Diwe Inna«, das Initiationsfest für Mädchen. Für die Knaben gibt es kein Fest beim Erwachsenwerden, und auch jedes andere Fest der Kuna steht dem Diwe Inna-Fest an Bedeutung nach. Es findet ein Jahr nach der Pubertätszeremonie als Feier der Menarche statt – früher ein reines Frauenritual – und bedeutet die Einführung des Mädchens in das Leben der erwachsenen Frau. Das Fest ist keine Hochzeitszeremonie; diese erfolgt viel später und ist sehr einfach, sie enthält unter anderem das Gesellschaftsspiel »Einfangen des Bräutigams«. Das Diwe Inna-Fest ist dagegen viel wichtiger, das ganze Dorf ist daran beteiligt. Denn nun wird das Mädchen zum vollwertigen Mitglied der Muttersippe und des Volkes und lernt den wesentlichen Inhalt der Mythologie, der matriarchalen Glaubenswelt der Kuna, kennen.29 Die Symbolik des Diwe Inna-Festes geht direkt auf das Fundament der Religion, den Glauben an die Große Erdmutter zurück. Denn die Göttin ist das Mysterium des Beginns allen Lebens, und das zur jungen Frau gereifte Mädchen wird ihr Ebenbild. Sie ist jetzt körperlich und sozial in der Lage, am Wunder der fortwährenden Schöpfung des Lebens mitzuwirken und hat damit Teil an der Erneuerung des Clans, des Volkes und der Welt. Deshalb wird sie jetzt in einem besonderen, abgeschlossenen Raum und in Gegenwart von zwölf anderen Frauen, darunter ihre Mutter, von einem Kandule, einem singenden Schamanen, in die heiligsten Gesänge eingeweiht. Dabei erfährt sie, dass die Kinder nicht von einem Hirsch aus dem Urwald oder einem Delphin aus dem Meer gebracht werden, sondern durch die Verbindung der
27 A.a.O., S. 285. 28 Disselhoff/Zerries, S. 149–150. 29 Parker/Neal, S. 28; Keeler, S. 255.
2.2 Religion und Zeremonien der Kuna
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weiblichen und männlichen Erotik entstehen, dargestellt am Beispiel der Erdgöttin und ihres Sohngeliebten, der Sonne. Der Sänger-Heiler verkörpert dabei symbolisch Ibelele, den Sonnengott, indem er auf seiner langen Flöte bläst, die den Phallus symbolisiert. Die zwölf Frauen begleiten ihn auf Kürbistrommeln, dem typisch weiblichen Instrument, denn die Kürbisform gleicht dem schwangeren Bauch mit dem Nabel oder der weiblichen Brust mit der Brustwarze.30 Anschließend wird die Lebensgeschichte der jungen Frau von der Empfängnis an mit Gesang, Tanz und Pantomime detailliert dargestellt. Ihre jetzige »Neugeburt« aus der Göttin wird gefeiert, und auf dem Höhepunkt dieses mehrtägigen Festes erhält sie eine neu gewebte Heirats-Hängematte. Zu diesem Zeitpunkt sind ihre langen Mädchenhaare von einer »Iyedule«, einer angesehenen ZeremonienPriesterin, bereits zu dem bei den Kuna-Frauen üblichen Kurzhaarschnitt gestutzt worden. Das geschah beim Fest »Disle Inna«, als das Kind fünf oder sechs Jahre alt war, manchmal auch älter. Dabei flogen ihre Haarlocken wie »Seelenvögel« in die Anderswelt davon, vielleicht um die Verstorbenen wissen zu lassen, dass hier ein kleines Mädchen ist, das einmal zu einer Frau wird und ihnen eine neue Chance zur Wiedergeburt gibt. Jetzt, beim Diwe Inna-Fest, werden Gesicht und Hände der Initiantin mit dem Saft der Sabtur-Frucht bemalt, der als das Blut der Göttin gilt und getrocknet schwarz wird, und sie erhält ihren heiligen Frauennamen. Sie wird in das geheime Frauenwissen um Menstruation, Fruchtbarkeitszyklen, Schwangerschaft und Geburt eingeweiht. Der männliche Sänger-Heiler ist längst nicht mehr anwesend, denn Frauenwissen ist für Männer tabu. Es ist mit dem Wissen über Frauenheilkunde verknüpft, das ausschließlich von Frau zu Frau weitergegeben wird, sei es von Mutter zu Tochter oder von einer Heilerin an ihre Schülerin. Es gibt kein vergleichbares, geheimes Wissen für Männer. Daher ist der Fortgang der Zeremonie eine rein weibliche Angelegenheit; sie wird hauptsächlich von der »Iyedule«, der Priesterin ausgeführt, die in einem symbolischen Tanz ihre Hebammenrolle darstellt, mit der sie die spirituelle Neugeburt der jungen Frau vollendet. Danach wird die junge Frau in die feiernde Öffentlichkeit geführt und mit Freudentänzen von der Menge begrüßt. Diese Öffentlichkeit ist unterdessen nicht untätig geblieben. Jede Sippe muss beim Diwe Inna-Fest für ihre Tochter das ganze Dorf bewirten und mit Chicha, einer Art Maisbier, betrunken machen. Alles soll im Überfluss vorhanden sein und wird im großen Zeremonienhaus ausgeteilt. Die Gefäße für Speisen und Getränke symbolisieren dabei die Gebärmutter der Göttin, aus der die Fülle hervorkommt, und das alkoholische Getränk wird mit ihrem Fruchtwasser gleichgesetzt, das bei der spirituellen Neugeburt der Initiantin fließt. Es gilt daher als segensreiche Pflicht, soviel wie möglich von diesem »Wasser des Lebens« zu trinken, denn so hat jede Person an der Neugeburt der Initiantin aus der Göttin teil. Zu Beginn des Festes hatte die Initiantin persönlich die ersten Trinkgefäße verteilt, so dass alle den ersten Schluck direkt aus ihrer Hand erhielten.
30 Keeler, S. 255–258 f.; Olowaili, persönliche Kommunikation.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Nach dem Glauben der Kuna bildeten sich bei der Schöpfungsgeburt der Welt aus dem Fruchtwasser der Erdgöttin die Ozeane. Deshalb wird während dieses Festes nach dem ersten Schluck und weiterem reichlichen Trinken, nach vielem Tanzen und Tabakrauchen – letzteres, um die heiligen Handlungen für böse Geister im Dunst unsichtbar zu machen – ausgiebig im Meer gebadet, das heißt, direkt im Fruchtwasser der Mutter Erde. Danach setzt die teilnehmende Menge, nun in neuen Kleidern, das Tanzen und Trinken fort, bis »das ersehnte Kind«, nämlich die junge Frau, nach Vollendung aller Zeremonien endlich aus dem Haus in den Kreis der Feiernden geführt wird. Das Fest endet wie es begann, mit Tänzen, Erheiterungen und schweren Räuschen.31 In matriarchalen Gesellschaften ist die Mädchen-Initiation das wichtigste Fest, wie man am Beispiel der Kuna sehen kann. Mit der Erneuerung der Gebärfähigkeit in der jugendlichen Frau wächst die Hoffnung auf die Fortsetzung des menschlichen Lebens auf der Erde. In jeder von ihnen erscheint die Leben schaffende Göttin selbst in verjüngter Gestalt. Darüber hinaus verkörpert sich in der Initiantin eine Ahnin der Sippe, jetzt wiedergeboren durch sie, die nun das Leben des Clans weitertragen wird.32 Denn matriarchale Gesellschaften ehren die Gebärfähigkeit der Frau nicht allein wegen der Möglichkeit zu Geburten, sondern in erster Linie wegen der Möglichkeit zur Wiedergeburt, das heißt, wegen der Umwandlung von Tod zu Leben. Es ist dieser spirituelle Hintergrund, der den Frauen ihre Heiligkeit gibt. – Folgen wir kurz den Beispielen matriarchaler Gesellschaften in Mittelamerika weiter nordwärts: An Panama schließen sich im Norden die Gebiete von Costa Rica und Nicaragua an. Auch hier ist seit der Jungsteinzeit der Einfluss der von Südamerika nordwärts ziehenden Arawak spürbar. Auf die Arawak-Wanderung folgte dann die Wanderung der Chibcha. Das Gebiet der Chibcha sprechenden Völker reichte bis zu den Völkern mit Maya-Sprache auf der Halbinsel Yucatán (siehe Karte 3).33 Dafür gibt es viele archäologische Hinweise, doch wir konzentrieren uns hier auf die ethnologischen Indizien: Als Kolumbus im Jahr 1502 in Costa Rica ankam, zeigten sich auch hier die Indianer sehr freundlich. Die Spanier bewunderten ihren erlesenen Goldschmuck, und außerdem besaßen die Einheimischen eine hohe Meisterschaft in der Bearbeitung von Holz, Stein und Metall. Sie wohnten in großen, mit Stroh gedeckten Sippenhäusern mitten in ihren Feldern und lebten in einer sozial, politisch und religiös komplexen Gesellschaft. Ihre Sprache war Chibcha und alle ihre Kulturtraditionen stammten aus dem nördlichen Südamerika.34 Aber bald gab es Auseinandersetzungen und Kämpfe zwischen den Spaniern und den indigenen Völkern. In dieser schwierigen Zeit verweigerten die Talamanca31 Siehe zu den Einzelheiten dieses Festverlaufs: Keeler, ibid.; zu den reinen Frauen-Zeremonien: Stout: »The Cuna«, S. 262–263; Olowaili, persönliche Kommunikation. 32 Zu Zeremonien der Mädchen-Initiation auch bei anderen matriarchalen Völkern, z. B. den Mosuo (China): Heide Göttner-Abendroth: Matriarchat in Südchina, Stuttgart 1998, Kohlhammer Verlag, auch als E-Book erhältlich. 33 Feriz, S. 216. 34 Luis A. Ferrero: »Ethnohistory and Ethnography in the Central Highlands«, in: Precolumbian Art of Costa Rica, New York 1981, Abrams, S. 93–103.
2.3 Die »starken und schönen« Frauen von Juchitán
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Stämme aus der Talamanca Gegend von Costa Rica die Kapitulation, sie fügten sich weder den Spaniern noch ihren Missionaren (siehe Karte 3). Da sie keine Städte als kulturelle Zentren hatten, wie sie in Peru und Mexiko entstanden waren, vermochten sie anhaltenden Widerstand zu leisten, der nicht durch die Eroberung einer Zentrale gebrochen werden konnte. Bei diesem Widerstand zeigten sie sich sehr kriegerisch, oft angeführt von weiblichen Häuptlingen. Auf diese Weise konnten sie die wichtigsten Züge ihrer Sozialordnung bis heute beibehalten: Sie leben noch immer in matrilinearen, exogamen Clans, die in Sippen-Wechselheirat miteinander verbunden sind. Status und Würden werden in weiblicher Linie vererbt. Das Land ist Sippenbesitz, und die Sippe organisiert gemeinschaftlich die ökonomischen Angelegenheiten. Die Häuptlinge sind streng an die Clans zurückgebunden, ohne deren Einwilligung sie nichts entscheiden können. Die Sänger-Heiler führen die uralte Tradition in heiligen Gesängen fort.35 Alle diese Züge erinnern deutlich an die Kultur der Kuna. Die agrarischen Aufgaben sind bei den Talamanca-Stämmen mit der Sippenstruktur verknüpft, denn nur bestimmte Clans üben bestimmte Tätigkeiten aus, wie Holzfällen, Jagen, Anbau bestimmter Pflanzen, die andere Clans nicht ausüben dürfen. Der Grund ist, dass diese praktischen Tätigkeiten des täglichen Lebens spirituellen Gehalt besitzen – denn Praktisches und Spirituelles sind bei matriarchalen Völkern nicht getrennt. Diesen Gehalt kennzeichnen sie durch symbolische Pflanzen- und Tiermuster auf ihrer Kleidung, ihrer Keramik, ihrem Flechtwerk, wobei jede Sippe nur ganz bestimmte Muster gebraucht, die ihr eigen sind. So enthalten alle diese Dinge präzise Botschaften über das zugrunde liegende soziale, politische und spirituelle System für jene, die diese Muster lesen können. Dadurch werden die gesellschaftlichen Strukturen und die Interaktionen sichtbar, in denen die Einzelnen sich bewegen. Aber nicht nur das: Auch das Verhältnis von Menschen und Natur zeigt sich in ihrem Symbolsystem und enthüllt damit die Ordnung des Universums, wie diese indigene Gesellschaft sie sich vorstellt. Jedes Symbol ist deshalb kein »Ornament«, sondern ein Zeichen aus ihrem politischen und religiösen Sippengefüge.36 Diese Eigentümlichkeit einer zugleich sozio-politischen und spirituellen Ordnung, die in jedem Gebrauchsgegenstand ausgedrückt wird, gibt es keineswegs nur bei den Talamanca-Stämmen, sondern sie ist typisch für die matriarchalen Kulturen Süd- und Mittelamerikas.
2.3
Die »starken und schönen« Frauen von Juchitán
Auch in Mexiko, das sich wiederum nördlich anschließt, sind noch Enklaven der älteren matriarchalen Sozialordnung zu finden. Nicht zufällig haben sie sich an der Westküste, am Pazifik, bis heute erhalten. Dort liegt der Golf von Tehuantepec und die ganze Gegend wird der »Isthmus von Tehuantepec« genannt. Hier verengt sich 35 A.a.O., S. 100–103. 36 Ibid.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
die mittelamerikanische Landbrücke derart, dass man zuerst plante, den Kanal zwischen Atlantik und Pazifik hier anzulegen, bevor man sich für Panama entschied. Im Gegensatz zum unwegsamen Isthmus von Darien, wo die Kuna wohnen, ist der Isthmus von Tehuantepec schon immer ein stark bereistes Durchgangsgebiet für Völker und Händler aller Art gewesen und heute führt der »Panamerican Highway« hindurch. Entlang der Küste liegen mehrere, indianisch geprägte Städte, unter diesen Juchitán mit etwa 100.000 Einwohnern, und es ist erstaunlich, dass die Juchiteken ihre alten Sozialmuster weitgehend bewahren konnten. So stoßen wir mitten in der modernen Gesellschaft Mexikos diesmal auf ein städtisches Matriarchat (siehe Karte 3). Die Leute von Juchitán bezeichnen sich heute als »Zapoteken«. Die Zapoteken gehören zu den ältesten Einwohnern Mexikos und besaßen einst ein Reich, welches das ganze Hochtal von Oaxaca umfasste. Ihr religiöses Zentrum war Monte Alban, ein Hochplateau oberhalb von Oaxaca, wo heute noch die Reste von Stufenpyramiden und Palästen zu sehen sind. Hier trotzten sie den patriarchalen Eroberern aus Tenochtitlan, den Azteken-Kaisern, denen es nicht gelang, die Zapoteken zu unterwerfen.37 Die Kultur der Zapoteken ist viel älter als die der Azteken, dennoch hatte sie auch damals schon patriarchale Strukturen entwickelt. So ist der Unterschied zwischen den heutigen Hochland-Zapoteken mit ihren patriarchalen Mustern und den Isthmus-Zapoteken an der Pazifikküste mit ihrer matriarchalen Sozialform, besonders in Juchitán, sehr auffallend. Das weist auf einschneidende historische Unterschiede zwischen beiden Völkern hin und es wirft die Frage auf, ob es sich bei der Bevölkerung des Hochlands und der des Isthmus tatsächlich beide Male um »Zapoteken« handelt. Historische Tatsachen sprechen gegen die Annahme der ethnischen Einheitlichkeit. Denn erst Mitte des 14. Jhs. eroberte ein Zapoteken-Herrscher, vom Hochland herkommend, das Tiefland und machte die Leute tributpflichtig. Ende des 15. Jhs. zog sich das zapotekische Herrscherhaus, gezwungen durch die Eroberungszüge der Azteken aus dem Norden, selbst auf den Isthmus von Tehuantepec zurück und hat seit dieser Zeit die Bevölkerung des Tieflandes »zapotekisiert«. Diese musste nun die zapotekische Sprache und Teile der Herrscherkultur annehmen. Im 16. Jh. überlagerte die spanische Eroberung nochmals dieses kulturelle Gemisch, und ihre christliche Mission, die sie jedem Volk, das sie antrafen, angedeihen ließen, verschlimmerte die Situation. Die archäologische Forschung in Mexiko zeigt, dass es vor dem 14. Jh. keine kulturellen Beziehungen zwischen den Zapoteken des Hochlandes und den Juchiteken des Tieflandes gegeben hat. Diese Küstenebene am Pazifischen Ozean, an vielen Stellen nur schmal, ist etwas Besonderes: Sie ist eins der reichsten archäologischen Gebiete der Welt. Ihr Klima ist sehr heiß und feucht, aber das Land außerordentlich fruchtbar. Wegen der extremen klimatischen Verhältnisse wurde sie erst spät von den ausländischen Archäologen erforscht; dabei stellte sich, trotz der Verrottung vergänglichen Materials in dem schwülen Klima, eine große Fülle von frühen Kultu37 Coe/Snow/Benson, S. 105, 112–113, 142–143.
2.3 Die »starken und schönen« Frauen von Juchitán
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ren heraus. Dies gilt besonders für die Epoche der Jungsteinzeit (ab 2000 v.u.Z.). Ihre Kulturen sind so reich am Isthmus belegt, dass vielfach angenommen wird, dass die Jungsteinzeit für Mexiko hier begann und in späteren Jahrtausenden allmählich aufs Hochland hinaufstieg. Man nennt in Amerika die Jungsteinzeit »Formative Periode«, sie zeigt dieselben kulturellen Eigenschaften: erster Ackerbau mit Pflanzenzucht, erste Domestikation von Tieren, hervorragende Keramik, eine Fülle einfacher und komplexer Göttinnen-Figurinen. In dieser Küstenebene kommen noch zahllose Erdhügel und Erdplattformen dicht aneinander hinzu, sie waren die Fundamente von großen Langhäusern und Tempeln aus Holz.38 Diese Epoche war außerordentlich innovativ und ihre Gesellschaftsordnung – wie in den anderen Kontinenten – war matriarchal. Hier kam es nicht zur Entwicklung einer hierarchischen Gesellschaft mit steinernen Monumentalbauten wie auf dem Hochland, wo Patriarchalisierung und Reichsbildung zu Beginn der Klassischen Epoche (300 n.u.Z.) einsetzten. Die Gesellschaft am Isthmus blieb bäuerlich und egalitär und folgte damit der alten Tradition der Jungsteinzeit an der Pazifikküste.39 Erst die zapotekische und dann die spanische Eroberung brachten Überlagerungen, dennoch gelang es den Menschen im Tiefland, insbesondere den Frauen von Juchitán, große Teile ihrer traditionellen Kultur zu behalten. Das Leben der Frauen von Juchitán und der gesellschaftliche Zusammenhang wurden in jüngster Zeit von engagierten Ethnologinnen erneut erforscht. So brachten Veronika Bennholdt-Thomsen und ihr Team einen feministisch-politischen Blick mit, der die eigentümlichen Muster dieser Gesellschaft entdecken konnte, die vorher im Verborgenen blieben.40 Nach ihren Studien fallen, wenn man diese Stadt besucht, zuerst die Frauen auf, nicht nur wegen ihrer betonten Leibesfülle und farbenfrohen Kleidung, die aus bunt gemusterten Röcken und den prächtig mit großen Blumen bestickten Blusen besteht (Abb. 8). Sie sind genauso bemerkenswert wegen ihrer Dominanz im Straßenbild, sei es bei den Geschäften auf dem Markt, sei es bei den Festen auf den Straßen. Denn sie sind die Besitzerinnen des Marktes und die Hauptpersonen der Feste. Nun würde das allein kein Matriarchat ausmachen, wenn nicht andere wesentliche Merkmale dazukämen. So gehört das Haus allein der Frau, sie sorgt durch ihre Händlerinnentätigkeit finanziell und organisatorisch für das ganze Hauswesen: den Hausbau, den Haushalt, die Erziehung der Kinder. Später vererbt sie das Haus an eine Tochter, meist an die jüngste Tochter, die bei der Mutter bleibt und sich im Alter um sie kümmert.
38 Die Herkunft aus dem Süden wird deutlich an der Ähnlichkeit von Göttinnen-Figurinen und Keramikstilen (z. B. die Ocos-Keramik), was aber lokale Ansätze nicht ausschließt. Vermutlich haben auch transpazifische Kontakte an der Fülle der Kulturen mitgewirkt, denn der Seeweg von den Hawai’i-Inseln zur Westküste Mexikos war genauso möglich wie jener über die Osterinsel zur Westküste Südamerikas. 39 Coe/Snow/Benson, S. 90–102. 40 Veronika Bennholdt-Thomsen (Hg.): Juchitán, Stadt der Frauen. Vom Leben im Matriarchat, Reinbek bei Hamburg 1994, Rowohlt; dieselbe: »Gegenseitigkeit statt sozialer Gerechtigkeit. Zur Kritik der kulturellen Ahnungslosigkeit im modernen Patriarchat«, in: Ethnologische Frauenforschung, Hg.: Brigitta Hauser-Schäublin, Berlin 1991, Reimer.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Abb. 8: Frau aus Juchitán auf dem Gang zu einem Fest (aus: Beverly L. Chiñas: The Isthmus Zapotecs: A Matrifocal Culture of Mexico, New York 1992 (2), Verlag Holt, Rinehart and Winston)
2.3 Die »starken und schönen« Frauen von Juchitán
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Es überrascht daher nicht, dass es in dieser Stadt den modernen, westlichen Typ der »Hausfrau«, die besitzlos und abhängig von ihrem Ehemann ist, nicht gibt. Hier ist jede Frau als Handwerkerin und Händlerin ihre eigene Unternehmerin und völlig unabhängig vom Ehemann. Ebenso ist die Isolation der Hausfrau im Einfamilienheim unbekannt. Schon das offene Haus mit Veranda, die auf die Straße wie auf einen öffentlichen Hof geht, lässt die Illusion von Privatheit nicht zu. Außerdem ist auch die Lebensweise der Frauen öffentlich, denn sie verkaufen ihre häuslichen Produkte vor ihren Häusern oder in den Gassen und Straßen oder auf dem nur von Frauen bevölkerten Markt (Abb. 9). Dabei sind sie in ständiger Kommunikation mit den Nachbarinnen und den Vorüberkommenden. Ihre Haustiere leben ebenfalls zwischen den offenen Häusern auf den Straßen. Besonders wichtig sind die Schweine, die alle Haushaltsabfälle fressen und dann, fett gemästet, auf dem Markt verkauft werden. Der Erlös wird in Goldmünzen angelegt, und diese sind das Guthaben der Frauen aus ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit, das sie bei den Festen um den Hals gehängt zur Schau tragen. Größere Ausgaben wie der Hausbau oder die Ausbildung der Kinder werden mit diesen Goldmünzen bezahlt.
Abb. 9: Frauen auf dem Markt von Juchitán (aus: »Basler Magazin«, Nr. 14, 1992, S. 3, Foto: Cornelia Suhan)
Juchitán ist eine Ackerbaustadt, das heißt: das Land, das sie umgibt, sind die Felder der Stadt. Jeden Morgen ziehen die männlichen Bewohner der Stadt mit ihren Ochsenkarren – die moderneren von ihnen mit Lastwagen oder Bus – zur Feldarbeit aus der Stadt hinaus. Sie arbeiten tagsüber als Bauern in der Landwirtschaft, die mit künstlicher Bewässerung betrieben wird, oder als Fischer an den Lagunen oder der
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Meeresküste. Der Handel ist Frauensache, Landarbeit dagegen Männersache. Den Männern gehören die Felder, und sie vererben sie vom Vater auf den Sohn. Doch sie können daraus keinen persönlichen Gewinn ziehen, denn die Ernte aus ihrer Feldarbeit, eben alles, was auf dem Land wächst, kommt in die Hände und den Haushalt der Frauen. Die Frauen verarbeiten die rohen Feldfrüchte zu Speisen, wie geröstete Maisfladen und süße Getränke und andere köstliche Gerichte, die sie in den Straßen und auf dem Markt der Stadt verkaufen. Der Erlös verbleibt vollständig bei ihnen. In der Jahreszeit, in der es wenig Feldarbeit gibt, helfen die Männer handwerklich den Frauen, oder sie verdienen auswärts Geld als Lohnarbeiter. Auch dieser Lohn wird insgesamt den Frauen ausgehändigt. Die Frauen versorgen dafür die Männer mit der täglichen Nahrung und geben ihnen Geld für ihre persönlichen Angelegenheiten, sei es im Verhältnis von Gattin zum Gatten, von Schwester zum Bruder oder von Tochter zum Vater. Die gesamte Ökonomie von Juchitán liegt in den Händen der Frauen, die als die Ernährerinnen gesehen werden – eine Situation, die grundsätzlich auch für andere matriarchale Gesellschaften gilt. Doch es gibt keinen Streit zwischen den Geschlechtern wegen dieser ökonomischen Regelung, alle finden diese Arbeitsteilung in Ordnung. So gelten die Männer bei ihren Frauen als »sehr hilfsbereit«, und die Männer von Juchitán sind stolz auf ihre »starken und schönen Frauen«.41 Unterentwicklung und Armut, sonst allgemein in Mexiko, sind in Juchitán unbekannt, denn die Frauen halten eine traditionelle, regionale Ökonomie aufrecht, die weitgehend autark ist. Die Ressourcen der Gegend fließen nicht in einen ausbeuterischen, nationalen oder internationalen Markt ab, über den im ungerechten Handel billige Rohstoffe gegen teure Fertigprodukte getauscht werden. Stattdessen wird alles lokal produziert, verarbeitet, verkauft und konsumiert. Einheimische Produkte werden höher geschätzt als importierte, man ist stolz auf das Eigene: auf juchitekisches Essen, Kleidung und Musik. Es ist eine echte, selbständige Subsistenzökonomie.42 Daher konnten von außen gelenkte Firmen mit ihren Fabriken und Supermärkten in Juchitán nicht Fuß fassen. Gleichzeitig sind die Tätigkeiten der Frauen, die eben auf gutes Essen, schöne Kleidung und angenehmes Wohnen gerichtet sind, hoch geachtet, denn sie betreffen alle wichtigen Lebensvorgänge. So können die Frauen die lokale Marktwirtschaft von Juchitán, die sie wie einen großen Haushalt führen, unter Ausschluss fremder Güter steuern, denn sie haben ihre »ethnische Identität«, ihre Selbstachtung und Würde, nicht verloren.43
41 Bennholdt-Thomsen, Juchitán, S.12–36; dieselbe: »Der Markt: das Herz Juchitáns«, in: Juchitán, S. 38–47; Brigitte Holzer: »Mais. Tauschbeziehungen zwischen Männern und Frauen«, in: Juchitán, S. 140–152. 42 Zu Begriff, Theorie und Formen der Subsistenz-Ökonomie siehe: Veronika BennholdtThomsen/Maria Mies: Eine Kuh für Hillary. Die Subsistenzperspektive, München 1997, Verlag Frauenoffensive; Claudia von Werlhof/Veronika Bennholdt-Thomsen/Nicholas Faraclas (Hgs.): Subsistenz und Widerstand. Alternativen zur Globalisierung, Wien 2003, Promedia Verlag (original in Englisch, London 2001). 43 Veronika Bennholdt-Thomsen: »Die Würde der Frau ist der Reichtum von Juchitán. Kulturelle Barrieren gegen die Verarmung durch Entwicklung«, in: Das Ei des Kolumbus?, Reihe AMBOS, Nr. 31, Hg.: J. Möller, Bielefeld 1992.
2.3 Die »starken und schönen« Frauen von Juchitán
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Die Frauen gelten nicht als »niedere Klasse«, wie fälschlich behauptet wird, denn Klassendenken kennen diese Menschen nicht.44 Nur in anderen Teilen der Welt, wo diese Art der Subsistenzproduktion nicht mehr unabhängig ist, sondern durch kapitalistische Märkte ausgebeutet und zugleich verachtet wird, entstehen die Phänomene der sogenannten »Dritten Welt«, die in Verelendung und Hunger gipfeln. Sie sind bedingt durch die strukturell verankerte Verletzung der Würde der Frauen und der Bauern.45 In Juchitán blieb dagegen durch die lokale Ökonomie der Frauen der Wohlstand erhalten, er ist sichtbar und allgemein. Er zeigt sich deutlich in der Wohlbeleibtheit der Frauen, denn rundlich zu sein beweist reichliches und gutes Essen und ist das weibliche Schönheitsideal in dieser Stadt.46 Eine weitere Eigenschaft der matriarchalen Ökonomie ist, dass nicht diejenige Person Ansehen gewinnt, die viel Geld besitzt, sondern diejenige, die viel für andere ausgibt. In Juchitán geschieht das reichlich bei den großen Festen, von denen es allein in dieser Stadt 35 in jedem Jahr gibt. Ihre Wurzel sind alte, agrarische Jahreszeitenfeste, überlagert von christlichen Festen im Kirchenjahr. Außerdem werden persönliche Lebensstadienfeste gefeiert, wie der fünfzehnte Geburtstag als Initiationsfest der Mädchen, Hochzeitszeremonien und Altersjubiläen. Diese Feste oder »Velas« dauern zwei bis vier Tage und es kommen sehr viele Gäste, deren Zahl 2000 bis 3000 betragen kann. Sie alle sind von der Schirmherrin des Festes, der »Mayordoma«, eingeladen und werden von ihr verköstigt und beschenkt. Die Feste sind in erster Linie eine Angelegenheit der Frauen, die im Zentrum der Ökonomie stehen. Sie planen, organisieren und leiten das Fest, denn sie sind die Handlungsträgerinnen, während die Männer als Musikanten aufspielen und sich sonst im Hintergrund halten. Insbesondere ist der 50. oder 60. Geburtstag einer Frau ein solcher Anlass; diese Jubiläen sind Gelegenheiten für ein »Verdienstfest«, das vom ganzen Stadtviertel gefeiert wird, um die ältere Frau in ihrer Rolle als Mayordoma zu ehren. Sie ist der Mittelpunkt des Festes, und obwohl sie als Mayordoma hohe Ausgaben hat, gewinnt sie gleichzeitig großes Prestige. Darauf
44 Beverly L. Chiñas: The Isthmus Zapotec. Women’s Roles in Cultural Context, New York 1973, Holt, Rinehart and Winston; Zitat S. 43. – In ihrer Einschätzung der Situation der Frauen in Juchitán folgt Chiñas den patriarchalen Klischees von politischer Ökonomie, indem sie von »höherer« und »niederer Klasse« spricht, wobei die Männer als »höhere Klasse« den formalen Sektor (Politik) innehaben und die Frauen als »niedere Klasse« den informellen Sektor. Sie kann damit, im Gegensatz zu Bennholdt-Thomsen, die Struktur der unabhängigen, bewusst geführten Subsistenzökonomie nicht erkennen und verfehlt die andersartige, wesentliche Funktion der Frauen darin. Dennoch ist Chiñas eine Pionierin, denn sie beschrieb als erste – wenn auch mit unzureichender Methode – den Alltag dieser Frauengesellschaft. 45 Siehe zu diesem Thema das klassische Werk von Claudia von Werlhof/Maria Mies/Veronika Bennholdt-Thomsen: Frauen, die letzte Kolonie, Reinbek bei Hamburg 1983/1988, Rowohlt; ferner: Claudia von Werlhof: Was haben die Hühner mit dem Dollar zu tun?, München 1991, Verlag Frauenoffensive; dieselbe: Wenn die Bauern wiederkommen, Bremen 1985, Edition CON. 46 Cornelia Giebeler: »Politik ist Männersache – Die COCEI und die Frauen«, in: Juchitán, S. 89 f.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
kommt es an: Die matriarchale Ökonomie der Leute von Juchitán ist nicht auf persönliche Bereicherung ausgerichtet, sondern auf Verteilung der Güter gemäß dem Wert der Gegenseitigkeit. In einer solchen »Prestige-Ökonomie« geht es um Festigung der sozialen Bindungen durch gemeinsames, fröhliches Konsumieren der Güter. Diese zirkulieren dabei als Geschenke und werden nicht bei einsamen Individuen, den »Reichen«, angehäuft. Eine Mayordoma ist wohlhabend und zugleich großzügig, und soziales Ansehen ist der Gegenwert, den sie mit dem lange ersparten und heiß ersehnten Verdienstfest gewinnt. Gemäß den Werten der Gegenseitigkeit und Balance wird sie zu anderen Festen eingeladen und wird dort so beschenkt, wie sie geschenkt hat. Auf diese Weise geht es weiter durchs ganze Jahr. Das Prinzip der Gegenseitigkeit ist dabei unumstößlich und wer sich nicht daran hält, hat sich aus der Gemeinschaft heraus gestohlen und sich selbst ausgeschlossen. Isolierung, Vereinsamung und Lebensunsicherheit wären die Folgen. Verdienstfeste von Frauen sind außergewöhnlich. In vielen Teilen der Welt sind Verdienstfeste Männersache, sie gewinnen dadurch Prestige, und Frauen sind die passiven Zuschauerinnen der männlichen Ehre. Nicht so in Juchitán, wo die Frauen die Subjekte und Handelnden der Feste sind und sie öffentlich auf den Straßen feiern. Dafür wird ein Straßenstück tagelang abgesperrt, so dass der Verkehr umgeleitet werden muss, ein Dach aus Palmblättern oder Stoff wird errichtet, Klappstühle werden in Reihen aufgestellt und ein Tanzplatz freigelassen, der mit Blumen und Girlanden geschmückt ist. Riesige Mengen an Essen und Trinken stehen bereit und mindestens zwei Musikkapellen treten an. Die Gäste strömen herbei, zuerst die Frauen hoch erhobenen Hauptes und in prächtig bestickten Samtblusen und Samtröcken, unter denen sich weiße Spitzenröcke bodenlang ergießen, große Blüten im Haar und eine Galerie Goldmünzen um den Hals. Sie tanzen auch zuerst, meist je zwei zusammen, sie sitzen in den vordersten Reihen, lachen laut, reißen Witze, essen viel und trinken gewaltige Mengen Bier. Die Mayordoma steht im Mittelpunkt des Festes, doch an ihrer Seite darf eine junge Frau aus ihrer Verwandtschaft, schön geschmückt, die »Festkönigin« sein. Verwandte und Nachbarinnen übernehmen als »Madrinas«, als Partnerinnen, einen Teil der Kosten und der Organisation des Festes. Tagelang tanzen die Frauen miteinander und als Höhepunkt der Feierlichkeiten findet ein Umzug auf geschmückten Wagen statt, von denen herab Früchte von schönen, jungen Frauen an die Menge verschenkt werden – ähnlich wie bei uns im Karneval. Wirtschaftlich gesehen haben diese Feste einen nivellierenden Effekt, und das ist die Absicht bei einer Ökonomie der Gegenseitigkeit und des Ausgleichs. Die Unterschiede zwischen reicheren und ärmeren Frauen werden damit verringert, denn von einer wohlhabenden Frau wird erwartet, dass sie mehr gibt, sowohl als Schirmherrin wie als Gast. Nach den Spielregeln kommt ein Teil der Festkosten gleich zu Beginn zurück, denn alle Gäste bringen der Mayordoma Geschenke in Naturalien oder Geld mit, auch hier geordnet nach dem jeweiligen Vermögen. Es gibt für die Gegenseitigkeit kein vorgeschriebenes, abstraktes Maß – wie Geld und Preise es sind –, denn dies wäre nur äußerlich und deshalb nicht gerecht. Es geht viel eher um Ausgleich und Balance, und darauf wird genau geachtet. So ist die ganze Stadt stets mit der konkreten Anwendung der Normen dieser Gegenseitigkeit
2.4 Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán
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beschäftigt und das geschieht durch den Klatsch. In der Klatschrunde reden die Frauen permanent übereinander, aber auch miteinander. Wenn über eine Frau in ihrer Abwesenheit geredet wird, übernimmt eine andere jeweils ausdrücklich die Verteidigung als Fürsprecherin. Auf diese Weise werden die Normen stets verhandelt und an die Situation angepasst. Ziemlich alles wird früher oder später wieder ins Lot gebracht und dazu brauchen sie keine starren Gesetze, keine Richter und in Stein gemeißelte Strafen.47 In diesem Sinne sind die Feste in Juchitán der Motor der Ökonomie, und sie sind ein weiteres, schönes Beispiel für eine Schenke-Ökonomie48. Nicht der Markt ist der Gradmesser der Ökonomie – wie es bei kapitalistischen Märkten der Fall ist – sondern der lokale Markt ist eingebettet in die umfangreiche Schenke-Ökonomie. Lokale, bäuerliche Märkte, umgeben von einer Schenke-Ökonomie, sind auch für andere matriarchale Gesellschaften typisch und sie funktionieren ganz anders als kapitalistische Märkte, bei denen es um die Maximierung von Profit durch einen ungerechten Tausch geht. Wie in Juchitán spielt bei diesen lokalen Märkten nicht der Preis beim Verkaufen und Kaufen die wichtigste Rolle, sondern das stetige Erneuern guter, nachbarschaftlicher Beziehungen durch die Gespräche zwischen den Frauen auf dem Markt. So kann ein Produkt durchaus teurer eingekauft werden, aber es wurde bei einer Freundin gekauft und der Kauf hat die Freundschaft vertieft. Das ist auch ein Grund, warum fremde Supermärkte in Juchitán bisher nicht Boden gewinnen konnten, wie zum Beispiel WalMart (2005). Die Frauen von Juchitán sagten: »Man kann dort nicht sprechen, nicht miteinander reden, man kann dort nichts anderes tun als kaufen und bezahlen!« Und sie gingen nicht mehr hin.49
2.4
Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán
Der Lebenszyklus einer juchitekischen Frau wird von Anfang an von den Festen geprägt. Mit zwei Jahren wird das kleine Mädchen bereits der Öffentlichkeit vorgestellt und die Erziehung zielt von Anfang an darauf ab, Gastgeberin zu sein und zu repräsentieren. So begleitet sie als Kind häufig eine junge Frau, die »Festkönigin« sein darf, und mit fünfzehn Jahren folgt das erste große Fest der Jugendlichen, das ihre Mutter für sie ausrichtet. Es ist das Initiationsfest für Mädchen, dem für Knaben nichts dergleichen entspricht. Ab fünfzehn Jahren fängt sie auch an, als Händlerin auf eigenen Beinen zu stehen. Bei ihrem Initiationsfest bekommt sie dafür eine kleine Starthilfe. Auch wenn sie später einen anderen Beruf ergreift, wie etwa Lehrerin oder Ärztin, behält sie nebenbei ihren Handel. Denn jede Frau in Juchitán ist
47 Brigitte Holzer: »Ökonomie der Feste, Feste als Ökonomie«, in: Juchitán, S. 48 f. 48 Siehe zur Theorie der Schenke-Ökonomie: Genevieve Vaughan: For-Giving, Schenken und Vergeben. Eine feministische Kritik des Tauschs, Königstein/Taunus 2008, Ulrike Helmer Verlag (zuerst in Englisch, Austin 1997). 49 Bericht von Marina Meneses, einer indigenen Juchiteka.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Händlerin und stolz darauf, sie bleibt dadurch in das gesamte Netz der Kommunikation in der Stadt und in die gemeinschaftliche Feste-Ökonomie eingebettet. Das Bündnis zwischen Mutter und Tochter ist dabei tragend für die ganze Lebensgestaltung, zugleich sind sowohl Tochter wie Sohn stolz auf ihre Mutter, auf die Abstammung von ihr. Deshalb verleugnen sie ihre ethnische Herkunft nicht, im Gegenteil betrachten sie alles Einheimische als »besser« – zweifellos ein Ergebnis der mütterlichen Erziehung. Die Kinder wohnen im Haus der Mutter, also matrilokal, und der Gatte wohnt ebenfalls hier, das heißt: uxorilokal, nämlich im Haus der Gattin. Die Verwandtschaft gilt offiziell nach beiden Linien, der mütterlichen wie der väterlichen. Tatsächlich aber werden Namen angemeldet, wie die Frauen es wollen, und erwachsene Kinder legen häufig den Namen des Vaters ab, mit dem sie kaum Verbindung haben. Denn trotz offizieller Monogamie sind Scheidungen leicht und häufig, so dass die Frauen in der Regel Kinder von mehreren Vätern haben. Die Kinder bleiben stets bei den Müttern, deshalb kommt es häufig zur Wahl des Mutternamens. Die Vaterlinie spielt nur bei der Vererbung der Felder eine Rolle, denn diese werden vom Vater auf den Sohn weitergegeben. Parallel dazu geht das Haus immer von der Mutter an die Tochter über. Die Einführung der Monogamie sowie der Vaterlinie und der Vererbung des Landes vom Vater auf den Sohn liegt geschichtlich nicht allzu weit zurück, es ist eine Frucht des spanischen Einflusses und der christlichen Missionierung. Davor herrschte klare Matrilinearität mit der Vererbung nur in weiblicher Linie, worauf nicht nur das praktische Leben, sondern auch die Verwandtschaftsterminologie hinweist.50 Gegen den Willen der Mutter wird die Tochter letztlich nichts tun, auch in der Angelegenheit ihrer Heirat nicht. Zwar wählt sie durch den Brauch der »Geraubten Braut« ihren ersten Liebhaber selbst, denn er entführt sie nach gegenseitiger Einwilligung ins Haus seiner Mutter, wo sie sich von ihm deflorieren lässt. Daraufhin erscheint ihre Mutter mit einer Delegation von weiblichen Verwandten bei seiner Mutter, um die Sache zu arrangieren und möglichst gute Bedingungen für die Heirat auszuhandeln. Danach wird großartig Hochzeit gefeiert, wobei nach der offiziellen kirchlichen Messe die Feier vor dem Hausaltar, die den Ahninnen gewidmet ist, wesentlich wichtiger ist. Dort zelebriert eine angesehene Nachbarin als Priesterin die einheimische Zeremonie für das Paar und belehrt sie in der eigenen Sprache. Ist die Brautmutter jedoch nicht einverstanden, dann kehrt die Tochter zu ihr zurück. Aber die Mutter des Bräutigams muss in diesem Fall eine hohe Vergütung dafür aufbringen, dass das Mädchen nun nicht mehr Jungfrau ist. Die junge Frau selbst erhält diese Summe als Mitgift für ein eigenes Geschäft. Auch dann, wenn es zur Heirat kommt, muss die Mutter des Bräutigams der Schwiegertochter zum eigenen Geschäft verhelfen. Dafür bleibt die Schwiegertochter zwei Jahre lang bei der Schwiegermutter als Hilfe für die Unkosten des großen Hochzeitsfestes. Dann kehrt sie ins Haus der Mutter zurück, wo ihre Kinder erzogen werden. Sie hilft ihrer Mutter und erbt vielleicht das Haus oder baut sich nahe dem Hause der Mutter ein eigenes. Der Gatte wohnt jetzt bei der Frau und kehrt bei
50 Für dies und das Folgende siehe: Bennholdt-Thomsen, Juchitán, und persönliche Kommunikation.
2.4 Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán
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einer Scheidung, was häufig vorkommt, in sein Mutterhaus zurück. Bei der nachfolgenden Wahl anderer Partner gibt es keine Hochzeitszeremonie mehr, sondern die Frau tut sich einfach mit dem neu gewählten Partner zusammen. Auch wenn eine junge Frau keine Hochzeitszeremonie wünscht, erlebt sie den Übergang in einen neuen Lebensabschnitt, in dem sie selbständig wird und ihre sexuelle Freiheit genießt. Diese Freiheit wird mit dem heiratsfähigen Alter und nicht mit einer Feierlichkeit gewonnen, daher ist die Hochzeit keine Verpflichtung. Für einen Knaben in dieser Gesellschaft mag es verlockend sein, lieber eine »Tochter« als ein »Sohn« zu sein. In der Gesellschaft von Juchitán kennt man daher die Möglichkeit der Wahl des Geschlechts. Ein Knabe kann sich entscheiden, eine »Tochter« zu werden, dann wird er wie ein Mädchen gekleidet und erzogen und übt später die Tätigkeit der Frauen aus, nämlich den Handel. Er gilt nun als »weiblich«, denn er ist in der Handlungssphäre der Frauen aktiv. Dennoch wird in solchen Fällen die besondere Bezeichnung »Muxe« für ihn gebraucht, was auf eine Art drittes Geschlecht hinweist. In Liebesdingen wird er sich einen männlichen Partner wählen. Dasselbe gibt es bei Mädchen, denn wenn ein Mädchen ein »Sohn« sein will – was in einer matriarchalen Gesellschaft erheblich weniger begehrt ist – so wird sie männlich gekleidet und erzogen, und sie geht mit den Männern hinaus aufs Feld. In diesen Fällen lautet die Bezeichnung »Marimacha«, was eine Art viertes Geschlecht meint, und sie wird wahrscheinlich Frauen als Liebespartnerinnen haben.51 Dieser Tausch der Geschlechterrollen kommt auch in etlichen anderen matriarchalen Gesellschaften vor, aber das Phänomen ist erst wenig erforscht. Es zeigt jedoch, dass gleichgeschlechtliche Liebe in Matriarchaten nicht tabuisiert wird, sondern als natürliche Neigung akzeptiert ist. Was bei diesem Tausch der Geschlechterrollen jedoch eingehalten wird, ist die je weibliche und je männliche Erscheinungsform und Aktionssphäre samt Arbeitsbereich – die weiblich-männliche Polarität der Gesellschaft wird nicht aufgehoben. Der Grund ist, dass matriarchale Gesellschaften auf allen ihren Ebenen sowohl real wie symbolisch auf dem Gleichgewicht zwischen polaren Sphären aufgebaut sind, zu denen auch die weiblich-männliche Polarität gehört, ganz gleich wie unterschiedlich diese von einer Kultur zur anderen verstanden wird.52 Dahinter steht das Balance-Prinzip als ein Prinzip der Weltordnung, das nicht durch persönliche Vorlieben von Einzelnen verändert werden kann.53 Diese haben jedoch die Freiheit, individuell die Sphären zu wechseln.
51 Veronika Bennholdt-Thomsen: »Muxe’s, das dritte Geschlecht«, in: Juchitán, S. 192–214; Christa Müller: »Frauenliebe in einer frauenzentrierten Gesellschaft«, in: Juchitán, S. 214–228. 52 Dahinter stehen keine Wesensdefinitionen vom »Weiblichen« und »Männlichen«, wie sie in der patriarchalen Philosophie allgemein üblich waren. Stattdessen wird das Geschlecht durch die Arbeits- und Aktionssphäre definiert, die in den verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich ist. So sind in Juchitán der Handel und Fernhandel die weibliche Aktionssphäre und der Ackerbau die männliche; bei den Mosuo (Westchina) ist es genau umgekehrt, denn der Ackerbau ist die weibliche Aktionssphäre und der Fernhandel die männliche. 53 Zum Balance-Prinzip in der Weltvorstellung von matriarchalen Kulturen siehe z. B.: Barbara Alice Mann: Spirits of Blood, Spirits of Breath. The Twinned Cosmos of Indigenous America, New York, 2016, Oxford University Press.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
Wenn eine Frau in Juchitán ins reife Alter kommt, dann hat sie es meistens zu einer erfolgreichen Händlerin gebracht. Ihre Handelsgeschäfte werden ausgedehnter, sie ist damit nicht unbedingt an die Stadt Juchitán gebunden, sondern unternimmt weite Handelsreisen – eine alte Tradition in Mexiko. Spezialitäten werden von juchitekischen Frauen im Fernhandel verkauft, ebenso Kunsthandwerk, selbst wenn es von Männern gemacht wurde. Dabei werden gleichzeitig entfernte Verwandte besucht und Pilgerfahrten zu Kultplätzen unternommen. Als »Händlerinnen vom Isthmus« sind die juchitekischen Frauen, die man an ihrer farbenfrohen Tracht leicht erkennt, in ganz Mexiko berühmt; sie bereisen Mittelamerika bis nach Nicaragua im Süden und Arizona im Norden. Sie sprachen weitaus früher als die Männer Spanisch und heute sind sie in allen studierten Berufen zu finden. Die höchste Stufe ihres Prestiges erreicht eine Frau dann, wenn sie mit 50 oder 60 Jahren die Mayordoma, die Schutzherrin, eines großen Verdienstfestes wird. Sie ist es auch, welche die Ahnenzeremonien der Familie feiert, die teils vor dem Hausaltar, auf dem insbesondere Bilder der mütterlichen Ahninnen stehen, teils auf dem Friedhof stattfinden. Auch auf dem Friedhof geht es wesentlich um die Verehrung der Mutter nach ihrem Tod, Frauen pflegen ihr Grab und schmücken es mit vielen Blumen. Sie haben den alten Glauben bewahrt, dass die Ahninnen und Ahnen mitten unter den Lebenden weilen, und alle Familien ziehen für mehrere Tage im Jahr auf den Friedhof, um mit ihnen zu feiern. Der fröhliche Trubel ist dort so groß wie auf einem Jahrmarkt, üppige Speisen werden ausgebreitet, zu denen die Ahnenwesen eingeladen sind, es gibt Musik und Luftballons, und manchmal wird auch getanzt.54 Auch im religiösen Bereich finden wir trotz christlicher Überfremdung das Festhalten am Eigenen wieder, denn der indianische Synkretismus lässt vieles zu. Die Feste der katholischen Kirche werden lediglich als Staffage für die eigenen Feste benutzt und sehr selbstbewusst den alten Glaubensinhalten angepasst. Diese beziehen sich seit eh und je auf die fruchtbare Natur. Die Feste sind daher Geschenke an die Leben und Nahrung spendende Erde und gleichzeitig Bitten um Regen, um den es in heißen Ländern immer geht. Darum muss ein Überfluss an Speisen, Getränken und Blumen vorhanden sein, eine verborgene, erotische Symbolik begleitet die Feste und Umzüge, und jede Frau verkörpert in ihrer Erscheinung die fruchtbare Natur persönlich. In Volksliedern wird die Göttin noch besungen, wie sie als gütige Mutter die Menschen nach dem Tod wieder in ihre Arme nimmt. In ihr ist die altmexikanische Erdgöttin und Mutter aller Wesen, die unter vielen Namen verehrt wird, noch zu erkennen. Bei den Zapoteken hieß sie »Nohuichana« und hatte auch Verbindung zu den Gewässern und zur Fischerei. Während der christlichen Missionierung durch die spanischen Eroberer wurden viele mexikanische Erdgöttinnen mit der Jungfrau Maria identifiziert, auch Nohuichana. So ist es wohl kein Zufall, dass die kleine Kirche in Juchitán »Kirche der Fischer« heißt, in der die Frauen für Maria Kerzen anzünden. Die amtlichen, katholischen Priester wechseln ständig, denn sie können sich mit ihren offiziellen Kirchen-Dogmen nicht gegen die Leute durchsetzen. Sie hängen 54 Marina Meneses: »Stationen eines Frauenlebens«, Juchitán, S. 66 f.
2.4 Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán
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für die Durchführung der kirchlichen Feste von den Frauen ab, die auch hier als Mayordomas die Kosten übernehmen. Priester, die gegen die Ansichten der Frauen predigen, haben keine lange Bleibe in Juchitán. Die Messen, die sie halten, finden häufig nicht in der Kirche statt, sondern in den Häusern der Frauen, als Verschönerung ihrer eigenen großen Feste. Abgesehen davon ist jede Frau bei den familialen Riten der Lebensstadienfeste die unangefochtene Priesterin in ihrem eigenen Haus. So feiern sie in Juchitán zwei Tauf- und Hochzeitszeremonien, nämlich die eine in der Kirche und die andere zu Hause. Die schamanischen Hebammen und Heilerinnen der Stadt sind ebenfalls sehr geachtet, sie kommen in die Häuser und führen ihre Heilrituale vor den Hausaltären durch. Dabei folgen sie nach wie vor den Prinzipien und Riten der traditionellen indianischen Kosmologie.55 Wie sieht unter diesen Voraussetzungen die Politik in Juchitán aus? Die reale Politik machen die Frauen, die formale Politik der Parteien und des Gemeinderates hingegen die Männer. Es ist der männliche Bereich für Prestigegewinn. Aber es kann kein Mann Lokalpolitiker werden, den die respektabelsten Frauen der Stadt nicht unterstützen und dem die Mutter, die Schwestern und die Gattin nicht beistehen. Diese Frauen werben für ihn, und die anderen Frauen geben ihnen die Stimme, nicht aber dem Mann direkt. Die Männer haben kein eigenes Geld, und es ist schwierig für sie, an das Geld der Frauen heranzukommen. Bürgermeistern, die den Leuten in Juchitán von der zentralistischen Staatsregierung vorgesetzt wurden, gelang es nie ihr Amt auszuüben. Das ging in einem Fall sogar so weit, dass die Marktfrauen solch einen unliebsamen Menschen nicht ins Rathaus hineinließen und ihn hinderten, seinen Sessel zu erklimmen. Erst nach einer militärischen Auseinandersetzung folgte eine Einigung, nach welcher jetzt nur einheimische Bürgermeister zugelassen werden. Diese versuchten über Marktgebühren und Steuern an Geld zu kommen, aber wieder wurden die Frauen rebellisch, und es war kein Geld aus der Stadt zu gewinnen. Daher können Männer nur etwas unternehmen, wenn sie Geld von der mexikanischen Staatsregierung erhalten, und dies stellt zusammen mit einer falschen Idee von »Entwicklung« durchaus eine Gefahr für die indigene Ökonomie von Juchitán dar. Die Situation in Juchitán ist dennoch erstaunlich, weil die matriarchale Lebensweise hier nicht in einem Rückzugsgebiet, sondern in einem stark frequentierten Durchgangsland beibehalten wurde. Das zeigt, dass matriarchale Gesellschaften heute nicht einfach naiv-naturwüchsig existieren, sondern ihre Muster vom Volk immer wieder aktiv hergestellt und nach jeder Herausforderung und Krise bewusst erneuert werden. In Juchitán trägt die starke Solidarität der Frauen untereinander und ihre Widerspenstigkeit nach außen erheblich dazu bei, ebenso ihre ständige Einmischung in die Politik der Männer. So wird in den vergangenen Jahrhunderten von fortwährenden Konfrontationen zwischen der spanischen Kolonialmacht und
55 Holzer: »Ökonomie der Feste«, S. 62–64; Briffault, The Mothers, Bd. 3, S. 61–64; Anneliese Mönnich: Die Gestalt der Erdgöttin in den Religionen Mesoamerikas, Dissertation Freie Universität Berlin, 1969, S. 228–232.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
dieser Stadt berichtet: Aufstände kamen häufig vor, und stets waren die Frauen präsent, um mit den Männern zusammen zu kämpfen. Die Spanier mussten nicht nur die führenden Männer, sondern auch die wichtigen Frauen verbannen, um den Ort zu »befrieden«. Noch heute beteiligen sich die Frauen in vorderster Reihe an politischen Aktionen, zum Beispiel wenn es darum geht, den »Panamerican Highway« zu blockieren; oder einen Marsch gegen die Politik der Provinzhauptstadt zu unternehmen; oder einen Aufstand gegen die mexikanische Zentralregierung zu machen. Innenpolitisch behandeln sie jeden Vorgesetzten ohne jeden Respekt, und bisher ist es noch keinem Mann gelungen, ihr Marktwesen zu »reformieren« oder Steuern zu erheben.56 Die Tiefebene des Golfes von Tehuantepec umfasst noch weitere kleine Städte, deren Bevölkerung insgesamt 250.000 Leute ausmacht. Sie funktionieren als unabhängige Stadtrepubliken, genauso wie Juchitán, und dies ist ein altes politisches Muster, das weit vor die Zeit der indianischen Reichsbildungen zurückreicht. Matriarchale Elemente wie die beschriebenen findet man auch in diesen anderen Städten, wobei Juchitán die konservativste und rebellischste Stadt ist. Mit dem wiedererwachenden indianischen Selbstbewusstsein in Mexiko übernehmen die Frauen der benachbarten Städte gegenwärtig vermehrt Handlungsstrategien von den erfolgreichen Frauen von Juchitán. – Wir haben damit im Süden Mittelamerikas und in seiner Mitte letzte Inseln der einst weit verbreiteten matriarchalen Kultur gefunden, doch es gibt sie auch in seinem äußersten Norden. In der nordwestlichen Ecke von Mexiko, versteckt im Kalifornischen Golf auf der Insel Tiburón, leben die Seri. Im Jahr 1956 wurden sie von ihrer Heimatinsel vertrieben und zwangsweise an die Küste umgesiedelt, doch 1975 erhielten sie die Insel als ihr Eigentum zurück. Heute leben von ihrem einst großen Stamm nur noch einige hundert Menschen (siehe Karte 3).57 Ihre Lebensweise ist extrem, denn trotz äußerst mutiger Gegenwehr befanden sie sich ständig auf der Flucht vor den Eroberern, bis zu ihrem letzten Rückzug in die Sonora-Wüste in der Küstenregion und auf die Insel Tiburón. Dabei ist ihre materielle Kultur stark abgesunken, aber nur durch rigorose Abgrenzung konnten sie sich allen fremden Einflüssen entziehen. Ihre Ackerbaukultur haben sie längst verloren, heute leben sie ausschließlich vom Fischfang der Männer. Dennoch haben sie die matriarchale Sozialordnung bewahrt, die sich in ihrer Matrilinearität, Matrilokalität und der großen Bedeutung des Mutterclans, der das Gemeinschaftsleben bestimmt, manifestiert. Die Gegenseitigkeit ist unumstößliche Regel, ohne welche die Seri in ihrer Extremsituation kaum hätten überleben können. Von ihrer Religion ist sehr wenig bekannt: Sie feiern ein ausführliches Initiationsfest für die Mädchen, bei dem das Gesicht mit symbolischen Linien bemalt wird, und der besondere Schutz ihrer Ahninnen begleitet sie dabei (Abb. 10). Die Ahninnen führen jede verstorbene Person in die Unterwelt und geleiten sie auf der Jen-
56 Giebeler: »Politik ist Männersache«; Bennholdt-Thomsen: »Gegenseitigkeit«. 57 Ted de Grazia: »Die Seri in Mexiko«, in: Bild der Völker, Bd. 4, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 176–183.
2.4 Der Lebenszyklus der Frauen von Juchitán
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Abb. 10: Jugendliche der Seri während ihres Initiationsfestes (aus: Bild der Völker, Bd. 4, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 180)
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
seitsreise, bis sie wiedergeboren wird. In der Schöpfungsgeschichte der Seri heißt es, dass zu Beginn die heiligen Tiere Schildkröte und Pelikan die Menschen aus der Unterwelt heraufbrachten. Die Schildkröte tauchte, symbolisch für die Erde selbst, aus dem Urmeer auf und gab ihnen Wohnstätte, und der Pelikan gab ihnen mütterlichen Schutz. Seine Federn und seine Haut wurden früher zu prächtigen Kleidern für die Seri-Frauen verarbeitet. Die Insel Tiburón und eine kleine, vorgelagerte Insel sind der Schildkröte und dem Pelikan geweiht, und die ältesten Muttersippen der Seri tragen noch heute die Namen dieser Tiere.58 Diese kleine, indigene Volksgruppe stellt ein weiteres Beispiel von matriarchalen Kulturen dar, die sich einst von Süden nach Norden über ganz Mittelamerika erstreckten und auf diese Weise Süd- und Nordamerika verbanden. Denn nicht weit von ihnen entfernt, in den Wüstengebieten Arizonas und New Mexikos im Südwesten von Nordamerika (Staatsgebiet der USA) liegen die Wohngebiete der PuebloKulturen, die allesamt auf Ackerbau beruhen und einstmals volle matriarchale Sozialordnung besaßen (siehe Karte 3). Heute wird die Isolation der Seri, die eins der letzten, wirklich autonomen Völker in Mexiko sind, durch mexikanische Tourismus-Projekte auf die Probe gestellt. Hotels werden an der Küste aus dem Boden schießen, ganz nahe an der Heimatinsel der Seri, was sie vor schwierige Fragen hinsichtlich ihrer Zukunft stellen wird.59
2.5
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Allgemein: • Die Einwanderung der matriarchalen Ackerbaukultur hat von Südamerika nach Mittelamerika stattgefunden, die Wanderungsbewegung ging von Süd nach Nord.
Auf der ökonomischen Ebene: • In matriarchalen Gesellschaften sind die Lebensmittel grundsätzlich in Frauenhänden, sei es, dass die Frauen selbst den Ackerbau auf dem Sippenland betreiben oder die Männer, welche die Ernte den Frauen aushändigen. Immer jedoch verarbeiten die Frauen die Lebensmittel zu Nahrung, sie gelten daher als die Ernährerinnen. • Die Wirtschaftsweise ist die unabhängige Subsistenz-Produktion. Die Frauen steuern diese lokale Ökonomie.
58 A.a.O., S. 178. 59 Bericht über die Seri von Manuel Roig-Franzia: »Ancient Tribe at a Crossroads: Mexico’s Reclusive Seri Confront the Inevitable March of Development«, in: The Washington Post, Juni, Nr. 28, 2007, S. A18.
2.5 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
77
• Frauen sind die Besitzerinnen der lokalen Märkte, auf denen sie ihre agrarischen und hauswirtschaftlichen Produkte verkaufen (städtisches Marktfrauen-Wesen). Sie managen den Nahhandel, gelegentlich auch den Fernhandel (Beispiel Juchitán). Der Fernhandel ist jedoch meist Sache der Männer. • Lokale, bäuerliche Märkte in Frauenhand und eingebettet in eine Schenke-Ökonomie sind für matriarchale Gesellschaften charakteristisch. Sie funktionieren verschieden von kapitalistischen Märkten, bei denen es um die Maximierung von Profit durch einen ungerechten Tausch geht. Bei diesen lokalen Märkten spielt das Erneuern guter, nachbarschaftlicher Beziehungen durch die Gespräche zwischen den Frauen auf dem Markt die wichtigste Rolle. • Schmuck in Gold oder anderen wertvollen Materialien, den die Frauen tragen, ist das Vermögen ihrer Sippe oder ihr eigenes aus Überschüssen, das sie zur Schau stellen. Es bringt Prestige ein, verpflichtet aber auch zu Großzügigkeit. • Bei den großen Jahreszeitenfesten oder persönlichen Verdienstfesten von Frauen (Beispiel Juchitán) werden die Güter eines wohlhabenden Clans oder einer wohlhabenden Frau an die Gäste, wie Nachbarn, Dorfgemeinschaft, verwandte Stammesgenossen, verteilt und verschenkt (Ökonomie des Schenkens). Das bringt Ehre ein, wobei unter »Ehre« die gesellschaftliche Anerkennung für pro-soziales Verhalten verstanden wird. • Der Kreislauf der Güter bei den Festen folgt perfekter Gegenseitigkeit. Diese Ökonomie beruht auf dem Balanceprinzip und verhindert, dass große wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Clans oder Familien entstehen. Der Kreislauf der Güter ist Ausdruck des gegenseitigen Hilfssystems; Akkumulation von Gütern ist kein Wert (Ausgleichsökonomie).
Auf der sozialen Ebene: • Etliche matriarchale Gesellschaften kennen die Annahme von alternativen Geschlechterrollen: Knaben können »Töchter« werden und Mädchen »Söhne«. Dieser Wechsel der geschlechtlichen Identität hängt von der Beteiligung in der jeweils anderen geschlechtsspezifischen Aktionssphäre in der Gesellschaft ab. Damit geht die Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Liebe einher. • Grundsätzlich wird, trotz dieser individuellen Wahl, die weiblich-männliche Polarität in matriarchalen Kulturen beibehalten. Auf ihr ist die Gesellschaft in allen Bereichen real und symbolisch aufgebaut, obwohl der Inhalt der beiden Pole in verschiedenen Gesellschaften unterschiedlich definiert und praktiziert wird. Die weiblich-männliche Polarität ist ein wichtiges Element in ihrer Vorstellung von der polaren Weltordnung.
Auf der kulturellen Ebene: • Die Initiationszeremonie für Mädchen ist bei allen matriarchalen Völkern das wichtigste Fest. Für Knaben gibt es keins oder kein vergleichbares Fest.
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Kapitel 2: Ausbreitung des Matriarchats nach Mittelamerika
• Beim Initiationsfest wird das Mädchen in das sexuelle, soziale, ökonomische und religiöse Wissen ihrer Gesellschaft eingeweiht, in der Regel durch die Mutter. Sie wird geehrt, weil sie durch künftige Kinder das Leben der Sippe und des Volkes weitertragen wird. • Sie erhält ihren heiligen Frauennamen, das heißt, den Namen einer Ahnin, die durch sie wiedergeboren ist. Zugleich wird sie mit ihrer Gebärfähigkeit selbst als künftige Wiedergebärerin von Ahninnen und Ahnen betrachtet. Sie gleicht der Leben schenkenden Göttin. • Ein Hochzeitsfest ist unbekannt oder hat nur sekundäre Bedeutung. In matriarchalen Gesellschaften steht nicht die Verbindung der Frau mit dem Mann im Mittelpunkt, sondern ihre Verbindung mit den Ahnenwesen und der Göttin (Initiationsfest). • Die Initiationsriten in späteren, patriarchalen Geheimbünden von Männern sind eine pervertierte Imitation der Mädchen-Initiation. Männer »gebären« dabei die Knaben in einer zweiten, spirituellen »Geburt« aus ihrem patriarchalen Geist wieder. • Die Frauen in matriarchalen Gesellschaften agieren noch heute als Hauspriesterinnen bei den Lebensstadienfesten in ihrer Familie und Sippe. Das wird auch dann fortgesetzt, wenn patriarchale Religionen über die indigene religiöse Praxis darübergestülpt worden sind (Beispiel Juchitán).
Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
für die Türkisfrau in Ost und West, Schöpferin der Welt, und für Großmutter Spinnenfrau der Hopi
3.1
Die Hopi, das »Friedliche Volk«
Die Hopi im Südwesten des nordamerikanischen Kontinents gehören zu den PuebloVölkern und nennen sich selbst »das friedliche Volk« (siehe Karte 3). Diesen Namen tragen sie zu Recht, denn trotz der Bedrängnis durch die Spanier (1540–1870) und der Unterdrückung durch die Anglo-Amerikaner (ab 1870) haben sie gegen diese Eroberer nie die Waffen erhoben. Auch gegen die beständigen Überfälle benachbarter Indianervölker, wie die Ute und Navajo-Apachen (die sich selbst Diné nennen), haben sie kriegerische Aktivitäten nur in Ausnahmefällen zur Selbstverteidigung gebraucht. Nach eigenen Aussagen »sterben sie lieber vor Hunger als im Krieg«. Sie lassen sich nur durch Freundlichkeit überzeugen, mit Zwang erreicht man bei ihnen nichts. Unbeeindruckt von Autorität haben sie der Regierung der USA hartnäckigen, flexiblen und gewaltlosen zivilen Ungehorsam geleistet, der heute in einigen Dörfern noch nicht beendet ist, um ihre alte Kultur zu retten. Zahlenmäßig wenige und arm an materiellen Gütern, in jeder Hinsicht ein kleines Volk, besitzen sie dennoch großen moralischen Mut.1 Sie gewannen diesen Mut aus ihren religiösen Überzeugungen, mit denen sie 400 Jahre lang dem Druck und den Verlockungen der weißen Zivilisation widerstanden. Seit dem Zweiten Weltkrieg jedoch wurden viele Hopi-Männer zum Kriegsdienst in der amerikanischen Armee gezwungen, und nachdem sie entlassen waren, wurden etliche von ihnen Industriearbeiter in den Städten der Weißen. So übernahmen die Hopi ab 1943 vieles aus der materiellen Kultur der Weißen, nicht immer freiwillig, denn sie wurden durch verschiedene Maßnahmen der Regierung dazu gezwungen. Daher zeigt sich das Leben der Hopi heute als eine Mischung aus Ele-
1 E. S. Curtis: »The Hopi«, in: The North American Indian, New York 1970, Johnson Reprint Corporation, Bd. 12, S. 3 (Erstausgabe 1922).
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
menten ihrer traditionellen Kultur und der amerikanischen Zivilisation. Am problematischsten ist dabei der Niedergang der eigenen Religion.2 Die Dörfer der Hopi liegen auf drei steilen, unzugänglichen Felsrippen, den Ausläufern der Hochebene der Black Mesa (Abb. 11). Die Umgebung ist die steinige Wüste des ausgedehnten Colorado-Hochplateaus (1500–3000 m), und trotz der Trockenheit des Gebietes haben die Hopi und ihre Vorgängerkulturen seit sehr alter Zeit hier Ackerbau betrieben. Es gibt an den drei Felsrippen Quellen, die vom sporadischen Regen gespeist werden, der auf die Black Mesa fällt. Gelegentliche gehen auch Sturzregen nieder, reichlich Wasser aus Wolkenbrüchen, das sich in den Wadis zwischen den Felsrippen sammelt. Die Maisfelder der Hopi liegen am Rand dieser Wasserläufe, wo das Wasser nicht mehr reißend ist, sondern im Sand versickert und die Pflanzen tränkt. Das setzt genaue Geländekenntnis und äußerst sorgfältige Verwendung des kostbaren Wassers voraus, was die Hopi bei ihrem Feldbau zu einer perfekten ökologischen Balance entwickelt haben. Ihre Saaten sind dennoch stets durch Dürre gefährdet, deshalb ist die größte Sorge der Hopi-Bauern ausreichender Regen. Dem Kommen des Regens, den guten Ernten und davon abhängig einem langen Leben sind daher alle religiösen Zeremonien der Hopi mit ihren Gebeten, Liedern und Tänzen gewidmet.3 Die traditionellen Steinhäuser der Hopi sind in der typischen Bauweise der Pueblo-Kulturen in mehrstufigen Würfeln übereinander gebaut. Früher hatten die unteren Räume für bessere Verteidigung keine Türen, sondern nur Dachöffnungen mit Leitern, die bei Gefahr eingezogen wurden. Auch die oberen Räume konnten nur über Leitern erreicht werden. Jedes Dorf hat mehrere »Kivas«, große, runde, in den Boden eingelassene Vorratsräume, in denen es im Winter warm und im Sommer kühl ist. Kivas sind zugleich die Kulträume für die heiligen Zeremonien der Männer und der Frauen. Ihre Wände sind kunstvoll bemalt, an einer Seite wird bei den Festen ein Altar aufgebaut. In den Boden eingelassen ist ein Loch, das »Sipapuni«, das den Eingang in die Unterwelt symbolisiert, und im flachen Dach ist ebenfalls eine Öffnung, durch das die »Himmelsleiter« ins Licht hinaufführt. Auf diese Weise spiegelt die Architektur der Kiva das Weltbild der Hopi mit den drei Bereichen Himmel, Erde und Unterwelt. Diese typische Pueblo-Bauweise geht unmittelbar zurück auf die archäologisch gut erforschten früheren Kulturen von Mogollon und Hohokam und die sogenannte »Anasazi«-Kultur, in deren Gebiet das von den Hopi aus historischen Gründen für sich reklamierte Land liegt. Die Hopi beanspruchen als ihr Land ein viel größeres Areal als ihr künstlich abgestecktes Reservat, das wegen der Expansion der Navajo nochmals auf ein Drittel verkleinert wurde; es liegt im Dreieck zwischen den Flüssen San Juan, Colorado und Little Colorado und reicht vom Grand Canyon im Wes-
2 Charles E. Adams/Deborah Hull: »The Prehistoric and Historic Occupation of the HopiMesas«, in: Dorothy K. Washburn (Hg.): Hopi Kachina – Spirit of Life, San Francisco-LondonSeattle 1980, California Academy of Sciences, S. 25–27. 3 Horst Hartmann: Kachina-Figuren der Hopi-Indianer, Berlin 1978, Museum für Völkerkunde, S. 29.
3.1 Die Hopi, das »Friedliche Volk«
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Abb. 11: Das Hopi-Dorf Walpi auf der ersten Felsrippe der Black Mesa (aus: Frank Waters: Das Buch der Hopi, Köln 1980, Eugen Diederichs Verlag, S. 190)
ten bis zum Chaco Canyon im Osten (Karte 4). Die Hopi betrachten die Schöpfer der Anasazi-Kultur als ihre Ahnen. »Anasazi« ist ein Navajo-Wort und bedeutet »Ahnen«; es handelt sich bei diesen Kulturen aber um die Ahnen der Hopi. In ihren
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Legenden geben sie klar die Herkunft ihrer Kultur aus dem Süden an. Das entspricht der Beobachtung, dass sie auch im Körperbau den kleineren Indigenen Mittelamerikas gleichen und dass ihre Sprache mit dem alten Uto-Aztekischen Mittelamerikas verwandt ist.4
Karte 4: Das heutige Hopi-Reservat und das Gebiet der Anasazi-Kulturen aus: Frank Waters: Das Buch der Hopi, Köln 1980, Eugen Diederichs Verlag, vorderes Vorsatzblatt, Ausschnitt)
Ab 100 v.u.Z. entwickelte sich die erste Phase der Anasazi-Kultur in der »Vierstaatenecke« zwischen Utah, Colorado, Arizona und Neumexiko. Eine lange Periode jungsteinzeitlicher Kultur ist ihr vorausgegangen, mit den Eigenschaften von halb in die Erde eingelassenen, runden Grubenhäuser und frühestem Maisanbau auf dem
4 A.a.O., S. 20; Frank Waters: Das Buch der Hopi, Köln 1980, 3. Auflage, Eugen Diederichs Verlag, S. 126.
3.1 Die Hopi, das »Friedliche Volk«
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nordamerikanischen Kontinent; sie reicht bis 2000 v.u.Z. zurück und weist ebenfalls nach Süden.5 Die erste Anasazi-Phase (ab 100 v.u.Z.) kennt noch keine Keramik, stattdessen blühte das Flechtwerk, und es wurden so kunstvolle Körbe und Flechtteller hergestellt, dass Wasser darin transportiert werden konnte. Daher nannten Archäologen sie die »Basketmaker« Culture (»Korbmacher-Kultur«). Ferner kannten diese Leute Decken aus Streifen von Kaninchenfell. Beide Künste sind weibliche Handwerke, die bis ins 20. Jh. noch von Hopi-Frauen ausgeübt wurden.6 Von 400–700 n.u.Z. wurden nachweislich Kivas als Kulträume gebaut, die der Bauweise der alten Grubenhäuser gleichen, und erste Keramik wurde hergestellt, die später immer kunstvoller weiterentwickelt und bemalt wurde. Die Künstlerinnen waren ebenfalls Frauen. Bis heute ist die Töpferei bei den Hopi ein weibliches Handwerk, das mit Namen bekannte, berühmte Töpferinnen hervorgebracht hat, wie zum Beispiel Nampeyo vom Dorf Hano.7 In der ersten der beiden klassischen Pueblo-Phasen (700–1100 n.u.Z.) wurde vom älteren Feldbau zu hochentwickelter Bodenbaukultur übergegangen, und aus den einzelnen Rundhäusern entstanden jetzt die aneinander gereihten, mehrstöckigen Pueblos. Zugleich breitete sich diese Kultur in jenem Raum aus, den die Hopi als ihr geschichtliches Gebiet bezeichnen. Die Keramik löste die Flechtkunst an Bedeutung ab und außerdem entstand die Weberei als ebenfalls genuin weibliches Handwerk. Erst in späterer Zeit ging das Weben in die Hände der Hopi-Männer über – was eine Ausnahme darstellt.8 Von 1100–1300 erreichten die Pueblo-Kulturen ihren Höhepunkt. Zahlreiche kleine Stadtsiedlungen wurden teils im freien Gelände angelegt, wie im weiten, offenen Chaco Canyon, teils in den Höhlen und Spalten von Felswänden, wie in Mesa Verde und im Canyon de Chelly (Abb. 12). Künstliche Bewässerungssysteme, die sich über mehr als hundert Kilometer hinziehen, wurden gebaut; Handwerk, Handel und Kunst blühten, das Gesellschaftsleben war reich. Kivas für die religiösen Zeremonien mit schön bemalten Wänden waren in Fülle vorhanden. Alle diese Phasen der Pueblo-Kultur hinterließen in den Fels geritzte, abstrakte und bildliche Zeichnungen im gesamten Gebiet der Anasazi-Kultur. Sie zieren die Wände von Canyons an
5 Woodbury/Zubrow: »Agricultural Beginnings, 2000 B.C.-A.D. 500«, in: Handbook of North American Indians, Bd. 15, Sturtevant/Ortiz, (Hgs.), Washington D.C. 1979, Smithsonian Institution, S. 43. 6 Hartmann, S. 20–28; Adams/Hull, S. 11; Clara Lee Tanner/John F. Tanner: »Contemporary Hopi Crafts: Basketry, Textiles, Pottery, Kachinas«, in: Washburn (Hg.): Hopi Kachina, S. 65–69, 74. 7 Dittert/Plog: Generations in Clay. Pueblo Pottery of the American Southwest, Flagstaff, Arizona, 1980, Northland Press; Frank/Harlow: Historic Pottery of the Pueblo Indians 1600 -1800, Boston 1974, New York graphic society; Philip Kopper: The Smithsonian Book of North American Indians, Washington D.C. 1986, Smithsonian Institution; Ralph T. Coe: Sacred Circles. Two Thousand Years of North American Indian Art, (Ausstellungskatalog Nordamerikanische indianische Kunst), Hayward Gallery London, London 1976, Arts Council of Great Britain; Wade/Mc Chesney: America’s Great Lost Expedition (Hopi Pottery), Phoenix 1980, Heard Museum. 8 Tanner/Tanner, S. 70/71.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Stellen, die einst als offene Naturheiligtümer dienten, dementsprechend sind die meisten Themen dieser Felskunst religiöser Art. Darstellungen von Kriegshandlungen fehlen völlig, auch hochgestellte Persönlichkeiten, wie Könige, Adlige oder eine religiöse Elite, sind nicht vorhanden. Daraus haben die Forscher geschlossen, dass die Pueblo-Kulturen ausnehmend friedfertig und egalitär waren, denn sie besaßen kein Klassen-System – ein Merkmal, das sie bis in die Gegenwart kennzeichnet.9 Diese Periode der kulturellen Blüte wurde jäh beendet durch die große Dürre von 1276–1299. Aus Regenmangel zur Abwanderung gezwungen zogen die PuebloLeute nun nach Osten, wo sie ihre Siedlungen am wasserreichen Rio Grande neu errichteten. Das Colorado-Plateau leerte sich, allein die Hopi blieben an ihren alten Wohnorten, begünstigt durch die Quellen von der Black Mesa. Ihre Siedlungen vergrößerten sich, weil sie viele heimatlos gewordene Pueblo-Indianer aufnahmen. Bis zur Ankunft der Europäer erlebte die Pueblo-Kultur bei ihnen und bei den Volksgruppen am Rio Grande eine Renaissance (1300–1600).10 Die verlassenen Gebiete der Anasazi-Kultur blieben bis ca. 1500 unbesiedelt, dann drangen die NavajoApachen mit ihrer nomadisierenden Lebensweise ein und nutzten die versteppten Böden für ihre Schafzucht.11 In allen diesen Epochen waren die Frauen offenbar die Architektinnen und Baumeisterinnen der Häuser und Pueblos. Denn die ersten spanischen Missionare bezeugen, dass – als sie sich bei den Pueblo-Indianern am Rio Grande niederließen – bis dahin kein Mann jemals seine Hand an die Errichtung eines Hauses gelegt hatte. Als ein indigener Mann von den ahnungslosen Priestern aufgefordert wurde eine Mauer zu bauen, war dieser verwirrt und bald von einer Menge von Frauen und Kindern umringt, die laut kreischten und lachten: Sie hielten es für die albernste Sache der Welt, dass ein Mann ein Haus bauen sollte! Tatsächlich sind die großen Höfe und Kirchen dieser Missionare nach ihren Berichten ausschließlich von den Frauen mit ihren Kindern gebaut worden, während es männliches Handwerk war zu weben, Feldarbeit zu machen und auf die Jagd zu gehen und notfalls zu kämpfen. Bis an den Rand der Gegenwart blieb bei den Hopi und Zuñi der Hausbau, bis auf das schwere Balkenwerk fürs Dach, reine Frauensache.12 Im Jahr 1540 fand laut Berichten der erste Kontakt zwischen den Hopi, die nun einsam weitab in der westlichen Wüste wohnten, und einer kleinen spanischen Abordnung statt, was jedoch ohne Folgen blieb. Im Jahr 1598 wurden sie dann für die spanische Krone vereinnahmt und 1629 tauchten die ersten Missionare bei ihnen auf; vier Jahre später wurde einer von diesen vergiftet. Während der Revolte der zahlreichen Pueblos am Rio Grande im Jahr 1680 wurden alle Missionare getötet. Nach dem Aufstand nahmen die Hopi die Flüchtlinge aus diesen östlichen Pueblos bei sich auf, und 1700 zerstörten sie eins ihrer eigenen Dörfer, Awatovi, und
9 F. A. Barnes: Canyon Country Prehistoric Rock Art, Salt Lake City 1982, Wasatch Publishers Inc., S. 52–54. 10 Hartmann, S. 20–28; Adams/Hull, S. 12–15. 11 Coe/Snow/Benson, S. 74, 75. 12 Robert Briffault: The Mothers, Bd. 1, S. 479.
3.1 Die Hopi, das »Friedliche Volk«
85
Abb. 12: Verfallene Pueblo-Siedlung in Mesa Verde (»Cliff Palace«) (aus: Philip Kopper: The Smithsonian Book of North American Indians, Washington D.C. 1986, Smithsonian Institution, S. 237)
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
töteten dort alle Hopi-Christen, die sich der verhassten »Sklavenkirche« der Weißen angeschlossen hatten. Gleichzeitig verlegten sie ihre Dörfer auf die Höhen der drei steilen Klippen der Black Mesa, wo vorher nur ihr ältester Ort Oraibi (gegründet 1150) hoch oben gethront hatte. Dabei folgten sie wie schon früher einem bestimmten Siedlungsmuster: Wenn ein Dorf zu groß wurde, teilte sich das »Mutterdorf«, einige Familien zogen aus um ein »Tochterdorf« zu gründen; eine dritte Siedlung übernahm die Aufgabe des »Wächterdorfes« am Aufgang zu der Mesa-Rippe. So ist auf der ersten Mesa-Rippe Walpi das Mutterdorf, Sichomovi das Tochterdorf und Hano das Wächterdorf, während auf der zweiten Mesa-Rippe die Reihenfolge Schongopovi, Schipaulovi und Mischongnovi ist. Auf der dritten Mesa-Rippe stellt Oraibi das Mutterdorf dar, Unter-Moenkopi das Tochterdorf und Hotevilla das Wächterdorf. Zwischen den Dörfern bestanden und bestehen noch immer rituelle Verbindungen, welche die genannten Relationen ausdrücken.13 An dieser geschickten Organisation scheiterten zwei Strafexpeditionen der Spanier, die den wie Trutzburgen auf den Felsen hockenden Dörfern nicht beikommen konnten. Dennoch erreichten die »Segnungen« der neuen Herren die Hopi als Pockenepidemie, so dass um 1780 nur noch 800 von ihnen übrigblieben. Viele andere von ihnen waren zu den Zuñi weggezogen, wo sie nun ihrerseits bereitwillig aufgenommen wurden. Zu Beginn des nächsten Jahrhunderts begannen die nie mehr endenden Streitereien mit den Navajo und anderen Apachenstämmen, die von Norden her in diese Gegend eingewandert waren und hier als Nomaden lebten (heute 90.000 Menschen gegenüber 5.000 Hopi). Im Jahr 1834 traten nach dem Zusammenbruch der spanischen Herrschaft die Anglo-Amerikaner als neue Herren auf, mit denen die Hopi sich von Anfang an gut zu stellen versuchten. Doch der »Schutz« der neuen Regierung bestand in der Einrichtung von einem Handelsposten, der Indianer-Agentur und einer Internatsschule für Hopi-Kinder, wo sie in der Lebensweise der Weißen unterrichtet wurden. Ein sogenannter »Stammesrat« wurde eingerichtet, den die amerikanische Regierung erfunden hatte und mit abhängigen Hopi-Führern besetzte, die sie überwachte. Die Hopi kannten eine solche Institution nicht, denn ihre Dörfer wurden als autonome Dorfrepubliken geführt. Dieser aufgezwungene »Stammesrat« funktioniert nach amerikanischem Recht und handelt über die Köpfe der Leute hinweg nach Grundsätzen, die konträr zur Hopi-Kultur sind.14 Dies alles untergrub in den folgenden 160 Jahren ihre alte Kultur, spaltete die Dörfer und amerikanisierte die Lebensweise der Menschen. Heute leben die meisten Hopi unterhalb der Mesa an der Straße in billigen amerikanischen Fertighäusern mit Elektrizität, Fernwasser und Telefon und fahren Auto. Ihr eigenes Sippenland wurde ihnen als »Privatbesitz« zurückgegeben und Steuern darauf erhoben. Die traditionellen HopiDörfer auf den Felsenrippen dienen nur noch für religiöse Zeremonien. Ihre eigene Sprache droht zu erlöschen.15
13 John Connelly: »Hopi Social Organization«, in: Washburn Hopi Kachina, S. 51–52. 14 Siehe zur jüngeren Geschichte der Hopi: Adams/Hull, S. 17–27. 15 Dies war die Situation bei meinem Besuch bei den Hopi im Jahr 1998.
3.1 Die Hopi, das »Friedliche Volk«
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Den längsten Widerstand leistete das Dorf Hotevilla mit seinen Traditionalisten, das im Jahr 1906 von Oraibi-Dissidenten gegründet wurde. Diese mutigen Leute waren heftigen Repressalien vonseiten der amerikanischen Regierung ausgesetzt, wie Gefängnis für die Führer als »Rebellen«, Entführung der Kinder und Zwangseinschulung in Internaten, Zerstörung heiliger Plätze für die unerwünschte Asphaltstraße und die überflüssigen Strommasten (1968). Dennoch hielten sie ihre traditionelle Lebensweise aufrecht und feierten ihre uralten Zeremonien weiter.16 Von 1881–1944 weilten hervorragende Ethnologen bei den Hopi, so dass für diesen Zeitraum wenigstens noch das Bild ihrer traditionellen Kultur aufgezeichnet werden konnte, die jetzt im Untergang begriffen ist. Auf diese Forschungen bezieht sich meine Darstellung der matriarchalen Sozialordnung und Religiosität dieses Volkes, ebenso auf die Aussagen traditioneller Hopi.17 – Bereits in der Architektur spiegelt die Pueblo-Bauweise der Hopi ihre matrilokale Familien- und Clanordnung. Nicht nur, dass die Häuser ausschließlich den Frauen gehören, die sie auch weitgehend selbst errichten, sondern die Wohnungen für die Töchter werden neben oder auf dem Mutterhaus angebaut. Das Ergebnis sind jene für die Pueblos typischen nebeneinander und übereinander gebauten Würfel, deren organisches, unregelmäßiges Wachstum dem Wachstum der weiblichen Clans entspricht.18 Zu dieser Form der Matrilokalität tritt die klare Matrilinearität als Namengebung in weiblicher Linie, das heißt, die Kinder gehören zum Clan der Mutter. Wenn ein Mann von »seinem Haus« spricht, meint er das Haus seiner Mutter.19 Bis zu dieser Zeit, als die spanischen Missionare die Pueblo-Leute zu beeinflussen begannen, lebten die Männer und pubertierenden Knaben nicht in den Häusern der Frauen, sondern sie arbeiteten tags auf den Feldern und schliefen nachts in den Kivas, von denen ursprünglich jeder Clan seine eigene hatte.20 Die Begegnungsform zwischen den Geschlechtern war demnach die matriarchale Besuchsehe gewesen. Diese Verhältnisse wurden von den Missionaren heftig kritisiert und schließlich abgeschafft, so dass die Hopi wie alle Pueblo-Völker mittlerweile monogam leben. Der Begriff »Vater« und die individuelle Vaterschaft des Mannes kamen damit in ihrer Kultur auf, ebenso mussten sie ein »ordentliches Familienleben« in dem Sinne führen, dass der Gatte nun statt in der Kiva im Haus der Gattin wohnt (uxorilokale Residenz). Aber sie blieben ihrem matriarchalen Erbe treu, denn der Gatte ist nach wie vor Gast im Haus der Frau, die Kinder heißen nicht nach ihm, sondern die Mutterlinie gilt. Scheidung ist leicht, ohne dem Ruf der Frau zu schaden, ihre Lebensbasis ist noch immer ihr mütterlicher Clan.
16 Siehe die Berichte von traditionellen Hopi-Ältesten in dem Film: Techqua Ikachi. Land – mein Leben, von James Danaqyumptewa (Hopi)/Anka Schmid/Agnes Barmettler, Langnau, Schweiz, 1989, 2006, MANO Produktion. 17 Diese Ethnologen sind Voth, Fewkes, Stephen, Curtis, Frau Parsons, Titiev. 18 Hartmann, S. 35. 19 Connelly, S. 55; Mischa Titiev: Old Oraibi. A Study of the Hopi Indians of Third Mesa, Cambridge, Mass., 1944, Peabody Museum of American Archaeology and Ethnology, S. 10. 20 Hartmann, S. 39; Briffault, Bd. 1, S. 511.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Dieser matriarchale Clan ist bei den Hopi die soziale Grundlage geblieben und die älteste Frau steht ihm vor. Zum Clan gehören die Matriarchin, ihre Schwestern und Brüder, ihre Töchter, bei den verheirateten Töchtern auch die Ehegatten, ebenso ihre unverheirateten Söhne, die Enkelkinder und gegebenenfalls die Ur-Enkelkinder. Die Schwestern in einem Clan ziehen die Kinder gemeinsam groß, sie werden alle von den Kindern mit demselben Wort für »Mutter« angesprochen. Erwachsene wissen manchmal nicht, welche davon die leibliche Mutter ist. Beim Tod einer Schwester adoptieren die anderen Schwestern sofort deren Kinder, was kaum eine Änderung im Haushalt mit sich bringt.21 Mehrere schwesterliche Abstammungslinien verbinden sich im Clan, und die Clanmutter, die »So’o«, ist die älteste Frau der ältesten Linie. Sie wird sehr geachtet und von ihren Töchtern unterstützt und bedient. Die Gatten der Töchter unterstützen ihre Gattinnen ökonomisch, und auf Abruf stehen auch die Brüder zur Verfügung, die in anderen Ehe-Haushalten leben. Die Clanmutter ist Anweisungs- und Ratgeberin für den ganzen Clan und garantiert seine Identität, indem sie die zeremoniellen Gegenstände und Symbole des Clans hütet. Aus ihrer Hand empfängt sie der Mutterbruder, der älteste Mann der Sippe, für die Feier der öffentlichen Zeremonie des Clans. Denn seine Aufgabe ist es, die besondere Zeremonie, die seinem Clan zugehört, auszuführen, und dafür ist er mit allen Männern seines Clans in einem Kultbund organisiert. Auf dem Dorfplatz tritt er dann als »Vater der Kachinas« auf, das heißt, der Gottheiten und Ahnenwesen des Clans, die von seinen männlichen Verwandten in einem Maskentanz auf dem Dorfplatz dargestellt werden. Es kennzeichnet die sozio-religiöse Organisation der Hopi, dass jeder Clan seine eigene Zeremonie mit besonderem Tanz im Verlauf der agrarischen Jahreszeitenfeste hat und seine eigenen medizinischen Riten für bestimmte Krankheiten besitzt. Früher war jeder Clan daher auch sein eigener heiliger Kultbund mit dazugehöriger Kiva; heute sind die Verhältnisse vermischt, denn mehrere Clans teilen sich in einen Kultbund und eine Kiva. Denn früher geschah es manchmal, dass eine Zeremonie, wenn ein Clan, dem sie zugehörte, wegen fehlender weiblicher Mitglieder ausstarb, ebenfalls erlosch. Das wurde als ernste Krise betrachtet, weil jede Zeremonie im jahreszeitlichen Zyklus der Feste notwendig war. Später wurde dieser Gefahr entgegengewirkt, indem nun mehrere Clans an je einer Zeremonie teilhaben.22 So sind die Clans durch die geteilte Verantwortlichkeit für die Zeremonien im Jahreszeitenzyklus aufeinander angewiesen, und auf diese Weise ist die Gesellschaft der Hopi nach religiösen Prinzipien organisiert. Ein Hopi-Mann bleibt im Haus seiner Gattin Gast, selbst wenn er sein ganzes Erwachsenenleben dort verbringt. Er arbeitet auf den Feldern, die ihrem Clan gehören und innerhalb des Clans nur den Frauen. Zur Erntezeit liefert er alle Feldfrüchte in die Hände der Gattin ab. Sein geistiges Zuhause bleibt der Clan seiner Mutter und Schwestern. Dorthin kehrt er häufig zurück, um mit seinen Brüdern die sippeneigene Zeremonie auszuführen und bei der Erziehung der Schwesterkinder mitzu-
21 Titiev, S. 10. 22 A.a.O., S. 103–106; Hartmann, S. 39, 45; Connelly, S. 55–56.
3.1 Die Hopi, das »Friedliche Volk«
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wirken. Solche Rechte hat ein Mann nicht bei den Kindern seiner Gattin, obwohl er mit ihnen spielt und vor allem die Knaben die praktischen Dinge des Alltags lehrt.23 Die Hauptaufgabe der Frau ist es, aus den verschiedenfarbigen Maissorten, die ihr Gatte vom Feld bringt, Maismehl zu mahlen und mit verschiedenfarbigen Maisgerichten die Familie zu ernähren. Sie gilt als die Ernährerin wie die mütterliche Erdgöttin, als deren »Milch« das Maismehl betrachtet wird.24 Mais ist deshalb eine heilige Pflanze und Maismehl eine heilige Gabe. Es ernährt aus den Händen der Frauen nicht nur die Menschen, sondern auch die Kachinas, die Gottheiten und Ahnenwesen. Daher ist Maismehl bei jeder öffentlichen Zeremonie eine notwendige Komponente, denn kein Ahnenwesen kann Segen bringen, wenn es nicht vorher von den Frauen mit Maismehl ernährt worden ist. Kein maskierter Kachina-Tänzer, der ein solches Ahnenwesen verkörpert, kann tanzen, wenn er nicht zuvor von den Frauen mit Maismehl bestreut und mit dem Zeremonialbrot »Piki« ernährt worden ist. Sogar die heiligsten rituellen Gegenstände, wie die Maske der Clangottheit und ihr »Tiponi«, eine Skulptur aus Maiskolben und Federn, werden von der Clanmutter, die sie verwahrt, mit Maismehl gefüttert, damit die Clangottheit beim entsprechenden Kachina-Tanz lebendig sein kann. Das Tiponi heißt dabei sogar »Mutter der Zeremonie«. Diese sehr geachtete Rolle als Ernährerinnen sowohl der Lebenden wie der Ahnen gibt den Frauen nicht nur im Alltag, sondern auch bei den Ritualfesten der Jahreszeiten einen hohen Status. Denn das gesamte Unterstützungssystem für die Zeremonien kommt von ihnen.25 Sie sind aber nicht nur die aktiven Sponsorinnen der Zeremonien und der Bünde der Kachina-Tänzer, sondern auch deren Beurteilerinnen und Kritikerinnen (von der Zuñi-Kultur berichtet). Bei verschiedenen Ausführungsmöglichkeiten der Tänze haben sie bestimmte Vorlieben, auf denen sie bestehen. Wenn sie nicht ihre erste Wahl durchsetzen können, dann sponsern sie die Alternativen nicht (Beispiel von den Hopi).26 Insgesamt ist die Rolle der Frauen im Zeremoniensystem der Hopi bisher beträchtlich unterschätzt worden. Männliche Ethnologen gingen hier in die Irre, indem sie die Frauen nur für »Zuschauerinnen« und »Bedienerinnen« der Tänzer hielten. Traditionelle Hopi-Männer betonen eher das Gegenteil, wenn sie sagen, dass ohne die Frauen nichts geht und dass sie alles für die Frauen tun.27 Die Hopi-Frau bestimmt auch allein über die Scheidung, ohne dem Gatten von der Ernte von ihren Feldern etwas abgeben zu müssen. Wenn sie sich von ihm trennen will, setzt sie einfach seine persönlichen Sachen vor die Tür; daraufhin kehrt er ins Haus seiner Mutter oder ältesten Schwester zurück. Jedoch missbrau23 Hartmann, S. 46; Titiev, S. 16. 24 Waters, S. 23–24; Hamilton A. Tyler: Pueblo Gods and Myths, Oklahoma 1964, University of Oklahoma Press, S. 122. 25 Titiev, S. 103; Connelly, S. 60–62; Hartmann, S. 64, 69; Barton Wright: Hopi Kachinas. The Complete Guide of Collecting Kachina Dolls, Flagstaff, Arizona, 1977, Northland Press, S. 29. 26 Charlotte J. Frisbie: Southwestern Indian Ritual Drama, Albuquerque 1978, University of New Mexico Press, S. 319–321. 27 Persönliche Information von Barmettler zur Aussage von James Danaqyumptewa (Hopi).
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
chen die Frauen ihre starke Stellung nicht, es bestehen gegenseitige Achtung und guter Zusammenhalt in den Familien. Die Rolle des Gatten, der viel zum Haushalt der Frau und damit auch der Schwiegermutter beiträgt, wird stets gewürdigt, indem die Kinder häufig Besuche bei seinen Verwandten machen. Bei der Geburt eines Kindes darf die Mutter des Mannes die häusliche Zeremonie ausführen, und der Initiationsritus für junge Mädchen, der unter anderem in einem viertägigen Maismehlmahlen besteht, findet im Hause seiner Schwester statt. Daraus entsteht jedoch keine Verwandtschaftsbeziehung zu den Kindern seiner Frau.28 Haus und Land und den alleinigen Besitz der Ernte mit der Pflicht, die lebenden und verstorbenen Mitglieder der Familie und des Clans zu ernähren, vererbt die Hopi-Frau bei ihrem Tod an die älteste Tochter.
3.2
Lebensstadienfeste und Agrarzeremonien der Hopi
Das traditionelle Leben der Hopi wird von den Festen geprägt, sie sind der Mittelpunkt ihrer Welt. Dabei sind die Feste der Lebensstadien häusliche Zeremonien und liegen in den Händen der Frauen, sie werden ausschließlich von den Frauen des eigenen Clans und denen des Clans des Gatten ausgeführt. Männer sind dabei nicht anwesend, sie ziehen sich bei den häuslichen Zeremonien der Frauen tagelang in die Kivas zurück und schlafen auch dort. Daher fehlen in den Beschreibungen der männlichen Ethnologen diese häuslichen Zeremonien der Frauen weitgehend, während den öffentlichen Zeremonien der Männer eine einseitige, übertriebene Aufmerksamkeit gewidmet worden ist.29 Die wichtigsten häuslichen Zeremonien kreisen um Geburt, Initiation der Mädchen, Brautwerbung und Tod. Bei der – mittlerweile verloren gegangenen – Initiations-Zeremonie für die Mädchen, dem »Poli-inte-veplaluwa«, wird deutlich, dass es zur Tradition der Hopi gehört, dass die Frau um den Mann wirbt, nicht umgekehrt. Denn am fünften Tag nach dem Maismehlmahlen backen die jungen Mädchen zum ersten Mal das zeremonielle Piki-Brot, während die gleichaltrigen Jünglinge auf Hasenjagd gehen. So beweisen die jungen Leute, dass sie imstande sind, selbständig für Nahrung zu sorgen. In den Dörfern auf der zweiten Mesa-Rippe gehen die jungen Mädchen gemeinsam mit den Jünglingen auf Hasenjagd, und wenn sie nicht schon vorher einen Liebhaber gefunden haben, so machen sie jetzt Jagd auf die Jäger. Haben sie einen gefangen, so beschenken sie ihren Auserwählten.30 Nach diesen Ereignissen knüpfen ihre Tanten den Hopi-Mädchen die eigentümlichen Schmetterlingsfrisuren, die »Poli-inta«, die sie bis zur Hochzeit stolz bei jeder öffentlichen Gelegenheit tragen (Abb. 13). Die Jagd auf die Jäger ist ein alter Brauch der Pueblo-Indianer; dies legt auch die Mythologie nahe, in der Frauen allgemein als erotischer gelten als Männer. In allen Werbegeschichten ist es immer der scheue Mann, der von der Frau verfolgt
28 Titiev, S. 10, 203; Curtis, S. 41; Hartmann, S. 47, 76. 29 Titiev, S. 7. 30 A.a.O., S. 203- 204; Connelly, S. 56–57.
3.2 Lebensstadienfeste und Agrarzeremonien der Hopi
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Abb. 13: Hopi-Clown mit Frauen und jungen Mädchen in Schmetterlingsfrisur (Gemälde des Hopi-Künstlers Fred Kabotie, Ausschnitt, 1940; aus: Philip Kopper: The Smithonian Book of North American Indians, Washington D.C. 1986, Smithonian Institution. S. 244)
oder aktiv eingeladen wird. Nicht selten fliehen dabei Männer auf der Jagd vor Frauen und ihren übernatürlichen erotischen Kräften, wobei Mädchen und Bräute als besonders gefährlich gelten. Die Furcht der Jünglinge vor der Hochzeitsnacht ist außerordentlich groß, und in einer Erzählung rennt der Bräutigam nach Hause zu seiner Großmutter, als die Braut Avancen macht. Da lässt die Großmutter ihn mit sich schlafen, und gestärkt durch dieses neue Wissen akzeptiert er nun die Braut.31 Nach der Initiationszeremonie kommt es meist bald zur Heirat und auch dafür ergreift die künftige Braut die Initiative. Sie tut es, indem sie sich mit einer Gabe von Maismehl zum Haus der künftigen Schwiegermutter begibt, um ihr in einer Dienstzeit ihre Fähigkeit, deren Sohn ernähren zu können, zu beweisen. Die Wahl der jungen Frau ist dabei nicht völlig beliebig, sondern Hochzeiten werden für bestimmte Clans untereinander arrangiert, die seit Generationen in einem wechselseitigen Heiratsbund stehen. Dieser Bund ist ein gegenseitiges Hilfssystem. Während die Braut dienend um die Akzeptanz der Mutter und Schwestern des künftigen Bräutigams wirbt, treten die Frauen der »väterlichen« Linie des umworbenen Mannes auf und führen das Gesellschaftsspiel auf, die Braut und ihren Clan zu schmä-
31 Curtis, 184 f; Ruth Benedict: Zuñi Mythology, New York 1969, AMS Press, (Erstausgabe 1935), Einleitung S. 21–27; Henry R. Voth: The Traditions of the Hopi, Anthropological Series, Bd. 8, Chicago 1905, Field Museum of Natural History.
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hen. Diese Verwandten väterlicherseits des Bräutigams gehören nicht zu seinem Clan, da er allein mit seiner Muttersippe als verwandt gilt. Dieses Gesellschaftsspiel mündet schließlich in eine rituelle Schlammschlacht zwischen den weiblichen Verwandten der mütterlichen Linie und denen der »väterlichen« Linie des Bräutigams. Danach bleibt das Haus der Mutter des Bräutigams in großer Unordnung zurück. Nun hat die Braut Gelegenheit ihren Fleiß zu zeigen, um auch das Einverständnis der Opposition zu gewinnen. Sie richtet alles aufs Beste wieder her, und zuletzt kommen die Frauen aus der »väterlichen« Linie des Bräutigams zurück, bringen Geschenke und stimmen ebenfalls für die Hochzeit. Auch das sind reine Frauenzeremonien, denn der Bräutigam erscheint erst beim Ritual, das die Hochzeit vollendet. Bei diesem Ritus waschen die Braut-Mutter und die Bräutigam-Mutter das Haar des Paares in Yucca-Wasser und knüpfen es zusammen, was die eheliche Verbindung symbolisiert. Danach folgen die weitaus wichtigeren Rituale der Clan-Verbindung, bei denen sich beide Clans in gegenseitiger Aktivität ihrer Allianz versichern: Der Clan des Bräutigams fertigt die Hochzeitstracht der Braut an, die Frauen stellen Garn aus Wolle und Baumwolle her und die Männer weben es zu Tuch. Diese Hochzeitstracht ist das Festgewand der Braut für ihr ganzes Leben und zugleich ihr feierliches Totenkleid, es werden ihm magische Eigenschaften zugesprochen.32 Da es sehr aufwendig in der Herstellung ist, dauert es manchmal mehrere Jahre, bis es fertig ist, und während dieser ganzen Zeit dient die Braut ihrer Schwiegermutter. Wenn die Arbeit beendet ist, wird die Braut eingekleidet und in voller Pracht zum Haus ihrer Mutter zurück begleitet, wo schon große Körbe gefüllt mit Nahrungsgaben bereitstehen. Diese sind Geschenke an den Clan des Bräutigams, um die Arbeit der Frauen und Männer zu vergüten. Öffentlich wird das gegenseitige Hilfsabkommen beider Clans bekannt gemacht und erneut besiegelt, wenn die Braut in ihrer schönen Hochzeitstracht während einer öffentlichen Zeremonie auf dem Dorfplatz erscheint. Bei allen diesen Ereignissen ist entschieden sie die Hauptperson (Abb. 14).33 Das Verhältnis zur Erotik ist bei den Hopi frei und offen, ohne falsche Scham. Jugendliche Liebesspiele gelten als natürlich, dennoch wird es nicht übertrieben; die jungen Mädchen sind zurückhaltend. Keine Frau stellt sich den Blicken der Männer zur Schau. Andererseits werden Männer, die Frauen in der Öffentlichkeit anstarren oder sich ihrer Eroberungen rühmen, sehr verachtet. Grundsätzlich gilt, dass eine Frau für jede Gunst, die sie gewährt, eine Gabe vom Mann erhält, egal ob sie jung oder älter, unverheiratet oder verheiratet ist, ob die Liebe in der Ehe oder neben der Ehe geschieht.34 Es gibt keinerlei sexuelle Gewalt gegen Frauen.35 Beim Tod wird eine Frau in ihr festliches Hochzeitsgewand gehüllt, während ein Mann in eine einfache Decke gelegt wird. Jedes Mal wird das Gesicht mit roher, bauschiger Baumwolle bedeckt, die eine Wolke symbolisiert, und Totenspeise wird hinge-
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Titiev, S. 38. Connelly, S. 57–59. Titiev, S. 205. Benedict, Einleitung S. 23.
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Abb. 14: Hopi-Braut in ihrem Festgewand (aus: Dorothy K. Washburn: Hopi Kachina – Spirit of Life, San Francisco-London-Seattle 1980, S. 59; mit freundlicher Genehmigung der California Academy of Sciences)
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
stellt. Sehr bald und ohne Umstände werden die Toten dann in Embryonalhaltung, wie ein Kind vor der Geburt, in Erdgruben bestattet. Ein Stock mit Gebetsfedern wird darauf gesteckt, so dass der »Atemleib« – was die Seele meint – hinaussteigen kann. Nach dem Glauben der Hopi werden die Toten nun leiblich in der Unterwelt wiedergeboren, wo das Leben genauso ist wie auf der Oberwelt, aber mit der umgekehrten Ordnung der Feste wie ein Spiegelbild. Nur der Atemleib der Verstorbenen ist frei beweglich, er wird zum Kachina-Geist, der in einer Wolke oder selbst als Wolke über den Himmel segelt und mit dem heiß erflehten Regen das notwendige Wasser zu den Feldern der Hopi bringt. So sind die Ahnenwesen als Wolken buchstäblich die Segenbringer für die Lebenden. Dabei fließt der Regen besonders reichlich aus den Hochzeitsgewändern der verstorbenen Frauen des Clans, den Ahninnen.36 Der Zyklus von Leben und Tod mündet durch die Wiedergeburt schließlich wieder ins Leben. In der Unterwelt entsteht eine neue Verkörperung, auch der Atemleib der Neugeborenen kommt von dort. So verkörpern sich die verstorbenen Ahninnen und Ahnen nach einer Weile in den kleinen Kindern wieder. Wie auf den Tod in der Oberwelt die Geburt in der Unterwelt erfolgt, so erfolgt auf das Weggehen aus der Unterwelt die Wiedergeburt in der Oberwelt. Dabei bleiben alle im selben Clan. In diesen Glaubensvorstellungen sind die Toten kein Verlust für die HopiGesellschaft, sondern werden mächtige Mitglieder ihrer Sippen, deren Aktivitäten nun in die Unterwelt und den Himmel verlegt sind, bis sie von dort wiederkehren.37 Sind die häuslichen Zeremonien des Lebenszyklus bei den Hopi Frauensache, so sind die öffentlichen Feste des Jahreszeitenzyklus Männersache – so scheint es zunächst. Diese Zeremonien, jeweils eine im Monat, sind ein agrarischer Festekreis mit den jahreszeitlichen Stadien des Keimens, Wachsens, Reifens, Erntens und der neuen Aussaat. Die bäuerlichen Tätigkeiten der Hopi-Männer spiegeln sich in allen Aspekten dieser Rituale; sie stellen ihr ständiges spirituelles Gespräch mit der Erde, dem Himmel, den Wolken, den Pflanzen und der Unterwelt dar. Das Herbeirufen der Ahnenwesen als Wolken, die Regen bringen, ist dabei zentral für das Überleben der Hopi in der Wüste.38 Jede dieser Agrar-Zeremonien kann, mit allen Vorbereitungen, neun bis siebzehn Tage dauern, und jeder Clan organisiert die seinige im Lauf des Jahres. Welche vorbereitenden Aktivitäten auch immer für die Feste unternommen werden, alles gehört zum Fest und wird als Gebet betrachtet: das Weben der Ritualgewänder, das Schnitzen und Bemalen der Kachina-Masken, das Herstellen der Gebetsfedern, das Fasten und Rauchen, das Singen alter Gesänge, welche die Mythologie und das Weltbild der Hopi enthalten. Dazu finden feierliche Tänze in der Kiva statt und der große Tanz am Schlusstag auf dem Platz in der Dorföffentlichkeit. Das Gebet um Wasser schließt dabei sowohl die Gottheiten, die Ahnenwesen und Kachina-Geister ein, die auf den hohen, westlichen San Francisco-Bergen wohnen, wie auch diejenigen von ihnen, die in der Unterwelt hausen.39
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Titiev, S. 38, S. 177. A.a.O., S. 171–177; Hartmann, S. 76. Titiev, ibid. A.a.O., S. 104–108, S. 171–172; Connelly, S. 60.
3.2 Lebensstadienfeste und Agrarzeremonien der Hopi
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Da die Unterwelt spiegelbildlich umgekehrt zur Oberwelt gedacht wird, sind auch die Zeremonien des Festekreises, welche die Ahnen in der Unterwelt feiern, spiegelverkehrt: Wenn auf der Oberwelt Wintersonnwende ist, dann ist in der Unterwelt Sommersonnwende; wenn auf der Oberwelt Frühlings-Tagundnachtgleiche ist, dann ist in der Unterwelt gerade Herbst-Tagundnachtgleiche, und so weiter. Für diese Daten gebrauchen die Hopi einen sehr genauen Kalender, den sie vom weiten, tischebenen Horizont um ihre Mesas an den Auf- und Untergängen von Sonne, Mond und Sternen ablesen. Bei jedem Fest wenden sie sich gleichzeitig an die Ahnenwesen in der Höhe, zum Beispiel durch den zeremoniellen Rauch, der hinaufsteigt, und an diejenigen in der Tiefe, zum Beispiel durch das Hineinrufen in das »Sipapuni«, das Loch im Boden jeder Kiva, oder durch das Klopfen auf den Boden vor Beginn des Tanzes und durch das Stampfen der Füße beim Tanzen selbst. Denn aus der Tiefe senden die Ahnen ebenfalls Wasser, das unterirdisch die Quellen speist.40 Die meisten der Ahnenwesen kommen in Gestalt der Kachina-Geister jedoch auch leibhaftig zu den Hopi, die maskierten Tänzer verkörpern sie. Die Kinder staunen sie an und glauben an deren wirkliche Anwesenheit, während die älteren Kinder und die Frauen wissen, dass unter den Masken und Kostümen die Männer der verschiedenen Clans stecken. Diese Kachina-Tänze werden ausschließlich von Männern ausgeübt, auch in den weiblichen Rollen. Denn kein Kachina kommt allein daher, jeder hat eine Mutter, Tante, Schwester und wird damit von seiner weiblichen Kachina-Sippe begleitet. Auch die einzelnen Götter, die mit den Clans verknüpft sind, werden von Männern mit Masken dargestellt, ebenso die Göttinnen. Die Tänze und Zeremonien sind allen sehr ernst, trotz mancher bewussten Komik vonseiten der traditionellen Clowns, denn die Kachina-Tänze der Männer richten sich ebenfalls als Bitte um Regen an die Ahnenwesen. Der Idee von den zwei Welten entsprechend tanzen diese verkörperten Kachinas nur ein halbes Jahr auf der Oberwelt (Dezember bis Juli), die andere Hälfte des Jahres, so glaubt man, tanzen sie in der Unterwelt (Juli bis Dezember).41 So gibt es in der zweiten Hälfte des Jahres keine Zeremonien mit maskierten Kachina-Tänzern, und die Masken werden nun von den Clan-Müttern verwahrt (Diagramm 1: Zeremonialkalender der Hopi). An die Stelle der Kachina-Tänze tritt nun ein anderer, nachweislich älterer Typus von Zeremonien.42 Die zelebrierenden Hopi, ebenfalls rituell gekleidet und geschmückt, bitten jetzt um Segen als die Menschen, die sie sind. Bei diesen Zeremonien im zweiten Halbjahr sind Frauen und Mädchen beteiligt, im Gegensatz zu den Kachina-Tänzen im ersten Halbjahr. So haben im Dorf Mischongnovi zwei Mädchen und ein Knabe einen aktiven Part in der Flöten-Zeremonie (August), bei der sie 40 Titiev, S. 103, 172–175. 41 Siehe die Gesamtdarstellungen der Jahreskreis-Zeremonien mit dem Kachina-Kult: a. a. O., S. 103–177; Curtis, S. 105–184; Waters, S. 134–250. Die beste Gesamtdarstellung der PuebloReligion und des Zeremonienwesens bei Elsie C. Parsons: Pueblo Indian Religion, 2 Bde., Chicago 1939, University of Chicago Press. 42 Siehe die Argumente für das höhere Alter der Zeremonien der zweiten Jahreshälfte bei: Curtis, S. 143, 155, 180–183; Elsie C. Parsons: »A Pre-Spanish Record of Hopi Ceremonies«, in: American Anthropologist, Bd. 42, Washington D.C. 1940, Menasha Publishing, S. 541–543.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Diagramm 1: Zeremonialkalender der Hopi (aus: Horst Hartmann: Kachina-Figuren der HopiIndianer, Berlin 1978, Museum für Völkerkunde, S.80)
Gaben auf ein Regenwolken-Symbol werfen (Abb. 15). Bei der Schlangen-AntilopeZeremonie (August) bereiten Frauen, die vollgültige Mitglieder des Schlangenbundes sind, bestimmte Medizinen zu. Die Schlange symbolisiert die weibliche Kraft gegenüber der männlichen Kraft der Antilope, wobei die Schlangen-Tänzer als machtvoller gelten als die Antilope-Tänzer, denn sie tanzen mit lebenden, gezähmten Klapperschlangen.43 Die Maraw-, Lakon- und Owaqöl-Zeremonien (September
43 Curtis, S. 137, 151; Waters, S. 232–234.
3.2 Lebensstadienfeste und Agrarzeremonien der Hopi
97
und Oktober) sind reine Frauenzeremonien mit dazugehörigen Frauen-Kultbünden, Kivas der Frauen und weiblichen Anführerinnen. Die Frauen tanzen dabei in ihren traditionellen weiß-rot-schwarzen Trachten, bestehend aus dem schwarzen Kleid und dem weiß-roten Umhang, in der Öffentlichkeit des Dorfplatzes, und diesmal schauen die Männer zu. Diese Frauen-Zeremonien sind ebenso geachtet wie die Männer-Zeremonien. Bei der Wuwuchim-Zeremonie (November) gibt es ein Neckspiel, bei dem die Frauen des Maraw-Bundes die tanzenden Wuwuchim-Männer verspotten. Die Wuwuchim-Männer geben den Maraw-Frauen das Necken zurück, doch es ist freundschaftlich gemeint. Denn die Maraw-Frauen und Wuwuchim-Männer stehen im Verhältnis eines religiösen Schwestern-Brüder-Bundes, wiederum ein Muster, das andere und ältere Verhältnisse spiegelt als die reine Männersache der Kachina-Tänze.44 Die Geheimnisse der reinen Frauenbünde sind von den Frauen gut gehütet worden, männliche Ethnologen haben darüber fast keine Informationen erlangen können.
Abb. 15: Zwei Mädchen und ein Knabe zelebrieren in der Flöten-Zeremonie (aus: J.W. Fewkes: Tusayan Flute and Snake Ceremonies, Washington D. C. 1900, Smithsonian Institution, Teil 2, S. 1005)
Ein anderer, interessanter Zug bei den Kachina-Tänzen wurde ebenfalls kaum beachtet. Weit verbreitet ist die Aufmerksamkeit bei Forschern und Sammlern für die Kachina-Figuren, sie sammeln diese kleinen Skulpturen mit Begeisterung. Hopi-
44 Titiev, S. 107, 164–170.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Männer schnitzen sie aus besonders leichtem Holz und bilden damit naturgetreu in Kleinformat das Aussehen der über 300 bekannten Kachinas nach.45 Früher haben sich die Hopi von ihren Kachina-Figuren nicht getrennt.46 Denn diese fälschlich »Puppen« genannten Figuren sind Geschenke, welche die als Kachinas tanzenden Männer nur den Frauen und Mädchen des je eigenen Clans feierlich überreichten, so erhielten diese während der Zeremonie ein kleines Abbild des großen Kachinas ihres Clans. Die Frauen bekamen sie als Gabe, um ihre Gebärfähigkeit zu erhöhen, denn in die Gebete für die Fruchtbarkeit der Erde ist die Bitte für die Fruchtbarkeit der Frauen eingeschlossen. Frauen, die eine Kachina-Figur erhielten und später ein Kind gebaren, betrachteten die Figur als »Herz des Kindes«.47 Denn jedes Kind gilt als beseelt von einem wieder verkörperten Ahnenwesen und die Frau als dessen Wiedergebärerin. Deshalb bat sie der im Tanz von einem Mann dargestellte Ahnengeist mit seinem Geschenk offenbar um die Gunst, als Kind durch sie wiederkehren zu können. Mädchen erhielten Kachina-Figuren nicht nur als Anschauungsunterricht, schon gar nicht als »Kinderspielzeug«, sondern sie wurden damit auf ihre künftige, heilige Rolle als Wiedergebärerinnen der Ahnen des Clans vorbereitet. Dieser Brauch bestätigt, dass die Frauen keineswegs nur die Zuschauerinnen, sondern die Adressatinnen der Kachina-Tänze sind. Knaben erhielten die Kachina-Figuren klarerweise nicht, stattdessen Pfeil und Bogen für die Hasenjagd. Die Frage wurde oft erhoben, wie es zu den Eigentümlichkeiten des KachinaKultes gekommen ist. Obwohl er kein Machtbund der Männer ist, sondern ein Kultbund, stellt er mit seiner Geheimhaltung und dem Ausschluss der Frauen von den Masken-Tänzen eine Verschiebung gegenüber klassisch-matriarchaler religiöser Praxis dar. Geschichtsbewusste Ethnologen weisen darauf hin, dass es diese Form des Kachina-Kultes ist, die nicht sehr alt sein kann. Das heißt, die Kachina-Verehrung als Gebet zu den Ahnenwesen ist so alt wie die Geschichte der Hopi-Kultur selbst – das dokumentieren Hopi-Legenden.48 Relativ jung dagegen ist der institutionalisierte Kachina-Kult mit seinen Maskentänzen. Denn archäologische Evidenz für ihn konnte trotz sorgfältiger Nachforschung nicht vor dem 14. Jh. gefunden werden (älteste Abbildung einer Kachina-Maske um 1350), so dass die meisten Forscher seine Entstehung in der Zeit von 1300–1400 annehmen.49 Was hat sich in dieser Zeit noch vor der Ankunft der Europäer ereignet, so dass eine alte, allgemeine Glaubensvorstellung zu einem institutionalisierten Geheimbund werden konnte? Es ist die kulturelle Phase nach der Großen Dürre
45 Vgl. die Bücher mit Fotos von gesammelten Kachina-Figuren: Dorothy K. Washburn (Hg.): Hopi Kachina – Spirit of Life, San Francisco, London, Seattle 1980, California Academy of Sciences; Wright: Hopi Kachinas. The Complete Guide; Hartmann: Kachina-Figuren; Barton Wright/Clifford Bahnimptewa (Hopi): Kachinas: a Hopi artist’s documentary, Flagstaff, Arizona, 1973, Northland Press. 46 Hartmann, S. 92. 47 A.a.O., S. 9, 91; Frederik J. Dockstader: The Kachina and the White Man, Michigan 1954, Cranbook Institute of Science, Bd. 35, Bloomfield Hills, S. 97. 48 Dockstader, S. 10–11, 54–55. 49 A.a.O., S. 12–60, insbesondere S. 40; Wright, S. 8; Hartmann, S. 64–66; Adams/Hull, S. 16.
3.2 Lebensstadienfeste und Agrarzeremonien der Hopi
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(1276–1299), in der es tiefgreifende Veränderungen in der Pueblo-Kultur insgesamt gab. Das große Gebiet des Colorado-Plateaus entvölkerte sich, Pueblos wurden am Rio Grande neu gegründet, und die Hopi-Siedlungen, besonders Oraibi als der älteste und wichtigste Ort, erlebten durch Zuwanderer einen raschen Anstieg der Bevölkerung. Der steigende Bevölkerungsdruck ging einher mit durch die Dürre verursachter Knappheit des Quellwassers und der drohenden Austrocknung der von den Wadis getränkten Felder. In einer solchen Stress-Situation wurde offensichtlich die Rolle der Häuptlinge wichtiger, denn die Wasservorräte mussten kontrolliert werden. Die Kivas, die schon lange vorher als Männerhäuser dienten, fungierten jetzt als Häuptlingszentren, von denen die Verteilung der Felder und der Wasserrechte geregelt wurden. Es entstand eine neue, männliche Autorität in den einzelnen Dörfern, wobei Oraibi eine zentrale Stellung einnahm. Damit einher ging eine gewisse Schichtung der Gesellschaft in alte, angesehene Häuptlings-Clans und neu angekommene, abhängige Clans.50 Die Autonomie jedes einzelnen Dorfes, das je seine eigene Dorfrepublik darstellt, blieb jedoch bis heute gewahrt. Diesen organisatorischen Neuerungen verlieh ein institutionalisierter KachinaKult, der gleichzeitig entstand, Nachdruck, denn nun traten die Ahnengeister höchstpersönlich auf, als Regenbringer und moralische Gesetzgeber. Typischerweise erschienen zu Beginn des maskierten Kachina-Kultes nur sehr wenige Gestalten, die »Kachina-Häuptlinge«, und es liegt auf der Hand, dass diese nur durch die Häuptlinge selbst verkörpert werden konnten und bis heute können. Ihre Rituale wurden nur gelegentlich, abgrenzend und geheim praktiziert. Sie machten dann durch ihr öffentliches Erscheinen die neuen Regelungen zum Gesetz, und noch heute gelten diese alten Kachinas als sakrosankt.51 Die bunte Fülle der jüngeren Kachinas wurde erst im Verlauf des 19. Jhs. erfunden und es kommen immer noch neue hinzu.52 Dass sich diese Tendenzen nicht zu patriarchalen Mustern weiterentwickelten, mag paradoxerweise auf die nachfolgende Unterdrückung durch die weißen Eroberer zurückgehen. Deren Missionierungspolitik trieb den Kachina-Kult zwar verstärkt in die Geheimhaltung in den Kivas, aber nicht länger vor dem eigenen Volk, sondern nur gegenüber Außenstehenden. Im passiven Widerstand, den die Hopi den weißen Unterdrückern entgegensetzten, hat sich der Kachina-Kult offenbar als ein starker Rückhalt der eigenen kulturellen Identität für das ganze Volk bewährt. Außerdem bringen die Kachina-Tänze durch ihre Farbenpracht und die künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten sowohl den Tänzern wie den Zuschauenden Freude, was sicherlich zur schnellen Weiterentwicklung dieses Kultes beigetragen hat. Bei den Zeremonien durch das agrarische Jahr hindurch agiert, wie wir gesehen haben, jeder Mann zusammen mit seinen Clanbrüdern als Priester. Ebenso agiert jede Frau bei den Festen der Lebensstadien zusammen mit ihren Clanschwestern als Priesterin. Die Hopi kennen deswegen keinen besonderen Berufsstand des Priesters oder
50 Adams/Hull, S. 14–17. 51 Ein Beispiel dafür ist »Eototo«, der Häuptling der Kachinas, und sein ihn begleitender Leutnant »Aholi«. 52 Dockstader, insgesamt, besonders S. 10–11, 39, 55; Hartmann, S. 66–69.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
der Priesterin. Diese allgemeine, spirituell-religiöse Haltung gilt nicht nur für die Feste, sondern auch im Alltag. Jede alltägliche Handlung ist symbolisch und wird zu einem kleinen Ritual, zum Beispiel wenn ein Mann auf dem Feld die Maissamen in die Erde legt, befruchtet er damit Mutter Erde, die er gleichzeitig mit dem Säen verehrt; oder wenn eine Frau Maismehl mahlt und damit ihre Familie ernährt, wird sie als ein Abbild der Erdmutter betrachtet, denn das Maismehl gilt als Milch aus den Brüsten der Göttin. Da die gesamte Welt mit allen ihren Erscheinungen und Wesen als heilig aufgefasst wird, gibt es keine Handlung, die nicht gleichzeitig Gebet und Ritual ist – das üben die Hopi bewusst aus und praktizieren es täglich. So betrachtet ist es nicht verwunderlich, dass die Feste und Zeremonien der Mittelpunkt des Lebens der Hopi sind und dass die soziale Verschränkung der Clans untereinander den Zeremonien im Jahreskreis entspricht. Das zeigt den religiösen Charakter der Organisation jeder Dorfgemeinschaft und spiegelt, zusammen mit den anderen Eigenschaften, den sakralen Charakter der Hopi-Gesellschaft insgesamt. Sie ist daher ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, wie Matriarchate als sakrale Gesellschaften aussehen.
3.3
Gottheiten und Mythologie der Pueblo-Indianer
Das gesamte Zeremonienwesen der Hopi mit dem sehr detaillierten Zeremonialkalender ist sehr alt. In der Forschung wurde nachgewiesen, dass es bis in Einzelheiten des rituellen Ablaufs zum Kalender und Zeremonialwesen der altmexikanischen Kulturen, insbesondere der Maya, parallel ist.53 Das erweist eine interessante Verbindung nach Süden. Wir können daher schließen, dass die bäuerlichen Völker, die Unterschicht, auf deren Rücken die altmexikanische, dynastische Herrscherschicht ihre verschiedenen Reiche aufbaute, wie das Reich der Maya und das Reich der Tolteken, ihre ursprünglichen, matriarchalen Muster immer beibehalten haben. Am Beispiel der Hopi können wir uns ihr Leben gut vorstellen. Die plötzlichen Zusammenbrüche und Untergänge der patriarchalen Stadtstaaten der Maya und Tolteken haben wohl immer wieder zum Auszug von großen Teilen dieser Bauernbevölkerung aus den zentralisierten Gebieten geführt. Vielleicht verursachten die einfachen Leute den Kollaps dieser Städte sogar, indem sie, wenn ihnen der patriarchale Druck der Herrscher zu hart wurde, in großen Sippenverbänden einfach wegzogen – eine typische Methode matriarchalen Widerstands. Ihre Wanderungsbewegung kann von Süden nach Norden verfolgt werden. Die Pueblo-Kulturen stellen den nördlichsten Außenläufer dieser Wanderungsbewegung der matriarchalen Kultur von Mittelamerika dar, und bei ihnen haben sich patriarchale Reiche nie entwickelt. Ihre tiefe, spirituelle Überzeugung führte die Pueblo-Kulturen dazu, ihr Leben so einfach zu führen, wie es ihre bäuerlichen Ahninnen und Ahnen durch die Jahrtausende vorher getan hatten.
53 Richard M. Bradfield: A Natural History of Associations. A Study in the Meaning of Community, Bd. 2, London 1973, Duckworth, S. 414–435.
3.3 Gottheiten und Mythologie der Pueblo-Indianer
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Auf diese geschichtliche Situation weisen die Mythen der Pueblo-Völker verschlüsselt hin. So beginnt die Hopi-Mythe der Erschaffung der Menschen mit einer weiten, wunderbaren Unterwelt, aus der die Menschen allmählich durch mehrere Weltsphären heraufgestiegen sind. Es gibt sieben Weltsphären, die von unten nach oben führen, und drei dieser Sphären hat die Menschheit schon durchschritten, während sie in der vierten lebt. Die Übergänge von einer Sphäre in die nächste gehen jedoch nicht leicht vonstatten, sondern führen jedes Mal durch Katastrophen, die alles vernichten. Die Ursache dafür ist die moralische Verdorbenheit der Menschheit am Ende jeder Weltsphäre, denn Macht, Gier und Herrschsucht haben von ihnen Besitz ergriffen; sie bauen Städte und Reiche und verlassen den Weg der Einfachheit. Deshalb gingen alle Weltsphären bisher zugrunde, nur eine winzige Gruppe demütiger, spiritueller Leute überlebte und wurde auf geheimnisvolle Weise in die jeweils höhere Welt gerettet. Bei den Rettungen halfen ihnen die bescheidensten Wesen, wie die Ameisen oder das Schilf, weil diese Menschen sie nicht verachteten. Die große Helferin aber ist, gemäß der traditionellen Hopi-Mythologie, »Kokyan-wuhti«, Großmutter Spinnenfrau, die weise Uralte, die Schöpferin und Geleiterin der Menschheit.54 In der Weltschöpfungsmythe der Hopi heißt es, dass die uferlose, wunderbare Unterwelt am Anfang ein einziges Meer war. Am Grunde dieses Urozeans wohnten weit im Osten eine Göttin und weit im Westen eine Göttin in ihren Kivas. Wenn die beiden Schwester-Göttinnen sich besuchen wollten, reisten sie über den Regenbogen zueinander. Aus dem flüssigen Zustand des Anfangs schufen diese Göttinnen die ersten festen oder harten Substanzen, wie Muscheln, Perlen, Korallen und Türkise. Zusammen sind sie als »Türkisfrau« bekannt, was zeigt, dass es sich um eine einzige Schöpferin mit zwei verschiedenen Gesichtern handelt. Auch der Himmel ist ihr Reich, denn man stellte ihn sich als Himmelsozean vor, und auch dorthin setzte die Türkisfrau die ersten festen Dinge, den Mond und die Sterne. Als uranfängliche Schöpferin trägt sie deshalb den Namen »Hurung-wuhti«, das heißt: Göttin der harten Substanzen, denn durch ihr Handeln schuf sie alles – aber nicht durch Geburt, sondern durch ihren spirituellen Atem.55 Als Türkisfrau des Ostens pflegt sie eine graue und eine gelbe Fuchshaut an der Spitze der Leiter, die aus ihrer Kiva ragt, aufzuhängen. Als Türkisfrau des Westens an der anderen Seite des Ozeans hängt sie eine große Rassel aus einem Schildkrötenpanzer auf. Jeden Morgen hüllt sich die Sonne, wenn sie aus der Kiva der Türkisfrau des Ostens aufsteigt, in die graue Fuchshaut, trägt am Mittag die gelbe Fuchshaut und steigt am Abend, die Schildkrötenrassel berührend, in die Kiva der Türkisfrau des Westens hinab. Das bedeutet wohl, dass die Sonne jeden Morgen als eine harte Substanz von der Göttin neu geschaffen wird, die sie jeden Abend wieder zurücknimmt.56
54 Hamilton A. Tyler: Pueblo Gods and Myths, Oklahoma 1964, University of Oklahoma Press; Paula Gunn Allen (Keres, Laguna Pueblo): The Sacred Hoop: Recovering the Feminine in American Indian Traditions, Boston 1986, 1992, Beacon Press. 55 Allen, S. 14. – Sie übersetzt den indigenen Begriff »Hurung-wuhti« selbst im Englischen als »Hard Beings Woman«, zu Deutsch »Frau/Göttin der harten Substanzen«. 56 Tyler, S. 37.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Das erste trockene Land, das aus dieser Unterwelt auftauchte oder von der Göttin der harten Substanzen geschaffen wurde, war von Anfang an von Kokyan-wuhti, der Großmutter Spinnenfrau, bewohnt. Sie ist gemäß der Mythologie eine andere Urgöttin oder eine Emanation der Schöpferingöttin. Aber die Sonne konnte sie von oben nicht sehen, da die Spinnenfrau in ihrer unterirdischen Kiva verborgen lebte. So berichtete die Sonne der doppelten Türkisfrau, die Erde sei unbewohnt. Da beschloss diese als Türkisfrau des Ostens und als Türkisfrau des Westens Vögel, wilde Tiere und Menschen zu schaffen, jeweils in den Gegenden weit im Osten und weit im Westen. Die Spinnenfrau in der Mitte zwischen Ost und West beschloss dasselbe. Also schufen diese drei göttlichen Frauen – oder die dreifache weibliche Schöpferin – in den verschiedenen Weltregionen alle Arten von Lebewesen und die verschiedenen Menschenarten und lehrten sie verschiedene Sprachen.57 – Wir erkennen an dieser interessanten Mythe, dass nach ältester Auffassung nicht nur die Weltschöpfung eine weibliche Handlung war, sondern dass die Kivas offenbar Göttinnentempel gewesen sind. Während die Türkisfrau in beiden Gestalten sich nach der Schöpfung zurückzog, begleitete Großmutter Spinnenfrau die Menschen als Helferin durch ihre ganze Geschichte und wurde so die wichtigste Göttin der Pueblo-Kulturen. Denn sie ist auch die Mutter der anderen Gottheiten und hat fast unbegrenzte Macht. Sie ist in vielen Mythen prominent und erscheint manchmal in Menschengestalt, manchmal in Spinnengestalt. Als Spinne sitzt sie hinter dem Ohr von denen, die sie durch alle Gefahren begleitet, und berät sie fortwährend, wie zum Beispiel jenen Knaben Tiyo, den sie zur Kiva der Türkisfrau des Westens führte. Dort erlernte er die Schlangen-Zeremonie, die als eine der ältesten Zeremonien der Pueblo-Völker gilt.58 Die Spinnenfrau wird noch immer in Gebeten angerufen. Ihre große Macht als Lebensschöpferin geht darauf zurück, dass sich hinter ihr eine archaische Unterweltgöttin verbirgt. Als diese ist sie immer auch Schicksalsgöttin, denn »sie hält alle Atemseelen bei sich, die guten und die schlechten, sie schafft alle Ereignisse, sie weiß alles auf der Welt.«59 Sogar für die heutigen Frauen und Männer der Pueblo-Kulturen ist die Spinnenfrau eine zentrale Gestalt; sie erscheint als spirituelle Macht ebenso in Romanen, die auf traditionellem Denken und Ritualen beruhen.60 – Ihre Gestalt verweist auf die Mondgöttin »Ixchel« in der Mythologie der Maya, die auch Schöpferin des Lebens ist. Wie die Spinnenfrau ist Ixchel die Alte, die Großmutter und Beschützerin der Menschheit, sie spinnt die Fäden des Lebens und webt das Netz des Schicksals. Bei den MayaFrauen war Weben eine heilige Beschäftigung, und bevor die Hopi-Männer diese Kunst übernahmen, galt dies genauso für die Hopi-Frauen.61 57 Harry C. James: Pages from Hopi History, Tuscon, Arizona, 1974, University of Arizona Press, S. 1–2. 58 A.a.O., S. 18–22; Curtis, S. 105, 143, 155. 59 Tyler, S. 132; Bradfield, S. 431. 60 Zum Beispiel bei: Paula Gunn Allen: The Woman who owned the Shadows, San Francisco 1983, Spinsters/Aunt Lute (Wiederabdruck 1994); Leslie Marmon Silko (Keres, Laguna Pueblo): Ceremony, New York 1977, 2007, Penguin Books. 61 Bradfield, S. 430–431.
3.3 Gottheiten und Mythologie der Pueblo-Indianer
103
Die Türkisfrau und die Spinnenfrau werden nicht in den Kachina-Tänzen der Hopi verkörpert, sie gelten als zu heilig und zu umfassend. Stattdessen tritt »Hahai-wuhti«, die Erdmutter, in den Tänzen auf, sie ist ebenfalls eine alte Frau und gilt als Mutter aller Ahnenwesen und Geister. Sie trägt dieselbe schöne Ritualtracht wie jede erwachsene Hopi-Frau, in ihren Händen bringt sie Wasser und Maiskolben herbei (Abb. 16 a). Sie ist lebhaft und humorvoll, spricht mit Fistelstimme und bespritzt die Zuschauer mit Wasser, dem Elixier des Lebens. In einer Kiva-Zeremonie füttert sie die mythischen Wasserschlangen mit Maismehl, das als ihre Milch gilt, oder säugt sie manchmal an ihrer Brust. Wasser und Mais sind die Quellen des Lebens, beide kommen von der Erdmutter, so ist sie die Ernährerin aller Geistwesen und Menschen.62 Ihr nahe steht »Angwus-hahai«, die Krähenmutter, die als Mutter der Kachinas angesehen wird (Abb. 16 b). Sie schützt gegen Winterende (Februar) die jungen, keimenden Pflanzen in den Kivas und initiiert damit das Wachstum und die Fruchtbarkeit für das kommende Jahr. Ebenso initiiert sie die jungen Menschen, nämlich die älteren Hopi-Kinder in den Kachina-Bund, indem sie diese über das wahre Wesen der Kachinas belehrt. Zuletzt führt sie eine der größten Versammlungen von Kachinas im ganzen Festjahr der Hopi an, die öffentlich auf allen Dorfplätzen erscheinen und Geschenke verteilen.63
Abb. 16 a/b: Hahai-wuhti, die »Erdmutter«, und Angwus-hahai, die »Krähenmutter«, verkörpert als Kachina-Masken (Zeichnungen des Hopi-Künstlers Bahnimptewa, aus: B. Wright/C. Bahnimptewa: Kachinas: a Hopi artist’s documentary, Flagstoff-Phoenix 1973, Northland Press, S. 60 und 23)
62 Wright/Bahnimptewa, S. 60; Hartmann, S. 132. 63 A.a.O., S. 23; Hartmann, S. 84.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Eine weitere wichtige Göttin ist »Salako-mana«, das Maismädchen, eine mythische Jungfrau, die den Hopi den Mais und alle anderen Pflanzen gebracht hat. Sie ist bei allen Pueblo-Indianern auch als Maismutter bekannt, die in der Unterwelt wohnt, wo sie die Verstorbenen empfängt. Sie weilte nur kurz auf der Oberwelt und lehrte dort die Menschen die Kunst des Ackerbaus. Um die Dörfer bereitete sie Felder in jeder Himmelsrichtung vor und pflanzte dort Stücke ihres Herzens ein, daraus wuchs der Mais empor. Sie sprach: »Dieser Mais ist mein Herz, und er soll für mein Volk wie Milch aus meinen Brüsten sein«. Sie wird in den Ritualen nicht dargestellt, denn jeder Maiskolben verkörpert sie unmittelbar. Da jedes Tiponi, das rituelle Zeichen eines Clans, aus einem Maiskolben gebildet ist, wird es in Gebeten als »Mutter des Volkes« und »Jungfrau von der Erde« angesprochen.64 Eng mit den Vorstellungen um die Erdgöttin und die Maismutter verknüpft ist die Gestalt des Gottes »Masau’u«. Er ist äußerst vielseitig und beeinflusst das Leben der traditionellen Hopi mehr als jeder andere männliche Gott. Er bleibt das ganze Jahr über bei den Menschen: In der ersten Hälfte des Jahres steigt er als ein schöner, junger Mann aus der Unterwelt herauf und bringt das Leben auf die Oberwelt, er ist dann Gott des Lebens. In der zweiten Hälfte des Jahres holt er das Leben in die Unterwelt zurück und ist dann Gott des Todes, verkörpert als schwarzer Mann mit einer blutigen, grotesken Totenkopf-Maske. Als Herr des Feuers und der Totengeister erscheint er als Wohltäter und Todbringer zugleich.65 Die Hopi begegneten Masau’u zum ersten Mal, als sie durch ein dünnes Schilfrohr aus der Tiefe in die vierte Weltsphäre hinaufkrochen, gerade eben aus der Katastrophe der dritten Weltsphäre gerettet. Als das enge Loch endete und sich zu einer kargen Landschaft hin öffnete, da saß er oben und bot ihnen nur das an, was er selbst besaß: einen Pflanzstock und den kleinsten Maiskolben. Er hieß sie nur unter der Bedingung willkommen, dass sie in Frieden und Einfachheit leben wollten wie er. Die Hopi willigten ein, da verbarg er sie vor dem Zorn der Götter und gab ihnen dieses Land in der Vierten Weltsphäre.66 Als Schützer der Erde und Hüter der Fruchtbarkeit hatte er die Macht dazu. So kann er nachts einen Feuerring um die Felder schaffen, der die Pflanzen so sehr wärmt, dass sie in einem Tag hoch aufwachsen. Außerdem kennt er alle Magie, kann die Gestalt wechseln und zeigt sich sogar androgyn. In seinem paradoxen Wesen kann er zugleich heilen und zerstören. Alles, was er berührt, transformiert er und wandelt es ins Gegenteil um. Bei Tag ist er blind, nachts geht er umher. Die Hopi fürchten ihn und lieben ihn, denn Masau‘u ist wie der Tod überall, aber sie bitten ihn um langes Leben.67 –
64 65 66 67
Wright/Bahnimptewa, S. 249; Tyler, S. 121–123, 132. Hartmann, S. 235–236; Tyler, S. 3–5. Tyler, S. 6–8; James, S. 2–8; siehe auch die Aussagen traditioneller Hopi in: Techqua Ikachi. Tyler, S. 3–36; James, S. 18. – Mit allen diesen Zügen ist Masau‘u der Magier, der Gestaltwandler- und »Trickster«-Gott, wie er in vielen Varianten in analogen Mythenmustern in Europa, Afrika und Asien als der ursprüngliche Partner der alten Erd- und Unterweltgöttin vorkommt. Vgl. dazu für Europa: Heide Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros. Die matriarchalen Religionen in Mythen, Märchen, Dichtung, Stuttgart 2011, Kohlhammer Verlag, S. 152–153.
3.3 Gottheiten und Mythologie der Pueblo-Indianer
105
Die Pueblo-Völker am Rio Grande waren mittlerweile christianisiert worden, was die Hopi bis heute erfolgreich verhindert haben. Dennoch praktizieren die christlichen Pueblo-Indianer am Rio Grande das Christentum und ihren alten Glauben parallel, so besuchen sie gleich nach dem Kirchgang am Sonntag die Kiva und üben dort die alten Rituale aus. Ihr traditioneller Glaube mit den Zeremonien hat sich daher als verborgene Subkultur teilweise bis heute erhalten. So kennen die Keres, die in den Pueblos Laguna und Santo Domingo am Rio Grande wohnen, in ihren traditionellen Mythen die große Schöpferingöttin »Tse che nako«, das heißt: Denkende Frau. Von ihr heißt es, dass sie alles erschaffen hat, nicht durch physische Geburt, sondern durch die Energie ihrer Gedanken. Sie brachte alles hervor, indem sie es benannte, und sie schuf Sprache und Gesang. Sie verkörpert das Denken selbst und ist die weibliche Geisteskraft, die »Geistin«, die notwendige Voraussetzung für alle materielle Schöpfung. Danach brachte Denkende Frau die Zwillingsschwestern »Uretsete« und »Naotsete« in die Welt, indem sie ihre Medizinbündel besang, welche die Lebenskraft der Schwestern enthielten. Das Lied gab den beiden den Atem, die Seele und das Leben, so wurden sie geboren. Auf dieselbe Weise schufen danach die Zwillingsgöttinnen alle Lebewesen aus deren eigenen Medizinbündeln, sie brachten sie durch ihren Gesang ins Leben. So pflanzten sie auf spirituelle Art die Bäume auf die Erde, ließen die Tiere frei und wurden die wirklichen Mütter der Menschheit.68 »Iyatiku« ist die Erdmutter und »Irriaku« die Maismutter der Pueblo-Leute, sie stehen einander nahe. Die Maismutter ist in jedem wohlgeformten Maiskolben verkörpert, sie verbindet durch ihre Kraft die Menschen mit dem Herzen der Erdmutter. Gleichzeitig geleitet Mutter Erde ihr Volk spirituell auf der Lebensreise. Mythen erzählen, dass sie einstmals persönlich mitten unter den Menschen zu erscheinen pflegte, um sie Eintracht und Frieden zu lehren: Denn ohne Frieden könne nichts aus ihrem Körper wachsen! Später kehrte sie in ihre Unterwelt zurück, wo sie nun die Verstorbenen in ihrem Zuhause empfängt.69 Varianten dieser mythischen Göttinnen finden sich vom Rio Grande im Osten bis zum Hopi-Land im Westen. Auch die Zwillingsgöttinnen Uretsete und Naotsete erscheinen nicht bei jedem dieser Völker gleich, von Pueblo zu Pueblo wechseln sie ihr Geschlecht. So sind es am Rio Grande noch zwei Schwestern, weiter westlich ein Bruder und eine Schwester, und bei den Hopi erscheinen sie als Zwillingsbrüder.70 Diese Erscheinungen gehören noch zur traditionellen Pueblo-Kultur, aber das Bild änderte sich drastisch mit der Ankunft der christlichen Missionare. Nun wurden die Urgöttinnen vermännlicht oder durch einen einzigen männlichen Schöpfer ersetzt, um ins patriarchal-europäische Weltbild zu passen. Die Vorstellung vom »Großen Geist« überlagerte auf diese Weise das vielfältige Bild der Schöpfergöttinnen – da Schöpfung aus reinem Geist im Patriarchat nur männlich sein kann. Eine andere Vorstellung ist die von »Vater Himmel« und »Mutter Erde«, deren Vereinigung alle Lebewesen erschuf; sie wird als indigen ausgegeben, ist aber ebenfalls eine christlich beeinflusste
68 Gunn Allen: The Sacred Hoop, S. 13–14, 27–28. 69 A.a.O., S. 18–22. 70 Tyler, S. 116–119 und 125.
106
Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Version der Schöpfung.71 Sie widerspricht der traditionellen matriarchalen Vorstellung, nach der allein die weibliche Energie im Universum wirkt und mit der Kraft ihrer Gedanken und ihres Herzens, das heißt, ihrer Kreativität und des weiblichen Schoßes, alles Geistige und Materielle auf die Welt gebracht hat. – In den Herkunftssagen der Hopi gibt es noch einen interessanten Hinweis. Es ist davon die Rede, dass ihr Volk von Süden eingewandert sei. Damit stimmt die archäologische Evidenz überein, welche die Einführung der ersten Ackerbaukultur mit Mais und Squash um 2000 v.u.Z. und auch die späteren Pueblo-Kulturphasen als von Mexiko herkommend bestätigt.72 Ferner leben in Mexiko heute noch Stämme, die mit den Hopi verwandt sind, wie die Tarahumara auf dem Sierra MadrePlateau im Nordwesten Mexikos (siehe Karte 3). Die Hopi selbst betrachten die Tarahumara und auch die geschichtlichen Maya als Hopi-Clans, die auf ihren großen Wanderungen, die sie an die vier Enden der Welt führten, zurückgeblieben sind.73 Gemäß den Hopi-Legenden fand diese große Wanderung statt, nachdem die Hopi aus der Tiefe durch das dünne Schilfrohr in der Vierten Weltsphäre angekommen waren. In alle vier Himmelsrichtungen zogen nun die Clans und hinterließen dort, wo sie hinkamen, Wegmarken als Ritzzeichnungen an den Felsen. Man findet diese Zeichen tatsächlich in der ganzen Reichweite der Anasazi-Kultur. Auf diese Weise kennzeichneten sie ihr Land, das sie im Sinne der Gesetze von Masau’u kultivieren wollten. Auch die Mythe von Masau’u und andere Mythen wurden zum ewigen Gedenken in die Felsen graviert – man sieht sie dort noch heute.74 Hierbei scheinen auf der Suche nach fruchtbarem Boden, ausreichendem Wasser, jagdbarem Wild und Schutz vor Feinden die Clanmütter die einzelnen Clans selbst angeführt zu haben. Der Hopi-Häuptling Yukeoma berichtete, dass jeder Clan von seiner »So’o-wuhti«, der Clanmutter, geführt worden sei und sich vollständig auf deren Weisheit bei der Landsuche verlassen habe. Er sagte noch, dass seitdem die Frauen eine so bedeutende Rolle im Leben der Hopi spielen.75 – Nun, diese bedeutende Rolle spielten sie schon vorher. Wie auch immer, das Urzeit-Gedächtnis des Hopi-Volkes, das in den Legenden aufbewahrt wurde, ist erstaunlich. Sie haben nicht nur Sagen, welche die Wanderung eines jeden Clans während der Vierten Weltsphäre mitsamt der Zeremonie, die er dabei gewann, beschreiben, sondern in ihren Mythen werden auch die vorhergegangenen drei Weltsphären detailreich dargestellt. Es heißt, dass in der fernen Zeit der Dritten Weltsphäre die Menschen über einen weiten Ozean ostwärts fuhren, ehe sie das feste Land dieser Vierten Weltsphäre fanden. Mit Booten und Flößen fuhren sie von Insel zu Insel, doch jedes Mal wenn sie bleiben wollten,
71 Gunn Allen: The Sacred Hoop, S. 15, 22, 41. 72 Woodbury/Zubrow, S. 43. 73 Waters, S. 126–128; M. Marten: »Die Tarahumara in Mexiko«, in: Bild der Völker, Bd. 4, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 184–191. 74 Persönlicher Augenschein und Kommunikation mit Hopi. Siehe ebenso die Aussagen traditioneller Hopi in: Techqua Ikachi. 75 James, S. 9.
3.4 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
107
hinderte Spinnenfrau, ihre göttliche Ratgeberin, sie daran. So reisten sie weiter und segelten in Richtung der aufgehenden Sonne, bis sie schließlich Land erblickten: eine Küste aus einer Wand von Bergen, die sich von Norden bis Süden vor ihnen erhob, soweit das Auge sehen konnte. Sie fuhren an dieser Küste entlang, bis sie einen Platz zum Landen finden konnten. Als sie schließlich in das Gebirge hinaufstiegen und übers Meer zurückblickten, sahen sie alle Inseln, über die sie während ihrer langen Reise gekommen waren, wie Trittsteine im Ozean liegen. Aber noch während sie schauten, versanken die Inseln im Meer. – Dies muss eine uralte Überlieferung sein, denn sie weist darauf hin, dass die Vorfahren dieser Völker über die Inseln des Pazifik in Booten und Flößen kamen und schließlich den amerikanischen Kontinent erreicht haben, den sie allmählich von Süden nach Norden besiedelten. Sie beschreibt ein Geschehen, dass um Jahrtausende zurück liegt. Doch diesen Bericht enthält auch das »Popul Vuh«, das heilige »Buch des Rates« der Maya. Vom Kulturgebiet der Maya kamen die Hopi nach Norden und brachten diese Tradition mit.76 Damit bestätigen die ältesten indianischen Überlieferungen, dass einige matriarchale Kulturen von Südostasien über den Pazifik Süd- und Mittelamerika erreichten und von dort aus die Kulturwanderung langsam nach Norden ging. Die Überquerung des Ozeans in dieser mythischen Überlieferung hat dabei in sehr früher Zeit noch vor den polynesischen Kriegerhäuptlingen stattgefunden.77 Vielleicht verbirgt sich darin eine noch viel ältere menschheitliche Erinnerung, die nicht einem bestimmten Volk zugeordnet werden kann. Denn das Bild von den Inseln, die als bequeme Trittsteine von Südamerika aus noch zu sehen waren, könnte bis in die Altsteinzeit zurückreichen. Es war zu einer Zeit, als der Meeresspiegel wegen der großen Eiskappen der Pole wesentlich niedriger war als heute. Relativ große Areale von Inseln, eigentlich insulare Landflächen, lagen über dem Meeresspiegel, eben »Trittsteine«. In der nachfolgenden jungsteinzeitlichen Warmzeit gerieten diese ausgedehnten Inselländer durch den Anstieg des Meeresspiegels dann allmählich unter Wasser, sie »versanken im Meer«. Nur die Bergspitzen blieben übrig und eine geografische Situation entstand, wie wir sie heute kennen. –
3.4
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Allgemein: • Die Wanderungsbewegung der matriarchalen Ackerbaukultur führte von Südund Mittelamerika nach Nordamerika hinein. Sie fand ihre Grenze dort, wo das Klima zu trocken oder zu kalt war um Ackerbau zuzulassen.
76 Waters, S. 35–36, 40–41, 352. 77 Siehe dazu in diesem Buch: Kapitel 1; ebenso Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart, Reihe: Das Matriarchat, Band I, Kapitel 10.
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Kapitel 3: Nordamerika: matriarchale Einwanderer von Süden
Auf der sozialen Ebene: • Schritte, die zu Liebesbegegnungen und Hochzeit führen, beruhen ausschließlich auf der freien Wahl der Frau, das heißt, die Frau wirbt um den Mann, nicht umgekehrt. Die Formen dabei sind vielfältig, wie Werbung, Jagd, Entführung (als Gesellschaftsspiel). • Feste der Lebensstadien, wie Geburt, Initiation, Hochzeit, Tod und Ahnenverehrung, lagen in den Händen der Frauen. Sie waren reine Frauenzeremonien, die in der Regel in den Häusern gefeiert wurden und werden.
Auf der kulturellen Ebene: • Matriarchale Agrargesellschaften haben ein komplexes Gefüge von Ackerbaufesten, die den bäuerlichen Aktivitäten, wie Aussaat, Wachstum, Ernte der Pflanzen, im Lauf der Jahreszeiten entsprechen. Die Feste und Zeremonien enthalten die Symbolik des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod. Dazu gehört ein detaillierter Feste-Kalender. • Die Ackerbau-Zeremonien werden entweder von den Frauen oder den Männern ausgeübt, je nachdem, welches Geschlecht in einem bestimmten Matriarchat den Ackerbau betreibt. Ursprünglich waren allein die Frauen die Ackerbäuerinnen. • Jede Art künstlerischer Gestaltung, wie Gesang, Musik, Malerei, Schnitzerei, Tanz und szenische Darstellung, ist bei matriarchalen Völkern in diese religiösen Feste integriert und wird als Gebet verstanden. • In der matriarchalen Religion ist die Weltschöpfung immer das Werk von einer oder mehreren Urgöttinnen. Diese Urgöttinnen sind der Kosmos, oft durch Mond und Sterne verkörpert, und die Erde, die mit der Unterwelt verbunden ist. Urgöttinnen sind gleichzeitig die Spinnerinnen des Schicksals. • Die Belebung der Welt wird meist durch einige Generationen von jüngeren Göttinnen vollbracht; diese sind die Schöpferinnen von Leben und Kultur. • Die Urgöttin Erde hat häufig einen Gott der Unterwelt und der Transformation als Partner (Typ des Magiers, Gestaltwandlers oder »Tricksters«). Wegen seines paradoxen Wesens kann er sowohl heilen als auch zerstören, das Leben fördern oder den Tod bringen. • Die jüngeren, Kultur schaffenden Göttinnen werden gelegentlich von Heroen begleitet, die spezielle kulturelle Gaben bringen, wie Feuermachen, neue Techniken, besondere Zeremonien. • Matriarchale Gesellschaften sind sakrale Gesellschaften in dem Sinne, dass sie keine Unterscheidung von Heiligem und Profanem machen. Die ganze Welt ist ihnen heilig, jede alltägliche Handlung ist symbolisch und ein Ritual. Die ganze Gesellschaft beruht auf religiösen Prinzipien. • An der Religionsausübung haben alle Menschen teil, es gibt keinen Ausschluss. Dabei sind alle Personen »priesterlich« aktiv, es entsteht keine religiöse Hierarchie.
Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
für Aetensic, Himmelsfrau und Großmutter Mond der Irokesen
4.1
Geschichte der Irokesen
Die Kultur der Irokesen, die sich selbst Ho-de-no-saunee nennen, ist durch die Beschreibungen europäischer Forscher berühmt geworden. Der französische Missionar Lafitau war einer der ersten, der schon 1724 die sozialen Institutionen der Irokesen beschrieb.1 Ihm folgte ein Jahrhundert später das klassische Werk von Henry Lewis Morgan: »League of the Ho-de-no-saunee or Iroquois«, das zuerst 1851 erschien und eine große Wirkung in Nordamerika und Europa hatte.2 Dabei verdankte Morgan die genaue Darstellung der traditionellen Kultur der Irokesen seinem indigenen Gewährsmann, dem Seneca-Häuptling Häsanoan’da (Ely S. Parker). Er selbst vertrat jedoch in seinem Editorial wie auch in seiner Stufentheorie der Gesellschaft die rassistischen Vorurteile der Weißen gegenüber anderen Völkern und Kulturen.3 Heute stellen indigene Forscherinnen und Forscher ihre Kulturen selbst dar, wie es exemplarisch Barbara Alice Mann für die Gesellschaft der Irokesen getan hat. Sie hat sich insbesondere der Stellung der irokesischen Frau und der Geschichte ihres Volkes auf dem authentischen Boden der traditionellen Überlieferungen gewidmet.4 Gemäß ihren eigenen mündlichen Überlieferungen sind die Irokesen-Völker aus dem fernen Nordwesten nach Osten gezogen, bis sie zu den großen Stromsystemen von Mississippi und Ohio gelangten (siehe Karte 3). Die mit ihnen verwandten Völker der Cherokee, die ebenfalls eine irokesische Sprache sprechen, und der Lenapé mit einer Algonkin-Sprache besitzen dieselbe Tradition. Aus unbekannten Gründen trennten
1 Joseph François Lafitau: Die Sitten der amerikanischen Wilden, im Vergleich zu den Sitten der Frühzeit, Neuausgabe: H. Reim (Hg.), Weinheim 1987, Edition Leipzig (Erstausgabe in Französisch 1724). Noch früher als Lafitau schrieb Gabriel Sagard im Jahr 1632 einen Bericht. 2 Lewis Henry Morgan: League of the Ho-de-no-saunee or Iroquois, 2 Bde., 1851, New York 1901, Burt Franklin (Erstausgabe 1851). 3 Lewis Henry Morgan: Die Urgesellschaft, Stuttgart 1891 (original in Englisch 1877). 4 Barbara Alice Mann (Irokesin vom Bären-Clan der Seneca): Iroquoian Women. The Gantowisas, New York 2000, Peter Lang; dieselbe: Native Americans, Archaeologists, and the Mounds, New York 2003, Peter Lang.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
sich die Cherokee von den Irokesen und zogen viel früher nach Osten, so dass die Sprachen beider Volksgruppen sich verschieden zu entwickeln begannen; dieses Ereignis wird von Linguisten auf ca. 200 v.u.Z. angesetzt. Nachdem die Cherokee den Mississippi überschritten hatten und das weite, fruchtbare Tal des Ohio im östlichen Waldland erreichten, trafen sie dort auf die sehr alte, großartige Kultur der ersten »Grabhügelbauer« (»Mound Builder culture«), von den Archäologen die »Adena-Kultur« genannt. Die Cherokee nannten die Adena-Leute die »Moon-Eyed People«, die »Mondäugigen Leute«, eine sehr interessante Bezeichnung.5 Denn sie weist darauf hin, dass diese Leute anders aussahen als sie selbst und dass sie vielleicht Astronomen waren. Was die Kultur dieser rätselhaften Moon-Eyed People betrifft, so stellten Archäologen schon ab 2500 v.u.Z. den Beginn von frühem Gartenbau an manchen Plätzen im Tal des Mississippi fest, diesem großen, weit verzweigten Stromsystem. Dessen Mündung in den Golf von Mexiko weist nach Süden zu den alten Kulturgebieten Antillen, Yucatán und Mexiko, woher diese frühe Kultur wohl gekommen ist. Sie hat sich dann stromaufwärts verbreitet und die Kulturgüter aus dem Süden mitgebracht. Dazu gehören Kürbis, Squash und eine frühe Zuchtsorte von Mais, sie wurden außer dem traditionellen Sammeln und Jagen von diesem Volk kultiviert. Die Früchte des Gartenbaus waren noch nicht Nahrungsgrundlage, sondern dienten als Vorrat für magere Zeiten, wobei die mündliche Überlieferung nahelegt, dass sie primär für religiöse Versammlungen gebraucht wurden.6 Diese frühe Kultur zog sich nordwärts hinauf bis ins Tal des Ohio-Flusses und entwickelte sich dort weiter als die Adena-Kultur (ab 1100 v.u.Z.). Die Moon-Eyed People waren zudem gute Architekten; sie schufen große Erdformationen, insbesondere große Grabhügel (»Mounds«), die von Wällen in Form von Kreisen, Quadraten oder Achtecken umgeben waren. Sie fügten sie zu Komplexen zusammen, von denen manche mehr als 100 Meter lang sind – man kann sie heute noch besichtigen. Diese waren keine Verteidigungsanlagen, sondern sakrale Einfriedungen. Den Toten wurden schöne Grabbeigaben aus bearbeiteten Steinen und gehämmertem Kupfer mitgegeben, die auf ein weites Handelsnetz mit Kanus entlang der Flüsse hinweisen. Am bemerkenswertesten sind die kunstvollen Röhrenpfeifen, oft in Tiergestalt geschnitzt, denn sie zeigen, dass die Moon-Eyed People bereits Tabak kannten und heilige Rauch-Rituale pflegten.7 Einige Archäologen nehmen an, dass die Tabakpflanze und das rituelle Rauchen der Indigenen ebenfalls aus südlichen Wurzeln stammen. Auch die Pflanzenzucht, die später mit Bohnen und besseren Mais-Sorten zur Nahrungsgrundlage wurde, hat ihre Wurzeln im Süden, in den Antillen oder Mexiko. Ebenso verweist die Architektur der Erdwerke nach Süden. Denn sehr frühe Erdbauten aus der Jungsteinzeit sind von der Amazonasmündung bekannt, und sie kommen in großer Häufung entlang der Pazifikküste Mittelamerikas vor; dort reichen sie vom Golf von Tehuantepec in Mexiko bis Guatemala.8
5 6 7 8
Mann: Native Americans, S. 140, 155–156. Persönliche Information von Barbara Mann. Coe/Snow/Benson, S. 48–50. A.a.O., S. 50, 57, 92.
4.1 Geschichte der Irokesen
111
Um 200–100 v.u.Z. kamen die Cherokee von Westen im Gebiet der Adena-Kultur an. Doch sie löschten die Moon-Eyed People nicht aus – wie häufig angenommen wird –, sondern verbanden sich mit ihnen durch wechselseitige Heirat. Dafür sprechen nicht nur die Cherokee-Überlieferungen, sondern auch, dass die GrabhügelKultur von den Cherokee weitergeführt wurde.9 Durch diese Verbindung von südlichen und nördlichen Einflüssen erreichte die Kultur sogar eine ungeahnte Höhe und blühte bis ca. 400 n.u.Z. Von den Archäologen wurde sie jetzt die »HopewellKultur« genannt. Sie setzte alle Eigenschaften der Adena-Kultur fort, aber übertraf diese an Ausdehnung und Komplexität und kannte bereits Städte. Die Grabbeigaben aus Keramik und Kupfer sind überaus kunstvoll, es gibt Figurenpfeifen mit menschlichen Bildnissen; seltene Metalle und kostbare Steine wurden zu schönen Objekten und Schmuck verarbeitet. Sie weisen auf ein riesiges Handelsnetz hin, das auf den Strömen Mississippi, Missouri und Ohio mittlerweile den ganzen nordamerikanischen Kontinent umfasste und viele indigene, bootsfahrende Völker in das Einflussgebiet der Hopewell-Kultur brachte. So strahlte aus dem Herzland am Ohio auch die Kunst des Grabhügelbaus aus und wurde allgemein übernommen, bis Zehntausende solcher Hügel das Land bedeckten und den Kontinent von den östlichen Wäldern bis zu den Prärien im Westen und ebenso bis zur Golfküste im Süden und zum Yellowstone-Park im Norden übersäten. Später brach die Grabhügel-Kultur in ihren geografischen Zentren zusammen, aber wegen ihrer weiten Verbreitung ging sie nicht unter. Sie entwickelte sich in ihren Außenbereichen in Wisconsin, Iowa und Minnesota ein paar Jahrhunderte lang weiter und brachte ab 700 n.u.Z. einige der bewundernswerten Hügelbilder hervor. Diese Hügelbilder sind Erdskulpturen von Panthern, Bären, Vögeln, Menschen, und ein Beispiel davon ist der berühmte, noch heute bestehende »Great Serpent Mound« oder »Großer Schlangen-Hügel« in Ohio.10 Gemäß indigener Überlieferung kamen um 400 n.u.Z. die Lenapé und Irokesen auf ihren verschiedenen Wanderungswegen nach Osten auch zum Mississippi. Sie trafen sich dort auf der Suche nach einer neuen Heimat wieder. Als die Lenapé den großen Strom überqueren wollten, wurden sie von den Cherokee angegriffen, doch die Irokesen kamen ihnen zu Hilfe. So kämpften Irokesen und Lenapé gemeinsam, erzwangen den Weg nach Osten und eroberten das Tal des Ohio durch eine Reihe großer Schlachten. Um 550 n.u.Z. hatten sie die Cherokee nach Süden in die Gebiete um den Fluss Tennessee im Appalachen-Gebirge abgedrängt. Die Sieger teilten das riesige Gebiet untereinander auf, indem die Lenapé nun im Ohio-Tal siedelten, während die Irokesen die weite Region von der Atlantikküste bis zu den Großen Seen bewohnten, die sie noch heute als ihr eigenes Territorium betrachten.11 Im Laufe der Zeit verdichteten sie ihre Siedlungen von kleinen, weit voneinander entfernten Gemeinschaften zu größeren Ortschaften, die an den Ufern von Flüssen und Seen gelegen und von Palisadenzäunen umgeben waren. Jede Ortschaft bestand aus meh-
9 Mann: Native Americans, S. 155–156. 10 Coe/Snow/Benson, S. 50–55. 11 Mann: Native Americans, S. 148, 156.
112
Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
reren, mit Ulmenrinde umkleideten Langhäusern, und in jedem Langhaus wohnte ein Clan (Abb. 17). Die Befestigung aus Palisaden war die Antwort auf die zunehmenden Angriffe vonseiten anderer Stämme, wie den Algonkin im Norden.
Abb. 17: Befestigte Ortschaft der Irokesen (Zeichnung: Titelblatt von L.D. Finlayson: The 1975 and 1978 Rescue Excavations at the Draper Site: Introduction and Settlement patterns, Kanada 1985)
Ab 800 bis ca. 1400 n.u.Z. nahm die Grabhügel-Kultur – an der viele Völker beteiligt waren, so auch die zugewanderten Irokesen – in dem weiten, östlichen Waldland noch einmal einen großartigen Aufschwung. Es entstand nicht nur eine enorme Dichte von Grabhügeln in den riesigen Gebieten längs der Flüsse Mississippi, Tennessee, Ohio und um die Großen Seen herum, sondern die Ortschaften und Tempelanlagen entwickelten sich zu beträchtlicher Größe. So wuchsen die sakralen Einfriedungen zum Beispiel bei den Städten Cahokia in Illinois (600–1250 n.u.Z. mit 10.000 Einwohnern) und Moundville in Alabama (1200–1400 n.u.Z. mit 3.000 Einwohnern) zu enormen Dimensionen heran. In Cahokia bedeckten sie 13 Quadratkilometer und umschloss eine große Anzahl von Grabhügeln, ebenso abgeflachte Pyramiden als Plattformen für Tempel, von denen die größte 316 Meter lang, 241 Meter breit und über 30 Meter hoch war. Die zugehörigen, kultischen Erdwerke wurden immer
4.1 Geschichte der Irokesen
113
formenreicher (zum Beispiel die Newark-Erdwerke). Diese Städte und heiligen Plätze waren durch ein Netz von Straßen miteinander verbunden.12 – Sozialhistorisch gesehen haben wir es in der Adena-Kultur, jener Kultur der Moon-Eyed People, die von Süden kam, nämlich von den Antillen oder Mexiko, mit einem weit nach Nordosten reichenden Zweig der südlichen, matriarchalen Gesellschaftsordnung zu tun. Doch auch die anderen, miteinander verwandten Völker, die von Westen kamen: die Cherokee, Lenapé und Irokesen, besaßen eine alte matriarchale Sozialordnung. Es heißt von ihnen, dass nicht nur in früher, sondern auch noch in späterer Zeit die sippenältesten Frauen, die »Großmütter«, ihre Clans auf den Wanderungen führten.13 Diese Sozialordnung ist anhand der Organisation der Sippen und indigenen Völker in Nordamerika auch ethnologisch belegt. Sie ist in dem riesigen Ausdehnungsgebiet von den Natchez im Südosten, den Irokesen im Nordosten bis zu den Crow, Hidatsa, Mandan und Arikara im Nordwesten des nordamerikanischen Kontinents zu finden und in der Zeit der modernen Ethnologie beschrieben worden.14 Gemäß ihren eigenen Aussagen leben diese Völker noch immer matriarchal, und sie beanspruchen heute in ihren politischen Statements aktiv und ausdrücklich ihr »Matriarchat«, das von der erzwungenen patriarchalen Organisation seitens der Euro-Amerikaner überdeckt wurde.15 Das heißt, dass traditionelle matriarchale Strukturen im indigenen Nordamerika überall verbreitet waren und die Regel darstellen. Vor diesem Hintergrund muss man den Gemeinplatz von der unterwürfigen indianischen Frau, der verachteten »Squaw«, zurückweisen, denn er ist nichts anderes als eine Phantasie, eine Projektion der weißen europäischen und amerikanischen Eroberer.16 Bemerkenswert ist auch die Tatsache, dass in der frühen Geschichte der kulturelle Einfluss der Grabhügel-Kultur ausschließlich auf Handel, nicht auf Krieg beruhte. Noch die Hopewell-Kultur war kein Reich, es fehlen ihr alle Befestigungsbauten.17 Ab 800 n.u.Z. kam es im Ohio-Zentrum und in den fruchtbaren Auen des Mississippi-Tales durch die Einführung neuer Maisarten aus Mexiko zu einer guten Ernährungsgrundlage, aber auch zu großer Bevölkerungsdichte und Spannungen um das knappe Schwemmland. Frühe patriarchale Tendenzen, wie aggressive Konflikte und Kämpfe um das Land, machten sich an bestimmten Plätzen zum ersten Mal bemerkbar. Am Ohio benutzten die Nachfolger der Hopewell-Kultur jetzt ihr Geschick für Erdwerke, um erste Befestigungsanlagen aus Erde, gespickt mit Palisaden-Zäunen, zu bauen, wie
12 A.a.O., S. 139, 148–160, Karten auf S. 100, 138; Coe/Snow/Benson, S. 55–57. 13 Mann: Iroquoian Women, S. 129. 14 In der Ethnologie bezeichnet man diese Völker als »matrilinear«, ein schwächerer Begriff, den Ethnologen benutzen, um das (von ihnen missverstandene) Wort »matriarchal« zu vermeiden. 15 Beispiele dafür sind der indigene Gelehrte und politische Aktivist Russell Means, ebenso die Choctaw-Autorin Kay Givens McGowan: »Weeping for the Lost Matriarchy«, in: Barbara Alice Mann (Hg.): Daughters of Mother Earth. The Wisdom of Native American Women, Westport, Connecticut, 2006, Praeger Publishers. 16 Mann: Iroquoian Women, S. 19–22. 17 Coe/Snow/Benson, S. 50–52, 64.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
es bei der »Alte Fort-Kultur« (»Fort Ancient culture«) der Shawnee der Fall war.18 Cahokia in Illinois und Moundville in Alabama entwickelten sich zu Stadtstaaten mit patriarchaler Klassenstruktur im mexikanischen Stil. Diese Epoche, die »Mittel-Mississippi-Kultur« (»Middle Mississippi culture«) genannt wird, wurde von den Ahnen der Lakota sprechenden Völker geformt. Aber durch neue Krankheiten wie Tuberkulose, verursacht durch die hohe Bevölkerungsdichte, brach diese Kultur um 1450 in ihren städtischen Zentren zusammen.19 Die Nachkommen der Lakota blieben in dieser Region am mittleren Mississippi wohnen und fuhren mit dem Ackerbau fort; sie wurden erst um 1850 von den weißen amerikanischen Kolonisten vertrieben und gezwungen, ihren Lebensunterhalt woanders und auf andere Weise zu erwerben.
4.2
Die Bildung der irokesischen Liga
Die Sozialgeschichte der Irokesisch sprechenden Völker verlief etwas anders. Da sie an der Peripherie der Mittel-Mississippi-Kultur lebten, nämlich die Irokesen im Nordosten und die Cherokee südöstlich davon, setzten sie nicht nur ihre eigene Kultur mit neuen Mustern von Ackerbau und Hausbau fort, sondern die einfachen Leute bewahrten auch die älteren, gesellschaftlichen Muster, eben die matriarchalen.20 Aber auch bei diesen Völkern hatten sich patriarchale Eliten herausgebildet; dies geschah während der Zeit, als sie selbst Jahrhunderte lang Träger der Grabhügel-Kultur waren. Die Cherokee begannen schon früh die Hauptträger der HopewellKultur zu sein, und die Vorfahren der Irokesen bauten schon am Ohio Grabhügel, die das ganze Land übersäten; diese Tradition führten sie in den neuen, nördlicheren Wohngebieten fort. In der späteren Phase der Grabhügel-Kultur wurden nun auch die Cherokee – wie bei der Mittel-Mississippi-Kultur – von einer immer mächtiger werdenden Priesterschaft beherrscht, den »Ani-Kutani«, die sich allmählich herausgebildet hatte. Es entstand eine strikte Trennung der Gesellschaft in drei Klassen: das Volk, die politischen Führer und die Ani-Kutani, deren Oberhaupt als absoluter Herrscher in zivilen und religiösen Angelegenheiten regierte. Diese Priesterherrschaft dauerte Jahrhunderte und nahm im Laufe der Zeit immer ausbeuterischere und korruptere Formen an. Die Priester horteten die Güter der unteren Klassen, sie maßten sich das Recht über Leben und Tod ihrer Untertanen an, schickten allen Dissidenten tödliche Krankheiten und praktizierten Gruppen-Vergewaltigung an jeder jungen Frau, die ihnen gefiel.21 Die Irokesen lebten in dieser Zeit unter einer ähnlichen Priesterherrschaft, obwohl deren Mitglieder nicht auf einen einzigen Clan beschränkt blieben wie bei den Cherokee.
18 19 20 21
Mann: Native Americans, S. 117–124. Coe/Snow/Benson, S. 52–61, 64–65. A.a.O., S. 60–61. Barbara Alice Mann: »They are the Souls of the Councils. The Iroquoian Model of WomanPower«, in: Goettner-Abendroth, Heide (Hg.): Societies of Peace, S. 57- 69, bes. S. 59.
4.2 Die Bildung der irokesischen Liga
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Der physische und spirituelle Terror der Priester-Elite führte schließlich zu einer Revolte des Cherokee-Volkes. Der Aufstand beendete die Priesterherrschaft abrupt und bedeutete zugleich das Ende der Grabhügel-Kultur und der männlichen Dominanz in dieser Gegend. Diese Entwicklung blieb nicht auf die Cherokee beschränkt, denn auch die Lenapé stürzten die Priesterherrschaft auf die gleiche Weise. Bei den Irokesen führte die Revolution gegen die Priester zur Gründung der »Konföderation der Fünf Nationen« (»Confederation of the Five Nations«), eben zur irokesischen Liga. Die tiefgreifenden kulturellen Veränderungen bei diesen drei Völkern hörten also nicht mit der Zerstörung der Priesterherrschaft auf, sondern führten zu einer neuen Regierungsform, die grundsätzlich mit den hierarchischen, männlich dominierten, erblichen Privilegien brach. Die Irokesen schufen aus dieser Situation heraus ihre brilliante Verfassung und die berühmte Liga, die das beste Beispiel für eine große, auf matriarchalen Regeln gegründete und am Gemeinwohl orientierte Gesellschaft ist.22 Diese Entwicklung bei den Irokesen soll hier, weil sie von größtem Interesse ist, näher betrachtet werden. Während der Priesterherrschaft bei ihnen beruhte die Wirtschaftsgrundlage auf der Jagd der Männer und schloss auch den Feldbau der Frauen ein. Aber der Maisanbau war damals spärlich, denn er galt als zeremoniell und war für das Volk verboten. Als die Sitten der Priesterschaft immer bedrückender wurden – denn sie führten zu sexuellen Exzessen und einem ausufernden Kannibalismus-Kult –, kam es im 10. Jh. zum Widerstand gegen dieses harte System und das einfache Volk begann auszuwandern. Insbesondere die Frauen hatten genug von männlicher Vorherrschaft. Einige Sippenmütter erhoben sich und verließen diese Kultur, indem sie ihre großen Sippen in andere Gebiete wegführten – eine Politik, die matriarchale Clanmütter schon immer, auch in anderen Kontinenten, angesichts patriarchaler Herrschaftssysteme gemacht haben. Eine dieser Clanmütter namens Gaihonariosk zog mit ihren Leuten nach Norden bis zum St. LaurenceStrom, aber als sie die Gegend zu kalt für den Pflanzenanbau fand, wandte sie sich wieder nach Süden und wanderte in den östlichen Teil des Landes New York ein. Ein Teil ihres Volkes blieb am St. Laurence-Strom zurück, diese Menschen wurden die späteren St. Laurence-Irokesen und die nördlichen Mohawk. Die Mehrheit folgte ihr jedoch, diese wurden die Ahnen der südlichen Mohawk. Eine andere Sippenälteste führte ihr Volk nach Ontario, dort wurden sie die späteren Attiwendaronk (sog. »Neutrals«). Diese Clanmütter leiteten nun als neue Wirtschaftsform den flächendeckenden Maisanbau ein. Er wurde zum extensiven Anbau des sich ideal ergänzenden Pflanzen-Trios aus Mais, Bohne und Squash (Kürbis) und entwickelte sich zur allgemeinen Nahrungsgrundlage dieser Völker. Der Erfolg dieser Wirtschaftsweise erlaubte den Clanmüttern, eine egalitäre Gesellschaft aufzubauen, in welcher der Wille des Volkes entscheidend war.23 Das heißt, sie gründeten ihre matriarchale Gesellschaftsordnung, die ihnen seit alter Zeit vertraut war, neu. Währenddessen galten bei den anderen Irokesenstämmen noch die patriarchalen Sitten der Mittel-Mississippi-Kultur und jedes Volk hatte seinen eigenen, herrschenden
22 Mann: Native Americans, S. 161–167. 23 Mann: »They are the Souls«, S. 58–59.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Oberpriester. Doch nun begannen die Attiwendaronk, weibliche »Friedens-Botschafterinnen« auszusenden, um auch den anderen Irokesenstämmen die neue Wirtschaftsform und Lebensweise zu bringen, den »Mais-Weg« (»Corn Way«). Diese Völker waren die nördlichen Irokesen, die Petunen und Wyandot (sog. »Huronen«), die am Huron-See lebten, ebenso die Wenro am südlichen Ufer des Ontario-Sees und die Erie am Erie-See. Im Gebiet unterhalb des Ontario-Sees wohnten die südlichen Irokesen, die Seneca, Cayuga, Onondaga, Oneida und die südlichen Mohawk in einer Reihe von West nach Ost, die später ein Bündnis von Stämmen, die berühmte Liga, bilden sollten. Noch weiter südlich lebten die Irokesisch sprechenden Susquehannock (Karte 5).24
Karte 5: Wohngebiete der Irokesen-Stämme (aus: Coe/Snow/Benson: Atlas of Ancient America, Oxford, New York 1986, S. 61; mit freundlicher Genehmigung von Andromeda Oxford Ltd.)
Eine bedeutende Führerin des Mais-Weges war die Matriarchin Jigonsaseh, eine gebürtige Attiwendaronk, die später eine Seneca wurde. Sie verbreitete nicht nur die Botschaft vom Maisanbau, sondern auch von einer egalitär organisierten Gesellschaft. Als die Clanmütter der südlichen Irokesen diese Botschaften ernst nahmen, sah sich die herrschende Priesterschaft, die der Grabhügel-Kultur anhing, bedroht. Das priesterliche Oberhaupt der Onondaga war damals Adodaroh, ein alter, mächtiger und größenwahnsinniger Schamane, der das zeremonielle Priesterfeuer hütete.
24 Coe/Snow/Benson, S. 60–61.
4.2 Die Bildung der irokesischen Liga
117
Er wird sehr farbig beschrieben: von gekrümmter Gestalt, mit großen Füßen und riesigem Phallus, er soll lebendige Schlangen im Haar und Schädel von Schlangen auf jeder Fingerspitze getragen haben. Seine Macht galt als so groß, dass er Stürme und hohen Wellengang auslösen konnte und dass die Vögel bei seinem Anblick tot vom Himmel fielen. Adodaroh scharte nun seine bewaffneten Anhänger und die anderen herrschenden Priester um sich, und ein Bürgerkrieg war die Folge, der im 11. Jh. lange Jahrzehnte wütete. In diesem Bürgerkrieg standen die beiden Gesellschaftsformen, die patriarchale der Priesterschaft und die matriarchale der Clanmütter, gegeneinander. Während dieser ganzen Zeit versuchte Adodaroh, der Jigonsaseh habhaft zu werden und sie zu ermorden. Aber sie wusste immer mit ihrem Boot zu entkommen, denn sie war eine äußert geschickte Kanufahrerin.25 In dieser schwierigen Zeit erschien einer der beiden männlichen Gründer der künftigen Liga. Er war ein junger Attiwendaronk vom Ontario-See, der eine Friedensinitiative gründete, die ihn antrieb, weshalb man ihn später »Friedensbringer« (»Peacemaker«) nannte. Seine Friedensmission hatte zum Inhalt, ein Bündnis verschiedener Stämme zustande zu bringen, eine Liga, und dieser eine Verfassung für ihren Zusammenhalt zu geben. Seine erste Handlung war, die Jigonsaseh als die ältere und mächtigere Person aufzusuchen und sie zu bitten, seine Friedensmission mit ihrem Mais-Weg zu verbinden. Die Jigonsaseh verhandelte mit ihm und verankerte weitreichende Rechte für die irokesischen Frauen in dieser Verfassung, die später tatsächlich zur Grundlage der Liga wurde. Nun reiste der Friedensbringer von einem Volk zum anderen und riet zur Einigkeit, zu einem Bündnis gegen die Tyrannei des Adodaroh und seiner alliierten Priesterschaft, und er hatte einen gewissen Erfolg. Es war insbesondere die Jigonsaseh, die dieser Mission Nachdruck verlieh. Dafür wurde sie später von der Liga der Irokesen als »Große Frau«, als »Friedenskönigin« und »Mutter der Nationen« verehrt.26 Viele Irokesen folgten der Botschaft des Friedensbringers und der Jigonsaseh, die ihren Einfluss auf friedlichem Wege ausweiteten. Eine wachsende Zahl von Menschen weigerte sich zu kämpfen und der Bürgerkrieg schwächte sich ab. Sogar der Kriegshäuptling der Priesterklasse, der ein Mohawk namens Ayonwantha (»Hiawatha«) und dem Kannibalismus-Kult ergeben war, wurde vom Friedensbringer überzeugt. Er entschloss sich, der Bündnispolitik und dem Mais-Weg zu folgen. Noch weitere Jahre warben nun der Friedensbringer, Jigonsaseh und Ayonwantha zusammen für den Frieden und die Bildung einer Liga. Schließlich kam es dahin, dass alle Völker der späteren »Fünf Nationen« zum Mais-Weg übergegangen waren: Seneca, Cayuga, Onondaga, Oneida und Mohawk. Der Oberpriester Adodaroh hatte dadurch immer mehr Macht verloren. Zuletzt fand er sich in enger Bedrängnis und verschanzte sich mit seinen letzten Anhängern auf einer Insel. Nun inszenierte die Jigonsaseh das große Finale, das einer matriarchalen Geisteshaltung würdig war. An den Ufern des Sees, der die Insel umgab, ließ sie die Menschen der Fünf Nationen, welche die Liga bilden wollten,
25 Mann: »They are the Souls«, S. 59. 26 A.a.O., S. 60; dieselbe: Iroquoian Women, S. 124.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
sich versammeln. So konnte Adodaroh Tausende ringsum an den Ufern sehen und fand sich selbst abgeschnitten: der Konsens war gegen ihn. Es war eine Demonstration der Stärke des Mais-Weges und seiner eigenen sozialen Isolation. Jigonsaseh sandte jetzt den Friedensbringer und Ayonwantha zu der Insel hinüber, aber zweimal erregte Adodaroh einen Sturm und trieb das Boot zurück. Erst als die beiden Botschafter das »Friedenslied« sagen, ein magisches Lied über die gerechte Macht des Volkes, das Jigonsaseh geschaffen und den Männern gegeben hatte, konnten sie die Insel erreichen. Aber sie kamen nicht dorthin, um Adodaroh zu töten. Die Weisheit der Jigonsaseh hatte ihnen geraten, ihm die Position des ersten Vorsitzenden im Großen Rat der Männer in der Liga anzubieten unter der Bedingung, dass er den Frieden und den Mais-Weg akzeptieren würde. Dieses Angebot nahm Adodaroh nur widerwillig an. Er war noch immer wahnsinnig, so dass Ayonwantha den Auftrag erhielt, ihm die »Schlangen aus dem Haar zu kämmen«, was sowohl wörtlich gemeint war als auch übertragen in dem Sinne, Adodarohs verdrehtes Denken zu glätten. Ayonwantha führte es mit Geduld aus und erreichte auf diese Weise, Adodaroh in einen tüchtigen ersten Vorsitzenden des Großen Rats der Männer zu verwandeln. Dieser übte danach das Amt so gut aus, dass sein Name gefeiert wurde und zum gültigen Titel für jeden nachfolgenden Vorsitzenden des Großen Rats der Männer erhoben wurde. Unterdessen war Jigonsaseh zur »Haupt-Clanmutter der Liga« ernannt worden und auch ihr Name wurde der offizielle Titel dieser Position. Alle Clanmütter, die später zur Haupt-Clanmutter der Liga gewählt wurden, trugen den Ehrentitel »Jigonsaseh« (Abb. 18).27 Dieses Beispiel der Irokesen ist äußerst interessant, denn es zeigt, auf welche Weise matriarchales Denken und Handeln eine Form des Patriarchats überwinden kann. Außerdem zeigt es, dass es nicht darauf ankommt, an einem besiegten Feind Vergeltung zu üben, sondern ihn in die neue Lebensweise zu integrieren und damit jede weitere Spaltung zu verhindern. Es ist ein bemerkenswertes Vorbild von politischer Weitsicht. – Nach diesem Sieg wurde die Verfassung oder das »Große Gesetz des Friedens« allen Menschen der beteiligten Völker vorgelesen, einschließlich der wichtigen Stellung der Frau, die darin niedergelegt war. Das Grundprinzip von Zusammenarbeit statt Herrschaft kam damit zur Geltung. Im Jahr 1142 (12. Jh.) kam es dann zur Gründung der »Konföderation der Fünf Nationen«, eben der Liga aus den fünf Völkern der Irokesen.28 Die Verfassung wurde zum Gesetzeskodex dieses Bündnisses. Die Liga war politisch deswegen so wirksam, weil sie eine Ausweitung der lokalen Strukturen von matriarchalen Clans auf eine überregionale Großform war. Das heißt: Die Fünf Nationen betrachteten ihre Liga als ein großes »Langhaus«. Jedes einzelne
27 Ibid.; dieselbe: Iroquoian Women, S. 124–134. 28 Mann: »They are the Souls«, S. 61; Barbara Alice Mann/Jerry L. Fields: »A Sign in the Sky: Dating the League of the Haudenosaunee«, in: American Indian Culture and Research Journal, Nr. 21.2, Los Angeles 1997, University of California, S.105–163.
4.2 Die Bildung der irokesischen Liga
119
Abb. 18: Gähahno, die »Jigonsaseh« der Irokesen von 1853–1892 in der Tracht der Seneca (Zeichnung: Titelblatt von H.L. Morgan: League of the Ho-de-no-saunee or Iroquois, 1851, New York 1901, Burt Franklin)
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Langhaus der Irokesen besaß eine östliche Tür und eine westliche Tür, und in der Mitte gab es verschiedene Abteilungen für die einzelnen Linien des Clans. Analog dazu stellte man sich die Liga mit ihren fünf Völkern als ein großes Langhaus vor, mit den Mohawk als den Hütern der östlichen Tür, den Seneca als den Hütern der westlichen Tür und den Onondaga als den »Feuerhütern« (Administratoren) im Zentrum. Jeweils dazwischen wohnten die »jüngeren Verwandten«, nämlich die Cayuga als Zweig der Seneca und die Oneida als Zweig der Mohawk. Das Bild der Liga als großes Langhaus zeigt, dass diese fünf Völker sich im symbolischen Sinne nun als miteinander verwandt betrachteten – was für sie als reale Verwandtschaft galt.29 Diese Art von Verwandtschaft wurde durch die Angleichung der Sippennamen hergestellt. Jedes Volk besaß nun sämtliche Sippennamen, die in allen Fünf Nationen gleich lauteten, und so wurde ein matrilinearer Zusammenhang zwischen den fünf Völkern geschaffen. Wenn es zum Beispiel bei jedem Volk acht Clans gab, dann besaßen alle die acht Sippennamen Schildkröte, Wolf, Bär, Biber, Hirsch, Falke, Schnepfe und Fischreiher. Praktisch hieß das, wenn jemand vom Wolf-Clan zu einer Ortschaft eines verbündeten Volkes der Liga reiste, so fand er mit Sicherheit auch dort ein Langhaus mit dem Wolf-Clannamen vor. Von den Leuten dieses Hauses wurde er sofort willkommen geheißen und genoss die Vorzüge eines »Verwandten«. Das galt ebenso für alle anderen Beziehungen mit gleichen Sippennamen. Durch dieses die einzelnen Nationen übergreifende Netz von symbolischer bzw. »realer« Verwandtschaft, das aus der Namensgleichheit entstand, wurden die Völker der Liga enger miteinander verbunden als durch irgendeine abstrakte Vorstellung von Einheit.30 Das System dieser Verwandtschaft war für die Irokesen bei ihren Fernreisen auf den Wasserläufen sehr nützlich, und später wurde es äußerst wichtig während der Kriege gegen die weißen Invasoren. Denn jedes Volk konnte sehr schnell eine große Zahl von Kriegern aufstellen, weil sich Clanhäuser gleichen Namens zu Hilfe eilten, was auch über die Grenzen der Völker hinweg gültig war.31 Das System dieser Verwandtschaft hielt die gesamte Liga zusammen, und so wurde eine matriarchale Verwandtschaftsgesellschaft im großen Stil geschaffen. Ein paar Jahrhunderte später, zwischen 1712 und 1735, kam das sechste Volk, die Tuscarora, zur Liga hinzu. Auch sie waren Irokesen und durch europäische Milizen und Siedler aus ihrem Land vertrieben worden. Als im Jahr 1712 die Siedler versuchten die Tuscarora zu versklaven, flohen diese nach Norden zu den Fünf Nationen der Liga und baten um Adoption als sechste Nation, was ihnen sofort gewährt wurde. Durch die Adoption eines ganzen Volkes wuchs die Liga an, wobei die Tuscarora
29 Joseph Bruchac: »Otstungo. A Mohawk Village in 1491«, in: National Geographic, Bd. 180, Nr. 4, Washington 1991, National Geographic Society, S. 70, 72–74. 30 Für die Indigenen spielt es keine Rolle, ob Verwandtschaft real oder symbolisch ist, für sie ist sie immer vollgültig. 31 Bruchac, S. 70; W. M. Beauchamp: »Iroquois Women«, in: The Journal of American Folklore, Nr. 13, Boston 1900, American Folklore Society, S. 81–88; Irene Schumacher: Gesellschaftsstruktur und Rolle der Frau. Das Beispiel der Irokesen, Berlin 1972, Duncker & Humblot, S. 52; Bruce Trigger: The Children of Aetaentsic. A History of the Huron People to 1660, Montreal, London 1976, Bd. 1, McGill-Queen’s University Press, S. 54.
4.3 Die Verfassung und politischen Strukturen
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nun denselben Status der Liga-Verwandtschaft genossen wie jedes andere Volk der Konföderation. Mit solchen Bündnissen aus Gleichen auf dem Boden der weiblichen Verwandtschaftslinien wurde eine enorme Reichweite der Liga geschaffen. Diese matriarchale Großform von Gesellschaft steht patriarchalen Staaten in nichts nach, sie ist sogar im Gegensatz dazu besser organisiert. Denn sie beruht auf Egalität und folgt dem Prinzip der Selbstorganisation – so räumt sie mit dem Vorurteil auf, dass Großformen immer hierarchisch aufgebaut und von »Eliten« beherrscht sein müssen. Patriarchale Großformen, wie Staaten und Reiche, haben diese Merkmale, denn sie beruhen stets auf Ungleichheit, Herrschaft und sozialen Klassen und dem damit verbundenen Elend und den unaufhörlichen inneren Spannungen. – Die Liga gestattete es den Irokesen, bis zum Ende des 18. Jhs. auf ihrem ausgedehnten Territorium souverän zu bleiben. Sie handhabten ihre Konföderation mit so viel Scharfsinn, politischer Weisheit und kämpferischem Mut, dass sie noch lange fähig waren, sich selbst zu schützen und ihre Unabhängigkeit zu wahren, während sie gleichzeitig von der Kolonisierung des amerikanischen Ostens durch die Europäer umringt waren. Dabei entfalteten sie einen so mächtigen Einfluss wie kein anderes indigenes Volk in Nordamerika.32
4.3
Die Verfassung und politischen Strukturen
Mit der Schaffung der Verfassung und der Liga wurde ein sehr altes Prinzip der irokesischen Kultur erneuert und reformuliert: das matriarchale Prinzip der ausgewogenen Zusammenarbeit zwischen zwei gleichwertigen Polen oder Kräften, das die Irokesen »Zwillings-Prinzip« (»Twinship Principle«) nennen. Abgekürzt bezeichnen sie es als das »Prinzip der Himmelsrichtungen« (»The Directions of the Sky«), was die Zusammengehörigkeit der Ost-West-Achse, die als männlich verstanden wird, mit der weiblich interpretierten Nord-Süd-Achse meint.Himmh Man stellt sich dies nicht linear, sondern kreisförmig vor, dem Kreis entsprechend, den die Sonne mit Auf- und Untergang beschreibt und ebenso die Sterne, die um den Polarstern kreisen. Dieses Zwillings-Prinzip gilt für alles in der Welt, auch für die menschliche Gesellschaft, deshalb wurde es als Polarität von Weiblichem und Männlichem zum Herzstück ihrer Verfassung gemacht. Dabei wird die weibliche Kraft mit der Erde und dem »Lokalen« verknüpft gesehen und die männliche Kraft mit dem Himmel und dem »Föderalen«. Wichtig ist dabei, dass es für die Irokesen einen weiblichen Anteil im allgemein Männlichen gibt und einen männlichen Anteil im allgemein Weiblichen. So gelten die matriarchalen Sippen als weiblich, aber sie schließen Männer ein, während die Nationen als männlich betrachtet werden, aber die Frauen einschließen. Alle Angelegenheiten müssen daher in einem ständigen Kreislauf zwischen diesen beiden polaren Kräften zirkulieren.33 32 Morgan: League, Bd. 1, S. 3–31. 33 Siehe zum Zwillings-Prinzip: Mann: Spirits of Blood.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Die lokale und die föderale Seite sind in ihrer Verfassung und den politischen Strukturen gleichwertig und »horizontal« aufeinander bezogen und nicht hierarchisch angeordnet wie bei patriarchalen Herrschaftsgesellschaften. Die lokale Seite repräsentiert den heiligen Willen des Volkes, die »Graswurzel-Ebene« von Mutter Erde selbst, und wurde von den Clanmüttern geleitet. In den lokalen Clanhäusern wurden die Entscheidungen im Konsens von allen Clanmitgliedern getroffen. Im »Clanrat der Frauen« (»Women’s Clan Council«), einer gewählten Versammlung, der die jeweilige Jigonsaseh vorstand, wurden sie dann repräsentiert. Die föderale Seite, die von den Männern geführt wurde, umfasste nicht die Clans, sondern die Völker oder »Nationen«, und der »Große Rat der Männer« (»Men’s Grand Council«) repräsentierte sie in der die Liga, dem Bündnis der Nationen. Hier wurden die Entscheidungen und Botschaften der Nationen besprochen und verhandelt, aber sie wurden hier nicht gemacht. Die Männer konnten keine Angelegenheit entscheiden, die nicht zuvor von den Frauen diskutiert worden war, was zeigt, dass der Clanrat der Frauen als die Repräsentation des Volkes grundlegend ist. Der Clanrat der Frauen bestimmte also die Agenda im Großen Rat der Männer. Ebenso konnte der Clanrat der Frauen, wenn aus einer Angelegenheit im Rat der Männer etwas anderes geworden war, als der Clanrat der Frauen wollte, die Sache wieder aufnehmen, sie noch einmal formulieren und dem Männerrat für erneute Überlegung zurücksenden. Das bedeutet, dass der Frauenrat das Recht auf Überprüfung der Handlungen des Männerrates besaß und diese verhindern konnte, wenn sie nicht angemessen waren. Umgekehrt vermochte dies der Männerrat hinsichtlich der Entscheidungen im Frauenrat nicht. Das bedeutet jedoch kein Übergewicht für den Clanrat der Frauen, denn in ihm waren eben nicht nur die Stimmen der Frauen enthalten, sondern der Konsens des ganzen Volkes, das heißt: aller Clanhäuser, zu denen Frauen, Männer und Kinder gehören. Es war das Volk – und jedes Volk im Bündnis –, welches das Recht zur Überprüfung der Handlungen der delegierten Männer im Rat der Nationen hatte.34 Deshalb ist der Clanrat der Frauen die alleinige Instanz auf der lokalen Ebene der Regierung; dies war das eine Recht der Frauen, das ausdrücklich in der Verfassung verankert wurde. Das zweite verankerte Recht war, dass Frauen die alleinigen Bewahrerinnen von Krieg und Frieden sind, das heißt, ausschließlich sie entschieden darüber. Dahinter steht die Auffassung, dass Frauen und Kinder das absolute Recht auf Frieden und Sicherheit haben, um die Zukunft der Gesellschaft zu gewährleisten. Deshalb bewahrten die irokesischen Frauen die Waffen auf, die sie nur dann herausgaben, wenn im Clanrat der Frauen beschlossen worden war, ihr Recht auf
34 Mann: »They are the Souls«, S. 5–7; dieselbe: Iroquoian Women, S. 115–182. – Dies alles bezieht sich auf die historische Situation. Heute versuchen die Irokesen, nachdem sich die Regierungen der USA lange Zeit eingemischt hatten, ihre traditionellen politischen Strukturen wiederherzustellen. Aber der Große Rat der Männer reißt heute oft die Macht an sich, weil das »Büro für Indianische Angelegenheiten« der Regierung es zulässt. Diese moderne, ungleiche Situation der Geschlechter ist auch von anderen indigenen Völkern Nordamerikas bekannt.
4.3 Die Verfassung und politischen Strukturen
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Frieden aufzuheben. Einen solchen Beschluss machte der Frauenrat dann durch seine Sprecherinnen, die Clanmütter, öffentlich bekannt. Dies kam in der traditionellen Kultur der Irokesen allerdings selten vor, denn die Clanmütter waren nicht daran interessiert, das Leben ihrer Kinder zu opfern. Es geschah aber mehrmals im Widerstandskampf gegen die weißen Eroberer.35 Diese beiden Rechte der Frauen auf der politischen Ebene mögen den Eindruck erwecken, dass es bei den Irokesen ein großes Übergewicht der Frauenmacht gegeben habe. Doch ihr Gesetz kannte eine zusätzliche Einrichtung, welche die Männermacht betonte. Sie manifestierte sich in der Unterscheidung zwischen den Erbhäuptlingen einerseits und den Verdiensthäuptlingen andererseits. Die Erbhäuptlinge waren als gewählte Vertreter der Clans »Friedenshäuptlinge«, deren Aufgabe darin bestand, die Unschuldigen zu schützen, indem sie Streit schlichteten, ebenso im Großen Männerrat die Verhandlungen mit den anderen Völkern der Liga zu führen. Die Verdiensthäuptlinge wurden hingegen für besondere Leistungen im Dienst der Gemeinschaft gewählt. Die Erbhäuptlinge wurden allein von den Frauen auf jene Sitze im Männerrat berufen, die dem Clan gehörten, während die Verdiensthäuptlinge nur von den Männern gewählt wurden; erbliche Sitze gab es für sie nicht. Verdienste konnten Männer mit einer reifen Beurteilungsfähigkeit bei vielen Gelegenheiten erwerben, auch als Kriegshäuptlinge; eine solche Position ergab sich jedoch erst, nachdem die Frauen einem Krieg zugestimmt hatten. Die Männer waren normalerweise mit Jagd, Fischfang und Handel friedlich beschäftigt und bewegten sich mit diesen Tätigkeiten frei auf den vielen Wasserläufen. Gleichzeitig dienten ihnen diese Reisen für die föderale Kommunikation, die föderalen Ratsversammlungen der Liga und für das Aushandeln von Verträgen. So waren die Männer während der guten Jahreszeit eher selten in den Clanhäusern anwesend. Die Jagd brachte es aber mit sich, dass sie gelegentlich in die Jagdgebiete fremder Völker gerieten. Das konnte Fehden zwischen den Männern dieser verschiedenen Völker auslösen. Aber häufiger wurde ein solcher Konflikt durch Verhandlungen gelöst und führte zur kurzfristigen Nutzung der fremden Jagdgründe. Selbst wenn es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung kam, gehörte es nicht zur traditionellen irokesischen Kriegskunst Menschen zu töten. Die Fehden glichen eher Wettkämpfen, die nur zwischen Männern von gleicher Größe und Erfahrung ausgetragen wurden und von vielen Pausen unterbrochen waren. Das Ziel war nicht das Töten, sondern die Gefangennahme des Gegners. Kam es dennoch zum Tod eines Gegners, so wurde dies als ein Unglück betrachtet, so dass Todesfälle tatsächlich einzelne, bedauerte Zufälle blieben.36 Die irokesische Verfassung sah vor, die negative Wirkung eines solchen unglücklichen Todesfalles zu beseitigen. Denn solche Tote konnten weitere Tote nach sich ziehen, da jede Sippe verpflichtet war, ihre Mitglieder zu schützen und notfalls zu rächen. Gemäß den Gesetzen der Verfassung konnten Rache-Fehden immer beendet werden, wenn zwanzig Wampum-Gürtel als Vergütung an die Sippe eines getöteten
35 Mann: »They are the Souls«, S. 60, 63. 36 A.a.O., S. 7; Schumacher, S. 43–47.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Mannes gegeben wurden. Für eine getötete Frau bestand die Gabe in dreißig Wampum-Gürteln, denn die Frau galt als wertvoller, weil sie die »Quelle des Lebens« für ihre Sippe war.37 Eine Fehde entstand, wenn sie im Kriegsrat beschlossen worden war. Im Kriegsrat spielten Verwandtschaftslinien keine Rolle, da die Verdiensthäuptlinge, die im Kriegsrat saßen, nicht im Rahmen des Clangefüges gewählt worden waren. Jede Fehde beruhte auf persönlicher Initiative von Freiwilligen, und es hing allein von der Popularität eines Kriegshäuptlings ab, ob überhaupt etwas zustande kam. Dieser grub das Kriegsbeil aus, einen rot bemalten Tomahawk, geschmückt mit roten Federn, und steckte ihn auf den Kriegspfahl im Dorf. In vollem Schmuck stieß er den Kriegsruf aus und begann den Kriegstanz. Alle im Dorf wussten nun, dass eine Fehde geplant war, und diejenigen, welche diesem Häuptling folgen wollten, schlossen sich seinem Kriegstanz an. Fand sich eine kleine Gruppe zusammen, wurde sie vom zuschauenden Dorf angefeuert, und nach dem Tanz brach sie sofort zur Expedition auf. War die Fehde zu Ende, so wurden die Männer mit den erbeuteten Gefangenen im Dorf willkommen geheißen, und sowohl die Gruppe als auch die Rolle des Anführers lösten sich wieder auf.38 Eine Fehde konnte jedoch nicht ohne das ausdrückliche Einverständnis der Frauen durchgeführt werden. Außerdem mussten die aufbrechenden Männer von den Frauen mit dauerhaftem Proviant aus Maismehl ausgestattet werden, ohne den sie die Fehde nicht hätten unternehmen können. Die Frauen teilten die Lebensmittel nicht nur für die Fehden, sondern auch für die Handelsexpeditionen zu, so dass die letzte Entscheidung über solche Unternehmungen in ihrer Hand lag. Sie konnten mit der Möglichkeit, ihre politische und ökonomische Zustimmung zu verweigern, jede Fehde unterbinden. Das taten sie auch, wenn sie im Konsens mit den Friedenshäuptlingen der Ansicht waren, dass eine bestimmte Fehde keine gute Idee war.39 Außerdem war es Sache der Frauen zu entscheiden, was mit den erbeuteten Gefangenen geschah. Frauen und Kinder wurden immer adoptiert und Männer üblicherweise auch. Diese lebten dann in den Sippen, die sie adoptiert hatten, aber nicht als Sklaven, sondern als gleichwertige Mitglieder, um einen verlorenen Bruder oder Sohn, eine Schwester oder Tochter zu ersetzen und die Sippe zu stärken. Bei der Adoption traten sie in die vollen Rechte des verlorenen Clanmitglieds ein, gehörten ab jetzt zum Volk und wechselten dabei Sprache und Identität. Nur in dem seltenen Fall, dass die Frauen einen Gefangenen nicht adoptieren wollten, wurde er rituell getötet, um für das Leben eines getöteten Clanmitglieds zu bezahlen. Gelegentlich wurden sogar ganze Teile feindlicher, besiegter Völker adoptiert und in die eigene Lebensweise integriert, womit sich die Bevölkerung einer irokesischen Nation schlagartig vergrößerte. Doch auch darüber entschieden allein die Frauen.40
37 A.a.O., S. 47. – Wampum-Gürtel waren sehr wertvoll (siehe weiter unten). 38 Schumacher, S. 80, 99; Morgan: League, Bd. 1, S. 330. 39 Schumacher, S.84, 103; Martha C. Randle: Iroquois Women, Then and Now, Washington D.C. 1951, Bureau of American Ethnology, Bulletin Nr. 149, S. 167–180, bes. S. 172. 40 Schumacher, S. 104.
4.4 Gesellschaftsordnung und Ökonomie der Irokesen
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Das Fehdewesen wurde jedoch nicht nur durch die Frauen kontrolliert und in Schach gehalten, sondern ebenfalls durch die Friedenshäuptlinge der Sippen. Sie waren dafür verantwortlich, dass Meinungsverschiedenheiten und Konflikte zum Ausgleich kamen und ergriffen für deren Beilegung die Initiative.41 Alle diese verwandtschaftlichen und politischen Gruppen waren zudem dem »Rat der Ältesten« aus Frauen und Männern verantwortlich, dem »Senat«, der jede Entscheidung bestätigen musste, bevor sie gültig war. Erfahrung und Weisheit des Alters waren hier versammelt und wachten darüber, dass die Beschlüsse mit den traditionellen Werten übereinstimmten. So hütete der Ältesten-Rat die ungeschriebenen Gesetze und die in der Verfassung geschriebenen Gesetze dieser Kultur. Damit war sichergestellt, dass alles der Prüfung unterlag und die Balance in der Gesellschaft gewahrt blieb (Prinzip von »Check and Balance«). Es gibt etliche Forscherinnen und Forscher, welche die Verfassung der Irokesen-Liga gut kennen und darauf hinweisen, dass sie das Vorbild für die demokratische Verfassung der weißen Gründungsväter der USA war. Allerdings ließen diese Gründer die Rechte der Frauen vollständig aus und schufen eine Demokratie nur für weiße Männer.42
4.4
Gesellschaftsordnung und Ökonomie der Irokesen
Was die Sozialordnung betrifft, so waren die Irokesen matrilinear und matrilokal organisiert, wobei die Matrilinearität das dominierende Form- und Funktionsprinzip der Sippe, des Ortes, des Volkes und sogar der Liga ausmachte. Zu einer mütterlichen Sippe, einer »Ohwachira«, gehörten alle Personen mit einer gemeinsamen Ahnfrau. Damit waren die Frauen im Zentrum der Gesellschaft und jede Clanmutter oder Matriarchin trug den Ehrentitel »Gantowisa«. Die Sippen, die in der Regel recht groß waren und Tausende von Personen umfassten, stellten die grundlegende soziale Einheit dar. Innerhalb der Sippe wurden die Schwestern der Großmutter auch »Großmütter« genannt, die Schwestern einer Mutter galten alle als »Mütter«, und die Kinder von Schwestern nannten sich gegenseitig »Schwestern« und »Brüder«. Wie auch in anderen matriarchalen Gesellschaften wurde Verwandtschaft
41 Dies zeigt, dass Fehden nicht mit Krieg verwechselt werden dürfen. Das irokesische Fehdewesen war streng geregelt und ritualisiert, zeitlich befristet und zahlenmäßig eng begrenzt. Im Unterschied dazu beruht Kriegsführung auf einer festen Organisation aus dauerhaften Truppenverbänden, institutionalisierten Kriegsämtern und einem teuren Militärapparat. Kommt es zum Ausbruch eines Krieges, dann geht es um unaufhörlichen Kampf bis zur völligen Vernichtung des Feindes und um territoriale Eroberung. Diesen Krieg brachten erst die Europäer nach Nordamerika, was dort zum Untergang vieler indigener Völker führte. – Siehe die Unterscheidung von »Fehde« und »Krieg« in: GöttnerAbendroth: Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats, Kapitel 1. 42 Schumacher, S. 86, 101. – Die gleichwertige, starke Stellung der Frauen in der irokesischen Gesellschaft inspirierte später die ersten feministischen Pionierinnen in den USA. Sie gab ihnen und ihren europäischen Schwestern den Anstoß für ihren Kampf um gleiche Rechte und um eine wahre Demokratie.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
nicht individuell, sondern gemeinschaftlich verstanden, und Mutterschaft wurde gemeinsam ausgeübt.43 Die Mitglieder einer Mutterlinie lebten in einem Langhaus zusammen und, wenn der Clan sehr groß war, in mehreren benachbarten Langhäusern. Als Folge der allgemeinen, matrilokalen Wohnweise waren Ehepartner wenig aufeinander angewiesen. Der biologische Vater war oft bekannt und wurde respektiert, hatte aber wenig Bedeutung; er kam meist auf Besuchsehe oder wohnte vorübergehend im Langhaus der Gattin. Der Mutterbruder, der im selben Clanhaus wohnte, übernahm die Aufgaben des »sozialen Vaters«.44 Namen, Titel, Status, Besitz und fast alle sozialen, politischen und religiösen Ämter wurden durch die Ohwachira, die Sippe der Mutter vererbt. Auch die Mythen, rituellen Gesänge und Zeremonien und das traditionelle Medizinwissen sowie die zeremoniellen Gegenstände und Embleme gehörten jeweils bestimmten Muttersippen, in denen ebenfalls die Frauen sie besaßen und ihren Gebrauch überwachten. Auch dies ist in der Verfassung niedergelegt, als das dritte Gesetz für Frauen, dass sie die alleinigen Bewahrerinnen der Namen und Linien sind. Sie hatten damit das Recht, nicht nur ihren Kindern Vornamen und den Namen ihrer Mutterlinie zu geben, sondern auch Personen, die sie in ihre Sippe adoptierten, zu benennen. Das umfasste ebenso das Recht, die politischen Titel zu vergeben, die in ihrer Sippe erblich waren. Dabei durften die Kandidaten für eine politische Position aber nicht Bruder oder Sohn der Clanmutter sein, sondern sie mussten aus der Vielzahl von Kandidaten gewählt werden, die in den großen Clans für eine solche Position in Betracht kamen. Auf diese Weise verlieh die Gantowisa, die Matriarchin, alle Häuptlingstitel, die ihrem Clan gehörten.45 Dies zeigt, dass nicht nur die Verantwortung für die Ohwachira in den Händen der Matriarchin lag, sondern obendrein große soziale Macht. Sie war eine Frau in fortgeschrittenem Lebensalter, der hohe Intelligenz und Führungstalent, ein tadelloser Charakter und einwandfreier Lebenswandel zugesprochen wurden. Sie wurde von einer Ratsversammlung der gesamten Sippe aus der Gruppe ihrer Schwestern als »Gantowisa« gewählt und erhielt als männlichen Helfer den »Ersten Krieger« des Clans an ihre Seite gestellt.46 Er war der Sprecher der Matriarchin im Rat der Männer. Die Clanmutter oder Gantowisa genoss hohes Ansehen, das noch stieg, wenn ihr Clan das Recht hatte, den begehrtesten Ehrentitel »Sachem« oder »Friedenshäuptling« im Großen Männerrat der Liga zu verleihen. Denn in diesem Fall war sie auch Treuhänderin dieses bedeutenden Häuptlingsamtes und trug den Titel »Royaneh«, was so viel wie »Häuptlingsmacherin« heißt.47 43 Schumacher, S.41–42; J. N. B. Hewitt: »Status of Woman in Iroquois Polity before 1784«, in: Smithsonian Institution, Annual Report for 1932, Washington D.C. 1932, Smithsonian Institution, S. 475–488. 44 A.a.O., S. 43–44, 125; Hewitt: »Status of Woman«. 45 A.a.O., S. 45–46; Hewitt: »Status of Woman«; Mann: Iroquoian Women. 46 Ein Krieger wurde bei den Irokesen »Junger Mann« (»Young Man«) genannt, was keine Altersbezeichnung meint, sondern der Titel des Kriegers war. 47 Mann: Iroquoian Women; Hewitt: »Status of Woman«.
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Die Gantowisa war die Repräsentantin ihres jeweiligen Clans in seiner Gesamtheit. Die Entscheidungen des Clans wurden aber nicht von ihr gefällt, sondern im Clanhaus berieten der Frauenrat und der Männerrat getrennt, bis sie jeweils ihre eigene Einstimmigkeit erreicht hatten. Am Schluss stimmten beide Gruppen die Ergebnisse durch gegenseitige Kontaktnahme ab, indem die Clanmutter ihren männlichen Sprecher in den Männerrat der Sippe entsandte und der Männerrat – der als Entsprechung eine weibliche Sprecherin hatte – diese zum Frauenrat schickte. Dennoch waren im Clanhaus die Frauen dominierend, daher waren die Beschlüsse der Großmütter und erwachsenen Frauen richtungweisend für die Politik des gesamten Clans.48 Die Ratsversammlungen im Haus waren aber nicht nur den inneren Angelegenheiten des Clans gewidmet, sie waren zugleich Organe der äußeren Politik. Gewählte Vertreter der Ohwachira nahmen an der Politik der jeweils lokalen Ortschaft, des ganzen Volkes (Nation) und ebenso der Liga teil. Jede Ohwachira hatte außerdem das Recht zur politischen Initiative und konnte ihre Wünsche und Forderungen bis in die allgemeinen Gremien von Volk (Nation) und Liga bringen. So spiegelten die Haushalte die Wünsche und Forderungen aller Irokesen wider, auch der Kinder, da in den Versammlungen das Stimmgewicht einer Frau ihrer Kinderzahl entsprach. Die häuslichen Beratungen waren daher der Ausgangspunkt aller politischen Meinungsbildung und Entscheidungen. So präsentierte sich die politische Ordnung nicht als von oben übergestülpt, sondern als ein Netz der Konsensbildung vom Lokalen zum Allgemeinen. Sie zeigt damit die klassisch matriarchale Form von Politik, die letztlich »demokratischer« ist als die heutige, formale Demokratie der Parteien, worin die Mehrheit den anderen ihren Willen aufzwingt und Minderheiten stimmlos macht. Hatte eine Ohwachira erbliche, politische Ämter, so erweiterten sich die Möglichkeiten ihrer Einflussnahme beträchtlich. Die Vergabe dieser politisch bedeutsamen Titel war allein Sache der Frauen, so wurde jeder Häuptling, auch der Friedenshäuptling der Liga von einem Rat der erwachsenen Frauen, dem die Clanmutter vorstand, gewählt. Diese hatte das letzte Wort, aber wenn einmal ein Konsens erreicht war, konnte sie ihn nicht außer Kraft setzen. Die Frauen bestimmten auf diese Weise die personelle Zusammensetzung der politischen Räte in den Ortschaften, in der Nation und in der Liga, das heißt, von den lokalen bis zu den umfassendsten Gremien. Deshalb vertraten die Erbhäuptlinge in erster Linie die Interessen ihres eigenen Clans, insbesondere die der Frauen, deren Delegierte sie waren. Einige Frauen, von den anderen beauftragt, waren stets bei den Versammlungen der Männer aller Gremien anwesend und protokollierten das, was vorging. Damit besaßen die Irokesinnen politischen Einfluss und politische Verantwortung im größten Ausmaß. Hier wird sichtbar, wie die sozialen und politischen Linien in einer matriarchalen Verwandtschaftsgesellschaft miteinander verwoben sind. Sachem oder Friedenshäuptling war das höchste Amt. Ein Sachem hatte große Ehre, er war verantwortlich für schnelle Konfliktlösung, sei es auf lokaler, nationa48 A.a.O.; Hewitt: »Status of Woman«.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
ler oder föderaler Ebene der Liga. Seine Embleme waren eine Geweihkrone und ein breiter Wampum-Gürtel, die ihm von der Clanmutter, hier als Royaneh, nach seiner Wahl überreicht wurden und die nur er tragen durfte. Ein solcher Wampumgürtel war sehr wertvoll. Er wurde von den Frauen kunstvoll aus Schnecken- und Muschelperlen auf besondere Weise geknüpft, so dass er in einer Art Knotenschrift viele Informationen enthielt: Alle Linien der Sippe und Ernennungen zu bestimmten Häuptlingstiteln, ebenso die Gesetze der Verfassung und Verträge der Liga waren darin auf irokesische Weise »niedergeschrieben«, auch die Protokolle von wichtigen Versammlungen. Dennoch blieb jeder Sachem an die Weisungen der Royaneh und seiner Sippe gebunden. Die Royaneh konnte ihn bei mangelhafter Amtsführung, eigenwilligem Verhalten oder Verletzung von Ideal und Gesetz der Verfassung absetzen. Die Sitte schrieb vor, dass ein »irrender« Sachem dreimal verwarnt wurde: erst durch die Royaneh allein, dann durch den männlichen Sprecher des Clans, den Ersten Krieger, zum dritten Mal durch beide, die Royaneh in Begleitung des Ersten Kriegers. Nützte alles nichts, nahm die Royaneh ihm Titel und Embleme ab und gab sie einem anderen gewählten Vertreter des Clans. Auch die Amtsführung der Royaneh wurde dabei selbstverständlich vom ganzen Clan überwacht, denn auch sie war nach dreimaliger Verwarnung absetzbar.49 Auch im Rat des Volkes (der Nation) waren die beiden Clanhäuptlinge, die Royaneh und der Sachem, vertreten, wobei die einzelnen Völker dies unterschiedlich handhabten. Bei den Wyandot (»Huronen«) hatte es offenbar das Maximum des weiblichen Anteils im Rat des Volkes gegeben, dort waren vier Fünftel der Häuptlinge Frauen.50 Auch bei den Attiwendaronk (»Neutrals«) war eine Frau namens Yagowanea als großer Friedenshäuptling bekannt. Sie hatte umfassenden Einfluss, legte einen bewaffneten Konflikt zwischen den Irokesen und einem anderen Stamm bei und wurde »Mutter der Nation« genannt.51 Die Liga der Irokesen gestaltete dies jedoch zu einem eher parallelen System mit den lokalen Räten als Sphäre der Frauen und den Räten von Nation und Liga als Sphäre der Männer. Dies ließ sich jedoch nicht vollständig durchführen, so dass es sogar auf der Ebene der Liga weibliche Häuptlinge gab. Dies wurde bestätigt durch eine weiße Ethnologin, die bei den Irokesen lebte und selbst ein weiblicher Häuptling der Seneca auf Liga-Ebene wurde: Harriet Converse.52 Es ist jedoch nicht sicher, ob diese Situation der traditionellen irokesischen Ordnung entsprach, oder ob sie eine Folge der Auseinandersetzung mit den Militärs
49 Schumacher, S. 85–93; J. N. B. Hewitt: »A Constitutional League of Peace in the Stone Age of America«, in: Smithsonian Institution, Annual Report for 1918, Washington D.C. 1918, Smithsonian Institution, S. 527–545. 50 A.a.O., S. 45, 95, 98; Hewitt: »Status of Woman«, S. 481; J. W. Powell: »Wyandot Government: A Short Study of Tribal Society«, in: Annual Report of the Bureau of Ethnology to the Smithsonian Institution 1, Washington D.C. 1879–1880, Smithsonian Institution, S. 57–69. 51 Beauchamp, S. 89. 52 Harriet M. Converse: Myths and Legends of the New York State Iroquois, New York State Museum, Bulletin Nr. 125, Albany 1908, University of the State of New York.
4.4 Gesellschaftsordnung und Ökonomie der Irokesen
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der Weißen war. Während der Eroberungskriege sahen sich die Gantowisas nämlich gezwungen, auch die Rolle der gefangenen und ermordeten Sachems in den Räten von Nation und Liga zu übernehmen. In dieser Situation der Not wurden Gantowisas der Seneca und Wyandot auch zu Kriegerinnen, die bewaffnet neben den Männern standen. Im Jahr 1687 übernahm die damalige Jigonsaseh der Liga sogar persönlich die militärische Macht und fügte den Franzosen 1689 bei Montréal eine schwere Niederlage zu.53 Die große Stärke der Frauen in der Gesellschaft der Irokesen hatte ihr Fundament in der Bedeutung, die sie in der Ökonomie besaßen. Die Irokesen kannten wie die anderen matriarchalen Gesellschaften kein Privateigentum, alles gehörte den sozialen Gruppen, Boden und Haus waren Eigentum der Sippen. Jedoch hatten innerhalb des Clans nur die Frauen das Recht auf das Land. Auch das Territorium des Volkes insgesamt war in den Händen der Frauen, Männern stand Besitz an Land nicht zu. Die Frauen bearbeiteten das Land, die Ernte gehörte ihnen, die sie dem Haushalt zur Verfügung stellten und je nach Bedarf verteilten. Diese Situation ist in einem weiteren, wichtigen Recht der Frauen in der irokesischen Verfassung festgehalten, ihrem vierten Recht. Hier heißt es, dass die Frauen die alleinigen Bewahrerinnen der Mutter Erde sind. Das bedeutet, dass die Frauen die Hüterinnen von Mutter Erde waren, denn sie wurden mit ihr identifiziert, weshalb ihnen auch die Früchte der Erde gehörten. Schließlich sind sie es gewesen, die den Mais-Weg erfunden, gegen alle Angriffe verteidigt und dem ganzen Volk geschenkt hatten. So waren es allein die Frauen, die Güter und Dienstleistungen, die zum Leben notwendig waren, überwachten und verteilten.54 Zur Kontaktzeit mit den Europäern bestand der Feldbau der Irokesinnen im Anlegen von Pflanzhügeln, die mit der Hacke bearbeitet wurden. Diese Art von Subsistenz-Ackerbau fand keineswegs nur auf kleinen Arealen statt, sondern war eine hochentwickelte Praxis, die auf ausgedehnten Feldern, die viele Hektar groß sein konnten, in Wechselwirtschaft betrieben wurde. Die Frauen bauten auf den Hügelbeeten die drei sich ideal ergänzenden Pflanzen Mais, Bohne und Kürbis an. Diese Pflanzen, die sie die »Drei Schwestern« nannten, unterstützen sich gegenseitig: Die starken Stängel des Maises geben den rankenden Bohnen Halt beim Wachstum in die Höhe, während die sich schnell ausbreitenden Blätter des Kürbis das Unkraut unterdrücken und den Pflanzhügel beschatten. Mais, Bohne und Kürbis waren die Grundlage der Ernährung und der wohlorganisierten Vorratshaltung. Die Frauen stellten damit die autarke Versorgung des ganzen Volkes sicher. Außerdem arbeiteten sie in festen Arbeitsvereinigungen, die auf den Sippenmustern beruhten, sie pflegten darin Solidarität und Konstanz. Demgegenüber waren die männlichen Arbeitsgruppen für Jagd und Fischfang offener und zufällig, sie konnten sich lösen und neu gruppieren. Im politischen Bereich bedeuteten diese Konstanz und Ge-
53 Mann: Iroquoian Women, S. 149–151. 54 A.a.O., S. 205.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
meinsamkeit der Frauen einen großen Vorteil und trugen zu ihrer politischen Stärke bei.55 Die drei Pflanzen, die »Drei Schwestern«, ließen sich noch relativ weit nördlich kultivieren. Sie vertrugen sogar den Übergang vom intensiven Schwemmland-Anbau an den Flussufern zum extensiven Brandrodungs-Feldbau in den Wäldern, den die Völker des östlichen Waldlandes praktizierten. Diese Flexibilität machte die Menschen zwar von den Flüssen unabhängig, ließ aber wegen des Verlegens der Siedlungen alle zwanzig Jahre keine Bildung von größeren Städten zu. Die Hauptorte jeder der fünf, später sechs Völker zählten immerhin ca. 15.000 Personen in den zahlreichen Clan-Langhäusern; man könnte sie als kleinere Städte bezeichnen. Die anderen Siedlungen waren Dörfer und beherbergten ein paar hundert bis ein paar tausend Einwohner und Einwohnerinnen.56 Jagd und Fischfang und ebenso der Handel waren die Domäne der Männer. Die Männer beteiligten sich nicht am Ackerbau als der Erwirtschaftung der Grundnahrung. Ihre einzige Aufgabe in dieser Hinsicht war das Roden von Waldland, weil der Wald als Bereich der Männer galt; dort rodeten sie für neue Felder unter Anleitung der Frauen. So wie die Frauen die Hüterinnen der Felder waren, galten die Männer als die Hüter des Waldes. Die Felderpflege und die Waldpflege wurden dabei nach dem spirituellen Zwillings-Prinzip als gleichwertige, komplementäre Arbeitssphären betrachtet. Im Sommer widmeten sich die Männer entlang den KanuRouten auf den weitläufigen Wasserwegen dem Handel. Sie handelten ausgiebig mit den nördlichen, jägerischen Völkern, mit denen sie Agrarprodukte gegen Felle und andere Jagdgüter tauschten. Während der anderen Jahreszeiten, besonders im Winter, jagten sie selbst, wobei diese Jagd mit gezielter Wildhege verbunden war, so dass die wilden Tiere halb zahm waren.57 Da sowohl Felder wie Wälder als Teile der Mutter Erde betrachtet wurden, kam alles, was die Männer von ihren Jagd- und Fischzügen nachhause brachten, ebenfalls in die Hände der Matriarchin des Clans. Sie verteilte die Nahrung an die Sippenmitglieder und bewirtete auch die Gäste. Die ökonomische Stärke der Frauen hatte in der irokesischen Gesellschaft – wie in anderen matriarchalen Gesellschaften – jedoch eine tiefere Bedeutung als nur profane wirtschaftliche Macht. Denn die ökonomischen Prinzipien der Irokesen sind untrennbar verknüpft mit spirituellen Prinzipien, deshalb war ihre Ökonomie zugleich eine spirituelle Ordnung. Die Frauen hatten das alleinige Recht auf Land nicht nur deshalb, weil sie es bearbeiteten, sondern weil die »Schildkröten Insel« (»Turtle Island«), das heißt: Nordamerika, eine Frau ist, nämlich Mutter Erde. So wie die Erde es mit ihrer Fülle zeigt, wurde auch in der Ökonomie von der Fülle und nicht der Knappheit ausgegangen. Auf diese Weise wurde wiederum Fülle erzeugt, und wie bei Mutter Erde waren Verteilen und Verschenken der Fülle die
55 Judith K. Brown: »Iroquois Women. An Ethnohistoric Note«, in: Rayna R. Reiter (Hg.): Toward an Anthropology of Women, New York 1975, Monthly Review Press, S. 235–251. 56 Mann: Iroquoian Women, S. 184–237, bes. S. 224; Morgan: League, Bd.1. 57 A.a.O., S. 192–193; Bruchac, S. 70, 72–74.
4.4 Gesellschaftsordnung und Ökonomie der Irokesen
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obersten Prinzipien. Das heißt, dieses »Besitzrecht« der Frauen in matriarchalen Gesellschaften ist ein Verteilungsrecht. Dabei waren Großzügigkeit im Geben und Freundlichkeit im Umgang die hervorstechenden Eigenschaften der Irokesinnen, die bei kleinen oder großen Anlässen würdevoll in Erscheinung traten. Ihre Gewänder waren aus kostbaren, dunklen Stoffen, reich bestickt, und sie trugen wertvollen Silberschmuck. Auch bei Festen aller Art zeigten sie sich in ihrer Schönheit, und diese Feste boten ebenfalls Gelegenheit zu großen Schenke-Aktionen der Frauen. So blieb niemand arm, und die Schenkerinnen hatten große Ehre. Die Geschenke bestanden in Nahrung und Pelzwerk, Garn und Kleidungsstücken, zeremoniell bedeutsamen Federn und den wertvollen Wampum-Gürteln. Da sie alle diese Güter hüteten, waren es auch die Gantowisas, welche die Verantwortlichkeit hatten, die Schenke-Ökonomie der Irokesen zu pflegen und in Gang zu halten. Dabei wurde die Verbindung zwischen der schenkenden Erde und den schenkenden Frauen klar ausgedrückt: So wie die Hügelbeete als Brüste der Mutter Erde betrachtet wurden und das Maismehl als ihre Milch, so wurde das Schenken der Frauen mit dem Stillen aus der weiblichen Brust gleichgesetzt. Das Schenken galt also als eine mütterliche Handlung, von der alle Menschen lebten.58 Durch das Schenken wurden wechselseitige Verbindungen des Friedens geschaffen, die nicht nur innerhalb des Clans galten, sondern auch zwischen den Clans eines Ortes. Streitigkeiten wurden durch Schenken beigelegt, und bei den großen Festen wurden die Verbindungen in alle Richtungen genauso bekräftigt. Das Schenken der Irokesinnen stärkte auch die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ortschaften in einer Gegend und darüber hinaus die Verbindungen zwischen den verschiedenen Völkern in der Liga. So begannen auch die Männer ihre Ratsversammlungen auf der Ebene der Nation oder Liga mit Geschenken, wodurch sie die Friedensbande erneuerten. Auf diese Weise war die irokesische Ökonomie ein Netz von kleineren und großen Schenke-Kreisen. Neue Verbindungen mit Gästen wurden ebenso geknüpft, auch mit Europäern, die es in der Regel als bloße »Gastfreundschaft« missverstanden und die Wechselseitigkeit der Verbindung verkannten. Es war das Vorrecht und die Pflicht der Frauen, Gäste zu bewirten und die GeschenkeDiplomatie auf allen Ebenen zu pflegen: sei es im Sippenhaus durch die Matriarchin, auf lokaler Ebene durch die Clanmütter gemeinsam oder auf der Liga-Ebene durch die Jigonsaseh. Diese Schenke-Ökonomie ist auch von anderen matriarchalen Völkern auf dem nordamerikanischen Kontinent bekannt. Sie fand in einem enorm weit verzweigten Netz statt, denn auf den Wasserstraßen der Flüsse und den zusätzlichen Überlandwegen konnten diese Völker ihre freundschaftlichen Verbindungen über große Distanzen hinweg aufrechterhalten.59
58 Mann: Iroquoian Women, S. 202, 230–237, 299. 59 Ibid.
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4.5
Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Medizinbünde und Mythologie
Heute sind die Medizinbünde die Hauptträger der irokesischen Tradition, sie sind eng verknüpft mit dem agrarischen Jahreszeitenzyklus und dem Zyklus des Lebens. Diese beiden Zyklen gehörten zur Domäne der Frauen, daher war die Spiritualität hauptsächlich ihre Angelegenheit.60 Diese Medizinbünde waren immer geheim. Die Mitglieder erhielten Informationen von den Geistwesen (»Spirits«), die nur ihnen galten und nicht weitergegeben werden sollten. Die Tatsache, dass sich die Bünde während der Reservatszeit zunehmend institutionalisierten und in Verborgenheit hüllten, lag an dem Druck, den die weißen Amerikaner seit 300 Jahren Kolonialherrschaft ausübten, so dass die Indigenen ihre spirituelle Weisheit vor den Missionaren verbergen mussten.61 Auch die Männer fanden nach ihrer Niederlage das verlorene Selbstbewusstsein in den Reservaten wieder, indem sie ihre nun verbotenen jägerischen und kriegerischen Aktivitäten in Medizinbünde umwandelten. Aber das Bundwesen pauschal als »Männerbünde« zu bezeichnen ist falsch, da in den meisten Medizinbünden Frauen teilnahmen und fast die Hälfte ausschließlich Frauenbünde waren. Sogar im 20. Jh. stellten die Frauenbünde noch fünf Bünde von insgesamt zwölf Bünden dar, aber sie arbeiteten angesichts des kolonialen Drucks und der missionarischen Verketzerung der Medizinbünde noch verborgener als die Bünde der Männer.62 Abgesehen davon waren sie als Frauenbünde männlichen Ethnologen nicht zugänglich, was zu krasser Einseitigkeit in der Forschung führte. Auch die Bezeichnung »Medizinbünde« ist irreführend, obwohl die Heilung jeweils bestimmter Krankheiten zu den Aufgaben eines jeden Bundes gehört. Tatsächlich sind sie spirituelle Kultbünde. Das irokesische Wort »Orenda« bedeutet die zweifache Energie in allen Lebewesen und Dingen; sie wirkt wie Ost und West oder Nord und Süd zusammen und schafft die umfassende, göttliche Weltenergie. Es war und ist die Aufgabe der Medizinbünde oder Kultbünde, die beiden Hälften der Weltenergie, das Orenda, in einer dynamischen Balance zu halten. Das meint im individuellen Fall Gesundheit als Gleichgewicht von Leib und Seele, aber es bedeutet auch das soziale Gleichgewicht in der Gemeinschaft, das heißt, zwischen den Geschlechtern und Generationen, ebenso zwischen Menschen und Natur. Alle in den Medizinbünden gehüteten Visionen, Träume, Tänze und Zeremonien dienen diesem Ziel. Die äußeren Kriterien für einen Medizinbund sind: permanente Organisation
60 A.a.O., S. 294–295. 61 Vgl. für das Folgende Horatio Hale: The Iroquois Book of Rites, Wiederabdruck Toronto 1978, Scholarly Reprint Series, University of Toronto Press (Erstausgabe 1883); W. Lindig: Geheimbünde und Männerbünde der Prärie- und Waldland-Indianer Nordamerikas. Untersucht am Beispiel der Omaha und Irokesen, Wiesbaden 1970, Steiner, S. 226–227; derselbe: »Totenfeste und Totenbund der Irokesen«, in: Tribus, Nr. 17, Stuttgart 1968, Linden-Museum, S. 105–108; Saskia Baier-Kleinow: Frauenbünde und die Bedeutung der Rolle der Frauen im Zeremonienwesen der Irokesen, Magisterarbeit, Universität Freiburg 1993, S. 26–28. 62 Lindig: Geheimbünde, S. 167; Baier-Kleinow, S.10, 20; M. Opler (Hg.): Culture and Mental Health, Cross-Cultural Studies, New York 1959, Macmillan, S. 63–96.
4.5 Medizinbünde und Mythologie
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und Amtsträger, Initiation zur Aufnahme in den Bund, eine Ursprungsmythe des Bundes und Geschichten zum Sinn der heiligen Gegenstände, Gesänge und Tänze, ebenso unveränderliche Rituale, die nicht an Außenstehende und an keinen Nichteingeweihten des eigenen Volkes weitergegeben werden dürfen.63 Seitdem sie ihre Verborgenheit aufgegeben haben, veranstalten die Irokesen wieder öffentliche Zeremonien ihrer Medizinbünde, wobei auch die Frauenbünde neuerdings wieder sichtbar auftreten. Diese Zeremonien waren immer öffentlich gewesen, bevor die U.S.-Regierung und die Missionare indigene spirituelle Traditionen verboten hatten. Aber obwohl diese Zeremonien nun wieder öffentlich sind, bleibt dennoch geheim, was auch früher immer geheim gewesen ist. Frauenbünde sind solche, in denen nur Frauen als feste Mitglieder zugelassen sind und alle Ämter von Frauen ausgeübt werden. Die zu einem Frauenbund gehörenden Zeremonien werden ausschließlich von Frauen geleitet, Männer sind Zuschauer und in Einzelfällen Gehilfen. Drei der fünf Frauenbünde haben ihre Wurzeln im Pflanzerinnen-Weltbild: der »Towisas Oäno-Bund«, der »Ogiwe-Bund« und der »Zwergenbund«. Die beiden anderen, der »Otterbund« und der »Frauenbund« gehören zu den jägerischen Tierbünden, was eine überraschende Beziehung der Frauen zu dieser ehemaligen Männerdomäne zeigt. Diese fünf Frauenbünde bestehen noch heute. Das Tragen von Masken kommt in Frauenbünden nicht vor, da Masken aus Holz gemacht werden, und Bäume gehören zur männlichen Domäne. Maskierte Darstellungen sind eine neuere Entwicklung und kommen nur in den Männerbünden vor.64 Die drei wichtigsten der fünf Frauenbünde sind der Ogiwe-, der Towisas- und der Otterbund mit deutlich unterschiedlichen Aufgaben, an denen wir die spirituellen Bereiche der Irokesinnen erkennen können. So konzentriert sich der Towisas-Bund, die »Gesellschaft der Schwestern«, als Agrarbund auf die Kräfte der Fruchtbarkeit, auf Geburt und Wachstum bei Pflanzen, Tieren und Menschen, aber auch im Kosmos. Dieser Bund verehrt die Mutter Erde und besonders ihre göttlichen Töchter, die »Drei Schwestern«: die ältere Schwester Mais und die jüngeren Schwestern Bohne und Kürbis. Die öffentlichen Agrarzeremonien von Aussaat bis Ernte werden von diesem Bund vom Frühjahr bis zum Sommer gefeiert. In den nicht öffentlichen, geheimen Heilzeremonien wird der Kontakt zu den »Geistkräften« der Mutter Erde gepflegt, die von allen Verletzungen, die sie durch die Tätigkeiten der Menschen fortlaufend erleidet, immer wieder geheilt werden muss.65
63 Baier-Kleinow, S. 16, 42–45; J. N. B. Hewitt: »Orenda and a Definition of Religion«, in: American Anthropologist, Nr. 4, Washington D.C. 1902, American Anthropological Society, S. 33–46; derselbe: Orenda, Washington D.C. 1910, Bureau of American Ethnology, Bulletin Nr. 30, Smithsonian Institution, S. 147–148. 64 Baier-Kleinow, S. 11, 13, 22; A. C. Parker: »Secret Medicine Societies of the Seneca«, in: American Anthropologist, Nr. 11, Washington D.C. 1909, American Anthropological Society, S. 161–185. 65 Baier-Kleinow, S. 21, 65, 89, 93; Gertrude Kurath: »Matriarchal Dances of the Iroquois«, in: International Congress of Americanist’s Proceedings, Nr. 29, Bd. 3, Chicago 1952, University of Chicago Press, S.123–130; dieselbe: »The Iroquois Ogiwe Death Feast«, in: Journal of American Folkore, Nr. 63, Boston 1950, American Folkore Society, S.361–362.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Der Ogiwe-Bund, die »Sängerinnen des Todes«, ist den Geheimnissen von Tod und Wiedergeburt gewidmet. Die Frauen dieses Bundes konzentrieren sich auf die Kräfte von Welken, Sterben und Umwandlung, ihr Bund ist daher komplementär zum Towisas-Bund. Ihre rituelle Tätigkeit bezieht sich auf den Tod, die Anderswelt, die Ehrung der Ahninnen und Ahnen und die Wiedergeburt, die ureigene Domäne der Frauen. Daher führen allein Frauen die Begräbniszeremonien aus und begleiten die Toten in die Anderswelt. Die öffentlichen Totentanz-Zeremonien, die ein sehr hohes Alter haben, werden von diesem Bund vom Spätherbst bis zum Vorfrühling gefeiert. Alle diese Rituale finden ausschließlich nachts statt. Der Totentanz ist vermutlich ein Tanz im Feuer, eine spirituelle Kunst, welche die Ogiwe-Frauen bewältigen, aber das wichtigste Ereignis ist das Todesfest, das alle zehn Jahre stattfindet und zu dem alle Toten eingeladen werden. Da der Umgang mit den Totengeistern sehr gefährlich ist, besitzt dieser Bund starke Heilrituale, insbesondere für die »Geistkrankheit«, die auftritt, wenn die unglückliche Seele eines oder einer Toten mitten unter den Lebenden erscheint. Diese beiden Frauenbünde zusammen spiegeln daher den gesamten Zyklus des Jahres und des Lebens, wie er für die matriarchale Spiritualität kennzeichnend ist.66 Anders ist es bei den beiden jägerischen Frauenbünden, von denen der Otterbund der wichtigste ist. Bei diesen Bünden tritt uns eine Verbindung von matriarchaler Spiritualität und Jagdritualen entgegen. In den Theorien weißer Wissenschaftler wird die Jägerei der Männer mit patriarchalen Sozialmustern in Verbindung gebracht, wie es sich in der Vorstellung vom »Mann, dem Jäger« zeigt, der alles erfunden haben soll. Dieses Bild ist völlig irreführend. Der Otterbund nimmt an jedem großen Fest in der Öffentlichkeit aktiv teil. Seine Aufgabe ist die Pflege des spirituellen Kontakts zu Wassertieren, denen eine besonders mächtige, weibliche Energie zugesprochen wird, am stärksten beim Fischotter. Früher überwachten die Frauen dieses Bundes das richtige, ehrfurchtsvolle Verhalten der Jäger und Fischer gegenüber den Jagdtieren. Damit hatten sie entscheidenden Einfluss auf die Männer, solange Jagd und Fischfang für die Ernährung noch wichtig waren, denn die Frauen waren die alleinigen Vermittlerinnen zwischen den Tieren und den Jägern. Bei schlechtem Verhalten der Jäger gegenüber den Tieren schickten die Tiermütter-Ahninnen keine jungen Tiere mehr aus der Jenseitswelt wieder ins Leben zurück, sondern brachten stattdessen Unglück und Krankheit. Begreiflicherweise konnten deshalb nur Frauen die Vermittlerinnen zwischen den Jägern und den Tier-Ahninnen sein, weil Tod und Wiedergeburt die Domäne der Frauen ist. Hatte ein Jäger sich verfehlt, dann versammelten sich die Frauen dieses Bundes an einer heiligen Quelle, um die Otterzeremonie auszuführen, welche die Tier-Ahninnen versöhnen sollte. Zugleich wurde der Jäger gereinigt und von seiner Verfehlung geheilt. Heute sind die Frauen dieses Bundes auf schamanische Trancen spezialisiert, bei denen der Ottergeist in sie fährt; ebenso heilen sie psychische Störungen und Nervenkrankheiten.67
66 Siehe für die Definition der irokesischen Spiritualität: Mann: Spirits of Blood, Spirits of Breath; dieselbe: Iroquoian Women, S. 324–328, darin zum Todesfest S. 329–330. 67 Baier-Kleinow, S.115–119; Lindig: Geheimbünde; Parker: »Secret Medicine Societies«.
4.5 Medizinbünde und Mythologie
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Das wichtigste spirituelle Amt, das eine Frau innehaben kann, ist das der »Ho-nonde-ont«, der »Bewahrerin des Glaubens«, der öffentlich auftretenden Priesterin. In diese Ämter werden Frauen heute innerhalb der Medizinbünde gewählt, sie leiten die Zeremonien der Bünde. Da aber die Frauen als Clanmütter zugleich die Sponsorinnen aller Zusammenkünfte sind – denn sie stellen die Festmahlzeiten bereit –, ist eine Ho-non-de-ont oft Priesterin und Matriarchin in einem. Auch bei den Versammlungen des ganzen Volkes im Mittwinter, die von männlichen Priestern geleitet werden, ist die wichtigste Matriarchin als weibliche Ho-non-de-ont anwesend und spricht die Gebete. Zur Zeit Morgans (1851) hatten die Priesterinnen allgemein die Aufgabe, die genauen Daten für die öffentlichen Feste zu bestimmen, die Organisation der Feste in die Hand zu nehmen und sie schließlich anzuführen. Bei politischen Ratsversammlungen führten weibliche Ho-non-de-ont stets den zeremoniellen Teil durch. Zu dieser Zeit stellten Frauen als Priesterinnen, weil sie als besonders begabt für spirituelle Tätigkeiten galten, zwei Drittel der gesamten Priesterschaft dar.68 Männer konnten auch als »Bewahrer des Glaubens« Ho-non-de-ont sein, da sie ebenfalls eigene Medizinbünde und Zeremonien hatten. Untereinander kannten die Priesterinnen und Priester keine Hierarchie, auch keine Konkurrenz der beiden Gruppen untereinander, sondern sie waren zwei Gruppen gleichgestellter Amtsträger. Sie wachten, zusammen mit dem Rat der Ältesten, über die Sitten der Einzelnen, der Sippen und des Volkes und verkündeten die allgemein bekannten Glaubensvorstellungen.69 Während der christlichen Missionierung – die trotz allem Druck nicht gelang – wurden alle Medizinbünde als »böse Zauberei« und »Keimzellen heidnischen Widerstands« diskriminiert und verboten. Die priesterliche Rolle der Frauen wurde verpönt, so dass infolgedessen alle Zeremonien, auch die früher öffentlichen und insbesondere die der Frauen, geheim wurden und nur noch im Untergrund gefeiert wurden. Manche Bünde arbeiteten weiter unter dem Vorwand, christliche Frauengruppen zu sein, so war der »Christliche Osterstern« eine beliebte Fassade für Medizinbund-Versammlungen von Frauen. Die Patriarchalisierungsversuche der Mission und Regierung haben sich jedoch nicht durchgesetzt. Die traditionellen Irokesinnen ergreifen heute bewusst wieder die Rolle der Matriarchin und der Priesterin in Frauenbünden und beeinflussen die Entscheidungen der Sippen und ihres Volkes bis in die außenpolitischen Angelegenheiten hinein. Bei den Widerstandsaktionen, getragen vom wiedererwachten indianischen Selbstbewusstsein, befinden sich die Frauen heute in vorderster Reihe. Das Medizinbundwesen erweist sich dabei als die stärkste Kraft zur Erhaltung der matriarchalen Kulturtraditionen.70 – Der traditionelle Glaube an das Weiblich-Göttliche wird dabei erneut gepflegt, er ist besonders mit den Zeremonien der Frauenbünde verknüpft. Als die älteste und mächtigste Kraft überhaupt gilt die allumfassende Mutter in ihren drei Aspekten: als Großmutter, Mutter und Tochter. Ihr irokesischer Name ist »Himmelsfrau«, »Aetensic« oder
68 Mann: Iroquoian Women, S.295. 69 Baier-Kleinow, S.122, 124, 129; Kurath: »Matriarchal Dances«, S. 123–125. 70 Persönliche Information von Barbara Mann.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
»Awenhai«, und man nennt sie die »Erste Frau«, die »Erste Mutter« oder die »Erste Großmutter auf der Erde«. Die Irokesen nennen sie auch »Soika Gakwa«, das heißt »Unsere Großmutter Mond«, was an ihre kosmische Herkunft erinnert.71 Die ihr gewidmete Schöpfungsmythe erzählt, was die Irokesen die »Erste Epoche der Zeit« nennen: Die Himmelsfrau Aetensic lebte zuerst als kleine Tochter in der Himmelswelt, deren Abenteuer vielfältig waren und die von ihrer Mutter und Großmutter liebevoll umsorgt wurde. Sie wuchs heran und wurde eine Frau, sogar eine werdende Mutter, und zu diesem Zeitpunkt – so erzählt man – fiel sie durch ein hell leuchtendes Loch vom Himmel herab, direkt auf das Urmeer zu, das die ganze Erde bedeckte. Die Vögel sahen sie fallen, flogen in die Höhe und nahmen sie auf ihre Flügel, um den Sturz zu bremsen. Sie riefen die Wassertiere herbei, um der Himmelsfrau zu helfen. Die Wassertiere tauchten in die Tiefe des Meeres, um Erde heraufzuholen, damit Aetensic auf etwas Festem landen konnte. Aber das gelang erst, als eine riesige Schildkröte ihren breiten Rücken bot, auf den die Tiere die Erde schmierten, und nun setzten die Vögel die Himmelsfrau sanft auf den Rücken der Schildkröte. So entstand »Turtle Island«, die »Schildkröten-Insel«, wie die Irokesen den Kontinent Nordamerika nennen. Seitdem trägt die Schildkröte die Erde, die man sich als runde Scheibe vorstellt, auf ihrem Rücken.72 – Diese Mythe zeigt, dass die Kräfte von Himmel und Erde notwendig zusammenwirken müssen um etwas zu erschaffen, umso mehr, wenn es sich um die Fülle des Lebens auf der Erde handelt. Denn wie es weiter heißt, war die Himmelsfrau Aetensic zurzeit ihres Sturzes mit ihrer kleinen Tochter Lynx schwanger, die nun auf dem Rücken der Schildkröte geboren wurde. Die Himmelsfrau baute für sich und ihre Tochter ein Langhaus, dort wuchs Lynx heran. Mutter und Tochter waren unzertrennlich. Als Lynx erwachsen war, wurde sie vom Nordwind schwanger. In der ursprünglichen Tradition gebar sie dann zweimal Zwillinge, zwei kleine Mädchen des Nordens und Südens und zwei kleine Knaben des Ostens und Westens. Aber nachdem die Missionare die
71 Es handelt sich bei diesen Gestalten um Göttinnen, die Indigenen Nordamerikas lehnen den Begriff »Göttin« jedoch ab. Auch in Alteuropa wurde der Begriff »Göttin« nicht gebraucht, denn auch hier sagte man »Frau«, z. B. »Frau Holle«, wenn das Weiblich-Göttliche gemeint war. Jedoch wird heute der Begriff »Göttin« bewusst verwendet, weil das Weiblich-Göttliche so lange verleugnet worden ist. In keinem Fall ist »Göttin« jedoch parallel zu einem allmächtigen, transzendenten »Gott«, sondern bezeichnet die kosmisch-irdische Welt in ihrer umfassenden Lebendigkeit – was der indigenen Auffassung entspricht. 72 Siehe dazu und zum Folgenden: Morgan, League, Bd.1, S.233 f; J. N. B. Hewitt: »Iroquoian Cosmology, Part 1«, in: Twenty-first Annual Report of the Bureau of American Ethnology to the Secretary of the Smithsonian Institution, 1899–1900, Washington D.C. 1903, Government Printing Office; derselbe: »Iroquoian Cosmology, Part 2«, in: Forty-third Annual Report of the Bureau of American Ethnology to the Secretary of the Smithsonian Institution, 1925–1926, Washington D.C. 1928, Government Printing Office; Barbara Alice Mann: »Creation«, in: B. E. Johansen/B. A. Mann (Hg.): The Iroquois Encyclopedia, Westport, Connecticut, 1999, Greenwood Press. – In den schriftlichen Berichten gibt es zahllose Versionen dieser Schöpfungsmythe, mit unterschiedlichen Graden von Authentizität. Jedes der sechs irokesischen Völker hat noch seine eigene Version. B. A. Mann gibt hier einen Überblick über die wichtigsten Überlieferungen.
4.5 Medizinbünde und Mythologie
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Geschichte für ihre Zwecke umgedeutet hatten, blieben nur die männlichen Zwillinge übrig: Teharonhiawagon vom Osten, dessen Name »Young Sapling« oder »Junger Baumschössling« bedeutet, und Tawiskaron vom Westen, was »Flint« oder »Pfeilspitze« heißt. In irokesischer Tradition sind Osten und Süden, die eine Verbindung von männlicher und weiblicher Energie darstellen, mit dem Morgen, dem Leben und der Sanftheit verbunden. Im Gegensatz dazu sind Westen und Norden, welche die spiegelbildliche männliche und weibliche Energie darstellen, mit dem Abend, dem Tod, mit Schärfe und Schwierigkeiten verknüpft. Weil sie mit diesen vier Kindern gleichzeitig schwanger gewesen war, zu vielen also, starb Lynx und wurde auf Turtle Island begraben. Aber nun verwandelte sie sich in die fruchtbare Mutter Erde, welche die Menschen ernährt. Denn aus ihren Brüsten wuchs der Mais, die »Milch der Erde«, aus ihrem Bauch und Nabel der Kürbis und aus ihren Füßen die Bohnen. Diese Pflanzen sind ihre Töchter, die heiligen »Drei Schwestern«. In einer Seneca-Version wuchs aus ihrem Haupt auch die heilige Pflanze Tabak. Nach anderen irokesischen Überlieferungen brachte die Himmelsfrau den Tabak aus der Himmelswelt mit oder Young Sapling holte ihn von dort.73 Aetensic trauerte so sehr um ihre Tochter, dass sie ihren Enkelkindern keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, oder in der verkürzten, missionarischen Version: ihren beiden Enkelsöhnen. Diese begannen nun um die Liebe ihrer Großmutter zu rivalisieren, was mit ihrem Alter zunahm. Als sie erwachsen waren, wurden sie Schöpfer auf ihre je eigene Weise und belebten die Erde mit Wäldern und Tieren. Doch ihre Schöpfungen waren gegensätzlich: Wenn Sapling die süßen Erdbeeren erfand, dann erfand Flint die dornigen Rosen, wenn Sapling sanfte Tiere lebendig werden ließ, dann machte Flint brüllende Bestien, wenn Sapling schöne Seen schuf, dann schuf Flint reißende Wasserfälle. Solche spiegelbildliche Rivalität kam auch zwischen den weiblichen Zwillingen des Südens und des Nordens vor. Zuletzt ließ Flint eine Eiszeit entstehen, die alles Leben bedrohte, aber Aetensic wies Sapling an, sie zu beenden. Daraufhin warf Sapling einen mächtigen Berg auf Flint, aber er tötete ihn nicht, sondern setzte ihn in dem Berg gefangen. Nun konnte sich das Leben auf Turtle Island wieder ausbreiten.74 – In dieser Mythe von den schöpferischen Zwillingen, seien sie nun männlich oder weiblich, ist das Zwillings-Prinzip verkörpert, nämlich die Polaritäten der Welt, wie die von Hell und Dunkel und von Leben und Tod. Diese Polaritäten werden in der indigenen Spiritualität aber nicht als »gut« oder »böse« bewertet, sondern sie sind die beiden Seiten, die zur Vollständigkeit der Welt gehören. Als die Himmelsfrau Aetensic alt geworden war, schuf sie die Milchstraße, den »Pfad der Seelen«, um allen ihren Menschenkindern den Weg zu ihr nach Hause zu zeigen. Sie setzte für sie auch den Mond als Licht im Dunkeln und als Zeitmesser an den Himmel. Ihr Enkelsohn Flint – und in der originalen Mythe auch seine
73 Hewitt: »Iroquoian Cosmology«, Part 1, S.469; die Wyandot-Version dieser Mythe in: Trigger, S. 77; die verchristliche Version in: J. Loewenthal: »Der Heilbringer in der irokesischen und der algonkinischen Religion«, in: Zeitschrift für Ethnologie, Nr. 45, Berlin, Reimer, S. 65, 71–77. 74 Mann: Iroquoian Women, S. 33–34, 59–60.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Schwester des Nordens – lebten weiterhin unter den westlichen Bergen (die Rocky Mountains), wo sie die erdhaften Seelen der Verstorbenen hüten. Doch Sapling – und im Original auch seine Schwester des Südens – hatten großen Kummer wegen ihrer Großmutter und hoben sie hinauf in den Mond. So wurde sie zu »Unserer Großmutter Mond«, deren Gesicht auf ihre Menschenkinder herablächelt. Ihre Wohnung blieb nun der Mond, wo sie die himmlischen Seelen der Verstorbenen hütet. – In dieser Mythe vollendet Aetensic ihren Lebenskreis von Tochter zur Mutter und zur Großmutter. Ebenso verbindet sie durch ihre Reise Himmel und Erde und vollendet so die Vereinigung dieser beiden Kräfte.75 Aetensic ist besonders mit den Frauen verbunden, denn sie regelt als »Großmutter Mond« die weiblichen Menstruationszyklen, die Geburt, das Wachstum, den Tod und die Wiedergeburt und damit den vollständigen Lebenskreis. Ihre Tochter, die Mutter Erde, ist die Hüterin von allen Krankheiten und ihrer Heilung. Deshalb ist sie fundamental wichtig für die Medizinbünde der Frauen, wobei ihre erdhafte Kraft durch die Weisheit ihrer Mutter im Himmel im polaren Zusammenwirken ausgeglichen wird.76 Die christianisierte Version dieser Mythologie folgt einem üblichen Muster der Verzerrung: Aetensic, die Großmutter Mond, wird zur »Alten Hexe« gemacht und Tawiskaron-Flint zum Ausbund an Schlechtigkeit, eben zum »Teufel«, während die weiblichen Zwillinge ohnehin ignoriert werden. Teharonhiawagon-Sapling, der Bruder der aufgehenden Sonne, avanciert zum Jesus-artigen Heilbringer. Hinzu kommt ein »Großer Geist« im Himmel, ein Vatergott, der die Himmelsfrau geheiratet und geschwängert haben soll und sie dann vom Himmel herabstieß, in einer Art »Sündenfall« aus dem Paradies. Diese Geschichte zeigt eine beliebige Mythenklitterung, in der die christliche Gut-Böse-Moral eingeführt wird, eine fremde Vorstellung für matriarchale Völker. Außerdem beruht diese Interpretation auf demselben krassen Sexismus, mit dem jede archaische Schöpferin-Göttin dämonisiert wird und gleichzeitig jede Frau, die schöpferischen Anteil an ihr hat, bestraft wird.77 Bemerkenswert ist, dass die Himmelsfrau Aetensic in einer der Mythenversionen sich über die neue Unordnung, die auf diese Weise in der Welt gekommen ist, beschwert. In dieser Version schuf sie aus dem Kopf ihrer Tochter Lynx einst die Sonne und führte sie regelmäßig zusammen mit Flint zur Winterszeit in die Unterwelt hinab. Sapling jedoch, wie es seiner Rolle als Sonnenbringer im Frühling durchaus entspricht, macht sich mit seinen Gefährten auf, diesen Kopf, die Sonne, aus der Dunkelheit wiederzugewinnen. Er findet die Sonne auf einer Jenseitsinsel tief stehend und an Baumkronen festgebunden. Ohne Zögern stiehlt er sie, um sie hoch am Himmel für immer festzumachen, damit die Welt ständig Licht haben
75 Hewitt: »Iroquoian Cosmology«, Part 1. 76 Kurath: »Matriarchal Dances«; Converse: Myths and Legends, S. 5–195, bes. S. 181; BaierKleinow, S. 58–65, 94–114. 77 Vgl. die Onondaga-Version, welche diese Verchristlichung zeigt, bei Hewitt: »Iroquoian Cosmology«, Part 1, S. 141–220.
4.5 Medizinbünde und Mythologie
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kann. Da die Sonne nun nicht mehr ordnungsgemäß in ihrem Licht-Dunkel-Rhythmus wandern kann, beklagt sich Aetensic bei Sapling wegen dieser Tat; dreimal bringt sie ihre Klage vor.78 – Diese Klage der Himmelsfrau weist über die dahinter stehende, alte Naturmythe hinaus, denn mit der christlichen Vergöttlichung des Heros des Lichts, der allein der Gute sein soll, wurde das alte Weltbild durcheinander gebracht. So muss er von der göttlichen Großmutter gebeten werden richtig zu handeln. Im traditionellen Weltbild galten die dunklen Kräfte nie als schlecht, sie wurden auch nicht als »dunkel«, sondern als verschieden betrachtet und waren gleich wichtig in den großen Zyklen des Lebens und der Welt. Deshalb klagt Aetensic über die Zerstörung dieser kosmischen Balance, die mit der Zerstörung der gesellschaftlichen Balance einhergeht. Dahinter steht das Ideal eines umfassenden Gleichgewichts, das den Makrokosmos der Natur und den Mikrokosmos der Menschenwelt trägt und das immer gewahrt bleiben muss. Es ist für die Irokesen das »Orenda« in der gesamten Welt. – Dieses sinnvolle Gefüge der matriarchalen Gesellschaft der Irokesen in Politik, Sozialordnung, Ökonomie und Spiritualität wurde massiv gestört durch die hereinbrechenden Europäer. Zuerst verschaffte der unerwartete Aufschwung im Pelzhandel mit den Europäern den Männern ein ökonomisches Eigengewicht, das ihre Rolle gegenüber den Frauen und den Ältesten unverhältnismäßig stärkte. Außerdem forderte die Hitze der Konkurrenz gegen andere indigene Völker immer aggressivere Aktionen heraus – was im Sinne der Weißen war. Diese gaben den Irokesen Gewehre für die Pelze und verlangten immer mehr Felle, denn sie wurden durch den Pelzexport nach Europa reich. Mit den »Feuerwaffen« der Weißen ausgestattet, waren die irokesischen Krieger nun den anderen indigenen Völkern überlegen, was einigen von diesen den Untergang brachte. In den darauf folgenden, unaufhörlichen Kämpfen, die sich immer mehr ausweiteten, nahm das soziale Gleichgewicht der matriarchalen Gesellschaft Schaden. Denn die Männer erreichten als Krieger eine außerordentliche politische Bedeutung. Diese war jedoch von außen verursacht, nicht nur durch den Pelzhandel, sondern verstärkt und massiv durch die nun folgende Invasion der Europäer in ihrem Land. Wegen der Eroberung ihres Territoriums durch die Weißen gezwungen gingen die Irokesen zur organisierten Kriegsführung über: Nun wurden die Kriegsämter institutionalisiert, was vorher nicht der Fall gewesen war, nun gab dies den Kriegshäuptlingen dauerhaften politischen Einfluss. Das sprengte die alte Ordnung der matriarchalen Verwandtschaftsgesellschaft, denn die Hierarchie der Kriegshäuptlinge und Krieger bildete sich unabhängig von den traditionellen Clan-Strukturen und zerschnitt sie. So büßten die Irokesinnen, insbesondere die Matriarchinnen als Gantowisas, im Verlauf dieser Entwicklung ihre starke Stellung allmählich ein.79
78 A.a.O., S. 201–206. 79 Schumacher, S. 67, 96.
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
Nach dem Sieg der weißen Amerikaner und dem Verlust ihrer Unabhängigkeit wurden die überlebenden Irokesen, die den Kriegen und dem nachfolgenden Genozid entkommen waren, in engen Reservaten zusammengedrängt. Davon lagen sieben Reservate im Staat New York und fünf Reservate im kanadischen Ontario und Quebec. Viele heutige Irokesen halten es nicht für zufällig, dass ihnen keine Reservate in Ohio gegeben wurden, dem Bollwerk ihres Widerstands bis ins 19. Jh. hinein. In den U.S.-amerikanischen und kanadischen Reservaten standen sie unter Beobachtung und waren dem Druck der patriarchalen Gesetzgebung der weißen Regierungen ausgeliefert, was verstärkt auf Kosten der Stellung der Frau ging. So wurden 1847 alle Irokesen zum Ackerbau gezwungen, ohne Rücksicht auf die traditionelle Arbeitsteilung der Geschlechter bei ihnen, und die Kleinfamilie mit einem männlichen Haushaltsvorstand wurde zur ökonomischen und sozialen Grundeinheit erklärt. 1869 verankerte ein Gesetz in Kanada die Patrilinearität der indigenen Völker auf kanadischem Territorium. In den USA wurde kein derartiges Gesetz erlassen, so dass dort Reste der alten Matrilinearität erhalten blieben.80 Ironischerweise bewahrten gerade in jenen Gebieten, die keine Reservate hatten, die Beharrlichsten der Irokesen ihre traditionelle Kultur am ehesten. Sie konnten sie im Geheimen fortsetzen, denn sie waren außerhalb des spionierenden Blicks der Missionare und der schweren Hand der Regierungen.81 Es spricht jedoch für die Überlebenskraft der Irokesinnen, dass es ihnen auch unter Reservatsbedingungen gelang, die Trägerinnen der indigenen Identität ihrer Völker zu bleiben. In den USA regenerierten sie die matrilineare Sippenordnung mit den Gantowisas und schlossen sich wieder in Arbeitskooperativen zusammen, um von den schlechten Böden der Reservate ihre Leute durchzubringen. Wo keine Reservate existierten, formten sie weniger sichtbare, doch gleichermaßen aktive, gegenseitige Hilfsbünde. Die anhaltende Wiederbelebung der irokesischen Medizinbünde, die trotz aller Widrigkeiten die Hauptträger der angestammten Tradition sind, gab und gibt den Irokesen insgesamt neues Selbstbewusstsein. Heute treffen sich die Mitgliedsvölker der irokesischen Liga auf eigenen Festivals und Konferenzen wieder und schreiben einflussreiche, kritische Zeitungen über die Situation von indigenen Völkern in Nord- und Südamerika und in der Welt. Sie gehören zu den politisch aktivsten Gruppen in der Bewegung für indigene Rechte.82
80 W. Fenton: »The Iroquois in History«, in: Eleanor Leacock/Nancy Oestreich-Lurie (Hg.): North American Indians in Historical Perspective, New York D.C. 1971, Random House, S. 129–168; Elisabeth Tooker: »Iroquois since 1820«, in: Handbook of North American Indians, Bd. 15, Sturtevant/Ortiz, (Hg.), Washington D.C. 1979, Smithsonian Institution, S. 344–356; C. Waldmann: Encyclopedia of Native American Tribes, Oxford, New York, 1988, Facts on File, S. 104. 81 Persönliche Information von Barbara Mann. 82 Waldmann, S. 107.
4.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
4.6
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Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Auf der sozialen Ebene: • In matriarchalen Gesellschaften gibt es die gemeinsame Mutterschaft von Schwestern. Das verhindert die Belastungen und Einschränkungen der individuellen Mutterschaft und schützt die Kinder. • Matriarchale Gesellschaften kennen keinen »Mutterkult«, denn sie haben keine Klassen und brauchen deshalb keine verschleiernde Ideologie. In Patriarchaten verbrämt ein solcher Kult, dass dort jede individuelle Frau auf ihre bloße Gebärfunktion reduziert wird und dass Mütter ausgebeutet werden.
Auf der ökonomischen Ebene: • Die ökonomischen Prinzipien in matriarchalen Gesellschaften sind untrennbar verknüpft mit spirituellen Prinzipien; matriarchale Ökonomie ist zugleich ein spirituelles System. • Das Vorbild ist die mütterliche Erde; wie bei ihr sind Verteilen und Verschenken aus der Fülle die höchsten Werte. Schenken ist daher das Zentrum der Ökonomie, das dem Vorbild des unaufhörlichen Schenkens von Erde und Himmel folgt. • Da Frauen in der Regel Land und Clanhäuser sowie die Lebensmittel in den Händen halten, sind sie es, welche die matriarchale Schenke-Ökonomie ermöglichen und pflegen. • Die matriarchalen Schenke-Kreise schaffen und erneuern gute Beziehungen auf allen Ebenen: im Inneren des Clans, auf der lokalen Ebene der Gemeinschaft des Ortes, auf der nationalen Ebene des Volkes und auf der föderalen Ebene zwischen den Völkern. Solche Schenke-Kreise können weitgespannte räumliche Ausmaße annehmen. • Die matriarchale Schenke-Ökonomie dient der Schaffung von Freundschaft und Sicherung des Friedens auf allen diesen Ebenen.
Auf der politischen Ebene: • In matriarchalen Gesellschaften haben Frauen in der ökonomischen und sozialen Sphäre bedeutende Macht; daraus resultiert ihre politische Macht. • Trotz der Autorität und Mittelpunktstellung der Frau wird ein Gleichgewicht zwischen der weiblichen und männlichen Handlungssphäre gewahrt. Diese Handlungssphären stehen nicht stereotyp fest, sondern werden in verschiedenen matriarchalen Gesellschaften verschieden verstanden, mit einem gewissen Spielraum. • Es ist die Handlungssphäre, die das Geschlecht bestimmt, nicht das sexualisierte Individuum wie im Patriarchat. So können Einzelne die jeweils andere Hand-
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Kapitel 4: Nordamerika: am Kreuzpunkt südlicher und nördlicher Kulturen
lungssphäre wählen und damit das Geschlecht wechseln. Eine solche individuelle Wahl wird anerkannt. Das Gleichgewicht zwischen der weiblichen und männlichen Handlungssphäre bleibt dabei unverändert bestehen, es ist ein Teil des polaren Weltbildes matriarchaler Kulturen. Dieses Gleichgewicht wird durch das politische Mittel der Konsensbildung in Ratsversammlungen ständig erneuert. Dabei werden alle Entscheidungen in einem Einigungsprozess getroffen, an dem alle beteiligt sind. Diese Ratsversammlungen finden als eigener Frauenrat oder Männerrat im Clan statt, ebenso als gemeinsamer Clanrat, als Rat der Clans in der jeweiligen Ortschaft und auf der umfassendsten Ebene als Rat des Volkes. Matriarchate sind daher egalitäre Konsens-Gesellschaften. Die Realpolitik, die alle anderen politischen Gremien beeinflusst, wird im Clanhaus gemacht. Da dies die Domäne der Frauen ist, fällt ihre Stimme sehr ins Gewicht, denn ohne das Einverständnis der Frauen können die Männer nichts unternehmen, selbst nicht in der Außenpolitik. Die Politik in den Clanhäusern repräsentiert den Willen des Volkes – denn dort leben alle – und ist richtungweisend für die gesamte Gesellschaft. Männer sind Delegierte und vertreten die Entscheidungen ihrer Clans nach außen. Sie bleiben an das Wort der Frauen gebunden und sind danach den Frauen ihres Clans Rechenschaft schuldig. Sie sind verpflichtet, gemäß den Weisungen der Frauen zu handeln. Da die Frauen einzelne Männer zu Häuptlingen mit Vertretungsbefugnis wählen, haben sie auch das Recht sie abzusetzen. Durch die Wahl der Häuptlinge bestimmen die Frauen die politische Zusammensetzung in allen größeren politischen Gremien. Dem Clan stehen zwei Personen vor, die Matriarchin und der Häuptling als Clanvertreter.
Auf der föderalen politischen Ebene: • Auch die matriarchale Bildung von Allianzen zwischen verschiedenen Völkern folgt dem Ideal der Verwandtschaftsgesellschaft. • Matriarchale föderale Politik ist nicht-hierarchische Bündnispolitik. Sie besteht darin, Bündnisse von Gleichen zu schaffen, was entweder durch direkte matrilineare Verwandtschaft durch Heiratspolitik oder durch symbolische matrilineare Verwandtschaft durch Bündnisse von Clans mit gleichen Namen hergestellt wird (für letzteres z. B. die Liga der Irokesen). • Konföderationen aus verschiedenen Völkern sind die größten politischen Formen, die matriarchale Gesellschaften bilden. Sie errichten keine Staaten, da diese immer hierarchisch sind und auf Herrschaft beruhen, eben patriarchal sind.
4.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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Auf der kulturellen Ebene: • In matriarchalen Gesellschaften haben Frauen die priesterlichen Funktionen entweder allein inne oder zu gleichen Teilen mit den Männern. • Matriarchale Priesterinnen und Priester kennen keine Hierarchie, weder untereinander noch zwischen Priesterinnen und Priestern. • Kultbünde sind die Hauptträger der matriarchalen Tradition; es gibt getrennte Kultbünde von Frauen und Männern. Die Bünde der Frauen sind verknüpft mit dem agrarischen Jahreszeitenzyklus und dem Zyklus des Lebens, die Bünde der Männer mit jägerischen und manchmal kriegerischen Aktivitäten (z. B. die »Medizin-Bünde« der Irokesen). • In Zeiten von Unterdrückung der matriarchalen Tradition hüllen sich diese Kultbünde in institutionalisierte Geheimhaltung, um ihre Kultur zu schützen. Dabei werden die Frauenbünde oft die Hauptträger zum Erhalt der matriarchalen Kultur. • Das matriarchale Weltbild ist nicht-dualistisch und enthält nicht die theologischen Begriffe von »Gut« und »Böse«. Stattdessen besteht Gleichwertigkeit zwischen verschiedenen, aber komplementären Energien. Sie stellen die beiden polaren Seiten der Welt dar, nämlich des Kosmos und der Erde, und bewirken die Zyklen alles Lebendigen. Das Weltbild ist daher zyklisch und nicht linear.
Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
für die Ammas, uralte Muttergöttinnen Indiens, und für die heiligen Schlangen
5.1
Matriarchat im Kastensystem
Die Geschichte Nordwest-Indiens und Südindiens verlief im Hinblick auf die matriarchale Gesellschaftsform völlig anders als die Geschichte Nordost-Indiens. Die matriarchalen Kulturen Nordost-Indiens (Khasi und Garo) sind denen der Völker Tibets und Ostasiens ähnlich.1 Die Geschichte Nordwest-Indiens ist dagegen von den matriarchalen Kulturen aus Westasien, besonders Mesopotamien, beeinflusst worden. Die matriarchalen Kulturen Nordwest-Indiens hatten eine lange Kontinuität bis zu der Zeit der patriarchalen Eroberung, die ebenfalls aus Nordwesten kam. Die matriarchale Geschichte Südindiens ist von diesen geschichtlichen Entwicklungen im indischen Nordwesten geprägt worden und erhielt dadurch ihr besonderes Gesicht. Aus diesem Grund habe ich die matriarchalen Gesellschaften auf dem indischen Subkontinent getrennt behandelt, nämlich in ihrem verschiedenen und je eigenen kulturellen Zusammenhang – und nicht in ihrer zufälligen Zugehörigkeit zum modernen indischen Nationalstaat. Im indischen wie in anderen Nationalstaaten werden häufig grundverschiedene Völker künstlich vereinigt, was Anlass zu anhaltenden Spannungen gibt. – »Matriarchat im Kastensystem« ist ein Widerspruch in sich. Denn nirgends wurde patriarchale Hierarchie derart extrem durchgesetzt wie im Kastensystem Indiens. Matriarchale Gesellschaften kennen dagegen keine Hierarchie, weder eine, die aus der Abwertung eines Geschlechts, noch eine, die aus der Abwertung bestimmter Tätigkeiten hervorgegangen ist. Beides ist typisch für patriarchale Gesellschaften und im patriarchalen Indien wurde es auf die Spitze getrieben. Der Widerspruch von »Matriarchat im Kastensystem« lässt sich nur durch die Besonderheit der Geschichte Indiens erklären. Wie alle frühesten Stadtkulturen im Neolithikum und der Bronzezeit beruhte auch die Stadtkultur am Indus im Nordwesten Indiens auf matriarchaler Grundlage und blieb während ihrer ganzen Existenz
1 Siehe dazu Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften der Gegenwart. Ostasien, Indonesien, Pazifischer Raum, Band I aus dieser Reihe.
5.1 Matriarchat im Kastensystem
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matriarchal. Sie hatte engste Verbindung und Verwandtschaft mit Sumer, und viele Archäologen betrachten sie als einen Ableger der frühen Sumerischen Kultur, die spätmatriarchal organisiert war.2 Ihre berühmtesten Ausgrabungsstätten sind Mohenjo Daro und Harappa (Karte 6). Die Induskultur war eine hoch entwickelte Ackerbau- und Stadtkultur und hatte durch Schifffahrt überregionale Reichweite, nicht nur entlang dem großen Strom Indus, sondern auch mit Seekontakten bis nach Mesopotamien. Sie blühte mehr als ein Jahrtausend lang, bis Nordwest-Indien von den indoeuropäischen Stämmen der Aryans (Arier) erobert und patriarchalisiert wurde.3
Karte 6: Verteilung der matriarchalen Elemente in Indien (aus: O.R. von Ehrenfels: Motherright in India, Haiderabad, Dekkan, Oxford 1941, Oxford University Press, S. 2)
Alle vereinzelten Stämme, Sprachen und Sitten, die heute noch in Indien von der vor-indoeuropäischen und vor-patriarchalen Kultur übrig sind, nennt man »drawi-
2 Siehe dazu Göttner-Abendroth: Geschichte matriarchaler Gesellschaften und Entstehung des Patriarchats. Westasien und Europa, Band III aus dieser Reihe. 3 Der Begriff »Arier« ist ursprünglich ethnologischer Herkunft und bezeichnet lediglich einen bestimmten Stamm der Indoeuropäer. Da er jedoch von den Nazis überdehnt und missbraucht wurde, gebrauchen wir hier die englische Version »Aryans«, um jeder Verwechslung vorzubeugen.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
disch«. »Drawida« bezeichnet also keinen Stamm oder Volk, sondern eine eigene Kulturform, eben die matriarchale. Als »vor-drawidisch« benennt man in Indien die altsteinzeitliche Kultur der Sammlerinnen und Jäger, die vor der jungsteinzeitlichen Ackerbaukultur bestand, neben ihr weiter existierte und in Resten noch vorhanden ist. Zu dieser ältesten Kulturform gehört beispielsweise das indigene Volk der Wedda, Menschen mit einer archaischen Lebensweise, die in den Urwäldern Indiens und Sri Lankas (Ceylon) überlebten. Ihre Sozialordnung war zumindest mutterorientiert und bis zu einem gewissen Grad matrilinear. Heute sind sie fast ausgestorben.4 Um 2000 v.u.Z. wanderten von Nordenwesten her die indoeuropäischen Aryans ein, die sich selbst »die Edlen« nannten. Bis 1750 v.u.Z. hatten sie alle Städte am Indus zerstört, denn sie besaßen die besseren, nämlich eiserne Waffen. Sie übernahmen so gut wie alles aus der ihnen überlegenen Vorgängerkultur, aber nicht ihren Glauben; stattdessen entwickelten sie ihre eigene patriarchale Religion: das vedische Brahmanentum. Durch Jahrtausende verbreiteten sie diese Lehre über ganz Indien, indem sie alle anderen Völker und Religionen ihrem hierarchischen Kastensystem unterwarfen. Das Ergebnis war ein Konglomerat aus vielen verschiedenen Religionen und Lebensweisen – alle mehr oder weniger von der patriarchalen vedischen Lehre beeinflusst –, das heute als »Hinduismus« bekannt ist. Im Gegensatz zum Brahmanentum ist der Hinduismus keine klar definierte Religion, sondern eher ein Sammelbecken dieser verschiedenen Ausprägungen der lokalen Völker Indiens mit ihren vielen verschiedenen Gottheiten und Glaubensformen, die sich nun im Kastensystem befinden.5 So trägt der Hinduismus zahllose matriarchale Elemente von diesen Subkulturen mit sich, obwohl diese oft unter dem Druck des Brahmanentums deformiert wurden. Diese Entwicklung ist mit der christlichen Missionierung in Europa vergleichbar: Mit dem Madonnenkult und den weiblichen Heiligengestalten wurden über die Jahrhunderte ebenfalls frühere, matriarchale Gottheiten und Symbole übernommen und zugleich in einem patriarchalen Rahmen umgedeutet und deformiert. Bei der Zerstörung der Induskultur flohen viele Menschen mit matriarchalen Traditionen vor den aggressiven Aryans mit ihren Schiffen nach Süden auf der Suche nach einem neuen Mutterland. Entlang der westlichen Küste erreichten die Flüchtlinge Südindien mit der Gegend von Kerala in der südwestlichsten Ecke (siehe Karte 6). Kerala ist der südliche Teil der Malabarküste mit ihrer paradiesischen, üppigen Landschaft, die aber durch die hohe Gebirgskette der West-Ghats scharf vom übrigen Land getrennt ist. Diese Region besitzt mit ihren Völkern und Kasten bis in die Gegenwart viele matriarchale Elemente und schließt Matriarchate in ver-
4 C. von Fürer-Haimendorf: »Die Wedda auf Ceylon«, in: Bild der Völker, Bd.7, S. 128–129; Romila Thapar/ Percival Spear: A History of India, 2 Bde., Harmondsworth, England 1965/ 1966, Penguin Books, Kap. 1. 5 Siehe »Mana Sanskriti (Our Culture)«, in: Vepachedu Educational Foundation, S. Vepachedu (Hg.), Nr. 69, Oktober 2003, über das Brahmanentum, S. 21, http://www.vepachedu.org/ manasanskriti/Brahmins.html
5.1 Matriarchat im Kastensystem
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schiedenen Ausformungen ein. Die berühmteste dieser Volksgruppen sind die Nayar.6 Die Flüchtlinge aus der zerstörten Induskultur wandten sich auch nach Norden und erreichten über die Quellflüsse des Indus die Berge des Himalaya und siedelten dort in jenen Bergländern, die heute »Kaschmir«, »Nepal« und »Bhutan« heißen. Ebenso erreichten sie den Oberlauf des großen, nordindischen Stromes Ganges, dessen Nebenflüsse die des Indus fast berühren, und über den Ganges gelangten sie bis in dessen riesiges Delta in Ostindien (siehe Karte 6). Dort begegneten sie anderen matriarchalen Kulturen: jene der tibetisch-burmesischen Völker aus Ostasien, deren Ursprung im Osten des tibetischen Hochlandes an den Oberläufen der großen ostasiatischen Ströme lag. Diese besitzen alte, ostasiatische Sprachen, die heute noch von den Khasi und Garo in den Khasi-Bergen Ostindiens und von verstreuten Gruppen im östlichen Zentralindien gesprochen werden.7 Sie sind die letzten Ausläufer der Westwanderung der matriarchalen Bergkulturen Ostasiens, während die Flüchtlinge der Induskultur die letzten Ausläufer der matriarchalen Stromkulturen Westasiens sind. Es ist nämlich auffallend, dass noch heute die matriarchalen Kulturelemente sowohl in Südindien an der Malabarküste und im Tamilenland sowie in Ostindien im Gangesdelta am dichtesten vorhanden sind. So ist es kein Zufall, dass genau in diesen Gebieten die zwei größten und wichtigsten Städte: Kal-kutta im GangesDelta und Kali-kut an der Malabarküste, den Namen der uralten Göttin Kali tragen, die vor-indoeuropäisch ist und sich nie ganz patriarchalisieren ließ (siehe Karte 6). Diese geschichtliche Situation ist der Hintergrund, vor dem die beträchtliche Verschiedenheit der Matriarchate der Khasi einerseits und der Nayar andererseits, beide auf indischem Boden, erst verstanden werden kann. Die Khasi konnten sich in ihrem bergigen, isolierten Rückzugsgebiet im äußersten Osten Indiens als eigene Ethnie und geschlossene Gesellschaft sehr lange Zeit halten, wo sie ihr bäuerliches Matriarchat bewahrten. Ihre Traditionen wurden erst sehr spät durch den Britischen Kolonialismus im 19. Jh. gestört. Im Gegensatz dazu wurden die Nayar durch eine geschichtliche Katastrophe, durch die Invasion der Aryans in Nordwest-Indien vor mehr als dreitausend Jahren, aus ihrer Kultur gerissen. Sie hatten nicht die Möglichkeit, friedlich auszuwandern und unbehelligt in Südindien zu siedeln. So wurden sie – anders als das Ackerbauvolk der Khasi – ein Volk von Kriegern, und nur als solches konnten sie in den nachfolgenden Jahrtausenden mit ihren matriarchalen Strukturen überleben.
6 Die Nayar von Kerala in Südindien sind jedoch keine Ausnahme, sondern passen in die südindischen matriarchalen Traditionen, die es ebenso in den Regionen von Tamil Nadu, Karnataka und Sri Lanka gibt. – Siehe J. Leavitt: »Cultural holism in the anthropology of South Asia: The challenge of regional traditions«, in: Contributions to Indian Sociology, Nr. 26, Los Angeles 1992, Sage, S. 3–49; Savithri Shanker de Tourreil (indigene Nayar-Forscherin): Nayars in a South Indian Matrix. A Study Based on Female-centred Ritual, Dissertation, Concordia University, Montréal, Kanada 1995. 7 Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften, Band I, Kap. 2.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Denn die Beunruhigung Nordwest-Indiens durch immer neue Eroberungswellen hielt über die folgenden Jahrtausende weiter an: Im 3. Jahrhundert v.u.Z. kamen die patriarchalen Griechen unter Alexander dem Großen und gingen im 1. Jahrhundert v.u.Z. wieder. Auf sie folgten die Skythen, sie blieben bis zum 4. Jahrhundert n.u.Z. Danach war es die Invasion der Kuschan, welche die Guptas-Dynastie errichteten, und nach diesen fielen die mongolischen Hunnen ein. So blieb der Nordwesten Indiens bis ins 6. Jahrhundert n.u.Z. der Schauplatz fortwährender blutiger Eroberung und Zerstörung. Das unterdessen von den Aryans entwickelte Brahmanentum, das zu einer Priesterherrschaft führte, wurde durch diese neuen, aufeinander folgenden Eroberungswellen immer weiter nach Osten und Süden abgedrängt. Dort brachte es die bis dahin »drawidischen« Gebiete zunehmend unter seinen Einfluss. So wurden sowohl Ostindien (Bengalen) wie Südindien (Kerala und Tamil Nadu) allmählich patriarchalisiert und das Kastenwesen durchgesetzt. An der Malabarküste (Kerala) waren die Brahmanen aber so sehr auf die Unterstützung des Kriegertums der Nayar angewiesen, dass sie mit ihnen einen historischen Kompromiss schlossen. Er bestand darin, dass die Nayar das Kastensystem übernahmen und die Brahmanen-Priester als erste und oberste Kaste anerkannten. Dafür wurden die Nayar als die zweite Kaste, die der Könige und Krieger, von den Brahmanen anerkannt, was ihnen erlaubte, ihre matriarchale Lebensweise offiziell akzeptiert weiterzuführen. Es versteht sich von selbst, dass dieser ungewöhnliche Kompromiss nicht nur mit friedlichen Mitteln zustande kam und dass er eine Reihe von sozialen Widersprüchen und Spannungen hervorbrachte. Allerdings gelang es dieser eigenartigen Verbindung von patriarchal lebenden Priestern und matriarchal lebenden Königen und Kriegern, vom Ansturm des Islam in Indien nicht überrannt zu werden. Vom 11. bis zum 18. Jahrhundert n.u.Z. eroberten muslimische Turkvölker ein riesiges Reich auf indischem Boden, das von den mächtigen Mogul-Herrschern regiert wurde. Nur Südindien und Sri Lanka (Ceylon) blieben völlig frei von der Islamisierung. Nach kurzer Vereinnahmung durch Tamilen-Könige bildeten die Nayar ihre eigenen lokalen Königreiche. Alle diese Feinde waren vom Land her, von Nordwesten und Westen nach Indien eingedrungen, weshalb der Weg durch die Dschungel bis nach Südindien sehr weit für sie war. Die letzten und gefährlichsten Feinde, die Europäer, kamen dagegen übers Meer. Nach dem Kontakt mit dem Seefahrer Vasco da Gama (15. Jh.) wurde die fruchtbare Malabarküste mit ihrer Vielfalt an Gewürzen, besonders Pfeffer, zum erstrangigen Handelsziel für Portugiesen, Holländer und Franzosen, die sich gegenseitig harte Konkurrenz lieferten. Zuletzt kamen die Engländer und unterwarfen ganz Indien auf blutigste Weise ihrem Anspruch auf Kolonien rund um die Erde. Um 1800 wurden auch die Nayar-Krieger, die zähesten Widerstand leisteten, entwaffnet, ihre Armeen aufgelöst und sie selbst nach Hause geschickt. Diese ungewohnte Situation schädigte die traditionellen matriarchalen Muster, ebenso die nachfolgende, europäische Kolonialisierung. Die damit verbundene Erziehung im englischen Stil und die aufgezwungene englische Sprache, zuletzt die Industrialisierung im 1949 unabhängig gewordenen Indien zerrütteten dann die alte Lebensordnung der Nayar.
5.2 Frauen und Männer der Nayar
5.2
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Frauen und Männer der Nayar
Die ersten ausländischen Reisenden, die nach Marco Polo (13. Jh.) die Malabarküste besuchten, waren über mehrere Züge der dortigen Gesellschaft erstaunt. Zum einen fiel ihnen die große Schönheit und sexuelle Freiheit der Nayar-Frauen auf. Ihre Eleganz und Sauberkeit, ihre Intelligenz und hohe Selbstachtung sowie ihre Progressivität wurden von allen Augenzeugen gerühmt, und in der Literatur Südindiens war ihre Schönheit sprichwörtlich. Ebenso bewunderten sie den kriegerischen Mut der Nayar-Männer. Das Merkwürdigste schien ihnen jedoch die Gleichzeitigkeit von offenherziger, matriarchaler Lebensweise bei den Nayar mit dem überaus sittenstrengen, patriarchalen Hinduismus bei den Brahmanen dieses Landes. Die Reisenden kamen aus allen Weltgegenden: Europa, Arabien, Persien, China, denn die Könige von Kalikut und anderen Küstenstädten unterhielten lebhafte, überseeische Handelskontakte, während sie der Rest Indiens, von dem sie abgeschirmt wohnten, wenig interessierte. Übereinstimmend stellten diese Fremden fest, dass es wohl an der ganzen Malabarküste keine Schneider gäbe, denn alle Leute gingen fast nackt und barfuß bis auf ein weißes Tuch, das sie um die Hüften schlangen. Sogar die Könige kleideten sich so, nur war ihr Tuch aus Seide, um den Nacken trugen sie Goldschmuck, und junge Diener hielten einen Sonnenschirm, das höchste Standeszeichen, über sie. Ein Berichterstatter erzählt von der Königin von Quilon, dass sie eine Begleitung von 700 Offizieren und Soldaten um sich hatte, alle nach der Malabar-Mode gekleidet, während sie ebenfalls nur ein Tuch um die Leibesmitte trug. Ihre Ohren waren lang von schweren Gehängen, auch um Nacken, Arme und Beine trug sie Juwelen aus Gold und kostbaren Steinen. Die adeligen Nayar-Damen, die sich im Palast versammelt aufhielten, glichen der Königin durchaus: Außer mit dem Hüfttuch waren sie nur mit Juwelen bekleidet, die von den Ohren bis auf die Schultern herabhingen, ihre Arme waren von den Ellbogen abwärts und ebenso die Fußgelenke von Goldreifen, Perlen und Edelsteinen bedeckt, und auch um ihre Hüften hingen Juwelengürtel von größtem Wert. Ihre Brüste trugen sie stets nackt, nur mit Sandelparfüm eingerieben und gelegentlich mit einem Blumenkranz geschmückt. Welchem Mann sie diesen um den Hals hängten, den hatten sie nach einer alten Sitte erwählt.8 Ihr schwarzes, glänzendes Haar, mit Kokosöl gepflegt, reichte lang über den Rücken herabfallend fast bis zum Boden, doch meist trugen sie es zu einem Knoten aufgesteckt und mit Blumen verziert. Unbefangen bewegten sie sich so in der Öffentlichkeit, zeigten auch in Männerversammlungen ihre Schönheit und wurden betrachtet und bewundert. Keine ehrenwerte Frau trug ihre Brüste bedeckt, sondern frei und mit natürlicher Würde (Abb. 19 und 20). Die Sparsamkeit der Kleidung war bei Frauen und Männern aller Ränge normal. Ein Hüfttuch, ohne weiteren Schmuck getragen und selten bis zu den Knien reichend, zeigte durch die verschiedene Länge den Rang im Kastensystem an. Nur die 8 O. R. von Ehrenfels: Mother-right in India, Haiderabad, Dekkan, Oxford 1941, Oxford University Press, S. 145.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Abb. 19 und 20: Frauen der Gond, eines indigenen Volkes in Indien. Sie zeigen noch heute den ursprünglichen »Drawida«-Typus und die traditionelle Kleidung, welche die Nayar-Frauen nicht mehr haben. (aus: C. von Fürer-Haimendorf: Tribes of India. The Struggle for Survival, Berkeley-Los Angeles-London 1982, University of California Press, S. 16 und 17)
Frauen der Brahmanen gingen verschleiert; der Rock, das Oberkleid und ein langes Tuch um Kopf und Schultern verhüllten sie völlig. Außerdem durften sie einen Sonnenschirm, das Standeszeichen der obersten Kaste, tragen, um sich vor den Blicken der Männer zu verstecken. Heute ist diese Verschiedenheit der Kleidung verschwunden, alle Frauen tragen sich »anständig« bedeckt.9 Über die Nayar-Männer, die »adeligen Krieger von Malabar«, berichten diese Augenzeugen, dass sie sehr stolz waren und jede Arbeit verachteten. Auf den Gütern, welche die Nayar besitzen, machten die unteren Kasten der Pulayan und der Parayan, die Sklaven und Leibeigenen der Nayar, für sie die Landarbeit. Jedoch übten auch gewöhnliche Nayar-Männer dienende Berufe aus: Sie waren Lehrer, Spezialisten der Bestattungsbräuche, Tempel-Musiker, Barbiere, Wäscher, Ölproduzenten und anderes, und während der vergangenen Jahrhunderte bildete sich unter den gewöhnlichen Nayar auch eine Hierarchie heraus. Die besten Nayar-Männer hingegen waren Krieger, und die Berichte besagen, dass sie in der Kriegskunst äußerst geübt waren. Sie trennten sich nie von ihren Waffen und fürchteten keine
9 A.a.O., S. 59; A. Sridhara Menon: Social and Cultural History of Kerala, Neu Delhi 1979, Sterling, S. 109–113; F. Fawcett: Nayars of Malabar, New Delhi 1915, Asian Educational Services (Erstausgabe 1901), S. 197–198.
5.2 Frauen und Männer der Nayar
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Gefahr. Sie kämen des Weges und hielten das nackte Schwert so selbstverständlich in der Hand wie Reisende einen Wanderstab. Einige von ihnen trügen es wie ein normales Gerät auf dem Rücken, der Knauf steckte in ihrem Bündel und die bloße Klinge ragte funkelnd über den Schultern auf.10 Die Wahlsprüche der Nayar-Krieger waren: »Ehre und Galanterie! Mein Schwert und meine Herrin! Liebe und Schlacht!« Sie waren unabhängige Männer und nicht durch Familienbande gefesselt. Denn die Güter als gemeinsames Eigentum besorgten die Frauen, die dort matrilinear und matrilokal zusammen lebten. Als Herrinnen im Clanhaus waren sie ihrerseits auch unabhängig. Jedes Mädchen und jeder Knabe begann im Alter von sieben Jahren in den öffentlichen Sportschulen mit dem Körpertraining, besonders im Ringen. Zugleich lernten sie dort lesen und schreiben; daher war und ist das Bildungsniveau bei den Nayar allgemein sehr hoch. Mit elf Jahren verließen die Mädchen die Sportschulen und nahmen ihre Arbeiten im Hause auf, während die Jungen verschiedene berufliche Fertigkeiten erlernten und den Umgang mit den Waffen. Traditionellerweise bestanden die Waffen in Speer, Pfeil und Bogen, Schwert und Schild, und nach dem Kontakt mit den Europäern lernten die Nayar, Gewehre und Kanonen perfekt zu gebrauchen. Jeder männliche Nayar diente für einige Zeit in der Armee und ein großer Teil der Nayar-Männer, die besonders geeignet waren, wurde danach Berufskrieger. Dennoch stand jeder Nayar für eine bestimmte Zeit im Leben unter Waffen. Könige und lokale Häuptlinge konnten sie jederzeit einberufen und binnen kurzem Armeen von Tausenden von Kriegern auf die Beine stellen. Auch in die Schlacht gingen sie so nackt wie im normalen Leben, nur mit dem Lendentuch bekleidet, sie kannten weder Brustpanzer noch Helme. Sie verließen sich auf ihre außerordentliche Beweglichkeit und Treffsicherheit, denn sie konnten sich biegen und wenden, als hätten sie keine Knochen, und zugleich Salven abgeben, die so präzise waren wie die der am besten disziplinierten Truppen in Europa. Sie kämpften immer zu Fuß, denn Reiterei war ihnen unbekannt. Aber sie marschierten nicht in Truppenverbänden, sondern kämpften in losen Gruppen in Scharmützeln. Bei leichtem Druck des Gegners flohen sie taktisch, um blitzartig von anderer Seite zurückzukehren, dabei warfen sie ihre Speere sowohl vorwärts wie rückwärts. Bei hartem Druck und großer Gefahr kehrten sie zum Angriff zurück und ergaben sich niemals. Im Nahkampf waren sie äußerst gefährlich, denn obendrein machte Opium, das sie vor den Kämpfen einnahmen, sie mutig wie wütende Tiere. Hinterher wussten sie oft nicht, was geschehen war. So jedenfalls wurden sie vom 16. Jahrhundert an von den Europäern beschrieben, von denen einige die Nayar für die besten Krieger der Welt hielten.11 Bevor die Engländer kamen, die sie in einen blutigen, erschöpfenden Vernichtungskrieg zwangen, ging es bei den Nayar-Kriegern eher ritterlich-müßig zu. Sie hatten einen hohen Ehrenkodex und diesen zu brechen bedeutete die größte Schande. Bei ihnen betraf Kampf nur die Kämpfenden, so konnte beispielsweise ein Bauer daneben ruhig
10 Fawcett, S. 185. 11 C.J. Fuller: The Nayars Today, Cambridge-London-New York 1976, Cambridge University Press, S. 6–7.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
seine Felder bestellen oder Frauen zum Wasserholen gehen, sie wurden nicht behelligt. Außerdem wurde weder bei Nacht noch in den Monaten des Monsunregens, Mai bis September, gekämpft. Zu den anderen Zeiten war der Ehre wegen Kampf jedoch immer angesagt, selbst in Friedenszeiten; fehlten aber die äußeren Feinde, so lieferten sich die kleinen Nayar-Könige untereinander Scharmützel. Dazu trafen sich die beiden feindlichen Parteien am Morgen, badeten zusammen, erzählten und scherzten, tauschten Betel zum Kauen aus, bis die Trommeln zum Kampf riefen. Da stellten sie sich in Reihen gegeneinander auf, Schwertkämpfer, Speerwerfer und Bogenschützen, und lieferten sich blutige Nahkämpfe. Bei Sonnenuntergang endete die Schlacht sofort und nun badeten die Überlebenden wieder zusammen. Sieger war, wer noch mehr Soldaten am Schluss besaß, denn die Macht eines Königs hing von der Zahl seiner Krieger ab. Niemals annektierte ein Sieger Land, aber er konnte Tribut erheben.12 Während der Monate des Monsunregens waren die Nayar-Krieger zu Hause. Damit bei ihrem kämpferischen Temperament keine Streitigkeiten aufkamen, wurde nicht nur die Kriegskunst in den Sportschulen weiter geübt, sondern die lokalen Könige veranstalteten festliche Wettkämpfe. Außerdem wurden Zweikämpfe zwischen verfeindeten Clans ausgetragen, wobei es meist um die beleidigte Ehre von Frauen der eigenen Sippe ging. Dies hatte in früheren Zeiten zu verheerenden Blutrache-Fehden geführt, weshalb die Nayar ein Gesetz erließen, dass solche Zweikämpfe erst zehn bis zwölf Jahre später ausgetragen werden durften. In der Zwischenzeit hatten die Krieger der verfeindeten Clans genügend Zeit, die Sache zu bedenken oder für das Duell zu trainieren.13 – Dieses ausgeprägte Kriegerwesen der Nayar-Männer ist keineswegs jüngeren Datums, sondern vermutlich sehr alt. Dafür spricht der archaische Zug, dass sie zu Fuß kämpften und sich keiner Pferde bedienten. Das Pferd war in der matriarchalen Induskultur unbekannt, man hatte stattdessen Rinder als heilige Kühe und Stiere. Dagegen gebrauchten alle Eroberer aus dem Nordwesten, von den indoeuropäischen Aryans bis zu den Mongolen, Pferde als Waffe. Die Menschen der Induskultur setzten sich gegen die ersten Eroberungszüge der Aryans lange zur Wehr, denn sie lebten in einer differenzierten und gut organisierten Gesellschaft, so dass sie als in der Lage gewesen waren, ein Kriegerwesen auszubilden. Aus dieser frühen Zeit stammt das Kriegertum der Nayar, bevor sie gezwungen waren übers Meer zu fliehen. Außer ihrer Art zu kämpfen gibt es noch weitere Indizien, die deutlich machen, dass die Nayar Abkömmlinge der archäologisch gut erforschten Induskultur sind. Zwischen der matriarchalen Hochkultur am Indus und den patriarchalen Aryans bestand ein scharfer, kultureller Gegensatz, obwohl das spätere vedische Brahmanentum alle Elemente der Induskultur aufgesogen und verformt hat. Solche Ähnlichkeiten der Nayar mit der Induskultur und Unterschiede der Nayar zu den indoeuropäischen Aryans in der frühen Kontaktzeit sind folgende:14
12 A.a.O., S. 8. 13 D. M. Schneider/Kathleen Gough: Matrilineal Kinship, Berkeley-Los Angeles 1961, University of California Press, S. 332–333. 14 Ehrenfels, S.180–183.
5.2 Frauen und Männer der Nayar
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Das kulturelle Niveau der Aryans war niedrig. Sie waren Hirten und Krieger und lebten in einfachen, mit Stroh und Bambus gedeckten Erdhütten. Die Induskultur besaß dagegen Städte mit hervorragenden Wassersystemen, mit Kanalisation und kultischen Badebecken, die für einen hohen Hygiene-Standard sorgten. Die adligen Nayar in Südindien bewohnen ebenfalls komfortable Gutsbesitzer-Villen mit großen Innenhöfen und Kanalisation. Täglich baden sie in hauseigenen Kultbecken, Zisternen und Badeteichen und pflegen ein hohes Maß an Sauberkeit. Dafür hatten die Aryans neuartige Waffen aus Eisen und gebrauchten das Pferd. Diese Waffen waren in der Induskultur unbekannt. Genauso gebrauchten die Nayar in Südindien niemals Pferde; Eisen wurde und wird noch heute als beleidigend für ihre Hausgottheit, die Schlange, angesehen. Es dürfen weder eiserne Messer, Äxte noch Spaten in der Nähe der Schlangen benutzt werden.15 In der Induskultur haben stattdessen Tiger und Elefant eine große Rolle gespielt, während diese Tiere wiederum den Aryans unbekannt waren. Auch für das Leben der Nayar in Südindien sind festliche Elefanten-Prozessionen geradezu typisch. Der Tiger ist ebenfalls ein heiliges Tier für sie, denn auf seinem Rücken reitet die Große Göttin Durga. Elefantenreiten ist ein Vorrecht der hohen Kasten, das heißt, der adligen Nayar. In der vedischen Religion der Aryans werden Frauen kaum erwähnt, obwohl ihr Status noch nicht so erschreckend niedrig war wie im späteren Brahmanentum. Es gibt in den Veden keine Muttergöttin mit ihrem Sohn oder Herosgeliebten. In der Induskultur hingegen waren die Große Muttergöttin Schakti-Kali und ihr Gefährte Schiva zentral, das weibliche Element galt als wichtiger als das männliche. In der Religion der Nayar in Südindien steht ebenfalls die Große Muttergöttin namens Bhagavati oder Bahdrakali im Mittelpunkt und wird noch immer verehrt. Die vedische Religion der Aryans kennt keine Bildnisse. Im Gegensatz dazu war die Religion der Induskultur überaus bilderreich, was vom späteren Hinduismus übernommen wurde. Die künstlerischen Abbildungen stellen oft den nackten Körper dar, besonders den weiblichen, wobei die Brüste frei getragen werden und Leib und Glieder nur mit Juwelen bedeckt sind. Dies ist auch die traditionelle Tracht der Nayar-Frauen, wobei die besondere Form ihres Schmucks in ganz Südindien keine Parallele hat.16 Der Kult von »Yoni-Lingam«, dem weiblich-männlichen Sexualsymbol – fälschlich »Phallus-Kult« genannt –, war weit verbreitet in der Induskultur. Die Aryans kannten ihn nicht und verabscheuten ihn, als sie ihn kennen lernten. Der YoniLingam-Kult ist noch immer typisch für ganz Südindien, besonders bei den matriarchal geprägten Gruppen wie den Nayar und anderen. Die Aryans verehrten stattdessen männliche Götter, insbesondere Feuergötter. Feuergottheiten wurden in der Induskultur nicht verehrt und die Bestattungsbräuche beruhten auf Erdbestattungen, nicht auf Verbrennungen. Genauso verehren die Nayar in Südindien keine Feuergottheiten, stattdessen haben sie einen mit dem
15 Fawcett, S.276, 279. 16 A.a.O., S. 196.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Wasser verbundenen Schlangenkult. Feuerbestattungen wurden ihnen erst durch das Brahmanentum aufgezwungen. Die reich geschmückten, überladenen Tempel von der Art, wie sie später im Hinduismus üblich wurden, gab es in der Induskultur nicht. Stattdessen besaß diese Kultur sehr schöne Wohnhäuser, wo die Gottheiten in besonderen Räumen verehrt wurden. Ebenso errichteten die Nayar in Südindien früher keine Tempel, sondern sie praktizieren die Verehrung der Ahninnen und Ahnen und der Hausgottheiten in ihren Häusern. Dafür gebrauchen sie kleine Gold- und Silberfiguren, welche die Ahnenwesen darstellen: Von den archäologischen Ausgräbern der Induskultur wurden ganz gleiche Figuren gefunden. Auch der Schlangenkult war gleich: Er wurde damals in der Induskultur wie bei den Nayar noch heute in einem heiligen Hain innerhalb der Hausumfriedung ausgeübt. Heute haben die Nayar für ihre Göttin Bhagavati auch die hinduistische Form von Tempeln übernommen. In der Kultur der Nayar in Südindien haben diese Züge, die direkt auf die Induskultur zurückgehen, einschließlich ihrer matriarchalen Sozialmuster, insgesamt überlebt. Das liefert die Evidenz dafür – was wir oben schon angenommen haben –, dass die Menschen der Induskultur einst, als ihr Widerstandskampf gegen die Indoeuropäer aussichtslos wurde, ihre Städte am Indus verließen und viele sich in überlebensfähigen Gruppen mit ihren Schiffen nach Südindien auf den Weg gemacht haben. Sie kamen als Flüchtende und als Krieger an, die sie unterdessen geworden waren.
5.3
Nayar, Pulayan und Parayan
Nach ihrer Ankunft siedelten diese Leute – die wir mit den heutigen Nayar identifizieren konnten – zuerst im Südwesten der Malabarküste, wo alle ihre anschließend erbauten Königsstädte liegen. Dann drangen sie ins Landesinnere zwischen Küste und Gebirge vor und errichteten dort ihre Häuser und Gutshöfe, wobei die Landvillen der Güter einzeln in großen Grundstücken liegen. Das ging jedoch nicht ohne den Widerstand der schon ansässigen Stämme vor sich, der Pulayan und der Parayan. Diese lebten vom Gartenbau oder Ackerbau und waren ihrerseits an das Land gebunden; sie konnten den Eroberern nicht ausweichen, wie es die Stämme der Wildbeuter im Bergdschungel taten, indem sie einfach wegzogen. Die verschiedenen Volksgruppen der Pulayan und Parayan besaßen eine ältere Form von Matriarchat und hatten in dieser Gegend schon Jahrtausende gelebt, bevor die Nayar ankamen. Von einer hoch differenzierten Stadtkultur kommend und im Kriegshandwerk geübt, unterwarfen die Nayar diese Stämme und machten sie zu ihren Sklaven und Leibeigenen. So entstand eine geschichtlich einmalige und widersprüchliche Situation: ein kriegerisches Matriarchat, das ein altes, bäuerliches Matriarchat eroberte und überlagerte, wobei alle Schichten bis in die Gegenwart ihre matriarchale Sozialordnung beibehielten. Diese Überlagerung führte zu einer Hierarchie aus Herrschenden und Beherrschten, aber nicht zu einem strikten Kastensystem, wie es mehr als tausend Jahre später von den nun auch in Südindien eindringenden Aryans mit ihrem Brahmanentum und der patriarchalen Religion errichtet wurde. Diese Entwicklung verschärfte die ambivalente, gesellschaftliche Situation der Nayar.
5.3 Nayar, Pulayan und Parayan
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Wer sind diese Volksstämme, die sich die Nayar unterwarfen? Die Menschen der Pulayan sind körperlich klein und von sehr dunkler Hautfarbe, sie haben entfernte Verwandtschaft mit den Weddas, dem matrilinearen Urvolk Indiens (Abb. 21). Sie hatten damals einen Werkzeugstandard, der an die allerersten Gartenbaukulturen in Südostasien erinnert, denn die Werkzeuge bestanden noch nicht einmal aus Stein, sondern aus Bambus. Die Sippengruppen waren und sind rein matrilinear organisiert, verbunden mit Matrilokalität, Initiationsriten für die Mädchen, sexueller Freiheit der Frauen, Besuchsehe und Bestattung in der Erde. Nach der Eroberung durch die Nayar verlor der Brauch der Pulayan, das Erbe in weiblicher Linie weiterzugeben, seine Funktion, denn als Gemeinschaft von Sklaven besaßen sie kein Land zum Vererben mehr. Aber sie hörten nicht auf, die »Ammas«, die ihre Urmütter, Ahninnen und Dorfgöttinnen in einem sind, zu verehren. Ebenso übernahmen sie die Großen Göttinnen Bhagavati und Kali von den Nayar, zu deren Ehren die Pulayan-Frauen leidenschaftlich tanzen.17
Abb. 21: Frauen der Pulayan, Südindien, Malabar (aus: Krishna Iyer: Social History of Kerala, Madras 1968, Book Centre Publications, S. 149)
Die Menschen der Parayan – auch Holeya genannt – sind viel zahlreicher als die Pulayan und besitzen eine weitaus besser entwickelte Ackerbaukultur. Sie haben eine matriarchale Sozialordnung vom Typus der Khasi. Immer mehr patriarchale Elemente wurden ihnen seit der Einwanderung der Hindu-Bramahnen aufgezwun17 Ehrenfels, S. 48–51, 175.
156
Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
gen, denn sie wurden für alles, was bei ihnen von der Hindu-Norm abwich, bestraft. Nach Errichtung des Kastensystems wurden sie zur der am meisten unterdrückten und ärmsten Kaste von allen, zu den Paria (abgeleitet von Parayan), den »Unberührbaren«. Mehr als zwei Jahrtausende lang ertrugen sie alle Demütigungen, die das Kastenwesen erfunden hat. Sie wurden von allen anderen Kasten verachtet, sogar von den Pulayan. Sie galten als so »unrein«, dass sie ihre Augen nicht erheben durften, denn schon ihr Blick verunreinigte angeblich. Sie durften zu niemand sprechen, ohne sich die Hände vor den Mund zu halten, noch durften sie die öffentlichen Wege betreten, denn bereits ihre Fußspur soll die Angehörigen einer höheren Kaste beschmutzen. Sie durften keinen Hindu-Brunnen benutzen und keinen Hindu-Tempel aufsuchen. Sie waren die Leibeigenen, Diener und Arbeiter der Nayar und mussten die niedrigsten Arbeiten verrichten. Sie wurden wohl so tief herunter gestoßen, weil sie zahlreicher waren und eine höhere matriarchale Kulturstufe hatten als die Pulayan. Deshalb konnten sie sehr heftigen Widerstand leisten, waren gefährlicher gewesen und wurden dafür mehr unterdrückt als die Pulayan. Das nahm aber erst im Hindu-Kastensystem diesen schlimmen Zustand an, denn aus der Zeit davor haben sie noch etliche soziale und religiöse Privilegien bewahrt, die ihnen ihre Nayar-Herren zugestanden. So wohnen sie in eigenen Dörfern weitab von den Gutshäusern der Nayar und sind dort relativ unabhängig. Sie haben eigene Dorfvorsteher und Priester, die »Velluvan«, diese sind Schamanen und Heiler. Wenn die unbeliebten Brahmanen es wagen, in diese Dörfer zu kommen, werden sie nicht selten von den Dorfbewohnern verprügelt. Die Parayan verehren ebenfalls zahlreiche »Ammas«, dazu ihre Hauptgöttin Athal, und sie veranstalten Büffelrennen für Bhagavati. Am Tag seiner Hochzeit darf ein Parayan-Bräutigam einmal in seinem Leben auf einem Elefanten seines NayarHerren wie ein König reiten. Ein Priester der Parayan wird jährlich mit der Statue der Göttin Sriperumbudur festlich vermählt. In dieser zeremoniellen Funktion holten Nayar-Könige sich Parayan-Priester sogar an ihren Hof. Allerdings durfte ein Parayan nicht den Weg eines Nayar-Kriegers gegen dessen Willen kreuzen; ohne Zögern und ganz unzeremoniell schlug dieser ihm mit dem Schwert den Kopf ab.18 Die Parayan besitzen eine interessante Besonderheit. Wie die Khasi bauen sie noch Megalithen in Form niedriger Tempel aus großen Steinen, als Miniatur-Dolmen (Gräber) zur Erinnerung an die Toten und als Menhire (stehende Steine) für Verstorbene, die bei ihnen einen besonderen Rang hatten. Die »Ammas« werden ebenfalls durch große Steine dargestellt. Bei Festen, die den Ahninnen und Ahnen gewidmet sind, werden die Steine verehrt und ein Hahn oder Ziegenbock durch Köpfen geopfert. Im gesamten Wohngebiet der Parayan-Stämme gibt es zahlreiche Formen von Megalithkultur, wie Menhire-Reihen, Steinkreise und monumentale
18 A.a.O., S. 52–58, 172, 176–178. – Wegen der Berührungsängste indischer Hindu-Forscher mit diesen untersten Kasten ist das Sozialleben der Pulayan und Parayan kaum erforscht. Muslim-Forscher haben diese Berührungsängste nicht, aber sie interessieren sich nicht für prä-islamische Kultur. Daher ist über das Sozialleben der untersten Kasten und der »Unberührbaren« wenig bekannt (siehe die Wissenschaftskritik bei Ehrenfels, S. 6 und 7).
5.4 Sozialordnung der Nayar
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Dolmen. Das weist darauf hin, dass sie der südwestlichste Ausläufer der matriarchalen Bergkultur vom Typ der Khasi sind, die sich von Ostasien nach Indien ausgebreitet hat. Linguistische Studien zeigen, dass auch in Zentralindien einst Träger der matriarchalen Bergkultur von Ostasien lebten, denn es gibt noch Reste ihrer ostasiatischen Sprache in dieser Region (Volk der Munda). Außerdem ist ganz Zentralindien mit Megalithkultur übersät (siehe Karte 6).19 Pulayan, Parayan und Nayar zeigen daher in dieser Reihenfolge gewisse geschichtliche Phasen des Matriarchats, wobei die Pulayan die früheste, die Nayar die späteste Form darstellen.20 Das Matriarchat vom Typ der Pulayan, nämlich Gartenbaukultur, dürfte sich als erstes über den indischen Subkontinent ausgebreitet haben (frühmatriarchale Phase). Darauf folgte von Osten her das Matriarchat der Ackerbaukultur mit Megalith-Architektur vom Typ der Parayan (ostasiatische Völker), das mit der Gartenbaukultur in der Weite des Landes friedlich und ohne Überlagerung koexistierte (mittlere matriarchale Phase). Diese Gesellschaftsformen wurden dann von den Flüchtlingen aus dem städtischen Matriarchat (spätmatriarchale Phase) überlagert, das von Westen her von der Induskultur kam. Das geschah in zwei Gebieten Indiens: im Gangesdelta (Bengalen) und an der Malabarküste (Kerala). Im Ganges-Delta folgten auf diese Phase später die Eroberung durch die Aryans und das patriarchale Brahmanentum. Wegen dieser Invasion zog sich die matriarchale Ackerbau-Megalith-Kultur vom Gangesdelta in die Berge zurück und bewahrte dort ihre alten Traditionen (Khasi-Berge, Himalaya). Doch an der Malabarküste, wo kein Rückzug möglich war, überlagerten sich diese matriarchalen Gesellschaftsformen hierarchisch – was eine Anomalie darstellt, denn es kommt sonst bei matriarchalen Gesellschaften nicht vor. Zuletzt kamen auch hier die Brahmanen an, und der oben erwähnte, historische Kompromiss entstand.
5.4
Sozialordnung der Nayar
Im traditionellen Leben der Nayar waren die Frauen für die Sippenhäuser in den Landgütern zuständig und jede Clanmutter war die Herrin in ihrem Clanhaus. Diese Landvillen lagen in schönen Palmenhainen, von Wasserkanälen und Teichen umgeben, mit Kanalisation direkt in die Küche, nach außen mit einer kleinen Mauer
19 A.a.O., S. 162–168; zur Kultur der Khasi: Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften, Band I, Kap. 2. 20 Diese historischen Phasen der matriarchalen Gesellschaftsform werden hier beschreibend betrachtet. Damit ist keine Wertung verbunden in dem Sinne, dass eine spätere Entwicklungsform als »höher« und »besser« gilt und zur Norm gemacht wird, wie es bei den kolonialistischen Stufentheorien der Geschichte im 19. und 20. Jh. üblich war. Die moderne Matriarchatsforschung kritisiert diese Art von Kolonialismus und respektiert, dass jeder dieser Kulturtypen seine eigenen gültigen Werte hat und in sich ein stimmiges Ganzes darstellt. Darin unterscheidet sie sich von den evolutionistischen Theorien patriarchaler Provenienz, deren Folge die patriarchale »Entwicklungspolitik« jeglicher Art mit ihren Übergriffen gegen andere Kulturen ist.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
umfriedet. Jedes dieser Gutshäuser war eine ökonomische Einheit und weitgehend unabhängig; das Clanland gehörte allen gemeinsam, insbesondere den Frauen, die es kollektiv in der weiblichen Linie vererbten, direkt von Mutter auf Tochter. Doch kein adliger Nayar, ob Frau oder Mann, würde sich herablassen, das Land des Gutes selbst zu bestellen, diese Arbeit fanden sie unter ihrer Würde. Die Häuptlinge der Nayar waren Großgrundbesitzer und besaßen ganze Dörfer, ihre Nayar-Pächter wohnten auf Teilen dieses Großgrundbesitzes. Die Nayar-Pächter hatten wiederum Unterpächter aus niederen Kasten, von denen die Landarbeit verrichtet wurde, oder sie besaßen Parayan-Leibeigene, die als unfreie Knechte dienten. In den Dörfern der Großgrundbesitzer wohnten Nayar-Handwerker, welche die Gutshäuser mit ihren Dienstleistungen versorgten.21 In jedem Nayar-Clanhaus wohnte eine »Taravad«, eine Sippe oder der Zweig einer Sippe. Sie leitete sich von einer gemeinsamen Ahnfrau ab und folgte klarer Matrilinearität, der »Marumakkattayam«. Auch die Wohnweise war strikt matrilokal: Töchter und Söhne blieben alle im Mutterhaus wohnen. Die erwachsenen, kampffähigen Männer waren allerdings die meiste Zeit des Jahres abwesend und sie wurden während ihrer Kriegsdienste von ihren Königen und Feudalherren versorgt. Die männliche Seite der Sippe war durch den ältesten Mann, der zuhause blieb, vertreten. Gemäß der Tradition war er der Bruder der Sippenmutter, sein Titel war »Karanavan«, was »männliches Haushaltsoberhaupt« heißt. In dieser Funktion war er mit dem Management des Gutslandes beauftragt und als Mitglied der Nachbarschaftsversammlung der Sprecher des Clans nach außen. Die älteste Frau, die Sippenmutter oder Matriarchin, organisierte und führte den Clan nach innen. Die Clans der gewöhnlichen Nayar kannten keine innere Hierarchie, der älteste Mann übte keine Autorität über die Sippe aus. Die Sippenmutter und der Mutterbruder, der Karanavan, standen gleichrangig nebeneinander und teilten sich das tägliche Management. Bei Häuptlings- oder gar Königssippen der Nayar war dies anders: Je höher ihr Rang und größer ihre Macht waren, desto hierarchischer wurden die Verhältnisse zugunsten des ältesten Mannes.22 Frauen und Männer lebten in getrennten Bereichen des Sippenhauses, das mit geräumigen Gebäuden um einen großen, rechteckigen Innenhof in der Form eines Vierseithofes errichtet war. Frauen und Kinder bewegten sich darin überall frei umher und bewohnten den größeren Teil des Hofes, nämlich das obere Stockwerk von zwei Gebäuden, deren Fenster zum Innenhof gerichtet waren. Die Männer bewohnten das obere Stockwerk nur eines Gebäudes, bei dem die Fenster nach außen gingen. Das hinderte sie, das Leben der Frauen im Innenhof zu beobachten und zu kontrollieren, zugleich konnten sie nach außen hin wachsam sein. Das vierte Gebäude enthielt die große Küche und die Wirtschaftsräume. Der Karanavan lebte für sich allein im oberen Stockwerk des Vorratshauses und hatte meist nur Kontakt mit den Karanavans der anderen Sippen, die ihn besuchten. Hier überwachte er die Abgaben von Pächtern und Leibeigenen, deren Arbeiten er organisierte. Außerdem
21 Schneider/Gough, S. 314; Fuller, S. 63, 71–72; Ehrenfels, S. 61. 22 Schneider/Gough, S. 323–327.
5.4 Sozialordnung der Nayar
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kontrollierte er die Einkünfte von Clanmitgliedern aus der Stadt, die ihm vollständig übergeben wurden. Monatlich oder jährlich händigte er der Sippenmutter einen Anteil für den Haushalt aus, den sie in den Wirtschaftsräumen verwahrte und täglich der Küche zuteilte. Sie organisierte die Arbeit der Frauen in Küche und Gärten und ihre gelegentliche Mithilfe bei der Ernte auf den Feldern. Die Erziehung der Mädchen und die häuslichen Ahnenrituale lagen ebenfalls in ihrer Hand. Für die wichtigsten Ahnen: verstorbene Sippenmütter und Karanavans, die in Gold- und Silberfiguren repräsentiert waren, wurden täglich Speiseopfer in den für sie reservierten, besonderen Raum gebracht.23 An einen guten Karanavan wurden hohe Ansprüche gestellt. Er sollte sorgfältig und gerecht sein und eine seiner wichtigsten und schönsten Pflichten war es, die traditionellen Zeremonien und Feste für die weiblichen Mitglieder seiner Sippe zu organisieren. Er setzte seinen Ehrgeiz ein, um durch kluge Planung üppige Feste für die Clanmitglieder, Pächter, Dorfbediensteten und Leibeigenen zu veranstalten. Jedoch befragte er bei allen großen Ausgaben des kollektiven Besitzes erst die Mitglieder seines Clans. Betagte Karanavan zählten mit Stolz die Feste auf, die sie erwirtschaftet hatten, denn dadurch hatten sie »Ehre«: Initiationsfeste für die Mädchen, Feste der ersten Menstruation für die Mädchen, Bestattungsfeste und Totengeleit für die Verstorbenen, besonders für die Sippenmütter. Weitere Familienfeste kannten die Nayar traditionellerweise nicht.24 Wenn die Jünglinge und Männer nicht im Kriegsdienst unterwegs, sondern wieder im Haus anwesend waren, so wurden sie vom Karanavan diszipliniert. Sie verhielten sich ihm gegenüber sehr respektvoll und wagten nicht ihm zu widersprechen. Die Sippenmutter besaß dagegen die Autorität über Frauen und Kinder, die jedoch viel freundlicher und mit mehr Nähe ausgeübt wurde. Wenn der Karanavan ihr jüngerer Bruder oder gar ihr Sohn war, so war sie faktisch das Oberhaupt des Hauses und der Sippe und man nannte sie »Karanavatti«, das heißt »weibliches Haushaltsoberhaupt«.25 Sie überblickte und kontrollierte dann die gesamte Wirtschaft und beriet ihn bei allen Transaktionen, die er nach außen unternahm. War er hingegen der ältere Bruder oder Mutterbruder (»Onkel«) der Sippenmutter, dann wurde die Teilung der Pflichten streng eingehalten, um dem Karanavan kein Übergewicht zu geben.26 In früheren Zeiten, bevor die Karanavan mehr Bedeutung erlangten, regierte die Sippenmutter das Clanhaus prinzipiell allein und die älteste Tochter war ihre »Premierministerin«. Alle Brüder und Söhne gehorchten, wenn sie zu Hause waren, diesen beiden Frauen.27
23 A.a.O., S. 349; Fawcett, S. 303–304. 24 A.a.O., S. 337–339, 341; siehe die ausführliche Beschreibung der Zeremonien der Familienfeste bei Fawcett, S. 229–252, und Ehrenfels, S. 62–65. 25 Savithri Shanker de Tourreil: »Nayars of Kerala and Matriliny revisited«, in: GöttnerAbendroth, Heide (Hg.): Societies of Peace. Matriarchies Past, Present and Future, Toronto 2009, Inanna Publications, York University, S. 205–216. 26 Schneider/Gough, S. 341–342. 27 Ehrenfels, S. 62.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Anders als in einem patriarchalen Brahmanen-Haushalt mit den unaufhörlichen Spannungen zwischen Schwiegermutter und Schwiegertöchtern gab es bei den Nayar-Frauen eine stabile Solidarität untereinander. Die Mutter war wichtigste Lehrerin und moralische Autorität für die Töchter während des ganzen Lebens. Sie nahm die Töchter vor dem Karanavan und sogar vor den eigenen Söhnen stets in Schutz, während die Töchter die Mutter nach außen immer gegen andere Frauen verteidigten, und auch die Schwestern hielten fest zusammen. Abgesehen von den Haushaltsarbeiten genossen die Frauen beträchtliche Muße. Die Sippenmutter verteilte dann stolz die Clan-Juwelen, half beim Schmücken und Frisieren der Töchter, deren Schönheit ihr persönliches Anliegen war, und führte sie in die Kunst der Liebe ein. So gingen die jungen Frauen oft aus, um im Dorfteich zu baden, erpicht auf neue Eroberungen. Beim Bade zeigten sie öffentlich ihre volle Schönheit. Männer, die davon hingerissen waren, kamen dann nachts zu Besuch in die Räume der Frauen, wo sie nur bis zum Morgen blieben – das typische Muster der »Besuchsehe«. Jede heiratsfähige Tochter besaß im Mutterhaus ein eigenes Zimmer und konnte dort empfangen, wen sie wollte. Bei Schwangerschaft und Geburt war die Mutter die wichtigste Begleiterin der Töchter. Solange die jungen Frauen mit Liebe und Schwangerschaft beschäftigt waren, übernahm sie als Großmutter die Haupterziehung der Enkelkinder. Von ihr lernten sie die Religion und Geschichte des Clans und gehorchten ihr gern und freiwillig. Jenseits der Menopause hatten Frauen die größte Autorität: Sie berieten ihre jüngeren Brüder und Söhne, bewegten sich jederzeit frei im Dorfe und unternahmen allein größere Pilgerreisen. Wenn die Sippenmutter starb, führten die älteste Tochter und der älteste Sohn die Bestattungszeremonien und die Ahnenopfer aus.28 Das Verhältnis der Männer des Clans war untereinander erheblich formeller und distanzierter. Sie hatten einen hierarchischen Kodex, der sich nach dem Alter richtete, womit sie auch zu Hause ihre Kriegerhierarchie spiegelten. Die stärkste emotionale Bindung war die des Sohnes an die Mutter, die er zeitlebens verehrte. Sie sorgte für seinen Komfort und gab ihm in allen persönlichen Angelegenheiten und denen des Clans Rat, den er befolgte. Wenn er nach langer Abwesenheit das Sippenhaus wieder betrat, begrüßte er zuerst seine Mutter und stellte sich ihr zur Verfügung. Ihr zuliebe schützte er mit dem Schwert seine Schwestern und Schwesterkinder und alle matrilinearen Verwandten. Die Schwestern betrachteten ihren Bruder oft als ihren »Helden« und verehrten ihn. Seine Beziehung zu einer Gattin kam an letzter Stelle, denn sie war clanfremd und er besuchte sie nur nachts. Es gehörte sich für einen Gatten nicht, im »fremden« Haus der Gattin lange zu verweilen oder gar bei ihr zu essen. Der Karanavan hatte die formale Autorität über seine Schwestersöhne (»Neffen« in unserer Terminologie). Er kam für ihre Ausbildung auf und versorgte die jungen Männer für ihre Unternehmungen. Bei öffentlichen Vergehen ihrerseits haftete er mit dem ganzen Sippenvermögen für sie. Dafür verlangte er von den Schwestersöhnen vollständigen Gehorsam, und benahmen sie sich ungebührlich gegen ihn, ver28 Siehe dazu und zum Folgenden: Schneider/Gough, S. 344–356.
5.5 Religion und Feste der Nayar
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weigerte er ihnen die Lebensmittel. So war dieses Verhältnis eher gekennzeichnet von Druck und Gegendruck und unterschwelliger Rivalität.
5.5
Religion und Feste der Nayar
Die traditionellen Clanfeste der Nayar drehten sich nahezu ausschließlich um die Frauen. Das begann schon bei der Geburt: Mädchen waren erwünschter als Knaben, denn sie würden als erwachsene Frauen das Leben der Mutterlinie weiterführen. Eine Mädchengeburt galt an sich als glücklich, auch ohne Gedanken an ihre spätere Fruchtbarkeit. Ein längeres Ausbleiben von Mädchengeburten wurde als Krise gesehen und konnte dazu führen, dass der Karanavan des Hauses sich veranlasst sah, eine beschwerliche Pilgerreise auf sich zu nehmen. Das entsprach seinen moralischen und religiösen Verpflichtungen gegenüber der Sippe, und so unternahm er alles, um bei einem Heiligtum den Segen der Gottheit auf die Frauen seiner Sippe herabzuflehen. Auch mit einem persönlichen Anliegen bat er um eine Mädchengeburt, damit er dereinst für sie das Pubertätsfest feiern könnte, das ihm höchste Ehre einbringen würde. Umso glücklicher waren alle, wenn dann ein Mädchen geboren wurde.29 Das Pubertätsfest für Mädchen war das üppigste, reichste und prestigeträchtigste Fest bei den Nayar; für Knaben gab es kein Gegenstück dazu. Alle zehn bis zwölf Jahre wurde »Talikettu-kalanayam«, die Tali-Zeremonie, gefeiert, das heilige Initiationsfest für alle Mädchen vor der der ersten Menstruation. Es war eine symbolische Vermählung jedes Mädchens mit je einem rituellen Bräutigam als Vorbereitung auf die Liebe und das Erwachsenwerden als Frau. Diese rituellen Bräutigame waren üblicherweise Knaben aus entfernten Häusern des eigenen Clans und damit für eine reale Liebesverbindung tabu (Clan-Exogamie). Die Tali-Zeremonie wurde tagelang und mit viel Pomp gefeiert, alle matrilinearen Verwandten eilten zu Gast, was sie sonst nur bei Bestattungszeremonien taten. Denn die Tali-Zeremonie in großem Stil zu feiern war eine Sache des Prestiges für die Sippe des Mädchens. Das Fest schloss umfangreiche Bankette, Elefantenreiten, Prozessionen der Krieger mit Schwertern und Schilden ein. Die Mädchen-Initiation hatte bei den Nayar wie bei allen matriarchalen Völkern Indiens größte Bedeutung, sie drückte die Freude über den weiblichen Nachwuchs aus, der die Sippe fortsetzen würde. Gebete wurden an die Göttin Bhagavati gerichtet, in denen die Mädchen als ihre Kinder bezeichnet wurden, welche die Göttin samt ihren Verwandten vor Not und Krankheit beschützen sollte. Zum Höhepunkt der Feierlichkeiten legte jeder Knabe seiner rituellen Braut die goldene Tali-Kette um den Hals, die das Blatt eines heiligen Baumes nachbildet. Danach wurden die Pärchen drei Tage lang in einzelnen Räumen allein gelassen, damit sie die Defloration vollzögen, das heißt, damit das älteste Mädchen stellvertretend für alle defloriert würde. Denn Jungfräulichkeit ist kein Wert in matriarcha29 Shanker de Tourreil: »Nayars of Kerala«, S. 3–4.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
len Kulturen, sondern Fruchtbarkeit. Das Fest schloss mit einem zeremoniellen Reinigungsbad der Pärchen, danach wurden die rituellen Bräutigame mit einem Geschenk entlassen. Es bestand kein weiterer Anspruch aneinander. Manchmal wurde die Tali-Kette dem Mädchen auch von ihrer Mutter oder älteren Schwester oder einer Priesterin der Göttin umgelegt. Nachdem das Tali-Symbol empfangen worden war, besaß das Ornament keine weitere Bedeutung mehr und wurde nach ein paar Tagen beiseitegelegt oder gar verloren.30 Auf das Tali-Fest folgte »Tirantukuli«, das Fest der ersten Menstruation, der Menarche, ebenfalls ein heiliges Ereignis. Die frohen Rufe der weiblichen Verwandtschaft kündigten das Ereignis an und das Mädchen wurde in einem mit Blumen geschmückten Raum abgesondert. Sie erhielt einen rituellen Spiegel, ein Symbol des Mondes, denn ihr eigener weiblicher Zyklus spiegelt genau den Zyklus des Mondes. Die Verwandten brachten ihr neue Kleider als Geschenke, es gab wiederum rituelles Baden, Prozessionen, Musik und ein Festessen für die meist weiblichen Gäste. Auch dieses Menarche-Fest war öffentlich und wurde groß gefeiert, wenn die Verwandten des Mädchens es sich leisten konnten. Sie kam jetzt in das Alter, wo sie ihrer Sippe Fruchtbarkeit, Wohlstand und Fülle verleihen konnte. In den Zeremonien wurde sie als eine Glück verheißende Verkörperung von Bhagavati gepriesen und bei diesem Fest als eine Göttin geehrt. Der Geist Bhagavatis – die auch als Menstruations-Göttin betrachtet wird – floss in das weibliche Menschenwesen und gab dem Mädchen Kraft, Heiligkeit und glückliche Vorbedeutung.31 Das dritte Fest zum Übergang des Mädchens ins Dasein der erwachsenen Frau war die Verbindung mit einem passenden Mann. Sie kam jetzt in das Alter der erotischen Aktivitäten und Geburten. Es stand der jungen Frau zu, sich so oft und so viele Gatten zu wählen, wie sie wünschte. Nur beim ersten Gatten benötigte sie das Einverständnis der Mutter und des Karanavan, und diese Verbindung wurde mit einem Fest und einem gegenseitigen Beschenken zwischen den beiden betreffenden Sippen begangen. Diese Zeremonie, »Sambandham« genannt, wurde nicht ausführlich gefeiert, denn sie galt nicht als heilig. Sie bestand aus einem kurzen, einfachen Ritus, meist spät am Abend vollzogen, und wurde als ein säkularer Vertrag betrachtet, der von den beiden Beteiligten jederzeit beendet werden konnte. Diese Reihe von Festen betont die Mutterlinie der Nayar und unterstreicht, dass die Frau zu ihrer matrilinearen Verwandtschaft gehört und bei ihr bleibt. Daraus ergibt sich die relative Bedeutungslosigkeit der Heiratszeremonie und des Gatten, der kein Mitglied der Mutterlinie der Frau ist.32 Mit der Sambandham-Zeremonie ist der Frau ab jetzt die Polyandrie gestattet.33 In der Regel hatte eine Nayar-Frau drei bis zwölf Gatten, und zwar nicht nacheinan-
30 Shanker de Tourreil: Nayars in a South Indian Matrix, S. 74–84; Fawcett, S. 229–231; Ehrenfels, S. 63–64; Schneider/Gough, S. 357; A. Aiyappan: The Personality of Kerala, Trivandrum, University of Kerala, S. 232–242. 31 Shanker de Tourreil: Nayars in a South Indian Matrix, S. 129–142, 250. 32 A.a.O., S. 74–84, 250–252. 33 Ehrenfels, S.65; Fawcett, S. 232–236.
5.5 Religion und Feste der Nayar
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der, sondern gleichzeitig, denn sie lebte polyandrisch. Ihre Gatten konnten eine Brüdergruppe sein wie in Tibet, aber auch nicht miteinander verwandte Männer.34 Es war ihr nur verboten, Gatten aus rangniederen Kasten zu wählen; darauf stand als Beleidigung ihres Clans die Todesstrafe. Auch die Männer hatten mehrere Gattinnen gleichzeitig, und wenn sie im Kriegsdienst irgendwo unterwegs waren, konnten sie sicher sein, überall bei Nayar-Frauen Unterkunft für die Nacht und Liebe zu finden. Auf diese Weise konnten Nayar-Frauen zwischen ihren festen Gatten auch kurzfristige Liebhaber einladen. Wenn ein Mann in der Kammer einer Frau schlief, legte er vorher seine Waffen auf die Schwelle. Dies war das Zeichen für einen anderen Gatten, sich zu gedulden oder zu einer anderen Gattin zu gehen. Jede Verbindung konnte von beiden Seiten formlos beendet werden. Denn für die Kinder hatten die Gatten keine Verantwortung, diese waren im Clan ihrer Mutter gut aufgehoben.35 Auf dieser Basis soll das Verhältnis zwischen den Geschlechtern bei den Nayar in der traditionellen Gesellschaft glücklich gewesen sein. Da die Sexualität nicht vom Besitzdenken beeinflusst war, kannte es nicht jene merkwürdigen Formen, die aus dem Besitzdenken in der Liebe entspringen, wie es in patriarchalen Gesellschaften üblich ist. So waren nicht die Beziehungen zu den Gatten am wichtigsten im Leben einer Nayar Frau, denn diese Beziehungen blieben flüchtig und wechselten oft. Es war die Beziehung zwischen Schwester und Bruder, welche die größte Bedeutung besaß. Man stellte sich das polare Paar von Frau und Mann nicht als Gatte und Gattin vor, sondern als Schwester und Bruder. Für diese tiefe und das ganze Leben dauernde Verbindung gab es ebenfalls ein schönes Ritual mit Namen »Tulaganapati«, bei dem die Schwester mit beiden Händen frisch geernteten Reis – das Symbol der Fülle – dreimal in den hingestreckten Stoffbeutel ihres Bruders füllte und ihn auf diese Weise segnete. Sie schenkte ihm damit von ihrer magischen Fruchtbarkeit und Lebenskraft und er verehrte sie wie eine Göttin.36 – Die Religion der Nayar zeigt unter dem patriarchalen Gewand des Brahmanismus noch viele matriarchale Züge. So waren die Nayar-Männer ähnlich wie die Nambutiri-Brahmanen von Kerala mit ständigen Reinigungsbädern und täglichen Gebeten im öffentlichen Tempel beschäftigt, wohin die Frauen nicht gingen. Dafür lag die Hausreligion, die gegenüber dem öffentlichen Tempelwesen viel älter ist, in den Händen der Frauen. Sie enthält Elemente der volkstümlichen Religiosität, die sich sehr von der abstrakten Religion unterscheiden, welche die Brahmanen praktizieren und die Nayar-Männer übernahmen. Die Verehrung der weiblichen und männlichen Ahnen spielte im Haus eine große Rolle, sie war direkt mit dem Wiedergeburtsglauben verbunden. Der Leichnam von Verstorbenen wurde im großen Hof des Hauses verbrannt, damit der Ahnengeist im Hause anwesend bleiben konnte. Bei den Bestattungsfeierlichkeiten, welche die
34 Brüder-Polyandrie ist überliefert, siehe Schneider/Gough, S. 371; Fawcett, S. 241. 35 A.a.O., S. 358–359; Fawcett, S. 237. 36 Shanker de Tourreil: »Nayars of Kerala«, S. 9–10.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Frauen leiteten, trugen die anwesenden Männer Frauenkleider.37 Ein Hahn oder ein Ziegenbock wurde geopfert und in Stücke geschnitten. In Gestalt einer silbernen oder goldenen Figur war die Ahnin oder der Ahn in einem besonderen Raum verewigt und wurde täglich mit Speisen von der Hand der Frauen versorgt. Bei jedem Neumond wurde für die Verstorbenen wieder ein Hahn geschlachtet. Es ist eine alte Form des Blutopfers, die im hinduistischen Brahmanismus mit seinem gegen diese matriarchalen Bräuche gerichteten Vegetarier-Gebot völlig undenkbar ist. Diese Form des Opfers gilt als »unrein«, weshalb die ganze Nayar-Sippe nach einer Bestattungsfeier für mehrere Tage mit »Unreinheit« behaftet gesehen wurde.38 Besonders interessant ist der häusliche Schlangenkult. Er ist archaisch und sowohl für die matriarchalen Bauernkulturen Ostasiens wie auch für die matriarchalen Stadtkulturen Westasiens, Ägyptens und Kretas typisch. Die Schlange, ganz besonders die Kobra, gilt als göttlich und ist die Repräsentantin der Kräfte von »Bhumi Devi«, der Mutter Erde. Die Erdmutter wurde nach der Ernte im »Ucharal«Fest verehrt. Auch mit den uralten Göttinnen Kali und Bhagavati, die ansteckende Krankheiten bringen und heilen, stehen die Schlangen in Verbindung.39 Jedes Gutshaus hatte innerhalb seiner Umfriedung einen »Nagakotta«, einen kreisrunden Schlangenhain an der Südwestecke des Sippengartens. Bäume, dichte Büsche und Heilkräuter wuchsen dort, und in der Mitte gab es einen Schrein mit Bildern der Schlangengottheiten. Diese Haine sind oft sehr alt. Weder Haustiere noch Kinder noch Fremde durften sie betreten, und kein Eisenwerkzeug – mit den Angelegenheiten der Männer verknüpft – durfte in ihre Nähe gebracht werden. Denn das hätte die Schlangengottheiten beleidigt. In einem solchen Hain lebten Hunderte von Schlangen in ihren Löchern, vor allem die giftigen Kobras. Als dominante Hausgottheit brachten sie Glück und Reichtum oder Krankheit und Tod, daher wurde ihr Verhalten genau beobachtet und daraus geweissagt. Wenn sie aus ihren Löchern oder gar dem Hain hervorkamen, galt dies als böses Omen. Die tägliche zeremonielle Schlangenfütterung wurde von der ältesten Frau ausgeführt, die allein lebte und die Hauspriesterin war. Täglich wusch sie die Schlangenkönigin und den Schlangenkönig und fütterte sie morgens mit Früchten und Milch, nachmittags mit gekochtem Reis und bei feierlichen Anlässen mit einem Gebäck. Die Verehrung und Fütterung machte die Schlangen zahm wie Haustiere, sie taten den Menschen nichts zuleide. Es gab Haushalte und sogar Dörfer, die von Schlangen wimmelten, weil sie dort besonders geehrt wurden und sich stark vermehrten. Aber es kamen keine Schlangenbisse vor, denn die Menschen verhielten sich sehr ruhig mit ihnen. Es galt als eine Todsünde, eine Schlange, besonders eine Kobra, zu töten. Wenn dies dennoch vorkam, dann wurde die Schlange in allen Ehren wie ein Mensch bestattet. Auch bei den häuslichen Schlangenfesten hatten die Frauen das wichtigste Amt inne. Gelegentlich nahmen diese Feste große Ausmaße an, je nach Größe des Gutes,
37 Ehrenfels, S. 67. 38 Zum hinduistischen Vegetarianismus siehe: a. a. O. S. 130; Fawcett, S. 274–275. 39 Ehrenfels, S. 66.
5.5 Religion und Feste der Nayar
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denn bis zu fünftausend Personen konnten sich dabei versammeln und wurden verköstigt. Prozessionen fanden statt, wobei die älteste Frau als Clanpriesterin die Bilder der Schlangengottheiten trug, Lieder wurden gesungen und Öllampen angezündet. Die Geister der Schlangengottheiten wurden von den Frauen besänftigt und durch Zaubersprüche, die »Mantras«, herbeigerufen. Frauen fielen dann in Trance, wenn sich die Schlangengottheiten durch ihre Körper manifestierten, was mit Zittern und Schütteln der Glieder einherging. In diesem Zustand sprachen sie das Orakel, das ihnen die Gottheiten eingaben. Diese Besessenheit der Frauen galt als gutes Zeichen für die Sippe, denn wurden nur wenige der Frauen oder gar keine von dieser Trance ergriffen, galt es als schlechtes Omen. Die Zeremonie wurde dann solange fortgesetzt, bis sich irgendein Orakel der Gottheit durch eine der Frauen zeigte.40 Dies sind Schamaninnen-Praktiken und sie verweisen auf archaische Zeiten, als Frauen für Familie, Sippe und Dorf noch geachtete Schamaninnen waren. Alte matriarchale Rituale gab es ebenfalls versteckt bei den öffentlichen Tempelfesten für die Göttin Bhagavati.41 Diese Feiern wurden nur von Nayar-Männern ausgeführt, denn die Tempel – obwohl niedere Brahmanen darin amtierten – gehörten ihnen. In diesen Tempeln, eine sakrale Bauform, die später in die Kultur der Nayar aufgenommen wurde, verehrten sie ausschließlich Göttinnen. Die Brahmanen verehrten in ihren Tempeln dagegen nur männliche Götter, wie Vischnu und Schiva. Das große Bhagavati-Fest dauerte sieben Tage und wurde mit viel Pomp und Vergnügungen gefeiert. Das Nayar-Symbol der Göttin ist ein Schwert, um das rote Blüten geschlungen sind. Es wurde auf prächtigen Elefantenprozessionen, wobei die Tiere mit Gold und Juwelen geschmückt waren, durch das Dorf oder die Stadt geführt, von Nayar-Kriegern mit Trommeln begleitet. Jeden Tag nahm die Pracht zu, so dass es am siebten Tag acht geschmückte Elefanten und mindestens fünfzig Trommler waren. Das nicht-brahmanische Element an diesem Fest waren die begleitenden Tieropfer. Denn täglich wurden während der Prozessionen Hähne durch Köpfen von maskierten, sogenannten »Teufelstänzern« geschlachtet, deren Anführer vor der Göttin in Trance fiel und orakelte. Auch hier sind wieder schamanische Praktiken erhalten geblieben, wobei diese »Teufelstänzer« früher wohl die indigenen, unabhängigen Nayar-Priester waren. Am Ende des Festes spendeten wohlhabende Nayar-Sippen Ziegenböcke, manchmal auch einen Büffel, die äußerst geheim bei Nacht in einem dunklen Gang des Tempels mit einem einzigen Schlag eines Kupferschwertes geköpft wurden. Der Ausführende war wieder ein einheimischer Nayar-Priester, den die Nambutiri-Brahmanen, die sich längst mit Schauder von dieser Stätte zurückgezogen hatten, nicht anerkannten und diskriminierten.
40 Siehe zur Schlangenverehrung: T. K. Gopal Pannikar: »Serpent Worship in Malabar«, in: Malabar and its Folk, Madras 1900, Natesan&Co., Kap. 12; Fawcett, S. 275–282; Suresh Kumar Chattothayil: »Serpent God Worship in Kerala«, in: Indian Folklore Research Journal, Nungambakkam Chennai 2008, National Folklore Support Centre; Deborah L. Neff : »Naga« und »Pampin Tullal«, zwei Artikel in: South Asian Folklore Encyclopedia, Peter J. Claus et. al. (Hg.), New York 2003, Routledge. 41 Siehe die ausführliche Beschreibung dieses Festes bei Fawcett, S. 256 – 265.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Die Tempeldiener assistierten nur mit verbundenen Augen, so dass sie es vermeiden konnten, diese »beschämende Handlung« zu sehen. Der Trommler übertönte alles mit seinen Rhythmen, wobei er nicht hinter sich schaute, um nicht zu wissen, was geschah. Dieser Opferritus ist ebenfalls sehr alt und hat Parallelen bei den Khasi in Ostindien und anderen Völker im Gebiet des Himalaya.42 Der Grund für die Geheimnistuerei liegt darin, dass die Nayar – die nicht von ihrem traditionellen Opferbrauch für die Göttin lassen wollten – ihn nach außen hin abstritten. Im Morgengrauen verließ der illegitime Priester, der das Opfer vollzogen hatte, unentdeckt den Tempel, und die niederen Nambutiri-Brahmanen kamen zurück, um den Ort von solchen matriarchalen »Übeltaten« zu reinigen.
5.6
Patriarchale Brahmanen und matriarchale Nayar: eine problematische Verbindung
Als die Aryans und die vedischen Brahmanen vor ungefähr zwei Jahrtausenden auch die Malabarküste erreichten und sie nicht ohne Gewalt besetzten, genügten ihnen diese Sitten der Nayar, um sie als »unrein« tief unter sich zu stufen, obwohl die Kultur der Nayar ihnen überlegen war. Was die Brahmanen jedoch als ungeheuerlich empfanden war der Status und die Freiheit der Nayar-Frauen. Um dies zu verstehen, ist es nötig, einen Blick auf das hinduistische Kastensystem und das ganz normale Leben von Brahmanen-Frauen zu werfen. Die Kastenhierarchie, die mit offenem und verdecktem Zwang überall in Indien durchgesetzt wurde, beruht auf einer Reinheitsideologie, die religiös verankert ist und jede Frau schon ihres Geschlechts wegen prinzipiell herabsetzt. Die Fähigkeiten des weiblichen Körpers, die in matriarchalen Gesellschaften als Leben schenkend verehrt werden, wie Menstruation, Schwangerschaft und Geburt, gelten im Brahmanismus – wie auch in anderen patriarchalen Religionen – als »unrein«, ebenso das Sterben und der Tod, die üblicherweise von Frauen begleitet werden. Brahmanische Frauen sind ständig damit beschäftigt, ihre »Unreinheit« zeremoniell abzuwaschen. Männer verunreinigen sich, wenn sie »Unreines« berühren, besonders Frauen. Deshalb reinigt sich ein Brahmane nach jedem Geschlechtsakt mit der Frau. Niedere Kasten sind solche, die diese Reinheitsgebote nicht beachten und ihren Frauen ungebührliche Freiheit lassen. Nach dieser Ideologie sind die Brahmanen-Männer die »reinsten«, vollkommensten, höchsten Menschen. Sie betrachten sich sogar als gottgleich, da sie die vedischen Schriften, die Brahmanen-Bibel, kennen und hüten. Die Veden enthalten die patriarchale Religion und Lebensweise der Aryans. Im Verlauf ihrer langsamen, doch stetigen Eroberung des gesamten indischen Subkontinents stießen die Aryans überall auf matriarchale Völker, bei denen Frauen einen hohen Status innehatten. Deshalb war es für die Existenz ihres patriarchalen
42 Göttner-Abendroth: Matriarchale Gesellschaften, Band I, Kap. 2 und 3.
5.6 Patriarchale Brahmanen und matriarchale Nayar: eine problematische Verbindung
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Systems notwendig, die Sitten dieser Völker zu unterdrücken und zu pervertieren und deren Frauen niederzuhalten, die sie in der Regel mit Zwang heirateten. Auf die Dauer ergab sich daraus das ganz normale Schicksal jeder brahmanischen Ehefrau, das genau das Gegenteil zum Leben einer Nayar-Frau darstellt. Es ist gemäß brahmanischer Tradition gekennzeichnet von Kindervermählung, Hypergamie, das heißt »Heirat nach oben«, Ehesklaverei, Unauflöslichkeit und Unwiederholbarkeit der Ehe. Für die Ehefrau bedeutet dies absolute Monogamie, bei deren Ende die Witwe nicht nur verachtet, sondern im Brauch des »Sati« lebendig verbrannt wurde. Einige Erläuterungen dazu: Kindervermählung heißt, dass eine weibliche Person bereits als Kind, häufig gleich nach der Geburt, einem Mann versprochen wird. Damit wird jede eigene Wahl vonseiten der Frau unmöglich gemacht, sie ist lediglich ein Pfand für wirtschaftliche Überlegungen ihres patriarchalen Clans. Der Bräutigam kann ein Knabe sein, der später als Mann natürlich erotische Freiheiten hat, aber sehr oft ist er ein erwachsener Mann, nicht selten ein älterer Mann von fünfzig oder sechzig Jahren, der eine Kindbraut begehrt. Von den Brahmanen ist bekannt, dass sie besonders gern sehr junge, zarte Mädchen ehelichen. Das Mädchen wird daraufhin erzogen, den Gatten als ihren Gott zu betrachten und ihm voll Ehrfurcht zu begegnen. Die Hochzeit wird sehr früh gefeiert, am häufigsten mit zehnjährigen Mädchen, nicht selten noch früher. Sie findet auf jeden Fall vor der Pubertät und der ersten Menstruation statt, denn das ist die »reinste« Braut. Außerdem muss der väterliche Clan, der nicht bereit ist, das Mädchen länger als nötig zu ernähren, für ihre Jungfräulichkeit garantieren. Sexuelle Freiheit des Mädchens vor der Ehe, wie in matriarchalen Gesellschaften üblich, kommt so nicht auf, noch nicht einmal der Gedanke daran. Von den Männern und alten Männern wird die Ehe mit der Kindbraut vollzogen, was diese meist verletzt.43 Die indische Regierung hat Gesetze gegen die Hochzeit mit Kindbräuten erlassen und deren Alter erst auf 12, dann auf 16 heraufgesetzt, diese Gesetze haben aber wenig Wirkung.44 Hypergamie oder »Heirat nach oben« kennzeichnet den Brauch, dass die mittleren Kasten ihre Töchter möglichst in höhere Kasten hinein vermählen; solche Vermählungen sind sehr begehrt und üblich. Die niederen Kasten heiraten unter sich. Hypergamie in einen höheren Clan bringt dem Clan der Braut einflussreiche Verwandtschaft ein. In der Regel muss der väterliche Clan der Braut dafür eine große Mitgift bringen, damit der »höhere« Bräutigam bereit ist, die »niedere« Braut anzunehmen. Daraus sind der heutige Wucher mit der Mitgift und die Mitgiftmorde
43 Es gibt Berichte von Menschenrechtsorganisationen, dass indische Mädchen kurz nach der Hochzeit ins Krankenhaus gebracht werden und manchmal an den Verletzungen sterben. 44 Siehe dazu und für das Folgende: Ehrenfels, S. 113–122, 21–22; Mary Daly: Gyn/Ökologie. Eine Meta-Ethik des radikalen Feminismus, München 1981, Verlag Frauenoffensive, Kapitel 3 (original 1978 in Englisch); Katherine Mayo: Mother India, New York 1927, Harcourt, Brace & Co.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
an jungen Ehefrauen, deren eigene Clans nicht mehr zahlen wollen oder können, entstanden. Bei diesen Morden wird die junge Frau meist in der Küche ans Herdfeuer gedrückt, bis ihr Sari Feuer fängt und sie bei lebendigem Leib verbrennt. Das widerfährt heute Tausenden von jungen Frauen jährlich und heißt nach außen »Haushaltsunfall«.45 Durch die Hypergamie werden Töchter ausschließlich »hinauf« verheiratet, niemals werden sie einem Mann aus einer niederen Kaste gegeben. Hypergamie ist jedoch nicht zugunsten der Frau, denn sie verändert nicht ihre angeborene Kastenzugehörigkeit. Im Gegenteil verstärkt diese Praktik das Mann-Frau-Machtgefälle, bei dem stets der Mann »oben« und die Frau »unten« ist. Damit werden Frauen degradiert, denn sie sind im Clan des Gatten immer die »niedere« Person und haben während ihres ganzen Lebens tägliche Demütigungen von seinen Verwandten zu ertragen. Der Brauch der Hypergamie spiegelt entfernt die geschichtlichen Verhältnisse wider, bei denen sich die Krieger der Aryans Frauen aus unterworfenen Völkern nahmen, die sie »niedriger« betrachteten. Ehesklaverei heißt, dass die junge Ehefrau im patriarchalen Clan ihres Gatten hoffnungslos an letzter Stelle steht. Denn sie ist nicht nur die Fremde, sondern meist auch die Kastenniedere, dem Gatten gegenüber erheblich jünger und obendrein »unrein« von Natur. Sie ist in erster Linie die Arbeitssklavin zur Entlastung ihrer Schwiegermutter, die ein strenges Regiment über alle ihre Schwiegertöchter führt. Die Schwiegermütter sind dabei nicht die Verursacherinnen der Sklaverei der jungen Frauen, sondern sie waren selbst Opfer dieses Systems. Die Atmosphäre zwischen den Frauen im Haus: Schwiegermutter, Schwägerinnen, Schwiegertöchtern, ist in der Regel von Repression und unterschwelligem Hass geprägt. Die junge Ehefrau kennt keine Vergnügungen, sie arbeitet schwer, verlässt das Haus selten und nur mit Erlaubnis des Gatten und der Schwiegermutter. Eine Rückkehr in den eigenen Clan ist unmöglich. Absolute Monogamie bedeutet, dass die Frau eine Daseinsberechtigung nur durch den Mann, das heißt verheiratet, hat. Es gibt keine Feier der Pubertät oder Menarche für sie, sondern nur die Hochzeitszeremonie, die sehr umfangreich ist. Die Ehe ist ein Sakrament und bindet die Frau vollständig an die Sippe und den Wohnort des Gatten, wobei ihre Rolle als Ehefrau und Mutter bis zum Ausschluss von allem anderen betont wird. Für sie ist die Ehe ausschließlich, unauflöslich und unwiederholbar, das heißt, sie kann sich niemals scheiden lassen und zum zweiten Mal heiraten. Es gibt keinerlei Möglichkeit für sie, die Ehe zu verlassen. In diesem Sinne ist der Gatte ihr Gott. Wenn er das Haus nach seinen Pflichten außerhalb betritt, kniet sie vor ihm nieder und wäscht ihm die Füße. Das Waschwasser spritzt sie in ihrem Mund und trinkt es, um zu zeigen, dass er so hoch über ihr steht, dass noch sein schmutziges Fußwasser für sie etwas »Reines« ist. Sie kocht und bedient ihn beim Essen, er isst zuerst und allein. Sie isst später die Überreste seiner Mahlzeit, soweit er etwas übrig lässt, dadurch ist sie häufig unterernährt, ebenso ihre
45 Marilyn French: Der Krieg gegen die Frauen, München 1992, Goldmann, S. 148–154 und insgesamt (original 1992 in Englisch); Maria Mies: Indische Frauen, Frankfurt 1986, Syndikat.
5.6 Patriarchale Brahmanen und matriarchale Nayar: eine problematische Verbindung
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kleinen Töchter. Es kann zum langsamen Verhungern der Ehefrau führen. Sie bedient den Gatten auch nachts mit Körperpflege und Massagen. Wenn sie etwas wünscht, muss sie es ihm abschmeicheln. Es wird von ihr erwartet nur Söhne zu gebären, jede Mädchengeburt verschlechtert ihre Situation.46 Die Geburtswehen dauern sehr lange, drei bis fünf Tage, denn Brahmanen-Frauen sind oft wenig gesund und vor Angst verkrampft. Die Gebärende ist in besonders »unreinem« Zustand, alles was sie berührt wird »unrein«. Alle ihre Gegenstände nimmt man ihr weg, damit man die Dinge später als »verunreinigt« nicht wegwerfen muss. Sie gebiert in separatem Raum und oft alleingelassen, nur mit der Hilfe einer »Dhai«, einer nicht ausgebildeten Hebamme aus der untersten Kaste, den Paria. Diese Kaste der »Unberührbaren« gilt als so »unrein«, dass ihr sogar der »unreine« Zustand einer Gebärenden nichts ausmacht. Aus diesen und anderen Gründen ist die Sterblichkeit der Brahmanen- und Hindu-Frauen in Indien von Kindheit an viel höher als bei Männern, so dass nicht viele bis zum Alter einer reifen Frau überleben.47 Ist die Gattin trotz alledem eine ältere Frau geworden, dann darf sie ein einziges Mal in ihrem Leben öffentlich tanzen: auf der Hochzeit ihres Sohnes. Denn nun bekommt sie eine Schwiegertochter, die ihr als Sklavin dienen wird, so wie sie selbst hat dienen müssen.48 Witwenverachtung und die Tradition des »Sati«, der Witwenverbrennung, bedeuten, dass beim Tod des Gatten die Gattin ihre Daseinsberechtigung verloren hat, doch nicht nur das: Sie wird als schuldig an seinem Tod betrachtet. In früheren Zeiten, während der Auseinandersetzung von Matriarchat und Patriarchat auf indischem Boden und der Zwangsverheiratung von Frauen, konnte man sie vielleicht noch verdächtigen, ihren Gatten vergiftet zu haben. Im Laufe der Zeit wurde Sati in den oberen Kasten zu einem ganz normalen Ritual. Es sollte durch seine Grausamkeit jede Ehefrau davon abschrecken, ihren verhassten Gatten loswerden zu wollen. Als »Schuld« der Frau wird angegeben, dass ihr schlechtes »Karma« aus einem früheren Leben, ihre damaligen Sünden es seien, die sie ihren Gatten verlieren ließen und sie nun dem schrecklichen Witwentod ausliefern. Das Opfer ist also stets selber schuld und es spielt keine Rolle, ob die Gattin eine reife Frau oder noch eine Jugendliche ist, deren greisenhafter Mann verschied. »Sati« bedeutet immer, dass die unglückliche Witwe lebendig mit dem Leichnam ihres Gatten auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Für diesen Akt wird sie geschmückt und mit Drogen betäubt. Die männlichen Verwandten treiben sie mit langen Stangen und Stöcken vorwärts und stoßen sie in den brennenden Scheiterhaufen, oder sie wird gefesselt auf den Scheiterhaufen gesetzt, den Kopf des Gatten 46 Frauen, die nur Mädchen gebären, erleiden manchmal ebenfalls »Haushaltsunfälle«, was sie ins Krankenhaus oder in den Tod führt. Daraufhin kann sich der Gatte und sein Clan durch die Mitgift einer zweiten Gattin bereichern (Berichte von Menschenrechtsorganisationen). 47 Siehe die Statistiken von Millionen fehlender Frauen: French, S. 149–150. 48 Ehrenfels, S. 127; Daly, S. 456; Lynn Bennett: Dangerous Wives and Sacred Sisters, New York 1983, Columbia University Press; Cheryl Benard/Edith Schlaffer: Das Gewissen der Männer, Reinbek bei Hamburg 1992.
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in ihrem Schoß. Ihre eigenen Söhne beteiligen sich aktiv am öffentlichen Schauspiel des Muttermords, denn sonst wäre ihr Privileg, zu einer höheren Kaste als die Mutter zu gehören, bedroht. Eine Witwe zu verbrennen erhöht die Ehre des ganzen patriarchalen Clans. Dem Opfer wird ein paradiesischer Aufenthalt mit ihrem Gatten im Jenseits versprochen und eine bessere Wiedergeburt – vielleicht als Mann. Trotz des Verbots von »Sati« durch die Engländer und später durch die indische Regierung wird er noch heute heimlich praktiziert. Eine Witwe wird mit Benzin übergossen und angezündet, sie verbrennt in den Flammen. Diese Vorkommnisse gelten heute, ebenso wie die Mitgiftmorde, nach außen als »Haushaltsunfälle«. Frauen willigen gelegentlich in solche Praktiken ein oder bestehen sogar auf ihrer Weiterführung, was mit dem Elend der Witwensituation zusammen hängt. Wenn es einer Witwe gelingt, dem Scheiterhaufen zu entkommen, ist ihr Leben dennoch nichts mehr wert. Sie wird vom Clan ihres Gatten wie eine Halbtote behandelt, selbst wenn sie vorher die einflussreiche Schwiegermutter war. Ihr Kopf wird kahl geschoren, sie hat nur ein einziges, weißes Tuch, um ihre Nacktheit zu bedecken, sie muss auf dem Boden oder der Türschwelle schlafen. Sie muss rigoros fasten, bekommt täglich nur einmal zu essen und ist die Sklavin für alle Schmutzarbeiten. So darf sie nichts berühren, die Ahnen und Götter nicht verehren, denn sie ist und bleibt durch den Tod ihres Gatten verunreinigt wie »ein Sack voll Schmutz«. Sie irrt umher wie ein Gespenst, ist überall im Wege und wird von allen gehasst. Denn nichts wird so sehr gefürchtet, als dass eine ältere Frau durch ihre Söhne irgendeinen Einfluss im Clan gewinnen könnte. Sie ist jedes menschlichen Status entkleidet und vorausgesagt wird ihr eine Wiedergeburt als ein Tier im nächsten Leben. Die Brahmanen- und Hindu-Frauen wissen, wie das Witwenelend auch heute noch aussieht; darum ziehen etliche von ihnen noch heute den Feuertod einem solchen Dasein vor.49 Diese Serie patriarchaler Gräuel – von denen manche auch in anderen patriarchalen Gesellschaften existieren – blieb im Verlauf der indischen Geschichte nicht auf die oberen Kasten beschränkt. Denn unterworfene Völker, die in eine bestimmte einseitige Berufsgruppe gedrängt und damit vom Kastensystem abhängig gemacht wurden, konnten in dieser Kastenhierarchie nur aufsteigen, wenn sie die Grundprinzipien des Brahmanismus annahmen, nämlich Patrilinearität und Patrilokalität, Hypergamie, Kindervermählung und Witwenverachtung. Da das Schicksal der unteren Kasten, besonders der Paria, der »Unberührbaren«, ebenfalls schrecklich war, nahmen viele unterworfene Volksgruppen diese Grundprinzipien an, auf Kosten ihrer Frauen. Je nach dem Grad ihres Erfolges bei dieser Anpassung galten sie dann als mehr oder weniger »reine« Kaste. Daher sind die untersten Kasten durch ihren Mangel charakterisiert, diese Prinzipien und die Gesetze der »Reinheit« zu befolgen, ebenso durch die unschickliche Freiheit, die ihre Frauen genießen. Auf diese Weise wurden im Lauf der Geschichte die meisten der eigenständigen Völker Indiens vom hinduistischen Kastensystem absorbiert und als Indigene unsichtbar gemacht. Die ständige Hypergamie löste ihre ethnische Identität und sogar 49 Ehrenfels, S. 125 – 129; Daly, S. 135 – 155; Mayo: Mother India.
5.6 Patriarchale Brahmanen und matriarchale Nayar: eine problematische Verbindung
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ihre physische Eigenart auf. Andere indigene Völker, die ihre eigenen ethnischen und matriarchalen Züge beibehielten, wie die Pulayan und die Parayan, wurden wegen ihrer »Unreinheit« auf die unterste Stufe der Gesellschaft gestoßen, mit den entsprechenden Folgen von Armut und Elend.50 So ist das Kastensystem keineswegs die friedliche und vernünftige Gliederung einer vorhandenen, homogenen Gesellschaft, wie es in der Regel von der Brahmanen-Ideologie der Außenwelt suggeriert wird. Stattdessen ist es extremes Patriarchat, nämlich die versteinerte Geschichte patriarchaler Gewalt gegen Frauen allgemein und gegen andere Völker und Kulturen auf indischem Boden. – Diese kurze Darstellung des hinduistischen Kastensystems und des Lebens der Frauen in den oberen Kasten möge genügen um deutlich zu machen, wie grundsätzlich verschieden davon das Leben von Nayar Frauen ist. So ist es erstaunlich, wie zwei derart entgegengesetzte Gesellschaftsordnungen miteinander funktionieren konnten – was natürlich nicht ohne Spannungen ging. Die Einwanderung der Brahmanen in Kerala hat die Situation der Nayar und besonders der Nayar-Frauen verändert. Dass die Veränderungen nicht drastischer ausfielen, verdanken die Nayar-Frauen ihren kriegerischen Männern. Denn der historische Kompromiss zwischen den matriarchalen Sippen der indigenen Nayar und den patriarchalen Clans der eindringenden Nambutiri-Brahmanen kam nicht zuletzt dadurch zustande, dass die Brahmanen sich ohne die Verbindung mit den Nayar-Königen auf die Dauer nicht hätten halten können. Sogar in den Zeiten, als sie als Priester an der Malabarküste etabliert waren und große Ländereien um ihre Tempel besaßen, fürchteten sie noch Übergriffe von ehrgeizigen Nayar-Königen. Die Brahmanen errichteten und hielten ihre Macht durch das Ausspielen der konkurrierenden Könige und Häuptlinge untereinander. Diese waren nur so mächtig, soweit ihre Möglichkeit reichte Krieger zu rekrutieren. In den Küstenstädten beruhte die Macht der Könige auf den Tributen, die sie aus dem Übersee-Handel bezogen. In jedem Falle blieb ihr Wirkungsbereich lokal, während die Brahmanen soziale Verbindungen pflegten, die sich über ganz Kerala und noch darüber hinaus erstreckten. Sie besaßen eine eigene Administration und Rechtsprechung, die unabhängig von den Königen war. Sie mischten sich niemals in Streit zwischen verfeindeten Parteien ein und bewegten sich unbeeinträchtigt zwischen den kämpfenden Lagern. Denn die Person jedes Brahmanen galt als heilig, untadelig und unantastbar, sie beanspruchten für sich den übersteigerten Status der Gottgleichheit. Sie führten überall, wo sie wohnten, männliche Götter wie Vischnu und Schiva ein, die es in dieser Weise vorher nicht gab, und erbauten ihnen prächtige Tempel als Ausdruck von Macht. Damit entthronten sie die an die Natur gebundene matriarchale Religion und die häuslichen Feiern der Nayar und verwiesen deren Göttin Bhagavati auf einen niederen Platz in der Götter-Hierarchie. Zugleich waren sie die Ratgeber der Könige und die Priester der öffentlichen Rituale, wodurch sie ihre Macht hielten. So gelang es ihnen, ihre neuen patriarchal-religiösen Gesetze mit 50 Ehrenfels, S. 6.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
der menschenverachtenden Ideologie von »Reinheit« und »Beschmutzung« Schritt für Schritt durchzusetzen. Zusätzlich gelang es ihnen, die in Kerala schon vorhandene, alte Hierarchie zu verschärfen, indem sie die Unterschiede zwischen den verschiedenen Volksgruppen extrem machten und mit den Berührungsängsten besetzten, die das Kastensystem charakterisieren. Einzelne Könige, die einen Brahmanen zu verwunden wagten oder sein Tempelland nur betraten, waren durch dieses Machtnetz der Priester von allgemeiner Ächtung bedroht. Die Machtstruktur der Brahmanen-Priesterschaft gleicht jener der christlichen Priester, Bischöfe und Päpste, die im Mittelalter ebenfalls durch ihre Macht einzelne Könige degradierten und mit Bann belegten. Auch sie hielten und halten ihren hohen Status seit jeher durch internationale Verflechtung mit den Herrschenden.51 Das raffinierteste Machtmittel der Brahmanen-Priesterschaft war jedoch die Hypergamie, das heißt, die erzwungene, systematische Heirat mit Frauen der unterworfenen Völker, die zu den niederen Kasten gemacht wurden. Als die Nayar zur zweiten Kaste in Kerala wurden, war in den Königshäusern der Nayar die Hypergamie der Frauen obligatorisch, das heißt, sie hatten nur Brahmanen-Gatten. Die königlichen Nayar-Männer heirateten dagegen Frauen aus den adligen Nayar-Sippen, die rangniedriger waren als sie selbst, und genauso verhielten sich alle hohen Adelshäuser. Eine gewöhnliche Nayar-Frau konnte Nayar-Männer derselben Kaste heiraten, aber wenn ein Nambutiri-Brahmane sie begehrte, durfte sie ihm die Heirat niemals verweigern.52 In den untersten Kasten gab es keine Hypergamie, sondern es wurde nur untereinander geheiratet. Durch dieses aufgedrängte Einheiraten der Nambutiri-Brahmanen in die Verwandtschaftslinien der Nayar, das bald zu einer Prestigesache wurde, gelang es ihnen über Manipulation, sich die kühnen und unternehmungslustigen Nayar unausweichlich zu verbinden und zu verpflichten. Auf diese Weise verloren die Nayar einen Teil ihrer indigenen ethnischen Identität, denn über Generationen hatten Kinder in den hohen Kasten Nayar-Mütter und Brahmanen-Väter.53 Im Gegensatz dazu blieben die Nambutiri-Brahmanen in genealogischen Angelegenheiten streng unter sich. In ihren patriarchalen Clans, den »Illam«, war es üblich, dass nur der älteste Sohn eine oder mehrere Brahmanen-Gattinnen heiratete. Den jüngeren Brüdern waren Brahmanen-Frauen verboten, um die Zahl und Rivalität der Erben zu beschränken. Denn nur der älteste Sohn erbte und vererbte den Großgrundbesitz, der auf diese Weise niemals zerteilt wurde und in reiner Brahmanen-Linie blieb. Diese Regel bei ihnen wurde paradoxerweise durch die matriarchale Ordnung der Nayar unterstützt, bei dem die Kinder prinzipiell bei der Mutter bleiben. Das heißt, die jüngeren Brahmanen-Söhne konnten diesen Mangel an Heirats-Privilegien kompensieren, indem sie sich an Nayar-Frauen hielten, von denen sie so viele, wie sie wollten, heirateten. Diese »Heirat« beschränkte sich auf die Praktik der Besuchsehe über Nacht in den Clanhäusern der Frauen. Doch niemals durften sie diese Frauen und
51 Schneider/Gough, S. 306, 319. 52 Fawcett, S. 227. 53 Schneider/Gough, S. 320 – 323.
5.6 Patriarchale Brahmanen und matriarchale Nayar: eine problematische Verbindung
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ihre Kinder in die patriarchalen Nambutiri-Clans bringen. Die Tempelkomplexe und Dörfer der Brahmanen lagen abgegrenzt für sich und keine Person aus einer niedrigeren Kaste durfte sie betreten. Die matriarchalen Nayar-Frauen hatten ihrerseits nicht im Geringsten ein Interesse, ihren Clan und ihr Sippenhaus zu verlassen und das traurige, eingesperrte Leben einer Brahmanen-Gattin zu führen. Die meisten BrahmanenFrauen blieben wegen dieser absurden Heiratsregel, bei der nur der älteste Sohn innerhalb der eigenen Kaste heiraten durfte, ohnehin unfreiwillig gattenlos und kinderlos, was ihren unterdrückten Status keineswegs verbesserte.54 Die jüngeren Söhne aus Brahmanen-Familien betrachteten ihre Nayar-Frauen nicht als Gattinnen, sondern nur als Konkubinen, denn diese Verbindungen wurden nicht mit einer brahmanische Ehezeremonie gefeiert. Außerdem wurden sie als Frauen aus einer rangniederen Kaste als »unrein« betrachtet, ebenso die Kinder, die aus dieser sexuellen Verbindung hervorgingen und im Haus der Mutter blieben. So durfte ein Nambutiri-Brahmane nach einer Liebesnacht mit einer Nayar-Frau sein Dorf und Clanhaus erst wieder betreten, nachdem er sich gebadet und so seine »Reinheit« wieder gewonnen hatte. Nach dem Bad durfte er weder die Nayar-Frau noch die Kinder berühren, es hätte sofort wieder Verunreinigung nach sich gezogen.55 Dennoch war der sexuelle Akt nach der spitzfindigen Reinheitsideologie der Brahmanen möglich, denn der Mann »beschmutzte« sich dabei nur außen und konnte es abwaschen – bei der Frau hingegen war das anders! Für die Nayar galt eine Frau in Besuchsehe mit einem Nambutiri-Brahmanen dagegen als verheiratet, da ihre Tradition weder eine Ehezeremonie noch Monogamie noch den Wohnsitz im Clan des Gatten für die Frauen kannte. Nayar-Frauen betrachteten diese Brahmanen daher als ihre regulären Gatten, die sie in ihrem polyandrischen Ehesystem zu Recht neben anderen Gatten haben konnten.56 Es ist offensichtlich, dass hier zwei völlig gegensätzliche kulturelle Werthaltungen verständnislos aneinander vorbei leben, eine Kluft, die kein formaler Kompromiss überbrücken kann. So begegnete der Brahmanen-Mann seiner Nayar-Geliebten mit einer Mischung aus Begehrlichkeit und Verachtung, während sie ihn ohne Mühe in die Reihe ihrer diversen Gatten einfügte, deren Mehrzahl ihr eine gewisse Ehre einbrachte. Die matriarchale Polyandrie ist in den Augen der Brahmanen das Übel der »Unreinheit« schlechthin. Diese Praktik wurde mit Abscheu betrachtet und reichte aus, um das ganze Nayar-Volk herunterzustufen. Gleichzeitig bediente man sich ihrer in zynischer Doppelmoral: Brahmanen konnten dadurch die eigenen Gelüste befriedigen und zugleich ihr internes, geschlossenes, patriarchales Heiratssystem stabilisieren. Daran wird deutlich, dass matriarchale und patriarchale Muster keine Kombination vertragen, ganzgleich welcher Art die Kombination ist. Wo sie vorkommt, erzeugt sie lediglich eine Situation sozialer Spannungen, denn es entsteht ein ungelöstes Nebeneinander von gesellschaftlichen Widersprüchen, das auf die Dauer zerstörerisch sein kann.
54 Fuller, S. 2–4. 55 Fawcett, S.225. 56 Schneider/Gough, S. 320.
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5.7
Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Der Untergang des Matriarchats bei den Nayar
Die soeben beschrieben problematische Situation gilt ebenso für die Nayar-Könige, deren hierarchische Politik es der brahmanischen Hierarchie des Kastensystems ermöglichte, überhaupt Fuß zu fassen. Hier unterstützen sich zwei Herrschaftsinteressen gegenseitig, das der Brahmanen-Priester und das der Nayar-Könige. Auf diese Weise wurden Patriarchalisierungsprozesse, verbunden mit der monströsen Reinheitsideologie, von oben nach unten beim Volk eingeführt. Als Folge wurde die Bewegungsfreiheit der Nayar-Frauen durch strenge Reinigungsvorschriften, die Menstruation, Geburt und Tod betreffen, immer mehr auf das Clanhaus eingeschränkt.57 Gleichzeitig stiegen die Autorität und die Befugnisse des Karanavan, des ältesten Mannes im Clan. Besonders in den adligen Nayar-Sippen führte das zu einer Position, in der er als der verlängerte Arm der staatlichen Männerhierarchie ins Clanhaus hineinwirken konnte.58 Die sozialen Grundmuster von Matrilinearität, Matrilokalität und polyandrischer Besuchsehe wurden dennoch konsequent beibehalten, denn sie stützten von innen das Nayar-Kriegerwesen, auf dem die Macht der Könige beruhte. Diese matriarchalen Regeln stellten sicher, dass die kampffähigen Männer auf diese Weise für Schlachten frei verfügbar blieben und dennoch überall Unterkunft bei Nacht fanden. So waren es paradoxerweise patriarchale Machtüberlegungen, welche die matriarchale Sozialordnung der Nayar eine lange, historische Zeit schützten, aber gleichzeitig ihren Sinn schleichend aushöhlten. Darin steckte der Keim zu ihrem Untergang, was sich unvermittelt auswirkte, als um 1800 die siegreiche, englische Kolonialmacht die Armeen der Nayar auflöste und die Krieger nach Hause schickte. Als Folge davon brach »Marumakkattayam«, die matriarchale Sippenordnung der Nayar, in wenigen Generationen zusammen. Das Drama spielte sich folgendermaßen ab:59 1792 annektierten die Engländer Kerala und rieben die Nayar-Armeen durch die permanente Kriegsführung auf.60 Die englischen Armeen kannten keinen Ehrenkodex wie die Nayar, sondern waren allein auf Unterwerfung und Vernichtung ausgerichtet. Die besiegten, überlebenden Nayar-Männer kehrten in ihre Clanhäuser zurück, wo sie kein sinnvolles Betätigungsfeld mehr fanden. So wuchsen die Rivalitäten untereinander, besonders der jüngeren Männer gegenüber dem Karana-
57 Fawcett, S. 189–190. 58 Schneider/Gough, S. 340–341. 59 Siehe für das Folgende: Fuller, S. 54–55, 61–63, 71–76, 123–126, 129–135, 149–150; Shanker de Tourreil: »Nayars of Kerala«; Krishna Iyer/Bala Ratnam: Anthropology in India, Bombay 1961, Bharatiya Vidya Bhavan, S. 156–165; K. Saradamoni: Matriliny transformed: Family, Law and Ideology in Twentieth Century Travancore, New Delhi 1999, Sage Publications. 60 Bevor die Engländer Änderungen vornahmen, bestand Kerala aus drei verschiedenen geopolitischen Teilen, die als Travancore, Kochi und Malabar bekannt sind. Nur der nördlichste Teil Malabar wurde von den Briten ab Ende des 18. Jhs. direkt beherrscht. In Kochi und Travancore regierten die indigenen Könige weiter bis zur Unabhängigkeit ganz Indiens von den Engländern im Jahr 1947.
5.7 Der Untergang des Matriarchats bei den Nayar
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van. Immer mehr verweigerten sie ihm den Gehorsam, es wurde ihm persönliche Willkür und Misswirtschaft aus Senilität vorgeworfen. 1865 führten die Engländer die kapitalistische Ökonomie ein und proklamierten die Verkäuflichkeit von Land – ein Faktum, das vorher undenkbar gewesen war. Die Engländer leitete dabei purer Eigennutz, denn sie wollten Plantagen bauen und sich das Monopol auf den Gewürzhandel verschaffen. Mit ihnen kooperierte die Händlerkaste der syrischen Christen, die dabei reich wurden, während die Nayar zunehmend in Landverlust und Verschuldung versanken. Bis zum Ende des 19. Jhs. hatten sich massive Existenzängste unter ihnen verbreitet, die von den Karanavan der Sippen, welche die Zeitläufe nicht mehr überblickten, nicht aufgelöst werden konnten. Dafür wussten es die in die Städte abgewanderten jungen Nayar-Männer besser. Sie hatten ihre Sippen verlassen und waren in englischen Colleges nach westlichen Werten erzogen worden, was ihnen die Türen für neue Karrieren öffnete. Binnen kurzem hatten sie die Mehrheit der staatlichen Verwaltungsposten inne und brillierten in allen bürgerlichen Berufen als Lehrer, Rechtsanwälte und Ärzte. Sie hatten hohe Einkommen und erwarben nun selber Land und Häuser, statt Geld an ihre Clans zu senden, um sie zu unterstützen. Dabei leiteten sie die neuen Werte von Christentum, modernem Individualismus und Privatbesitz. Sie diagnostizierten, dass »Marumakkattayam«, die matriarchale Sozialordnung, der eigentliche Grund für die »Rückständigkeit« der Nayar sei und dass sie nur durch deren Abschaffung »Fortschritt« und »Wohlstand« erreichen würden. Sie propagierten die Aufhebung des Amts des Karanavan und die Aufteilung von Clanland unter alle männlichen und weiblichen Erben. Auch das war bisher undenkbar gewesen, denn das Clanland lag in den Händen der Frauen, die allein das Recht hatten es zu vererben, und zwar in direkter weiblicher Linie. Aber die Propaganda der christlichen Missionare sowie der hinduistischen Brahmanen zielte ebenfalls gegen die matriarchale Sozialordnung; den entscheidenden Schlag führten jedoch Nayar gegen Nayar. So ging es den ländlichen Clans am Ende des 19. Jhs. sehr schlecht und ihr Zusammenhalt löste sich auf. Als Antwort auf die Krise wurden juristische Kommissionen in der Stadt eingerichtet, die neue Gesetze erließen: 1891 wurde die matriarchale Sippe abgeschafft, 1913 trat dieses Gesetz in Kraft. 1925 wurde die unbegrenzte Teilung des Clanlandes erlaubt, was zu seiner Zerstückelung in Privateigentum führte. 1912 wurde die Polyandrie, die seit zweihundert Jahren von allen Seiten, von hinduistischen, muslimischen und christlichen Religionsführern heftig kritisiert worden war, unter Strafe gestellt. Stattdessen führte man die Monogamie für Frauen mit der hinduistischen Ehezeremonie ein. Ab 1930 endete die Hypergamie von Nayar-Frauen mit Brahmanen-Männern, denn die Nayar, die als Gatten Kontrolle über ihre Frauen gewinnen wollten, weigerten sich nun, Nayar-Frauen als Konkubinen von Brahmanen ausnutzen zu lassen. Auch die jüngeren Brahmanen-Männer wollten endlich selbst Brahmanen-Frauen heiraten, womit beide Kasten endogam wurden (Ehe nach innen). Während dieser Zeit starb die Tali-Zeremonie aus, das Initiationsfest für die Mädchen, und auch das Fest der ersten Menstruation verschwand. Stattdessen nahm die Ehezeremonie nach hinduistischem Brauch immer größeren Raum ein und wurde immer pompöser.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Dieser ganze Prozess wirkte sich von 1920 bis 1940 verheerend auf die matriarchalen Clans der Nayar aus, deren Schicksal bis 1960 definitiv besiegelt war. Nayar-Land war nun von den Engländern, syrischen Christen und wohlhabenden Nayar-Männern aus der Stadt vollständig aufgekauft. Letztere bauten dort Einfamilienhäuser und übertrugen ihr Vermögen von den Schwestern und Schwesterkindern auf ihre Ehefrauen und eigenen Kinder. 1956 hob ein weiteres Gesetz sogar das Erbrecht in weiblicher Linie auf und übertrug es ausschließlich auf die männliche Linie. Mit dem ökonomischen und sozialen Patriarchalisierungsprozess ging die ideologische Patriarchalisierung einher, welche die voreheliche Keuschheit der Frauen und ihre unbedingte sexuelle Treue in der Ehe betonte sowie die Autorität des biologischen Vaters über die Kinder. Die Autonomie der Nayar-Frauen ist damit zerstört, ihr Status hat sich sehr verschlechtert. Es geht ihnen jedoch besser als der Mehrheit der hinduistischen Ehefrauen, denn sie haben noch Reste ihres alten Erbrechts behalten und wachen eifersüchtig darüber. Die meisten Haushalte sind daher eine Kombination des geerbten Vermögens des Mannes und der Frau, und je nach überwiegendem Besitz gestalten sie sich virilokal (Wohnort beim Gatten) oder uxorilokal (Wohnort bei der Gattin). Hören wir zu der gegenwärtigen Situation die Aussage des indischen Ethnologen Krishna Iyer, der mit diesem Thema sehr vertraut ist: Es ist sicher ein Schrei in der Wüste zu hoffen, dass das Matriarchat wiederkehrt, aber niemand kann um die Tatsache umhin, dass die matriarchale Ordnung einen guten Hintergrund für die individuelle Persönlichkeitsstruktur bereitstellt, die für Kreativität und Originalität günstig ist. Es ist wahr, dass Frauen im Matriarchat ein paar Vorzugsrechte und eine sichere Position haben, aber das Ideal der geteilten Autorität ist vorurteilsfrei. Niemals haben Frauen im Matriarchat Männer in derselben Weise dominiert, wie Männer über Frauen in Patriarchaten herrschen. Diese und andere Aspekte der matriarchalen Ordnung sind ein ausgezeichnetes Mittel der Erziehung zur Demokratie.61
5.8
Die Ausgestoßenen: »Adivasi« und »Zigeuner«
In den Dschungelwäldern und Gebirgen Zentralindiens leben versteckt viele alte, indigene Völker, die summarisch »Adivasi«, das heißt »Ureinwohner«, genannt werden. Sie konnten Teile ihrer matriarchalen Muster bis in die Gegenwart retten und sind alle vor-indoeuropäischer Herkunft, untereinander aber sehr verschieden.62 Immerhin stellen sie zusammen 87 Millionen Menschen dar (im Jahr 2008). So umfasst Indien allein ein Viertel aller indigenen Kulturen auf der Erde, eine Tatsache, die von der indischen Regierung jedoch hartnäckig geleugnet wird. Für die Weigerung, diese Völker anzuerkennen und ihre Eigenart zu achten, gibt es zwei Gründe: erstens die dem Kastensystem innewohnende kolonialistische und sexistische Haltung, zweitens die Gier nach dem Land der Ureinwohner. Zum ersten 61 Iyer/Ratnam, S.164. 62 G. N. Devy: »Giving adivsasis a voice«, in: InfoChange News & Features, October 2008, http://www.infochangeindia.org/Agenda/Against-exclusion/Giving-adivasis-a-voice.html
5.8 Die Ausgestoßenen: »Adivasi« und »Zigeuner«
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Punkt hören wir die Stimme von Ram Dayal Munda, eines Vertreters der »Adivasi«, der Ureinwohner auf indischem Boden: Indiens Kolonialgeschichte begann nicht erst mit der britischen Eroberung, sondern schon mit der Invasion der Aryans vor 4000 Jahren. Im Laufe der Kolonisation durch die Aryans begann die Verdrängung der alteingesessenen Urbevölkerung, die später durch kulturelle Unterwerfung verewigt wurde. Eine eiserne, soziale Hierarchie entstand dann durch die Eingliederung der indigenen Bevölkerung in das Kastensystem. Aber es gibt noch Völker, die sich nicht unterwerfen ließen, und sie haben bis heute ihre eigenständige Identität.63
Die vorsätzliche Blindheit des Kastensystems funktioniert jedoch, weil alle unterworfenen Völker über Heiratsverbote und Berufsverbote zwangsweise eingegliedert wurden und daher nicht mehr als eigene Völker gelten, sondern nur noch als bestimmte Kasten. Durch extreme Abgrenzung und Arbeitsteilung – denn je eine Kaste ist ein Beruf – wurde ein System der Abhängigkeiten erzeugt, das die Identität der vor-indoeuropäischen Völker auslöschte und ihren Platz im hierarchischen System für immer zementierte. Diejenigen, die als Subkultur an die unterste Stelle gerieten, wie beispielsweise die Pulayan und Parayan, und diejenigen, die nicht unterworfen wurden, weil sie sich in die Dschungel Zentralindiens zurückgezogen hatten, wie die »Adivasi«, wurden pauschal als rituell Unreine, eben »Unberührbare« ausgegrenzt. Durch diesen Trick werden sie von oben dennoch über das Kastensystem definiert und damit unsichtbar gemacht. Deshalb können die Herrschenden in Indien noch heute behaupten, es gebe überhaupt keine unabhängigen, indigenen Völker in Indien. Dementsprechend schwierig und eingeschränkt ist die ethnologische Erforschung dieser Völker, weil sie unerwünscht ist.64 Der zweite Grund für die absichtliche Blindheit ist der Landraub an den Adivasi: Es geht im Namen des industriellen Fortschritts um die Zerstörung der Lebensgrundlage von 87 Millionen Menschen, die bis heute in den Dschungelwäldern ökonomisch und kulturell unabhängig geblieben sind. Gigantische Projekte wie Staudämme, Industrieanlagen und Bergwerke zerstören die Wälder, assistiert durch die staatliche Forstwirtschaft mit ihrer flächendeckenden Abholzung. Die Gewässer werden verseucht und einzelne devisenträchtige Touristenparks mitten in der Zerstörung tun das übrige. Die Adivasi leisten heftigen Widerstand, besonders die Frauen, wie an der Chipko-Bewegung und am Widerstand gegen den Narmada-Staudamm zu sehen ist. Dafür droht ihnen der Tod oder die Vertreibung; im letzteren Fall enden sie auf den Teeplantagen, wo Frauen und Kinder die Hauptarbeit leisten müssen, oder in den Slums der Großstädte, wo sie elend zugrunde gehen.65
63 POGROM. Zeitschrift für bedrohte Völker, Nr. 171, Göttingen Juni/Juli 1993, Gesellschaft für bedrohte Völker, S. 14. 64 A.a.O., S. 13. 65 A.a.O., insgesamt; R. Hörig: Selbst die Götter haben sie uns geraubt, Pogrom-Taschenbuch Nr. 1020, Göttingen, Gesellschaft für bedrohte Völker; C. von Fürer-Haimendorf: Tribes of India. The Struggle for Survival, Berkeley, Los Angeles, London 1982, University of California Press; Vandana Shiva: Staying alive: women, ecology and development, London 1988, Zed Books; Mies, S. 267 f.
178
Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
Charakteristisch für alle diese vor-indoeuropäischen Kulturen ist, dass sie keine Kastenschranken kennen. Sie sind grundsätzlich egalitär und die Frauen genießen bei ihnen einen gleichwertigen oder gar höheren Status als die Männer. Dies hängt davon ab, wie viele matriarchale Elemente bei ihnen im Lauf ihrer langen und leidvollen Geschichte noch übrig geblieben sind.66 Als matriarchale Stämme, die unabhängig leben, sind allein schon in Kerala die Malakudias als BrandrodungsFeldbauern an den westlichen Abhängen des Ghats-Gebirges und die Muthuvan und Mannan in den Cardamom-Bergen bekannt, ferner die Badagas (Bauern) und Kurumbas (Hirten) in den Nilgiri-Bergen, sowie die Bants und Billavas als Fischer in der Küstenebene. Es gibt noch weitaus mehr Stämme in Kerala, die bis jetzt oder bis vor kurzem matriarchale Züge hatten. Diesen indigenen Gruppen ist gemeinsam, dass sie nur Erdbestattung in Hügelgräbern kennen, dass sie große und kleine Megalithen bauen (Menhire und Dolmen) und die »Ammas«, uralte Muttergöttinnen in ihren Dörfern, in Steinen, Bäumen und Flüssen verehren. Außerdem gibt es viele Indizien dafür, dass matriarchale Muster einmal in ganz Südindien allgemein waren, nicht nur in Kerala, sondern auch in Tamil Nadu, Karnataka und Andhra Pradesh. Es sind jene Gebiete, wo die vor-indoeuropäischen, »drawidischen« Sprachen Malayalam, Kannada, Tulu, Telugu und Tamil noch heute gesprochen werden.67 In Zentralindien leben ferner die großen Völker der Gond, Bhil und Oraon, bis vor kurzem besorgten die Frauen noch den Brandrodungs-Feldbau mit Hacke und Grabstock. Geschichtlich und zahlenmäßig sind die Gond der bedeutendste Stamm. Sie bildeten einst große Königreiche und bauten Befestigungsanlagen, eine Wehrhaftigkeit, die ihnen die Unterwerfung und Hinduisierung ersparte. Sie haben heute zwar die Vaterlinie angenommen, stellen aber sonst in allem das Gegenteil ihrer Hindu-Nachbarn dar: Ihre Gesellschaft ist egalitär, die einzelnen Mitglieder sind grundsätzlich gleich, sogar Häuptlingsfamilien ziehen keine Trennungslinien. Die Jugendlichen genießen volle sexuelle Freiheit in besonderen, für sie eingerichteten Räumen. Die Frauen gehen stolz mit nackten Brüsten, tragen nur ein Wickeltuch um die Hüften und viel Schmuck, wie es die Nayar-Frauen früher auch taten (siehe Abb. 19 und 20). Sie wählen ihre Ehepartner selbst, wechseln die Gatten leicht und heiraten auch als Witwen, sie verlieren dadurch keinerlei Ansehen. Die Gond kennen Ackerbauzeremonien und die Verehrung von Ahninnen und Ahnen, denen sie nach dem Tode in der Anderswelt glücklich zu begegnen glauben.68 In Westbengalen im nördlichen Indien leben die Munda, Ho und Santal. Sie sind Nachfahren der uralten Völker Ostasiens und waren, wie die mit ihnen verwandten Khasi und Garo in den nordöstlichen Khasi-Bergen Indiens, ebenfalls bis an den Rand der Gegenwart matriarchal. Weitere Völker mit matriarchalen Zügen leben in den Randzonen des Himalaya- und Patkai-Gebirges, entlang der Himalaya-Kette
66 Vgl. die Auflistung matriarchaler Muster bei indigenen Völkern in Indien bei: Ehrenfels, Index S. 18–33. 67 Krishna Iyer: Social History of Kerala, Madras 1968, Book Centre Publications, S. 111–114, 137–147; Fawcett, S. 186; siehe auch Sprachenkarte in Bild der Völker, Band 7, S.133. 68 C. von Fürer-Haimendorf: »Die Gond in Zentralindien«, in: Bild der Völker, Bd. 7, S. 72–75.
5.8 Die Ausgestoßenen: »Adivasi« und »Zigeuner«
179
setzen sich solche Züge nach Nordwesten Indiens bis in die Berge Kaschmirs fort. Auch in den Bergen Pakistans, nämlich in Belutschistan westlich der großen Stromebene des Indus, leben alte, vor-indoeuropäische Völker, wie die Brahui, Rabhas und Pani Koch. Sie sind noch matrilinear und praktizieren ihre alten Bräuche unter dem Gewand des Islam; zum Beispiel ziehen sie es vor, statt des Propheten Mohammed lieber seine Mutter zu verehren.69 Diese indigenen Völker sind wahrscheinlich wie alle anderen in den Gebirgsketten, die das weite Industal umgeben, Flüchtlinge aus der von den Aryans zerstörten Induskultur. In den verborgenen Bergtälern vermochten sie ihre alte Kultur vor allen weiteren Eroberern und Patriarchalisierungswellen zu bewahren, die Nordwestindien sonst von matriarchalen Spuren leer fegten. – Eine andere Gruppe von Flüchtlingen aus dem heimgesuchten Nordwestindien sind die sogenannten »Zigeuner«. Sie selbst nennen sich Sinti und Roma. Ihre Auswanderung aus Indien begann jedoch nicht schon mit der Ankunft der Aryans, sondern später mit dem Einfall der Hunnen unter Tamerlan im 5./6. Jh. n.u.Z. Vorher hatten sie zu den niedrigen, verachteten Kasten gehört und waren nur oberflächlich patriarchalisiert worden. Sie sind ein Zweig der adeligen Kaste der »Bhats«, der Hofsänger und Boten der Könige, stehen aber tief unter diesen. Ihre Kaste heißt »Banjara«, sie besorgte das Geschäft von Händlern und Transporteuren, die mit ihren Waren auf Ochsenkarren durch die Lande ziehen. Eine Variante der Banjara-Kaste ist die Kaste der »Kanjar«, die ihre umherziehende Lebensweise durch schaustellerische Tätigkeiten bereicherte, wie Singen und Tanzen, Musizieren und akrobatische Künste auf den Straßen. Diese Gruppen der Sinti und Roma wurden und werden nicht nur wegen ihrer Berufe verachtet, sondern wegen ihrer Sitten, die in jeder Hinsicht gegen die Regeln der Herrschenden verstoßen und einen scharfen Kontrast zum brahmanischen Hinduismus bilden. Denn sie zeigen noch deutlich matriarchale Züge. So haben ihre Frauen eine starke Position und sexuelle Freiheit; sie beteiligen sich nicht nur gleichwertig an den Berufen der Männer, sondern haben obendrein ihre eigenen Gewerbe, wie das der Prostituierten und Kurtisane. Sie gelten als außerordentlich schön und sind wegen ihrer erotischen Lieder und Tänze berühmt. Sie hatten und haben wahrscheinlich noch Matrilinearität, denn die älteren Frauen sind sehr angesehen und halten Familie und Sippe zusammen. Es ist schwierig, die Sinti und Roma zu erforschen, weil sie aus Gründen des Selbstschutzes allen Fragen ausweichen, auch denen von Ethnologen, die in ihren Augen zu der herrschenden Klasse gehören. Denn sie wurden zu allen Zeiten von den »ehrbaren« Leuten verfolgt, die ihnen niemals Rechte zugestanden haben.70 Während des Mongoleneinfalls in Nordwestindien und später während der Islamisierung (ab 1030 n.u.Z.) war ihre bewegliche Lebensweise ein großer Vorteil für sie. Damals nahm die Unterdrückung dieser niederen Kasten zu und führte fast bis zu ihrer Auslöschung als Volk. Darauf verließen sie in zeitlich verschiedenen Wellen
69 Ehrenfels, S. 185–187. 70 A.a.O., S. 151–158.
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Kapitel 5: Das Matriarchat in Südindien
ihre indische Heimat und wurden die Vorfahren der sogenannten »Zigeuner«. In den verschiedenen Kontinenten, in die sie einwanderten, behielten sie ihre traditionellen Berufe als Händler, Transporteure, Straßenkünstler bei und, was die Frauen betrifft, als Kurtisanen. Oberflächlich assimilierten sie sich an ihre jeweiligen neuen Gastländer, beispielsweise in der äußeren Erscheinung, so dass sie sehr verschiedene Trachten tragen (Abb. 22 und 23), und ebenfalls in manchen Sitten wie der Übernahme der Vaterlinie in Europa.
Abb. 22 und 23: Frauen der Sinti und Roma, aus Indien (links) und aus Europa (rechts) (aus: Bild der Völker, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, Bd. 7, S. 49, Bd. 9, S. 49)
Ihr Glaube blieb jedoch beharrlich den weiblichen Kräften zugewandt, was die Verehrung von Mond und Göttinnen zeigt. In Indien, wo einige von ihnen überlebten, sind die uralten Göttinnen Devi und Kali ihre Schutzherrinnen; in anderen Kulturgebieten mit anderen Religionen verehren sie zum Beispiel Mohammeds Tochter Fatima, was die islamischen Länder betrifft. In christlichen Ländern widmen sie sich den beiden Marien, die der Kreuzigung Christ beiwohnten, und Sara, der Schutzheiligen der Roma. Das Fest dieser beiden Marien und der dunklen Sara, bei dem sich die Sinti und Roma aus ganz Europa treffen, findet jährlich als riesige Volksversammlung in Saintes-Maries-de-la-Mer in der Camargue im Rhône-Delta in Frankreich statt.71 Doch all ihre Bemühungen um Anpassung haben ihnen wenig genützt. Da ihre wandernde Lebensweise auch nicht in moderne Industrienationen mit festen
71 Ibid.; B.W. Fitzgerald: »Die europäischen Zigeuner und ihr Fest in der Camargue (Frankreich)«, in: Bild der Völker, Bd. 9, S. 44–53; Tomasevic/Djuric: Roma. Eine Reise in die verborgene Welt der Zigeuner, Köln 1989, Verlagsgesellschaft.
5.9 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
181
Wohnsitzen und dem Streben nach Reichtum passt, werden sie noch heute nirgends lange geduldet und weiterhin verfolgt.
5.9
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Allgemein: • Die Form matriarchaler Gesellschaften kann stark variieren: Sie kann Kulturen mit Gartenbau, die Grabstock und Hacke gebrauchen, ebenso einschließen wie Ackerbaukulturen mit Megalith-Architektur und sehr differenzierte, städtische Hochkulturen. Diese verschiedenen Kulturformen können gleichzeitig nebeneinander bestehen.
Auf der sozialen Ebene: • Matriarchale und patriarchale Gesellschaftsmuster passen grundsätzlich nicht zusammen. Wenn sie durch einen Kompromiss zusammen geführt werden, entsteht ein ungelöstes Nebeneinander von gesellschaftlichen Widersprüchen, das eine Situation sozialer Spannungen erzeugt. (Beispiel: Nayar-Sippen und Brahmanen-Sippen).
Auf der politischen Ebene: • Gelegentliche Fehden mit rituellem Charakter sind prinzipiell von organisierter Kriegsführung zu unterscheiden. Fehden kennen kein festes Kriegerwesen und zielen nicht auf die Vernichtung ganzer Völker ab, um deren Land zu erobern. Organisierte Kriegsführung ist untypisch für matriarchale Gesellschaften, obwohl diese gelegentlich das Fehdewesen, im Sinne von »Blutrache«, kennen. • Wenn organisierte Kriegsführung bei matriarchalen Gesellschaften entsteht, so befinden diese sich in einer lang anhaltenden Verteidigungssituation gegenüber kriegerisch organisierten, patriarchalen Gesellschaften. Ihre Kriegsführung ist in der Regel defensiv. • In einer extremen Situation, wie bei der Eroberung und Vertreibung durch patriarchale Völker, kann ihre Kriegsführung offensiv werden und zur Unterwerfung und Überlagerung von anderen matriarchalen Völkern führen. Dies führt zu der Anomalie einer matriarchalen Gesellschaft aus verschiedenen Klassen. (Beispiel: die Nayar in Südindien). • Dieser Prozess unterhöhlt eine matriarchale Gesellschaft langsam von innen. Charakteristisch dabei ist jedoch, dass erst der Druck von außen durch patriarchale Invasionen zerstörend wirkt, weil er die inneren Spannungen einer solchen matriarchalen Gesellschaft erhöht und schließlich zu ihrem Untergang führt (Beispiel: Nayar nach der Eroberung durch die Engländer).
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
für die Alte Mutter Erde, die Alte Mutter Welt der Bantu-Frauen
Die südliche Hälfte Afrikas, meist »Schwarzafrika« genannt, diente als Projektionsfläche für zahlreiche alte und neue Vorurteile der Europäer, die sich auch in der Ethnologie niedergeschlagen haben. Am meisten ideologisch besetzt ist dabei die Auffassung, dass die schwarzafrikanischen Völker als eine gesichtslose Masse seit undenklicher Zeit unverändert und ohne Geschichte dahinleben würden. Sie hätten nur von den Kontinenten Asien und Europa empfangen, aber nie selbst eine einflussreiche Kultur entwickelt. Das Empfangene sollen sie in treuem Konservatismus bewahrt haben, was angeblich ihre einzige geistige Leistung gewesen sei. Nichts ist für Europäer beschämender als ein solches Denken, da insbesondere sie es waren, die in gleicher Weise wie die Araber schon früher durch ihre Kolonialherrschaft und den ausgedehnten Sklavenhandel ganze Landstriche entvölkerten und geschichtliche, afrikanische Städte und Reiche zum Zusammenbruch brachten. Eine moderne, a-historisch verfahrende Ethnologie verstärkt diese Vorurteile, indem sie die neuere Situation der afrikanischen Kulturen nach diesem Niedergang so behandelt, als ob sie schon immer die Norm gewesen sei. Jede Betrachtung Afrikas muss jedoch einbeziehen, dass die afrikanischen Völker eine außerordentlich lange und vielfältige Geschichte besitzen, die unsere an Dauer bei weitem übertrifft. Denn anthropologische und genetische Forschungen haben ergeben, dass die Menschheit vor mindestens 3 Millionen Jahren in Afrika entstand und sich die erste menschliche Kultur (Homo sapiens sapiens) vor 250.000 Jahren ebenfalls dort bildete. Von hier hat sich die afrikanische Kultur durch Auswanderung allmählich auf andere Kontinente ausgebreitet, wo sie lang anhaltende Wirkung hinterließ.1
1 Cheikh Anta Diop: Civilization or Barbarism. An Authentic Anthropology, New York 1991, Lawrence Hill Books (Erstausgabe Paris 1981); Cheikh Anta Diop: The Cultural Unity of Black Africa. The Domains of Matriarchy and Patriarchy in Classical Antiquity, London 1989, Karnak House. – Diop argumentiert, dass die Kulturen Afrikas im gesamten Kontinent matriarchale Wurzeln haben, die auf früheste Zeiten zurückgehen und deshalb andere Kontinente beeinflusst haben. Auf dem Boden seines Verständnisses von afrikanischer Kultur definiert er »Matriarchat« analog zu meiner eigenen Definition. Nach seiner Theorie ist der matriarchale Ursprung die Quelle für die Einheitlichkeit der afrikanischen Kulturen. Der Kolonialismus durch die Araber und die Europäer, hat diese Einheitlichkeit verdunkelt und kulturelle Heterogenität hervorgebracht. – Siehe auch die positive, aber behutsam kritische Einleitung
6.1 Die Bantu-Völker
183
Einigen Ethnologen ist diese Situation bewusst und sie kritisieren jegliche Art von Eurozentrismus hinsichtlich afrikanischer Länder. So bezweifelt Frobenius die angebliche »Kulturbringer«-Rolle der Europäer, denn »es war dem europäischen Hochmut nicht möglich, die Schwarzafrikaner anders zu sehen denn als Nutzungsobjekte.«2 Davidson weist darauf hin, dass Europa seinen Aufschwung vom 15. bis zum 19. Jh. wesentlich der Ausplünderung anderer Kontinente, besonders Afrika, verdankt. Denn vor dieser Zeit war der Unterschied zwischen den führenden Staaten Europas und Afrikas nur ein kleiner Schritt, so wurde er danach zu einer riesigen Kluft. Die afrikanischen Reiche wurden durch Sklavenhandel in den Verfall getrieben. Gleichzeitig erfolgte die rasche und vollständige koloniale Eroberung, wobei die begleitende Ideologie der Rassismus ist, eine Frucht der Neuzeit.3 Dem Ethnologen Bernatzki erscheint es fragwürdig, ob ein ethischer Vergleich zwischen den Trägern afrikanischer und europäischer Kulturen zugunsten der Europäer ausfallen würde. Stets empfand er Achtung und Bewunderung vor der klaren, sinngemäßen Einfachheit, mit der afrikanische Menschen das Leben meistern.4
6.1
Die Bantu-Völker
Es gibt mehrere Gebiete in Afrika, in denen Völker wohnen, deren Gesellschaftsordnung matrilinear organisiert ist und deren Frauen sowohl ökonomische Verfügungsmacht wie politische Positionen haben, kurz: die matriarchale Strukturen aufweisen. In Zentralafrika handelt es sich dabei um zahlreiche, Feldbau betreibende Bantu-Stämme; in Westafrika sind es die Akan-Völker mit ihrem hoch entwickelten Städte- und Märktewesen; in Nordafrika besitzen die nomadischen ViehzüchterVölker, die Tuareg, diese Strukturen. Das spiegelt die großen Unterschiede in den Ökonomien, die matriarchale Sozialmuster tragen, und zeigt zugleich, dass Matriarchate zwar meistens, aber nicht immer mit Ackerbau verbunden sind. Die matriarchalen Strukturen der zentralafrikanischen Bantu-Völker sind sehr alt und reichen bis zur Jungsteinzeit in Afrika zurück. Früher neolithischer Ackerbau begann ab 3200 v.u.Z. in Nordostafrika und breitete sich bis Kenia aus; im Sudan und ganz Westafrika begann er ab 2000 v.u.Z., so dass in dieser Kulturepoche der größte Teil der Nordhälfte des Kontinents von indigenen, schwarzen Völkern besiedelt war, die eine Pflanzenbaukultur hatten und matriarchal organisiert waren. Zahlreiche Bantu-Stämme lebten am Benue-Fluss, einem Nebenfluss des Niger, doch um 300 v.u.Z. bis zu Beginn unserer Zeitrechnung (im Jahr 0) waren sie gezwungen, zu Diops Theorie von Ifi Amadiume in: Anta Diop: The Cultural Unity of Black Africa. Ferner Lucia Chiavola Birnbaum: Dark Mother. African Origins and Godmothers, Lincoln, USA 2001, Authors Choice Press, iUniverse Inc. 2 Leo Frobenius: Das unbekannte Afrika, München 1923, C.H. Becksche Verlagsbuchhandlung, S. 16. 3 B. Davidson: Black Mother, London 1961, Gollancz, S. 235–247. 4 H. A. Bernatzik: Geheimnisvolle Inseln der Tropen Afrikas. Frauenstaat und Mutterrecht der Bidyogo, Berlin-Wien 1933, Deutsche Buch-Gemeinschaft, S.14–15.
184
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
von ihrer westafrikanischen Heimat auszuwandern. Sie zogen nach Süden und ließen sich auf den Feuchtsavannen Zentralafrikas nieder, einer idealen Gegend für den Pflanzenbau. Schließlich erreichten sie Kamerun und die Mündung des KongoStromes, der ihre Ausbreitung über den Wasserweg im gesamten Kongo-Becken förderte. Dort leben sie noch heute Seite an Seite mit den wildbeuterischen Pygmäen in friedlicher Koexistenz. In dieser Epoche, nämlich von 1000 v.u.Z. bis zu Beginn unserer Zeitrechnung, gelangten ur-malayische Völker mit ihren hochseetüchtigen Auslegerbooten quer über den Indischen Ozean nach Madagaskar und zur ostafrikanischen Küste. Sie brachten aus ihrer Heimat Sumatra die für die Tropen geeigneten Früchte Yams, Taro und Bananen mit und ebenso ihre eigene matriarchale Gesellschaftsordnung. Ihre Nachfahren, die Merina, bewohnen bis heute das Bergland von Madagaskar und sprechen noch immer eine malayisch-polynesische Sprache. Ihre Anwesenheit gab der Pflanzenbaukultur der Bantu neuen Auftrieb, denn sie konnten zu ihren traditionellen Feldfrüchten Hirse, Mais und Sorghum zusätzlich die ostasiatischen Früchte anbauen, die sie im Austausch von den malayischen Einwanderern auf Madagaskar erworben hatten. Das führte zu einer zweiten, raschen Ausbreitungswelle der Bantu-Völker, deren Wohngebiet nun von der Ostküste bis zur Westküste der Südhälfte Afrikas reichte und zugleich sich viel weiter nach Süden ausdehnte als heute (ca. 7. Jh. n.u.Z.) Während dieser Ausdehnung gliederten sich die über hundert Bantu-Völker auf in die westlichen Zentral-Bantu, die östlichen Zentral-Bantu, die Südwest-Bantu und die Südost-Bantu. Ihre alten matriarchalen Sozialmuster sind am besten bei den östlichen Zentral-Bantu bewahrt geblieben. In den anderen Bantu-Regionen sind es nur noch einzelne Stämme, die solche Muster aufweisen; die übrigen sind mehr oder weniger patriarchalisiert worden.5 Noch heute bewohnen die Zentral-Bantu ein riesiges Gebiet, das sich quer über den Kontinent erstreckt und von der Kongo-Mündung im Westen bis zum NjassaSee im Osten reicht (Karte 7). Mit den Namen der heutigen Staaten bezeichnet liegt es in der Republik Kongo, die das ausgedehnte Kongobecken umfasst; ferner in Angola, der südwestlich des Kongobeckens gelegenen Savannengegend; dann in Sambia südlich des Kongobeckens zwischen Tanganjika-See und dem SambesiStrom; ebenso in Malawi, dem lang gestreckten Gebiet um den Njassa-See. Diese großen Gebiete sind der Lebensraum der in der Ethnologie als »matrilinear« bezeichneten Bantu-Stämme, wie die Yombe, Songo, Kongo (in der Republik Kongo), die Ondonga, Okavango, Mundu (in Angola), die Bemba, Luapula, Bisa, Lamba, Lele, Kaonde, Ila, Tonga und andere (in Sambia), die Nyanja, Yao, Cewa (in Malawi) (siehe Karte 7).
5 Siehe für eine kurze Geschichtsdarstellung der Bantu-Völker: H. Baumann: Afrikanische Plastik und sakrales Königtum, München 1969, Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, S. 47; Baumann/Thurnwald/Westermann: Völkerkunde von Afrika, Essen 1940, Essener Verlagsanstalt, S. 42; Olderogge/Potechin: Die Völker Afrikas, Berlin 1961, VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Bd. 2, S. 734–743; G. P. Murdock: Atlas of World Cultures, Pittsburgh, USA, 1981, University of Pittsburgh Press, S. 9–15.
6.1 Die Bantu-Völker
185
Von diesen sind die meisten, besonders was die Stellung der Frau betrifft, erst wenig erforscht. Nur selten treten die Frauen dieser Stämme in der ethnologischen Literatur hervor, und wenn sie gelegentlich Erwähnungen finden, ist es der Feldforschung von noch viel zu wenigen Ethnologinnen zu verdanken.6
Karte 7: Übersicht über die matrilinearen und matriarchalen Bantu-Stämme in Zentralafrika
Bei allen diesen Völkern tritt klare Matrilinearität als Bestimmung der Verwandtschaft und als Erbregel hervor. Das ist sehr bedeutsam, denn Verwandtschaft ist in Afrika noch immer derart zentral, dass sie die gesellschaftlichen Ordnungsprinzipien liefert und Ökonomie, Politik und Religion ihr untergeordnet sind. Verwandtschaft definiert den Raum, in dem jedes Geschlecht in der Gesellschaft seine Aufgaben erfüllt, sie definiert die Muster der Verteilung von Gütern, ebenso Status und Rang, die mit den religiösen Pflichten verbunden sind. Matrilinearität ist deshalb nicht nur – wie oft behauptet wird – eine Vererbungslinie und nichts weiter, son6 Die ausgezeichneten, kritischen Werke von Audrey I. Richards, Karla O. Poewe und Annie Lebeuf (zitiert weiter unten) gewähren sehr gute Einblicke in den hohen, aktiven Status der Frauen in diesen Stämmen. Dagegen ist das Werk von Lucy Mair (zitiert weiter unten) von der Theorie von Lévi-Strauss beeinflusst, in der Frauen ohne eigenen Handlungsspielraum nur als Tauschobjekte zwischen Männern gesehen werden. Das mag zwar auf patriarchale Gesellschaften zutreffen, ist in dieser Allgemeinheit jedoch falsch, weil es für nichtpatriarchale Gesellschaften nicht gilt; daraus ergeben sich bei Mair zahlreiche Unklarheiten und Widersprüche. Bei den männlichen Ethnologen wird die Situation afrikanischer Frauen viel negativer oder gleich gar nicht gesehen, was durch die Forschungen der Ethnologinnen Richards, Poewe und Lebeuf korrigiert worden ist.
186
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
dern sie ist zugleich eine politische Ökonomie und ein religiöses System, eben ein Weltbild. Wo immer sie vorkommt, stärkt sie die persönliche und soziale Macht der Frauen.
6.2
Die unlenkbaren Bemba-Frauen
Als exemplarische Beispiele aus dieser großen Gruppe von Bantu-Völkern wollen wir hier die besser erforschten Bemba und Luapula vorgestellen. Die Bemba leben auf dem Nordost-Plateau von Sambia, das von lichtem Savannenwald und lockerem Busch bewachsen ist. Sie sind nur noch ein kleiner Stamm von ca. 150.000 Menschen. Die Luapula sind ihnen benachbart und zahlreicher als sie, denn sie bewohnen das fruchtbare Luapula-Tal, in dem der fischreiche Luapula-Fluss und der Mweru-See liegen. Beiden Völkern ist gemeinsam, dass sie stolz auf eine ruhmreiche Geschichte zurückblicken. Zusammen mit anderen Bantu-Völkern waren auch sie die Träger des Lunda-Reiches, der einst größten Zentralmacht in diesem Gebiet, dessen komplexe Struktur von einer Sakralkönigin und einem Heiligen König regiert wurde. Heute ist ihre Lebensweise wieder sehr einfach, denn dieses Reich wurde von den europäischen Kolonialherren zerstört; außerdem machte die Jagd auf Sklaven mehr als alles andere diesen Stämmen zu schaffen und zersplitterte sie – es ist ein konkretes Beispiel zu dem, was der Ethnologe Davidson sagte. Heute leben die Bemba in Dörfern von 30 bis 50 Wohnsitzen über ein großes Territorium verstreut.7 Die Bemba-Frauen gelten für die Männer patriarchaler Nachbarstämme als »nicht zu lenken«. Solche Männer zucken die Achseln, blicken hilflos zum Himmel und sagen: »Diese Bemba-Frauen, meine Güte! Sie sind die Wildheit selber!« In der Tat: Verglichen mit den Sitten in diesen Nachbarstämmen haben die Bemba-Frauen einen hohen, aktiven Status. Dieser Status beruht auf ihrer Ökonomie, denn es sind die Bemba-Frauen, die als Feldbäuerinnen mit Grabstock, Hacke und Haumesser traditionellerweise ihr Volk ernähren. Sie praktizieren Gartenbau und Brandrodungsfeldbau, wobei sie die Felder wegen der mageren Böden alle vier bis fünf Jahre verlegen. Die Männer helfen ihnen mit dem Roden. Die Frauen säen, ernten und legen von den Feldfrüchten Hirse, Mais, Sorghum, Bohnen, Erbsen und Kürbissen Vorräte für die knappe Zeit an. Die Hacke ist dabei ausschließlich in den Händen der Frauen, sie ist sogar ein Kultobjekt in ihren Tänzen und kommt auch in Schmuckform vor. Holzmörser und archaische Kornreiben aus Stein sind weitere Geräte ihrer uralten Weise der Nahrungsgewinnung. Die Mythen berichten davon, dass die Frauen die Pflanzen-
7 Audrey I. Richards: Chisungu. A girl’s initiation ceremony among the Bemba of Northern Rhodesia, London 1956, Routledge, S. 25, 171,177; Audrey I. Richards: »Bemba Marriage and Modern Economic Conditions«, in: Rhodes-Livingstone Papers, Nr. 4, Kapstadt, Südafrika 1940, Oxford University Press; Audrey I. Richards: »Some Types of Family Structure among the Central Bantu«, in: Radcliff-Brown/Forde (Hg.): African Systems of Kinship and Marriage, London 1950, Oxford University Press.
6.2 Die unlenkbaren Bemba-Frauen
187
baukultur erfanden. So sind sie es, die seit undenkbar früher Zeit bis heute die Produktion und Verarbeitung der Lebensmittel tätigen und die fertige Nahrung an die Mitglieder ihrer Großfamilie verteilen. Das macht sie völlig unabhängig von den Männern, die ihrerseits von den Frauen abhängen. Die Männer gehen zwar gelegentlich auf die Jagd, doch da es nicht viel Wild gibt, hat ihre Jagd kaum mehr als symbolische Bedeutung. Anders ist es mit der zusätzlichen Sammeltätigkeit der Frauen: In den knappen Monaten versorgen sie ihre Leute noch mit wilden Pflanzen, Pilzen, Kräutern, Honig und Raupen aus dem Busch.8 Die Wohnungen der Bemba sind keine festen, dauerhaften Häuser, sondern leichte, kreisrunde, mit Stroh gedeckte Hütten. Der Wanderfeldbau, bei dem die Dörfer alle paar Jahre verlegt werden, macht große Sippenhäuser nicht sinnvoll. Die Folge ist, dass weder Land noch Gärten noch Häuser wegen ihrer Vergänglichkeit vererbt werden können.9 Auch Rinder, der klassische Reichtum vieler patriarchaler Völker in Ostafrika, werden bei ihnen nicht gehalten, und zwar nicht nur wegen der Tsetse-Fliege, welche die Schlafkrankheit auch auf Rinder überträgt, sondern weil Viehzucht kein Bestandteil ihrer Gesellschaftsordnung ist. Denn diese ist erheblich älter als die der Viehzüchter-Nomaden, die später von Nordost-Afrika eindrangen und die matriarchalen Ackerbauvölker auf die heutigen Gebiete zurückdrängten.10 So gibt es bei den Bemba keinen Reichtum, der akkumuliert werden könnte, und kein vererbbares Land oder Clanhaus. Dennoch gelingt es ihnen, die durchgängige Matrilinearität und Matrilokalität beizubehalten.11 Der Raum dafür ist nicht das Clanhaus, sondern das Dorf, die Ansammlung von Hütten, der afrikanische »Kraal«. Eine solche Ansammlung ist keineswegs willkürlich, sondern spiegelt ein matriarchales Sozialgefüge, das meist aus einer einzigen Sippe besteht. Dafür haben sie eine andere Art von Reichtum. Er besteht im Recht auf Dienstleistungen von Blutsverwandten und Angeheirateten, und aus diesem gegenseitigen Hilfssystem regeneriert sich die soziale Ordnung. Die zentrale Beziehung, um die sich alles bei der das Dorf bewohnenden Sippe dreht, ist die zwischen Mutter und Töchtern. Denn es sind die Frauen, die durch Gatten, die sie erwählen, und Kinder, die sie bekommen und erziehen, die Sippe und das Dorf entstehen lassen. Außerdem hängt von ihrem Hackbau, ihren Ernten und ihrer Vorratswirtschaft die Größe der Sippe und des Dorfes ab. Eine Frau mit vielen Töchtern kann vom Dorf auswandern und ein eigenes Dorf gründen. Sie wird dann nach ihrem Tod selbst zur Ahnfrau und genießt hohe Verehrung, denn jede Sippe führt die Abstammung auf eine solche Ahnfrau zurück. Kein Wunder also, dass die Bemba-Frauen »nicht zu lenken« sind, denn sie sind es selbst, die ihre Gemeinschaften und Dörfer lenken. Sie spielen die wesentliche Rolle in Gesellschaft, Kunst und Religion.12
8 Richards: Chisungu, S. 26, 49; Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 43, 47, 138–139; Evan M. Zuesse: Ritual Cosmos, Athen, Ohio, USA, 1979, Ohio University Press, S.79. 9 Richards: Chisungu, S. 27. 10 A.a.O., S. 186. 11 A.a.O., S. 17, 172, 186. 12 A.a.O., S. 27, 39–41, 49–50; Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 139.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
Außer zwischen Mutter und Töchtern bestehen die engsten Bande zwischen einer Frau und ihrem Bruder. Er ist der Hüter ihrer erwachsenen Kinder, der Gatte ist nur der Kamerad während deren Kindheit. Die Schwesterkinder (seine »Nichten« und »Neffen« in unserer Terminologie) sind die Erben des Mutterbruders. Da sie denselben Clannamen tragen wie er, betrachtet er sie als am nächsten mit sich verwandt. Er wird für die erste Ehe der Töchter seiner Schwester um Erlaubnis gefragt und schützt sie während und nach der Ehe. Von den Söhnen seiner Schwester kann er Dienste verlangen. Schwester und Bruder können ihren Besitz tauschen und gehen sehr frei und leicht miteinander um. Als Gatte spielt der Mann, wie üblich bei der matriarchalen Sozialordnung, eine zweitrangige Rolle. Der junge Gatte lebt im Dorf seiner Frau, wo er sich eine Hütte baut und Mitglied ihrer Sippe wird. Denn die Töchter ziehen nicht vom Mutterdorf weg, sie leben matrilokal in der Sippe der Mutter, die eine ökonomische Einheit bildet. In diese integriert sich der junge Mann, der zuerst Brautdienst bei seinem Schwiegervater leistet, und später geht seine Mitarbeit in eine Dienst-Ehe über. Niemals kommt bei diesen matriarchalen Völkern ein Brautpreis in Vieh vor, der auf eine Kauf-Ehe hinausläuft, wie bei den patriarchalen Stämmen in Afrika üblich. Die Mutter der jungen Braut ist die letzte Instanz, um mit ihrem Segen die Ehe zu besiegeln. Ist dies geschehen, dann kocht in den Anfangsjahren der Ehe die junge Gattin zusammen mit ihrer Mutter und sendet das Essen in die Hütte des Gatten. Erst später, wenn sie einen eigenen Garten und ein eigenes Vorratshaus erhält, nahe beim Haus der Mutter, wohnt sie beim Gatten und hütet ihr eigenes Herdfeuer. Für den jungen Mann ist es schwieriger, denn er wird durch die Ehe von seinem Mutterdorf und seiner Sippe getrennt und arbeitet auf Anweisung der Verwandten seiner Frau. Doch für seine Dienste wird er ernährt und in allem unterstützt, er erhält viele kleine Geschenke der »Ehre«. Wenn Kinder geboren werden, entstehen gelegentlich Diskussionen über den weiteren Wohnort: entweder im Dorf der Frau oder im Dorf des Mannes. Meist ziehen die Töchter aber nicht weg, alle Verwandten der Frau sprechen in dieser Angelegenheit ein Wort mit, um sie im Dorf zu halten. Außerdem hängen die Schwestern, die in einem Mutterdorf zusammen leben, so sehr aneinander und an ihren gemeinsamen Tätigkeiten, dass sie sich weigern, dem Gatten in dessen Dorf zu folgen, sollte er dies wünschen. Nicht selten zerbricht darüber die Ehe, worauf die junge Frau einen neuen Gatten nimmt. Hält der Gatte jedoch die ersten schwierigen Ehejahre durch und hat die Gattin zudem viele Töchter, dann kann ein Mann eine geachtete Position erreichen. Denn er wird viele Schwiegersöhne haben, die dann für ihn arbeiten, und er wird – neben der Gattin – das männliche Haupt ihrer Großfamilie.13 Die Situation des jungen Gatten entschärft sich jedoch, wenn die beiden involvierten Sippen gut miteinander auskommen. Bei den Bemba war die traditionelle KreuzBasen-Vettern-Heirat (»cross cousin marriage«) zwischen je zwei gepaarten Dörfern
13 A.a.O. S. 40–43, 186; Lucy Ph. Mair: African Marriage and Social Change, London 1969, Frank Cass and Co., S. 76, 84.
6.2 Die unlenkbaren Bemba-Frauen
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über Generationen hinweg üblich, eben die alte, matriarchale Wechselheirat zwischen je zwei immer gleichen, matrilinearen Sippen. Noch im 20. Jahrhundert galt diese Heiratsform als das Ideal und war bei den Bemba zu 50% vertreten. Dabei heiraten die Töchter des Dorfes A stets die jungen Männer des Dorfes B, die jedoch die Söhne ihrer eigenen Mutterbrüder aus dem Dorf A sind, die nun als Gatten im Dorf B leben. Gleichermaßen heiraten die Töchter des Dorfes B stets die jungen Männer des Dorfes A, welche die Söhne ihrer Mutterbrüder aus Dorf B sind, die nun im Dorf A leben. Daraus ergibt sich, dass der jeweilige »Schwiegervater«, bei dem ein junger Mann für seine Gattin arbeitet, niemand anderes ist als sein eigener Mutterbruder (der »Onkel mütterlicherseits« in unserer Terminologie), sein nächster männlicher Verwandter und Schützer. Denn dieser ist in der vorigen Generation ins Dorf seiner Frau gezogen und lebt im besten Falle noch immer dort. Er hat ohnehin Anspruch auf die Dienste seines Schwestersohnes vom siebten Lebensjahr an. Jede »Fremdheit« des jungen Gatten ist damit gegenstandslos. Das lässt die Kreuz-BasenVettern-Heirat allgemein stabiler sein als andere Ehen, besonders dann, wenn die beiden Sippen A und B im selben Dorf wohnen, was gelegentlich vorkommt.14 So besteht das Sozialgefüge der Bemba aus einem Netz von miteinander verschwägerten Sippen. Aber dieses Gefüge ist keineswegs starr, denn junge Männer und manchmal auch junge Frauen ziehen in ihrem Leben oft von Dorf zu Dorf, ihrer jeweiligen Matrilinie folgend. Außerdem werden Ehen leicht wieder gelöst, und die Gattenwahl nach der von Mutter und Mutterbruder arrangierten ersten Ehe unterliegt für beide Seiten keiner Beschränkung. Das Dorf ändert auf diese Weise ständig seine Zusammensetzung, ganz abgesehen davon, dass es wegen des Wanderfeldbaus häufig insgesamt verlegt wird. Große Sippen können daher nicht zusammengehalten werden, sondern nur kleinere Sippen, die aus den einzelnen, matrilinearen Großfamilien oder Linien der Sippe bestehen. Eine Matriarchin ist daher das Oberhaupt des Dorfes, das aus ihrer Sippe besteht, wobei ihr Partner zum Vorsteher des Dorfes werden kann. Ein solcher Dorfhäuptling ist meist der älteste Mann der ältesten Linie der Sippe, die zahlreiche Töchter hat. Daher kann er auch viele »Schwiegersöhne« (seine Schwestersöhne) um sich versammeln. Seine Leitung geschieht ausschließlich durch das Konsensprinzip, so kann er niemals zum Despoten werden. Seine Aufgabe ist, durch Herbeiziehen von Verwandten zu versuchen, die kleine Dorfrepublik zu vergrößern. Da er keine Macht in unserem Sinne hat, hängt es sehr von seinem fürsorglichen, weisen Wesen und großzügigen Verhalten ab, ob die jüngeren Verwandten und Angeheirateten bleiben wollen. Gute Organisation der Arbeit und gute Kameradschaft – wobei Hirsebier als Spende eine große Rolle spielt – halten sie davon ab, woandershin zu ziehen. Denn wenn es zu Uneinigkeit kommt, ziehen nicht nur einzelne Leute, sondern ganze Linien der Sippe fort, sehr zum Schaden des Dorfes. Aber wenn ein Mann als Dorfhäuptling viele Leute um sich versammeln kann, bringt es ihm großes Prestige ein.15
14 Mair, S. 81. 15 Richards: Chisungu, S. 39, 42, 48; Zuesse, S. 87.
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6.3
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
Die Religion der Bemba
Im religiösen Bereich ist bei allen Völkern Afrikas, die matriarchal sind, die Ahnenreligion besonders ausgeprägt. Die Urgroßmutter oder Ahnfrau, von der eine Sippe abstammt und deren Ursprungsdorf sie gegründet hat, genießt zusammen mit ihrem Bruder große Verehrung, solange die Erinnerung zurückreicht. Die Ahnenwesen werden zu Hause oder bei Ahnenschreinen und Gräbern verehrt, sie gelten als die Segen bringenden Schutzgeister der Nachkommen. Alles geschieht durch ihr magisches Wirken, so gibt es im Glauben der Bemba keinen Zufall. Jedes Kind gilt als die Wiedergeburt einer Ahnin oder eines Ahn, was diesen uralten, matriarchalen Glauben auch bei den Bemba belegt.16 Die ältesten Frauen haben, gemeinsam mit ihren Brüdern, wichtige religiöse Ämter inne; sie pflegen die Ahnenschreine, die Frauen die Schreine der weiblichen, die Männer die der männlichen Ahnen. Sie sind in ihren Sippen sehr angesehen und dürfen nicht beleidigt werden, denn sie können segnen oder fluchen, und die Ahnenwesen würden es erfüllen! Sie enthalten sich für ihr Amt der Sexualität. Obwohl Sexualität reichlich genossen und für ein gesundes, glückliches Leben sehr geschätzt wird, macht sie ein Paar »heiß«, und in diesem Zustand darf man den Ahnen nicht begegnen. Deshalb führt ein Ehepaar nach jedem sexuellen Akt eine Waschung als Reinigungsritual aus. Auch dürfen Personen, die sich noch nicht gereinigt haben, nicht mit neugeborenen Kindern in Kontakt kommen, denn diese sind soeben wiedergekehrte Ahninnen und Ahnen. Dasselbe Gebot gilt für das heilige Herdfeuer in jeder Hütte, das auch ein Platz für Ahnengebete ist.17 Außer dem agrarischen Festezyklus der Jahreszeiten ist das wichtigste Fest in jeder Sippe und im ganzen Dorf »Chisungu«, die Initiation der Mädchen. Es besteht aus einer tagelangen Folge von magischen Zeremonien und Ritualen, Tänzen und Gesängen, symbolträchtigen Szenen und komischen Burlesken, üppigem Essen und Trinken, in deren Mittelpunkt die Gruppe der Initiantinnen steht. Chisungu ist bei den Bemba und den anderen matriarchalen Stämmen Zentralafrikas ein großes Ereignis, und die Wichtigkeit dieses Festes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Für Knaben gibt es kein Fest oder kein vergleichbar wichtiges Fest. Die große Bedeutung, die matriarchale Völker der Mädcheninitiation beimessen, wird im Zusammenhang mit der Ahnenreligion verständlich, denn heiratsfähige Mädchen gehen in das Lebensstadium über, in dem sie die Ahnen des eigenen Clans »wiedergebären« können. Sie werden in erster Linie wegen dieser Fähigkeit geehrt und nicht nur wegen ihrer mit der Menarche beginnenden Fruchtbarkeit. Daher findet das Chisungu-Fest auf jeden Fall vor der Ehe statt, es ist eine Vorbedingung für die Hochzeit. Bei manchen zentralafrikanischen Stämmen feiert man es deshalb sehr früh im Leben der Mädchen, noch etliche Jahre vor der Pubertät. Es gibt nämlich ein strenges Verbot gegen eine Schwangerschaft vor dem Chisungu-Fest; solche Babys werden ausgesetzt und ihre Eltern oft auch verstoßen. Bei den Bemba 16 Richards: Chisungu, S. 28, 29. 17 A.a.O., S. 29–32, 48; Zuesse, S. 82–84.
6.3 Die Religion der Bemba
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wird traditionellerweise der junge Bräutigam bei dieser Feier in die Sippe der Braut eingeführt. Das Chisungu-Fest soll die jugendliche Braut vor den möglichen Gefahren der großen Veränderung in ihrem Leben schützen, die mit der Menarche und dem erstem Geschlechtsakt verbunden sind. Für den jungen Bräutigam gilt dagegen die Defloration als gefährlich und wird deshalb nicht von ihm, sondern von einer mythischen Gestalt, einem Mann als »Schakal«, vorgenommen. Diese rituelle Defloration ist eine alte Tradition. Da weibliche und männliche Fruchtbarkeit sehr erwünscht sind, wird bei dem Fest sowohl die generative Kraft der Frau wie des Mannes gepriesen. Daher kommt bei einer Szene der Bräutigam als brüllender Löwe daher oder als Jäger und Löwentöter, aber hier wird nicht seine Kraft als »Eroberer« oder gar »Vater« geehrt, sondern als zeugungsfähiger Gatte. Dieses Schauspiel soll das Begehren der Braut anregen und ihre Fruchtbarkeit steigern. Einen nicht geringen Teil des Festes verbringen die Initiantinnen in strenger Abgeschlossenheit in den Initiationshütten. Dort werden sie von den älteren Frauen unterwiesen und in die Pflicht und Würde einer Bemba-Frau eingeführt. Dabei finden Rituale statt, die ausschließlich Frauen feiern, und diese sind im Gegensatz zu den öffentlichen Inszenierungen auf dem Dorfplatz geheim.18 Die Geheimnisse der Frauen werden streng gehütet; kein Bemba-Mann, kein männlicher Ethnologe und keine Ethnologin als eine Fremde haben jemals davon erfahren. Es geht dabei um das Wissen über die Regelung der weiblichen Fruchtbarkeit und um das Geheimnis der Wiedergeburt der Ahnenwesen. Auf diese Weise behalten die BembaFrauen und die Frauen in allen matriarchalen Völkern die Kontrolle über ihre Fruchtbarkeit, eine Macht, die ihnen in patriarchalen Gesellschaften entrissen wurde. Einige Zeit später wird ein Ehe-Ritual vollzogen, bei dem der Gatte seine Virilität beweisen muss, nicht aber die Gattin ihre Jungfräulichkeit, der keinerlei Wert beigemessen wird. Deshalb existiert die Beschneidung von Mädchen, bei der ihre Genitalien verstümmelt werden, in den matriarchalen Kulturen Afrikas nicht, obwohl sie im patriarchalen Afrika als extremer Ausdruck des Jungfräulichkeitskultes weit verbreitet ist. Zum Ausklang dieser Lebensphase folgen noch verschiedene Schwangerschaftsrituale und Rituale bei der Geburt des ersten Kindes, wobei die junge Mutter 15 bis 16 Jahre alt ist. Damit schließt die Serie von Zeremonien für eine BembaFrau.19 Aber nicht nur im Chisungu-Fest wird die generative Kraft beider Geschlechter geehrt, sondern auch im Alltag, der von entsprechenden Riten und Symbolen durchzogen ist. Denn in matriarchalen Gesellschaften haben alle Dinge und Handlungen des Alltags immer auch spirituelle Bedeutung. Dabei ist es insbesondere die Leben schenkende Fähigkeit der Frau, die überall im Gebiet der matriarchalen Bantu-Völker in der weiblichen Symbolik der Volkskunst hervortritt. So sind zum Beispiel die einfachen oder sehr kunstvollen Vollplastiken aus Holz in der Regel Ahnin-
18 Richards: Chisungu, S. 33, 158–160, 183, 184. 19 A.a.O., S. 17, 28, 33, 34, 183–186; Mair, S. 78–79; Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 140.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
nen-Figuren und dienen ihrer Verehrung im Haus (Abb. 24).20 Das Haus selbst ist auch ein sakraler Ort, ein heiliger Raum der Frau, und sie bemalt es an den Außenwänden und Innenwänden mit uralten, magischen Symbolen, welche die weibliche generative Kraft bedeuten. Besonders die Tür wird mit Symbolen geschmückt: zwei Brüsten und der »Impande«-Muschel als Zeichen der weiblichen Vulva. Damit wird das Haus zum Sinnbild des Leibes der Frau, es gibt Schutz und Geborgenheit und lässt die darin Wohnenden an ihren Leben spendenden und nährenden Kräften teilhaben. Die Haustür wird zum Eingang oder Ausgang ihres Schoßes, in den der Gatte hineingeht und aus dem sie ihre Kinder ins Leben entlässt. Denn die Kinder werden im Haus wie im erweiterten Schoß der Mutter groß, und wenn sie das Mutterhaus als junge Leute verlassen, ist es wie eine Geburt in die »gefährliche« Außenwelt. Auch die Schwelle des Hauses ist ein heiliger Platz, denn auf ihr werden den Ahninnen und Ahnen kleine Speisegaben geopfert. Das jährliche Ernteritual für die Ahnenwesen findet gleichfalls auf der Schwelle statt, wobei die Frau ihre Feldfrüchte über der Schwelle aufhängt. Ebenso heilig ist der Herd mit dem göttlichen Herdfeuer, das nie erlöschen und nie verunreinigt werden darf. Deshalb waschen sich Gattin und Gatte nach jedem Sexualakt im »Ehetopf«, bevor sie zum Herd treten. Auch am Ehebett und am Herd sind Symbole angebracht, meistens das weibliche Grundsymbol, das eine Verbindung von Frau und Schlange zeigt. Die Schlange ist ein Symbol für die sexuelle Energie bei der Vereinigung der Ehegatten. Allgemein gilt die Schlange als Hervorbringerin des Lebens während der Schwangerschaft, denn nach dem Glauben der Bemba wohnen kleine Schlangen in allen Organen, besonders in den Sexualorganen. Männer haben dort nur eine Schlange, Frauen dagegen zwei, eine weibliche und eine männliche, denn sie können beide Geschlechter gebären. Das Frau-Schlange-Symbol sowie die zwei Brüste mit der Impande-Muschel sind auch an den Vorratshäusern zu sehen, denn jedes Vorratshaus ist voller Saat und Nahrung wie eine schwangere Frau. Als »Itoschi«-Monster wird die Schlange auch mit den Ahnen- und Naturgeistern assoziiert; riesenhaft wohnt sie in allen Gewässern, die als die Organe der Mutter Erde betrachtet werden. Dort macht sie die Erde fruchtbar, so dass die Erde Feldfrüchte und Jagdtiere in Fülle gebären kann. Auf diese Weise wird eine Parallele zwischen Mutter Erde und der Frau hergestellt, denn beide bringen Leben und Nahrung hervor. Jede Frau ist die Tochter der Mutter Erde und hat teil an ihrer umfassenden, schöpferischen Kraft. Die Erdgöttin ist bei den Bemba die älteste Gottheit überhaupt. Sie wird die »Alte Mutter Erde«, die »Alte Mutter Welt« genannt, oder man bezeichnet sie als die »Alte Knochenfrau« und die »Ernte bringende Uralte«. Außer der Erdgöttin gibt es Wasserund Regengottheiten aller Art, zu denen ebenfalls die Frauen den besten Zugang haben.21 Das Feuer ist dagegen ein Symbol für die Energie, die bei der Begegnung der polaren Kräfte von Frau und Mann entsteht. Um ein Hauswesen und die eigene Großfamilie gut leiten zu können, muss viel von dieser Energie vorhanden sein, was bedeutet,
20 Baumann: Afrikanische Plastik, S. 4; Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 43, 141. 21 Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 43, 140–141.
6.3 Die Religion der Bemba
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Abb. 24: Ahnin-Figur: Die Urmutter sitzt auf ihrem Thronschemel (Lindenmuseum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde, Inv.No. F51.596L)
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
dass eine Person nur in »heißem« Zustand eine Gemeinschaft gut lenken kann. Dieser »heiße« Zustand garantiert die Fruchtbarkeit und das Wohlergehen des ganzen Dorfes und ist mit vielen Riten und Tabus umgeben. Tabus gelten besonders für öffentliche Autoritätspersonen wie die Dorfhäuptlinge, für die es sehr wichtig ist, nicht durch Übertreten eines Tabus das Dorf zu gefährden. Ein Häuptling kann daher nur gut in seinem Amt für alle sorgen, wenn seine Ehebande »heiß« sind, und das wiederum hängt von seiner Gattin ab. Allein durch sie erhält er eine Verbindung zur Erde und darf als Titel den Namen des Dorfes tragen. Die Macht der Häuptlingsgattin ist daher groß, weshalb es ein bezeichnendes Sprichwort gibt, das sich auf Dorfhäuptlinge und andere Oberhäupter bezieht. Es heißt: »Die Königin ist der König!« (Abb. 25).22 So leben die Menschen in diesen zentralafrikanischen Gesellschaften in einer erotisch-ekstatischen Welt, in der die sexuelle Symbolik alles durchzieht. Nur für den Kontakt mit den Ahnenwesen, ob sie nun im Haus oder außer Haus verehrt werden, ist der erotische, »heiße« Zustand nicht erlaubt. Die Begegnung mit ihnen ist – da sie aus der Anderswelt kommen, nicht aus der Diesseitswelt mit ihrer Energie der Fruchtbarkeit – auch mit Riten und Tabus umgeben. Man tritt ihnen nur im »kalten« Zustand gegenüber, das heißt, gereinigt vom Sexualakt oder überhaupt jenseits von diesem, in einer Haltung der Keuschheit.23 Dennoch trägt auch die Ahnenverehrung ekstatische Züge. Die Frauen verstehen sich nicht nur leiblich als Gefäß der Ahnenwesen, wie in der Schwangerschaft, sondern auch geistig, was zum sogenannten »Besessenheitskult« bei ihnen führt. Darunter sind die typisch schamanischen Trance-Zustände zu verstehen, welche die älteren Frauen als »Besessenheitspriesterinnen« oder Schamaninnen gebrauchen. Sie rufen die Natur- und Ahnengeister an, tanzen für sie, bis diese »in sie fahren«, dann sprechen sie im ekstatischen Zustand Prophezeiungen aus. Nur Frauen können nach Auffassung dieser Völker mit solchen Geistern umgehen, da auch nur sie die Ahninnen und Ahnen wiedergebären können.24 Nach den Aussagen der Mythen waren es auch die Frauen, welche die Ahnenreligion entwickelten. Die hölzernen Plastiken als Figuren von Ahninnen und Ahnen und die Masken aus Rinde oder Holz, die mit dieser Religion verbunden sind, gehen nach vielfachem Zeugnis auf die Erfindung der Frauen zurück. Im Verlauf der späteren Patriarchalisierung in Afrika gerieten die Ahnenfiguren und Masken in die Hände der Männer, die in den Ritualen ihrer Geheimbünde die Zeremonien der Frauen, wie die Initiation, imitierten. Später bedienten sich patriarchale, afrikanische Könige dieser männlichen Geheimbünde für ihre Macht.25
22 E. W. Smith/A. M. Dale: The Ila-speaking peoples of Northern Rhodesia, 2 Bde., London 1920, Macmillan; Zuesse, S. 79–82, 91–92. – Diese Autoren beschreiben die Symbolik bei den Ila; sie gilt jedoch auch für die anderen matriarchalen Bantu-Stämme. 23 Zuesse, S. 91, 92; Richards: Chisungu, S. 30–34. 24 Siehe die Beschreibung des klassischen Schamaninnen-Rituals am Beispiel Korea (Ostasien) in: Göttner-Abendroth: Das Matriarchat, Bd. 1, Kap. 6. 25 Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 43, 124–126, 134, 142, 158; Baumann: Afrikanische Plastik, S. 34; H. Baumann: Schöpfung und Urzeit des Menschen im Mythos der afrikanischen Völker, Berlin 1936, Reimer, S. 382–384.
6.3 Die Religion der Bemba
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Abb. 25: Eine wichtige Frau als Häuptlingsgattin aus dem Kongogebiet, Zentralafrika (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 73; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency)
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6.4
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
Die duale Gesellschaft der Luapula
Um mehr Licht auf die zentralafrikanischen Kulturen zu werfen, umreißen wir ein zweites Beispiel aus diesem großen Gebiet. Wie bei den Bemba so ist auch bei den Luapula in Sambia nicht die Ehe, sondern die Abstammung die primäre Institution. Auch hier ist sie in der Mutterlinie organisiert und bringt die Strukturen der Ökonomie wie der Religion hervor. Ebenso kennen die Luapula keinerlei Muster von Über- und Unterordnung, sondern eine perfekte Balance der Geschlechter.26 Die Matrilinearität bestimmt dabei nicht nur ihre Gegenwart, sondern auch ihre Geschichte. »Geschichte« ist dabei der Werdegang der einzelnen matriarchalen Sippen, deren Taten und Erfahrungen durch die Ahnenverehrung in lebendiger Erinnerung bleiben. Diese Geschichte wird mit erstaunlicher Genauigkeit mündlich weitergegeben, wobei die ältesten Frauen die Spezialistinnen in der Erzähltradition sind. Da sie an die Ahninnen und Ahnen bestimmter Clans gebunden bleibt, wird sie nicht zu einer allgemeinen Geschichte des ganzen Volkes erweitert. Bei den altafrikanischen Reichen, wie dem LundaReich, ist es dann die Geschichte der königlichen Clans, die dominant wird und eine gemeinsame Erinnerung prägt.27 Die Gesellschaftsordnung der Luapula ist eine Variante der Ordnung der Bemba. Das zeigt, dass die Muster der matriarchalen Gesellschaftsform nicht starr, sondern flexibel gebraucht werden und dadurch ein gewisser Reichtum an konkreten Ausprägungen dieser Gesellschaftsform entsteht. Außer ihrer konsequenten Matrilinearität ist die Tatsache bei den Luapula wichtig, dass die Frauen bis heute das Land und die Früchte ihrer Feldbautätigkeit kontrollieren, denn die Luapula sind im Gegensatz zu den Bemba sesshaft. Die Frauen arbeiten zusammen und neigen mehr als die Männer dazu, Land und Ackerbaugeräte gemeinsam zu nutzen. Auf diesem matriarchalen Fundament baut eine andere Spielart dieser Gesellschaftsordnung auf. Denn Luapula-Männer haben ihre eigene Ökonomie, die sie eher individuell nutzen. Sie arbeiten nicht als Bauern auf dem Land der Frauen, sondern als Fischer auf dem Luapula-Fluss und dem Mweru-See im Luapula-Tal. Die Lebensmittel, die von beiden Geschlechtern unabhängig voneinander gewonnen werden, sind Tauschgüter, insbesondere zwischen den Geschlechtern, aber auch
26 Karla O. Poewe: Matrilineal Ideology. Male-Female Dynamics in Luapula, Zambia, London-New York 1981, Academic Press, Vorwort und S.1; Karla O. Poewe: »Matrilineal Ideology: The Economic Activities of Women in Luapula, Zambia«, in: Linda Cordell/Stephen Beckermann (Hg.): The Versatility of Kinship, London-New York 1980, Academic Press, S. 333–357. – Karla O. Poewe kritisiert zu Recht die ethnologische Fiktion von der universellen männlichen Dominanz und zeigt, dass Matrilinearität nicht nur eine Verwandtschaftlinie, sondern ein gesamtes gesellschaftliches System ist. Sie nennt dieses System leider nur »sexuellen Parallelismus«, ein Begriff, der zugleich missverständlich wie zu schwach ist. Denn es geht nicht nur um Sexuelles oder Parallelen zwischen den Geschlechtern, sondern um eine komplementäre Bezogenheit ihrer Aktions- und Arbeitssphären aufeinander, was die typisch matriarchale gesellschaftliche Balance erzeugt. 27 Poewe: Matrilineal Ideology, S. 13, 105.
6.4 Die duale Gesellschaft der Luapula
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zwischen den verschiedenen Siedlungen im Tal. Männer tauschen Fische gegen Mais, Hirse, Cassava und Kürbisse, die Früchte der Garten- und Feldarbeit der Frauen, und umgekehrt. Auf diese Weise hat jedes Geschlecht seinen eigenen ökonomischen Bereich.28 In der Sozialordnung kehrt dieses duale Organisationsprinzip wieder. Jedem Frauenbund, jeder weiblichen Titulargesellschaft und jedem angesehenen Altersgrad der Frauen entsprechen ein Männerbund, eine männliche Titulargesellschaft und ein angesehener Altersgrad der Männer.29 Denn Männer organisieren ausschließlich Männer in allen Bereichen und Frauen ausschließlich Frauen. Diese duale Organisation ist eine Eigenschaft vieler matriarchaler Gesellschaften in Afrika, die sie von vergleichbaren Gesellschaften in anderen Kontinenten unterscheidet. In der Geschichte der altafrikanischen Reiche wurde das duale Prinzip bis zu den höchsten Rängen angewendet: So war die Königinmutter nur für die Belange der Frauen verantwortlich, der König hingegen nur für die der Männer. Dieses duale Prinzip ist das matriarchale Balance-Prinzip, das diese Gesellschaften trägt, denn beide Seiten müssen miteinander in vollkommener Balance sein. Als solches ist es für die Geisteshaltung patriarchal geprägter, westlicher Ethnologen völlig verborgen geblieben – wie die Ethnologin Karla O. Poewe in ihrer Kritik an der herkömmlichen Ethnologie feststellt. Sie zeigt auf, dass man bislang meist nur die Männersphäre erforscht hat und die Frauensphäre missachtete. Das tritt besonders krass bei den matriarchalen Gesellschaften hervor. Hier wurde, völlig konträr zur Sache, ständig die Männersphäre betont, um zu beweisen, dass diese Gesellschaften eben »nur matrilinear« seien und die Frauen darin keine Bedeutung hätten. Die Verzerrungen liegen bei einem solchen Vorgehen auf der Hand, sie verdunkeln die wahre Ordnung dieser Gesellschaften. So sah und sieht man in der gängigen Ethnologie bei diesen zentralafrikanischen Gesellschaften überall »Männerbünde«, die aber in der Regel Kultbünde sind und keine Machtbünde von Männern. Daraus hat man fälschlich auf die Dominanz der Männer geschlossen. Erst durch die neuere Forschung von Ethnologinnen kamen, beispielsweise bei den Luapula, die parallelen Kultbünde der Frauen ans Licht. Zugleich konnte der Nachweis geführt werden, dass sie die älteren Bünde sind, dem Geheimwissen über die Leben schaffende Fähigkeit der Frauen gewidmet. Davon abgeleitet stellen die Kultbünde der Männer spätere Imitationen dar, in denen dann die Knaben-Initiation und eine Art von männlichem Geheimwissen gepflegt werden. Karla Poewe kritisiert ein weiteres Vorurteil patriarchaler Ethnologen, welche die Dominanz der Männer dadurch bewiesen sehen wollen, dass bei den matriarchalen Gesellschaften Afrikas, auch den Luapula, der älteste Mutterbruder nach außen hin der Repräsentant des Clans ist. Hierbei wird weder das Clangefüge insgesamt, noch die Rolle der Frauen darin berücksichtigt. Denn das würde enthüllen, dass die Autorität des Mutterbruders nur symbolisch ist, denn er kann weder die Güter des Clans noch die Arbeitskräfte der jungen Clanmitglieder kontrollieren. Im Gegensatz dazu
28 A.a.O., S. 13–16. 29 A.a.O., S. 39.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
sind die Frauen des matriarchalen Clans traditionell das Zentrum der Güterverteilung, sie haben das letzte Wort in allen Angelegenheiten des Clans und der Linie, und die Clanmutter ist das eigentliche Oberhaupt. Auch bei Dorfangelegenheiten, für die der älteste Mutterbruder zuständig ist, entscheiden alle Mitglieder des Clans mit.30 Nicht weniger problematisch beurteilt Karla Poewe die Klassifikation des Wohnsitzes der jungen Ehegatten, die bei den meisten matriarchalen Stämmen Afrikas als »virilokal« (Wohnsitz beim Gatten) angegeben wird. Sie sind aber weder »virilokal« (beim Gatten) noch »uxorilokal« (bei der Gattin), da bei diesen Stämmen niemand einzeln wohnt, sondern stets bei einer ganzen Sippe. Für die Bemba ist dies grundsätzlich falsch, denn die Töchter wohnen matrilokal, die Söhne hingegen beim Mutterbruder im anderen Dorf. Bei den Luapula ist es umgekehrt: Nicht die Töchter, sondern die Söhne wohnen matrilokal, im Dorf der Mutter, während ihre Gattinnen zu ihnen ziehen. Auf keinen Fall handelt es sich, wie oft behauptet, um »Patrilokalität« (Wohnsitz beim Vater), denn es existiert keine Vaterlinie, die nur durch dauerhafte Monogamie entstehen kann. Eine solche gibt es bei der sexuellen Freiheit beider Geschlechter in diesen Gesellschaften nicht.31 Was bedeutet es, dass bei den Luapula die Söhne matrilokal im Dorf der Mutter wohnen bleiben, während ihre Gattinnen zu ihnen ziehen? Dazu ist es wichtig zu beachten, dass auch bei den Luapula die Kreuz-Basen-Vettern-Heirat (»cross cousin marriage«) überwiegt, damit stellt sich die Sache folgendermaßen dar: Eine junge Frau vom Dorf A zieht, nachdem ihr Bräutigam vom Dorf B einen längeren Brautdienst geleistet hat, ins andere Dorf B zu ihrem Gatten. Wenn sie Töchter hat, ziehen diese wiederum ins Dorf A zu ihren Gatten dort, das heißt, sie kehren in die eigene Sippe zurück. Dort leben sie mit dem Bruder ihrer Mutter, der sein Mutterdorf nicht verlassen hat. Er ist der erste Beschützer seiner Schwestertöchter (Nichten). Sie leben nun »avunculokal« (Wohnsitz beim Onkel mütterlicherseits) wie bei den Bemba die jungen Männer. Die Töchter der 3. Generation ziehen dann wieder zu ihren Gatten ins Dorf B, wo sie bei ihrer Großmutter sind, wenn diese noch lebt und im Dorf B weilt. Bei ihr sind sie sicherlich gut aufgehoben. Die engen Bindungen zweier Heirats-Clans stürzen also junge Leute weder bei den Bemba noch bei den Luapula in ungeschützte Verhältnisse bei fremden Leuten, sondern sie ziehen zwischen ihren nächsten matrilinearen Verwandten hin und her.
30 A.a.O., S. 47, 105. 31 A.a.O., S. 38. – Karla Poewe kritisiert eingehend und treffend alle diese Vorurteile der patriarchal geprägten Ethnologie. Sie argumentiert zu Recht, dass die älteren ethnologischen Studien für Afrika bestätigen, dass Frauen in matrilinearen Gesellschaften sowohl Rechtspersonen mit Eigentumstiteln sind, als auch Macht zu Entscheidungen haben und Ressourcen managen (Rattray, Fortes, Richards). In der Gegenwart werden diese Forschungsarbeiten jedoch ignoriert oder unter einer androzentrischen Perspektive neu interpretiert, wobei man sich nur auf männliche Informanten stützt. Das ist insbesondere inspiriert von der Theorie von Lévi-Strauss (1969), der Frauen nur als Tauschobjekte zwischen Männern sieht und die gesellschaftliche Vielfalt in sein simplifizierendes, strukturalistisches Schema presst (Poewe, S. 27). Dies stellt nach ihr einen beträchtlichen Rückschritt in der ethnologischen Forschung dar.
6.4 Die duale Gesellschaft der Luapula
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Außerdem gibt es weder für junge Männer noch für junge Frauen einen Zwang zum Zusammenbleiben. Die Ehen sind keine legale Institution, daher nicht stabil. Die einzige Regel besteht darin, die Eheverbindung kurz sein zu lassen. Luapula-Frauen sind sexuell sehr aktiv, was positiv verstanden wird. Diese Aktivität fließt aber nicht nur in eine einzige Ehe, denn jedes sexuelle Monopol, das entsteht, wenn eine Frau ihren Gatten zu attraktiv findet und zu lange bei ihm bleibt, wird gefürchtet. Es ist äußerst unerwünscht, dass eine Frau ihrem Mann zu sehr nachgibt, denn dieser eine, bevorzugte Mann erzeugt »Sklaverei« für die Frau und »Chaos« in ihrem Clan.32 Die Sexualität gilt auch bei den Luapula als ein hoher Wert. Denn Gesundheit, Frieden und Kultur werden als Ergebnis von befriedigten sexuellen Trieben betrachtet. Deshalb ist das Eheleben nicht nur recht frei, sondern es kommen gleichzeitige Mehrfachbeziehungen vor. Diese sind als »Polygynie« von Ethnologen sehr einseitig beschrieben worden, was ebenfalls männliche Dominanz mitten in matrilinearen Gesellschaften beweisen soll. Auch das ist eine grobe Verzerrung der tatsächlichen Verhältnisse, denn diese Vielehen werden mit dem patriarchalen »Harem« verglichen, mit dem sie keinerlei Ähnlichkeit haben. Bei der Feststellung der »Polygynie« der Männer wird stets die gleichzeitige »Polyandrie« der Frauen übersehen. So kann ein Mann gleichzeitig in verschiedenen Dörfern mehrere Gattinnen haben, während eine Frau im Hause nacheinander mehrere Besuchsgatten empfangen kann. Da dies allgemein praktiziert wird, ist deshalb die weiblich-männliche Vielehe (Polygynie-Polyandrie) bei den Luapula vorherrschend. Wenn diese offenen Formen von Vielehe zu festeren Bindungen werden, dann erhöht sich vom Standpunkt der Frauen durch die Polygynie ihre Autonomie. So beschließt oft eine Gruppe von Schwestern, sich einen Mann zu teilen, um die Bürde für mehrere Gatten sorgen zu müssen zu vermeiden. Auch die Arbeit mit Kindern und mit der Nahrungsbeschaffung bewältigt sich gemeinsam leichter. Dabei sind sich die Frauen immer einig, wenn nötig auch gegen den Mann, was nicht gerade seine »Dominanz« fördert. Es gibt auch die Wahl einer Brüdergruppe für eine gemeinsame Gattin, wenn es angebracht ist, den Nachwuchs gering zu halten. Aber diese Art von Polyandrie ist für Frauen nicht verlockend, da eine Frau allein die Nahrung für Kinder und mehrere Gatten beschaffen muss.33 Diese Vielgestaltigkeit in den Ehebeziehungen ist wahrscheinlich ein Rest der ehemaligen, matriarchalen Schwestern-Brüder-Gruppenehe als Wechselheirat der jungen Leute zwischen je zwei Sippen, eine Form, deren Spuren auch in Tibet zu finden waren.34 Oft gehen solche Heiratsbeziehungen zwischen zwei Clans auf zwei berühmte Vorfahren zurück, die einander heirateten. Die Schwestern-Brüder-Gruppenehe als Wechselheirat zwischen diesen Sippen wird dann als fortgesetzte Wiederverkörperung der Heirat dieser Ahnin mit dem Ahn betrachtet. Denn die heute Lebenden sind nach dem matriarchalen Wiedergeburtsglauben die fortgesetzte Verkörperung dieser beiden Ahnen; ein Clan gilt auf höherer Ebene sozusagen als »eine Person«.
32 A.a.O., S. 43, 57, 68. 33 A.a.O., S. 40–41, 67. 34 Göttner-Abendroth: Das Matriarchat, Bd. I, Kap. 3.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
Für die Kinder entsteht bei allen Arten von Vielehe niemals ein Problem, denn sie bleiben stets bei der Mutter und gehören zu ihrem Clan. Wenn eine Schwangere gerade keinen festen Gatten hat, dann geht sie zu ihren verschiedenen Geliebten und fragt jeden, ob er der »Vater« des Kindes (im sozialen Sinne) sein will. Da dies Pflichten der Fürsorge einschließt und nicht nur ersprießlich ist, lehnen manche diese »Vaterschaft« ab. So antwortet eine Frau oft auf die Frage, wer der Vater ihres Kindes sei, dass »keiner der Väter bisher zugestimmt habe«.35 – Die religiöse Welt der Luapula gleicht der aller anderen matriarchalen BantuStämme und ist bestimmt von der Verehrung der Ahninnen und Ahnen. In dieser Religion haben beide Geschlechter gleiche Ämter und Würden: die Frauen für die Ahninnen, die Männern für die Ahnen. Das mythische Urelternpaar, nämlich die Urmutter mit ihrem Zwillingsbruder, sind die Prototypen der matriarchalen Verwandtschaftsgesellschaft. Auf diese Weise wird verbildlicht, dass alle Menschen nur einen Stammbaum haben und deshalb eng miteinander verwandt sind. Das zentrale Symbol dieser Welt ist »Ifumu«, der Mutterleib, aus dem die Regeneration der ganzen Menschheit hervorkommt. »Ifumu« steht auch für das Universum, das alle Wesen gebiert und von unbegrenzter Fülle ist. Ebenso wird mit »Ifumu« das Land gleichgesetzt und der Ackerbau der Frauen, zu dessen Früchten jeder Zugang hat. Aufgrund dieses spirituellen Prinzips besitzen die Frauen das Land. Das zweitwichtige, kulturelle Symbol ist »Mukowa«, die matriarchale Sippe. »Mukowa« bedeutet den Leib der Ahnfrau und zugleich den Ursprung und die Geschichte des Clans. Eine einzelne Linie innerhalb des Clans heißt »Cikota«, das »Große Weibliche«, und steht für einen bestimmten Mutterleib, von dem die Linie ausging. Die Rolle der männlichen Fruchtbarkeit ist bekannt und wird geehrt, sie wird mit dem flüssigen Element gleichgesetzt. Das männliche Sperma und das die Erde fruchtbar machende Wasser werden analog gesehen, deshalb gehört der Fischfang zum Bereich der Männer, genauso wie das Wasser.36 – Wie diese beiden Gesellschaften der Bemba und Luapula zeigen auch andere BantuVölker in Zentralafrika, mit einigen Varianten, dieselben matriarchalen Muster. Dazu gehören die oben schon genannten Bisa, Lele, Lamba und Kaonde, ferner die den Luapula benachbarten Schila am Luapula-Fluss, die Nsenga am Luanga-Fluss, die Ambo, Alungu, Ila am Kafue-Fluss. Auch die nördlich der Bemba wohnenden Lungu seien hier genannt und die südlich von ihnen wohnenden Plateau-Tonga und Sala. Außerdem gehören die Stämme am Njassa-See und nicht zuletzt die große Gruppe der Stämme südlich des Kongo dazu, die wir ebenfalls schon erwähnten (siehe Karte 7). Für alle diese Völker gilt die Ackerbau-Ökonomie und keine oder nur geringe Viehzucht; sie folgen der Matrilinearität in Namensgebung und Erbrecht. Sie haben die matrilokale Ehe als Wohnort des Gatten bei den Verwandten der Frau, nur wenige Stämme kennen den Wohnort der Gattin bei den Verwandten des Mannes. Brautdienst und Dienst-Ehe des Gatten sind ausnahmslos verbreitet, egal
35 Poewe: Matrilineal Ideology, S. 65, 69. 36 A.a.O., S. 3–4, 56.
6.4 Die duale Gesellschaft der Luapula
201
wo der spätere Wohnort ist, ebenso erfreut sich die Heirat von Kreuz-Basen-Vettern (»cross cousin marriage«) noch großer Beliebtheit. Die Religion wird von der Verehrung der Ahnfrauen und ihren Brüdern bestimmt, und das »Chisungu«-Fest kommt überall vor, nur unter verschiedenen Namen. Ebenso allgemein ist das Schamaninnentum der Frauen und die Verbindung von Mutter Erde und der Frau als Schöpferin des Lebens.37 Große Häuptlinge gibt es nicht, stattdessen besitzt die Gesellschaft eine egalitäre Organisation. Man kann es auch eine »bäuerliche Sippen-Demokratie« nennen. Die kleinen Dorfrepubliken mit ihren Lokalhäuptlingen leben in regionaler Autonomie. Die heute vorkommenden Oberhäuptlinge sind ein von den Europäern eingeführtes, koloniales Phänomen und keine indigene Tradition. Denn auch dieses Gebiet kennt eine wechselvolle Geschichte und ist nicht »unberührt« geblieben. So gab es vor den Europäern verschiedene königliche Clans, die Reiche errichteten und den zentralistischen Regierungsstil einführten (ab 1000 n.u.Z.), wodurch aber die egalitäre Organisation des einfachen Volkes in den Dörfern nicht verändert wurde. Das letzte, große Reich dieser Art, das Lunda-Reich, wurde erst im 15. Jahrhundert gegründet, und es erreichte durch die Verbindung mit dem westlich am Kongo gelegenen LubaReich im 17. Jahrhundert als Luba-Lunda-Reich seine größte Ausdehnung. Es war ein riesiges Reich und erstreckte sich damals von der Westküste Zentralafrikas (Kongo-Mündung) bis zum Tanganjika-See im Osten. Die Heiligen Könige dieses Reiches waren zuletzt Kaiser. Das Luba-Lunda-Reich, das ein Opfer der belgischen Kolonialmacht wurde, hat bei vielen zentralafrikanischen Bantu-Stämmen seine kulturellen Spuren hinterlassen.38 Die weiter östlich am Njassa-See wohnenden Stämme, wie die Cewa, Yao und Nyanja, wurden nicht vom Lunda-Reich erfasst und kennen überhaupt keine königliche Zentralmacht. Dafür wurden sie von den patriarchalen Zulu-Bantu aus dem Süden bedrängt und gerieten später unter den Einfluss arabischer Händler und Eroberer, was eine oberflächliche Islamisierung mit sich brachte. Die matriarchalen Stämme der Gruppe südlich des Kongo-Stromes (in den Staaten Republik Kongo und Angola) gehörten einst zum Luba-Reich und hatten darin auch zentralistische Regierungen von Sakralköniginnen und Heiligen Königen gehabt. Danach wurden sie in hohem Maße das Ziel der Sklavenjagd durch die Portugiesen.39 Heute sind die Störfaktoren in diesem Gebiet die christliche Mission, die Druck auf die matriarchalen Sippen ausübt, und die Kupferminen aus der Kolonialzeit, die eine hohe Abwanderungsquote der jungen Männer bewirken, die dort für Geld arbeiten gehen.40 Das industrielle Marktsystem, das damit eingeführt wurde, hat
37 Richards: Chisungu, S. 170–180; Mair, S. 81; weitere Stämme werden genannt bei: H. Baumann: »Vaterrecht und Mutterrecht in Afrika«, in: Zeitschrift für Ethnologie, Nr. 58, Berlin 1926, Springer, siehe besonders die Tabellen auf S. 110–111. 38 Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 130, 132, 134, 145; Baumann: Afrikanische Plastik, S. 26–28. 39 V.G.K. Pons: »Die Völker des Kongobeckens«, in: Bild der Völker, Bd. 2, S. 96–97. 40 Richards: Chisungu, S. 28.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
nur die Männer gefördert, von denen einige individuell reich wurden. Solche Männer wollen ihren neu erworbenen Reichtum nicht mehr mit ihrer matriarchalen Sippe teilen und sagen sich deshalb von ihr los. Sie werden Mitglieder der protestantischen Sekten, die Privateigentum statt Clanbesitz und die Vaterlinie statt der Mutterlinie propagieren. Zusätzlich versuchen diese Männer, unterstützt von den Missionaren, die monogame Ehe mit dem Mann als Oberhaupt durchzusetzen, um ihren Privatbesitz in der Vaterlinie an ihre Söhne zu vererben. Dafür bemühen sie sich, Frauen aus dem Clangefüge zu »befreien« und mit der Verlockung ihres Geldes zu verführen. Einzelne Frauen akzeptieren solche Ehen in der Hoffnung, von der harten Feldarbeit frei zu sein – aber solche Verbindungen halten nicht lange. Obwohl diese Frauen zum Christentum konvertierten, verlassen sie die Sekten bald wieder wegen der kümmerlichen Rolle, die sie darin spielen sollen. Sie kehren heim und wenden sich wieder ihrer traditionellen, sozialen und religiösen Lebensweise zu. Die Mehrheit der Frauen dieser Völker leistet massiven Widerstand gegen die neuen Machenschaften, die sie als »Versklavung der Frau« bezeichnen. Sie unterstützen, unter ihnen besonders die wohlhabenden Frauen, das Recht der matrilinearen Verteilung der Güter und pflegen das traditionelle System, bei dem Reichtum ausschließlich dazu gebraucht wird, dem Clan zu helfen. Das erlaubt den Frauen, die Kontrolle über das Land und ihre Nachkommen zu behalten und von ihren erwachsenen Kindern unterstützt zu werden.41
6.5
Patriarchale und matriarchale Viehzüchter-Völker
Die Situation der Frauen in patriarchalen Stämmen und Völkern Afrikas ist sehr verschieden von der Lebensweise der Bemba- und Luapula-Frauen. Bei jenen leben die Frauen ohne Besitz und eigene Ökonomie, was besonders oft bei ViehzüchterVölkern hervortritt. Die Herde zu vergrößern und damit Reichtum zu akkumulieren, ist das Bestreben jedes männlichen Oberhauptes eines patriarchalen Viehzüchter-Stammes. Die Frau dient dazu, das Vieh zu melken und Kinder zu gebären, womit sie die Vaterlinie seines Clans verlängert. Sie wohnt patrilokal, als Fremde bei den Verwandten ihres Gatten. Der Gatte hat sie auch nicht mehr durch »Brautdienst« bei ihren Verwandten erworben, sondern durch den »Brautpreis« in Vieh, wodurch er das Recht hat, sie von ihren Verwandten mit sich fort zu nehmen. Dabei wird sie tatsächlich zum Verhandlungsobjekt zwischen ihrem Vater und dem Schwiegervater, dem »Geber« und dem »Nehmer« der Frau. Subjektiv erfüllt es die Frauen oft mit Stolz, wenn sie möglichst viele Stück Vieh wert sind. Heute, wo das Geld auch hier eingedrungen ist, wird der »Brautpreis« häufig in Geld bezahlt. Der Brautpreis stellt nicht direkt einen Kauf der Frau dar. Tatsächlich werden durch den Brautpreis die Kinder der Frau in die Vaterlinie eingekauft, was darauf hinweist, dass bei diesen Völkern das Bewusstsein noch nicht erloschen ist, dass 41 A.a.O., S. 51, 100–104.
6.5 Patriarchale und matriarchale Viehzüchter-Völker
203
die Kinder eigentlich zur Mutter gehören. Die Frau selbst kann die Ehe verlassen und zu ihren Eltern zurückkehren, allerdings ohne ihre Kinder, denn diese bleiben bei der Familie des Gatten. Aber der Weggang einer Frau aus der Ehe ist sehr schwierig und wird auch von ihren eigenen Eltern nicht gern gesehen, weil ihre Familie den Brautpreis dann zurückzahlen muss – was schließlich doch auf eine »Kauf-Ehe« hinausläuft. Das ist besonders dann ein Problem, wenn der Bruder für den Brautpreis seiner Schwester inzwischen eine Gattin für sich erworben, eben gekauft hat. Schon aus diesem Grund werden auch die Eltern der Frau auf ihre »Treue«, das heißt, ihr dauerhaftes Verbleiben in der Ehe achten. Viele Söhne sind wegen der Stärkung der Vaterlinie gern gesehen, aber Töchter werden auch geschätzt, weil der Vater durch den Brautpreis für sie seinen Herdenbesitz beträchtlich vergrößern kann. An Vieh reiche Männer können sich den Brautpreis für mehrere Frauen leisten, was ihre Vaterlinie durch viele Nachkommen sehr vergrößert. Polygynie ist daher ein Ideal – für die Männer. Hier sehen wir die Form der patriarchalen Polygynie, bei der untereinander nicht verwandte Frauen unfreiwillig die Gattinnen eines Mannes sein müssen. Darin unterscheidet sie sich grundsätzlich von den Vielehe-Beziehungen in matriarchalen Gesellschaften. Trotz eines gewissen Respekts für die Hauptfrau wird diese nicht gefragt, wenn ein Mann seinen Hausstand mit jüngeren Frauen vergrößern will. Die Demütigungen und das Leid für die Frauen, besonders wenn sie älter werden, bleiben damit nicht aus. In Afrika ist diese Art der Polygynie weit verbreitet.42 Sie wurde später vom Islam übernommen und mit dem »Harem« im patriarchalen Sinne weiterentwickelt, denn es kommt »Purdah«, die strenge Abschließung der Frauen, noch hinzu. Hier gibt es auch nicht die Möglichkeit einer Rückkehr zu den Eltern mehr. Wegen der Polygynie der reichen Männer ist es für die ärmeren Männer schwierig, überhaupt eine Frau zu finden. Sie müssen lange warten und sparen, bis sie den Brautpreis in Vieh oder Geld aufbringen können. Darüber werden sie ältere Männer, die sich in der Regel mit sehr jungen Frauen verheiraten. Auch in der Kriegerkaste der Viehzüchter werden die Männer alt, bevor sie heiraten, denn 14–20 Jahre müssen sie als Krieger gedient haben, bevor ihnen die Ältesten die Erlaubnis zur Heirat geben. Dafür sind die Frauen, die verheiratet werden, umso jünger. Denn da Frauen wegen der Polygynie der reichen Männer ein knappes Gut sind, werden sie in der Regel schon im Kindesalter, oft schon vor der Geburt, vom Vater an den passenden Bewerber vergeben. Dieser erhält dann sogleich den Brautpreis vom künftigen Gatten und damit ist der Vertrag gültig. Kindbräute, die mit älteren Männern verheiratet sind, sind daher gang und gäbe. Noch im Kindesalter (ab 10 Jahren) müssen sie ins Dorf des Gatten ziehen und in seinem Haus für ihn kochen; die sexuelle Annäherung vonseiten des Gatten ist nun erlaubt. Natürlich spielt bei solchen Gepflogenheiten der überall im Patriarchat verbreitete Jungfräulichkeitskult eine große Rolle. Je jünger eine Braut ist, desto sicherer ist sie noch jungfräulich. Denn es geht bei der Errichtung der Vaterlinie immer um die prekäre
42 Mair: African Marriage; Lucy Ph. Mair: »Die Völker im Gebiet der Seen und Hochländer Ostafrikas«, in: Bild der Völker, Bd. 2, pp. 106–107.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
Identifikation der legalen Kinder eines Mannes, was die Einsperrung der Frau, die sie gebären wird, vorprogrammiert.43 Da die Einsperrung immer schwierig und nicht selten undurchführbar ist, müssen Millionen von afrikanischen Frauen zugunsten der eindeutigen Vaterlinie in diesen Gesellschaften mit einem besonders scheußlichen Brauch büßen, der harmlos »Beschneidung« heißt. Hierbei wird so getan, als ob die Beschneidung der Mädchen parallel sei zu der Beschneidung der Knaben, die hier auch geübt wird. Bei der Beschneidung der Knaben wird lediglich die Vorhaut des Penis entfernt, während die Beschneidung der Mädchen eine gefährliche Operation ist, bei der die Klitoris und die inneren Schamlippen entfernt werden und die derart verletzten Genitalien zusammengenäht werden. Diese Verstümmelung der Genitalien und damit der sexuellen Empfindungsfähigkeit der Frau – denn das ist der Zweck der Operation – wird schon an vier- bis achtjährigen Mädchen vorgenommen. Sie erzeugt dauerndes Leiden und gefährliche Infektionen, besonders beim Sexualakt und bei der Geburt. Auf diese Weise wird die Jungfräulichkeit für den Gatten auf jeden Fall garantiert, denn er erhält eine »reine« Braut, die keine Lust mehr auf Sexualität hat und daher eine »treue« Gattin sein wird. Bis heute wurde dieser Brauch, trotz vieler feministischer Proteste und Mahnungen vonseiten internationaler Menschenrechtsorganisationen, nicht abgeschafft; noch immer wird er als respektierte »alte Tradition« fortgesetzt. Er wurde nicht vom Islam erfunden, aber von den Muslims weitergeführt, so dass er heute besonders in den islamisierten Gegenden Afrikas verbreitet ist, ebenso in den islamisch geprägten Nationalstaaten von Afrika bis Indien.44 – Wenn hier deutlich auf patriarchale Viehzüchter-Völker hingewiesen wird, so heißt das weder, dass sie die einzigen Träger des Patriarchats in Afrika waren, noch dass Viehzüchter-Völker immer patriarchal organisiert sind. Sehr frühe patriarchalen Muster in Afrika stammen aus Ägypten, einer Ackerbaukultur, sie zeigen sich dort spätestens zur Zeit des Neuen Reiches (1550–1295 v.u.Z.). In Ägypten wurde vermutlich der Brauch der genitalen Verstümmelung von Frauen erfunden. Andererseits waren die Viehzüchter-Völker, die durch die Ausbreitung der verschiedenen ägyptischen Reiche vom Nil nach Westen in die Libysche Wüste und nach Osten in die Nubische Wüste verdrängt wurden, matriarchal organisiert. Sie lebten schon vorher in Nordafrika und sind als die antiken »Libyer« im Westen und als die antiken »Nubier« im Osten bekannt. Ihre späten Nachkommen sind, unter anderen, die Tuareg-Stämme westlich des Nils in der Wüste Sahara und die Bedscha-Stämme
43 Mair: African Marriage; Baumann/Thurnwald/Westermann: Völkerkunde von Afrika; Baumann: »Vaterrecht und Mutterrecht in Afrika«; Colin M. Turnbull: Man in Africa, London 1976, Anchor Press. 44 Mary Daly: Gyn/Ökologie, S. 175–199; Marilyn French: Der Krieg gegen die Frauen, S. 134–148. – Beide Autorinnen weisen darauf hin, dass die Europäer und weißen Amerikaner keinen Anlass haben, sich in dieser Hinsicht über die afrikanischen und islamischen Völker zu erheben. Denn die Verstümmelung von Frauen durch Klitorisdektomie gab es besonders im 19. Jh. auch in Europa und Amerika (in Amerika bis in die Gegenwart). Sie wurde propagiert und durchgeführt von angesehenen männlichen Gynäkologen.
6.5 Patriarchale und matriarchale Viehzüchter-Völker
205
östlich des Nils in der Nubischen Wüste am Roten Meer. Sie sind hellhäutig, sprechen eine hamitische Sprache und sind miteinander verwandt. Bei den Tuareg wie bei den Bedscha – zu letzteren gehören die Ababda, Bischarin, Amarar, Hadendowa, Halenga, Beni-Amer – finden wir die matriarchale Sozialordnung bis heute. Die Frauen leben matrilinear und matrilokal und haben die gesamte Wirtschaft in der Hand (Abb. 26). Die Männer sind Jäger, Händler und sehr gute Krieger. Doch nicht nur sie, sondern auch die schwarzen Nubier im Süden: die Nuba westlich des Weißen Nils und die Kunama und Barea östlich des Weißen Nils, waren matriarchal organisierte Hirtenvölker und haben heute noch viele Züge dieser Gesellschaftsordnung bewahrt.45 Das zeigt, dass nomadische Viehzüchter-Völker, sogar wenn sie zu Hirtenkriegern werden und sich nach außen räuberisch verhalten, keineswegs immer patriarchal sind oder es zwangsläufig werden müssen. Am Beispiel der Tuareg wird uns die matriarchale Viehzüchterkultur noch beschäftigen.46 Erst in der Eisenzeit um 300 v.u.Z., als ein dramatisches Völkergedränge in Westasien (im »Vorderen Orient«) und im Mittelmeerraum stattfand, wurde auch Nordost-Afrika davon ergriffen. Patriarchalisierte Hirtenkrieger mit Eisenwaffen drangen von Westasien und Arabien in den Nordosten Afrikas ein, sie bekämpften und verdrängten die dort ansässigen matriarchalen Hirtenvölker. Sie breiteten sich in der Osthälfte Afrikas von Nord nach Süd aus, beraubten die hier ansässigen schwarzen Ackerbauvölker ihrer Nahrungsreserven oder verdrängten sie aus ihren heimischen Gebieten. Einige dieser viehzüchterischen Kriegervölker mit patriarchalen Mustern sind die Niloten in Ostafrika, deren Speerspitze, die Massai, bis südlich des Viktoria-Sees vorstießen. Die Invasion dieser Hirtenkrieger der Eisenzeit erreichte 200 n.u.Z. das Gebiet des Sambesi, wo sie die am südlichsten wohnenden Bantu ebenfalls verdrängten. Quer durch den Sudan-Gürtel, jenem Steppengürtel südlich der Wüste Sahara, der vom oberen Nil bis zum Niger reicht, gingen ihre Vorstöße bis weit nach Westen und zwangen auch dort die Bantu vom Benue-Fluss zur Auswanderung. Diese zogen sich in die Urwälder Zentralafrikas zurück und konnten dort im Verborgenen ihre Völker vergrößern und ihre Kultur weiter entwickeln. Nur wenige Jahrhunderte später, ab dem 7. Jh. n.u.Z., folgten auf diese frühpatriarchalen Viehzüchter die Araber, die den Ost- und Zentral-Sudan eroberten. Die Islamisierung, die sie rücksichtslos verbreiteten, verschärfte die Muster vieler frühpatriarchaler Viehzüchter-Völker noch einmal in erheblichem Maß. Dabei wurden die einst enorm großen Gebiete der matriarchalen Ackerbauvölker immer mehr eingeengt. In Ost- und Zentralafrika wurden viele Bantu-Stämme von ihnen überfallen und über längere Zeit beherrscht, wodurch etliche dieser Völker heute patriarchale Muster angenommen haben. Die Bildung von Reichen in Zentralafrika (ab 1000 n.u.Z.) diente der Abwehr dieser Invasionen und der Bewahrung der alten, afrikanischen Traditionen. Das historisch dokumentierte Lunda-Luba-Reich war das letzte große Reich dieser Art.
45 Baumann: »Vaterrecht und Mutterrecht in Afrika«, S. 125, 126; Frobenius, S. 42–43. 46 Siehe Kapitel 8 in diesem Buch.
206
Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
Abb. 26: Frau der Bedscha (aus: Pogrom, Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker, Nr. 192, 1996/1997, S. 55)
6.6
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Auf der ökonomischen Ebene: • In vielen matriarchalen Kulturen erarbeiten Frauen die ökonomische Grundlage im Gartenbau oder Ackerbau; sie gelten dort als die Erfinderinnen der Kultivierung von Pflanzen.
6.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
207
• Die ältesten Werkzeuge der Kultivierung und Verarbeitung von Pflanzen sind Grabstock, Hacke und Mahlsteine, sie sind allein in den Händen der Frauen. Die Hacke kann sogar Kultgegenstand werden (Beispiel: die Bemba). • Die Frauen sind die Produzentinnen, Verarbeiterinnen und Verteilerinnen der Nahrung und damit die Ernährerinnen ihrer Stämme. Materieller Reichtum wird nicht angehäuft. • Frauen und Männer haben getrennte ökonomische Bereiche, die in den verschiedenen matriarchalen Gesellschaften verschieden bestimmt werden. Wenn Frauen die Ackerbäuerinnen sind – was oft der Fall ist –, dann ist die Arbeit der Männer meist Jagen und Fischen (Beispiel: die Luapula).
Auf der sozialen Ebene: • Bei matriarchalen Gesellschaften kann eine matriarchale Sippe ein eigenes Dorf bilden (Clan-Dorf). Wechselheirat zwischen zwei gepaarten Sippen verbindet dann je zwei Clandörfer. • In etlichen matriarchalen Gesellschaften sind gleichzeitige Mehrfachbeziehungen der Geschlechter, das heißt, Polygynie der Männer und Polyandrie der Frauen, üblich. Sie gehen auf die alte Tradition der Gruppenehe zwischen je zwei gepaarten Sippen zurück. • Eine duale Organisation der Geschlechter, sowohl im ökonomischen als auch sozialen und religiösen Bereich, ist für matriarchale Gesellschaften in Afrika häufig. So gibt es sich entsprechende Frauen- und Männerbünde. Die duale Organisation wird durch eine ausdrückliche Balance zwischen den Geschlechtern verbunden.
Auf der politischen Ebene: • Die Clandörfer werden ausschließlich durch Konsens gelenkt; es ist das Ziel, das Dorf durch gutes Zusammenleben zu vergrößern. Ist der Konsens nicht gegeben, ziehen Töchter als eine Linie der Muttersippe fort und gründen ein neues Dorf. • Jedes Dorf ist autark und autonom, eine »Dorf-Republik«. Die Gesellschaft ist egalitär.
Auf der kulturellen Ebene: • Im Zentrum der Religion steht die Verehrung der Ahnfrau als der Mutter des Stammes; auch die anderen Ahninnen und Ahnen werden verehrt. Es ist der Ausdruck eines sehr konkreten Wiedergeburtsglaubens, nach dem die Kinder wiedergeborene Ahnenwesen sind. Die Frauen haben diese Religion entwickelt und hüten sie in ihren Bünden. • Der Herd ist ein heiliger Platz, am Herdfeuer werden die Ahninnen und Ahnen verehrt.
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Kapitel 6: Das Matriarchat in Zentralafrika
• »Geschichte« ist die Geschichte der einzelnen matriarchalen Clans, die durch die Ahnen-Verehrung im Gedächtnis bleibt. Die Überlieferung ist mündlich. In vielen matriarchalen Kulturen wird die mündliche Tradition durch die ältesten Frauen weitergegeben, sie sind die Spezialistinnen. • In matriarchalen Gesellschaften ist das Fest der Mädchen-Initiation das wichtigste Fest. Die Frauen geben dabei das geheime Wissen über ihre generativen Fähigkeiten und deren Kontrolle sowie den Wiedergeburtsglauben an die Initiantinnen weiter. • Auch im Alltag wird die generative Fähigkeit der Frau geehrt. Weibliche Symbolik erscheint überall in der Volkskunst, z. B. wird das Haus durch magische Symbole ein sakraler Ort. Das zentrale Symbol ist der Mutterleib. • Sexualität gilt als hoher Wert; befriedigte Sexualität wird als Grundlage für Gesundheit, Frieden und Kultur betrachtet. • In den Festen des agrarischen Jahreszeitenzyklus werden die Leben schaffenden Kräfte der Erde verehrt; sie gilt als umfassende Muttergöttin. Jede Frau ist eine Tochter der Mutter Erde und hat Teil an deren schöpferischer Kraft. • Matriarchale Menschen leben in einer erotisch-ekstatischen Welt; dem entspricht als religiöse Ausdrucksform das Schamaninnentum der Frauen. • In patriarchalisierten Gesellschaften sind geheime Männerbünde Kriegerbünde und es geht um die Ausweitung der Männermacht innerhalb der eigenen Gesellschaft. Das ist nicht der Fall bei Männerbünden in matriarchalen Gesellschaften, sie sind religiöse Kultbünde.
Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
für Ameyaa Kese, die Gründerin des ersten Akan-Reiches, und für Yaa Asantewa, die Verteidigerin des letzten Akan-Reiches
Jahrtausendelang haben Erbköniginnen als Regentinnen oder Co-Regentinnen in Westafrika, Zentralafrika und Südafrika eine bedeutende oder sogar die wichtigste Stellung in der Gesellschaft innegehabt, teilweise bis heute. Dabei handelt es sich nicht um zufällige Erscheinungen, wie etwa die vereinzelten regierenden Königinnen in patriarchalen Monarchien (zum Beispiel Hatschepsut von Ägypten, Elisabeth I. von England oder Maria Theresia von Österreich), sondern die Regentschaft oder Mit-Regentschaft von Königinnen in Afrika war kontinuierlich und die Regel. Denn die Positionen sind bei den matriarchalen königlichen Clans genauso wie bei vielen matriarchalen afrikanischen Völkern grundsätzlich dual organisiert: Der König regiert die Männerwelt, die Königin mit dem Titel »weiblicher König« regiert die Frauenwelt. Das ist jedoch nur ein Teil ihrer Macht; als »Königinmutter« ist sie tatsächlich die Mutter der königlichen Linie und des regierenden oder künftigen Königs. Sie setzt ihn auf den Thron und ist die einzige Person, die ihn öffentlich zurechtweisen und unter Umständen sogar absetzen kann. Sie wird symbolisch mit dem Land verknüpft, auf dem das Volk lebt, und ist die »Eigentümerin« des sakralen Reiches. Das wird aus der mündlich tradierten Geschichte dieser Völker verständlich, die besagt, dass matriarchale Reiche stets von Königinmüttern gegründet wurden. Um ihr bedrohtes Volk und ihre bedrohte Kultur in Krisenzeiten zu retten, übernahmen sie nicht selten zusätzlich die Pflichten des Königs zu ihren eigenen und regierten gleichzeitig als »weiblicher König« und »männlicher König« mit den Insignien beider Ämter. Die Geschichte Afrikas ist reich an königlichen Führerinnen, die ihres Mutes und ihrer Entschlusskraft wegen im Gedächtnis ihrer Völker lebendig geblieben sind und in der Ahnenreligion hoch verehrt werden.1
7.1
Die Geschichte der Akan
Dank der Pionier-Forschungen von Robert S. Rattray und Eva Meyerowitz über die Völker der Akan und Aschanti in Westafrika können wir uns ein genaues Bild von 1 Eva L.R. Meyerowitz: The Sacred State of the Akan, London 1951, Faber and Faber; David Sweetman: Women Leaders in African History, London, Ibadan, Nairobi 1984, Heinemann.
210
Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
der Organisation matriarchaler Reiche in Afrika machen und der Frage nachgehen, wie sie entstanden. Der Antwort auf beide Fragen können wir uns durch einen Blick auf die mündliche Geschichtsüberlieferung der Akan nähern, hier besonders auf die Geschichte der königlichen Clans.2 Heute wohnen die Akan-Völker überwiegend im Staatsgebiet von Ghana und im östlichen Teil des Staates Elfenbeinküste; zu ihnen gehören die Bono (Brong), Fanti und Aschanti in Ghana und die Bete, Baule, Sapo, Angni im Staat Elfenbeinküste. Die Europäer nannten diese Gegenden »Pfefferküste« (Liberia), »Elfenbeinküste« (Côte d’Ivoire), »Goldküste« (Ghana) und »Sklavenküste« (Nigeria), was verdeutlicht, zu welchem Zweck sie von ihnen besucht und geplündert wurden. Vor den Europäern bestanden hier die Reiche der Akan-Völker und deren Reichtum basierte auf dem Gold. Aber nicht alle Akan stammten von hier; einige Völker, die später die Akan ausmachten, lebten außerhalb dieser Region und sollen weither aus Nordafrika gekommen sein. Verfolgen wir ihre Geschichte durch die Jahrhunderte rückwärts, so stoßen wir auf die Königinmutter Ameyaa Kese, das heißt »Ameyaa die Große«. Im Jahr 1295 gründete sie das Bono-Königinreich mit der Hauptstadt Bono Mansu, das im nördlichen Ghana lag. Dank seiner Goldfunde wurde es das reichste und kulturell am höchsten entwickelte Reich der Region; noch heute berichten die einheimischen Sänger vom Glanz seines Hofes. Es bestand vom 13.-16. Jh. und hat das spätere Reich der Aschanti, das südlich davon im Waldgürtel lag, aufs nachhaltigste beeinflusst (Karte 8). Die Aschanti eroberten das Bono-Reich im Jahr 1740, und das Aschanti-Reich wurde schließlich von der englischen Kolonialherrschaft 1901 zerstört. Bevor Ameyaa die Große das Königinreich von Bono Mansu gründete – welches das bedeutendste von Ghana wurde –, war sie mit ihrem Volk aus der Region von Obervolta nach Süden aufgebrochen und verließ damit das erste Bono-Königinreich, das südlich der Biegung des Flusses Niger lag. Dreihundert Jahre früher waren die Akan bereits aus ihren Königinreichen Diala und Diara in der Timbuktu-Region am Nigerknie nach Süden ausgewandert, die dort vom 8. Jh. bis zum Jahr 1010 geblüht hatten (siehe Karte 8). Diese Reiche besaßen direkte Handelsverbindungen über Karawanenwege quer durch die Sahara nach Nubien, Ägypten und Äthiopien. Was war der Grund für die wiederholten Emigrationen dieses Volkes? Im 11. Jh. machte sich die Invasion arabischer, islamisierter Beduinenvölker in der Wüste Sahara bemerkbar, die von Nordosten kamen und die alten Karawanenwege eroberten. Sie lösten eine Wanderungsbewegung von Nord nach Süd aus, denn auch andere Völker wichen den Eroberern aus. Doppelt bedrängt von diesen
2 Wir verdanken die Möglichkeit zu genauen Einblicken in diese Gesellschaft den klassischen Werken des oben genannten Autors und der Autorin, ebenso den neueren kritischen Ethnologinnen. Eva Meyerowitz ragt besonders hervor, die zugleich Ethnologin, Künstlerin und politische Fürsprecherin für das Akan-Volk der Bono-Tekyiman war, bei dem sie viele Jahre weilte. Sie schloss eine große Fülle mündlicher Traditionen in ihr Werk ein. Aus Dankbarkeit erhielt sie von den Bono-Tekyiman den Titel und Rang einer »Königinmutter«.
7.1 Die Geschichte der Akan
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Karte 8: Die Reiche und Fluchtbewegungen der Akan
Aggressionen und dem eindringenden Islam fügten sich Ameyaa und die früheren Königinmütter dieser Situation nicht. Um ihre traditionelle matriarchale Kultur zu bewahren, zogen sie in wiederholten Wellen mit ihrem Volk aus.3
3 Zur Geschichte der Akan: Meyerowitz: The Sacred State, S. 22–26; Eva L.R. Meyerowitz: Akan Traditions of Origin, London 1952, Faber and Faber, S. 124–129; Eva L.R. Meyerowitz: The Akan of Ghana. Their Ancient Beliefs, London 1958, Faber and Faber, S. 13–20; Eva L.R. Meyerowitz: The Divine Kingship in Ghana and Ancient Egypt, London 1960, Faber and Faber, S. 23–25, 228; Eva L.R. Meyerowitz: At the Court of an African King, London 1962, Faber and Faber, S. 69–70. – Das umfassende Werk von Eva Meyerowitz, besonders ihre Darstellung der Geschichte der Akan, wurde kritisiert von Danquah (1952), Goody (1959), A. Robertson (1976), die ihre Thesen vom Ursprung und den Migrationen der Akan für zweifelhaft hielten, weil Meyerowitz keine akademische Ethnologin war. Aber ihr Werk wurde von dem Royal Anthropological Institut, dem Colonial Development und Welfare Fund und dem University College der Goldküste unterstützt, was seine Seriosität beweist. Ich schließe ihr Werk hier ein, weil es ein großes Wissen über die frühen Akan-Königinreiche enthält, das aus wertvollen mündlichen Quellen aus den 1940iger Jahren stammt.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Vor ihren Reichsgründungen am Niger und südlich des Niger wurden diese matriarchalen Völker bereits aus der Diadom-Föderation vertrieben, ihrem Reich auf dem Dschado-Plateau zwischen Ahaggar- und Tibesti-Gebirge in der Wüste Sahara. Es war der erste Ansturm des Islam »mit Feuer und Schwert«, jene Invasion der patriarchalen Araber im 7. Jh. n.u.Z., während der die gesamte nordafrikanische Küste überrannt und verheert wurde. Die Araber eroberten ebenfalls das damals reiche, fruchtbare Gebiet des Fessan im südlichen Libyen und zwangen die dortigen Bewohner, die ebenfalls matriarchale Völker waren, zur Auswanderung in die Sahara; dies wirkte sich in dem ganzen Gebiet bis zum Dschado-Plateau in der Zentral-Sahara aus (siehe Karte 8). Alle diese Völker flohen, geführt von ihren Königinmüttern, nach Süden, um ihre traditionelle Kultur zu retten. Man vermutet, dass ihre ursprüngliche Heimat noch nördlicher gewesen war, in Nordost-Libyen – wo sie bereits im 5. Jh. v.u.Z. von Herodot erwähnt wurden. Denn die Ahnen dieser Völker waren einst etliche der zahlreichen, libyschen Stämme, die in der Antike »Libyer« oder »Berber« genannt wurden. Sie gehörten zu den hellhäutigen Afrikanern im Norden des Kontinents, die alle die matriarchale Sozialordnung besaßen. Die orale Geschichtstradition der Akan bestätigt dies, denn es heißt, dass ihre Ahnen hellhäutig gewesen sind und durch »das Land des weißen Sandes« nach Süden gezogen kamen. Durch Jahrhunderte hindurch mussten matriarchale libysche Völker den patriarchalen Bedrohungen an der Küste Nordafrikas wiederholt ausweichen: Zuerst kamen die Phönizier, verdrängten diese Völker und bildeten ihr Handelsreich an der Küste Nordafrikas (Karthago); dann überzogen die Römer diese Gegenden mit Krieg und errichteten ihre Macht; darauf folgte das römische Christentum und missionierte sie; zuletzt wütete die arabische Eroberung und brachte den Islam (siehe Karte 8). Während ihrer Auswanderungen nach Süden schlossen diese vertriebenen Völker untereinander Bündnisse, die auf der von den Königinmüttern eingeleiteten Heiratspolitik beruhten. Ganze Stämme verbanden sich durch Wechselheirat miteinander, so entstanden Allianzen und neue Reiche. Als die libyschen, hellhäutigen Ahnen der Akan zum großen Strom Niger gelangten, verbanden sie sich dort mit den schwarzafrikanischen Stämmen, die seit der Steinzeit hier wohnten und ihre eigene matriarchale Kultur entwickelt hatten.4 Auch hier initiierten die Königinmütter die gegenseitige Heirats- und Bündnispolitik und diese Verbindungen gaben ihnen ihr heutiges, dunkelhäutiges Aussehen. Später verstärkte sich dies in der Region Obervolta, als die Neuankömmlinge sich dort nochmals mit schwarzafrikanischen Stämmen, wie zum Beispiel den Mossi, vermählten und verbündeten. Dabei verschmolzen ihre verschiedenen Kulturen, die jedoch eine gemeinsame matriarchale Grundlage hatten, und so formte sich das Akan-Volk.5
4 Die Anwesenheit dieser Völker seit der Steinzeit ist durch archäologische Zeugnisse und einen anderen Strang der mündlichen Überlieferung der Akan belegt. – Siehe Wilhelmina Donkoh: »Female Leadership among the Asante«, in: Goettner-Abendroth, Heide (Hg.): Societies of Peace. Matriarchies in Past, Present, Future, Toronto 2009, S. 1–4. 5 Die indigene Akan-Gelehrte W. Donkoh kritisiert die Ansicht, dass die Akan als ganzes Volk aus Nordafrika gekommen wären. Sie konstatiert, dass es keine Belege für eine Massenim-
7.2 Die Königinmutter und die früheste Form der Akan-Reiche
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Heiratspolitik ist das typische Mittel, um matriarchale Reiche zu bilden – was in scharfem Kontrast zur Bildung patriarchaler Staaten und Reiche durch Krieg und Eroberung steht. Freunde, Gäste, Verbündete, ansässige Einheimische, Flüchtlinge und sogar Sklaven wurden in die Clans, auch in die königliche Sippe, eingeheiratet in dem Bestreben, die Clans zu vergrößern und eine Verwandtschaftsgesellschaft zu formen. Denn auch in ihrer komplexesten Form als Reich oder Konföderation sind Matriarchate Verwandtschaftsgesellschaften geblieben. Matriarchale Reiche haben deshalb spezifische, unverkennbare Eigenschaften: erstens sind auch sie Verwandtschaftsgesellschaften und zweitens immer sakrale Kulturen. Das heißt, die Matrilinearität und die spirituell-religiöse Sphäre sind ihre beiden Organisationsprinzipien. Außerdem sind sie selbst in ihren größten Formen durch Bluts- und Wahlverwandtschaft (Bündnisse) gewachsene Reiche, aber niemals durch Gewalt erzwungene Staatsbildungen.
7.2
Die Königinmutter und die früheste Form der Akan-Reiche
Bei den Akan-Völkern wie bei allen matriarchalen Völkern gilt die älteste Frau als Quelle und Mittelpunkt des Sippenlebens. Sie ist nicht nur die Mutter der matrilinearen Sippe, sondern auch die Vermittlerin zwischen der Clangottheit und den lebenden Mitgliedern der Sippe. Als Clangottheit wird die Ahnfrau und Schöpferin des Clans verehrt, sie ist nun zur Muttergöttin des Clans geworden und die jetzt lebende Sippenmutter gilt als ihre jüngste Inkarnation. Alle rituelle Autorität liegt deshalb bei ihr. Genauso verhält es sich für die älteste Frau der königlichen Sippe, die Königinmutter. Sie ist nicht nur die Quelle der königlichen Linie und die Mutter des regierenden oder künftigen Königs, sondern sie gilt auch als die Mutter der ganzen Gesellschaft. Denn sie hat diese durch Bündnisse zwischen verschiedenen Sippen und Völkern geschaffen. Daher hat die Königinmutter ihr eigenes Reich »geboren«, weshalb es ihr ge-
migration in das Gebiet der heutigen Akan gäbe. Eine solche Annahme würde die Fähigkeit der schwarzafrikanischen Völker bezweifeln, selbst Kultur und Geschichte geschaffen zu haben – eine eurozentristische Perspektive! Donkoh hält indirekten Kontakt mit Nordafrika durch Handel und soziale Beziehungen für wahrscheinlicher (persönliche Kommunikation). – Darin stimme ich ihr zu, da ich ebenfalls nicht von einer Einwanderung des Akan-Volkes insgesamt aus Nordafrika ausgehe, insbesondere nicht von der Idee, dass die schwarzafrikanischen Völker keine eigene Kultur und Geschichte entwickelt hätten. Im Gegenteil gehören sie zu den ältesten Kulturvölkern auf der Erde. Dennoch sind die historischen Daten der Reiche, die von den von Nordafrika kommenden Stämmen gegründet wurden, ebenfalls von indigenen Gewährsleuten belegt (siehe Meyerowitz: At the Court, S. 69–70, persönliche Information an sie von Nana Akumfi Ameyaw III., König von Bono-Tekyiman; das Reich von Bono-Tekyiman ist der Nachfolger von Bono Mansu). Die sozialen Beziehungen, auf die auch Donkoh hinweist, haben demnach mehr umfasst als nur oberflächliche Begegnungen, auch wenn sie keine Menschenmassen einschlossen. Aber die Aufnahme von einwandernden Stämmen durch die schwarzafrikanischen Völker ist gesichert.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
hört, »wie ein Kind der Mutter gehört«. War ihre königliche Ahnfrau die Gründerin des Reiches, so wird sie selbst als die jüngste Inkarnation dieser vergöttlichten Ahnfrau betrachtet und ebenfalls als die Mutter von allen Menschen im Reich. Jede Person aus dem Volk kann sich mit Bitten an sie wenden; sogar Verbrecher dürfen bei ihr Zuflucht suchen und sind in ihrem Schutz unantastbar. Bis in die Gegenwart hinein hat sie das Recht zu begnadigen behalten und kann damit Rechtsurteile des Königs aufheben. Ein Akan-Reich konnte niemals ohne eine Königinmutter, eine »Ohemmaa«, gegründet werden, wohl aber ohne einen König, dessen Titel »Ohene« lautet. Tatsächlich haben immer Königinmütter die historischen Akan-Reiche gegründet, die erst später einen ihrer Söhne als König und Co-Regenten auswählten und einsetzten. In Notzeiten, das heißt, wenn der König noch ein Kind oder abwesend war oder wenn ein fluchtartiger Auszug nach dem Zusammenbruch eines Reiches stattfand, übernahm die Königinmutter die Regierung allein. Sie war dann Ohemmaa, weiblicher König, und Ohene, männlicher König, gleichzeitig.6 Diese Züge der Akan-Reiche zeigen, dass in matriarchalem Kontext das Königintum über dem Königtum steht; die Königinmutter ist die letzte Instanz und die Macht hinter dem Thron. Es ist dieselbe Ordnung wie in den gewöhnlichen matriarchalen Clans, wo die Sippenmutter das Oberhaupt ist und ihr Sohn oder Bruder als Delegierter nach außen agiert. Wenn eine Königinmutter in der Vergangenheit mit ihrem Clan und Gefolge auszog, um eine neue Heimat zu finden, dann leitete sie ihre Leute durch Orakel und Weissagungen auf dem gefahrvollen Weg durch die Wüste. Sie war eine Schamanin-Königin und folgte ihrer Intuition und den Zeichen der Natur, zum Beispiel konnte ein Tier helfen, den richtigen Weg zu Wasser und Nahrung zu finden. Das Tier galt dann als »Maske« einer Gottheit und wurde fortan als Totemtier des königlichen Clans verehrt. Wenn die Königinmutter bewohnbares, aber schon bewohntes Land gefunden hatte, knüpfte sie Beziehungen an und bildete Bündnisse mit den Clans der anderen Stämme, die ihnen Gastrecht gewährten. Waren diese zur Heirat bereit, verbanden sich die Neuankömmlinge durch gegenseitige Wechselheirat mit den Eingesessenen. So vereinigte die Königinmutter mehrere Stämme und formte aus ihnen ein neues Volk. Sobald das neue Volk geschaffen war, wurde das Exogamie-Gebot für die einzelnen Clans wieder eingeführt, das auf der Flucht außer Kraft gesetzt worden war. Denn dieses Gebot hat allein die Funktion, die neue Konföderation aus mehreren Stämmen durch die Sippen-Wechselheirat zu einem Reich zu verschmelzen. Mit der »Angst vor Inzest« hat es nichts zu tun – eine reine Projektion der patriarchalen, westlichen Soziologie –, stattdessen ist es ein funktionales und kein moralisches Gebot. Auf der Wanderung hatte dagegen keine Konföderation mehr bestanden, daher war das Exogamie-Gebot vorübergehend ungültig geworden und jeder Clan heiratete endogam. Auf diese bemerkenswerte Weise, nämlich allein durch Heiratspolitik, haben Akan-Königinmütter ihre Reiche gegründet, was ein alter Titel ausdrückt, den sie früher trugen: »Awura«, das heißt »Souveräne Herrin des Reiches«.
6 Meyerowitz: The Sacred State, S. 27; Robert S. Rattray: Ashanti, Oxford 1923, Clarendon Press, S. 81–85; Turnbull: Man in Africa, S. 213–215.
7.2 Die Königinmutter und die früheste Form der Akan-Reiche
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In der neuen Heimat pflanzte die Königinmutter einen Baum, den »Feuerbaum«, als Seelenbaum ihrer neuen Stadt; daneben ließ sie ihren Palast in Form einer Vulva errichten. Dabei wurde gelegentlich ein menschliches Wesen geopfert, eine königliche Prinzessin, die sich freiwillig hingab, sie wurde unter den Grundmauern des Palastes oder unter dem Seelenbaum begraben. Das Grab unter dem Seelenbaum der Stadt wurde zum Ort höchster Verehrung. Wenn von außen Krieg über das Reich hereinbrach, wurde dieses heilige Grab unter dem Baum als kostbarster Besitz des Reiches bis zuletzt verteidigt. Jeder Clan baute sein Wohnhaus entlang der Hauptstraße, die exakt von Ost nach West verlief. Jede Clanmutter, die in ihrem Haus Clan-Königin war, pflanzte einen Baum vor ihrem Haus, der genauso wie der Seelenbaum der Königinmutter der Seelenbaum ihres Hauses war. Auch beim Bau der Clanhäuser kamen Opfer vor, meist von Tieren, häufig wurden auch Gold und andere kostbare Objekte dafür hergegeben.7 Dieses früheste Reich, nicht größer als ein Stadtstaat, bestand aus drei Clans – wobei AkanSippen sehr groß waren und Tausende von Menschen umfassten. Jeder der drei Clans repräsentierte eine Region der Welt: Himmel, Erde und Unterwelt. Auf diese Weise war die Königinmutter die »Ohemmaa« der neuen Stadt oder des neuen Reiches geworden und diente als Hohepriesterin ihrer königlichen Ahnfrau, die als die Schutzgöttin der Stadt verehrt wurde. Traditionellerweise verehrte man diese Göttin außerhalb der Stadt in einem heiligen Hain mit einem Feigenbaum, worin sie wohnte. Auch die anderen Clans verehrten ihre Ahnfrauen in dem heiligen Hain und oft wurde dort eine Höhle als Ursprungsort aller Clans betrachtet. Die gewöhnlichen Clanmütter bildeten den Kronrat der Königinmutter, es war der Rat der ältesten Frauen. Bei diesem Rat konnten alle Menschen der Stadt dabei sein, aber die Entscheidungen lagen bei den Clanmüttern, wobei die Königinmutter das letzte Wort behielt.8 Das Leben der gewöhnlichen Clans war damals nach klassisch-matriarchalen Mustern organisiert. Die Akan wohnten nie in Hütten, sondern in großen, unterteilten Gebäuden. Jedes dieser Häuser war die Residenz einer matrilinearen Großfamilie, das heißt, einer Linie des Clans, wobei die älteste Mutter das Oberhaupt war. Die Töchter, Söhne und Kinder der Töchter blieben bei ihr, die Männer verließen bei der Ehe nicht das Mutterhaus. Verheiratete Paare hatten keinen eigenen Wohnort, sondern begegneten sich in der »Besuchsehe«.9 Wie bei allen matriarchalen Völkern ist auch bei den Akan die Mädchen-Initiation das wichtigste Lebensstadienfest, und zwar bis die Gegenwart, es gilt als die älteste von ihren Zeremonien. Die Mädchen werden vor dem Fest
7 Donkoh, S. 2. 8 Meyerowitz: The Divine Kingship, S. 26, 29; dieselbe: The Akan of Ghana, S. 23–42; dieselbe: The Sacred State, S. 71. Vgl. auch zum heiligen Hain bei den Aschanti Rattray, S. 121–132. Rattray besuchte einen solchen Hain und durfte der Zeremonie für die Urmütter beiwohnen. – Danquah, der Meyerowitz kritisiert, behauptet (in 1952, S. 364), es gäbe keine Evidenz, dass die Königinmutter jemals allein regierte. Seine Kritik ist typisch: Eine Wissenschaftlerin wird von männlichen Experten in deren Disziplin kritisiert, weil sie das weibliche Element in einer bestimmten Kultur zu sehr betone. Offenbar hat sie die Regel gebrochen, dass man das weibliche Element überall vernachlässigen oder an den Rand schieben muss, um jede Idee bezüglich einer matriarchalen Sozialordnung zu verhindern. 9 Mair: African Marriage, S. 116–117.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
über die Regeln des sozialen Gefüges und das sexuelle und eheliche Leben belehrt. Die Zeremonie beginnt mit einem Bad im nächsten Fluss, danach wird zum ersten Mal das Anlegen des Frauengewandes gefeiert. Alle Arten von Beschneidung an Mädchen oder Knaben, wie sie im islamischen Afrika weit verbreitet sind, werden wegen des Blutvergießens und der Verstümmelung von den Akan verabscheut; es ist für sie ein Sakrileg gegen die natürliche Unversehrtheit des Leibes.10 Jede Clanmutter, die in ihrer Sippe die »Königin« ist, sitzt bei allen wichtigen Anlässen in ihrem Haus genauso auf einem Thronschemel wie die Königinmutter während ihrer Regentschaft auf ihrem königlichen Thron. Die Thronschemel der Clanmütter sind weiß, während die Königinmutter als eine Tochter der Mondgöttin auf einem silbernen thront (Abb. 27 und 28). Die Prinzessinnen und Prinzen, die sie geboren hat, werden als »Sterne« betrachtet, die sie umgeben, wie die Sterne den Mond am Himmel umgeben. Als die Königinmütter begannen, einen Sohn als König und Co-Regenten einzusetzen und dieser nun, als »Kind des Mondes«, auch einen silbernen Schemel erhielt, besaßen die Königinmütter manchmal Thronschemel aus Perlen (Beispiel Wenkyi). Denn Perlen symbolisieren das weibliche Blut und die Mutterlinie.11
Abb. 27: Der Silberne Thronschemel der Königinmutter von Mampon (Akan) (aus: Robert S. Rattray: Ashanti, Oxford 1923, Clarendon Press, S. 295)
10 A.a.O., S. 119–120; Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 30–31; Baumann/Thurnwald/Westermann: Völkerkunde von Afrika, S. 309. 11 Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 62, 96; dieselbe: The Sacred State, S. 37; Rattray: Ashanti; Robert S. Rattray: Religion and Art in Ashanti, London 1947, Oxford University Press; Robert S. Rattray: Ashanti Law and Constitution, Kumasi, London, Oxford 1956, Basel Mission.
7.2 Die Königinmutter und die früheste Form der Akan-Reiche
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Abb. 28: Die Königinmutter von Mampon (Akan) zeigt ihrer ältesten Tochter, wie der Silberne Thronschemel durch magische Zeichen geweiht wird. (aus: Robert S. Rattray: Ashanti, Oxford 1923, Clarendon Press, S. 300)
In ihrer magischen Rolle war die Königinmutter, genauso wie die Mondgöttin, vor allem Regenbringerin. Ihr jährliches Fest für die Saaten war ihrer Fähigkeit, Regen zu machen, gewidmet. Mit einer neolithischen Steinaxt als »Donnerkeil« brachte sie Blitz und Donner und ließ den Regen fallen. Wenn es Dürre gab, veranstaltete sie mit den Prinzessinnen eine große Prozession, bei der ein Wasserbecken mitgetragen wurde, und während sie ein weibliches Tier opferte, flehte sie die Mondgöttin um Regen an. Dieses Ritual besteht heute noch. Außer dem Wasser beherrschte die Königinmutter auch das Feuer, denn dieselbe Prozession wurde bei einem Buschbrand ausgeführt. Auch Epidemien versuchte sie zu bannen, indem sie mit Asche die Straßen der Stadt verschloss, so dass der Tod nicht hineinkommen konnte.12 Wenn die Königinmutter starb, kehrte sie ins Reich der Mondgöttin heim, wo nach ihrem Glauben alle ihre Vorgängerinnen wohnen. Sie galt nun selbst als göttliche Ahnin, die ihrer Nachfolgerin, eine ihrer Töchter, den Weg weisen konnte. War sie die Gründerin eines Reiches gewesen, nahm sie in der Ahninnenverehrung einen prominenten Platz ein. Bei diesen Zeremonien wurden allen Ahninnen, sowohl denen des königlichen wie der gewöhnlichen Clans, große Opfer dargebracht, die aus 12 Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 28–30, 83.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Speisegaben und Tieropfern bestanden. Die Verehrung der königlichen Ahninnen war ein zentraler, öffentlicher Akt.13 So hat die ursprüngliche Form einer matriarchalen Konföderation in Afrika ausgesehen, welche die Akan stets wieder herstellten, wenn eins ihrer Reiche zerstört worden war und die Königinmutter oder eine Prinzessin der königlichen Linie auswanderte, um mit den Flüchtlingen einen neuen Stadtstaat zu gründen. Auch in friedlicheren Zeiten konnte eine königliche Prinzessin mit ihrem Gefolge fortziehen, sei es wegen Landknappheit oder Wassermangel oder wegen Uneinigkeit im Stadtstaat, die nicht beigelegt werden konnte. Jedenfalls hat sich von frühester Zeit an bis heute – trotz aller patriarchalen Angriffe – die Institution der Königinmutter als »Besitzerin« und Regentin des Reiches, begleitet von einem Kronrat der Clanmütter, erhalten. Ist das an sich schon eine erstaunliche Tatsache, so ist es die Art der Politik, welche die Königinmütter machten, nicht weniger. Sie knüpften politische Verbindungen und gründeten Reiche allein durch Gastfreundschaft, Liebe und Heirat. Denn die Königinmutter regierte allein auf dem Boden von Blutsverwandtschaft, die durch gegenseitige Wechselheirat entsteht, und durch traditionelle Glaubensinhalte. Tribute und Steuern wurden nicht eingetrieben; jeder gewöhnliche Clan behielt gegenüber dem königlichen Clan seine Autonomie und Autarkie. Reichtum floss dem königlichen Clan nur durch die Organisation des ausgedehnten Handelsnetzes zu, das in seinen Händen lag. So hatte die Königinmutter ihre Stellung als »Erste unter Gleichen« ausschließlich als Gründerin und Hohepriesterin des Reiches inne, das heißt, durch Tradition und Religion. In diesem Sinne heißt diese Gesellschaftsform hier »sakral«, sie war eine »Thea-kratie«, denn die Königinmutter verkörperte die höchste Göttin.
7.3
Matriarchale Könige bei den Akan
Die Konföderationen der Akan bildeten nicht nur Stadtstaaten, sondern sie wuchsen durch intensive Bündnispolitik und Handelsbeziehungen zu regionalen Reichen heran, die diesen Namen verdienen. Das Reich von Bono Mansu im nördlichen Ghana umfasste sieben Clans und das letzte Akan-Reich der Aschanti im südlichen Ghana sogar acht Clans mit ihren zahlreichen Seitenlinien. Die Konföderation von Bono Mansu als das glanzvollste Akan-Reich soll uns jetzt als Beispiel für die spätere Form der Akan-Reiche dienen. Als die einzelnen Sippen durch Bevölkerungswachstum größer wurden, lebten sie nicht mehr in der Gründungsstadt zusammen, sondern jeder Clan baute seine eigene Stadt mit umliegenden Dörfern und Feldern. Die Stadt der Königinmutter wurde zur Hauptstadt. Das Heiratssystem, das die Sippen untereinander verband, wurde nun äußerst komplex. Da sich ihre Aufgaben vervielfältigten, regierte die Königinmutter mit einem Administrator, dem »Koronti-hene«, der ihre Anweisungen in praktische Politik umsetz13 Meyerowitz: The Sacred State, S. 149–156.
7.3 Matriarchale Könige bei den Akan
219
te. Dieses Amt konnte sie jedem Mann, den sie ehren wollte, übergeben, sogar einem Fremden, es hing nicht von der königlichen Linie ab. Anders verhielt es sich mit sakralen Ämtern wie dem Heiligen Königtum. Die Königinmutter setzte nun einen »Ohene« als Priesterkönig ein, der sie bei ihren religiösen Aufgaben unterstützte. Diesen wählte sie aus ihren Söhnen aus, ein Vorrecht, das sie bis in die jüngste Zeit behielt. Der König verkörperte als junger MondKönig mit dem Titel »Hochgeboren vom Mond« den männlichen Aspekt der Mondgöttin. Bevor das Königtum des Sohnes eingeführt wurde, verkörperte ein schöner, junger Liebhaber der Königinmutter den männlichen Aspekt des Mondes. Nachdem er von der Königinmutter erwählt worden war, verband er sich im heiligen Hain in der Heiligen Hochzeit mit ihr in ihrem Aspekt als Liebesgöttin, oder er feierte die Hochzeit mit der Erbprinzessin. Beim Neujahrsfest der Akan zur FrühlingsTagundnachtgleiche, bei dem früher das Totemtier des königlichen Clans geopfert wurde, erlitt der junge Liebhaber den Tod. Nach dem Glauben der Akan machte dieses Opfer die Erde fürs kommende Jahr fruchtbar, denn es wurde ihr das Beste zurückgegeben, das die Menschen zu schenken hatten. Die Gebete, die dieses Fest begleiteten, galten ausschließlich der Wohlfahrt der Königinmutter, reichlichem Regen und der Fruchtbarkeit der Frauen, Tiere und Saaten. Als Söhne von Königinmüttern Könige wurden, erlitten sie denselben Tod. Später wurde ein Ersatz für den König eingesetzt, sein »Seelenträger«, ein ihm besonders nahe stehender Mensch, der im Opferritual den König verkörperte und an seiner Stelle starb. Im Laufe der Zeit wurde das Ritual der Heiligen Hochzeit immer seltener von der Königinmutter selbst ausgeführt, stattdessen häufiger vom König mit seiner Lieblingsfrau. Das Königsopfer wurde mehr und mehr zu einem nur symbolischen Akt.14 Der inthronisierte König stand einem Rat aus den männlichen Clanhäuptern vor, sie waren die Mutterbrüder der Clanmütter. Auch diese Sippenoberhäupter beiderlei Geschlechts tragen Ehrentitel: »Abusua« ist das Akan-Wort für »Sippe«, und die Titel »Abusua-hemmaa« oder »Obaapanyin« in der Bedeutung »Clan-Königin« benennen das weibliche Sippenoberhaupt; das männliche Sippenoberhaupt heißt entsprechend »Abusua-hene« oder »Abusuapanyin«, was »Clan-König« bedeutet. Jeder Clan besitzt sein eigenes Totemtier, das als kleine Figur auf den großen Szepterstäben der weiblichen und männlichen Clanhäupter prangt. Auf diese Weise ausgezeichnet sind sie als weiblicher Kronrat im Palast der Königinmutter oder als männlicher Kronrat im Palast des Königs fast ständig anwesend. Der König organisierte gemeinsam mit den männlichen Clanhäuptern die Aufgaben der Männer im Reich, die mit auswärtigen Angelegenheiten zu tun hatten: das Roden von Wäldern und Trockenlegen von Sümpfen, der Bau von Straßen und Märkten, die Organisation des Handels. Um bei einem wachsenden Reichsgebilde alles ausführen zu können, stand ihm ebenfalls der »Koronti-hene« als Administrator bei, der in diesem Stadium im Namen der Königinmutter und des Königs, später nur noch des Königs, handelte. 14 Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 51–61.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Trotz seiner neuen Stellung basierte auch der Einfluss des Königs ausschließlich auf dem Netz von Clan-Beziehungen und seinem priesterlichen Amt, das heißt, auf Verwandtschaft und Religion, und zwar bis in die jüngste Zeit hinein. Er war in erster Linie ein Heiliger König als Repräsentant göttlicher Kräfte, und als dieser wurde er geachtet. Er hatte nicht die Möglichkeit zu befehlen, denn für jede offizielle Handlung brauchte er die Zustimmung aller Männer seines Rates. Und hinter jedem Mann im Rat stand wiederum das weibliche Clan-Oberhaupt, die Sippenmutter, mit ihrem gesamten Clan, ohne deren Zustimmung kein Mann im Rat des Königs etwas entscheiden konnte.15 Die Königinmutter konnte schon zu Lebzeiten ihr Amt an eine ihrer Töchter, die sie auswählte, übertragen. Diese Erbprinzessin, Schwester des regierenden und Mutter des künftigen Königs, trug dann den Titel »Ohemmaa« und war das Oberhaupt des Reiches. In solchen Zeiten regierte der König vorübergehend mit beiden Frauen zusammen: der alten Königinmutter als Ratgeberin und der jungen Königinmutter als Reichsoberhaupt. Die junge »Ohemmaa« verkörperte dabei den Aspekt der Liebesgöttin, die mit dem Planeten Venus assoziiert wurde. Dieser Venus-Aspekt bezieht sich auf ihre weibliche Fruchtbarkeit. Der Liebesgöttin glich die junge Königinmutter, die Schwester des Königs, auch darin, dass sie sich Liebhaber und Partner frei wählen konnte, so oft und so viele sie wünschte. Ihre unbegrenzte erotische Freiheit unterschied sich jedoch nicht von der jeder anderen königlichen Prinzessin, die durchwegs Polyandrie pflegten.16 Die Kinder der Königin und Prinzessinnen gelten als »vaterlos«, was schicklich war, denn nur ein »vaterloses« Kind konnte König werden. Diese erotischen Vielfachbeziehungen der Frauen des königlichen Clans spielten für die Bildung von Bündnissen eine wichtige außenpolitische Rolle für das Reich.17 Die Situation war und ist anders für die gewöhnlichen Akan-Frauen. Eine Frau heiratet nicht eher, als bis sie legitime Kinder bekommen kann, denn die Ehe wird heute als ehrenhafter Stand betrachtet. Die Qualifikation für die Ehe ist jedoch traditionell, sie hängt von der Ausführung von »Bragro«, den Pubertätsriten, bei Beginn der Menstruation ab. Dennoch sind »vaterlose« Kinder kein Problem, man sieht darüber hinweg, und der Mutterbruder oder Großmutterbruder (»Onkel« oder »Großonkel« mütterlicherseits) gibt als nächster männlicher Verwandter dem Kind einen Namen.18 – Das oben beschriebene Verhältnis zwischen Königinmutter und König begann sich im 14. Jahrhundert zu ändern, denn der bei anderen Völkern weit verbreitete Sonnenkult um den König machte sich auch bei den Akan bemerkbar. Bono Mansu 15 Meyerowitz: The Sacred State, S. 27–28. 16 Die Akan praktizieren keine Polyandrie an sich. Die »Ohemma« jedoch pflegt ein offenes Haus, es wird von ihr erwartet, alle männlichen Besucher zu beherbergen und zu versorgen. Weder verschließt sie ihre Tür, noch wird von den Besuchern erwartet, dass sie vor dem Eintreten anklopfen. Diese Situation trifft nur auf die »Ohemma« zu (persönliche Information von Donkoh). 17 Meyerowitz: The Divine Kingship, S. 29–30. 18 Persönliche Information von Donkoh.
7.3 Matriarchale Könige bei den Akan
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war dank seines ausgedehnten Goldhandels sehr wohlhabend geworden und zu einem großen Reich herangewachsen. Es war Gold entdeckt worden, wobei alles Gold im Land dem König gehörte, der nun Goldstaub als Währung einführte – was seinen Einfluss beträchtlich erhöhte. Gold galt zudem als Metall der Sonne. So wurde die Einführung des Sonnenkultes, der bei anderen Völkern patriarchale Aspekte hatte, sehr begünstigt. Ursprünglich nahmen die Akan an, dass die Sonne jeden Morgen von der Mondgöttin wiedergeboren wird und ihren männlichen Aspekt verkörpert. Aber daraus wurde allmählich ein selbständiger Sonnengott, und der König galt hinfort als Abbild der Sonne und war der Priester des Sonnengottes. Als Hochkönig, der über den Clan- und Stadtkönigen stand, diente ihm ab jetzt der Sonnenkult dazu, seinen höheren Status hervorzuheben. Er allein galt nun als »Sohn der Sonne«, während die minderen Könige »Söhne des Mondes« blieben. Der »Sohn« des Sonnengottes war er aber nicht in einem verwandtschaftlichen Sinne, sondern nur durch sein Amt. Als Mensch blieb er mit seiner eigenen weiblicher Linie verbunden und war durch die Königinmutter auch ein »Sohn des Mondes«. Wenn die Könige von Bono Mansu daher Zeremonien für ihre Person vollzogen, saßen sie auf einem silbernen Thronschemel. Vollzogen sie hingegen Zeremonien für das Reich, dann gebrauchten sie dazu einen goldenen Thron. Konstitutionell blieb der König also ein Sohn der Königinmutter, nach wie vor konnte er keine Entscheidungen ohne ihre Einwilligung treffen. Deshalb konnte er, trotz religiöser Sonnenverehrung, kein patriarchaler Monarch werden (Abb. 29).19 Noch andere Faktoren haben dies verhindert: Gemäß dem Sonnenkult galt der König als Quelle allen solaren Lebens und hatte die heilige Aufgabe, dem Reich Leben einzuhauchen – was außer der magischen noch eine soziale Seite hatte. Der Polyandrie der königlichen Prinzessinnen entsprach nämlich die Polygynie des Königs. Diese war allerdings keine von ihm bestimme, wahllose Polygynie, sondern sie folgte einem vorgegebenen System, das für den Zusammenhalt des Reiches große innenpolitische Bedeutung besaß. Denn der König war offiziell vermählt mit der Clan-Königin oder der Clan-Erbtochter jedes gewöhnlichen Clans seines Landes. Bei der großen Ausdehnung des Reiches von Bono Mansu, in dem die Clans noch viele Seitenzweige hatten, wurde die Zahl der königlichen Gattinnen daher beträchtlich, idealerweise sollte sie 3333 Frauen betragen – es ist eine heilige und daher nur symbolische Zahl. Viele dieser wichtigsten Frauen des Landes wohnten bereits in der Hauptstadt, nämlich im Palast der Königinmutter, deren weiblichen Kronrat sie darstellten. Gleichzeitig weilten ihre Brüder oder Söhne, die gewählten Clan-Könige, als männlicher Kronrat im Palast des Königs. Für diese Clan-Königinnen oder ihre Erbtöchter war es eine große Ehre, die Gattinnen des Königs zu sein, denn sie fanden sich dabei keineswegs in einer rechtlosen Position wie die Frauen im Harem eines patriarchalen Herrschers. Hinter ihnen stand ihre ganze Sippe, und im Palast des Königs weilten ihre Brüder und Söhne. So konnten sie doppelten Einfluss auf den König nehmen: persönlich als Gattinnen, ebenso waren ihre Interessen im männlichen Kronrat vertreten. Der König hatte die Pflicht, mit ihnen in gutem 19 Meyerowitz: The Divine Kingship, S. 29, 33, 95; dieselbe: The Akan of Ghana, S. 82–85, 106.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Abb. 29: Der Heilige König von Bono-Tekyiman (Akan) Nana Kwakye Ameyaw II in seinem Ornat (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 94; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency)
Einvernehmen zu leben. Allerdings mussten diese einflussreichen Königsgemahlinnen einem strengen Monogamie-Gebot folgen, denn nur so konnte der König ihre Kinder auch als die seinigen identifizieren.
7.4 Die Religion der Akan und die sakralen Rollen von Königinmutter und König
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Darauf kam es an: Die Anerkennung dieser nur auf den König begrenzten Vaterlinie diente zum Aufbau eines Gefüges von Loyalität zwischen dem Königshaus und allen Clans des Landes. Die Töchter und Söhne des Königs von diesen Clan-Königinnen galten zwar gemäß matrilinearen Regeln nicht als Prinzessinnen und Prinzen des königlichen Clans. Ihr Titel ist »Ahenemma«, das heißt »Kinder des Königs oder Thrones«.20 Aber von ihren Müttern erbten sie die Würde, einst die Thronschemel ihrer Sippen als Clan-Königin und Clan-König zu besetzen und ihre Sippen zu leiten. Zugleich verstanden sie sich als Kinder des Königs. Diese Konstellation der verwandtschaftlichen Verbindungen mit dem Königshaus war dem Frieden im Reich äußerst zuträglich. Die anderen Töchter und Söhne des Königs, die keine ClanThrone erbten, bekleideten hohe Ämter im Reich und gehören zum engsten Kreis um die Königinmutter und den König. So war der König tagsüber nur von seinen Söhnen umgeben, die alle offiziellen Posten innehatten. Bei seinem Tod fielen diese Ämter jedoch dahin, ebenso wie die seiner Töchter beim Tod der Königinmutter, denn niemand von ihnen hatte ein Erbrecht darauf. Für diese Menschen war der Tod des Königs oder der Königinmutter deshalb eine persönliche Katastrophe, und nicht wenige von ihnen zogen es früher vor, ihren Reichslenkern in den Tod zu folgen. Dieses zusätzliche Gefüge von Verwandtschaft in der Vaterlinie, das allein auf den König beschränkt war, eignete sich bestens, auch ein großes Reich nach den Prinzipien von Liebe, Heirat und Verwandtschaft zusammenzuhalten. Das KöniginKönigreich von Bono Mansu war, wie die anderen Akan-Reiche, nur durch Überredungskunst, Heiratspolitik und Handel geschaffen worden. Es dehnte sich dadurch aus, dass angrenzende Stadtstaaten sich wegen des Handels und Schutzes freiwillig diesem Reich anschlossen. Die Bono-Reichslenker, Königinmutter und König, regierten nur durch diese wechselseitigen Loyalitäten, es bestand kein Herrschaftsverhältnis mittels Waffen oder Tributen. Die einzige Verpflichtung aller Clans und Großfamilien war es, sich mit der königlichen Familie zu vermählen. Noch heute in nachkolonialer Zeit werden die Königinmütter und Könige der Akan im ehemaligen Gebiet von Bono Mansu (Brong) sehr geachtet. Auch wenn sie innerhalb der modernen Staaten nicht mehr unabhängig sind, haben sie noch immer großen Einfluss auf die Menschen durch das weit reichende Verwandtschaftsnetz und ihre sakrale Autorität.21
7.4
Die Religion der Akan und die sakralen Rollen von Königinmutter und König
Die höchste Gottheit der Akan ist Nyame, das Universum, und Nyame ist – entgegen neuen Tendenzen, die von der christlichen Mission beeinflusst sind – eine Göttin
20 Persönliche Information von Donkoh. 21 Meyerowitz: At the Court, S. 82.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
und kein Gott. Wie es mit vielen matriarchalen Schöpfergöttinnen geschah, wurde sie durch die christliche Missionierung vermännlicht und gilt seither als der höchste Geist, der »selbsterschaffen, unendlich, absolut, ewig und Schöpfer von allem ist« – wie es die christliche Lehre verlangt.22 Im Gegensatz dazu gibt es eine AkanMythe, die ein sehr altes Bild von Nyame enthält: Darin stieg sie als eine wunderschöne Frau namens »Ankyaw Nyame« vom Himmel herab, von ihrem Gefolge begleitet, und gebar Kinder, welche die Ahnen der Akan wurden.23 Nyame hat viel Ähnlichkeit mit Nout, der kosmischen Göttin der altägyptischen Kultur. Wie diese ist Nyame die Schöpferin von allem und die Große Mutter. Sie zeigt sich als der sternenübersäte Nachthimmel mit dem Mond darin, denn sie ist das »Große kreisende Rad« des Firmaments. Obwohl der Mond einen anderen Namen hat, nämlich »Bosome«, erscheint Nyame auch als die Mondgöttin, die als Teilaspekt für das ganze Universum steht. Das traditionelle Jahr der Akan folgte dem Mondkalender, bei dem ein Monat genau achtundzwanzig Tage umfasste. Nyame trägt gleichzeitig das Weibliche und das Männliche in sich, letzteres gebiert sie jeden Morgen in Gestalt der Sonne im Osten wieder, genauso wie die Göttin Nout den ägyptischen Sonnengott Re. Ihre Doppelnatur wird durch die Elemente Feuer und Wasser charakterisiert. Sie schuf die Sonne aus Feuer, aus Wasser schuf sie das Leben und die Menschen. Nachts sendet sie mildes Licht und Feuchtigkeit vom Himmel und lässt die Vegetation wachsen, denn sie ist sanft wie der Mond. Tags schießt sie die feurige Kraft der Sonne als Lebenspfeile auf die Erde, deshalb ist sie auch die »Immer bereite Schützin«. Nicht nur die Königinmutter als Hohepriesterin ist ihre Verkörperung, sondern Frauen gelten allgemein als eine Erscheinung der Nyame, weil sie die Quelle des Lebens sind. Das zeigen verschiedene Bräuche wie beispielsweise dieser: Liebhaber bitten ihre Liebste, wie die Göttin »einen Pfeil auf sie abzuschießen«. Die junge Frau wirft daraufhin ihr Kleid ab und steht nackt vor ihm, bis auf ihren Perlengürtel und das Lendentuch. So treffen ihre »Pfeile« direkt ins Herz des Betrachters. In dieser Tradition wird der weibliche Körper als Inkarnation aller Schönheit betrachtet und entsprechend verehrt. Schönheit steht überhaupt hoch im Kurs.24 Nach der Akan-Mythologie teilte Nyame die Welt in drei Sphären ein: den Himmel, die Erde und die Unterwelt. Der Himmel ist ihre eigentliche Sphäre, aber sie regiert auch die anderen Regionen in ihren beiden andern Aspekten. Als »Asaase Afua« ist sie die Göttin der irdischen Schöpfung aus Liebe und wird symbolisiert durch den Achtzackstern und die Venus. Sie lässt alles wachsen und verkörpert
22 Eva Meyerowitz berichtet, dass die höchste Akan-Gottheit in der frühesten Glaubensvorstellung als ausschließlich weiblich galt. Ihr Blick als Forscherin mag ihr geholfen haben dieses Muster zu erkennen, das ihre männlichen Kollegen übersahen oder ignorierten; außerdem hatte sie in den 1940igern Zugang zu mündlichen Traditionen, den weiße Ethnologen nicht hatten. Selbst wenn die Männlichkeit von Nyame heute allgemeiner Glauben bei den Akan-Völkern ist, spiegelt es lediglich die Folge der permanenten christlichen Missionierung. 23 Donkoh, S. 4. 24 Meyerowitz: The Sacred State, S. 69–71.
7.4 Die Religion der Akan und die sakralen Rollen von Königinmutter und König
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die grünende, fruchtbare Erde und hatte später den Sonnengott »Nyankopon« als Gefährten. Die Erotik ist ihre Kraft, sie ist die Retterin und Bewahrerin des Lebens. Als »Asaase Yaa« regiert Nyame die Unterwelt und wird durch die unfruchtbare Erde verkörpert. Ihr Name »Alte Mutter Erde« verweist auf die Greisingestalt der Göttin. Ihre Symbole sind der Sechszackstern und der Planet Jupiter. Sie ist der Geist der Tiefe und die Schöpferin der Unterwelt, die Toten liegen in ihren »Taschen« begraben. Ihre heiligen Tiere sind Skorpion und Schlange, von denen insbesondere die Schlange ein Symbol für Tod und Wiedergeburt ist. Niemand darf im Busch der trockenen Steppe, also außerhalb der fruchtbaren Felder, einen Liebesakt vollziehen, denn das würde Asaase Yaa beleidigen. Das gilt verstärkt für diejenigen, die töten müssen, die Jäger und Krieger; sie unterliegen einem strengen Sexualtabu, weil Asaase Yaa als Todesgöttin alle generativen Handlungen hasst. Mit diesen drei Gestalten ist auch Nyame eine Dreifaltige Große Göttin. Die Dreifache Große Göttin der städtischen, matriarchalen Kulturen wurde in Westasien (»Naher Osten«), dem Mittelmeerraum und Europa in vielen Erscheinungen und unter vielen Namen verehrt. In keinem ihrer Aspekte besaß Nyame öffentliche Tempel, da sie der Kosmos und die Erde selber ist. Nur niedere, begrenzte Gottheiten haben Behausungen, Nyame brauchte solche nicht. Ein besonderer Baum war ihr in jeder Stadt und in jedem Hof geweiht, das Herdfeuer in jedem Hause war ihr heilig, und ein »Ewiges Feuer« brannte für sie im Palast des königlichen Clans. Als Todesgöttin empfing sie Trankopfer, die auf die Erde gegossen wurden, und auch das von Jägern und Kriegern vergossene Blut pflegte sie zu trinken. »Nyankopon« bedeutet »Wahrhaft großer Name« und ist die Personifikation der Sonne als feurige, Lebensfunken sprühende Seele der Nyame. Die Sonne wurde nämlich als »Kra« oder Seele des Universums aufgefasst, und der König war diese Seele auf der Erde. Der Löwe galt als das heilige Tier der Sonne. »Nyankopon« heißt wegen seiner Leben spendenden Kraft auch »Derjenige, der das Gegengift gegen die Schlange kennt«. Wenn er in Gebeten angerufen wird, vertreibt er alles Traurige und Dunkle, und als sichtbares, strahlendes Gestirn am Himmel brauchte auch er keine Tempel.25 »Kra«, der unsterbliche, lichte Lebensfunke auch in allen Menschen, steigt nach Akan-Glauben nicht wie die persönliche, erdgebundene Seele nach dem Tode in die Unterwelt hinab, sondern diese göttliche Seele fliegt in Gestalt eines Vogels zu Nyame zurück. Sie weilt dort als Ahnenseele bei den Sternen, bis sie zur Wiedergeburt auf die Erde zurückkehrt. Die Vormütter jeder Königinmutter weilen dagegen im Mond, und die Ahnen jedes Königs, die nicht seine Vorväter, sondern seine Amtsvorgänger sind, weilen in der Sonne. In der traditionellen Akan-Kultur war es daher die Hauptaufgabe der Königinmutter als Hohepriesterin und des Königs als Erstem Priester, die Verehrung dieser königlichen Ahninnen und Ahnen zu pflegen, damit ihre Lichtkräfte aus dem Himmel ständig dem Reich zufließen würden. Da beide als die Reinkarnationen ihrer
25 A.a.O., S. 71, 75–81. Siehe zur Struktur matriarchaler Mythologie, die in der traditionellen Akan-Kultur klar hervortritt, Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Vorgängerinnen und Vorgänger im Amt galten, war ihre Verbindung zu diesen Ahnenseelen besonders eng. Die Königinmutter übte die Ahnenrituale im »Haus der Throne« in ihrem Palast aus, wo sie alle Thronschemel ihrer Vorgängerinnen aufbewahrte, und der König vollzog ihn im »Haus der Throne« im Königspalast. Dort wurden bei großen, öffentlichen Festen den Thronschemeln, die nach dem Tod ihrer Besitzerinnen und Besitzer mit Ruß geschwärzt worden waren, Speisegaben und Tieropfer dargebracht. So konnten sich die Ahninnen und Ahnen, die man bei diesem Anlass auf ihren Thronen sitzend glaubte, mit den Lebenden am Fest erfreuen. Diese öffentlichen Feste waren die großen Apo-Zeremonien am Ende der Aussaat zur Frühlings-Tagundnachtgleiche und nach der Ernte zur Herbst-Tagundnachtgleiche als dem Gegenstück. Diese beiden Tage galten als »Neujahrstage« und waren von den seltenen Auftritten der Königinmutter und des Königs in der Öffentlichkeit begleitet. Außer an diesen großen Festen wurden die Ahnenwesen achtmal im Jahr bei den Adae-Zeremonien verehrt, die Königinmutter und König für ihre weiblichen oder männlichen Ahnen zelebrierten, wobei die neunte Zeremonie mit dem Jahresende zusammenfiel. Auch bei diesen Festen gab es eine öffentliche Gala der beiden königlichen Oberhäupter.26 Doch nicht nur die Festtage, auch jeder Alltag der Königinmutter und des Königs waren geprägt von religiösen Handlungen. Denn als Hohepriesterin und Priesterkönig des Reiches galten sie zugleich als die irdischen Abbilder von Nyame und Nyankopon. Die ideale Königinmutter sollte still und friedvoll sein wie der Mond und ihr Leib auch so zart und schön wie der Mond. Silber ist ihre Farbe, sie trug in Bono Mansu deshalb reichen Silberschmuck, und Silber schmückte ihre Reichsinsignien. Zu den öffentlichen Zeremonien erschien sie in ihrer Sänfte, und zwar zuletzt, denn es gehörte sich für sie als höchster Person im Reich, den König auf sich warten zu lassen. Sie hielt dabei auf ihrem Schoß ein Kästchen voll Silberstaub, mit dem sie spielte und den sie in die Luft warf. Jedes Mal wenn der Neue Mond erschien, tanzte sie voll Freude in einem silberdurchwirkten Gewand. Wenn sie starb, wurden ihre Leibesöffnungen mit Silberstaub verschlossen und ihr Leichnam beim Begräbnis mit Silberschmuck überhäuft. Ihr Thronschemel stand auf der Haut eines schneeweißen Schafes, um ihre Sanftheit und Friedensliebe auszudrücken, während der Thron des Königs auf eine Löwen- oder Leopardenhaut gestellt wurde, was seiner feurigen Seele entsprechen sollte. Wenn er zornig wurde, besänftigte sie ihn. Machte er einen Fehler, zögerte sie nicht ihn öffentlich zu kritisieren. Wenn er ein Todesurteil verhängte, so begnadigte sie oft, besonders wenn die Schönheit des Delinquenten sie entzückte. Beim
26 Meyerowitz: The Sacred State, S. 85, 89, 90 149–156; Rattray: Ashanti, S. 92–120. – Rattray beschreibt hier ausführlich die Ahnen-Zeremonie im »Haus der Throne« des AschantiKönigs, danach die Ahninnen-Zeremonie der Königinmutter (bei dieser durfte er nicht dabei sein, aber sie wurde ihm beschrieben), außerdem eine Ahnen-Zeremonie in BonoTekyiman, wo noch ältere Traditionen bewahrt wurden. Zu Recht kritisiert er das herabsetzende Wort »Fetisch« für die Ahnen- und Götter-Figuren der Afrikaner.
7.4 Die Religion der Akan und die sakralen Rollen von Königinmutter und König
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höchsten Rat saß sie nur einen Schritt hinter dem König und beriet ihn fortwährend mit leiser Stimme, denn sie sprach sanft, nicht laut in der Öffentlichkeit. Ihr Wort durfte niemals übergangen werden, denn sie sprach für alle Frauen. Daher konnte sie faktisch Entscheidungen der gesamten Ratsversammlung und des Königs nachträglich ändern. Im Falle plötzlicher Gefahr warf sich der König vor sie und schützte sie mit seinem eigenen Leib. In ihrem Palast führte sie ihren eigenen Hof, denn dort lebte der gesamte königliche Clan, mit Ausnahme des Königs, der seinen eigenen Palast besaß. Sie war das Oberhaupt des königlichen Clans. Insofern war sie nicht nur Eigentümerin des Reiches, sondern auch das Clanoberhaupt des Königs. Sie erzog die Prinzessinnen und Prinzen des königlichen Clans und die Erbtöchter der gewöhnlichen Clans, die matrilinearen Erbinnen der Clan-Throne, die ja gleichzeitig Töchter des Königs waren. Das sicherte ihr den größten Einfluss in alle Clans hinein. Außerdem weilten die Schwestern und Nichten von Königen der verbündeten Völker an ihrem Hofe, die sie zu künftigen Königinmüttern erzog. Erbtöchter der Sippen dieser verbündeten Völker, die einmal ihre eigenen Sippen führen würden, wohnten ebenfalls hier. Auf diese Weise erstreckte sich in Bono Mansu der Einfluss der Königinmutter jenseits des eigenen Reiches auch in alle Clans der verbündeten Völker hinein. Außerdem lebten die Gattinnen des Königs bei ihr, von denen die meisten als Oberhäupter ihrer eigenen Sippen zu ihrem weiblichen Kronrat gehören. Sie war es auch, die des Königs erste Gattin, seine Hauptfrau, selbst für ihn aussuchte. Damit war sie in der Lage, das gesamte komplexe Gefüge der Heirats- und Verwandtschaftspolitik zu steuern, das bei jedem matriarchalen politischen System tragend ist. Außerdem war die Königinmutter die Schutzherrin aller Frauen im Reich. Viele Königinmütter blieben in stetem Kontakt mit den Frauen in ihrem Land, indem sie durch die Städte reisten und sich selbst von deren Wohlergehen und dem ihrer Kinder überzeugten. Es war üblich, dass bei dem wichtigsten Fest der Akan, der Initiation der Mädchen, die Königinmutter präsidierte. Der König hingegen reiste nie, sondern er blieb früher unsichtbar in seinem Palast.27 In den Zeiten davor wohnte sogar der König im Palast seiner Königinmutter, bevor Könige im 14. Jh. begannen, sich ihre eigenen Paläste zu bauen. Aber auch dann war des Königs Hof nur eine Nachbildung des Glanzes des Hoflebens der Königinmutter; das galt für seinen männlichen Kronrat bis hin zum königlichen Thronträger, Sonnenschirmträger und Sandalenträger. Thronschemel, Sonnenschirm und Sandalen waren die Insignien seines Amtes in Nachbildung der Insignien der Königinmutter. Der Tagesablauf des Königs richtete sich nach der Sonne. Das Fenster seines Schlafraumes öffnete sich nach Osten, so dass die Strahlen der aufgehenden Sonne ihn wecken konnten. Dann näherte sich ihm der älteste seiner Söhne, um ihm die Neuigkeiten aus der Hauptstadt zu überbringen. Den Vormittag verbrachte der König im Empfangssaal, wo ihn der Kronrat und seine Söhne in hohen Ämtern erwarteten, um die politischen Ereignisse mit ihm zu besprechen und Entschei-
27 Meyerowitz: The Sacred State, S. 37–39, 41, 44–52; dieselbe: At the Court, S. 75–79; dieselbe: The Akan of Ghana, S. 87–90.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
dungen zu finden. Am Nachmittag gab er sich der Muße hin. Sobald die Sonne sank, zog sich der König zurück. Goldene Lampen wurden in seinen Zimmern angezündet, und einige seiner Gattinnen kamen zu ihm. Die ihn aufsuchen durften, wurden von der Königinmutter ausgewählt, der König durfte sie weder aussuchen noch ablehnen. Es galt als schicklich, dass der König keine bevorzugte Lieblingsfrau hatte, sondern es wurde von ihm erwartet, dass er jedes Jahr mit möglichst vielen Frauen schlief. Dennoch schien sich eine Rangordnung für die »Aheneyere«, die Frauen des Königs, entwickelt zu haben, denn es gab die besonders geachteten »Ayite«, die Throngattinnen, und die besonders geliebten »Yeyere«, die Lieblingsfrauen.28 Gold ist das symbolische Metall des Königs als Repräsentant der Sonne. In Bono Mansu trug er daher bei jeder Gelegenheit den üppigsten Goldschmuck und bedeckte seinen eingeölten Körper mit Goldstaub. Eines seiner öffentlichen Statussymbole war eine goldene Axt als Zeichen des Friedens, denn sie stand für die männlichen Tätigkeiten von Bäume fällen und Höfe bauen. Außerdem war der Goldene Schemel der Thron des Heiligen Königs von Bono Mansu, der jedoch nur für die Einsetzungszeremonie und andere Staatsrituale gebraucht wurde. Später übernahmen ihn die Aschanti und machten den Goldenen Thron zu ihrem Reichssymbol. Trotz seiner Heiligkeit hatte der König in Bono Mansu keine unumschränkte Macht. Er wurde von der Königinmutter ausgewählt, und erst wenn alle männlichen Clanhäupter, der Kronrat, diese Wahl bestätigt hatten, konnte sie ihn auf den Thron setzen. Niemals konnte er ohne Konsultation mit ihr und dem männlichen Kronrat handeln. Wenn er dies dennoch tat, setzte ihn die Königinmutter zusammen mit dem Kronrat wieder ab. Als regierender König war er zuständig für die Angelegenheiten der Männer und den Handel; er organisierte Veranstaltungen, empfing Gäste und trat in Kontakt zu Fremden, und er sandte Delegationen in entfernte Königreiche. Der Tod eines Königs oder einer Königinmutter wurde als nationale Katastrophe betrachtet. Da sie für die Akan sakrale Personen waren, kam in ihren Augen damit der Kosmos durcheinander und als Folge davon die Menschenwelt. Früher folgten ihnen viele Angehörige des Hofstaates freiwillig in den Tod. Dabei war der Gedanke wesentlich, dass Königinmutter und König glücklich in der Jenseitswelt sein würden, wenn ihnen die Nächsten und Liebsten folgten. Die Akan wünschten, ihre Königinmütter und Könige im Leben wie im Tode glücklich zu sehen, damit auch das Reich glücklich wäre. Die Akan machten um diese Bräuche kein Geheimnis, obwohl das Opfer von Menschen 1901 von der englischen Kolonialmacht untersagt wurde. Der Brauch dauerte dennoch im Geheimen an, und zwar mindestens bis 1946. Denn niemand konnte den Menschen verbieten, ihrer toten Königinmutter und ihrem toten König freiwillig in den Tod zu folgen, was sie nach wie vor aus Überzeugung taten.29
28 Persönliche Information von Donkoh. 29 Meyerowitz: The Sacred State, S. 54–56, 58–59, 62–67; dieselbe: At the Court, S. 75–79, 107–110; dieselbe: The Akan of Ghana, S. 87–90.
7.5 Die Entwicklung patriarchaler Tendenzen in den Akan-Reichen
7.5
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Die Entwicklung patriarchaler Tendenzen in den Akan-Reichen
Nach dieser Phase der höchsten Entfaltung erlebte die matriarchale Kultur der Akan-Reiche einen Abstieg. Ihre matriarchalen Prinzipien wurden durch den patriarchalen Einfluss des Islam beeinträchtigt, der sich unterdessen in weiten Teilen Afrikas ausgebreitet hatte. Islamisierte Völker besaßen am Niger mächtige Reiche, wie die Reiche von Mali und Songhai (12.-15. Jh.), die fortgesetzt Druck auf ihre Akan-Nachbarn ausübten. Für diese war eine weitere Emigration nicht mehr möglich. Bereits die Einführung des Sonnenkultes, verbunden mit der eigenen Hofhaltung des Königs und seinem männlichen Kronrat, war eine Schwächung der traditionellen Macht der Königinmutter. Denn die darin auftauchende Anerkennung der Vaterlinie des Königs – wie eingeschränkt auch immer sie gehandhabt wurde – stellte eine folgenschwere Neuerung dar, die auf den Islam mit seinem Vaterkult zurückgeht. Es war der König Obunumankoma (1363–1431), der den Sonnenkult einführte. Er hatte etliche Jahre an den Höfen verschiedener sudanesischer Könige, die alle Moslems waren, verbracht, um die Kunst der Reichslenkung zu lernen. Als er dann in Bono Mansu regierte, etablierte er den Sonnenkult mit der Vaterlinie des Königs, was mehr Macht für das Königtum bedeutete. Mit der Regierung seines Bruders Takyi Akwamo (1431–1463) als seinem Nachfolger wurden die politischen Implikationen dieser Neuerung erst sichtbar. Auch dieser förderte Ideen aus dem Islam und setzte mit ungewohntem Rigorismus den Ntoro-Kult aus dem Sudan durch, der die vorher noch bestehende Machtbalance eindeutig zum Nachteil der Frauen verschob. Der Ntoro-Kult ist eine Spielart des patriarchalen Vaterkultes, und mit ihm wurde die Vaterlinie generell für alle Männer eingeführt. Die Mutterlinie konnte dennoch nicht außer Kraft gesetzt werden, sie existiert bei den Akan-Völkern noch heute. Aber nach der neuerlich geltenden Auffassung stammt jede Person in der weiblichen Linie von der Ahnfrau ab, jedoch in der männlichen Linie von einem übernatürlichen Ahn, dem Gott seiner NtoroGruppe. »Ntoro« meint dabei das Sperma des Mannes, das mit dem Wasser, das die weibliche Erde fruchtbar macht, verglichen wird. Daher wohnen die Ntoro-Geister in Gewässern wie Seen und Flüssen. Das männliche Sperma soll eine eigene Seele haben, die nach dem Tod des Mannes in einem Kind der Familie wiederkehrt. Der Vater wird deshalb als ein niederer Gott betrachtet, weil der Leben spendende Geist des »Ntoro« in ihm weilt, und von ihm erben alle seine Kinder »Kra«, die Seele. Als ein solcher niederer Gott verlangte er nun Verehrung. Diese neuen Ideen hätten jedoch wenig Wirkung gezeitigt, wenn nicht zugleich drastische Maßnahmen eingeführt worden wären, um die väterliche Autorität zu sichern. Die am meisten einschneidende Maßnahme war der Übergang von der Matrilokalität zur Patrilokalität, dem Wohnsitz der Gattin mit ihren Kindern beim Clan des Gatten. Damit verbunden war, dass der Vater nun die Kinder disziplinieren durfte und die Familienmitglieder überwachen konnte, ob sie auch seinen NtoroGott genügend respektierten. Eine weitere Maßnahme bestimmte, dass die Lebens-
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
stadienfeste – wie Empfängnis, Geburt, Hochzeit und Tod, bisher eine Sache der Muttersippe – nun eine Angelegenheit des Vaters und seines Ntoro-Gottes wurden. Zu alledem begann die Diskriminierung der menstruierenden Frau als »unrein«, und Vorschriften wegen »Unreinheit« wurden Gesetz. Die Farbe Rot, früher die Farbe ihres Blutes und des Lebens, wurde zur Farbe des Todes.30 Dieser systematische Angriff auf die Mutterlinie durch eine Serie von patriarchalen Neuerungen, alle vom umgebenden Islam stammend, diente in erster Linie der Steigerung der Macht des Königtums und des männlichen Kronrates. Die Könige hatten unterdessen dank des Goldhandels ein starkes Finanzfundament erworben, auf dessen Boden sie ihre politischen Machtansprüche durchsetzen konnten. Zugleich spalteten diese patriarchalen Maßnahmen das Reich. Mit der Einigkeit war es nun vorbei, denn weder nahmen die damalige Königinmutter noch die einfachen Akan-Frauen diese Neuerungen widerstandslos hin. Auch schlossen sich nicht alle Clans dem Ntoro-Kult an. So verweigerten ihn die Asine-Clans der Stadt Wenkyi, ebenso folgten sie dem Sonnenkult des Königs nicht, so dass es zur Spaltung kam. Das traditionsbewusste Volk von Wenkyi bildete nun seinen eigenen Stadtstaat, dessen Mittelpunkt die Königinmutter auf ihrem Perlenthron blieb; bis heute wird dort der Ntoro-Kult nicht praktiziert. In den anderen Clans und Städten löste die Einführung der patrilokalen Ehe, bei der die junge Braut ihre Großfamilie verlassen und bei der Familie ihres Gatten leben musste, heftige Gegenreaktionen aus. Man erinnert sich noch heute daran, dass unter der Regierung von Takyi Akwamo häufig Ehemänner von ihren Frauen vergiftet wurden und die »Hexerei« zunahm. Die am meisten verhasste Neuerung war, dass die Gattin nun ihren Gatten als Haushaltsoberhaupt anerkennen und ihn als Ntoro-Gott verehren sollte; obendrein sollte sie sich während ihrer Menstruation einschließen. Viele Frauen waren darüber so zornig, dass sie ihren Ehemännern fortliefen und es vorzogen Fremde zu heiraten. Kyereme Mansa, die damalige Königinmutter von Bono Mansu, konnte diese frauenfeindlichen Neuerungen nicht verhindern. Aber sie sorgte dafür, dass die Muttersippe und die Matrilinearität die entscheidenden politischen Faktoren im Reich blieben, während der Ntoro-Kult auf den Haushalt individueller Väter beschränkt wurde. Hinsichtlich der Patrilokalität verhütete sie das Schlimmste, indem sie die Kreuz-Basen-Vettern-Heirat (»cross cousin marriage«), die vorher nur für den Adel gegolten hatte, allgemein einführte. So kehrten wenigstens die Töchter der Ehefrau, die nun bei der Sippe des Gatten leben muss, bei ihrer Eheschließung wieder in die eigene Sippe zurück.31 Diese patriarchalen Neuerungen haben die traditionelle matriarchale Eheform der Akan verändert, dennoch ist die Stellung der Frauen im Volk stark geblieben. Die Frauen konnten nicht nur ihre ersten, mit allen Formalitäten geschlossenen Ehen leicht auflösen und ebenso leicht wieder heiraten – was bedeutet, dass die Matrilokalität beim Volk als die vorherrschende Lebensform bis ins 20. Jh. bestehen blieb. Noch wichtiger war es, dass die Frauen ihre ökonomische Unabhängigkeit
30 Meyerowitz: The Sacred State, S. 115–119; dieselbe: The Akan of Ghana, S. 98–99, 105–109. 31 Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 109–110.
7.5 Die Entwicklung patriarchaler Tendenzen in den Akan-Reichen
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bewahrt haben.32 Denn sie betreiben allein den Ackerbau und besitzen die Lebensmittel, außerdem kontrollieren sie die lokalen Märkte – ein Vorteil, den sie bis heute haben. Dasselbe gilt für die Frauen in anderen, stärker patriarchalisierten Gesellschaften Westafrikas, wie den Yoruba, Ibo, Dahomey, Nupe, Benin und Ewe in Nigeria.33 Der auf Takyi Akwamo folgende König Gyako I (1463–1475) führte die patriarchalen Tendenzen fort. Er baute den Ntoro-Kult aus, auch wurde jetzt die Jungfräulichkeit vor der Ehe durch ein besonderes Hochzeitsfest honoriert, und Ehebruch wurde bestraft. Die damals noch sehr junge Königinmutter Kuromo Kese ging in vehementer Opposition dagegen vor. Sie versuchte sogar, den äußerst unbeliebten NtoroKult wieder abzuschaffen, was ihr aber nicht gelang. So stärkte sie stattdessen die Religion der Göttinnen. Ihr Leben lang leistete Kuromo Kese Widerstand gegen die neue Machtpolitik der Könige gegen die Frauen. Für ihre beharrliche Opposition wurde sie später von den Frauen »die Große« genannt, während die Männer sie jedoch als »unkontrolliert«, »heftig« und »stammelnd« verunglimpften.34 Erst König Yeboa (1595–1609) stellte die traditionelle Ordnung wieder her. Er restaurierte das göttliche Königtum mit dem Sonnenkult und die Regierungsmacht der Königinmutter. Sehr religiös eingestellt besuchte er vor jeder Entscheidung die Orakel und konsultierte pünktlich und genau die Königinmutter, die seine Regierung teilte.35 Die fortwährende Beunruhigung durch den Islam blieb dennoch bestehen, und zwar innenpolitisch durch patriarchale Ideen und außenpolitisch durch aggressive, islamisierte Nachbarvölker, die das Reich von Bono Mansu wiederholt angriffen. Es entstand für die Könige die Notwendigkeit, eine eigene militärische Organisation aufzubauen, womit um 1600 begonnen wurde.36 Dabei spielte der Ntoro-Kult die zentrale Rolle. Die militärischen Kompanien wurden nach dem Muster des NtoroKultes aufgebaut, das heißt, quer zu den matrilinearen Clan-Gefügen verlaufend. So gilt beim Militär die Erbfolge von Vater auf Sohn, dem er seine Waffen und militärischen Titel vererben kann. Die Initiation der männlichen Jugendlichen wurde eingeführt, aber vor der Öffentlichkeit verborgen. Der Ntoro-Kult und die auf ihm basierenden Militärkompanien formten nun einen geheimen Machtbund der Männer. Die Könige von Bono Mansu ersetzten außerdem das Clan-Bündnis zwischen den Städten des Reiches durch das militärische Bündnis. Die Häuptlinge, die den König hinfort im Kronrat umgaben, waren nicht mehr die männlichen Oberhäupter matrilinearer Clans, sondern die Generäle der patrilinearen, militärischen Kompanien der einzelnen Städte. Tribute wurden jetzt erhoben und eingetrieben, die der König 32 Mair, S. 121, 125, 129–130, 136. 33 Poewe: Matrilineal Ideology, S. 46. – Zum ehemaligen Matriarchat der Yoruba, siehe H. Baumann: »Vaterrecht und Mutterrecht in Afrika«, S. 116. Zur Marktökonomie der Frauen bei den patrilinearen Ibo in Westafrika, siehe Karen Sacks: Sisters and Wives, Westport-London 1979 Greenwood Press. 34 Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 110–113. 35 A.a.O., 115–117; dieselbe: At the Court, S. 80. 36 Turnbull, S. 220, 232.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
für sein Militärsystem brauchte. Auf diese Weise zerbrach die Balance der beiden Machtsphären, der weiblichen und der männlichen, im Reich, und dessen Sakralität wurde durch das neue, profane Militär untergraben. Aber die Menschen von Bono Mansu hatte allgemein wenig Interesse am Krieg. Sie blieben leidenschaftliche Händler in ihrem Reich, das bis zum Ende des 17. Jhs. relativ stabil war. Die Aschanti, das südlich benachbarte Akan-Volk, folgte der neuen Kriegslogik viel konsequenter, die sie von viel früher militarisierten Akan-Völkern im Süden, den Denkyira und Akwamu, gelernt hatten. Das befähigte sie, das sehr wohlhabende Bono-Reich 1740 durch Verrat zu erobern und seine Schätze zu rauben. Sie zerstückelten es dann in kleine Vasallenstaaten, die sie durch hohe Steuern ausplünderten. Die einstmals reiche Region versank in Armut, viele BonoClans wanderten aus. Lediglich der Stadtstaat von Bono Tekyiman versuchte mit einigen Verbündeten in einer Schlacht seine Autonomie wiederzugewinnen, was aber nicht gelang. Er musste eine Provinz des Aschanti-Reiches bleiben, aber die Bono-Tekyiman (Brong) bewahrten das Bewusstsein ihrer traditionellen Kultur bis heute. Hinzu kam, dass seit dem 15. Jahrhundert die Europäer, nachdem sie die westafrikanischen Küsten entdeckt hatten, einen umfangreichen Sklavenhandel begannen. Zuerst errichteten portugiesische, später englische und holländische Handelskompanien ihre Stützpunkte, von denen aus sie – in Zusammenarbeit mit Aschantiund Fanti-Königen, die ihre Untertanen oder die Unterworfenen an die Europäer verkauften – Millionen von afrikanischen Sklaven nach Amerika verschleppten. Auf diese Weise wurden ganze Landstriche entvölkert. Als die Engländer 1874 die Aschanti militärisch eroberten und das Gebiet des alten Bono-Reiches jenseits der Grenzen des Aschanti-Reiches besetzten, fanden sie die Gegend von armen, zersplitterten Stämmen nur dünn besiedelt vor. Keine Spur der hohen Kultur und des üppigen Lebens früherer Zeiten war geblieben.37
7.6
Die Aschanti
Die matriarchale Kultur der Akan ging dennoch nicht ganz verloren, sondern sie lebte in einer anderen Form weiter: bei den Aschanti. Diese sind ein Teilvolk der Akan, die Könige von Bono Mansu und die der Aschanti hatten dieselbe AhnfrauenReihe. Beide Völker emigrierten auf der Flucht vor dem Islam nach Süden, und die Aschanti gründeten ihr Königinreich südlicher von Bono Mansu. Es wurde zum
37 Meyerowitz: At the Court, S. 83–84; Robert S. Rattray: The Tribes of the Ashanti Hinterland, Oxford 1931, Clarendon Press, Bd.1. – Rattray beschreibt hier diese verstreuten Stämme mit ihrer Matrilinearität, dem Priesterkönigtum und den Akan-(Teil)Sprachen, den verbliebenen Elementen der Struktur des Bono Mansu-Reiches: Dagomba, Konkomba, Chokosi, Mamprusi, Mossi und andere. Er weiß jedoch nichts von ihrer glorreichen Geschichte und bezeichnet sie als »primitiv«, da er nicht erkannt hat, dass ihre Kultur abgesunken ist. Erst Eva Meyerowitz hat dies herausgefunden.
7.6 Die Aschanti
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ersten Mal um 1600 von den islamischen Mande zerstört. Eine königliche AschantiPrinzessin floh mit ihrem Gefolge nach Bono Mansu und fand dort gute Aufnahme. Man gab ihr und ihren Leuten Land in der südlichsten Provinz, in der Waldzone nahe der Küste, wo sie die Stadt Kumasi gründete, die spätere Hauptstadt des Aschanti-Reiches (siehe Karte 8). Nun adaptierten die Aschanti die Hochkultur von Bono Mansu und bildeten dessen königliches Hofleben nach. Sie erwiesen sich auch in anderer Hinsicht als gelehrige Schüler, denn als im Bono-Reich ab 1600 die militärische Organisation eingeführt wurde, griffen sie auch dieses Muster auf und entwickelten es viel effizienter weiter. Der erste König, der mithilfe des Militärs das Reich der Aschanti schuf, war der tatkräftige Osei Tutu. Er einigte 1670 sieben Akan-Völker im Widerstand gegen die islamischen Denkyira, die ihre Herrschaft über die Stadtstaaten der Akan ausgedehnt hatten. Er selbst war der oberste Feldherr und begleitete seine Armeen in die Schlacht, womit er das Tabu der Abschließung, mit dem die Heiligen Könige von Bono Mansu sich umgeben hatten, hinweg fegte. Es gelang ihm, mit seiner Föderation das Joch der Denkyira abzuschütteln und diese im Jahr 1701 sogar zu unterwerfen. Damit verdreifachte er das Territorium und die Bevölkerung des Aschanti-Reiches. Ab jetzt galt bei den Aschanti die Auffassung, dass kein Reich sich vergrößern könne außer durch Eroberung. So schritt sein Nachfolger zur Eroberung aller benachbarten Akan-Völker, was mit der Niederwerfung und Plünderung des Reiches von Bono Mansu 1740 abgeschlossen wurde. Seither war das Aschanti-Reich das mächtigste der Region und hatte Gold und Tributeinnahmen in Menge. Für Bono Mansu hatte sich die Einführung des patriarchalen Militärwesens als Bumerang erwiesen, denn nun waren dessen Könige die Vasallen ihrer ehemaligen Schüler.38 In mehrfacher Hinsicht wurde die alte, matriarchale Kulturtradition jedoch bei den Aschanti weitergeführt. Sie haben bis heute an der Matrilinearität und den matrilinearen Erbregeln festgehalten, ebenso besitzen sie zahlreiche, politisch bedeutende Frauen, was insbesondere die Position der Königinmutter betrifft.39 Auch bei den Aschanti war sie die oberste Person im Reich und galt als »König hinter dem König«. Sie saß im königlichen Rat dem König am nächsten und gab ihm fortwährend Rat, und obwohl ihre Worte leise waren, durften sie nicht übergangen werden. Ebenso hatte sie ihren eigenen Hof und erhob ihre eigenen Steuern. Die Macht der Königinmutter bei den Aschanti wurde nicht dadurch gemindert, dass der Krieg nun ein Teil des nationalen Lebens war, im Gegenteil: Wenn der König seine Armee in die Schlacht begleitete, dann übergab er während seiner Abwesenheit das Reich in die Hand der Königinmutter. Sie war nun gleichzeitig Königinmutter und König und führte beide Höfe, hielt Gericht an seiner Stelle und übte auch
38 Meyerowitz: At the Court, S. 70, 83, 84; dieselbe: The Sacred State, S. 35; Turnbull, S. 213. 39 Donkoh: »Female Leadership«; Kofi A. Busia: The Position of the Chief in the Modern Political System of Ashanti, London 1968, Frank Cass and Co. Ltd.; M. Assimeng: Social Structure of Ghana, Accra 1981, Ghana Publishing Corporation; P.K. Sarpong: Girls’ Nubility Rites in Ashanti, Tema 1988, Ghana Publishing Corporation.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
die höchsten Zeremonien aus, die sonst nur dem König zustanden. Sollte der Aschanti-König wider Erwarten nicht aus dem Krieg zurückkehren, dann war die Königinmutter an seiner Stelle sogar Kriegsherrin.40 Das bekamen die Engländer während ihrer kolonialen Eroberung sehr unangenehm zu spüren, denn sie waren mit der Institution der doppelten königlichen Oberhäupter in afrikanischen Reichen nicht vertraut. Um diese Zeit hatte das Aschanti-Reich seine Macht bis an die Küste ausgedehnt, was zu weiteren Kriegen der Aschanti mit ihren südlichen Nachbarn führte. Die Engländer waren nicht direkt darin verwickelt, aber bald kamen die Aschanti in Konflikt mit dem aggressiven, militant vorwärts getriebenen Handel der Engländer. 1824 wurde ein englischer Offizier getötet und die Engländer selbst in einer Schlacht geschlagen. Diese ersten Kämpfe gegen die Aschanti lehrten sie das Fürchten und sie verbündeten sich nun mit den Völkern an der Küste. Die derart vereinigte Kriegsmacht unter Führung der Engländer brachte im Jahr 1826 den Aschanti eine Niederlage bei. Danach folgte eine prekäre Friedensperiode auf der Grundlage des Vertrages von 1831, die dreißig Jahre anhielt. In den 1860iger Jahren erhoben sich die Aschanti gegen die Engländer und deren Verbündete, was aber 1874 mit der Unterwerfung der Aschanti endete. Die Engländer eroberten nun Kumasi und das Aschanti-Reich und errichteten die Britische Kolonie »Goldküste« – bei der merkwürdigerweise die Aschanti ausgeschlossen wurden. Kein Volk fanden die Engländer jedoch so widerspenstig und schwierig wie die Aschanti, denn diese gaben sich keineswegs geschlagen. Sie setzten weiterhin ihre eigenen Könige, welche die Britische Oberherrschaft nicht anerkannten, auf den Thron. Das ging bis 1896 so weiter, als es den Engländern gelang, durch Verrat den Aschanti-König zu entführen und ihn zusammen mit Personen seiner engsten Familie und seinen wichtigsten Ratgebern in die Verbannung zu schicken. Doch jetzt bekamen sie es unverhofft mit dem »König hinter dem König« zu tun, mit der Königinmutter Yaa Asantewa. Sie führte die Aschanti, trotz ihres Alters, in einem letzten, verzweifelten Krieg gegen die verhassten Europäer an, um die Unabhängigkeit und die Kultur ihres Volkes zu retten. Nach der Verbannung des Königs bauten die Engländer im Herzen von Kumasi ein Militärfort auf und setzten dort ihren eigenen Regenten, einen Gouverneur, über die Aschanti ein. Währenddessen organisierte Yaa Asantewa im Geheimen den Widerstand. In April 1900 begann der »Yaa Asantewa-Krieg« gegen die Britische Herrschaft, in dem die Engländer von den Aschanti in ihrem Fort umzingelt und gefangen gesetzt wurden. Es folgte eine dreimonatige Belagerung, und ehe Hilfe von frischen Truppen aus England kommen konnte, starben fast alle Eingeschlossenen den Hungertod. Erst im Sommer gelang es den Verstärkungstruppen, das Fort von Kumasi zu befreien. Dennoch wurde der Widerstand vonseiten der Aschanti verbissen weitergeführt, den Yaa Asantewa aus ihrem Versteck leitete. Erst ein Vierteljahr später fanden die Engländer ihren Platz, und auch dann wurde er noch von Tausenden von Kriegern 40 Sweetman, S. 83–84.
7.7 Verbreitung matriarchaler Königin-Königreiche in Schwarzafrika
235
bis zum äußersten verteidigt. Frauen im Alter jenseits der Menopause kämpften dabei mit und feuerten die Männer an, eine Sitte, die bei den Aschanti und anderen Akan-Völkern durchaus üblich war. Ende September folgte die entscheidende Schlacht, bei der die letzten Verteidiger um Yaa Asantewa vernichtet und die Königinmutter gefangen genommen wurde. Es waren zweitausend englische Soldaten nötig gewesen, um sie in die Hände zu bekommen. Dem Offizier, der sie gefangen nahm, spuckte Yaa Asantewa ins Gesicht. Danach wurde sie zum letzten AschantiKönig und zu ihrem Enkelsohn, einem ehemaligen General beim Aschanti-Militär, in die Verbannung geschickt. Im Exil starb sie zwanzig Jahre später. Sie erfuhr wohl nicht, dass ihr Volk danach respektvoller behandelt wurde, denn die Engländer gingen nach dieser Rebellion vorsichtiger mit den Aschanti um. Im Jahr 1924, wenige Jahre nach ihrem Tod, durfte der verbannte König als Privatmann zurückkehren. Doch die Engländer bemerkten, dass er von den Aschanti noch immer als ihr Oberhaupt anerkannt wurde, und so schufen sie für ihn ein neues Amt, das jedoch keine politische Macht mehr bedeutete. Er hielt diese Position bis zu seinem Tod 1931, worauf einer seiner »Neffen«, ein Schwestersohn, ihm im Amt folgte. Die Aschanti besingen noch heute ihre unbeugsame Königinmutter Yaa Asantewa und rühmen sie für die Rettung ihrer alten Kultur. Bis heute haben sie ihre matriarchalen Clans und ihre modifizierte Institution der Königinmutter und des Königs beibehalten. Noch immer sind diese die wichtigsten sakralen Repräsentanten, wenn auch ohne politische Macht. Auch die Ahnen-Religion wurde zusammen mit einer reichen Vielfalt an Traditionen bewahrt, obwohl die auf die Kolonisierung folgende christliche Mission viele Elemente dieser Kultur zerstört oder verdreht hat. Die Aschanti-Kriegerbünde hingegen wurden von der europäischen Kolonialmacht aufgelöst und im nachkolonialen, unabhängigen Staat Ghana vom modernen Militär ersetzt. Gegenwärtig umfassen die Akan fünf Millionen Menschen und die Aschanti sind das größte Akan-Volk. Sie sind noch heute sehr aktiv und handelstüchtig und machten Ghana zu einem der wichtigsten Kakaoproduzenten der Welt.41
7.7
Verbreitung matriarchaler Königin-Königreiche in Schwarzafrika
Die Struktur und Entwicklung matriarchaler Königin-Königreiche, die wir soeben beschrieben haben, ist keineswegs auf die Akan-Völker in Westafrika begrenzt, sondern diese Reiche fanden in Schwarzafrika weiteste Verbreitung. Dabei haben Frauen in der Regierung konstitutionell den zentralen Platz inne und besitzen mindestens die Hälfte der Macht. Diese Königinnen sind Erbköniginnen und bilden durch
41 A.a.O., S. 83–90; Meyerowitz: The Akan of Ghana, S. 16, 32; Rattray: Ashanti, S. 287–293; Donkoh (persönliche Information).
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
die matrilineare Vererbung ihrer Titel weibliche Dynastien, entweder allein oder mit männlichen Co-Regenten, den Königen. Immer sind sie regierende, nicht nur nominelle Königinnen. Ihre Macht beruht auf der sehr alten, afrikanischen Tradition, in der Königinnen Städte- und Reichsgründerinnen waren. Die Berichte darüber sind zahlreich: So wurde das berühmte Songrai-Reich am Niger von Frauen gegründet, die gefeierte Ahninnen wurden; ebenso das Reich Zaria in derselben Region; ferner das mächtige Lunda-Luba-Reich in Zentralafrika; außerdem die Stadtstaaten der So in Nordkamerun. Noch im 15. Jh. weitete Königin Amina ihr Haussa-Reich im westlichen Sudan durch Eroberungen aus und gründete viele Städte. Aus den meisten dieser Städtegründungen gingen wiederum Königinreiche hervor. Später wurden sie zu kombinierten Königin-Königreichen, von denen einige bis in die Gegenwart andauern. Drei Formen der Regentschaft kommen dabei vor: Die Doppelregentschaft von Königinmutter und König ist am meisten verbreitet, wie wir sie von den Akan kennen gelernt haben. Es findet sich auch eine regierende Triade aus Königinmutter, Königin-Schwester und König, wobei diese keine vorübergehende Erscheinung ist, sondern eine feste Institution. Schließlich gibt es noch die Allein-Regentschaft einer Königin, die gleichzeitig »weiblicher König« und »männlicher König« in einer Person ist und beide Ämter ausübt, ebenfalls als fest verankerte Einrichtung.42 Die Doppelregentschaft von einer ranghöchsten Königinmutter mit einem König hat es praktisch in ganz Schwarzafrika gegeben. Diese Institution reichte von Westafrika bis zum Viktoriasee in Ostafrika, sie war in Zentralafrika verbreitet und erstreckte sich bis nach Südafrika (Karte 9). Stets ist sie so geregelt, dass beide Oberhäupter des Reiches die Macht komplementär ausüben und sich in allen Sphären, in denen sie zusammenarbeiten, die Balance halten. Sie besitzen je eigene Residenzen in eigenen Städten, eigene Offizielle und eigene Gerichtsbarkeit. Sie präsidieren bei religiösen Festen, wie denen der Ahnen-Religion und der Regenzeremonien, bei denen sie sich die Ämter ebenfalls komplementär teilen. Der König muss nicht unbedingt der Sohn der Königinmutter sein, er kann auch ihr Bruder, ihr Schwestersohn oder, falls sie sehr jung ist, ihr Mutterbruder sein. Selbst wenn sich Patrilinearität beim Volk oder im königlichen Clan schon durchgesetzt hat, tut dies der Macht der Königinmutter keinen Abbruch. So leben die Bamileke (Kamerun) patrilinear, der königliche Clan hingegen matrilinear. Die Königinmutter leitet dort nicht nur alle weiblichen Bereiche, sondern hat die Geheimgesellschaften der Frauen unter sich und gehört obendrein den Geheimgesellschaften der Männer an. Im Kronrat ist ihr Rang über dem König. Bei den Ruanda (Ruanda) und den Chamba am Niger-Nebenfluss Benue (Nigeria) ist es umgekehrt: Das Volk lebt matrilinear, der königliche Clan patrilinear. Hier ist die Königinmutter eine Schwester oder Cousine oder Tante väterlicherseits des Königs und ebenfalls mächtig, sie wird »Mutter des Königreiches« genannt. Das zeigt, dass der geschichtliche
42 Siehe dazu und zum Folgenden: Annie Lebeuf: »The Role of Women in the Political Organization of African Societies«, in: Denise Paulme (Hg.), Women of Tropical Africa, London 1963, Routledge & Kegan Paul, S. 93–119.
7.7 Verbreitung matriarchaler Königin-Königreiche in Schwarzafrika
237
Karte 9: Frauen als regierende Königinnen in Schwarzafrika in allen drei Formen von KöniginKönigreichen.
Hintergrund dieser Völker ebenfalls matriarchal gewesen ist und dass Patrilinearität allein noch kein Patriarchat ausmacht. Auch bei den Völkern an der Südwest-Ecke von Westafrika ist die Doppelregentschaft von Königinmutter und König anzutreffen, so bei den Mande in Sierra Leone. Die regierende Triade Königinmutter, Königin-Schwester und König tritt in Zentralafrika und in der Region der Großen Seen auf. Im matriarchalen Zentralafrika fand dieses Muster weiteste Verbreitung durch das riesige Luba-Lunda-Reich, das viele Völker umfasste. Der Heilige König trug hier den Titel »Citimukulu« und war ein Kaiser. Doch über ihm stand die Königinmutter mit dem Titel »Candamukulu«, und an ihre Seite trat die Königin-Schwester mit dem Titel »Mukukamfumu«. Dieses Reich gibt es heute nicht mehr, auch nicht die Titelträger.43 Doch im Gebiet der
43 Richards: Chisungu, S. 36–38.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Großen Seen kommt diese Triade noch vor. Bei den Ganda (Uganda) heißen sie zusammen »Kabaka«, das heißt »die Könige«. Die Königin-Schwester ist dabei nicht die leibliche Schwester, sondern die direkte Cousine des Königs und gleichzeitig seine offizielle Gattin. Sie wird mit ihm zusammen inthronisiert und muss kinderlos bleiben. Beide Frauen, die Königinmutter und die Königin-Schwester, sind ranghöher als die zwölf obersten Häuptlinge des Landes, jede hat ihre eigene Residenz. Besonders ihre rituellen Funktionen sind wichtig; so wird die Königin-Schwester nach dem Tod des Königs die Hüterin seines Grabes und setzt seine Verehrung fort. Bei den Ankole (Kitoro-Gebiet) ist die Königinmutter das sakrale Oberhaupt und die Schützerin des Reiches und des Königs. Sie empfängt Abgesandte, bevor sie dem König vorgestellt werden, sie entscheidet über Krieg und Frieden. Bei Gericht sitzt sie neben ihm, niemand darf ohne ihre Einwilligung hingerichtet werden. Die Königin-Schwester ist hier die leibliche Schwester des Königs, aber nicht seine Gattin. Sie und der König haben eigene Offizielle, eigene Armeen, eigene Viehherden, und Steuern erheben sie jeweils in Form von Vieh. Gemeinsam mit der Königinmutter sorgt die Königin-Schwester für das Wohl des Reiches und speziell für des Königs Gesundheit, gemeinsam ernennen diese beiden Frauen den Premierminister. Auch die Bateke (Kongo-Gebiet) haben die regierende Triade. Die Königinmutter regiert oft in den Zeiten des Interregnums jahrelang allein und sie bewahrt die königlichen Insignien auf. Sie bestimmt den König und die Königin-Schwester. Aber auch wenn diese schon designiert sind, übergibt sie ihnen noch längst nicht die Macht, sondern beide müssen erst eine Reihe von Prüfungen bestehen. Ist das geschehen, leitet sie die Zeremonien der Inthronisation und Krönung. Alle drei königlichen Personen stammen aus verschiedenen Clans. Deshalb kann die KöniginSchwester schon vorher die Gattin des Königs gewesen sein und Kinder von ihm haben; sobald sie jedoch auf den Thron gesetzt ist, muss sie kinderlos bleiben. Sie ist das Oberhaupt des weiblichen Teils der Bevölkerung, leitet die Belange des Ackerbaus und die Frauenzeremonien. Die regierende Triade bildet nach Auffassung der Völker, die sie haben, die kosmische Ordnung ab: Die Königinmutter symbolisiert die doppelgeschlechtliche Urgöttin, während Königin-Schwester und König das polare Ur-Zwillingspaar des Menschengeschlechts repräsentieren. In vielen dieser alten Reiche war in früherer Zeit die Tötung des Königs als höchstes sakrales Opfer üblich. Dieser Brauch ist überliefert aus dem Lunda-LubaReich in Zentralafrika, ebenso aus Reichen in Uganda, ferner von den Schilluk am Obernil und von den Zulu in Südafrika. Auch bei den Akan gibt es geschichtliche Hinweise auf diesen Brauch, der in Westafrika verbreitet gewesen ist.44 Die Völker des Sudan, die den Islam und damit patriarchale Strukturen angenommen haben, unterdrückten die Regentschaft von Frauen. Dennoch sind in den Gebieten von Nigeria und Tschad viele Relikte vorhanden, die darauf hinweisen, dass es früher anders war. So haben die Fulani (Nigeria) an ihrem Königshof noch
44 Zuesse: Ritual Cosmos, S. 117–120; Meyerowitz: At the Court. – Eva Meyerowitz hatte durch ihre Insider-Kenntnis des Hofes von dem König von Bono-Tekyiman, Nana Akumfi Ameyaw III., Hinweise auf diesen früher bei den Akan geübten Brauch erhalten.
7.7 Verbreitung matriarchaler Königin-Königreiche in Schwarzafrika
239
die Königinmutter, die im Rat des Königs sitzt. Sie hat keine politische Autorität mehr, dafür aber großes moralisches Gewicht. Dasselbe gilt für die Bachara, Bolewa, Kotoko und Bagirmi. Bei den Nupe lenken zwei königliche Frauen die Frauen des Adels, und eine dritte Frau leitet die gewöhnlichen Frauen. Letztere wird von den verheirateten Frauen der Stadt gewählt und mit großem Respekt behandelt, denn sie organisiert die ökonomische Arbeit der Frauen und ist die »Königin des Marktes«. In jedem Dorf des Landes wird eine Frau für ähnliche Aufgaben gewählt, die mit dem Häuptling zusammen regiert. Dieses Muster kennen auch die Yoruba und andere Völker Westafrikas, wo die Frauen trotz Patriarchalisierung die Märkte beherrschen und die weibliche Sphäre regieren. So können die matriarchalen Wurzeln dieser Gesellschaften, wenn auch verschieden manifestiert, noch wahrgenommen werden.45 Königinnen, die allein an der Spitze von Reichen stehen und ausschließlich weibliche Dynastien bilden, waren in früherer Zeit als Städte- und Reichsgründerinnen allgemein verbreitet. Später traten sie im Widerstand gegen die europäischen Kolonialherren mehrfach auf, aber heute sind sie sehr selten geworden. Zum Beispiel ist eine rein weibliche Dynastie von siebzehn Königinnen aus dem Gebiet des alten Songhai-Reiches überliefert; das geschah vor 1050 n.u.Z., bevor die Islamisierung einsetzte.46 Spätere, allein regierende Königinnen von matriarchal geprägten Völkern im Widerstand gegen die Europäer waren: Königin Yaa Asantewa der Aschanti (Ghana) gegen die Engländer (1860–1921); Königin Nzinga der Mbundu (Angola) gegen die Portugiesen (1581–1663);47 Königin Pampa der Bidyogo (Bissagos-Inseln, Westafrika) gegen die Portugiesen;48 ebenso Königin Ranavolana I. der malaiischen Merina (Madagaskar) gegen die Engländer und Franzosen (1828–1861). Besonders Ranavolana war sehr erfolgreich. Sie trieb die europäischen Missionare aus dem Land und verbot 1835 das Christentum. Die Handelsverträge mit England hob sie auf und untersagte 1845 den Europäern generell den Handel in dem unter ihr vereinigten Madagaskar. Alle Militärexpeditionen gegen sie und ihr Land verliefen sehr schmachvoll für Engländer und Franzosen. Zuletzt gründete sie eine rein weibliche Dynastie; drei Königinnen nach ihr waren Alleinregentinnen in Madagaskar, bis diese Tradition 1897 endete.49 Die letzte rein weibliche Dynastie gab es bei den Lovedu, einem zahlenmäßig kleinen Volk in den Drakensbergen in Transvaal (Südafrika). Ihre mündlichen Traditionen berichten, dass sie von Alt-Äthiopien kamen und früher Steinmonumente bauten. Die Lovedu-Königinnen, deren Titel »Modjadji« war, übten dort in der Rolle von »weiblichem König« und »männlichem König« die sakralen Ämter allein aus.50
45 Ifi Amadiume: African Matriarchal Foundations: The Case of the Igbo Societies, London 1987, 1995, Karnak House. 46 Sweetman, S. 22. 47 Ibid. 48 Bernatzik: Geheimnisvolle Inseln. 49 Sweetman, S. 64–75; Olderogge/Potechin: Die Völker Afrikas, Bd. 2, S. 748–749. 50 Siehe dazu und für das Folgende: Lebeuf, S. 97–99.
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Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
Um 1800 übernahm Königin Modjadji I. die Regierung von ihrem Vater und rettete ihr Volk, das in großen Wirren unterzugehen drohte. Sie gründete eine weibliche Dynastie, die bis 2001 nicht abgerissen ist; damals starb die letzte Regentin, Königin Modjadji V. Als »weibliche Könige« vererbten diese Königinnen den Thron direkt von Mutter auf Tochter, lebten also matrilinear, obwohl ihr Volk patrilinear organisiert ist. Sie empfingen ihre Kinder von geheimen Gatten aus der nahen Verwandtschaft. Ihr Kronrat war ebenfalls rein weiblich und bestand aus den »Müttern des Königinreiches«, welche die verschiedenen Clans repräsentierten. Die Patrilinearität ihres Volkes tat dem weiblichen Machtgefüge keinen Abbruch. Denn in jedem Clan ist – in Nachbildung eines matrilinearen Gefüges – die Vaterschwester das weibliche Clanoberhaupt neben ihrem Bruder, so dass auch hier die Parallelität beider Geschlechter gewahrt bleibt. Die Königin stützte sich in ihrem Amt auf diese wichtigen Frauen als Clanoberhäupter. Ihr königlicher Bruder vertrat sie als Administrator nach außen. Gleichzeitig war sie auch »männlicher König«, und als solcher hatte sie viele Gattinnen. Diese waren die einflussreichen Schwestern (Vaterschwestern) und Töchter (Erbinnen der Rolle der Vaterschwester) der verschiedenen Clan-Häuptlinge. Derart als »Schwiegersohn« mit diesen verknüpft, war sie mit allen Clans ihres Volkes verbunden, was ein Netz gegenseitiger Verpflichtungen bedeutete. Sie konnte Männer für ihre Gattinnen aussuchen, wobei die Kinder aus diesen kurzen Verbindungen dann als ihre Kinder galten; besonders an Töchtern war ihr gelegen. Durch ihren Kronrat und ihre Gattinnen sowie deren Kinder lagen die politischen Fäden, die den Verwandtschaftslinien folgen, in der Hand der Königin. So konnte sie größten Einfluss auf den sozialen Frieden nehmen.51 Ihre Autorität basierte jedoch nicht nur auf dem Verwandtschaftsnetz, sondern auch auf ihrem religiösen Amt. Sie war in erster Linie das spirituelle Oberhaupt ihres Volkes und ihre Heiligkeit beruhte auf ihrer magischen Macht als »Regenmacherin«. Die Lovedu glaubten, dass die zyklische Regelmäßigkeit der Jahreszeiten von der Königin abhing, die durch ihre Magie diese Balance in der Natur erhalten konnte. Für Generationen lebte dieses kleine Volk unbehelligt von seinen mächtigeren Nachbarn, den Zulu und Swasi. Diese waren Kriegervölker, die schon vor den Europäern in Südafrika eingedrungen waren und das älteste Volk Südafrikas, die Khoe San, unterworfen hatten, aber sie fürchteten die Macht der Lovedu-Königin über den Regen. In Zeiten der Dürre schickten sie Karawanen, mit Geschenken beladen, in die kleine Stadt der Lovedu, um die magische Gunst der Königin zu gewinnen.52 Modjadji I., die erste Regenkönigin, war damals durch ihre Amtsführung so berühmt, dass sie zum Vorbild für die Königinnen auch der Nachbarvölker wurde; das galt für die Tonga und Venda bis hin zu den Zulu und Swasi.53 Modjadji V., die
51 Ibid. 52 Donald G. McNeil jr.: Modjadji V, Rain Queen, Dies in South Africa at 64, am 30. Juni 2001 publiziert auf der Webseite www.nytimes.com; Bernedette Muthien, indigene KhoeSan (persönliche Information). 53 Lebeuf, ibidem.
7.8 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
241
letzte Regenkönigin der Lovedu, war in der jüngsten Zeit nicht weniger bekannt, so dass ihr sogar moderne Präsidenten von Südafrika Ehrerbietung zollten. F.W. de Klerk besuchte sie, als er Präsident war, und sein Nachfolger P.W. Botha hatte ihre Mutter besucht. Auch Präsident Nelson Mandela besuchte Modjadji V., und sie ist noch immer dafür berühmt, dass sie ihn warten ließ.54 Wir sehen daran, dass politische Autorität und höchste Ämter von Frauen in Afrika allgemein verbreitet waren. Erst der Islam und die Kolonialherrschaft der Europäer haben die Entwicklung des matriarchalen Königin-Königtums unterbrochen oder zum Schlechteren hin verändert. Die Kolonialmächte waren besonders blind für die Bedeutung von Frauen in anderen Kulturen, was dazu führte, dass Frauen systematisch von der politischen Verantwortung ausgeschlossen wurden, die sie in Afrika immer gehabt haben.
7.8
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Auf der politischen Ebene: • Matriarchale Reiche sind: erstens, Verwandtschaftsgesellschaften, zweitens, sakrale Strukturen, drittens, durch Verwandtschaft und Bündnisse gewachsene Reiche. Durch diese drei Kriterien sind sie grundsätzlich von patriarchalen Reichen oder Staaten, die durch Krieg und Eroberung entstehen, verschieden. • Matriarchale Reiche werden geschaffen durch Heiratspolitik und Matrilinearität, und sie beruhen darauf. Daraus ergibt sich eine komplexe Verwandtschaftsgesellschaft. Sie dehnen sich ebenfalls durch Heiratspolitik aus, wozu Bündnisse und Handelsbeziehungen hinzukommen. • Matriarchale Reiche wurden von Königinmüttern durch Bündnisse zwischen verschiedenen Sippen und Völkern gegründet. Daher »gehört« das Reich der Königinmutter, sie und ihre Nachfolgerinnen sind seine Oberhäupter. • Jeder Clan behält in matriarchalen Reichen gegenüber dem königlichen Clan seine Autonomie und Autarkie, Steuern werden nicht erhoben. Die Königinmutter regiert nicht durch Geld und Waffen, sondern allein durch Verwandtschaft, Tradition und Religion. • Für die Gründung eines Reiches war ein König nicht nötig. Später setzte die Königinmutter einen ihrer Söhne als König ein. • Könige regieren in matriarchalen Reichen nicht als Monarchen; sie bleiben mit zahlreichen Verpflichtungen in die Verwandtschaftsgesellschaft eingebunden (matriarchales Königtum).
54 McNeil jr., ibidem.
242
Kapitel 7: Matriarchale Königin-Königreiche in Westafrika
• Der König regiert die Männer und organisiert die Arbeiten der Männer. Außerdem hat er die Aufgabe, durch seine sexuelle Aktivität das Verwandtschafts- und Bündnisnetz des Staates zu vergrößern. • Zum Verhältnis von Königinmutter und König: Königinmutter und König haben ihre je eigene Gerichtsbarkeit, die Königinmutter über die Frauen, der König über die Männer (duale Organisation). Der König ist jedoch nur Co-Regent und steht im Rang unter der Königinmutter. Sie wählt den König aus und setzt ihn auf den Thron. Sie überwacht seine Amtsführung und kann ihn öffentlich ermahnen; sie kann seine Gerichtsurteile aufheben und ihn auch absetzen. Der König kann keine Entscheidung fällen, ohne die Königinmutter konsultiert zu haben. • Matriarchale Königinnen sind Erbköniginnen; sie bilden weibliche Dynastien, entweder allein oder zusammen mit einem König. Es gibt drei Formen des matriarchalen Königin-Königtums: die Doppelregentschaft von Königinmutter und König; die regierende Triade aus Königinmutter, Königin-Schwester und König; die Alleinregentschaft der Königin, die zugleich »weiblicher König« und »männlicher König« ist.
Auf der kulturellen Ebene: • Matriarchale Reiche sind keine Herrschaftsgesellschaften, sondern sakrale Theakratien. Die Königinmutter gilt als Verkörperung der höchsten Göttin und ist deren Priesterin; oft hat sie die magische Aufgabe des Regenmachens. • Matriarchale Könige gelten als Verkörperung des männlichen Aspekts der höchsten Göttin (Mond-Sohn der Mondgöttin oder Sonnen-Sohn der Mondgöttin). Sie sind immer Priesterkönige. • Die Verehrung der königlichen Ahninnen und Ahnen ist die religiöse Hauptaufgabe der Königinmutter und des Königs. • Der Tod des Heiligen Königs war in frühen matriarchalen Kulturen als höchstes sakrales Opfer üblich. Dieses Opfer wurde real oder symbolisch ausgeführt.
Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
für Kahina, die für die Freiheit der Berber kämpfte, und für alle Königinnen, die der Freiheit wegen in die Wüste zogen
8.1
Die Frauen der Tuareg: Herrinnen der Zelte
Nordafrika besteht zum größten Teil aus der Wüste Sahara und zum kleineren Teil aus dem fruchtbaren Streifen an der Mittelmeerküste. Hohe Gebirge unterbrechen die grenzenlosen Sand- und Steinebenen und bringen, da sie die Wolken festhalten, gelegentlichen, spärlichen Regen. Im Nordwesten sind es die Ketten des Atlas, in der Zentralsahara die Gruppen des Ahaggar (Hoggar) und des vulkanischen Tibesti, die von den niedrigeren Gebirgsgruppen des Tassili der Adscher, des Adrar der Iforas und des Massif de l’Aïr begleitet werden. Sie sind die Wohngebiete der weißen Urbevölkerung Nordafrikas, der sesshaften, Ackerbau treibenden Berber im Atlas und der nomadisierenden Tuareg in der Wüste. Die Berber (ca. 10 Millionen) und die Tuareg (ca. 300.000) sind eng miteinander verwandt; die Tuareg sind Wüsten-Berber, die sich statt von Ackerbau von Viehzucht ernähren. Sie sprechen Varianten einer gemeinsamen hamitischen Sprache, das Tamazigh (Tamaschek). In dieser bezeichnen sich die Berber und ebenso die Tuareg als Imazighen (Imascheken), das heißt »freie Menschen«.1 Die militärischen Mächte, welche diese Völker Nordafrikas kolonisierten oder verdrängten, haben ihnen willkürliche Namen gegeben. So galten die ackerbäuerischen Imazighen an der Mittelmeerküste den Römern als »Barbaren«, woher das Wort »Berber« stammt. Die nomadischen Imazighen in der Sahara wurden von den Arabern »Tuareg«, die »Gottverlassenen«, genannt, weil sie sich lange weigerten, den Islam anzunehmen.2 Viel früher gaben die verschiedenen Völker der Tuareg den Gebirgen der Sahara ihre eigenen Namen. Nur das Tibesti-Gebirge ist nicht von ihnen bewohnt, dort 1 Baumann/Thurnwald/Westermann: Völkerkunde von Afrika, S. 364; J. Nicolaisen: Ecology and Culture of the Pastoral Tuareg, Kopenhagen 1963, National Museum of Copenhagen, S. 8; R. Stern-Lichten: »Die Berber, das Urvolk Nord-Afrikas«, in: Umschau, Nr. 43/38, Frankfurt am Main 1934, Umschau Verlag, S. 854. 2 Nicolaisen, S.12.
244
Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
leben die schwarzhäutigen Tibbu, die jedoch einige Sitten ihrer Nachbarn übernommen haben. So wohnen die Tuareg-Stämme Kel Adscher im Tassili der Adscher und die Kel Ahaggar im Ahaggar-Gebirge, sie bilden die nördlichen Tuareg, deren Gesellschaftsordnung noch sehr traditionell ist. Bei den südlichen Tuareg-Stämmen wohnen die Kel Adrar im Adrar der Iforas, die Kel Aïr im Aïr-Massiv, die Kel Geres und Kel Dennek südlich des Aïr-Massivs in der Ebene, die Kel Ataran oder Ullimeden in der Nähe des Niger und die Kel Tademaket bei Timbuktu. Diese Völker sind stärker vom Islam beeinflusst als die nördlichen Tuareg; ihre matriarchalen Muster sind daher abgeschwächt, sie haben häufig Patrilinearität übernommen.3 Die Tuareg des Ahaggar-Gebirges, isoliert im Herzen der Sahara lebend, können als die besten Repräsentanten ihrer traditionellen Kultur betrachtet werden. Sie haben die matriarchale Sozialordnung erfolgreich bewahrt, die einst alle Tuareg besaßen, bevor der Islam in Afrika die ihm nicht passenden Lebensformen unterdrückte. Dennoch gibt es auch heute noch viele Ähnlichkeiten mit den anderen Stämmen, da die Tuareg kulturell eine relativ homogene Gruppe sind.4 Die Tuareg sind hochgewachsen und schmal und haben feine Gesichtszüge, die Frauen tragen langes, welliges Haar. Die nördlichen Tuareg sind hellhäutiger als die südlichen, sie gleichen den Berbern, die vom altmediterranen Menschentyp sind, während die südlichen Tuareg sich mit Arabern und Schwarzafrikanern vermischt haben. Die Männer sind mager, sehr ausdauernd und durch ihre Reisen in der Wüste Hunger gewohnt. Für die Frauen wird eher ein rundlicher Körper als wünschenswert betrachtet, denn Fülligkeit gilt als Zeichen weiblicher Schönheit und erotischer Kraft und wurde mit großen Mengen Kamelmilch erreicht. Üppige Leiblichkeit symbolisiert Reichtum, denn sie verweist auf großen Herdenbesitz des Clans. Die Tuareg-Frau oder »Targia« geht unverschleiert, während der TuaregMann oder »Targi« seinen Kopf und sein Gesicht mit einem meterlangen Tuch, dem »Tagelmust«, verhüllt. Dieser bedeutet kein Sich-Verstecken, sondern ist ein Zeichen seiner Würde. Zugleich bietet er Schutz gegen die Hitze und den Staub der Wüste. Je ranghöher ein Mann bei den Tuareg steht, desto strikter trägt er den Tagelmust, aus dem nur seine Augen herausschauen. Niemals würde er in Gegenwart von Frauen, besonders von fremden Frauen, den Schleier lüpfen.5 Frauen und Männer der Tuareg, besonders die des Adels, leben in getrennten Welten. Die Frauen kampieren mit den Ziegenherden in ihren Zeltlagern, die Männer sind mit den Kamelen unterwegs, entweder auf fernen Weiden oder bei Handelsunternehmungen oder – wie früher – auf Raub- und Kriegszügen. Die erwachsenen Frauen und Männer sehen sich daher verhältnismäßig selten. Doch die Macht der Liebe führt sie immer wieder zueinander. Um die Liebeskunst kreist ein großer Teil ihrer Kultur, was sich in den poetischen Zusammenkünften, den »Ahal«, ausdrückt. Die Ahal-Feiern sind sehr alt, sie existierten bereits bei den antiken liby-
3 A.a.O., S. 7. 4 Henri Lhote: Les Touaregs du Hoggar, Paris 1984, Armand Colin, S. 35 (Erstausgabe, Paris 1944). 5 Nicolaisen, S. 12–14.
8.1 Die Frauen der Tuareg: Herrinnen der Zelte
245
schen Stämmen in Nordafrika, welche die Vorfahren der Berbervölker sind. Der griechische Historiker Herodot wies bereits darauf hin, als er über die frauenbestimmte Gesellschaft der Libyer schrieb. Seit ältester Zeit ist das Ahal das Herzstück auch der Kultur der Tuareg, denn bei ihm finden sich Frauen und Männer bei poetischen Gesängen zusammen, um neue Liebesverbindungen anzuknüpfen.6 Ab 16 Jahren besuchen junge Leute das Ahal. Es können sich dort alle treffen, die nicht verheiratet sind. Ein Kreis, bei dem sich je eine Frau und ein Mann abwechseln, wird im Zelt geschaffen, alle haben ihre besten Gewänder angelegt. Eine Präsidentin wird gewählt, deren Aufgabe ist, auf die guten Manieren beim Ahal zu achten. Die Spielerin des »Imzad«, einer Monocord-Violine, lässt ihr Instrument und ihre Stimme ertönen, während die Männer sie mit Rezitationen rhythmisch begleiten. Um die anderen nicht zu stören, ist das Zelt der Ahal-Feier außerhalb des Lagers aufgebaut, und das Treffen wird in der Nacht abgehalten. Die Männer kommen oft von weither, sie sind erhitzt von der Reise, die Frauen dagegen sind kühl vom Schatten des Zeltlagers, doch liebevoll und zärtlich. Ihretwegen führen die Männer verbale Schaukämpfe auf, doch ohne sich zu beleidigen. Diskret werden verschiedene Wege der Annäherung gesucht wie Blicke und Flüstern. Wenn das Licht erlischt, tauschen diejenigen, die sich gefunden haben, Zeichen aus, und nach Beendigung des Ahal gehen die einzelnen Paare in die Nacht hinaus. Die Frauen sind großzügig mit ihrer Gunst. In jedem Fall verschenken sie, wenn die Männer nach allen Regeln der Kunst um sie geworben haben, ihre Liebe freigiebig. Eifersuchtskämpfe zwischen den Männern sind verpönt. Wenn einer durch einen Rivalen ausgestochen wird, fordert er diesen auf, ihm ein kleines Geschenk der Versöhnung zu geben. Sollte das vonseiten des Glücklichen nicht geschehen, so zeigt das wenig Ernst bei der Werbung, und die Frau schenkt ihre Gunst sofort dem anderen. Sich vor Frauen zu streiten, gilt als Unsitte.7 Alle mit dem Ahal verknüpften Künste: das Spiel auf dem uralten Instrument Imzad, die Musik, die Poesie, liegen ausschließlich in den Händen der Frauen. Denn die adlige Targia hütet Kunst und Kultur, und ihre Dichtung und Musik haben sie berühmt gemacht. Deren Ausübung betrachtet sie als Pflicht an ihrer Kultur. Die jungen Männer sind begierig darauf, die jungen Frauen das Imzad spielen zu hören, und die Gatten wünschen es sich sehnlich von ihren Gattinnen. Es kommt einer Strafe gleich, die Frauen über Männer verhängen, wenn sie sich weigern, für sie das Imzad zu spielen. Im Krieg zeigten sich die Männer früher sehr tapfer, um nicht die Gunst und die Musik der Frauen zu verlieren.8 In ihren poetischen Gesängen pflegen die Frauen den Wertekanon, der für Männer und Frauen gilt. So sind die Idealbilder des Mannes und der Frau bis heute lebendig geblieben und werden in der »Liebesschule« des Ahal von den Frauen vermittelt. Nach diesen Lehren sind die gepriesenen Qualitäten des Mannes seine
6 Lhote: Les Touaregs du Hoggar, S. 187. 7 A.a.O., S. 181–183, 187; Federica de Cesco/Markus Krebser: Touaregs. Nomades du Sahara, Lausanne, Paris 1971, Mondo, S. 148–150. 8 Cesco/Krebser, S. 139–142, 145–147.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Schönheit, Kühnheit und Tapferkeit und vor allem sein ritterliches Verhalten. Seine Haltung ist von strenger Etikette geprägt, denn jedes Wort, jede Geste sollen überlegt sein und Stolz und Eleganz des Mannes ausdrücken. Dazu gehört der schlichte, strenge Stil in Kleidung und Schmuck. So wird der Targi, der adelige Mann, in den Liedern gerühmt, wie er auf seinem weißen Rennkamel durch die Wüste reitet, in wallenden Gewändern, das Schwert an der Seite, das Gesicht vom turbanartigen Tagelmust verhüllt, seine Schwestern und die ganze weibliche Sippe schützend, in seinem Herzen das Bild einer schönen Frau, seiner Herrin in der Liebe (Abb. 30). Die gerühmten Qualitäten der Targia, der adeligen Frau, sind nicht die der Mutter oder arbeitenden Frau, sondern die der Verführerin und Zauberin, jene, die das Ahal organisiert und inspiriert. Ihre Schönheit wird gepriesen, ihre fülligen, weichen Rundungen, die sie begehrenswert machen. Sie erscheint im vornehmen Faltenfall ihrer Luxusgewänder, übersät von Silberschmuck, und sie bewegt sich ruhig und königlich, kühl und schweigsam, denn ihre große Macht hat keinen Lärm nötig (Abb. 31). Man schätzt ihre Fähigkeit, klare Entscheidungen zu fällen und ihnen konsequent zu folgen. Um ihre Brüder oder den Geliebten zu begrüßen erscheint sie auch mit wehendem, indigoblauem Kopftuch inmitten ihrer Herde weißer Kamele, die ihren Reichtum ausmachen.9 Doch nicht nur die Künste des Ahal, sondern auch Sprache und Schrift sind Sache der Frauen. Sie leben in den abgeschiedenen Lagern in der Wüste und sprechen – im Gegensatz zu den Männern, die wegen ihres Fernhandels etliche Fremdsprachen lernen – ausschließlich das Tamaschek. Außerdem ist die uralte Schrift »Tifinar« allein in ihren Händen, die sie die Kinder lehren. Deren Erziehung liegt ebenfalls ganz bei den Frauen, was einen überaus wichtigen Faktor in der Tradierung der angestammten Tuareg-Kultur darstellt. So sind die Frauen seit Jahrtausenden die Trägerinnen und Vermittlerinnen der Tradition und Kultur, die den Tuareg ihre besondere Identität gibt.10 Der Wertekanon, den die Frauen pflegen, umfasst jedoch noch mehr, denn Poesie und Musik sind nicht auf die Adligen begrenzt. Diese Künste sind keine Sache von Spezialistinnen, auch wenn es insbesondere die adligen Frauen sind, die – befreit von jeder schweren Arbeit – sich dem Dichten und Komponieren widmen können. Doch auch die Frauen aus allen anderen Schichten haben daran teil. Denn außer dem Ahal, dem Treffen für das Liebeswerben der adligen Jugend, gibt es solche Zusammenkünfte wie das »Matinee« am Morgen und das »Soiree« am Abend. Sie werden von den verschiedensten Leuten organisiert und besucht, auch Ehepaare und zölibatäre Frauen und Männer nehmen als Zuschauer oder Akteure daran teil.
9 Hélène Claudot-Hawad: »Femme Idéale et Femme Sociale chez les Touaregs de l’Ahaggar«, in: Production pastorale et société, Nr. 14, Paris 1984, Maison des sciences de l’homme, S. 96–98. 10 Nicolaisen, S. 14, 24; Baumann/Thurnwald/Westermann, S. 365.
8.1 Die Frauen der Tuareg: Herrinnen der Zelte
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Abb. 30: Tuareg-Mann mit Tagelmust-Kopfschleier (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 190; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency)
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Abb. 31: Junge Tuareg-Frauen in der Intimität des Zeltes (Foto: Anne Rochegude, »Stern«, Heft 13, 1991, S. 45)
Die symbolische Repräsentation von Frau und Mann ist hier breiter, sie preist vor allem die Frau als Herrin des Zeltes, als Mutter, als Trägerin der Gesellschaft. Sie wird »der tragende Pfeiler des Zeltes« genannt, denn das Zelt gehört ihr und darin wohnt ihre matrilineare Sippe. Sie gilt als »das Feste und Schützende«, die »das Mobile und Reisende«, nämlich den Mann, anbindet. Poetisch wird sie deshalb mit dem »Pflock für das Tier« verglichen, denn sie bindet den Mann, wie ein Tier an den Zeltpfosten angebunden wird, damit es sich nicht verirrt. Oder sie wird »die Höhle, die jedes Sandkorn bewahrt« genannt, das der Wind lose und ziellos herbeifegt. So gilt sie als das stabile und dauernde Zentrum der Gesellschaft, als die »feste Mitte der Welt«, um die sich alles andere dreht. Sie ist die Ernährerin und Schützerin, sie bietet Zuflucht gegen die Stürme der Außenwelt, denen sich der Mann aussetzen muss. Damit sind nicht nur die Stürme der Wüste gemeint, sondern auch die Stürme von Streit und Krieg in der Menschenwelt. Ganz real zogen sich im Kriegsfall die Frauen in die Zelte zurück und kein Tuareg, auch nicht der ärgste Feind, wagte es ein Zelt anzurühren. Wenn den Kriegern beim Kampf zufällig ein Zeltlager in den Weg geriet, so verlegten sie den Kampf woandershin. Die Frauen waren in der Verborgenheit des Zeltes voll-
8.2 Soziale und ökonomische Macht bei den Tuareg
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kommen sicher und wurden niemals behelligt, deshalb bedeutet das Zelt auch »Frieden«.11 Das Zelt der Frau bietet nicht nur praktisch Zuflucht, sondern auch im übertragenen Sinne. »Zelt« wird nämlich auch die matrilineare Verwandtschaft genannt, die jedes Sippenmitglied trägt und schützt. Daher sind es die Frauen, welche die »Zelte« gründen und am Leben erhalten. Ein Mann, der ein festes Zuhause, Schutz und Dauer haben möchte, sorgt für sein »Zelt«, das heißt, seine Mutter und Schwestern, seine matrilineare Familie. Eine Frau, die ein »Zelt«, eine matrilineare Linie gründet, hat sozial großes Gewicht. Denn ihre Nachkommen werden eine Sippe bilden und sich wieder in »Zelte« auffächern, und sie wird als deren Schutzfrau verehrt werden, als die weit blickende und mit Autorität ausgestattete Ahnfrau eines großen Clans.12
8.2
Soziale und ökonomische Macht bei den Tuareg
Obwohl die Tuareg heute formal Mohammedaner sind, passt ihr Sozialgefüge keineswegs zum islamischen Moralkodex. Die hohe Stellung der Frau geht auf mehrere Faktoren zurück, zuerst auf die Matrilinearität, welche die Ahaggar-Tuareg konsequent beibehalten haben. Die Kinder erben ausschließlich den Clannamen und gesellschaftlichen Status der Mutter. Andere Tuareg-Stämme sind unter dem Druck des Islam zur Patrilinearität übergegangen, doch vieles weist darauf hin, dass sie bis vor kurzem matrilinear waren. Es ist die Matrilinearität, welche die Frauen zu Schöpferinnen von »Zelten«, eben von Sippen, werden lässt und ihnen die hohe Achtung als Ahnfrauen bringt. Sie macht die Frauen zur Achse der Gesellschaft. Außerdem kennen die Tuareg keine Polygynie, wie sie in afrikanischen Gesellschaften weit verbreitet ist, sondern sie leben in Monogamie. Diese ist allerdings nicht lebenslang, denn die Gattin, die selbst die Wahl ihres Gatten bestimmt, kann die Ehe jederzeit lösen und einen anderen Mann zum Gatten wählen. Die Frauen machen davon lebhaften Gebrauch, weshalb die Sitten der Tuareg als »freizügig« gelten.13 Die formale Eheschließung ist für afrikanische Verhältnisse spät. Die Frau heiratet mit 25–30 Jahren, der Mann erst zwischen 30–35 Jahren. Aber es besteht keine Notwendigkeit früher zu heiraten, denn vor der Ehe genießen die jungen Frauen und Männer beim Ahal große sexuelle Freiheit. Jungfräulichkeit ist kein Wert. Eine Frau ist 11 Claudot-Hawad: »Femme Idéale«, S. 93, 96; Hélène Claudot-Hawad: »Femmes Touaregues et Pouvoir Politique«, in: Peuples Méditerranéens, Nr. 48/49, Paris 1989, Editions Anthropos, S. 70; Hélène Claudot-Hawad: »Die Frau als ›Schützende‹ und der Mann als ›Reisender‹. Die Darstellung der Geschlechter bei den Tuareg«, in: Heide Göttner-Abendroth (Hg.): Gesellschaft in Balance. Dokumentation des 1. Weltkongresses für Matriarchatsforschung, 2003 in Luxemburg, Stuttgart, Winzer 2006, Kohlhammer Verlag und Edition HAGIA, S. 108–122; Cesco/Krebser, S. 127. 12 Claudot-Hawad: »Femmes Touaregues et Pouvoir Politique«, S. 70–72. 13 Lhote: Les Touaregs du Hoggar, S. 36–37.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
hingegen sehr geachtet, wenn sie zahlreiche Verehrer hat und ihre Gunst an möglichst viele verschenkt. Es gilt als schlecht, sie nur einem Einzigen zu gewähren.14 Der zweite Faktor für die starke Position der Frauen ist die volle Matrilokalität. Die Ahaggar-Tuareg als die konservativsten haben diese Institution bewahrt. Bei ihnen bleiben die Kinder im Zeltlager der Mutter wohnen, besonders die Töchter ziehen als erwachsene Frauen niemals weg, und die Söhne heiraten in die eigene Muttersippe hinein. Für die Ahaggaren gilt als beste Partie nicht die Ehe mit der KreuzCousine wie bei der Kreuz-Basen-Vettern-Heirat (wie mehrfach beschrieben), sondern die mit der Parallel-Cousine, der Tochter der Schwester der Mutter, die als »Schwester« klassifiziert wird. Diese Regel ist sehr alt und hat zur Folge, dass weder die Töchter noch die Söhne das mütterliche Zeltlager verlassen müssen, um bei einem anderen Clan zu leben, denn sie heiraten im eigenen Clan (Clan-Endogamie).15 Mit sieben Jahren wird ein Knabe von der Mutter ins Zelt ihrer Schwester im selben Lager gegeben und wächst dort heran, bis er mit den Männern zu den Viehweiden ziehen und die Handelskarawanen begleiten darf. Sein Helfer und Beschützer ist dabei der älteste Mutterbruder (sein »Onkel« in unserer Terminologie), von dem er einst auch die politischen Ämter und Würden – falls dieser welche innehat – erben wird. Doch zuvor wohnen die Knaben mit ihren Parallel-Cousinen zusammen, den Töchtern der Mutterschwester, und sie werden miteinander gute Freunde. Sie fühlen sich in der Regel wie »Schwestern« und »Brüder«, lachen und scherzen zusammen und werden vertraut. Wenn sie länger getrennt sind, weil die heranwachsenden Knaben mit den Männern ziehen, sehnen sie sich nacheinander. Wenn die Cousins wieder zurückkommen, werden sie von den daheim gebliebenen Cousinen verwöhnt. Die freundschaftliche Nähe vermeidet in der Tat Ehekonflikte zwischen den Paaren, die sich später als Gatten wählen, auch wenn diese Ehen – wie allgemein – nicht unbedingt lange dauern. Die Ahaggar-Tuareg haben für diese Eheform religiöse Gründe. Da jeder Clan von einer einzigen Ahnfrau abstammt, sollen sich ihre Töchter und Söhne auch untereinander vermählen; Heirat außerhalb der Verwandtschaft gilt als ungut. Abgesehen davon gibt es auch praktische ökonomische Gründe, denn Güter, Herden und politische Titel bleiben so im selben Clan. Bei den anderen Tuareg-Stämmen, seien sie noch matrilinear oder schon patrilinear, sind diese Eheverhältnisse durch den Einfluss des Islam verändert worden, dennoch ist die Stellung der Frau auch hier hoch. Die Hochzeit findet im Zeltlager der Mutter statt und ein Jahr lang bleibt die junge Gattin bis zur Geburt ihres ersten Kindes noch hier wohnen. Der junge Gatte dient seinen Schwiegereltern und dabei wird sein Verhalten, besonders gegenüber der jungen Frau, streng beobachtet. Zieht die junge Gattin danach ins Zeltlager ihrer Schwiegereltern, so kehrt sie bei vielen Gelegenheiten ins Lager der Mutter zurück, wie bei längerer Abwesenheit des Gatten, bei Schwangerschaft, wenn sie krank ist oder gekränkt wird. Im Fall der Scheidung, die sie jederzeit aussprechen kann, kehrt sie endgültig dorthin zurück. Bei einem patrilinearen Tuareg-Stamm müssen ihre Kinder aufgrund der Ge-
14 Nicolaisen, S. 183; Claudot-Hawad: »Femme Idéale«, S. 99. 15 Nicolaisen, S. 476–477.
8.2 Soziale und ökonomische Macht bei den Tuareg
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setze des Koran allerdings im Lager der Schwiegereltern bleiben. Aber auch in diesem Fall ist es noch Heirat zwischen Verwandten, denn jene Tuareg-Stämme praktizieren die Kreuz-Basen-Vettern-Heirat zwischen je zwei bestimmten Clans. Die junge Frau befindet sich im Lager der Schwiegermutter nicht bei Fremden, sondern bei den nächsten Verwandten außerhalb ihrer mütterlichen Sippe.16 Der dritte, sehr wichtige Faktor für die Stärke der Tuareg-Frauen ist ihre ökonomische Unabhängigkeit. Sie beginnt mit der ersten Eheschließung – ganz im Gegensatz zu den europäisch-westlichen Gesellschaften, bei denen mit der Ehe meist die ökonomische Abhängigkeit der Frau beginnt. Die Tuareg-Braut erhält ein Brautgeschenk, über das sie traditionellerweise allein verfügen kann. Es wird niemals, auch nicht bei Scheidung, zurückgegeben, wie es beim »Brautpreis« der Fall ist. Bei einer adligen Frau bestand das Brautgeschenk früher aus sieben Kamelen, später aus ein bis drei, und eine gewöhnliche Frau erhält 25–30 Ziegen anstelle eines Kamels. Der Clan der Braut erweitert diese Herde durch eine zusätzliche Anzahl von Ziegen und durch ein paar Lastesel mit Packsätteln. Außerdem schenken die Frauen ihres Clans der Braut ein großes Zelt mit der gesamten Ausstattung, die sie selbst hergestellt haben, wie Teppiche, Matten und Decken, auch Truhen, Speiseschüsseln und Milchschalen aus Holz, irdene Kochtöpfe, Geschirr und Behälter und die großen, verzierten Ledertaschen. Diese reichen Gaben gehören ausschließlich der Frau, und damit kann sie eine vom Gatten völlig unabhängige Existenz führen. Die Ziege ist dabei die Basis der Wirtschaft, das Überleben dieser viehzüchterischen Nomadenkultur beruht auf ihr. Alles von der Ziege wird verwendet: Die Frauen trinken die Milch oder verarbeiten sie zu Butter und Käse, sie essen das Fleisch, aus den Haaren fertigen sie Kleidung, Decken, Zelte und Seile und aus dem Leder Sättel und Taschen. Sie halten auch einige Schafe und der Haushalt wird mit den Eseln als Tragtieren abgerundet. Die Milch der Kamelstuten wird ebenfalls getrunken, obwohl das Kamel zum Lebensunterhalt nicht notwendig ist. Aber als Reittier ist es in der Wüste unverzichtbar und der Karawanenhandel beruht ganz auf den Kamelen. Das Zelt jeder Frau mit ihren Kindern ist auf diese Weise eine unabhängige Haushaltseinheit. Das Zeltlager, in dem sie lebt, besteht normalerweise aus 10–20 Zelten und umfasst einen ganzen Clan oder die Sektion eines Clans. Bei mageren Weideverhältnissen infolge von Dürre wird das Lager in kleinere Gruppen aus 2–7 Zelten geteilt, doch auch dann bleibt jedes Lager eine unabhängige Gemeinschaft in Produktion und Verbrauch. Die Frauen legen ihren individuellen Besitz an Tieren zusammen, so dass jedes Lager seine eigene Herde hat. Diese Herde gilt als gemeinsames, unteilbares Eigentum und bleibt in den Händen der matrilinearen Großmütter. Nur im Fall von Heirat oder von Not wird ein Teil der Tiere abgegeben. Die älteste Frau jeder Linie verwaltet die Herde, wobei ihre Brüder ihr helfen, was die Kamele betrifft. Häufig werden die Kamele im Auftrag der Frauen von den Männern auf eine ferne, gute Weide geführt. Auch das Oberhaupt des Lagers ist eine Frau, die Älteste, die Matriarchin, um welche die Verwandten sich sammeln.
16 A.a.O., S. 22, 142–145, 456–459, 476–477; Lhote : Les Touaregs du Hoggar, S. 37, 186–188; Claudot-Hawad: »Femme Idéale«, S. 98.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
In der traditionellen Tuareg-Gesellschaft gehören demnach das gesamte Zeltlager und ebenso die Herden, sogar die Kamele, den Frauen. Sie besitzen diese lebensnotwendigen Güter, weil sie für das Leben der Sippe sorgen. Jeder Frau mit einem eigenen Herdfeuer wird deshalb die Milch der Tiere gleich nach dem Melken in die Hände gegeben. Sie ist die »Zeltherrin« und entscheidet, im Eingang ihres Zeltes sitzend, allein über die Weiterverarbeitung oder die Verteilung. Täglich speist sie so ihre Familienmitglieder, denn sie ist die Ernährerin. Das gilt ebenso für die Güter, die im Fernhandel von den Männern erworben werden: Sie werden ausnahmslos den Frauen anvertraut, die sie in den Zelten aufbewahren und nach Bedarf verteilen.17 Das macht klar, dass die Frauen außer der Kultur und der Sozialordnung auch die Ökonomie in den Händen haben. Alle diese Kriterien zusammen zeigen, dass die traditionelle Tuareg-Gesellschaft insgesamt matriarchal war und teilweise noch ist. Betrachten wir die Aufgaben der Männer näher: Sie betreiben die Kamelzucht, und der Fernhandel mit den Kamelkarawanen ist ihr Aktionsbereich und ihre Domäne. Früher war dieser Handel ein bedeutender wirtschaftlicher Faktor. Denn für die Tuareg stellt die Wüste, die sie bestens kennen, kein Hindernis dar, sie verbanden mithilfe der Karawanen die nordafrikanische Mittelmeerküste mit dem Sudan, der grünen Zone südlich der Sahara. Aus dem Süden brachten sie Gold, Elfenbein und Straußenfedern nach Norden, dort wurden sie gegen Salz und begehrte europäische Güter eingetauscht. Aber seitdem die Europäer Nordafrika kolonisiert und Lastkraftwagen eingeführt haben, wurde der Karawanenhandel unterbrochen und die Infrastruktur der Oasen mit ihren Karawansereien schwer geschädigt. Dennoch sind die Handelskarawanen für die Tuareg zur eigenen Versorgung notwendig geblieben, sonst würden die Männer die unvorstellbaren Anstrengungen, die damit verbunden sind, nicht auf sich nehmen. Von tierischen Produkten allein können Viehzüchter-Völker nicht leben, sie benötigen eine pflanzliche Grundnahrung; für die Tuareg ist es das Getreide Afrikas, die Hirse. Besonders die Ahaggaren mit den kargen Weidegründen im Herzen der Sahara, die ihnen keine große Tierhaltung gestatten, sind darauf angewiesen. Die Abhängigkeit der Viehzüchter von Ackerbauprodukten steigt in Jahren der Dürre, wenn viele ihrer Tiere sterben, was zu dem zusätzlichen Problem führt, dass sie fast keine Güter mehr für den Tauschhandel besitzen. Denn das einzige Handelsgut, das sie aufbringen können, sind tierische Produkte aus der Herdenhaltung wie Käse, Decken, Lederwaren, die von den Frauen hergestellt werden. Sie werden gegen Hirse, Datteln und andere Feldfrüchte im reichen Sudan, wo Ackerbauvölker wohnen, eingetauscht. Das geschieht nicht auf direktem Weg, sondern die Route der Männer vom Ahaggar führt sie zuerst zu nahen Salzminen, wo sie ihre Produkte gegen das Steinsalz der Wüste eintauschen. Mit dem Salz als dem entscheidenden Handelsgut begeben sie sich dann auf den langen Weg nach Süden. Mit Hirse und anderen Agrarprodukten kehren sie zurück, wobei beim Tausch noch Kleidung, Geräte und Haushaltswaren erworben werden.
17 Nicolaisen, S. 146, 405, 460, 467; Claudot-Hawad: »Femme Idéale«, S. 100–102; Georg Klute: Die schwerste Arbeit der Welt, München 1992, Trickster Verlag, S. 196–198.
8.2 Soziale und ökonomische Macht bei den Tuareg
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Eine solche Karawane ist einen Winter lang unterwegs. Die Ahaggar-Tuareg brechen im Herbst auf und kehren erst im Frühling nach sechs bis sieben Monaten zurück. Sie legen auf ihrer Route von Tamanrasset über Agades, Tanut und Sinder etwa 3000 km durch heißes, unwegsames Gelände zurück. Sie leben dabei manchmal wochenlang nur von der Milch der Kamele. Sie ertragen Tageshitze, Nachtkälte, Sandstürme und andere extreme Strapazen, die Mensch und Tier gleichermaßen erschöpfen (Abb. 32).18 Die Härte dieser Lebensweise und die Knappheit ihrer Güter, besonders in Jahren der Dürre, haben dazu geführt, dass die Männer sich nicht nur auf den friedlichen Karawanenhandel beschränkten. In der Vergangenheit, vor der Ankunft der europäischen Militärverwaltung, ergänzten sie den Handel durch Raubüberfälle auf die Bauern im Süden und auf die Herden und Karawanen anderer Tuareg-Stämme. Diese Raubzüge waren ein normaler Teil ihrer Wüsten-Ökonomie. Auch hier waren es wieder die Ahaggaren, die nicht nur als die besten Karawanenführer, sondern auch als die kühnsten Krieger und die am meisten gefürchteten Räuber galten. Sie überfielen ihre Nachbarn, die sesshaften Oasenbauern, ebenso wie andere Tuareg-Stämme, insbesondere die südlichen, islamisierten Ullimeden-Tuareg und die Araber bei Timbuktu, die große Herden besaßen. Letztere zahlten an die Ahaggar-Häuptlinge oft Schutzgelder, damit sie nicht überfallen würden – was aber nicht immer half. Karawanen wurden regelmäßig geplündert, so dass sie schließlich nur in Begleitung bewaffneter Männer durch die Wüste ziehen konnten. Diese Raubüberfälle, Fehden und Kleinkriege praktizierten alle Tuareg-Stämme mehr oder weniger untereinander und gegen ihre schwarzen und arabischen Nachbarn im Süden.19 Wir sehen hier nämlich eine matriarchale Gesellschaft unter extremen Bedingungen. Statt auf der traditionellen, ergiebigen Ackerbau-Ökonomie beruhend, wurde sie in die Wüste hinausgetrieben, wo die Menschen als Nomaden ums Überleben kämpfen müssen. Außerdem wird dabei der hohe Grad deutlich, in dem Viehzüchter-Völker für ihre pflanzliche Nahrung von Ackerbau-Gesellschaften abhängig sind. Sie sind niemals autark, denn sie könnten ohne die Anknüpfung an Ackerbau-Gesellschaften nicht existierten. Diese Anknüpfung ist manchmal friedlich durch Handelsbeziehungen, häufig aber unfriedlich durch Plünderungen, und in diesem Falle wird die Viehzüchter-Gesellschaft parasitär gegenüber den agrarischen Gesellschaften. Mit Hinblick auf die Kulturgeschichte bedeutet dies, dass Viehzüchter-Gesellschaften eine sekundäre Erscheinung sind. Sie können erst nach den Ackerbaugesellschaften entstanden sein und sind aus diesen, die zuerst Haustiere domestizierten, hervorgegangen.20
18 Nicolaisen, S. 209–213, 218. 19 A.a.O., S. 217–218. 20 Das widerspricht der landläufigen Auffassung von der direkten Entstehung der Viehzüchterkulturen aus den Jägervölkern der Altsteinzeit. Sie beruht auf dem Vorurteil einer unabhängigen »Männerherrlichkeit« sowohl der Jäger wie der Viehzüchter, doch beides ist, nur aus unterschiedlichen Gründen, falsch. Die Jäger waren abhängig von der Sammeltätigkeit der Frauen innerhalb der eigenen Gesellschaft, und die Viehzüchter waren abhängig von einer anderen, agrarischen Gesellschaft. – Siehe die Bestätigung dieser Ansicht bei den Forschern Hahn, Forde, Childe, Mary Douglas und die Argumentation von Nicolaisen zu diesem Thema.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Abb. 32: Tuareg-Männer auf ihren Reitkamelen (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 196; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency)
Bei den Tuareg-Männern ist ihre scheinbare Unabhängigkeit tatsächlich eine Funktion ihrer Abhängigkeit von den umliegenden Ackerbauern und ebenso vom Lager der Frauen. Wenn sie nach langer Reise dorthin zurückkehren, händigen sie sämtliche Güter
8.3 Die politische Organisation der Tuareg
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den Frauen aus, das heißt, ihren Müttern, Schwestern und Gattinnen, wobei es keine Rolle spielt, wie sie diese Güter erworben haben. Der Grund hierfür ist keineswegs nur, dass die Männer wegen ihrer mobilen Lebensweise die Güter nicht behalten können, so dass sie im Zelt »angebunden« und »stabilisiert« werden müssen, um nicht wieder verloren zu gehen. Es gehört außerdem zum Ehrenkodex der Adeligen, die Frauen ihres Clans möglichst reich auszustatten und viele Geschenke an die gewöhnlichen Leute zu verteilen. Denn nicht die Akkumulation von Gütern gilt als Wert, sondern ihr Weitergeben als Geschenke und die Kooperation der Menschen untereinander. Außerdem gehören die Güter, die den Männern für ihre Karawanen mitgegeben werden, den Frauen, die nicht nur die Besitzerinnen der Herden sind, sondern auch die tierischen Produkte für den Handel herstellen. Deshalb kehren die Güter nach dem Tausch, möglichst vermehrt, wieder in die Hände der Frauen zurück. Die Männer handeln dabei als Delegierte der Frauen, wie eine es ausdrückte: »Ich heiße dich holen und bringen, und so kehrst du zu mir zurück. Du sollst nicht auf eigene Faust dein Glück suchen!«21 Damit besitzen die Tuareg-Frauen die Kontrolle über sämtliche Güter. Diese ökonomische Macht der Frauen ist jedoch für die Männer kein Problem, denn sie betrachten es als selbstverständlich, dass die Frauen als Garantinnen des Lebens der Sippe zu ihrem Schutz die Güter haben. Die Frauen trotzen in ihren Zelten dem extremen Klima und den Stürmen der Wüste, dort schützen sie die Kinder, welche die Zukunft der Gesellschaft sind. Nur wenn ihre Existenz gesichert ist, kann die Tuareg-Gesellschaft überleben, sie sind ihr vitaler Pol. Daher verstehen die TuaregMänner ihre Aufgabe so, dass durch ihre Arbeit die Güter, die in die Hände der Frauen kommen, Früchte tragen können. Ein Tuareg-Sprichwort drückt es aus: »Ohne Frauen kein Wohlstand, und ohne Männer keine Frauen im Wohlstand.«22 Die Tuareg-Frauen haben außerdem eine starke Solidarität untereinander, die auf die Männer eine entsprechende Wirkung ausübt. Diese Solidarität überschreitet die Clan- und Stammesgrenzen und ist unabhängig von den Kämpfen der Männer. Die Frauen pflegen das Gemeinschaftsgefühl für die ganze Tuareg-Völkergruppe, denn sie bewahren die gemeinsame Sprache, Kultur und Lebensweise. Stets standen sie außerhalb und oberhalb der Stammesfehden. Kein Sieger würde es wagen, die Regeln, welche die Frauen schützen, zu verletzen, denn keine Frau würde ihn danach mehr beachten.
8.3
Die politische Organisation der Tuareg
Die sozial und ökonomisch bedeutende Position der Tuareg-Frauen wirkt sich auch in der Politik aus. Um ihre Macht zu wahren, brauchen sie deshalb nicht unbedingt in der politischen Sphäre der Männer, die hierarchisch organisiert ist, aufzutreten, denn ihre Macht wird ihnen nicht streitig gemacht. Die allgemeine Politik – das
21 Claudot-Hawad: »Femme Idéale«, S. 102; siehe auch den Dokumentarfilm von Sylvie Banuls/Peter Heller: Die Töchter der Zelte, München 1991, P. Heller Produktion. 22 Claudot-Hawad: »Femmes Touaregues et Pouvoir Politique«, S. 70; Henri Lhote: Zu den Ahnen der Tuareg, Würzburg 1976, S. 106.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
heißt, die des ganzen Volkes und nicht nur die der Männer als Krieger – verläuft nach matriarchalen Mustern, denn sie wird an der Basis gemacht. Im wörtlichen wie übertragenen Sinne ist das Zentrum der Politik das Zelt, wo die Volksversammlung, »Aségewur« genannt, vom Clan-Häuptling einberufen wird. »Aségewur« bedeutet »Fundament für alles« oder »Plattform für den Amtssitz«. Denn von diesem Fundament hängt es ab, ob einer sicher im Amt sitzt. Aségewur sind die politischen Beratungen, die im »Zelt« stattfinden, nämlich sowohl in den einzelnen Linien als auch im ganzen Clan; es ist zugleich der engere wie der allgemeine Kreis. Frauen und Männer derselben Mutterlinie beraten dabei ihre Angelegenheiten in den einzelnen Zelten und hier fallen die Entscheidungen. Sie werden dann zwischen den Zelten koordiniert, um zur Entscheidung des ganzen Clans im Clanrat, der »Djemaa«, zu kommen. Bei diesem Vorgang fallen die Stimmen der Frauen sehr ins Gewicht; ohne sie kann nichts entschieden werden. Die Clan-Häuptlinge sind Männer als Kommunikationsträger, aber nicht als Entscheidungsträger. Sie vertreten als Delegierte die Entscheidungen ihres Clans bei den großen Ratsversammlungen der Männer, früher der Krieger, die einen Stamm oder eine Konföderation von Stämmen umfassen. Diese männlichen Delegierten sind den Frauen Rechenschaft schuldig über das, was dort geschieht. Die Frauen können in die großen Ratsversammlungen der Männer eingreifen, und sie tun es, wenn sie nicht sicher sind, dass ihr männlicher Delegierter seine Rolle als »Repräsentant der Herrinnen des Zeltes« gut wahrnimmt und ihre Auffassung angemessen vertritt. Dann erscheinen sie auf dem Terrain der Männer und verteidigen ihre Entscheidung höchstpersönlich (Abb. 33). Das Amt des Clan-Häuptlings ist ihm danach nicht mehr sicher, denn die Frauen können ihn jederzeit absetzen. Ähnlich handeln sie, wenn es zwischen den Männern keine Einigung gibt: Allein durch das Auftreten der Frauen wird schließlich der Konsens, die Einstimmigkeit im Volk, herbeigeführt.23 Doch soweit muss es gar nicht kommen. In der Regel wird die traditionelle Teilung der Machtsphären beibehalten, bei der die Frauen für das Innere des »Zeltes« (Clan) verantwortlich sind und die Männer für die äußeren Angelegenheiten. Die Frauen regieren indirekt. Auf jeder Generalversammlung der Männer, sei es auf der Stammesebene oder auf der Ebene der Konföderation von Stämmen, sind die Männer nur die Delegierten ihrer jeweiligen Clans und geben sich meist damit zufrieden, die Entscheidung des dominanten Clans zu bestätigen. Deshalb sind die Frauen, besonders die Matriarchinnen der großen Clans, die »Macht hinter dem Thron« oder die Entscheidungsträgerinnen im Hintergrund; sie dirigieren die Ereignisse, welche die Männer auf der offiziellen Bühne ausführen. Häufig hängt die Ernennung oder Absetzung sogar der obersten Häuptlinge von den wichtigsten Frauen der dominanten Clans ab. Das geschieht ohne jeden Umweg, wie dieser TuaregKommentar zeigt: »Als Häuptling hat sie ihren jüngeren Bruder geschickt, dann hat sie ihn für einen Cousin entlassen.«24
23 Claudot-Hawad: »Femmes Touaregues et Pouvoir Politique«, S. 72. 24 Ibid.
8.3 Die politische Organisation der Tuareg
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Abb. 33: Tuareg-Frauen bei einer Oase (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 206; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency)
Das Innere des »Zeltes« (Clans) gilt als wichtiger als die äußeren Angelegenheiten, denn die Realpolitik wird dort gemacht. Politik ist demnach die verwandtschaftliche Vernetzung der Clans untereinander, die in Aktion umgesetzt wird. Dieses Innere
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
hat außerdem den höchsten ethischen Status, denn in den Zelten der Frauen werden die Kultur und die Ehre der Tuareg gehütet. Über den Begriff der »Ehre« wirkten die Frauen früher sogar in die Fehden und Scharmützel zwischen rivalisierenden Stämmen hinein, denn der Ehre wegen veranlassten sie die Männer, mit größter Tapferkeit zu kämpfen. Ein galanter Hof mit Gesang und Dichtkunst wurde abgehalten, bevor die Krieger aufbrachen, um sie an den rechten Weg zu erinnern. Wenn die Krieger siegreich zurückkehrten, wurden sie mit einem ähnlichen Fest empfangen und gerühmt. Sollten die Krieger aber vom Weg der Kühnheit abweichen, dann erschienen die Frauen sogar auf dem Schlachtfeld, um ihrem Willen Nachdruck zu verleihen. Sie drohten ihren Gatten, dass sie jedes Recht an ihnen verlieren würden. Ebenso verlangten die Frauen Rache von den Männern, wenn die »Ehre des Zeltes« (Clans) verletzt war, beispielsweise wenn ein Clan seine dominante Rolle verloren hatte. Es konnte dann eine lange Fehde der Clans untereinander folgen – wie es 1909 und 1961 geschah.25 In der Ursprungsgeschichte der Tuareg-Völker treten die Frauen als Gründerinnen politisch noch deutlicher hervor, denn am Anfang eines jeden Stammes steht eine Frau, die Ahnfrau. Sie gebar Söhne, an die sie einen Teil ihrer Macht delegierte, und Töchter, die an ihre Stelle traten und die Mütter künftiger Häuptlinge wurden. Diese Geschichte beginnt mit der Auswanderung der Ahnfrau mit ihrem Gefolge in die Wüste; sie setzt sich fort mit dem dauerhaften Verbleiben in einer bestimmten, weiten Region und der Bildung von Bündnissen mit andern Stämmen durch die Heiratspolitik; sie mündet zuletzt in die Erschaffung des Stammes durch die Kinder dieser Ahnfrau. Eine solche Gründerin wurde zur »Königinmutter«, wenn sie von den verbündeten Stämmen als solche anerkannt wurde; sie trug dann den Titel »Tamenukalt«. Später, als ihre Brüder oder Söhne Könige wurden, trug jeder den Titel »Amenukal«. Gemäß den Gründungslegenden der Stämme regierte eine solche Königinmutter oder Tamenukalt am Anfang allein, sie bestimmte die Entscheidungsfindung und die Exekutive, ohne einen männlichen Partner aus der eigenen Linie an der Seite. Im Krisenfall wurde eine solche Königin auch Kriegsherrin und verteidigte ihr Volk mit dem Schwert in der Hand. Diese Kriegerin-Königinnen leisteten erbitterten Widerstand gegen die arabische Invasion Nordafrikas, zum Beispiel im Land der Berber: Die berühmte Kahina, Berberkönigin im Atlasgebirge, kämpfte als hervorragende Strategin für die Freiheit der von ihr geeinten Berberstämme. Die mächtige Königin Satawnata tat später dasselbe. Sie führte eine große Armee gegen die Araber und dehnte ihr Reich bis Marrakesch aus. Erst nach langen Jahren des Widerstands wurden beide Berberköniginnen besiegt. Noch 1917 war eine Frau politisch mächtig; es war die Dichterin Dassine oult Ihemma, die Cousine des Amenukal der Ahaggaren. Ihre musikalischen Vorträge waren hochberühmt und sie saß im Rat der Krieger, wo man auf sie hörte. Sie spielte eine entscheidende Rolle bei der Friedensfindung zwischen den Ahaggaren und Franzosen.26
25 A.a.O., S. 72–73. 26 A.a.O., S. 74–76; Cesco/Krebser, S. 145; Lhote: Les Touaregs du Hoggar, S. 38.
8.4 Die Geschichte: Auszug in die Wüste
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Die Geschichte: Auszug in die Wüste
Die Geschichte der Tuareg ist voll von solchen Stammesgründerinnen und regierenden Königinmüttern, was auf ihr gemeinsames Erbe mit den Berbern in Libyen und im Atlas-Gebirge hinweist. Es waren ihre Ahnfrauen, die in die große Wüste auswanderten, denn immer wieder wichen sie den verschiedenen Invasionen patriarchaler Eroberer der nordafrikanischen Mittelmeerküste aus. Sie emigrierten mit ihrem Volk in die uferlose Weite von Sand und Stein, unterwarfen und beugten sich nicht. Doch die Weidegründe bei den Gebirgen der Sahara waren begrenzt, und sie fanden sie nicht immer unbesiedelt vor. Es kam zu Kämpfen um das Land, und als immer neue Stämme hier ankamen, kämpften sie untereinander um die Hegemonie. Diese Dynamik entstand durch die Knappheit an fruchtbarem Land unter den harten Bedingungen der Wüste. Sie führte zur Herausbildung einer Hierarchie über andere Stämme bei den Tuareg, ohne dass diese die inneren, matriarchalen Muster ihrer eigenen Gesellschaft aufgaben. Aber ihre Herrschaft über andere Stämme überlagerte diese Muster. Das macht deutlich, wie sich Matriarchate unter extremen Bedingungen verändern können. So beginnt die Geschichte der Tuareg mit den sagenumwobenen »Libyern« der antiken Chronisten Herodot, Strabon und Plinius. Diese »Libyer« sind keineswegs ein einheitliches Volk gewesen, denn der Name ist nur eine Ortsbezeichnung. Sie bezieht sich auf die hellhäutigen Völker Nordafrikas, die seit sehr langer Zeit den fruchtbaren Küstenstreifen am Mittelmeer und die Oasen weiter landeinwärts bewohnten. Worüber die antiken Schriftsteller am meisten staunten, war ihre matriarchale Sozialordnung und gleichzeitig ihre hohe Verteidigungsfähigkeit; dies und ihre Lebensweise zeigen, dass sie die Ahnen der später so genannten »Berber« waren. Ihre kriegerischen Fähigkeiten haben sie entwickeln müssen, denn das Patriarchat hat ihre nordafrikanische Heimat in verschiedenen Formen heimgesucht und sie ununterbrochen bedroht. Die sogenannten Libyer sind am besten aus der ägyptischen Geschichtsschreibung bekannt, wo sie über Jahrtausende in Kämpfe mit den patriarchalen Pharaonen verwickelt waren. Die Ägypter hatten ihnen ihre Wohngebiete im Nildelta und der Oase Fayum weggenommen und sie in die libysche Wüste hinausgedrängt. Über Generationen kämpften die Libyer um die Rückgewinnung ihrer alten Länder und Heiligtümer, mit wechselndem Erfolg. So sind auch die Isebeten ein altes libysches Volk, dessen Überlebende sich in die Wüste retteten, nachdem die Isebeten 450 v.u.Z. vom Ägypterkönig Ramses III. geschlagen worden waren. Ihre Ahnfrau und Gründungskönigin ist Esebet, nach der sie sich »Isebeten« nannten. Sie kannten Ackerbau und Viehzucht, besaßen also eine gemischte Wirtschaft aus agrarischem Feldbau in den Oasen, verbunden mit nomadischer Ziegenzucht, ergänzt durch die Jagd auf Wildesel und andere Wildtiere. Damit waren sie den Bedingungen der Wüste – die damals noch regenreicher war – wirtschaftlich sehr gut angepasst. Sie ließen sich im Ahaggar-Gebirge nieder, hatten dort Höhlenwohnungen, die sie mit Felszeichungen schmückten. Sie bauten Megalithgräber entlang der Flüsse und Wa-
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
dis und errichteten kunstvolle, unterirdische Vorratshäuser, rund und mit konischem Dach, für ihre Ernte. Sie waren keineswegs »primitiv«, sondern besaßen eine weit entwickelte Kultur und sprachen eine Variante des Tamaschek. Ihre Königinnen waren Kriegerinnen geworden; von einer von ihnen wird berichtet, dass sie eine hervorragende Streitwagenkämpferin war. Sie wurde bei der Schlacht von Sagunt getötet (218 v.u.Z.), als sie mit ihren Leuten unter Hannibal gegen die Römer kämpfte.27 Die Isebeten blieben nicht lange allein in dieser Gegend, denn auch andere altberberische, matriarchale Stämme flohen vor dem sich ständig ausbreitenden Patriarchat in die Wüste. Es waren zuerst die patriarchalen Phönizier, welche die gesamte Mittelmeerküste Nordafrikas besetzten. Im 4. Jh. v.u.Z. errichteten sie ihre Hauptstadt Karthago, gründeten ihre Seeherrschaft und ihr Reich und unterwarfen die Stämme im Hinterland. Danach kamen die patriarchalen Römer, die im Jahr 19 v.u.Z. unter dem Feldherrn Cornelius Balbus alle phönizischen Städte an der nordafrikanischen Küste und in den Oasen des Fessan eroberten. Diese Gebiete hatten damals noch fruchtbare Weiden, sogar für Pferde, und die Einheimischen waren ausgezeichnete Reiter. Der Feldzug des Balbus war der Auftakt zur römischen Kolonialherrschaft an der afrikanischen Mittelmeerküste, die erneut eine Welle matriarchaler Völker in die Wüste auswandern ließ. Diese alt-mediterranen Völker wollten sich nicht der Herrschaft Roms beugen und zum bald darauf hereinbrechenden, patriarchalen Christentum konvertieren und zogen es daher vor, ihren Königinnen ins Ungewisse zu folgen. Eins von diesen waren die Dag Rali. Geführt von ihrer Königin Takama gelangten sie ins Ahaggar-Gebirge, das sie jedoch schon von den Isebeten besiedelt fanden. Die beiden Völker verwickelten sich jedoch nicht in Kämpfe, sondern verbanden sich friedlich durch die Heiratspolitik. Die Dag Rali übernahmen die Kultur der Isebeten oder brachten eine ähnliche mit, jedenfalls lebten beide Völker von nun an als Oasenbauern und Ziegen züchtende Nomaden in der Zentral-Sahara. Sie lehnten sowohl phönizische Bronze- und Eisenwerkzeuge ab, ebenso die patriarchalen Religionen und blieben ihrer matriarchalen Kultur treu, die bis in die Jungsteinzeit zurückreicht. Die Dag Rali haben diese Eigenschaften bis in die Gegenwart bewahrt: Sie haben noch dieselbe Ökonomie wie die Isebeten, nämlich Oasen-Feldbau und Ziegenzucht. Ihre Feldfrüchte sind Sorghum und Datteln, Hirse und Melonen, ihre Ziegenzucht ist nomadisch, und sie jagen Wildesel. Ihr Ackerbau kennt verschiedene Formen, die vom festen Garten- und Feldbau in den Oasen, mit oder ohne Bewässerungssysteme, bis zum einfachen Wanderfeldbau in den Wadis reichen. Wadis führen nach gelegentlichen Regenfällen Wasser, das mit kleinen Dämmen gestaut wird. In den nassen Sand werden Hirse und Melonen gesät und später geerntet, und nach der Ernte ziehen die Leute weiter. In den Oasen dagegen wird die Ernte in runden, unterirdischen Vorratshäusern aufbewahrt, genauso wie es die Isebeten früher taten.
27 Henri Lhote: Le Hoggar. Espace et Temps, Paris 1984, Armand Colin, S. 127–144, 179, 180; derselbe: Zu den Ahnen der Tuareg, S. 47–51.
8.4 Die Geschichte: Auszug in die Wüste
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Ob die Dag Rali nun Ziegenzüchter oder Bauern sind, stets liegen die Güter in den Händen der Frauen. Die älteste Frau der Mutterlinie ist verantwortlich für die Verwaltung der Herden oder der Gärten und Dattelpalmenhaine sowie die Zuteilung der Vorräte. Die Männer respektieren ausnahmslos diese Tradition, dass die Güter in Frauenhand sind. Noch heute wissen die Dag Rali aus ihren Überlieferungen, dass sie von den Isebeten abstammen, mit denen sich ihr Volk einst verband; sie betrachten sie als ihre Ahnen. Die Isebeten sind als eigener Stamm erloschen, weil sie in den Dag Rali aufgegangen sind. Doch bei den Dag Rali ist »Esebet« ein häufiger Frauenname, und sie leben noch immer in demselben Gebiet.28 Diese alte Gesellschaft von Wüstenberbern war klassisch matriarchal und kannte noch keinerlei hierarchische Schichtung. Diese horizontale Sozialordnung änderte sich, als diejenigen ankamen, die zu den späteren »Adligen« wurden. Es sind Stämme, die sich selbst den Rang der »Adligen« gaben, indem sie die schon lange Ansässigen unterwarfen und überlagerten. Auch sie haben ihr Schicksal nicht freiwillig gewählt, denn nach den Plünderungen durch Karthager und Römer wurden Alt-Libyen und der Fessan von einer besonders grausamen Invasion heimgesucht. Es waren die islamischen Araber im 7. Jh., die gegen die matriarchalen Berbervölker wüteten und Schrecken und Zerstörung verbreiteten. Sie entvölkerten ganze Länder: die Cyrenaika, Tripolitanien, Tunesien und den Fessan, denn ihre Eroberung war der Auslöser für die Flucht vieler Stämme in die Wüste. Jene ackerbauenden Berber, die an der Mittelmeerküste wohnen blieben, wurden unterworfen und mussten die arabische Sprache, Kultur und Religion annehmen, so dass ihre kulturelle Identität stark beschädigt wurde. Diejenigen jedoch, die noch im ausdörrenden, sich in Steppe verwandelnden Fessan lebten und nomadische Kamelzüchter geworden waren, ließen sich nicht unterjochen. Sie wichen vor der arabischen Eroberung aus und zogen nach Süden – wie der arabische Chronist Ibn Khaldun berichtet –, und ein solches Volk waren die Hoggar. Auf einem weißen Kamel reitend führte ihre Kriegerkönigin Tin-Hinan sie an, bis sie im Ahaggar-Gebirge (auch Hoggar-Gebirge) ankamen, das nun den Namen ihres Volkes trägt. Ihre Leute unterwarfen die dort ansässigen Ziegenzüchter mithilfe ihrer schnellen Reitkamele und machten sie zu ihren Vasallen, unter denen die Dag Rali der größte und traditionsreichste Vasallenstamm ist. Denn die Zeit der friedlichen Verbindungen war in den Völkerbewegungen, die jetzt von Nord nach Süd durch die Wüste drängten, offenbar vorbei. Außerdem hatte die Austrocknung der Sahara zugenommen, die Weidegründe wurden immer knapper; aus diesem Grund war das Pferd durch das Kamel ersetzt worden, das besser an das Wüstenklima angepasst ist. Tin-Hinan gründete die Föderation der Ahaggaren, die aus den drei Adelsstämmen Kel Rela, Taytok und Tégehé Mellet bestand; sie wurde die Gründungskönigin oder »Tamenukalt« dieses neuen Reiches.
28 Lhote: Les Touaregs du Hoggar, S. 73; Nicolaisen, S. 407–411, 485; Claudot-Hawad: »Femme Idéale«, S. 98; Mano Dayak: Touareg, la tragédie, Paris 1992, Edition Jean-Claude Lattès, S. 56.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Die Adelsstämme der Ahaggar-Tuareg erzählen dieses historische Ereignis in ihrer Gründungslegende auf ganz eigene Weise: Danach sollen beide Ahnfrauen, nämlich Tin-Hinan als die der Adelsstämme und Takama als die der Vasallenstämme, zusammen in der Wüste angekommen sein. Tin-Hinan sei die ältere Schwester und eine große Königin gewesen, sie soll die Adligen geboren haben. Takama als die jüngere Schwester habe dagegen die Gewöhnlichen, die tributpflichtigen Vasallen, zur Welt gebracht. – Diese Legende geht an der historischen Wahrheit vorbei. Sie wurde erzählt, um die neue Zweiteilung der Gesellschaft und den Vorrang der Adligen vor den Vasallen zu rechtfertigen. Der Vasallenstamm Dag Rali erzählt eine andere Version davon, in der die Adelsstämme später ankamen. Der mündlichen Tradition der Dag Rali entsprechen viele Tatsachen. So sind sie in ihrer Art anders als die adligen Tuareg und sie besitzen eine andere Ökonomie, die Ziegenzucht statt der Kamelzucht. Außerdem stimmt der Bericht der Dag Rali mit den archäologischen Funden überein. Die beiden Zuchtformen, Ziegenzucht oder Kamelzucht, waren vor hundert Jahren noch völlig getrennt, wobei die Adligen ausschließlich Kamele besaßen und die Vasallen ausschließlich Ziegen. Sie wurden deshalb »Kel Ulli«, das heißt »Ziegenleute«, genannt oder auch »Imrad«, das heißt »Ziegenkind«. Es ist die Ziege, nicht das Kamel, die wesentlich für die Wirtschaft ist und das Überleben in der Wüste möglich macht. Aus diesem Grund waren die Adligen auf die Ziegenprodukte ihrer Vasallen unmittelbar angewiesen. Sie kampierten nahe bei den Lagern der Vasallen und erhielten als Tribut die Erzeugnisse aus Ziegenmilch, die sie zum Leben brauchten. Als Gegenleistung gaben die adligen Krieger ihren Vasallen Schutz gegen andere Tuareg, die als Krieger und Räuber das Land durchstreiften. Diese anfängliche, hierarchische Ordnung der Tuareg war also eine Folge der kriegerischen Überlagerung zweier verschiedener Gruppen von Stämmen, die jedoch eine gemeinsame Herkunft haben. Beide Volksgruppen besaßen die alte matriarchale Sozialordnung der Berber, so dass hier matriarchale Stämme von später ankommenden matriarchalen Stämmen überlagert wurden. Ihre nahe Verwandtschaft hinsichtlich der Herkunftskultur und der Sozialform trug dazu bei, dass diese Hierarchie keine der Unterdrückung wurde – wie im patriarchalen Feudalsystem üblich –, sondern auf Verschränkung und Gegenseitigkeit beruhte und eher symbiotisch war. Unter den Bedingungen der Wüste sind diese Werte überlebensnotwendig. Von ihren Beutezügen bei den Ackerbauern im Süden brachten die adligen Tuareg zudem schwarze Sklaven und Sklavinnen mit. Diese wurden in die Familien integriert und dienten sowohl den Frauen wie den Männern bei ihren alltäglichen Arbeiten. Auf diese Weise entstand eine mehrfach geschichtete Gesellschaft aus Adligen, Vasallen und Sklaven. Wie bei den Nayar in Südindien waren es besondere historische Bedingungen, die dazu führten, denn Hierarchiebildung und Sklaverei sind keine genuin matriarchalen Elemente.29
29 Siehe Kapitel 5 in diesem Buch.
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Im 7. Jh. fanden solche Überlagerungen nicht nur bei den nördlichen Tuareg im Ahaggar- und Adscher-Gebirge statt, sondern auch bei den südlichen Tuareg im Adrar- und Aïr-Gebirge. Volkreiche Berberstämme, stets von ihren Gründungsköniginnen geführt, zogen auf langen Wanderungen durch die Sahara, bis sie auf guten Weiden nahe bei Gebirgen oder bei großen Gewässern eine neue Heimat fanden. Manche zogen bis zum Niger und zum Tschad-See und ließen sich dort nieder. Nach ihren Überlieferungen kamen sie alle aus dem Fessan und befanden sich auf der Flucht vor der arabischen Invasion. Dasselbe geschah im 12. Jh.: Wieder kam es zu große Völkerbewegungen von Nord nach Süd, denn nun eroberten die Araber auch Algerien und Marokko und drangen bis zur Zentral-Sahara vor. Wiederum wichen vor ihnen viele Tuareg-Nomaden in die Wüste hinein aus und suchten neues Weideland. Hier berührt sich die Geschichte der Tuareg-Stämme mit den Überlieferungen der matriarchalen Akan in Westafrika. Diese berichten, dass einige ihrer Ahnen, von Königinnen geführt, hellhäutig waren und von Norden her durch die Wüste gezogen kamen. Sie vermählten sich mit den ansässigen schwarzen Völkern in Westafrika und wurden selbst dunkelhäutig.30 Das entspricht auch der Tradition der Kel Ewey, die sich mit den einheimischen schwarzen Ackerbauern im Süden vermischt haben. Die wiederholten Völkerwanderungen in der Sahara verschärften die Situation zunehmend. Die Zeit der friedlichen Allianzen und der Koexistenz von Stämmen war vorbei; kriegerische Überlagerung und Verdrängung und der Kampf um Hegemonie, der oft ein Überlebenskampf war, hörten nicht mehr auf. Das führte zum dauerhaften Kriegswesen der Tuareg-Männer und ihrer strikt hierarchischen Ordnung untereinander. Hinzu kam die unaufhaltsam fortschreitende Austrocknung der Sahara, welche die ökonomischen Bedingungen schlechter werden ließ. Harte Notzeiten, wie anhaltende Dürre, lehrten diese Völker, noch andere Lösungen zu finden; dazu gehören einerseits die Raubzüge und andererseits die bewusste Desintegration der Gesellschaft. In diesem letzteren Fall verlassen die Männer ihre Sippen und ziehen weg, um den Nahrungsvorrat in den Zelten für die Frauen, Kinder und Alten nicht noch mehr zu schmälern; sie ziehen fort und versuchen, anderswo zu überleben.31 All das sind untypische Züge für matriarchale Gesellschaften, doch hier finden sie in Extremsituationen statt. Trotz des jahrhundertelangen Kampfes gegen die Araber begann bei den Tuareg ab dem 12. Jh. der islamische Einfluss. Sie wurden jedoch nur formal Mohammedaner und lasen den Koran nicht. Aber langsam schlich sich die Patrilinearität bei den südlichen Tuareg ein – bei den Ullimeden erst im 17. Jh. – und der Koran beeinflusste die Erbregeln. Damit wurde die matriarchale Sozialordnung der Tuaregvölker mit patriarchalen Elementen vermischt. Den Tuareg der Zentral-Sahara gelang es jedoch ihr Territorium zu verteidigen, sie assimilierten sogar die arabischen Stämme an ihre Kultur, und die Islamisierung blieb oberflächlich.
30 Siehe Kapitel 7 in diesem Buch. 31 Dayak, S. 68; Nicolaisen, S. 315.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Die einschneidende Islamisierung brachte paradoxerweise erst die französische Kolonialherrschaft ab 1900, denn die Sahara wurde nun von arabischen Soldaten unter Leitung der Franzosen erobert. Die Eroberer schafften das Kriegswesen der Tuareg ab, was bis 1950 zum Zusammenbruch ihrer politischen Kultur führte. Viele der arabischen Soldaten ließen sich danach in den Oasenstädten nieder, das arabische Element nahm zu, Arabisch wurde die offizielle Sprache. Die Koranlehrer, die »Marabus«, bekamen großen Einfluss, da sie die Fahne des Widerstands gegen die Europäer erhoben, und viele Tuareg folgten ihnen. Erst jetzt setzte sich die Islamisierung, gegen die sie sich viele Jahrhunderte lang zur Wehr gesetzt hatten, drastisch bei ihnen durch.32 Heute sind die Tuareg vom modernen Patriarchat bedroht, und ihre traditionelle Gesellschaft hat sich seit 1950 völlig verändert. Die Nomaden- und Karawanenwege werden durch moderne Staatsgrenzen zerschnitten und sind damit blockiert. Die Verarmung in einem immer härter werdenden Klima, das katastrophal für die Viehzucht ist, schreitet voran. Der kulturelle Niedergang durch die endgültige Islamisierung setzt ein, obendrein werden sie als nicht sesshafte Wandervölker immer mehr diskriminiert. Heute sind sie vom Genozid bedroht.33 Andere Tuareg wandern in die Städte aus, um ein neues Überleben zu finden, wobei nur für die Wohlhabenden von ihnen Bildungsmöglichkeiten in Koranschulen oder französischen Schulen offen stehen. Die westliche Bildung entfremdet sie in jedem Fall ihrer eigenen Kultur und befördert deren Zusammenbruch, eine Situation, die insbesondere für die Tuareg-Frauen katastrophale Folgen hat.34
8.5
Die alte Religion der Berber
Trotz alledem haben die Tuareg gewisse Aspekte ihrer alten Religion bewahrt, aber weniger in den Oasenstädten als in den einsamen Lagern in der Wüste, weniger die Männer als die Frauen. Die Wurzeln ihres traditionellen Glaubens liegen in der neolithischen Religion, die einige der sesshaften Ackerbau-Berberstämme am Mittelmeer noch praktizieren. Der Reichtum dieser alten Religion hat bei den zuletzt in die Wüste ausgewanderten Tuareg-Stämmen, den Adligen, sehr gelitten. Ihre wiederholten Wanderungszüge über riesige Entfernungen und ihre permanenten Kriegs- und Raubzügen haben die Verbindung zu ihrem alten Glauben destabilisiert, obwohl sie noch ein klares Wissen von ihrer Herkunft aus der Mittelmeerregi-
32 Nicolaisen, S. 305–306, 479; Lhote: Les Touaregs du Hoggar, S. 202–203. 33 Dayak: Touareg, la tragédie ; Hélène Claudot-Hawad/Mahmoudan Hawad: Touaregs. Voix solitaires sous L'Horizon confisqué, Paris 1996, Peuples autochtones et développment. 34 Fatimata Oualet Halatine: »The Loss of Privileges. A Tuareg Woman’s Journey towards Modernity«, in: Goettner-Abendroth, Heide (Hg.): Societies of Peace. Matriarchies in Past, Present, Future, Toronto 2009, Inanna Publications; Hélène Claudot-Hawad: »Ecole sans Savoir et savoir sans école«, in: La Revue générale, Nr. 10, Bruxelles 1993.
8.5 Die alte Religion der Berber
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on haben. Die Vasallenstämme bewahrten dagegen Praktiken aus der gemeinsamen, alt-berberischen Religion besser, weil bei ihnen der Ackerbau nie ganz aufhörte. Diese traditionelle Religion hat früher alle Berbervölker verbunden. Ihre Kultur reichte einst quer über den nordafrikanischen Kontinent von Ägypten im Osten bis zum Atlas im Westen, sogar noch weiter bis zu den Kanarischen Inseln, die auf der Höhe der Sahara liegen; dort lebten die Insel-Berber, die Guanchen. Um ein Bild von dieser traditionellen Religion zu gewinnen, wollen wir deshalb die älteste Schicht des Glaubens der Atlas-Berber betrachten und mit den restlichen Elementen bei den Tuareg vergleichen. Der Atlas mit seinen hohen Bergketten bildet ein typisches Rückzugsgebiet, das einige agrarische Berberstämme besser vor den verschiedenen patriarchalen Eroberungszügen geschützt hat als die Ebenen entlang den Küsten der Cyrenaika, Tripolitaniens und Tunesiens. Verborgen in ihrer Bergfestung, eingeigelt in ihren »Kasbahs«, den burgähnlichen, an allen Seiten mit hohen Mauern umgebenen Höfen, trotzen sie seit Jahrtausenden den verschiedenen Anstürmen von Kolonialmächten. So waren fremde Einflüsse bei ihnen schon immer gering, ihre Kraft zur Abwehr dagegen hoch. Das zeigen exemplarisch die heroischen Taten der Berberkönigin Kahina. Sie besaß genug Kraft, um die Invasion der Araber im 7. Jh., die rigoros das alte Ackerbausystem und die einheimische Kultur zerstörten, an den östlichen Hängen des Atlas eine Zeit lang aufzuhalten. Sie regierte, Königin und Prophetin in einem, ihr Volk 35 Jahre lang gerecht und gnädig, doch die Araber nannten sie »die Hexe«. Denn 695 n.u.Z. schlug sie, verbündet mit anderen berberischen Bergstämmen und den Byzantinern von der Küste, die arabische Armee in zwei Schlachten vernichtend. Drei Jahre später kamen die Araber wieder, doch sie brauchten noch vier weitere Jahre, sich Uneinigkeit und Spaltungen unter den Berbern zunutze machend, um Kahina Schritt für Schritt niederzuringen. Mit ihrer Niederlage und ihrem Tod im Jahr 701 war der berberische Widerstand zerstört, und die Islamisierung der Atlas-Berber begann. Diese gingen jedoch in einen jahrhundertelangen, passiven Widerstand, unter absoluter Abschirmung nach außen, was den AtlasBerbern den Ruf der »Unregierbarkeit« eingetragen hat.35 Sie wurden dennoch islamisiert und patriarchalisiert, was 1748 offiziell mit der strikten Vaterlinie und keinerlei Erbrecht für die Frauen vollendet war. Die Ehefrauen leben im oder nahe beim Clan des Gatten und dienen der Schwiegermutter, und im Fall der Scheidung müssen sie ihre Kinder dort zurücklassen. Aber es gibt deutliche Hinweise, dass bei allen Berbervölkern die Familien- und Sippenorganisation matrilinear war – bis zur relativ jungen Einführung der Vaterlinie.36 Heute sind die Atlas-Berber strenge Anhänger des schiitischen Islam. Letzteres gilt jedoch nur für die Männer, die Mauern der Undurchdringlichkeit um ihre Dör-
35 Sweetman: Women Leaders in African History, S. 17–21. 36 Germaine Laoust-Chantréaux: Kabylie Coté Femmes. La vie féminine à Aït Hichem, 1937–1939, Aix-en-Provence 1990, Edisud, S. 253–255; G. Marcy : »Les Vestiges de la Parenté Maternelle en Droit Coutumier Berbère«, in: Revue Africaine, Nr. 85, 1941, S. 187–211.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
fer und ihre Frauen bauen. Dahinter sieht die Welt der Frauen anders aus: Sie werden im Inneren des Hauses von den Männern sehr respektiert und haben sämtliche Vorräte an Lebensmitteln in der Hand, welche die Männer ihnen von den Feldern bringen. Außerdem hüten sie die Kultur; in strengem Konservatismus bewahren sie die alte Sprache der Berber sowie die archaisch-religiösen Traditionen, die sie »Magie« nennen. Das reicht bis an den Rand der Gegenwart, denn erst 1939 setzte massive Landflucht ein und ab 1950 löste sich die traditionelle Gesellschaft durch Auswanderung teilweise auf.37 Durch die Forschung ist jedoch einiges über den traditionellen, allgemein-berberischen Glauben bekannt. Darin gelten alle Dinge und Handlungen als sakral und stehen in einem komplexen symbolischen Zusammenhang. Die Berber benötigen keine Priester, denn jede Frau ist die Priesterin der Familien-Rituale und jeder Mann der Priester der uralten Ackerbauriten, bei denen die Frauen ebenfalls aktiv mitwirken. In Afrika kommt diese Situation häufig vor, dass die Männer formal Mohammedaner wurden und die Frauen »Heidinnen« blieben und mit ihrer alten Religion fortfuhren. Das gilt auch für die Atlas-Berber, die in ihrer eigenen »sakralen Zeit« der alten, agrarischen Feste leben, bei denen islamische Sozialregeln, die Liebe und Tod betreffen, begrenzt überschritten werden; die »profane Zeit« ist die der sozialen Verbote. In dieser »sakralen Zeit« werden die traditionellen Kulte von den Frauen aufrechterhalten und weitervermittelt, sie bewahren darin eine gewisse religiöse Autonomie (Abb. 34). So rufen sie noch immer Naturgeister an, auch wenn diese geborgte, islamische Namen tragen. Berge, Höhlen, Felsen, Quellen, Bäume und besonders die zahlreichen Gräber der jungsteinzeitlichen Megalithkultur gelten als von diesen Geistern bewohnt. Sie dürfen nicht beleidigt, ihre Plätze nicht verletzt werden, damit sie nicht Unglück senden. Allmählich wurden sie in islamische Heilige umgewandelt und die Frauen pflegen diesen »Heiligenkult«.38 Der Ursprung des menschlichen Lebens wird in den Tiefen der Erde gesehen. Das Urelternpaar kam aus der Erde hervor und die Frau war die erste, denn sie ist auf magische Weise mit der Erde verbunden. Zuerst gebar sie vier Schwestern, dann vier Brüder und zahlreiche weitere Kinder, die der Anfang der Menschheit waren.39 Gleichzeitig werden die Menschen auch mit dem Himmel in Beziehung gebracht: die Frau mit dem Mond und der Mann mit der Sonne. Das heißt, entgegen den üblichen Interpretationen vom männlichen Himmel und der weiblichen Erde haben beide Geschlechter an der irdischen wie an der himmlischen Sphäre teil. Kinder
37 Laoust-Chantréaux, S. 253–255; siehe besonders die indigene Berber-Kabylin Makilam: Die Magie kabylischer Frauen und die Einheit der traditionellen Berbergesellschaft, Bremen 2007, Kleio Social Anthropology, S. 263–267 (original Paris 1996); Makilam: Zeichen Sprache. Magische Rituale in der Kunst kabylischer Frauen, Bremen 2007, Kleio Social Anthropology (original Aix-en-Provence 1999). 38 Monique Gadant/Michèle Kasriel: Femmes du Maghreb au présent, Paris 1990, Editions du Centre national de la recherche scientifique, S. 245–246, 263–264; Stern-Lichten, S. 854 ff; W. Vycichl: »Les Imazighen. 5000 Ans D'Histoire« in: Etudes et Documents Berbères, Nr. 4, Paris 1988, La Boîte à Documents, S. 85–93. 39 Makilam: Zeichen Sprache, S. 29–30.
8.5 Die alte Religion der Berber
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Abb. 34: Junge Berberin im Festtagsschmuck (aus: Heft 7/201 der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ethnologisches Museum)
werden als Mondwesen betrachtet, bis sie als Erwachsene ihre rituelle, sakrale Hochzeit feiern. Erst dann erscheint der Mann im Symbol der Sonne, deren Licht vom Mond, der Frau, angezogen und zurückgeworfen wird. Erst nach der Empfäng-
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nis verwandelt sich die Frau in das Ebenbild der Erde, der Mutter des Menschengeschlechts. Sie ist dann mit der Erde identisch. In diesem Sinne ist die Hochzeit zweier Menschen nicht nur eingebunden in die Gemeinschaft zweier Clans, sondern auch in die Kosmologie, die sie abbildet. Sie wird als ein sakrales Geschehen mit magischer Wirkung betrachtet, eben die Heilige Hochzeit (hieros gamos), von der die Balance auf der Erde und im Kosmos abhängt, ebenso das Gleichgewicht zwischen irdischer und himmlischer Sphäre.40 So wie alle alltäglichen Arbeiten im jahreszeitlichen Ablauf symbolisch-magisch dazu beitragen, diese Balance zu wahren, ist insbesondere die Zeremonie der Heiligen Hochzeit im Frühling äußerst wichtig. Es gibt viele Rituale dieser Heiligen Hochzeit: Wenn beispielsweise der sehr benötige Regen im Frühjahr ausbleibt, veranstalten die Frauen eine Bittprozession, in der sie einen Schöpflöffel als Puppe verkleidet herumtragen; die Puppe heißt »Braut des Regens« oder »Braut des Himmels« und wird mit Wasser besprengt. Ihr Name ist »Gonja« und früher war es an ihrer Stelle eine junge Frau, die als die Erde im Frühling oder die junge Vegetationsgöttin galt, denn Gonja ist der Name einer alten berberischen Göttin. Sie soll den Regengott »Anzar« herbeiziehen, der sich mit ihr vermählt, daher zeigt die Prozession mit der Puppe alles Gehabe eines Hochzeitszuges.41 Zuletzt setzen die Frauen sie auf ein altes Megalith-Grab. In früherer Zeit, als der Regengott, von einem Mann verkörpert, noch persönlich erschien und den Namen »Gatte der Gonja« trug, kam es zwischen ihm und der jungen Frau an dem heiligen Ort zu einer erotischen Vereinigung. Eine andere Form des Rituals ist, wenn die Frauen um die Puppe herum Wettläufe und die Männer Wettritte veranstalten. Hier war es der Sieger des Wettreitens, der sich früher, als die Puppe noch eine junge Frau war, in der magischen Heiligen Hochzeit mit ihr verband. Diese Prozessionen werden immer von einer alten Frau, die verkehrt herum auf einem Esel reitet, angeführt. Oft ersetzt sie die Puppe als »Braut des Himmels«, und sie wird »Quelle des Lebens« genannt, obwohl sie ersichtlich nicht mehr fruchtbar ist. Dies lässt vermuten, dass sie heute ebenfalls an der Stelle der jungen Frau sitzt, um die sexuelle Symbolik zu verdecken. Zudem gilt der Esel bei den Berbern als heiliges Tier, er repräsentiert Ausdauer, Geduld und die männliche sexuelle Kraft. Die libyschen Stämme der Antike verkörperten ihren Hauptgott Seth in Gestalt des Esels. In Nordmarokko gab es – obwohl streng geheim – eine weitere Variante der Heiligen Hochzeit. Dort trafen sich einmal im Jahr alle Frauen und Männer in einer großen Höhle, und wenn die Lichter erloschen, vereinigten sie sich erotisch miteinander. Fremde Personen, die sich bei diesem Ritual eingeschlichen hatten, wurden getötet. Sogar im Islam hat ein solcher Ritus der Heiligen Hochzeit überlebt; dabei vereinigen sich eine Braut und ihr Bräutigam in der Moschee, und anschließend vereinigen sich alle jungen Frauen und Männer im Dorf in einem sexuellen Akt.
40 A.a.O., S. 148–149. 41 A.a.O., S. 33, 146; Jean Servier: Tradition et Civilisation Berbères. Les Portes de l'Année, Monaco 1985, Du Rocher, S. 271–284, 455.
8.5 Die alte Religion der Berber
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Diese Formen erinnern an den kollektiven Vollzug der Heiligen Hochzeit in archaischer Zeit.42 Auf den Frühling als dem Übergang von der regnerischen Jahreszeit des Winters zur trockenen Jahreszeit des Sommers folgt die Erntezeit, denn die Ernte muss eingebracht werden, bevor die Hitze und Dürre des Sommers sie vernichten. Der Sommer gilt als »Todeszeit«, denn die Fruchtbarkeit der Erde selbst erleidet den Tod. Bei der Ernte des letzten Getreides »stirbt« jedes Feld und mit ihm der Korngeist. Doch dieser Tod ist die Voraussetzung für die Wiedergeburt der Vegetation im nächsten Jahr. Besonders ausführlich sind die Riten der letzten Garbe, sie sind ein Dank und Lebewohl an die Ahnen, die Totengeister, die das Wachsen und Reifen der Ernte begleitet haben, nun kehren sie in die Unterwelt zurück. Die letzte Garbe wird auf das Feld gelegt und wie ein Opfertier »erwürgt«. Der Feldbesitzer ist dabei der »Erntekönig«, der die letzten Ähren schneidet. Danach wird er gebunden und muss sich aus seiner Verpflichtung loskaufen. Früher war er die Personifikation des Korngeistes und wurde vermutlich selbst getötet, als ein Opfer an die unterirdischen Mächte. Heute ist es das Opfer eines schwarzen Stieres, das an seine Stelle getreten ist, und den Opferstier muss er bereitstellen. Nun folgt der Sommer, die »Zeit der Unordnung«. Denn die Grenzen der abgeernteten Felder werden aufgehoben und die Herden weiden darauf, wo sie wollen. Erst im Herbst werden die Feldergrenzen neu bestimmt und damit die »Ordnung der Welt« wiederhergestellt. Die neue Landverteilung an die männlichen Familienoberhäupter im Herbst ist der Beginn des Pflügens und der Ackerbauarbeiten vor dem Winter. Wieder wird ein schwarzer Stier als Symbol der Fruchtbarkeit geopfert; die Schwärze seines Felles bedeutet den dunklen Wolkenhimmel des Winters, der Gewitter und Regen bringt. Die Zerteilung des Opfertieres in Stücke, die in einem Festmahl verzehrt werden, entspricht der Zerteilung der Erde in Felder-Parzellen. Nun pflügt ein gewählter »Ackerbaukönig« rituell die erste Furche ins Feld und danach wird die Saat hineingelegt, um die Erde zu »schwängern«. Erotische Späße und Spiele begleiten diese Zeremonien, um die Schwangerschaft der Erde zu verstärken. Zu Frühlingsanfang ist das Opfer ein weißer Widder, der symbolisch mit der Sonne verbunden wird. Nun wird die Wiederkehr der Vegetation gefeiert, die Frauen kleiden sich bunt und schmücken sich. Die Kinder werden gesegnet, denn sie verkörpern das wiedergeborene Leben in der Menschenwelt. Die Knaben tragen Kränze aus Frühlingsblumen wie die archaischen »Frühlingsblumen-Heroen«, die früher als die wiedergeborene Personifikation des geopferten Königs galten. Ihren Höhepunkt erreicht die Erotik des Frühlings in der Zeremonie der Heiligen Hochzeit – und so schließt sich der Jahreskreis.43 Diese Riten der Atlas-Berber sind ein zusammenhängendes System von uralten Agrarzeremonien. Sie spiegeln noch – wenn auch vom Islam überdeckt – den voll-
42 Servier: Tradition et Civilisation Berbères; J. Zwernemann: Die Erde in Vorstellungswelt und Kultpraktiken der sudanesischen Völker, Berlin 1968, Reimer, S. 407–411. 43 Zwernemann, S. 411–419; Servier: Tradition et Civilisation Berbères, S. 121–191, 250, 303–322, 344–247; Jean Servier: Les Berbères, Paris 1990, Presses universitaires de France. – Diese Bräuche wurden in der Region Aurès praktiziert.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
ständigen Zyklus der Mysterienfeste aus Heiliger Hochzeit, Tod und Wiedergeburt der einstigen matriarchalen Kulturen des Mittelmeerraumes, Vorderen Orients (Westasiens) und Europas.44 Überall ist diese Religion aus der Jungsteinzeit längst untergegangen, doch die Berber haben ihre Elemente im unzugänglichen AtlasGebirge bis an den Rand der Gegenwart bewahrt. Die Geheimnisse von Tod und Wiedergeburt liegen insbesondere bei den Frauen, Geheimnisse, die sie vor den Männern und vor Fremden hüten. Sie treten auf vielfache Weise in Kontakt mit den Geistern der Ahninnen und Ahnen als dem anderen Teil des Clans. Ganz selbstverständlich fühlen sich die Lebenden mit den Ahnenwesen im Alltag verbunden, sie grüßen sie, sie teilen die Mahlzeiten mit ihnen, so ist die Welt der Ahnen immer anwesend. Die Ahnen sind den Lebenden wohlgesinnt, sie segnen das Haus und die Ställe, sie schützen die Dörfer und das Clanland. Ihre Wohnorte sind die Gräber, an denen man sie um Rat fragen kann, oder sie hausen in Seelenbäumen und Ahnenfelsen. Die Frauen machen oft lange Pilgerreisen zu besonders heiligen Plätzen, wie die jungsteinzeitlichen Megalithgräber, die sie von Urmüttern und den eigenen matriarchalen Ahnfrauen bewohnt sehen. Als Seelenwohnungen werden diese Steine von ihnen sehr verehrt; sie bemalen sie mit Henna und bringen den Ahninnen Gebete, Speisen und Rauchopfer dar. Dort werden auch die früh verstorbenen Kinder begraben, damit sie umso schneller wiedergeboren werden können. Denn der Hauptzweck der Reise ist, selbst Kinder zu bekommen. Die Frauen glauben, sie könnten dort Ahnenseelen abholen, denn sie bitten um Fruchtbarkeit und Schwangerschaft und hoffen, dass sich ein Ahnenwesen durch sie wiedergebären lassen will. Die Ahnen schenken den Pilgerinnen auch Heilung und Wissen um die Zukunft. Es gibt Besessenheitsriten, in denen Frauen als Schamaninnen agieren. Ahnenseelen fahren in sie, dadurch geraten sie in Trance und prophezeien künftige Ereignisse. In jedem Fall werden die Wesen, die in den Steinen wohnen, als weiblich betrachtet. Denn Erde und Steine sind weiblich und jede Frau ist ein Abbild der Erde. Daher haben allein Frauen den Kontakt zu den Erdgeistern, sie sind die Magierinnen der Erde. Auch die Bergspitzen gelten als weiblich beseelt, denn auf ihnen thronen Göttinnen, und es gibt Muttergipfel und Tochtergipfel, die einfache Stein-Heiligtümer tragen. Der Gedanke an Wiedergeburt ist auch in anderer Weise ständig präsent. Oft bringen die Frauen nur eine tönerne Totenlampe mit an den heiligen Ort und zünden sie an. Die Lampen sind ausschließlich in den Händen der Frauen, denn sie anzünden heißt ein Ahnenwesen rufen, und diese Handlung kommt einer kurzen Wiedergeburt der Seele gleich. Auch Grotten sind heilige Plätze, sie sind der Schoß der Erde und gelten als Eingang zur Welt der Ahnen. Junge Frauen, die Kinder haben wollen, pilgern zu den Grotten und gehen, begleitet von Gesang und den »Ululu«-Freudenschreien der anderen Frauen, siebenmal durch sie hindurch, um von Ahnenseelen schwanger zu werden.45
44 Robert von Ranke-Graves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, Reinbek bei Hamburg 1984, Rowohlt; Göttner-Abendroth: Die Göttin und ihr Heros. 45 Servier: Tradition et Civilisation Berbères, S. 7–54, 84. – Diese Bräuche gibt es besonders in der Kabylei.
8.5 Die alte Religion der Berber
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Auch die uralten Frauenkünste der Töpferei und Weberei sind bei den Berberinnen eine Abfolge von symbolträchtigen Ritualen, die demselben saisonalen Zyklus folgen wie die Ackerbau-Riten. Zugleich spiegeln sie den gesamten Lebenszyklus der traditionellen Berberinnen wider: von der Heiligen Hochzeit zur Schwangerschaft, in der die Frau als »Töpferin des Kindes« gesehen wird, von der Mutterschaft, in der die Frau als die »nährende Erde des Menschengeschlechts« gilt, bis zum sehr geachteten Stand der Großmutter, der »Weberin der menschlichen Bande«. In diesem Sinne sind die Töpfe und Gewebe keine Ware, sondern in einem langsamen, das Jahr hindurch währenden Prozess entstandene Dinge, die ein geheimnisvolles Eigenleben haben. Denn auch dabei geht es den Frauen um die Ausübung und Weitergabe von spirituellen Werten und uraltem Wissen, um die Schaffung einer eigenen Magie.46 – Dieses reiche, rituelle System der alt-berberischen Religion ist bei den Tuareg, den Berbervölkern, die Nomaden wurden und in die Wüste auswanderten, teilweise verloren gegangen. Durch den nomadischen Lebensstil von ihrer agrarischen Herkunft entwurzelt, bewahrten sie diese Mythen und religiösen Zeremonien nicht mehr. Die Vasallenstämme der Tuareg, wie die Dag Rali, blieben diesen Traditionen am ehesten treu, solange sie den Ackerbau in den Oasen noch betrieben. Dennoch hat sich bei den Tuareg in der übermächtigen Natur der Wüste der Glaube an Naturgeister erhalten, den »Kel Essuf«, den Geistern der Einsamkeit und Leere, die in der endlosen Weite der Wüste ihr Unwesen treiben. Sie rühren Sandstürme auf, lassen Pisten im Staubnebel verschwinden, bringen Wasserstellen zum Versiegen, manchmal erscheinen sie sogar als täuschende Luftspiegelungen, als schöne Fata Morgana. Sie sind gefährlich, und man muss sich mit Amuletten gegen sie schützen. Mit den gütigen Ahnengeistern der Ackerbau-Berber haben sie nichts gemeinsam. Der Glaube an Segen spendende Ahninnen ist jedoch nicht ganz erloschen, und ihre heiligen Orte sind die archaischen Gräber und megalithischen Steinkreise, die auch in der Wüste existieren. Wie bei den Atlas-Berberinnen ist es ein Brauch der Tuareg-Frauen, zu diesen Gräbern zu pilgern und die Urmütter, wie Tin-Hinan und Takama, dort zu verehren. Bei den Ahaggar-Frauen gibt es den magischen Ritus, in der Nacht schön gekleidet und geschmückt zu einem dieser Gräber aus vor-islamischer Zeit zu gehen, die Ahnenseele anzurufen und dann auf den Steinen in Schlaf oder tiefe Trance zu fallen. Kurz vor Morgengrauen erscheint die Ahnin im Traum und prophezeit künftige Ereignisse. Diese beziehen sich keineswegs nur auf die Rückkehr der lange abwesenden Männer – wie von Ethnologen behauptet wird, denen die Frauen ihre Geheimnisse aber nicht verraten –, sondern vielmehr auf die künftige Fruchtbarkeit, auf Kinder. Denn an einem solchen Grab kann eine Ahnenseele empfangen werden. Dieses Ritual ist außerordentlich alt, es ist schon von den Libyern in der Antike bezeugt.47
46 Makilam: Zeichen Sprache; dieselbe: Die Magie kabylischer Frauen. 47 Cesco/Krebser, S. 154–156; Herbert Kaufmann: Wirtschafts- und Sozialstruktur der Iforas-Tuareg, Dissertation, Universität Köln 1964, Kleikamp Verlag, S. 83–84; Lhote: Les Touaregs du Hoggar, S. 195–197, 204–205.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Das Fruchtbarkeitsritual an heiligen Gräbern weist auch bei den Tuareg-Frauen auf schamanische Praktiken hin, die in mehreren Formen bei ihnen verbreitet sind. Schamanische Heilungsrituale sind ausschließlich Angelegenheit der Frauen, sie werden typischerweise nur von Frauen der Vasallenstämme ausgeübt. Die Ursache ist Besessenheit von einem bösen Geist, einem »Kel Essuf«, denn die Einsamkeit in der Wüste oder soziale Konflikte können zum Gefühl der Verlorenheit und Trostlosigkeit führen. Das Heilungsritual findet nur in der Nacht statt, ein Frauenkreis steht um die Besessene, die in der Mitte sitzt und nur mit Kopf und Oberkörper, sich schüttelnd, tanzt. Die Heilerinnen sind der Frauenchor, sie trommeln und singen Lieder und versuchen, die Kommunikation zur Seele der Patientin aufzunehmen und sie aus der Depression zu befreien. Nur Frauen kennen und lernen die Texte der Besessenheitslieder, die sakralen Charakter haben; ebenso enthalten die Lieder kosmologisches Wissen, das mit den Heilkräutern verknüpft ist. Die gesamte islamische Geistlichkeit und die adligen Männer lehnen diese Rituale ab. Jedes Mal gibt es nach einem solchen Heilungsritual hitzige Diskussionen, die den sozialen Konflikt zum Vorschein bringen. Doch die Frauen der Vasallenstämme betrachten die Heilungsrituale als eine ästhetische Form, als Kunst, genauso wie die adligen Frauen das Ahal als Kunst betrachten, und beide Formen sind sehr alt.48 Auch die Schrift Tifinar, die nur aus Strichen, Punkten und Kreisen besteht, deren Kombinationen die 24 Buchstaben des alt-libyschen Alphabets ausmachen, ist uralt. Sie ist identisch mit archaischen Felsinschriften in Nordafrika. Aber die wesentlichen Inhalte der Kultur, wie Mythen, Legenden, die Geschichte der Clans und Stämme, Genealogien, Wissen über Flora und Fauna und die Ökologie der Wüste, werden nur mündlich tradiert; sie gelten als zu heilig, um aufgeschrieben zu werden. Genauso alt – nämlich bis in die Jungsteinzeit und sogar die Altsteinzeit zurückreichend – ist das symbolische Motiv des silbernen Schmuckstückes, das »TuaregKreuz« genannt wird; seine vielen verschiedenen Namen beziehen sich auf bestimmte Regionen der Wüste. Dabei hat es mit einem Kreuz wenig Ähnlichkeit, sondern sieht anthropomorph aus, wie eine weibliche Gestalt: Es hat einen geschmückten Kopf, weit ausgebreitete Ärmchen und üppige Hüften. Tatsächlich ist es eine abstrakte Form der Göttin, der fruchtbaren, schöpferischen Frau, aus der alles hervorkommt. Es hat direkte Ähnlichkeit mit den steinzeitlichen »Idolen« oder Göttin-Figurinen, die reichlich in der Sahara gefunden wurden und die es zu Tausenden im alt- und jungsteinzeitlichen Mittelmeerraum und Europa gibt. Dasselbe gilt für die rundlichen Formen der Wandmalereien an den Lehmhäusern in den Oasen: Sie heißen in verschiedenen Varianten »Frau« und sind eine abstrakte Darstellung der Göttin (Abb. 35–37). Das »Tuareg-Kreuz« und anderer Silberschmuck ist der Familienschatz der Tuareg, er wird von Mutter auf Tochter vererbt. Manchmal wird ein solches »Kreuz« auch von der Frau dem Bruder, Sohn oder Gatten als
48 Susan J. Rasmussen: Spirit Possession and Personhood among the Kel Ewey Tuareg, Cambridge 1995, University Press.
8.5 Die alte Religion der Berber
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schützender Talisman mitgegeben, wenn er auf gefährlichen Wegen durch die Wüste reist – so reist er im Schutz der Göttin.49
Abb. 35: Göttin-Figürchen aus der Sahara: 1. weiblicher Anhänger aus Dschanet (3450 v.u.Z.), 2. Göttinstatuette vom Tin-Hinan-Grab, 3. Püppchen von Oualata (Gegenwart).
Abb. 36: Tuareg-Kreuze aus der Sahara: a. entspricht der Silhouette eines Göttin-Figürchens (Tin-Hinan-Grab), b. Kreuz von Tahoua, c. und d. Kreuze aus der Region von Aderawa, e. Kreuz von Iferouane.
Abb. 37: Wandmalereien aus Oualata (Mauretanien): 1. »Die mit den langen Haarflechten« (m’soulfa), 2. »Große Frau« (mra kbira), 3. »Die mit den langen Haarflechten« (m’soulfa). (Alle aus: Jean Gabus: Contribution à l’Étude des Touaregs, Neuchâtel 1972, Université de Neuchâtel, S. 54 und 56)
49 Cesco/Krebser, S. 158; Hélène Claudot-Hawad: »Tifinagh. De la plume à l'imprimante«, in: LAM-PO, Travaux 1988, Centre D'Aix 1988, Université de Provence, S. 225–227; Jean Gabus: Contribution à l'Etude des Touaregs, Neuchâtel 1972, Université de Neuchâtel, S. 37–72; Henri Lhote: »Un bijou anthropomorphe chez les Touaregs de l'Aïr«, in: Notes africaine, Nr. 4, Dakar 1949, Institut fondamental d’Afrique noir, S. 114–116; Briffault, The Mothers, Bd. 1, S. 286, 394–395.
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
Mit diesen kulturellen Gütern der Berber und Tuareg kommen wir in eine enorme geschichtliche Tiefe zurück. Denn sie verweisen nicht nur auf Gesellschaften des vor-indoeuropäischen Mittelmeerraumes, wie Alt-Kreta, das vor-hellenische Griechenland und das Kleinasien der Lykier, sondern auch auf die Kulturen des alt- und jungsteinzeitlichen Europa. Diese frühen geschichtlichen Kulturen waren matriarchal, und davon sind die Berber und Tuareg ein letzter Zweig, der bis in die Gegenwart reicht.
8.6
Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
Allgemein: • Matriarchale Ackerbaugesellschaften entwickelten sich geschichtlich früher als viehzüchterische Nomadengesellschaften. Letztere ist eine sekundäre Gesellschaftsform, sie sind nicht autark. Sie hängen von agrarischen Gesellschaften für die pflanzliche Nahrung ab. • Viehzüchter-Gesellschaften entstanden in solchen Gebieten, die keinen Ackerbau mehr, aber noch Weidewirtschaft erlaubten. • Aus diesen Gründen nehmen wir an, dass Viehzüchter-Gesellschaften anfangs auch matriarchal organisiert waren. Einige von ihnen wurden später patriarchal unter besonderen Bedingungen. • Noch heute gibt es einige matriarchale Viehzüchter-Gesellschaften, wie die Hochland-Tibeter in Zentralasien, die Goajiro in Südamerika, die Beja und Nuba in Ostafrika, die Tuareg in Nordafrika.
Gesellschaftsform der matriarchalen Viehzüchter-Kulturen: Auf der sozialen Ebene: • Matriarchale Viehzüchter-Gesellschaften sind durch Matrilinearität und Matrilokalität im Zeltlager der Mutter gekennzeichnet, das ihre Sippe umfasst. • Das Oberhaupt des Lagers ist die älteste Frau der Mutterlinie. • Beide Geschlechter genießen erotische Freiheit. Die Gattenwahl geschieht durch die Frau, die Ehe ist leicht auflösbar und wiederholbar. • Die Männer sind durch den Fernhandel mit Karawanen lange Zeit abwesend.
Auf der ökonomischen Ebene: • Bei matriarchalen Viehzüchter-Gesellschaften ist die Frau die Besitzerin des Zeltes und der Herden, sie führt damit eine vom Mann unabhängige Existenz.
8.6 Zur Struktur der matriarchalen Gesellschaftsform (Fortsetzung)
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• Das Zeltlager ist eine Selbstversorgungs-Gemeinschaft der Frauen in Produktion und Verbrauch. Jedes Lager hat seine eigene, unteilbare Herde, die aus den Tieren der einzelnen Frauen besteht. • Jede Frau, die ein eigenes Zelt besitzt, erhält die Lebensmittel und sonstigen Güter, welche die Männer im Fernhandel erwerben, in ihre Hand. Sie entscheidet allein über ihre Verteilung. Die Frauen haben die Kontrolle über sämtliche Güter.
Auf der politischen Ebene: • Die Politik wird durch Konsensfindung gemacht; die reale Politik findet in den Zeltlagern statt, dort fallen die Entscheidungen. Gewählte Männer werden als Delegierte zum Stammesrat entsandt, sie sind die Repräsentanten der Zeltlager. • Die Frauen wählen die Häuptlinge als ihre Delegierten. Diese sind den Frauen Rechenschaft schuldig und werden bei Verfehlung ihrer Aufgaben ohne Umstände abgesetzt. • In Ausnahmefällen können die Frauen in den Stammesrat der Männer eingreifen, um ihre Auffassung zu vertreten oder den Konsens im Stamm herzustellen. • Matriarchale Viehzüchter-Völker gründeten Bündnisse und Reiche durch Heiratspolitik; die Gründerinnen waren ausnahmslos Königinnen. Später setzte die Königin einen Sohn als König an ihre Seite. • Die Königinnen konnten im Krisenfall auch Kriegsherrinnen sein; einzelne von ihnen leisteten erbitterten Widerstand gegen Fremdinvasionen.
Auf der kulturellen Ebene: • Die Religion matriarchaler Viehzüchter zeigt Elemente der Religion jener matriarchalen Ackerbaugesellschaft, von der sie abstammen oder mit der sie verbunden sind. Eine eigene Form von Religion haben sie nicht (z. B. die Tuareg im Verhältnis zu den sesshaften Berbern). • Die Ahnfrauen erhalten kultische Verehrung, die an heilige Orte gebunden ist; es existiert der Glaube an mächtige Naturgeister. • Frauen und Männer haben oft getrennte religiöse Welten. Die Frauen bewahren die Tradition der alten matriarchalen Religion mit der Verehrung von Urmüttern und Ahninnen an Megalithgräbern, ebenso schamanische Heilrituale oder Prophezeiungen. • Frauen sind die Hüterinnen der Kultur insgesamt durch Bewahren der Sprache, Schrift, Musik und Poesie.
Allgemeines zum Matriarchat in Extremsituationen: • Matriarchale Gesellschaften in Extremsituationen, zum Beispiel bei der Verteidigung gegen patriarchale Eroberung, können ein Kriegerwesen ausbilden (z. B. die Irokesen, Nayar, Aschanti, Tuareg).
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Kapitel 8: Matriarchale Viehzüchter-Kulturen in Nordafrika
• Auf der Flucht vor patriarchaler Eroberung kann es bei matriarchalen Gesellschaften zur kriegerischen Überlagerung über eine andere matriarchale Gesellschaft kommen, die dann zur Unterschicht wird (z. B. die Nayar, Tuareg). • Diese Situation verschärft sich bei matriarchalen Viehzüchtern in der Wüste wegen ihrer schwierigen Existenzbedingungen. Daher kennen sie Raubzüge gegen andere Völker und Hegemoniekämpfe untereinander. Im Notfall greifen sie zur teilweisen Desintegration der Gesellschaft, wie der Aufsplitterung der Sippe oder dem Wegzug der Männer (z. B. die Tuareg).
Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 1: Arawak-Goajiro-Mädchen mit ihrem zahmen Kaninchen (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 144) S. 19 Abb. 2: Capaya-Frau mit ihrem Kind in der Hängematte, eine Erfindung der Arawak und typisch für ihre Kultur (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 161) S. 33 Abb. 3: Capaya-Frauen in ihrem Sippenhaus (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 162) S. 37 Abb. 4: Ältere Schipibo-Frau (Foto: Sandra Schett) S. 38 Abb. 5: Kágaba-Kogi-Indianer bei ihrem Bergheiligtum in der Form einer Gebärmutter (aus: Bild der Völker, Bd. 5, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 171) S. 39 Abb. 6: Junge Kuna-Frau mit Goldschmuck und bestickter Bluse (aus: Parker/Neal: Molas. Folk Art of the Kuna Indians, New York 1977, Barre Publications, Umschlag-Rückseite) S. 53 Abb. 7: Porträt einer Kuna-Matriarchin (aus Parker/Neal: Molas. Folk Art of the Kuna Indians, New York 1977, Barre Publications, S. 181) S. 55 Abb. 8: Frau aus Juchitán auf dem Gang zu einem Fest (aus: Beverly L. Chiñas: The Isthmus Zapotecs: A Matrifocal Culture of Mexico, New York 1992 (2), Verlag Holt, Rinehart and Winston) S. 64 Abb. 9: Frauen auf dem Markt von Juchitán (aus: »Basler Magazin«, Nr. 14, 1992, S. 3, Foto: Cornelia Suhan) S. 65 Abb. 10: Jugendliche der Seri während ihres Initiationsfestes (aus: Bild der Völker, Bd. 4, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, S. 180) S. 75 Abb. 11: Das Hopi-Dorf Walpi auf der ersten Felsrippe der Black Mesa (aus: Frank Waters: Das Buch der Hopi, Köln 1980, Eugen Diederichs Verlag, S. 190) S. 81 Abb. 12: Verfallene Pueblo-Siedlung in Mesa Verde (»Cliff Palace«) (aus: Philip Kopper: The Smithsonian Book of North American Indians, Washington D.C. 1986, Smithsonian Institution, S. 237) S. 85 Abb. 13: Hopi-Clown mit Frauen und jungen Mädchen in Schmetterlingsfrisur (Gemälde des Hopi-Künstlers Fred Kabotie, Ausschnitt, 1940; aus: Philip Kopper: The Smithonian Book of North American Indians, Washington D.C. 1986, Smithonian Institution. S. 244) S. 91 Abb. 14: Hopi-Braut in ihrem Festgewand (aus: Dorothy K. Washburn: Hopi Kachina – Spirit of Life, San Francisco-London-Seattle 1980, S. 59; mit freundlicher Genehmigung der California Academy of Sciences) S. 93 Abb. 15: Zwei Mädchen und ein Knabe zelebrieren in der Flöten-Zeremonie (aus: J.W. Fewkes: Tusayan Flute and Snake Ceremonies, Washington D. C. 1900, Smithsonian Institution, Teil 2, S. 1005) S. 97 Abb. 16 a/b: Hahai-wuhti, die »Erdmutter«, und Angwus-hahai, die »Krähenmutter« verkörpert als Kachina-Masken (Zeichnungen des Hopi-Künstlers Bahnimptewa, aus: B. Wright/ C. Bahnimptewa: Kachinas: a Hopi artist’s documentary, Flagstoff-Phoenix 1973, Northland Press, S. 60 und 23) S. 103
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Verzeichnis der Abbildungen
Abb. 17: Befestigte Ortschaft der Irokesen (Zeichnung: Titelblatt von L.D. Finlayson: The 1975 and 1978 Rescue Excavations at the Draper Site: Introduction and Settlement patterns, Kanada 1985) S. 112 Abb. 18: Gähahno, die »Jigonsaseh« der Irokesen von 1853–1892 in der Tracht der Seneca (Zeichnung: Titelblatt von H.L. Morgan: League of the Ho-de-no-saunee or Iroquois, 1851, New York 1901, Burt Franklin) S. 119 Abb. 19 und 20: Frauen der Gond, eines indigenen Volkes in Indien. Sie zeigen noch heute den ursprünglichen »Drawida«-Typus und die traditionelle Kleidung, welche die Nayar-Frauen nicht mehr haben. (aus: C. von Fürer-Haimendorf: Tribes of India. The Struggle for Survival, Berkeley-Los Angeles-London 1982, University of California Press, S. 16 und 17) S. 150 Abb. 21: Frauen der Pulayan, Südindien, Malabar (aus: Krishna Iyer: Social History of Kerala, Madras 1968, Book Centre Publications, S. 149) S. 155 Abb. 22 und 23: Frauen der Sinti und Roma, aus Indien (links) und aus Europa (rechts) (aus: Bild der Völker, Wiesbaden 1974, Brockhaus Verlag, Bd. 7, S. 49, Bd. 9, S. 49) S. 180 Abb. 24: Ahnin-Figur: Die Urmutter sitzt auf ihrem Thronschemel (Lindenmuseum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde, Inv.No. F51.596L) S. 193 Abb. 25: Eine wichtige Frau als Häuptlingsgattin aus dem Kongogebiet, Zentralafrika (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 73; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency) S. 195 Abb. 26: Frau der Bedscha (aus: Pogrom, Zeitschrift der Gesellschaft für bedrohte Völker, Nr. 192, 1996/1997, S. 55) S. 206 Abb. 27: Der Silberne Thronschemel der Königinmutter von Mampon (Akan) (aus: Robert S. Rattray: Ashanti, Oxford 1923, Clarendon Press, S. 295) S. 216 Abb. 28: Die Königinmutter von Mampon (Akan) zeigt ihrer ältesten Tochter, wie der Silberne Thronschemel durch magische Zeichen geweiht wird. (aus: Robert S. Rattray: Ashanti, Oxford 1923, Clarendon Press, S. 300) S. 217 Abb. 29: Der Heilige König von Bono-Tekyiman (Akan) Nana Kwakye Ameyaw II in seinem Ornat (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 94; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency) S. 222 Abb. 30: Tuareg-Mann mit Tagelmust-Kopfschleier (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 190; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency) S. 247 Abb. 31: Junge Tuareg-Frauen in der Intimität des Zeltes (Foto: Anne Rochegude, »Stern«, Heft 13, 1991, S. 45) S. 248 Abb. 32: Tuareg-Männer auf ihren Reitkamelen (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 196; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency) S. 254 Abb. 33: Tuareg-Frauen bei einer Oase (aus: Angela Fisher: Afrika im Schmuck, Köln 1988 (3.), Du Mont, S. 206; mit freundlicher Genehmigung von Robert Estall photo agency) S. 257 Abb. 34: Junge Berberin im Festtagsschmuck (aus: Heft 7/201 der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ethnologisches Museum) S. 267 Abb. 35: Göttin-Figürchen aus der Sahara: 1. weiblicher Anhänger aus Dschanet (3450 v.u.Z.), 2. Göttinstatuette vom Tin-Hinan-Grab, 3. Püppchen von Oualata (Gegenwart). S. 273 Abb. 36: Tuareg-Kreuze aus der Sahara: a. entspricht der Silhouette eines Göttin-Figürchens (Tin-Hinan-Grab), b. Kreuz von Tahoua, c. und d. Kreuze aus der Region von Aderawa, e. Kreuz von Iferouane. S. 273 Abb. 37: Wandmalereien aus Oualata (Mauretanien): 1. »Die mit den langen Haarflechten« (m’soulfa), 2. »Große Frau« (mra kbira), 3. »Die mit den langen Haarflechten« (m’soulfa). (Alle aus: Jean Gabus: Contribution à l’Étude des Touaregs, Neuchâtel 1972, Université de Neuchâtel, S. 54 und 56) S. 273
Verzeichnis der Abbildungen
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Diagramm 1: Zeremonialkalender der Hopi (aus: Horst Hartmann: Kachina-Figuren der HopiIndianer, Berlin 1978, Museum für Völkerkunde, S.80) S. 96 Karte 1: Wanderungsbewegungen und Verteilungsgebiet der Arawak in Südamerika. S. 15 Karte 2: Kulturausbreitung entlang den nordwestlichen und nördlichen Küsten von Südamerika S. 42 Karte 3: Mittel- und Nordamerika. Einwanderungen von Süden und von Norden. S. 49 Karte 4: Das heutige Hopi-Reservat und das Gebiet der Anasazi-Kulturen aus: Frank Waters: Das Buch der Hopi, Köln 1980, Eugen Diederichs Verlag, vorderes Vorsatzblatt, Ausschnitt) S. 82 Karte 5: Wohngebiete der Irokesen-Stämme (aus: Coe/Snow/Benson: Atlas of Ancient America, Oxford, New York 1986, S. 61; mit freundlicher Genehmigung von Andromeda Oxford Ltd.) S. 116 Karte 6: Verteilung der matriarchalen Elemente in Indien aus: O.R. von Ehrenfels: Mother-right in India, Haiderabad, Dekkan, Oxford 1941, Oxford University Press, S. 2) S. 145 Karte 7: Übersicht über die matrilinearen und matriarchalen Bantu-Stämme in Zentralafrika S. 185 Karte 8: Die Reiche und Fluchtbewegungen der Akan. S. 211 Karte 9: Frauen als regierende Königinnen in Schwarzafrika in allen drei Formen von KöniginKönigreichen. S. 237
Literatur
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