190 5 32MB
German Pages 486 [488] Year 1888
Materialien aus dem Katechurnenen-Unterricht von
Dr. H. Eltester.
Zweite Auflage, herausgegeben und ergänzt von
H. Hitler.
Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer. 1888.
Vorwort zur ersten Auflage. ^)ie nachfolgenden Aufzeichnungen verdanken ihren Ur sprung der Aufforderung jüngerer Freunde, welche längere
Zeit meinem Katechumenen-Unterricht beigewohnt haben: so dann der Bitte früherer Schüler und sonstiger Gemeinde glieder. Ich gebe in ihnen den Unterricht, nicht, wie ich meine,
sondern so, wie ich denselben
daß er ertheilt werden müsse,
ertheilt habe.
Wie sich von selbst versteht, nicht buchstäblich.
Denen gegenüber, welche ich jetzt als Leser vor mir habe,
mußte ich zusammendrängen,
was ich ehedem des Breiteren
auseinander zu legen hatte.
Andererseits habe ich gemeint,
ein oder das andere weiter
verfolgen zu sollen,
Jugendunterrichte rathsam war.
als es im
Aber im großen und ganzen
habe ich so unterrichtet ; es ist der von mir verarbeitete Stoff;
es ist die Methode, der ich gefolgt bin. Ich durfte mich so weit einlassen, weil ich durch das Zu
sammentreffen von mancherlei Umständen meist reifere Schüler vor mir hatte: in den oberen Abtheilungen (ich habe, um die
zu große Ungleichheit zu vermeiden, regelmäßig in je zwei,
IV
Vorwort zur ersten Auflage.
ausnahmsweise auch in drei Stufenklassen unterrichtet) Jüng linge und Jungfrauen von 16, 17, ja selbst 18 Jahren; aber
auch von den Zöglingen der Volksschulen,
sammten Verhältnisse
wegen
in
welche ihrer ge-
jüngerem Alter confirmirt
werden mußten, ist es mir gelungen, einen guten Theil na mentlich der Mädchen bis zum vollendeten löten Jahre im Katechumenen - Unterricht den segensreichen Einfluß
Ich kann nicht genug
festzuhalten.
hervorheben,
welchen gerade diese
Frist auf die geistige und sittliche Entwicklung der Betreffen
hat,
den gehabt
und wie ich diese verhältnißmäßig reiferen
Zöglinge der Volksschule häufig erschlossener für die göttliche Wahrheit und fähiger für das Durchdenken derselben gefun als manche der obern Klassen, deren Lebensver
den habe,
hältnisse ein anderes erwarten ließen.
Freilich die alte Er
fahrung, daß religiöses Verständniß nicht an das Wissen ge bunden ist.
Nur, was sich allein mit den Jahren entwickeln
kann, wird nicht vor den Jahren da sein.
Jedem Kundigen wird in den nachfolgenden Ausführun gen
das Unsystematische
Katechismus;
und
auffallen.
selbst innerhalb
Ich
folge
einfach
dem
desselben habe ich das
Material nicht immer an einem Orte und in einem Zu
sammenhänge behandelt, sondern häufig einen und denselben Gegenstand je nach seinen verschiedenen Beziehungen vertheilt, und jegliches da angeknüpft, wo sich für ein lebensvolles Ver ständniß
der
oder
die
geeignetsten
Anküpfungspunkte
dar
boten; und bin so selbstverständlich auf manches mehrfach zu rückgekommen.
Das ist ein gewußter und gewollter Mangel.
Unser Katechumenen-Unterricht ist
offenbar nicht
dazu
da,
systematische Erkenntniß zu vermitteln, für welche auch unsere
reifsten Katechumenen nicht reif sind, und die meisten es nie Er soll den frommen Sinn beleben und das Nach
werden.
denken wecken, daß die also Unterwiesenen fähig werden, sich
danach an der Hand der Schrift und mit Hülfe des öffent lichen Gottesdienstes
im Leben zurechtzufinden.
selbstständig
Und er wird das am wirksamsten thun, je mehr er nicht an und
das Schema
knüpft.
das System,
sondern an das Leben an
Auch hilft es gar nichts das Ganze als Ganzes zu
geben, und jedes Einzelne in Beziehung mit diesem zu setzen. Selbst
größtentheils
das Ganze
doch
wieder in Einzelnheiten auf
und nehmen sich Einzelnes heraus, von
die Jugend, lösen sich
Erwachsenen, geschweige
die
nur etwas,
dem Ganzen
und haben in der That
wo sie das thun.
Daß es
darum im Unterricht nicht an Gedankenzusammenhang fehlen
versteht sich von selbst:
darf,
tischer.
nur ist es eben kein systema
Jenen wird man auch hier nicht vermissen; und ebenso
wenig kann der Ueberblick verloren gehen, wo der Katechis
mus der Faden ist, welchem ich folge.
Nicht
minder
bewußt und gewollt ist der Mangel an
imb
an Gleichmäßigkeit der Ausführung in
Vollständigkeit
diesen Aufzeichnungen.
Man
wird
in
ihnen manches ver
gebens suchen, was sonst in keinem.Handbuche oder Leitfaden
für den Katechumenen-Unterricht fehlt.
Aber ich schreibe eben
keinen Leitfaden, sondern gebe „Materialien aus dem Unter-
terricht^, wie ich und
nach
meiner
denselben unter Eigenthümlichkeit
früheren Schülern zur Erinnerung,
bestimmten Verhältnissen ertheilt
habe:
meinen
andern, die nach diesem
Büchlein greifen möchten, zu einiger Anregung, vielleicht auch
zur Verständigung
über
die hier vertretene Richtung.
Im
übrigen habe ich schon bei der Predigt Vollständigkeit und Gleichmäßigkeit sehr oft als gleichbedeutend mit langer Weile
gefunden.
Vollends
soll
man
im
Jugendunterrichte
nicht
vergessen, daß nichts mehr ermüdet, als, wenn man lang und
breit erörtert, was schon bekannt oder an sich verständlich,
höchstens mit wenigen Worten beiläufig abzumachen ist
Die
dadurch bewirkte Unaufmerksamkeit ist gewiß nachtheiliger, als
vermeintliche Lücken; und viel fördernder, als alles "durch zunehmen", ist es, Wichtiges, sei es, daß es an sich zu den
„Haupt-Stücken" gehört, sei es, daß es in einer bestimmten
Zeit
oder in einem bestimmten Kreise und unter gewissen
Umständen in das Gewicht fällt und die Gemüther selbst der Jugend bewegt — eingehend zu behandeln. ■
Nicht gewollt
dagegen ist der Mangel an Ungleichmäßigkeit im Styl.
ist die Folge der körperlichen Beschwerden,
Er
unter denen ich
das Folgende niedergeschrieben habe, und deren Spuren ich nicht immer habe verwischen können. —
Ich habe von Anfang an, reformirten Gemeinde der
dem
lutherischen
auch, als ich noch bei der
heil. Geist-Kirche fungirte, nach
Katechismus
unterrichtet.
Zuerst,
weil
sämmtliche Zöglinge sowohl der Volksschule als auch der höhern Schulen in
demselben unterwiesen waren,
besser hielt, das,
und ich es für
woran schon so viele Zeit und Mühe ver
wendet war, zu verwerthen, und auf der vorhandenen Grund
lage fortzubauen, als ein Neues anzufangen. Aber, je länger, je mehr habe ich mich in diesen Katechismus eingelebt und
bin dergestalt mit ihm verwachsen, daß ich mich schwer von ihm getrennt haben würde.
Ob das mit einem andern auch
der Fall gewesen sein würde?
Was mir
den
lutherischen
Katechismus so
werth macht,
ist einmal die Art,
auf die Schrift zurückweist
überall
oder
wie
er
vielmehr aus ihr
heraus redet; andererseits die Abwesenheit von all' und jedem
beengenden Dogmatismus.
an's Herz Legung,
Es ist weit mehr eine paränetische
als eine dialektische Begriffsbestimmung;
und läßt, wie die Schrift, in hohem Maße der Freiheit und
der Eigenthümlichkeit des Denkens Raum.
Dazu kommt das
Ahnungsvolle, ich möchte sagen, Prophetische in ihm; kraft
dessen er oft weit mehr sagt, als er bewußterweise beabsich tigt, und es möglich macht, an Luthers Wort zu entwickeln,
was über Luthers (jedenfalls über den
staben hinausgeht.
„lutherschen") Buch
Ich verweise insbesondere auf die Erklä
wie auf das 4te und 5te Haupt
rung
zum 3ten Artikel,
stück.
Ich wäre ein sehr unglücklicher Mensch gewesen, wenn
ich
einer
nach
tungen mus,
der
neumodischen
dogmatisirenden
oder Gefangennehmungen des
Bearbei
lutherischen Katechis
oder auch nach der sehr sorgsamen und wohlgemeinten
und doch völlig mißglückten Zusammenarbeitung des lutheri
schen und des Heidelberger Katechismus (dieser Musik gleich zeitig aus zwei disparaten Tonarten), wie sie im badischen und
noch
mehr im rheinischen Katechismus vorliegt,
hätte
unterrichten oder vielmehr diese Begriffsbestimmungen hätte
einlehren sollen. Aus
dem
Gesagten
ergiebt
sich
schon,
daß
ich dem
lutherischen Katechismus nicht knechtisch gefolgt bin. Ein evan gelischer Mensch soll keines Menschen, keines Buches Knecht sein; ebenso wenig soll er Knechte, sondern Freie in Christo,
Glieder der evangelischen Kirche erziehen.
auch nicht kritisch zersetzt.
Aber ich habe ihn
Ich habe an ihm entwickelt, was
ich für Wahrheit halte; und auch, wo ich von ihm abweichen
mußte, die Uebereinstimmung stärker betont, als die Differenz; und nie unterlassen, zu zeige«, was Luther eigentlich meint, und was auch in dem, was ich für Vergängliches und Ver
gangenes halte, das Unvergängliche und Bleibende sei.
Das
ist überhaupt meine Stellung zu der überlieferten Lehre ge
wesen. dig
Es liegt auf der Hand, daß niemand, welcher leben
in der Entwicklung
lehren kann.
unserer Kirche steht,
jene
einfach
Ebenso wenig darf man jedoch dieselbe igno-
riren, so lange sie noch nicht bloß von so vielen Einzelnen geglaubt wird, sondern auch unsere Agenden und Gesangbücher
und mittelst derselben den öffentlichen Gottesdienst in dem
Maße durchzieht, als es der Fall ist. daß
man
die
Da bleibt nur übrig,
künftigen Glieder der Kirche die überlieferte
Lehre verstehen lehrt, damit sie nicht Fremdlinge seien im Gottesdienste, und damit sie sich untereinander verstehen. Zu
dem gehört es ohne Zweifel zur Jugend,
sittlichen Erziehung der
daß sie lerne mit Ehrfurcht auf das schauen,
durch Jahrtausende
der Halt und
was
der Trost der Menschen
gewesen ist, und an dessen Ausbildung und gedankliche Aus prägung die Christenheit ihre besten Kräfte gesetzt hat.
Für
alles dieses bietet der lutherische Katechismus eine Handhabe,
wie ich eine bessere nicht weiß. —
Aber noch nach einer anderen Seite hin habe ich Ver ständigung gesucht: nämlich gegenüber den mannigfachen Zwei
feln in unserer Zeit.
Auch die kann man ja nicht ignoriren.
Die Jugend unserer städtischen Gemeinden mit ihnen bekannt, theils wird sie es.
ist theils
schon
Schweigt die Unter
weisung über sie, so entsteht leicht der Schein, als hätte der
Glaube diesen Zweifeln nichts entgegenzusetzen, und als würde
Wahrheit vorenthalten: während häufig schon die bloße Mit theilung
über
das
Vorhandensein
derartiger
Zweifel
Widersprüche gegen die christliche Wahrheit genügt, müther über jene zu beruhigen.
die Aufgabe des Unterrichts sein,
und
die Ge
Andererseits kann es nicht
die jugendlichen Gemüther
zum Richten und Verdammen anzuleiten; zumal sie dabei viel fach
diejenigen richten müßten,
Liebsten sind.
die ihnen die Nächsten und
Ich habe die von mir Geleiteten am besten
gegen alles, was sie
im Glauben irre machen könnte,
zu
schützen gemeint, wenn ich ihnen die dem Irrthum zu Grunde liegende Wahrheit zeigte und sie den Punkt finden ließ,
der Irrthum anfängt, reiner Irrthum zu sein;
wo
im übrigen
sie auf die Möglichkeit und beziehungsweise Berechtigung ver
schiedener Ansichten aufmerksam machte.
Kurz,
was ich er
strebt habe, ist Verständigung über den Glauben im Glauben gewesen:
Friede der Gemüther, Friede in den Gemeinden.
Je mehr ich, ohne eigentlich jemals durch schroffe Gegensätze hindurch
Zeit
gegangen zu sein,
an mir selbst die Kämpfe der
reichlich habe durchkosten niüffen;
je mehr ich andere
unter ihnen leiden sah und wahrnehmen mußte, wie sich die einen in dem vergeblichen Bemiihen, zu glauben, was sie nicht
glauben,
verzehren, die andern sich in Zweifeln verbluten,
und wie durch das alles die Kirche ebenso zerspalten wird, wie die Herzen zerrissen, gequält und öde sind: um so mehr
habe ich getrachtet, die Jugend vor diesen aufreibenden Käm
pfen zu bewahren,
und sie darum über alles,
was trennt,
über alle meine und anderer Ansichten hinaus, allein zu dem
zu führen gesucht, in welchem wir doch alle zusammen kom-
men müssen,
welcher uns alle zusammenbringt,
wir Ruhe finden für die Seele.
in welchem
Diejenigen, denen dasselbe
Ziel vor Augen schwebt, werden auch, wenn sie im Einzelnen
anderer Meinung sind oder überhaupt einer anderen Richtung
angehören, in dem Nachfolgenden finden, was sie freut, viel leicht auch einiges, was sie fördert. —
Die Ausführungen über das erste Hauptstück und, damit zusammenhängt,
gedenke ich,
was
wenn Gott Leben und
Kraft verleiht, später zu geben. —
H. E.
Potsdam im März 1868.
Vorwort zur zweiten Auflage. Sein Vorwort zur ersten Auflage der Materialien vom März 1868 schließt Eltester mit der Zusage, dieselben, wenn
Gott Leben und Kraft verleihe, durch Ausführungen über das erste Hauptstück zu vervollständigen.
vor Ablauf
eines
Jahres
Leider ereilte ihn schon
am 8. Januar 1869
der Tod.
Nichtsdestoweniger hatte er bereits die ersten 4 Gebote und
das 6 te bearbeitet und, wiewohl mit Bleistift geschrieben, um seinem geschwächten Körper Anstrengung zu ersparen, doch
druckreif hinterlassen.
Die Hinterbliebenen glaubten dennoch,
die Herausgabe dieses Bruchstücks Vorbehalten zu sollen, bis
es als Ergänzung einer etwa nöthig werdenden zweiten Auf
lage der Materialien erscheinen könne.
Nachdem nun dieser
Zeitpunkt eingetreten ist, hat es der Herausgeber im Einverständniß mit den Hinterbliebenen für Pflicht gehalten, durch
Hinzufügung der noch fehlenden Gebote, so wie des Schlusses und der Bedeutung des Gesetzes, das Werk des Entschlafenen,
soweit möglich, zu dem zu gestalten, was es nach der Absicht
des Verfassers werden sollte: eine Darlegung des gesammten
von ihm im Katechumenenunterricht bearbeiteten Stoffes. Auch das 4te und 6te Gebot bedurften noch je eines Zusatzes aus
Gründen, welche an den entsprechenden Stellen darzulegen sein werden.
Sämmtliche Ergänzungen sind, soweit sie sich
nicht schon durch ihren Inhalt als solche geben, durch einen
Stern neben der Ueberschrift erkennbar gemacht. keit, mit welcher sich das Werk,
Die Stetig
wie langsam auch,
beinah
zwei Jahrzehnte hindurch verbreitet hat, und das uns wieder holt ausgesprochene Bedauern, daß dasselbe (seit etwa 2 Jah
ren) nicht mehr zu haben sei, die freundliche Aufnahme ins besondere, welche die von Eltester bearbeiteten Gebote fanden,
als sie in der Zeitschrift für praktische Theologie (herausge geben von D. Ehlers, Frankfurt a. M., Diesterweg, VII. Jahr gang f.) einzeln abgedruckt wurden,
ermuthigen die Hinter
bliebenen zu der Hoffnung, daß auch diese zweite ergänzte
Auflage sich einen Kreis von Freunden erwerben werde.
Das
wird um so mehr der Fall sein, je mehr erkannt wird, was vielleicht der Titel allzu wenig ahnen läßt, daß nämlich das Werk nicht nur den Religionslehrern in Schule und Kate
chumenenunterricht, sondern auch jedem gereiften Christen, der nach Verständigung über unsern Christenglauben und unsre
Christenpflichten ringt, ein Wegweiser und Rathgeber werden
Gerade das war Eltester's Ziel, in dem verwirren
möchte.
den Widerstreit der Meinungen auf religiösem Gebiete und in den Zweifeln unsrer Tage durch
seine Gabe gebildeten
Laien, einen Führer darzubieten, der ihnen den Weg zwischen dem Irrewerden an der Religion überhaupt und engherzigem Buchstabenglauben
bittet
der
finden
hälfe.
Herausgeber um
Für seine
freundliche
Ergänzungen
Da er
Nachsicht.
weder den Unterricht des Verfassers genossen noch je ihn hat
predigen hören, kann er für seine Berechtigung zu diesen Er gänzungen nur geltend machen, daß er, nachdem er erst nach
dem
Tode
durch
die
des
Verfassers
sein
geworden,
Schwiegersohn
Stellung zu seinen Hinterbliebenen,
durch
eine
zwanzigjährige Wirksamkeit in der Gemeinde des Verstorbenen und vor allem durch Beschäftigung mit seinen Schriften, durch
welche er schon als Jüngling, ohne ihn zu kennen, angezogen
wurde, sich in Sinn und Geist des Verfassers hineingelebt hat,
so wie es seine Eigenart ermöglichte.
Aufzeichnungen
aus Eltesters Katechummenunterricht, für deren Mittheilung ich
den Freunden an dieser Stelle herzlich danke,
mit Freuden benutzt;
habe ich
doch waren sie zu bruchstückartig, als
daß ich mich an das Einzelne hätte binden können oder sagen
dürfte, ich gäbe im wesentlichen das, was und wie es Eltester seinen Katechumenen gegeben. anmaßen,
Am wenigsten durfte ich mir
die urwüchsige Weise
eines
so
durch und durch
eigenartigen Mannes nachahmen zu wollen.
Doch habe ich
mich stets mit seiner ganzen Denkweise
verwachsen ge
fühlt, daß meine Weise,
so
auf religiösem Gebiete
zu
fühlen
und zu denken und das innerlich Durchgearbeitete darzulegen,
wenigstens zu der seinigen kaum irgendwo in Gegensatz stehen
Als Leser habe auch ich mir meine früheren Con
dürfte.
firmanden als gereifte Christen gedacht, hoffe aber, daß das
ganze Werk auch schon den jungen Christen bei Gelegenheit der Einsegnung als paffender Lebensführer mit auf den Weg gegeben werden kann.
Möchte es
in seiner neuen Gestalt
die alten Freunde wiederfinden und neue erwerben, und mit dazu
helfen,
Evangelium,
daß unserm Volke
sein
größter Schatz,
das
zu immer lebendigerem Bewußtsein und Ver
ständniß komme!
Potsdam im Januar 1888. Anm.
Der Herausgeber.
Für die häufigen Anführungen aus Luthers Werken ist einmal die
dem Herausgeber leider nicht zu Gebote stehende Leipziger Ausgabe, sonst dagegen die Ausgabe von Walch (Halle 1739 s.) benutzt worden.
Die Stellen sind im all
gemeinen durch je zwei deutsche Ziffern bezeichnet worden, von denen sich die erste
auf den Theil, die zweite auf die Seite bezieht.
Inhalt Einleitung.......................................................................................................................
Seile 1
Das erste Hauptstück (Eintheilung derGebote)...........................
7
Das erste Gebot. Grober Götzendienst............................................................................................. Heiligenverehrung................................................................................................. Pantheismus und Materialismus..................................................................
10 24 27
Feiner Götzendienst (Gott fürchten, lieben undvertrauen)...........................
30
Das zweite Gebot. Gottes Namen.............................. Was heißt: Gottes Namen mißbrauchen?................................................. Luthers Erklärung zum zweiten Gebot:
37 43
Vom Fluchen...................................................................................................... Vom Schwören................................................................................................. Vom Zaubern u. dgl.......................................................................................... Zauberei und Wunder........................................................................................
47 50 59 67
Vom Lügen mibTrügen im Namen Gottes...............................................
69
Das dritte Gebot. Jüdische mld christliche Auffassung des Feiertags (Sonntagsruhe) ... 80 Pflicht und Segen deS Kirchenbesuchs.......................................................... 91 Das Kirchenjahr................................................................................................. 97 Evangelische Gottesdienstordnung........................................................................101 Evangelischer und katholischer Gottesdienst...................................................... 104
Das vierte Gebot. Pflichten der Kinder gegen Vaterund Mutter.................................................. 107 Pflichten der Eltern gegen dieKinder........................................ 113
Herrschende und Dienende........................................................................ * . • 117 Obrigkeit und'Unterthanen....................................................................................122 Pflichten gegen das Vaterland..................................................................... 126 Das fünfte Gebot. Dürfen wir Thiere tödten?..................................................................................... 128
XV
Inhalt.
Seite
Heiligkeit des Menschenlebens................................................................................ 131
Nothwehr................................................................................................................... 132
Duell........................................................................................................................133 Krieg............................................................................................................................ 135 Todesstrafe............................................................... •............................................136
Außerordentliche Nothlagen
. ............................................................................ 137
Selbstmord............................................................................................................... 139
Selbstaufopferung ........................................................ 144 Fahrlässige Tödtung, Todtschlag, Mord.......................................................... 144 Luthers Erklärung und Neutestamentliche Auslegung zum fünften Gebot
(Matth. 5, 20-22).................................................................................... 145 Der heilige Zorn (Röm. 12, 19—21)...............................................................148
Das sechste Gebot. Heiligkeit, Bestimmung
und sittliche Grundlageder Ehe (Monogamie) 150
Die christliche Ehe............................................................................................. 154 Unauflöslichkeit der Ehe und Ehescheidung...................................................... 155 Form der Eheschließung (kirchliche und bürgerliche)......................................... 157 Werth der kirchlichen Trauung............................................................................ 159 Mischehen....................................................................................................................161 Kindererziehung in Mischehen (gesetzliche Bestimmungen über deren Re
ligion)
........................................................................................
....
163
Das siebente Gebot.
Arten der Uebertretung......................................................................................... 165 Ausgleichungsversuche zwischen Arin und Reich . ......................................... 167 Kommunismus........................... 168 Sozialismus............................................................................................................... 170 Christlicher und Staatssozialismus................................................................... 171 Stellung des Christen zum Eigenthum .......................................................... 172 Arten des Eigenthumserwerbs: Arbeit......................................................................................................... 175 Kauf, Erbe, Schenkung (Armenpflege)...............................................................177 Zins, Wucher ........................................................................................................... 178 Glücksspiel, Kartenspiel.........................................................................................179 Verwerthung des Eigenthums................................................................................ 180 Das achte Gebot.
Falsches Zeugniß wider den Nächsten (Luthers Erklärung) .... 181 Vom falschen Zeugnißreden oder Lügen überhaupt (Begründung der Wahrheitspflicht, Nothlüge) ..................................................... 186 Rechte und falsche Wahrhaftigkeit........................................................................191 Das neunte und zehnte Gebot. Untrennbarkeit beider..............................................................................................192 Luthers Erklärungen..............................................................................................193 Bekämpfung der bösen Lust (Zustands- und Thatsünde; Zusammenhang
aller Sünden untereinander; Spielen mit der bösen Lust; die rechten
XVI
Inhalt. Leite
Gegenmittel; Nothwendigkeit der Hebung im Guten; Wesen der Tugend)
194
Schluß der Gebote. Ursprüngliche Stellung der Schlußworte Zusammenhang des sittlichen Verhaltens mit Glück und Unglück ...
198 199
Drohung und Verheißung als Erziehungsmittel Das Leiden des Frommen Bedeutung des Gesetzes
201 202 203
Das zweite Hauptstück. Vom Apostolischen Glaubensbekenntniß 205 Der erste Artikel Ich glaube
211 —
an Gott u. s. w
225
Von der Schöpfung Von der Erhaltung
229 235
Von der Vorsehung Von den Kreaturen, insbesondere dem Menschen Von den Engeln Vom Teufel
240 245 250 252
258
Der zweite Artikel Von der Person Jesu Christi Sein Name ............................................................................ Seine Würde: er ist des „Menschen Sohn", der „Christus" Er ist Gottes eingeborner Sohn Die Deutungen. Jesus der vollkommenste Mensch Jesus der größte Prophet Jesus das Person gewordene Wort Jesus Gott, der Sohn,
— 260 261 267 269 274 281 282
empfangen vom h. Geiste Die Wunder Jesu, gelitten, gekreuzigt,
288 294 305 309
...................................................................
gestorben, begraben, niedergefahren zur Hölle, auferstanden, aufgefahren gen Himmel, sitzet zur Rechten Gottes, von dannen er wiederkommen wird Das Werk Jesu nach der Erklärung Luthers Jesus hat mich erlöst; von allen Sünden, vom Tode,
310 317 325 327 332 340 341 342 346
von der Gewalt des Teufels, nicht mit Gold oder Silber; auf daß ich sein eigen sei
348 349 355
XVII
Inhalt.
Seite
Der dritte Artikel................................................................................................. 357 Vom heiligen Geiste.............................................................................................358 Von der Wirksamkeit des h. Geistes nach der Erklärung Luthers. . . 362
Die Wirksamkeit des h. Geistes an den Einzelnen............................. 362 Die Wirksamkeit des h. Geistes au der Kirche.............................. ....
364
Der h. Geist beruft u. s. w. die Einzelnen in derChristenheit.... Der h. Geist beruft u. s. w. die Christenheit durch die Einzelnen . .
366 369
.
Von der Kirche.......................................................................................................... 370 Von den Eigenschaften der Kirche. — Einheit............................................. 372 Heiligkeit................................................................................................................... 381 Allgemeinheit.......................................................................................................... 388 Sekte und Kirche.................................................... ,.............................................. 391 Von der Vergebung der Sünden....................................................................... 392 Von den letzten Dingen...................... 395 Vollendung der Kirche .........................................................................................395 Auferstehung des Fleisches.................................................................................... 397
Von denGnadenmitteln
......................
405 Vom Worte Gottes................................................................................................. 407
Drittes Hauptstück. Vom Gebet................................................................................................................... 417 Das Gebet des Herrn............................................................................................. 419 Vom Gebet im Namen Jesu................................................................................ 423 Von den Sakramenten.........................................................................................426
Viertes Hauptstück. Von der Taufe.......................................................................................................... 437
Die Kindertage
...................................................................................................... 443
Die Nothtaufe...........................................................................................................449 Pathen...............................................................................................................449
Fünftes Hauptstück. Vom heiligen Abendmahle..................................................’............................ 451
Das Aeußerliche......................................................................................................451 Die Lehre...................................................................................................................454 Der Genuß des h. Abendmahls........................................................................... 464
Berichtigungen. Seite 181 Zeile 3 von oben lies: cm der Frucht, an dem ». s. iu., „ 204 „ 15 „ „ „ 1520, „ 220 „ 11 „ „ „ auSdrücke».
Einleitung. Der
„ Katechumenen" - Unterricht, welchen ihr hier empfangt,
will euch auf die „Einsegnung" vorbereiten,
Endschaft erreicht. In
die
mit welcher
er seine
In was sollt ihr denn da hineingesegnet werden?
christliche Kirche!
Seid ihr denn nicht jetzt schon darin?
Freilich! das ist der unermeßliche Vorzug, welchen ihr vor tausenden
eurer Altersgenossen habt („die Gnade von Gott" —
eure „Er
wählung"), daß ihr, inmitten einer christlichen Gemeinde geboren, von eurem ersten Athemzuge an den Einfluß des Christenthums er
fahren habt; daß ihr unter solchen aufgewachsen und erzogen seid, die es als die höchste und heiligste Aufgabe ihres Lebens betrachteten,
euch nicht bloß für dieses zeitliche Dasein, sondern auch
ewige Leben auszurüsten, und
die demgemäß
für
das
auf euch eingewirkt
haben, so daß — so viel ihr auch nachdenken mögt — ihr bei dem Rückblick aus den hinter euch liegenden Zeitraum euch schlechterdings
auf keine Zeit besinnen könnt, in der ihr nicht schon christlich ange
faßt gewesen wäret.
Und das ganz unabhängig davon, ob ihr in die
kirchlichen Register eingetragen seid oder nicht, und gewisse Rechte noch nicht habt ausüben und an gewissen Handlungen noch nicht
habt theilnehmen können, zu denen ein reiferes Alter gehört; ja selbst,
ob ihr getauft seid oder nicht; denn auch, wenn letzteres nicht der Fall gewesen wäre (wie es ja eine große und angesehene kirchliche
Partei — die Baptisten — giebt, welche ihre Kinder nicht taufen, son dern warten, bis dieselben erwachsen sind): meint ihr, daß ihr darum weniger christlich beeinflußt worden wärt, daß eure Eltern euch weniger Eitester, Materialien.
2. Auflage.
1
2
Einleitung.
christlich erzogen, weniger über euch gebetet, weniger für euch gesorgt,
weniger Gottes Wort an euch gebracht hätten, oder daß das nicht vielmehr alles gerade ebenso geschehen wäre, und die Christenheit
und das Christenthum, inmitten deren ihr nun einmal, getauft oder ungetanst, seid, nnd deren Lebenslust ihr einathmet, und deren Ein
wirkung ihr euch gar nicht entziehen könnt, ihren Einfluß gerade ebenso auf euch ausgeübt haben würden, als es jetzt der Fall ist?
Eben, weil das so ist, weil ihr, auch wenn ihr nicht durch eine beson dere Handlung feierlich in die Kirche ausgenommen worden wäret, euch
innerhalb derselben befinden und bewegen und geistig athmen und ihres segensreichen Einflusses theilhaftig sein würdet: eben deshalb
haben wir kein Bedenken getragen, auch diese Handlung, die Taufe,
an euch zu vollziehen als ein Zeichen der für euch bereiteten Gnade, als Sinnbild dessen, was für euch schon immer da ist, der christ
lichen Gemeinschaft, in welcher ihr steht, wie als Unterpfand dessen, was an euch geschehen soll, uämlich, daß wir euch in Kraft
der
christlichen Gemeinde zu bewußten Gliedern derselben erziehen wollen:
gemäß dem Apostelgesch. 10, 47 ausgesprochenen Grundsatz:
„Kann
auch jemand das Wasser wehren, daß diese nicht getauft werden, welche
den heiligen Geist empfangen haben, gleich wie auch wir?" Nur, daß wir diese Handlung darum nicht als eine schon abgeschlossene ansehen konnten, und auch ihr sie nicht als eine solche ansehen dürft, weil ihr in dem Augenblicke noch kein Bewußtsein besten, was an euch
geschah,
und
was
es
bedeutete, hattet und haben konntet und
darum auch noch nicht die Zustimmung und Erklärung eures eigenen Willens abzngeben vermochtet, ohne welche niemand als ein wirk
liches Glied der christlichen Gemeinde angesehen werden kann. soll nun
eben,
nach
vollendeter Erziehung und Unterweisung
Das im
Hause, in der Schule und hier, in der bevorstehenden Einsegnung nachgeholt werden, in welcher ihr aussprecht, daß ihr nun wißt, was
ihr in der christlichen Kirche und an derselben habt, und daß ihr ihr
angehören wollt; und die deswegen auch die Konfirmation (Be stätigung) genannt wird, wie ihr Konfirmanden d. i. zu Bestätigende
heißet; sofern ihr in derselben bekräftigt, was in der Taufe andere für euch gelobt haben, andererseits auch bekräftigt und durch den
über euch gesprochnen Segen besiegelt wird, was in derselben euch
Einleitung.
3
verheißen worden ist. Doch über das Verhältniß der Einsegnung zur Taufe, wie über die weitere und tiefere Bedeutung dieser selbst,
wie auch der Einsegnung, später ein mehreres.
Vorläufig genug,
wenn ihr wißt, in was hinein ihr gesegnet werdet, und warum diese Handlung Konfirmation heißt. Wie die Konfirmation auf die Taufe zurückweist, so hat der auf die Konfirmation vorbereitende Unterricht wesentlich die Einflüsse
zu seiner Voraussetzung, auf welche die Taufe hinwies, und als deren Zeichen, Verheißung und Unterpfand sie anftrat.
Ohne diese, ohne die
ihm vorangehende, wie ihn begleitende, „Zucht und Vermahnung zum
Herrn" müßte derselbe nothwendig ein anderer sein; wie erwirkungslos bleiben, jedenfalls in seinen Wirkungen gebrochen werden wird, wo die
sonstige Erziehung und Unterweisung vernachlässigt war, oder vernach lässigt ist. Das ist der schwere Irrthum und die arge Täuschung, denen
so manche Eltern und Erzieher hingegeben sind, daß sie für ihre Kinder und Pflegebefohlenen von dem „Prediger-Unterrichte", ja oft von
der vereinzelten Handlung der Einsegnung, wer weiß welchen Segen wünschen und erwarten, ihrerseits dagegen unterlassen, die Vor- und
Mitarbeit zu thun und die Bedingungen erfüllen zu helfen, ohne welche diese, wie jener, ihren Segen nicht entfalten können.
Der
Katechumenen-Unterricht vermag im wesentlichen nur zu sammeln, zu stärken, zu klären und zu deutlichem Bewußtsein zu bringen, was in den Gemüthern der Jugend schon ist, jedenfalls muß er Anhalts
punkte haben, an die er anknüpfen, ein Fundament, auf dem er weiter bauen kann.
Das sind weniger bestimmte Kenntnisse oder
eine besondere Reife des Verstandes — obwohl auch diese bis zu
einem gewissen Grade erforderlich sind, und, wo hinsichtlich ihrer grobe Vernachlässigung stattgefunden hat, der Katechumenen-Unterricht mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen haben wird: es sind vielmehr religiöse Eindrücke, wie sie sich ohne methodistische Bearbeitung, die nirgend schädlicher, als an der Jugend, wirkt, aus dem Verkehr mit religiös gerichteten Eltern und Lehrern und aus der Theilnahme am häuslichen und öffentlichen Gottesdienst von selbst ergeben. Wo es an derartigen Eindrücken ganz fehlt, und die Seele der zu Unter
weisenden in dieser Beziehung eine tabula rasa ist, oder wo gar Antireligiöses, niedere Erwerb- und Genußsucht, Hoffart, Gleißnerei, 1*
Einleitung.
4
Unwahrheit u. bergt, m. in den Gemüthern angelegt worden find: da vermag der Konfirmanden-Unterricht eben so wenig etwas aus zurichten, als man von einem Felde Brodkorn ärnten kann, das man nicht bestellt hat.
Ein gedeihlicher Konfirmanden-Unterricht
setzt die Mitwirkung von Haus, Schule, Gemeinde, vor allem des Hauses voraus. Darum gebührt auch, wenn er gelingt, diesen nicht minderer, ja oft viel größerer Dank, als er von der empfänglichen Jugend dem Prediger und Seelsorger entgegengebracht wird.
Das wird euch auch einleuchtend machen, was ich noch über euer Verhalten zu diesem Unterrichte zu sagen habe.
Derselbe fordert
von euch nicht nur Fleiß, wie jeder andere Unterricht, daß ihr das zu Lernende willig und ohne Treiber lernt; desgleichen Achtsamkeit,
daß ihr nicht bloß mit den Ohren hört, sondern mit voller Spann
kraft der Seele auch zu verstehen sucht, was hier mit euch besprochen wird.
Das versteht sich von selbst und braucht Menschen von eurem
Alter nicht erst auseinandergesetzt zu werden: nur ist es nicht genug,
wie es bei andern Unterrichtsgegenständen allenfalls genügen kann. Denn mit dem Religions-Unterricht verhält es sich anders, als mit
anderem Unterricht.
Allerdings kommt auch bei ihm vieles vor, was
behalten, mehreres, was eingesehen und begriffen werden muß. Nur ist das alles noch nicht Religion, sondern nur der Vor- und Anbau dazu;
Religion selbst ist ein unendlich Geistigeres und Innerlicheres, näm
lich — wie schon im grauen Alterthume das Wort erklärt wird —
das Verhältniß und Verhalten des Gemüths zu Gott, das Inne werden seiner Güte, Heiligkeit, Gerechtigkeit u. s. w., mit einem Worte
seines Waltens an unseren Herzen, die Hingebung unser selbst, un seres gesammten Dichtens und Trachtens an seinen Willen. Oder Religion ist nicht Sache des Wissens und Könnens, sondern der
inneren Erfahrung und des Gewissens. Man kann alles begriffen und behalten haben, man kann alle Geschichte wissen, die ganze Bibel auswendig können, alle Lehre des Katechismus eingesehen haben
und im Stande sein, darüber auf das geläufigste zu reden,
und
man hat möglicher Weise noch gar keine Religion, ja man kann
dabei sogar wesentlich antireligiös sein.
Und wieder: man kann
sehr fromm sein und Gott und den Herrn Jesum wahrhaft und
wirksam im Herzen haben und dabei in jenen Stücken schwach, recht
Einleitung. schwach beschlagen sein.
5
Das zeigt euch, wie ihr euch zu diesem
Unterrichte zu stellen habt.
Ihr habt ihn zu betrachten als dazu
bestimmt, nicht nur eure Kenntnisse zu bereichern und euer Ver ständniß zu klären, sondern vor allem euch geistig zu sammeln und
sittlich zu fördern; ihr habt zu ihm zu kommen ähnlich, wie ihr zur Kirche, zum Gottesdienste geht — denn er ist euer Gottesdienst; ihr habt jede Stunde für eine verlorne, jedenfalls für eine minder gut
angewendete zu halten, in der ihr nicht irgendwie sittlich gehoben, mit neuem Dank gegen Gott, mit neuen Vorsätzen für's Leben nach
Ihr habt vor allem zu üben, was ihr hier als recht
Hause geht.
und Pflicht, als Gottes Willen und Auftrag erkannt habt.
Dann
wird das Ziel dieses Unterrichts erreicht werden, und ihr einst als
würdige Glieder in die Gemeinde treten; dann werdet ihr auch in Bezug auf Erkenntniß und Ueberzeugung zu der Einsicht und Festig
keit gelangen, deren der Mensch zum Frieden seiner Seele bedarf, und ohne welche er nicht zur Ruhe kommt: nach dem Worte des Herrn: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede (und an seiner Rede bleiben heißt seinem Worte gehorchen), so seid ihr meine rechten
Jünger, so werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit
wird euch frei machen" (Joh. 8, 31 s.), und dem andern:
„So je
mand will den Willen Gottes thun, der wird erkennen, ob meine Lehre von Gott ist, oder ob ich von mir selber rede" (Joh. 7, 17). Damit der Vorrede genug und nun zur Sache.
Wir folgen in unserm Unterrichte dem kleinen lutherischen Ka techismus.
Es giebt eine große Zahl von Katechismen (Handbüchern
für Anfänger zum Unterricht in der Religion), theils öffentlich an
erkannten und von der Kirche verordneten, theils privaten von ein
zelnen Geistlichen zu ihrem Gebrauche bearbeiteten. Jene haben den Vorzug, daß sie die allgemein in der Kirche geltende Lehre ent
halten, während diese nur die Ueberzeugungen der einzelnen Ver fasser bringen.
Unter den öffentlich anerkannten Katechismen nimmt
neben dem lutherischen der auf Befehl des Churfürsten Friedrich III.
von der Pfalz von 2 trefflichen Theologen, Zacharias Ursinus und
Kaspar Olevianus, ausgearbeitete und, nachdem er von einer Synode der pfälzischen Geistlichkeit gut geheißen war, im Jahre 1563 ver
öffentlichte Pfälzische oder Heidelberger die erste Stelle ein, der ehe-
Einleitung.
6
dem nicht bloß in der Pfalz, sondern auch in andern Theilen unseres deutschen Vaterlandes in Gebrauch war und zum Theil noch ist; und
zu den Bekenntniß- oder Richtschriften der reformirten Kirche gehört. Er
enthält selbstverständlich
wie der lutherische,
stücke,
anderer mus,
nur in
Während
Erklärung.
dem Gange
wesentlichen
im
dieselben 5 Haupt
anderer Reihenfolge und
nämlich
der
lutherische
mit
Katechis
der geschichtlichen Entwicklung folgend, mit den
10 Geboten beginnt,
fängt
der Heidelberger mit
die allerdings für einen Christen
der Frage an,
die erste und hauptsächlichste:
„Was ist dein einziger Trost im Leben und Sterben?"
und läßt,
nachdem er darauf geantwortet, „daß ich mit Leib und Seele, beides
im Leben und Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilan
des Jesu Christi eigen bin u. s. w.", darauf nun in 3 Theilen die Darstellung des christlichen Glaubens und der christlichen Lehre folgen, in deren erstem er von des Menschen Sünde und Elend, im zweiten
unter der Ueberschrift „von der Erlösung" von dem, was Christus ist
und für uns gethan hat (Auslegung des Apostolischen Glaubensbe kenntnisses), weiter von der Gerechtigkeit aus dem Glauben und den
heiligen Sakramenten handelt, endlich im 3ten unter dem Titel „von
der Dankbarkeit" das christliche Leben, die 10 Gebote und schließ lich das Vater unser bespricht.
Diese Anordnung hat manche Vor
züge, wie denn überhaupt der gesammte Katechismus ein ganz vor
züglicher ist, der namentlich durch eine schärfere Begriffsbestimmung
den lutherischen häufig übertrifft.
Bei alledem bleiben wir bei dem
letzteren, theils, weil ihr insgesammt bereits durch mehrere Jahre
hindurch darin unterwiesen seid, theils, weil er gerade durch seine minder theologische, volksthümliche Fassung fich mehr, als jener, für
den Volksunterricht eignet.
Er ist doch neben der Bibel das eigent
liche Buch unseres evangelischen Volks, jedenfalls einer seiner größten Schätze; und ziemt jedem evangelischen Volksgenossen, selbst wenn
er für seine Person zu weiterer
wissenschaftlicher Erkenntniß fort
schreitet, das genau zu kennen, woran sich das geistige Leben unseres Volkes genährt hat und hoffentlich noch lange nähren wird.
Das erste Hanptstück. Die heiligen 10 Gebote. 2 Mose 20 und 5 Mose 5.
In Beziehung auf die 10 Gebote findet zwischen dem luthe
rischen und dem Heidelberger Katechismus ein Unterschied hinsicht lich der Zählung
statt: sofern Luther das Verbot
der Abbildung
Gottes und des Bilderdienstes nur als eine weitere Ausführung des Verbots des Götzendienstes überhaupt ansieht und es demgemäß noch
zu dem ersten Gebote hinzuzählt; durch diese Zusammenziehung der beiden ersten Gebote in eins-nun genöthigt ist, um die Zahl her
auszubringen, das letzte Gebot, welches von der bösen Lust handelt, in
zwei zu zerlegen: „Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Hauses", —
„Laß dich nicht gelüsten deines Nächsten Weibes noch seines Knechtes noch seiner Magd noch seines Ochsen noch seines Esels noch alles,
was dein Nächster hat".
Der Heidelberger Katechismus theilt da
gegen so ab: 1. Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine andern Götter haben neben mir."
2. Gebot: „Du sollst dir auch
kein Bildni'ß noch irgendein Gleichniß von Gott machen", — und ist
dadurch in Stand gesetzt,
das letzte Gebot, welches Luther ausein
ander schneidet, zusammen zu lassen.
Es liegt auf der Hand, daß
diese Theilung die sinnentsprechende ist.
Wie verwandt auch das
2. Gebot dem ersten sei, und wie nahe beide durch die an beide ge hängte und sich offenbar auf beide beziehende Drohung 2 Mose 20,
8
I. Hauptstück.
Erstes Gebot.
5. 61) u. 5 Mose 5,9.10 an einander gerückt werden: so sind sie doch ihrem Inhalte nach verschieden, und fügt das 2. Gebot zu dem
ersten offenbar ein Neues hinzu.
Während letzteres den großen,
das gesummte Gesetz und die Geschichte des israelitischen Volkes be herrschenden Gedanken der Einigkeit Gottes ausspricht: das Grund
bekenntniß Israels, das jedem Israeliten im Augenblicke des Todes feierlich zugerufen wird, und mit dem er stirbt: „Schemah, Israel"
d. i. „Höre, Israel, der Herr, dein Gott, ist ein einiger Gott": — wehrt das 2. die Herabziehung des Geistigen in das Sinnliche und Materielle ab, und fordert und begründet den bilderlosen Gottes dienst, der nicht minder charakteristisch für Israel war, wie der
Glaube an die Einigkeit Gottes.
Mit Verwunderung bemerkten
schon die Alten diesen charakteristischen Zug: jedes Volk habe in seinen Tempeln Bilder der Gottheit, nur die Juden hätten einen leeren Tempel, einen Tempel ohne Gott, und hielten sie deshalb und nannten sie geradezu „Atheoi", Menschen, die keinen Gott haben; während
wir in diesem Gebote und der dadurch bedingten Einrichtung des
Tempels und des Gottesdienstes dem Keim nach bereits ausgesprochen
finden, was danach Christus an das Licht gebracht hat: „Gott ist ein
Geist; und, die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten" (Joh. 4, 24) .— Wie wenig liegt dagegen in den letzten Geboten (dem 9. und 10. im lutherischen Katechismus) ein innerer Grund zur Trennung: es sei denn, daß man die Verschieden
heit des Gegenstandes, auf welchen sich die böse Lust richten kann, für einen solchen halten wollte. Nur würde man da freilich nicht mit der Zweitheilung auskommen, sondern weiter und weiter spalten
und Gebot über Gebot ausstellen müssen, soviel es Objekte des Ge lüstens ’) giebt.
Doch kommt bei alle dem darauf zuletzt nicht so gar
}) „Bete sie nicht an und diene ihnen nicht; denn ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott, der da heimsuchet der Väter Missethat an den Kindern bis in's 3. und 4. Glied, die mich hassen; und thue Barmherzigkeit an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten." 2) Beiläufig mag schon hier darauf hingewiesen werden, daß unter den Ob
jekten des Gelüstens das Weib mitten unter dem, „was dein Nächster hat", Haus, Knecht und Vieh erscheint. Ein deutlicher Beweis, wie tief in jenen Tagen auch im israelittschen Volke das Weib stand, und wie es gleichfalls nur als ein Besitz angesehen ward.
9
Emtheilmig der Gebote.
vieles an.
Gleichgültig und ohne Einfluß ist allerdings diese ver
schiedene Theilung nicht,
sie hängt zum Theil zusammen mit der
rigoristischen Weise, ist durch dieselbe bedingt und bedingt wiederum sie, mit welcher die ältere reformirte Kirche aus dem Gottesdienste
alles,
was irgend wie die Sinne fesseln konnte, hinauswies,
als
Bilder und sonstigen Schmuck, Musik bis auf den Choralgesang, ja selbst die Orgel: während Luther dagegen sich nicht nur duldsam verhielt, sondern verlangte, daß auch die Kunst, namentlich die Musik,
die er selbst liebte und pflegte, dem Gottesdienste dienstbar gemacht werden sollte.
Das kann anerkannt und über
diesen Unterschied,
der sich jetzt indeß schon sehr ausgeglichen hat, verhandelt werden: einen großen Streit darüber zu erheben, ist dagegen kein Grund;
geradezu kindisch aber und albern ist es, daher ein Motiv der Tren nung der beiden Confessionen herzuleiten, Geboten verschieden wären.
als welche schon in den
Die heilige Schrift in den beiden Stellen,
wo sie die Gebote aufführt, zählt diese nicht. das ist offenbar das gescheutere.
Sie schärft sie ein:
Denn nicht darauf, daß das Gebot:
„du sollst nicht todten", das 5. oder 6., das über die Ehe das 6.
oder 7. u. s. w. sind, kommt es an, und nicht deswegen wird einer,
der sie bricht, verdammt, sondern, daß
es Gottes Gebote sind.
Das ist das einzige, was wir zu bedenken haben. Eben deswegen können und wollen wir, trotzdem wir die Zäh lung des Heidelberger Katechismus für die sinngemäße halten,
bei
der gewohnten bleiben, da das Einlernen und Einüben der andern bis zur Geläufigkeit in der That der Mühe nicht werth ist, welche es kosten würde, und wir uns trotz dieser Mühe schließlich doch wohl
immer wieder versprechen und in zurückfallen würden.
die
altgewohnte Zählungsweise
Genug, daß wir wissen, wie die Sache steht.
Schließlich sei noch eine andere Differenz erwähnt,
die
indeß
noch weniger Wichtigkeit hat, als jene: die Verschiedenheit der An
sichten darüber, welche Gebote auf die erste Tafel, welche auf die zweite gehören.
In der Regel spricht man der ersten Tafel 3, der
zweiten 7 Gebote (nach lutherischer Zählung) zu, und rechtfertigt
das damit,
seien.
daß 10, 3 und 7 bei den Juden die heiligen Zahlen
Andere nehmen die Theilung in 4 und 6 an.
Neuerdings
ist von einem sehr bibelkundigen Forscher darauf hingewiesen worden,
1. Hauptstück.
10
Erstes Gebot.
daß wir auch in den andern Vorschriften und Geboten, welche sich um die heiligen 10 Gebote als den Kern reihen, häufig -die Grup-
daß es sich daher wohl
Pirung von je 5 Geboten antreffen, und
rechtfertige, eine gleiche Theilung in Bezug auf die Urgebote anzu nehmen :
das
erste Fünfgebot enthalte die Pflichten
Einigkeit Gottes,
gegen Gott:
den bilderlosen Gottesdienst, Heilighaltung des
göttlichen Namens, Heilighaltung des von Gott eingesetzten Ruhe tages, Heilighaltung der Eltern als der Stellvertreter Gottes; das
zweite Fünfgebot die Pflichten gegen die Menschen: Heilighaltung
des Lebens, der Ehe, Herzens vor böser Lust.
des Eigenthums,
der Ehre,
Das hat viel für sich.
Wahrung des
Doch kommt dar
auf nicht eben viel an, und hat die Sache überhaupt mehr ein anti
quarisches, als ein religiöses Interesse. Erstes Gebot.
Die Einigkeit und Geistigkeit Gottes,
des Gottes der Väter,
„des Ewigen" (Jehovah oder Jahveh), der sein Volk Israel erwählt
und es aus dem Diensthause, aus Aegyptenland geführt hat: das war der große Grundgedanke, der in der Seele des „Knechtes Gottes",
des Moses, aufgegangen war, und den er in sein Volk hineinbildete und es durch denselben erst zu einem Volke, zu diesem einzigen und überaus herrlichen Volke machte.
Nehmen wir hinzu, daß dieser
einzige, über alle Welt erhabene und von ihr unterschiedene Gott,
der Schöpfer Himmels und der Erde, zugleich von vorn herein als der Heilige erfaßt wird, „ihr sollt heilig sein, denn ich bin heilig" (3 Mos. 11, 45. 19, 2), so haben wir die charakteristischen Züge,
die den Mosaismus weit über alle Religionen — „der Völker", auch über die ausgebildetsten und den Mosaismus nach der ästhetischen
wie nach der wissenschaftlichen Seite überragendsten, erheben und ihm den Stempel der Offenbarung aufdrücken. Es ist bekannt, wie lange es dauerte, ehe dieser Glaube die gesammte Nation durchdrang,
wie
vielmehr bis zum babylonischen
Exil, d. i. fast ein Jahrtausend, in der Masse Neigung zum Abfall blieb, sei es, daß sie gegen das 2. Gebot sich Bilder von Gott mach ten, wie schon in der Wüste das goldene Kalb, sei es, daß sie statt
seiner oder auch neben ihm die Götter der umwohnenden Völker an-
Grober Götzendienst.
beteten. — Wie ist, nachdem
Ursprung und Wesen.
11
die Wahrheit einmal ausgesprochen
war, eine derartige Abwendung von dieser ebenso erhabenen wie ein fachen Wahrheit zu den „Nichtsen", wie die Schrift sagt, d. i. zu
Gestaltungen des Gottesbewußtseins und Gottesdienstes möglich, deren Unvernunft uns nicht nur jedem sofort einleuchten zu müssen scheint, sondern, die zum Theil sogar durch ihre Widerwärtigkeit und Scheuß
lichkeit abschrecken? Das führt auf die weitere Frage, wie überhaupt
Abgötterei — Heidenthum — möglich sei.
Auf diese Frage finden wir bereits in einem der späteren Bücher des Alten Testaments
eine befriedigende Antwort.
„Thöricht von
Natur seien zwar alle Menschen", heißt es in der Weisheit Salomonis Kap. 13, „die in der Nichtkenntniß Gottes lebten und nicht
aus den fichtbaren Gütern den, der ist, zu ersehen vermochten und nicht, aus die Werke merkend, den Meister erkannten, sondern
weder das Feuer oder den Wind oder
ent
die schnelle Luft oder den
Kreis der Gestirne oder das gewaltige Wasser oder die Lichter des Himmels für die Welt regierende Götter hielten.
Wenn sie näm
lich, von ihrer Schönheit ergötzt, solche für Götter hielten, so hätten sie einsehen sollen, um wie viel besser ihr Gebieter ist; denn der Ur
heber der Schönheit schuf sie; und wenn sie von deren Kraft und Wirksamkeit betroffen waren, so hätten sie von ihnen merken sollen,
um wie viel mächtiger der sei, der sie bereitet.
Denn aus der Größe
und Schönheit der Geschöpfe wird vergleichungsweise
der Urheber
derselben erkannt. — Aber dennoch trifft diese geringerer Tadel, denn auch diejenigen irren leicht, welche Gott suchen und finden wollen:
denn, indem sie mit seinen Werken umgehen und
sie untersuchen,
werden sie überwältigt durch den Anblick, weil schön ist, was man sieht.
„-------- Unselig aber sind, und ihre Hoffnung ruhet auf Todtem, welche Götter nennen die Werke von Menschen-Händen, Gold und Silber,
der Kunst Gebilde und Abbildungen von Thieren oder einen un nützen Stein,
das Werk alter Hand."')
Und nun folgt angelehnt
an Jesaias 41, 7 u. 44,12—17, Jeremias 10, 3—5 eine schlagende
Darstellung der Nichtigkeit und des Widersinns dieses Götzendienstes, 9 Anmerkung des H erausgebers: So wörtlich. Der Sinn: das Werk altväterischer Hand, d. h. von den Vorfahren oder in alten Zeiten gemacht; ähn lich Luther.
1. Hauptstück.
12
Erstes Gebot.
die noch heute nachdenkenden Heiden gegenüber (wie z. B. in Ost
indien) selten ihre Wirkung verfehlt: wie zuerst der Meister aus Eisen eine Axt schmiede und bilde sie mit Hämmern und fertige sie mit seinem kräftigen Arm und hungere dabei, bis er nimmer könne,
und dürste, bis er matt werde; wie dann der Holz-Zimmerer in den
Wald gehe und haue einen handlichen Baum, der gewachsen und vom Regen groß gezogen sei.
Den zirkle er ab und bilde aus ihm
irgend ein nützlich Geräth für's Leben, und die Spähne zünde er an
und backe sich Brod dabei und brate sich Fleisch, sättige und wärme sich und spreche: „Hojah! ich bin warm geworden, ich sehe meine Lust an dem Feuer!" Aber das übrige davon, was zu gar nichts nütze sei, das krumme und schiefe und ästige Holz — das schnitze er
zu seinem Gott; male es fein an roth und schön; und, wo ein Fleck sei, streiche er es zu, mache ihm auch ein sein Haus, damit es nicht
naß werde, und hefte es mit Eisen an die Wand, damit es nicht
Und dann falle er vor ihm nieder und bete es an für seine
falle.
Güter, sein Weib und seine Kinder, und schäme sich nicht, indem er
das Leblose anrede.
Um Gesundheit rufe er das Schwache an, und
um glückliche Reise, das nicht gehen kann, und für Erwerb und Ge schäft und glückliche Handlung bitte er das Kraftloseste um Kraft.
Es ist hier zunächst zu bemerken, daß diese Unterscheidung und
tiefe Unterordnung derer, welche Menschen-Gemächte für Gott halten gegen diejenigen, welche Gottes Kreatur anbeten, ihre volle Anwendung
nur da findet, wo die Bilder eben als solche göttlich verehrt werden,
wie das allerdings bei roheren Heiden und leider auch Christen häufig
genug geschieht: daß dagegen, wo das Bild Bild bleibt, da mit der Bildnerei eine höhere und sittlichere Weise des Gottesbewußtseins und der Gottesverehrung verbunden sein kann, als sie hie und da bei Anbetung von Gegenständen der Natur „Gottes Kreatur" statt
findet.
Ich erinnere an den reinen Naturdienst, von dem Thierdienst,
geschweige dem Fetischdienst der Negervölker, gar nicht zu reden, die dem ersten, dem besten, woran gerade ihre Aufmerksamkeit haftet, von dem sie irgend einmal andächtig berührt worden sind, göttliche
Kräfte, Gottheit zuschreiben. Dies vorweg, beachte man, wie der heilige Schriftsteller auch in dem Heidenthum den in der Tiefe zu Grunde liegenden Zug nach
Grober Götzendienst.
Ursprung und Wesen.
13
Gott anerkennt und von etlichen Gestalten desselben sogar mit einer
gewissen Hochachtung redet.
Wie der Apostel Paulus, nachdem er
die Atheniensischen Gottesdienste durchwandert und dabei auf einen Altar mit der Ueberschrist „dem unbekannten Gotte" getroffen war,
den Athenern das Zeugniß giebt, daß sie „Götterfürchtende" seien und, „ohne es zu wissen, Gott dienten" (Apostelgesch. 17, 22 f.), und,
darauf gestützt, ihnen diesen unbekannten Gott verkündet: so hebt auch
unser Verfasser die dem Heidenthum, der Abgötterei, trotzdem er sie verwirft, noch innewohnende Wahrheit hervor.
Auch das Heiden
thum ist Religion, der Götzendienst noch Gottesdienst, nur ist es ein
steckengebliebenes Sehnen und Suchen nach Gott, eine gefangen ge
nommene und gefesselte Religion.
„Denn auch die wohl irren können,
die Gott suchen und gern fänden: Denn, indem sie mit seinen Ge
schöpfen umgehen und ihnen nachdenken, werden sie „gefangen im
Ansehen"'), weil die Kreaturen so schön sind, die man sieht" (v. 6 u. 7).
Das enthüllt eben so das Wesen, wie den Ursprung
„Abgötterei".
Gott, so
der
In jedem Menschen ist, wie die Abhängigkeit von
das Bewußtsein dieser Abhängigkeit von einem Höheren
außer ihm und die Sehnsucht nach demselben potentiä d. i. als Keim und Trieb
und
wirksame Anlage
vorhanden.
Drängen und Treiben in ihm widerstehen:
Er
kann
diesem
los wird er es nicht.
Aber auch, wo er ihm nachgiebt, strebt und sucht, kommt er nicht immer und sofort zum Ziele.
Der Zug nach oben wird theils ab
geschwächt theils auch abgelenkt durch die sinnlichen Eindrücke, welche
diese Welt auf ihn macht, in der, hinter welcher und durch die hin durchdringend er Gott suchen und finden soll: er aber vermag sich nicht über sie zu erheben, durch das unmittelbar in der Anschauung Gegebene nicht durchzuarbeiten, sondern, überwältigt hier „von der Schönheit", da von der Furchtbarkeit der Erscheinung, der sinnlichen
Lust oder sinnlichen Qual, bleibt er bei diesem zunächst Liegenden stehen, und betet, Gott suchend, in Wirklichkeit das Geschöpf an. Die Einsicht in diesen Ursprung des Götzendienstes — nicht, wie
es
häufig
geschieht,
aus bloßer Unwissenheit und Unkultur,
wobei derselbe leicht als etwas Unschuldiges, ja Naives
erscheint,
l) So Luther; eigentlich „überredet" mit dem Nebenbegriff der Täuschung.
14
1. Haiiptstück.
Erstes Gebot.
sondern aus mehr oder minder verschuldeter') Abschwächung, Ablen
kung und Verdunklung des
durch über
sittlich religiösen Triebes
schießende Sinnlichkeit, sinnliche Lust oder Unlust — diese Erkennt niß ist zu wichtig, als daß wir sie nicht noch in nähere Betrachtung
ziehen sollten.
Wir knüpfen diese Betrachtung an eine unserer äl
teren Dichtungen.
In Tiecks Phantasus in dem allbekannten Mär
chen vom „gestiefelten Kater" wird uns das mit menschlichem Ver
ständniß und menschlicher Sprache ausgestattete Thier vorgeführt,
wie es, den Gesang der Nachtigall vernehmend, in den Ausruf aus bricht: was singt die prächtig! wie müßte die nicht erst schmecken!
Hier ist nicht bloß die ächt dichterische Weise zu bewundern, mit
welcher das Durchbrechen des wesenhaft Thierischen (in dem gestie felten Kater) durch das dazu gedachte Menschenartige dargestellt ist, sondern es ist auch das allgemein gültige Gesetz zu beachten, welches in der dichterischen Umhüllung uns vorgeführt wird.
Der „Kater"
hört auch den lieblichen Gesang der Nachtigall; aber, wo der für Schönheit empfängliche Mensch den Tönen lauscht, weckt diese Lieb lichkeit in dem Thiere nur den Gedanken an Jagd und Fraß! So nimmt überhaupt jedwedes Wesen, jeder Mensch die Vorgänge und
Gegenstände außer ihm je nach den ihm einwohnenden Trieben, den
ihn beherrschenden Neigungen und Leidenschaften auf.
Wozu wir
innerlich gar keine Beziehung oder, wie wir sagen, wofür wir kein
Interesse haben, das nehmen wir entweder gar nicht wahr — es ist für uns so
gut wie gar
nicht
vorhanden:
oder, wenn sich das
Gegenständliche so überwältigend aufdrängt, daß wir gewissermaßen darauf gestoßen werden, so nehmen wir zwar wahr, um was wir
nicht herum können, aber wir sehen es einseitig falsch und verzerrt. So ist es auch mit der Religion.
Unablässig dringt Gottes Offen
barung in der Welt, in den Werken seiner Hand, wie in den von ihm geleiteten Geschicken sowohl des einzelnen Menschen als auch der ge-
sammten Menschheit — in der Geschichte — auf uns ein: und in jedem geistig gesunden Menschen regt sich der Trieb nach Gott, das Be*) Weisheit 13, v. 8. 9: doch damit sind sie nicht entschuldigt.
Denn haben
sie so viel mögen erkennen, daß sie die Kreatur hochachten, warum haben sie nicht
vielmehr den Hen'n derselben gefunden? digung haben.
Röm. 1, 20: also, daß sie keine Entschul
Grober Götzendienst.
Ursprung und Wesen.
15
wußtsein der Abhängigkeit von einem Höheren, die Sehnsucht danach
— das Gewissen.
„Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und
die Feste verkündet seiner Hände Werk."
„Ihn predigt Sonnen
schein und Sturm, ihn preist der Sand am Meere.
Bringt, ruft
auch der geringste Wurm, bringt unserm Schöpfer Ehre."
Andrer
seits: „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so verlangt meine Seele nach Gott, nach
dem lebendigen Gott."') Dessenungeachtet
kommt es nicht immer zu dem erwarteten Resultat.
Da steht der
Baum in seiner Pracht, da prangt die Saat, von denen der Dichter sagt, sie rufen, daß sie Gott gemacht! Tausende gehen an ihnen vor
über — ihre Gedanken sind auf wer weiß was anderes gerichtet —
sie nehmen sie im buchstäblichen Sinne des Wortes nicht wahr, ge schweige, daß sie den Ruf vernehmen, der von dort her zu ihnen her
überklingt.
Aber auch, die sie wahrnehmen, die sinnend bei ihnen
verweilen, wie verschieden lautet die Sprache, je nachdem die Weise ist, mit welcher die Menschen die Welt anschauen, das Organ, das
sie derselben entgegen tragen.
Die grünende Saat, der blühende
Baum — er redet dem, der, wie alles, so auch sie nur mit dem
Magen ansieht, nur von Genuß, dem Gewinnsüchtigen von Ertrag, dem Aesthetischen von Schönheit, Farben und Form, dem verständig nachdenkenden Menschen von Ursach und Wirkung, Naturgesetz und Naturzusammenhang; und nur dem Frommen spricht er von Gott.
Und auch diesem noch redet er verschieden, lauter oder minder laut, deutlich oder undeutlich, über alles Stoffliche, Irdische und Zeitliche
erhebend oder das Göttliche in das Kreatürliche, das Geistige in das
Stoffliche, das Ewige in das Werdende hinabziehend und mit ihnen vermischend, je nachdem der fromme Sinn der allein wirkende, und
je nachdem er rein war.
Wie unser Heiland spricht: „Selig sind, die
reines Herzens sind, denn sie werden Gott schauen" (Matth. 5,8). Ein unreines Herz vermag ihn nicht zu schauen; es findet ihn nicht: und, wo Gott sich ihm zeigt, da sieht es ihn entstellt und verzerrt. Das ist es, was Paulus Röm. 1, 18 f. ausführt, und worauf
sich die Strenge seines Urtheils gründet, welches er über die Ab
götterei , das Heidenthum ausspricht.
„Gottes Zorn vom Himmel
') Ps. 19, 2. — Lied Bert. Gsb. 84: Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht. - Ps. 42, 2. 3.
16
I. Hauptstück.
Erstes Gebot.
her", sagt er, „werde offenbar wider jegliche Gottlosigkeit und Un
gerechtigkeit der Menschen, welche die Wahrheit durch Ungerechtigkeit aufhalten. Denn, was man von Gott wissen kann'), ist ihnen offen bar, denn Gott hat es ihnen offenbart. Denn sein unsichtbares Wesen d. i. seine ewige Kraft und Gottheit wird seit der Schöpfung der
Welt an den Werken geschaut, „so man des wahrnimmt (nooumena,
d. h. so man sie mit dem nous erfaßt): also daß sie keine Entschul digung haben".
Das letztere haben sie eben nicht gethan; sondern,
„obschon sie wußten, daß ein Gott ist, haben sie ihn nicht als solchen
geehrt und ihm gedankt.
Darum sind sie in eitle Gedanken verfallen,
und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.
Indem sie sich für weise
hielten, sind sie zu Thoren geworden und haben die Herrlichkeit des
unvergänglichen Gottes mit der Aehnlichkeit eines Bildes von einem vergänglichen Menschen und von Vögeln und Thieren und Würmern
vertauscht."
Das ist nach Pauli mit der unsrigen übereinstimmenden
Darstellung der Ursprung des Götzendienstes.
Die Menschen haben
Gott nicht mit dem nous, der höchsten, geistig-sittlichen Potenz, der Vernunft und dem Gewiffen, gesucht, sondern sind ihren niederen Trieben (der sarx oder denr Fleische) gefolgt und haben denen ge stöhnt: da ist ihnen das Gottesbewußtsein verdunkelt und das Gottes
bild entstellt worden, daß auch die weisesten unter ihnen Gott nur
im Bilde und unter der Hülle der Kreatur zu verehren vermochten.
Also der Götzendienst, die Abgötterei sind nicht nur aus Dumm heit entstanden — sind es doch gerade die Kulturvölker, die wir dem selben hingegeben finden, während das in jeder Beziehung weit hinter ihnen zurückgebliebene Volk Israel, in seinen hervorragenden Männern immer, und schließlich auch das gesummte Volk, die Einigkeit und
Geistigkeit des heiligen Gottes festhält: — sondern sie sind aus Ver
dunklung und Ueberwältigung des religiös sittlichen Triebes durch die niederen Triebe des Menschen, aus überschießender Sinnlichkeit, mit
einem Worte, aus Verschuldung, aus Sünde hervorgegangen. Darum wirken sie auch so verderblich, Sünde mehrend und erzeugend, ein. Wie überhaupt Irrthum und Sünde Zusammenhängen und sich gegenseitig bedingen und fördern: so ist das namentlich der Fall, wo die höchste, l) Luth. Denn, daß man weiß, daß Gott sei.
Ursprung der Vielgötterei.
17
die Gotteserkenntniß getrübt und entstellt ist.
Die in den Staub ge
zogene Religion vermag immer weniger über den Staub zu erheben;
Götter, welche die Sinnlichkeit gemalt und ihnen ihre Züge, Züge oft der entfesseltsten, niedrigsten Lust, aufgedrückt hat, —sind außer Stande, das, was sie erzeugt hatte, zu bändigen; ihr Kultus selbst dient dazu, die in ihnen vergötterten unsittlichen Triebe zu rechtfertigen und zu mehren: wie Paulus an der angeführten Stelle (Röm. 1,
24—32) diese sich immer steigernde Wirkung des Götzendienstes aus Sünde in Irrthum, aus Irrthum in immer größere Sünde beschreibt
und eine Schilderung von dem sittlichen oder vielmehr unsittlichen Zustande des Heidenthums seiner Zeit entwirft, die man beinah ver sucht sein könnte für übertrieben zu halten, wenn nicht die heid
nischen Schriftsteller jener Tage ’) sie mehr als bestätigten, und unsere
eigne Bekanntschaft mit den Heidenvölkern der Gegenwart dasselbe zeigte. — Doch hierauf kommen wir später noch einmal zurück: an
dieser Stelle scheint es angemessen, unsere bisherige Betrachtung über
das Wesen und die Erscheinung des Götzendienstes selbst noch ein weniges weiterzusühren.
Als das Wesen des Götzendienstes ist uns bisher entgegenge treten das Steckenbleiben des religiösen Triebes in der Welt, die damit verbundene Vermischung des Göttlichen mit dem Kreatürlichen,
des Ewigen mit dem Zeitlichen, schließlich die Anbetung des Ge schaffnen statt des Schöpfers, und dies alles in Folge und Kraft der
das Höhere und Höchste in dem Menschen, die Vernunft und das Gewissen, überwältigenden sinnlichen Triebe
und Eindrücke.
Aus
derselben Quelle ergiebt sich mit Nothwendigkeit auch die Zersplitte
rung des Götzendienstes in Vielgötterei, sowie das Haften an Ab bildungen und Gleichnissen, der fast in allen Gestalten desselben vor kommende Bilderdienst.
Die sinnlichen Triebe und Eindrücke sind
eben nicht eins, sondern unendlich verschieden, ja nicht selten einander
widersprechend.
Eben so wenig ist für den, welcher sein Augenmerk
auf die Erscheinung gerichtet hat, die Welt eine, sondern ein solches Gemisch des Verschiedenartigsten, ein Convolut mit einander ringen der und sich gegenseitig bekämpfender und vernichtender Mächte und Seneka, Horaz, Ovid, Persius, Juvenalis. Eltester, Materialien.
2. Auflage.
18
1. Hauptstück.
Erstes Gebot.
Kräfte, daß noch heuteMelfach die ganze Stärke monotheistischen Glaubens dazu gehört, um von der Einheit Gottes her an die Ein heit der vielgetheilten Welt zu glauben und den gejammten Welt
verlauf, den physischen, wie den sittlichen, als ein organisches Ganzes
zu erfassen.
Ist es nicht natürlich, daß, wo das Gottesbewußtsein
geschwächt und nicht bloß dies, sondern abgelenkt und mit dem sinn
lichen Eindruck vermengt und verworren ist, wo, um mit dem Buche
der Weisheit zu reden, die Gott suchende Seele gefangen genommen ist im Ansehn, dieweil die Kreaturen so schön sind, die man sieht: daß da von dieser Uebergewalt der sinnlichen Erscheinung her das Gottesbewußtsein zerrissen und zerspalten wurde? Was
nur den
Menschen mächtig ergreift, das hält er für Gott; die Stelle, den Ort,
an dem er sich religiös angeregt fühlt, für einen Wohnsitz Gottes. Der Wind, der im Walde rauscht, regt ihn an und spricht zu ihm mit Sehnsucht und Ahnung weckender Stimme: im Baum, im Wald wohnt Gott. Doch auch die Steppe, die Wüste mit ihrem Schweigen,
mit ihrer Einsamkeit, mit dem Sternenheer über ihm stimmt ihn religiös: und er spricht: „Gewißlich ist der Herr an diesem Orte" (1 Mos. 28, 16): aber ist es derselbe Gott, der hier und da so ver schieden erscheint? Derselbe, der aus den Wolken mit Blitz und
Donner redet, und der das Meer bewegt, derselbe, der in der Sonne, und der im Monde wohnt, der versengende Glut, und der erquickende
Kühle sendet, der wachsen läßt, und der verdirbt, der schafft, und der
zerstört? So zersplittert sich das mit dem Weltbewußtsein verworrene Gottesbewußtsein, so spaltet es sich selbst da, wo, sei es als Er innerung an frühere bessere Erkenntniß, sei es als Errungenschaft kräftigeren religiösen Triebes, eine Ahnung des Monotheismus, der
Gedanke ursprünglicher Einheit der Gottheit sich vorfindet.
Die
Religion der Inder, wie der Perser, führen ja beide alles Sein
schließlich auf ein Einiges, jene auf den Bram, diese auf die ansangs lose Zeit (die Zervane Akarene) zurück.
Aber, so wie sie beginnen,
das Religiöse auszugestalten, zerlegen jene den einheitlichen Bram in den Brama (die schaffende), den Wischnu (die erhaltende), den Schiva (die zerstörende Weltkraft) und dann weiter in immer weitere Götter: während der Parsismus bekanntlich in Dualismus fällt,
indem er aus der anfangslosen Zeit in der Zeit den Gott des Guten
Arten des Götzendienstes.
19
Bilder- und Thierdienst.
und des Lichts (den Ormuzd) und den Gott der Finsterniß und des
Bösen (den Ahriman) entstehen läßt. Wie eine derartig im Sinnlichen befangene Religiosität sich nicht zu einer rein geistigen Anbetung erheben konnte, wie sie viel mehr der sinnlichen Stützen bedurfte und darum, wo ihr dieselben
nicht unmittelbar in den vergötterten Naturgegenständen gegeben
waren, zu Abbildungen, weiterhin zum Bilderdienste gelangte, das bedarf keiner weiteren Besprechung.
Ebenso wenig wird es Wunder
nehmen, daß je nach dem minderen oder mehreren Schönheitssinn eines Volkes diese Abbildungen mehr oder minder ansprechend aus fallen, in einzelnen Fällen, wie unter den Griechen, den höchsten Grad der Schönheit erreichen, in anderen, bei Indern und Mexi
kanern, den slavischen Völkern, zu wahren Karrikaturen werden. Man mag über die Wunderlichkeiten, ja Scheußlichkeiten, Produkte
einer verzerrten Phantasie, die einem dabei begegnen, staunen; aber man vermag von dem querköpfigen, eckigen, überhaupt unkünstlerischen
Standpunkte ihrer Erzeuger aus selbst fie noch
zu begreifen.
Es
sind eben Bilder, die etwas anderes vorstellen, hinter denen ein Gedanke ist, den nur die ungelenke Hand, die nach dem Ungeheuren greifende Einbildungskraft so ungeschickt darstellte.
Schlechthin un
begreiflich dagegen selbst auf dem niedrigsten Standpunkt erscheint ein Kultus, den wir noch dazu bei Nationen, die in andrer Beziehung zu den kultivirtesten gehören, finden: der Thierdienst.
Wie, fragt
sich jeder, wie vermag ein Mensch vor einem Thiere, der vernunft
begabte vor einem brutum, einem Ochsen zu knieen? Da ist, um nicht den Faden zu verlieren, sestzuhalten: daß auch hier das Thier ursprünglich Bild war, Symbol der erzeugenden, ernährenden, hei lenden oder auch der zerstörenden und vernichtenden Kräfte: und Vorgänge in der Natur, die man im Thier abgebildet oder auch
verkörpert sah.
Wie Griechen und Römer ihren Götterbildern Ge
stalten von Thieren beifügte», dem Zeus den Adler, der Athene die Eule, dem Mars den Wolf u. s. f., um in diesen Attributen gewisse Eigenschaften der Gottheit zu bezeichnen, wie Aron und später Jero-
beam keinen Anstoß nahmen, die Kraft Jehovahs unter dem Bilde eines
Stieres
darzustellen, wie
bei den Kananitern Moloch
in
Menschengestalt mit einem Stierhaupte auftritt, wie Inder und 2*
20
1. Hauptstück.
Aegypter den Göttergestalten
Erstes Gebot.
Thierköpfe')
aufsetzen: so
ist
ohne
Zweifel auch das lebende Thier ursprünglich nur als den Göttern
geheiligt, ihre Kraft und Wirksamkeit ausdrückend, mit einem Worte
als Bild der Gottheit angesehen worden, bis auch hier allmählich
das Bild und der durch dasselbe bezeichnete Gegenstand in einander verschwommen, und eigentliche Thier-Anbetung sich einschlich.
haben ohne Zweifel selbst da noch
Doch
die Wissenden, die ägyptischen
Priester, mit denen sich Herodot besprach, und von denen Pythagoras
lernte, Bewußtsein von der Sachlage gehabt und die Kenntnis der selben als Geheimlehre fortgepflanzt. Unter den. mannigfachen Gestalten des Götzendienstes werden
wir am
frühsten bekannt, und sind wir am vertrautesten mit dem
der alten Griechen und Römer.
Wir kennen denselben theils aus
den Schriften theils aus den Kunstwerken der Alten, die beide zu dem Ausgezeichnetsten gehören, was die Menschheit hervorgebracht. Die Kunstwerke, von denen leider nur spärliche und auch diese oft nur in Bruchstücken auf uns gekommen sind, haben eine Schönheit, die wohl
immer als unübertroffen und als Muster dastehen wird, an deren Anschauung sich schon mehr, als einmal, der Sinn späterer Zeiten für Schönheit neu entzündet und genährt hat.
Die Schriften aber bilden
In ihrer klaren nüchternen Weise erziehen sie uns zu einer kernigen Er
recht eigentlich die Grundlage aller unserer höhern Bildung.
fassung der Welt und der Weltverhältnisse, namentlich der bürger lichen , welche uns in ihnen noch in einfacher, übersichtlicher Gestalt
entgegentreten; begeistern uns durch die Schilderung der Großthaten jener Völker, durch die Beispiele der Tapferkeit und Vaterlandsliebe, welche sie vorführen; zeigen uns in den älteren Zeiten eine Frömmig keit, die trotz der mit ihr verbundenen Verirrungen uns mit Hoch achtung vor dieser das gesammte Sein und Leben jener Alten durch-
') Hinsichtlich der Aegypter ist die Sache nicht ganz sicher.
Nicht, daß nicht
auch bet ihnen derartige Bilder sich finden, sie kommen sogar häufig und in man nigfacher Weise vor.
Nur die Bedeutung ist zweifelhaft, sofern neuere Forscher
diesen Thierköpfen auf Menschenleibern nicht sowohl die Kraft des Bildes als viel mehr der Buchstaben zuschreiben, der erste Buchstabe int Namen des Thieres ist auch der erste Buchstabe int Namen der Gottheit.
Arten des Götzendienstes.
Griechen und Römer.
21
dringenden „Götterfürchtigkeit", wie Paulus es ausdrückt (Apostelgesch.
17, 22), erfüllt, zumal wenn wir damit die Gleichgültigkeit und Mattigkeit vergleichen, die trotz unsres Christenthums unsre Zeit be herrscht.
Kein Wunder, daß wir über dieses Heidenthum und von
ihm aus, welches die Mehrzahl unter uns allein kennt, über alles Heidenthum milder urtheilen, als die Sache zuläßt; und nicht bloß,
wie billig, die vielfachen Reste der Wahrheit und Keime reinerer Entwicklung dieser hellenischen Götterlehre und Gottesverehrung un
befangen anerkennen, sondern über die Schönheit, in der sie uns entgegentreten, die Nachtseite, die auch nicht fehlt, mehr, als gut
thut, übersehen, ja, daß manche sogar geneigt sind, in einseitiger
ästhetischer Betrachtung dieses Hellenenthum, wenn nicht geradezu
über das Christenthum zu stellen, so doch auf Kosten des Christen thums zu erhöhen.
Da möge man bedenken, daß trotz dem allen,
was sie auszeichnet, die griechische Götterlehre eine Verdunklung und Entstellung der Wahrheit war, die bereits in den verhältnißmäßig
reinsten Zeiten neben dem Bessern auch alle die Keime der Entsitt
lichung und des völligen Verderbens in sich trug, welchem wir später dieses hochbegabte Volk, wie alle geistig von ihm beeinflußten Völker,
rettungslos hingegeben sehen.
Recht angesehen, gleicht schon in diesen
Zeiten die griechische Mythologie einer Wiese, die aus ihrer Ober fläche mit Gras und Blumen prangt, Blumen, wie man sie so nicht wieder findet; aber wehe dem, der seinen Fuß auf sie setzt: er ver
sinkt in die bodenlose Tiefe.
Daß aus uns das griechische Heiden
thum bei unserm Verkehr mit ihm diese Wirkung nicht hat, liegt
einfach daran, daß wir eben nicht auf demselben fußen, sondern es
lediglich aus der Ferne, von dem festen Boden unserer reineren
Gotteserkenntniß aus anschauen.
Für uns ist diese Mythologie nicht
mehr Religion, sondern Gegenstand der Reflexion, ihre Göttergestalten
sind uns lediglich poetische Figuren, mit denen wir in Dichtung und Prosa spielend verkehren, ihre Göttergeschichten Märchen und Allego rien, an denen wir uns, wie an anderen, ergötzen, ihre Götterbilder
vollends Statuen, Abbildungen schönster Menschen.
auch die Wirkung, die sie auf uns ausüben.
Dem entspricht
Wenn wir im Homer
von der leidenschaftlichen Theilnahme der Götter an den Kämpfen der Griechen und Trojaner lesen, wie sie sich untereinander erzürnen
1. Hauptstück. Erstes Gebot.
22
und ausschelten, in eigner Person an Gefahren theilnehmen und da bei menschlich Schläge und Wunden erleiden; wenn wir uns ausmalen,
wie, von Diomedes Lanze getroffen, Ares aus dem Kampfe weicht
und dabei vor Schmerz, wie 10,000 Männer, schreit, desgleichen
Aphrodite mit ihrer Verwundung zu Vater Zeus eilt und ihm wei nend ihren blutenden Finger zeigt, und der ihr znspricht: „Siehst du wohl, Töchterchen, das kommt davon": — ja, so will ich den
unter uns sehen, der bei der unendlichen Anmuth und Naivität, mit
der uns das alles vorgeführt wird, bei diesen Geschichten etwas an deres, als reine Freude an der Darstellung, empfindet.
Nicht minder
die häuslichen Scenen im Olymp: wie Here zankt, und Zeus brummt, ob er sie wieder einmal, wie vordem, zwischen Himmel und Erde
aufhängen solle, und allen Göttern bange wird, bis Hephästos mit freundlichem Zuspruch dazwischentritt und mit seinen lahmen Füßen von einem zum andern hinkt und einschenkt, und nun alle Götter
in
unauslöschliches Gelächter über den geschäftigen Mundschenken
ausbrechen: so macht das auf uns keinen andern Eindruck, als jede
andre gut dargestellte komische Scene.
Anders das griechische Volk:
Für dieses waren diese Geschichten Realitäten, sie glaubten daran, zu diesen parteiischen Göttern flehten sie, diese tief in das Mensch
liche herabgezogenen Götter waren ihre Vorbilder.
Das mußte ent
sittlichend wirken, um so mehr, je anmuthiger es dargestellt war.
Das
war der Grund, warum bereits 400 Jahre vor Christo Plato den Homer aus dem Jugend-Unterrichte, dessen Grundlage er bildete,
unbedingt entfernt wissen wollte: für seine Zeit mit vollem Recht.
Das ist die Ursache, warum auch die erste Christenheit sich zu dieser Mythologie und ihren Erzeugnissen in Wort und Bild so ganz anders verhält, als wir, nämlich lediglich ablehnend.
Sie stand einem noch
lebendigen Heidenthum gegenüber, dessen furchtbaren Einfluß sie rings um sich sah, dessen verführende Kraft sie theilweise an sich selbst er fahren hatte.
Für sie war ein Absehen von dem religiösen Gehalte
nicht möglich; sie mußte bekämpfen, meiden, von sich stoßen, unter Umständen vernichten, was eben noch Gewalt über die Gemüther
hatte.
In diesem Verfahren nichts, als Fanatismus, sehen, ja davon
wohl gar Veranlassung nehmen, über Barbarei des Christenthums
zu deklamiren, wie das mitunter von enragirtcn Philologen und
Die Götter Griechenlands (Schiller).
23
Aesthetikern geschieht, heißt die Weltlage verkennen oder das künstle
rische oder antiquare Interesse über das religiöse stellen. Hier dürfte der Ort sein, noch einige Worte"über eim'vielan-
gefochtenes Gedicht von Schiller „die Götter Griechenlands" zu sagen. Man wirst demselben bekanntlich vor, daß es unchristlich eine reine
Apotheose des Heidenthums enthalte.
Was ist davon zu urtheilen?
Es ist einseitig, sofern es nur die Lichtseiten des Heidenthums her vorhebt: aber es ist nicht nur hochpoetisch, sondern auch, wenn man
auf den Grund sieht, tief christlich.
Ich wenigstens habe dasselbe nie
lesen können, ohne dabei an den Spruch zu denken:Wie der Hirsch schreit'nach frischem Wasser, so schreit meine Seele nach Gott, nach dem
lebendigen Gott (Ps. 42, 2. 3).
Man vergegenwärtige sich die Zeit, in
welcher das Gedicht geschrieben ist, und den Zustand des kirchlichen Christenthums in ihr.
Es ist die Zeit des Zopfes und der Per
rücken, unschön, wie nicht leicht eine zweite. bis
zum Uebermaß langweilig war
Und unschön, eckig und
auch die Form,
in
der
das
Christenthum damals auftrat, in der es in gelehrter Weise, wie von den Kanzeln, verkündet wurde.
Konnte diese Weise eine Dichterseele
Aber nicht bloß unschön war das Christenthum, sondern
fesseln?
es war auch, wenige Kreise ausgenommen, todt.
Ein reiner Ver
standeskram, eine wässrige Moral, wenn es hoch kam, der eiserne Imperativ
des kantischen ernsten, aber starren Pflichtgebots.
Und
diesem Zustand des Religiösen oder, wie wir besser sagen, der Dog matik und Moral entsprach auch die sonstige Wissenschaft, nament
lich die Naturwissenschaft.
Nur Mechanismus und Schematismus,
keine Ahnung von organisch wirkenden Kräften, von lebendigem Zu sammenhang, geschweige von der fort und fort in der Welt schaffen
den, alles in ihr durchdringenden Wirksamkeit Gottes; recht eigent lich Gott im Himmel ein leerer Gedanke, hienieden die entgötterte
Natur,
der lediglich durch das Gesetz der Schwere sich bewegende
Erdball.
Ist es da ein Wunder, wenn der Dichter, ich sage, der
Dichter, dieser Dichter, solcher Dürre und Oede gegenüber weh-
muthsvoll nach einer Zeit schaut, in der ihm noch Religion, warme, alles
durchdringende und belebende Religiosität im
höchsten Anmuth
immerhin
und Schönheit entgegentrat,
wenn
Gewände
er
der
in deren
einseitigem Preise bewußt oder unbewußt die tiefe Sehn-
1. Hauptstück. Erstes Gebot.
24
sucht seiner Seele nach einem lebensvollen Christenthum in einer seiner selbst würdigen Gestalt ausströmt?
Ein Freund des „kirch
lichen" Christenthums seiner und auch unserer Zeit war Schiller nicht, aber ein christlicher Dichter ist er darum doch, auch da, wo er
es selbst nicht weiß, der in seiner hohen Begeisterung für das Gute, Wahre und Schöne mehr in unsrem Volke für das Christenthum gewirkt hat, als alle seine kirchlichen Verächter. —
Auch in unsern Tagen finden wir das Heidenthum nicht nur
außerhalb, sondern auch innerhalb der christlichen Kirche.
Zuerst in
der römischen in der Weise, wie die Heiligen angerufen, ihre Re
liquien und Bilder verehrt werden.
Zwar die offizielle Lehre der
Kirche ist verhältnißmäßig rein: sofern dieselbe die Anrufung der
Heiligen nicht zur Religionspflicht gemacht hat, sondern sie nur für
nützlich gehalten wissen will und von den Heiligen nur sagt, daß sie für uns bitten, wie das ja auch lebende Menschen thäten; und
daß nicht sie, sondern Gott durch sie und um ihretwillen Wohlthaten
erzeige; sofern sie auch bei den Bildern Bild und Gegenstand unter scheidet und die Verehrung nicht auf diese, sondern auf den oder die Heilige, welche sie darstellen, und mittelst derselben auf Gott bezogen wissen will, sich auch über die Wunder der Heiligen und ihrer Re
liquien sehr vorsichtig ausdrückt und dieselben nicht ihnen, den Hei ligen, sondern Gott zuschreibt, der sie auf Bitten der Heiligen ge than, sofern endlich im Gottesdienst verschiedene Formeln für die Gebete an Gott (Herr erbarme dich unser) und die Bitten an die
Heiligen (ora pro nobis: bitte für uns) vorgeschrieben und im Schwange
sind.
Das sind bedeutende Zugeständnisse, die man dem Protestan
tismus gemacht hat, um diesen Aberglauben zu beschönigen; römisch bleibt jedoch, daß die Heiligen als Mittelspersonen zwischen Gott und Menschen angesehen und angerufen werden, was mit den „le
benden Brüdern" nicht geschieht.
Desto schlimmer steht es mit den
innerhalb der Kirche verbreiteten Vorstellungen, wie mit der von
der Kirche geduldeten, ja begünstigten Praxis: dem plumpen Aber glauben, daß jeder Heilige im Himmel sein eigenes Departement
habe, ein bestimmtes Patronat über gewisse Menschen und Gegen stände, so daß man in allen Leibes- und Seelennötheir sich nur an
den bestimmten Heiligen wenden dürfe, um Befreiung von diesem
.Heiligenverehrung der römischen Kirche.
25
Uebel zu erlangen: dem Wahne, daß gewisse Gnadenbilder noch jetzt
ausgezeichnete Beweise hoher Wunderkräfte geben, die Augen bewegen, mit dem Kopfe nicken und Thränen vergießen,
wie der heilige
Januarius alljährlich thut; dem Wallfahren zu gewissen Gnaden
örtern nach Loretto und Einsiedeln und dem schönen Kredit, in welchem einzelne Bilder und Reliquien von Heiligen stehen, dem
Ausstellen und Herumtragen derselben in feierlicher Prozession bei
öffentlichen, wie häuslichen Unglücksfällen, wie Pest, Feuersbrunst und Wassersnoth, in der Erwartung besonderer, außerordentlicher
Wirkungen; dem Gebrauche, bei der Weihung der Kirchen Reliquien
in den Altären zu deponiren *) u. a. m.
Hinsichtlich der Reliquien
hat die Synode von Trient zwar verfügt, daß nicht ohne Vorwissen
der Bischöfe und des Papstes neue Heiligenbilder und Reliquien in den Wunderruf gebracht werden sollen: darum sind derselben nicht
Ja, in Rom besteht noch jetzt eine eigne Con-
weniger geworden.
gregation, welche sich mit Untersuchung, Autorisation und selbst Ver sendung von Reliquien an die Kirchen und ausgezeichnete Personen
beschäftigt und in dieser Weise dafür sorgt, daß es nirgends an den
selben fehle. — Im südlichen Deutschland und in der Schweiz findet man nicht leicht eine größere Kirche ohne Skelette von Heiligen in
ganzer Figur und in Särgen von Glas ’). „Die römisch-katholische Kirche", — sagt ein namhafter evange lischer Theologe, dem auch die vorstehende Schilderung entnommen
ist, — „ist in demjenigen, was sie durchgängig in der Wirklichkeit aus den Heiligen gemacht hat, in das Heidenthum zurückgesallen,
und die schwache Gränze, welche sie zwischen Gott und ihnen statuirt in der verschiedenen Anrusungsformel, ist wahrhaftig nicht hinreichend,
eine innige Vermischung heidnischer und christlicher Elemente der
Andacht zu verhüten.
Was man besonders von den Schutzheiligen
und ihren öffentlichen Darstellungen in dieser Kirche hält, steht in der
auffallendsten Aehnlichkeit mit demjenigen, was die Schutzgötter bei
den Heiden waren.
Halte Latium den Saturnus, Kreta den Jupiter,
Samos die Juno, Rom den Mars, Athen die Minerva, Cyprus die ]) In einer Kapsel, Kappa, woher der Name Kapelle kommt. 2) Marheineke in seiner christlichen Symbolik, herauögegeben von Stephan Matthies und W. Vatke; Berlin 1848. S. 209—210..
1. Hauptstück.
26
Erstes Gebot.
Venus, Ephesus die Diana zu ihren Schutzgöttern, so haben in der römisch-katholischen Kirche die einzelnen Staaten
und
Provinzen,
Städte und Mönchsorden, Brüderschaften und selbst einzelne Gegen
stände, wie Felder und Brücken, ihre besonderen Schutzheiligen und
Patrone.
Der Apostel Jakobus hat das Schutzpatronat von Spanien,
Andreas von Polen und Rußland, Petrus und Paulus von Nom,
die heiligen drei Könige von Köln, der heilige Januarius von Neapel; der heilige Christoffel ist der Patron der Seefahrer, Lukas der Patron der Künstler, Nepomuk steht auf allen Brücken, und wie ragt voll ends der heilige Franciscus von Assisi hervor, wie wird er von den einzelnen als Schutzpatron verehrt! Es kommen hiezu die heiligen
Frauen, deren Patronat gar vielfältig gesucht wird, die zahllosen
Märtyrer, welche als Heilige verehrt sind; den Heiligen als Schutz patronen sind Berge, Wälder, Quellen, selbst Theater geheiligt, wie
das berühmte Carlo-Theater in Neapel; an Wegen und Landstraßen erheben sich ihre Standbilder in Holz und Stein, ihre Reliquien dienen als Amulette, mit Abbildungen ihrer Wunderkuren sind die
Wände der Kirchen erfüllt, von ihnen sind überall die Kirchen selber benannt."
„Diese Andacht hat nicht mehr zum Gegenstände die
wirkliche Heiligkeit derer, welche als Heilige verehrt werden sollen,
nicht die Erinnerung daran durch theure Zeichen und Spuren ihres
Daseins und Wirkens auf Erden, nicht die reine Huldigung gegen ihre Verdienste, sondern weit mehr wenigstens den persönlichen Vor theil und Nutzen, den sie dem Anrufenden gewähren, so daß schon Luther sagte: wo der Nutzen und Hülfe, beide leiblich und geistlich,
nicht mehr zu hoffen ist, werden sie die Heiligen wohl mit Frieden lassen: denn umsonst oder aus Liebe wird ihrer niemand viel gedenken,
achten noch ehren."
Ist das schon in denjenigen Gegenden der
römischen Kirche der Fall, die von dem nahen Protestantismus be
einflußt sind, so findet es in einem noch gesteigerten Grade in fern abliegenden Ländern z. B. dem ehemals spanischen Amerika statt.
Hier ist,
wie alle Berichte übereinstimmen, die Vorstellung
von
einer Vorsehung, die als einheitliche und ungeteilte Macht über den
Menschen waltet, völlig verloren gegangen; sie ist dem „Gläubigen" eine Vielheit von Mächten und Organen, deren jede er nach ihrer speziellen Macht und Wirksamkeit behandelt, je nachdem der Fall ist,
27
Pantheismus und Materialismus.
bald diesem bald jenem Heiligen oder Heiligenbilde seine Anliegen vorbringt, sein Licht anzündet, goldene Ketten, Gewänder, Weihge
schenke, Abbildungen kranker Gliedmaßen in irgend welchem bildsamen Stoff, eine silberne Rippe, ein kupfernes Bein, eine Nase und Ohr u. s. w. verspricht, und im Fall der Gewährung und Genesung auch
vor dem Heiligen aufhängt: wo nicht, sein Versprechen zurücknimmt
und sich an einen andern wendet: denn der Mangel an Erkenntlich keit und gutem Willen muß bestraft werden; gerade, wie. es
der
schlimmste Götzendiener mit seinem Götzen treibt. — Von diesem Rückfalle in das polytheistische Heidenthum ist in
unsrer Kirche natürlich keine Rede, dagegen droht.ihr von einem
philosophischen Heidenthum Gefahr, dem Pantheismus und dem Materialismus.
Unter dem ersteren versteht man diejenige Auf
fassung Gottes, welche, den Unterschied zwischen Gott und Welt auf
hebend, die Welt selbst, das Weltall für Gott (pan-theos) hält. wird angeschaut als
das
Gott
die Welt durchdringende Leben, das in
allem, nur in verschiedener Weise, erscheint, so daß alles an der
Göttlichkeit — dem Gottsein Theil hat, welches im Feuer leuchtet, in der Blume duftet, im Vogel singt, im Tiger brüllt, im Menschen denkt.
Gott ist nicht der persönliche ewigseiende Gott, der Schöpfer
der Welt, sondern er ist ein werdender, der sich in und mit der Welt entwickelnde, werdende, bis er endlich im Menschen „zu sich selbst kommt", Person wird.
richtig
Daß bei einer solchen Lehre, wenn sie folge
durchgeführt wird,
auf der Hand.
keine Religion
ist, liegt
mehr möglich
Eben so hört dabei bei folgerichtigem Denken jede
Unterscheidung von Gut und Böse, jede Sittlichkeit auf.
Denn, wo
Gott in allem, und alles nur eine Erscheinung seiner ist, wie kann da noch von Bösem die Rede sein? — sondern nur von mehr oder-
minder Entwickeltem, Kräftigerem, Angenehmen oder Unangenehmen, Häßlichem oder Schönem hätte man ein Recht zu sprechen.
Dessen
ungeachtet findet sich — und sogar tiefe, innige — Religiosität und
Sittlichkeit bei pantheistischen Anschauungen. die Menschen selten folgerichtig denken.
Der Grund ist, daß
Cs ist unglaublich, welche
Widersprüche der Mensch in sich vertragen kann, und
in welchem
Maße ein gesunder Sinn selbst arge Irrthümer des Verstandes
praktisch unschädlich macht.
Ein namhafter liebenswürdiger Denker
28
1. Hauptstück.
Erstes Gebot.
des vorigen Jahrhunderts, Jakobi, bekannte in dieser Beziehung von sich selbst, daß er seinem Kopfe nach ein Heide, in seinem Herzen
ein Christ sei.
Darauf hin sollen wir auch mit den Menschen ver
fahren und bei unsrem Urtheil über sie nicht bloß, was sie sagen, sie meinen, — oder, wie Gott, „das Herz an
sondern auch, was sehen".
Zumal auch vieles für Pantheismus ausgegeben wird und
so aussieht, was
er ganz und gar nicht ist, sondern ächt christlich
die Behauptung des lebendigen Waltens Gottes in der Welt, andrer seits die Ablehnung beschränkender menschlicher Prädikate oder solcher, die dafür gehalten werden, in ihrer Anwendung aus Gott.Z
Wer
betet, ist kein Pantheist, kann keiner sein, und wenn er und die halbe
Welt ihn dafür hält.
Bei alle dem bleibt, daß auch der nur theo
retische Pantheismus ein gefährlicher Irrthum ist.
Schlimmer noch und verderblicher wirkend, als der Pantheis mus, ist der neuerdings wieder aufgekommene und mit vieler Zuver sicht und großem Geschrei verkündete Materialismus.
Pantheismus — immer bei
Wenn
der
—
das
folgerichtiger Durchführung
Dasein eines von der Welt unterschiedenen persönlichen Gottes in Abrede stellt,
beziehungsweise
unmöglich
macht,
so
läugnet
der
Materialismus Gott überhaupt, ja jedes Uebersinnliche, selbst den menschlichen Geist.
Ausschließlich von der sinnlichen Erfahrung aus
gehend und diese allein
als Erkenntniß gelten lassend,
erkennt
er
2) Lediglich aus diesem Grunde weigern sich viele, welche übrigens mit Gott ganz, wie mit einem persönlichen, umgehen, das Prädikat der Persönlichkeit auf ihn zu übertragen. Persönlichkeit sei ein Beschränkendes: denn sie sei nicht möglich ohne ein Anderes außer Einem, im Unterschiede von welchem, beziehungsweise tut Gegensatze zu ihm, das persönliche Wesen sich eben als solches erfasse. Gott, der alles in allem erfülle, könne nicht gedacht werben mit einem Anderen außer ihm, zu welchem als einem Zweiten er sich nur als der Erste verhielte. Und wenn doch, so sei das gerade der Beweis, daß er nicht in sich selbst schon persönlich sei, sondern es erst an und mit diesem Anderen werde. Das ist jedoch nicht richtig. Es liegt keineswegs so, daß das Bewußtsein der Persönlichkeit erst mit der Unter scheidung von einem Anderen entstehe, in dieser Unterscheidung sein Wesen und seine Wurzel habe. Das ist bei uns so, Persönlichkeit an sich wurzelt vielmehr in der Selbstbestimmung und ist in ihrer höchsten Potenz geradezu identisch mit
derselben. „Gott ist persönlich" heißt: er ist im vollen Sinne und ganzen Um fange causa sui. Er nur bestimmt sich selbst und dann auch alles Andere außer ihm, sein Werk. —
Pantheismus und Materialismus.
29
nur, was er mittelst derselben wahrnehmen kann, die ewige, in allem Wechsel ewig dieselbe Materie, als Grund alles Seins und Geschehens
an.
Kraft und Stoff: das ist alles, außerdem existirt nichts: was
wir außerdem für seiend halten, das sogenannte Uebersinnliche ist entweder nichts, oder es ist materiell, eine Aeußerung oder Funktion
der Materie.
Selbst unser Denken ist nur eine Thätigkeit, eine
Ausstrahlung, Secretion des Gehirns, Secretion der Haut ist.
trinkt und verdaut.
ähnlich wie der Schweiß
Der Mensch ist und denkt, wie er ißt und
Bei gesunder Kost und normalem Körperzustande
denkt und empfindet und strebt er richtig; bei mangelhafter und
falscher Ernährung und gestörter Gesundheit werden alle diese Funk tionen abnorm. dumm.
Wer seinen Leib stets nur mit Kartoffeln füllt, wird
Und das alles mit einer Zuversicht und Selbstgefälligkeit
und einer so souveränen Verachtung jedes andern Standpunktes, als hinge von dieser Lehre das Heil der Welt ab.
Es kann ja sein,
daß in Folge jener bereits erwähnten ungemeinen Jnconsequenz der
meisten Menschen auch bei Denkern dieser Art, sei es als Rest frü
herer besserer Denkungsart, sei es als Anflug von außen her oder als Wirkung unverwüstlicher ursprünglicher Gutartigkeit, noch Spuren von Gemüth und Gewissen sich erhalten haben.
Nur die Lehre bringt
es nicht. Diese ist das Unwürdigste und Verderblichste, was je ge dacht worden ist, der reine Todtschlag alles Höheren im Menschen, ein Attentat gegen die „Menschheit". Wenn es möglich wäre, daß diese Lehre jemals die allgemeine Ueberzeugung und Besitz der ge
jammten menschlichen Gesellschaft in der Weise und dem Sinne werden könnte, in welchem es die Religion gewesen ist und, Gott sei Dank, noch immer wesentlich ist, so wäre das der Anfang nicht der angestrebten hoch gepriesenen Humanität, sondern der reinen Bestia lität.
Wie wir das ja sehen, wo diese Lehre in die rohe und un
gebildete Masse fällt.
Zum Glück wird nicht nur dieses, sondern
auch das wissenschaftlich Unhaltbare, die Oberflächlichkeit des Denkens, das Willkürliche in der Deduktion, die Widersprüche, in denen sich
diese Lehre trotz alles Scheines von Wissenschaftlichkeit und aller uns hier und da begegnenden wirklichen Gelehrsamkeit bewegt, mehr und mehr erkannt: und beginnen alle wirklichen Denker sich derselben zu schämen. — Damit sollen die Verdienste, welche sich manche dieser
1. Hauptstück.
30
Erstes Gebot.
Materialisten durch ihre Entdeckungen und Forschungen innerhalb
ihrer Spezialgebiete erworben haben, nicht geläugnet werden.
Hier
ist nur die Rede von dem System, von diesem wird behauptet, daß
es nicht nur ein unsittliches und verwerfliches, sondern
auch ein
wissenschaftlich unhaltbares, eine Schmach namentlich für unser deut sches Denken ist.
Doch weder jenen polytheistischen Kultus noch diese pantheisti schen und materialistischen Verirrungen allein haben wir in's Auge
zu fassen: man kann auch gegen das erste Gebot sündigen, wenn man sein Herz aus sündige Weise an die Kreatur hängt, wenn man
irgend etwas, was nicht Gott ist, mehr liebt, ehrt, fürchtet, sucht
oder mehr darauf vertraut, als auf Gott, mit einem Worte, wenn
man sein Herz an die Kreatur hängt auf eine Weise, die sich nicht
geziemt. Denn „also" sagt Luther in seinem großen Katechismus „ist es um alle Abgötterei gethan; sie stehet nicht allein darin, daß man ein Bild aufrichtet und anbetet, sondern vornehmlich im Herzen,
welches Hülfe und Trost sucht bei den Kreaturen und sich Gottes nicht annimmt, noch so viel Gutes sich zu ihm versieht, daß er wolle helfen, glaubt auch nicht, daß von Gott komme, was ihm Gutes widerfährt." — Und abermals: „Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles genug, wenn er Geld und Gut hat, verlässet
und brüstet sich darauf so steif und sicher, daß er auf niemand nichts giebt.
Siehe, dieser hat auch einen Gott, der heißet Mammon,
d. i. Geld und Gut, darauf er alle sein Herz setzet, welches auch der allergemeinste Abgott ist auf Erden." In diesem Sinne spricht auch die Schrift (Phil. 3, 19) von
Leuten, denen der Bauch ihr Gott ist: und nennt den Geiz Abgötterei (Kol. 3, 5): obwohl es noch keinem eingefallen ist, vor seinem Geld
sack zu knien oder seinen Bauch anzubeten: sondern nur ihr Dichten und Trachten ist auf sündige Weise hie auf den Genuß dort aus den Be
sitz gerichtet.
So kann zuletzt alles, auch, was an sich ein Gut ist und
Berechtigung hat, guter Name, Ehre, Gesundheit, Liebe der Menschen, Gunst der Gebietenden, Wirksamkeit zu einem Abgotte, d. i. zu etwas,
was uns von Gott abführt, werden, wenn man es auf eine selbst
süchtige, leidenschaftliche Weise liebt oder sucht: so kann man seine besten Gedanken, seine Ideale vergöttern und Wissenschaft und Kunst
31
Gott fürchten, lieben und vertrauen.
auf eine götzendienerische Weise pflegen.
Das ist der sogenannte „fei
nere" Götzendienst des Herzens, der freilich in einer andern Gestalt austritt, als jener „gröbere", der Kniee beugt, und dem er — wir
erinnern uns — die Wege bereitet; aber er ist nicht um ein Haar besser, ist eben so unsittlich und wirkt eben so entsittlichend und for dert, wenn auch in anderer Form, dieselben entsetzlichen Opfer, wie
jener.
Oder zerfleischt nur der Heide seinen Leib und verstümmelt
seine Glieder, schlachtet Menschen,
bringt sich und seiner Kinder
Leben und Unschuld seinem Götzen dar? Läßt denn nicht auch der
Geizige seinen Leib brennen und opfert seine Gesundheit, seine Ehre,
das Wohl der Seinen auf, nur, um Geld zusammen zu scharren?
Und was thut der Spieler, der Trinker? was der Vergnügungs süchtige?
Wie viele Hekatomben nicht von Thieren,
sondern von
Menschen hat Herrschbegierde und Ehrgeiz auf den Schlachtfeldern
geopfert? wie viele Brandopfer Fanatismus angezündet? Wie ost ist Ehre, Tugend, Gewissen um der Gunst der Mächtigen willen weg
geworfen, Freundschaft, Liebe, geschworne Eide, Religion, Gott um
das gnädige Lächeln eines Menschen, wie wir, verrathen worden? Täusche man sich nicht: getrieben
wird,
der Götzendienst, welcher in dieser Weise
ist eben so schlimm, wo nicht schlimmer und —
da wir die Wahrheit wissen und Gott kennen, verantwortlicher, als irgend ein andrer; und haben wir allen Grund, immerdar der Warnung
hannes
eingedenk
zu sein,
sein Sendschreiben
mit
welcher
der Apostel Jo
an seine Gemeinde — Christen und
nicht Heiden — schließt: „Kindlein, hütet euch vor den Abgöttern!"
(1. Joh. 5, 21.) Das erste Gebot wird erfüllt, wenn wir „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Das ist richtig, wenn man es richtig versteht, wenn man nämlich dieses dreifache nicht als ein dreifaches, sondern als ein einfaches auffaßt, in welchem jedes dieser drei mit den
andern innerlich verbunden und so geeint ist, daß nie eins ohne die andern ist. Die höchste Furcht nicht ohne die höchste Liebe und das höchste Vertrauen, in denen sie wurzelt, und von denen sie durchdrungen und getragen wird, die höchste Liebe nie ohne die höchste Furcht und
das höchste Vertrauen, und das höchste Vertrauen nie ohne die höchste Furcht und die höchste Liebe.
Wo man dagegen diese Einheit löst
1. Hauptstück.
32
Erstes Gebot.
und läßt die drei drei sein: da wird die Erklärung falsch, und taugt
keins der genannten etwas, noch auch sie alle zusammen. Zuerst: Furcht, in der nicht zugleich Liebe und Vertrauen ist, ist nicht die rechte Furcht; weit entfernt, Gott zu ehren, gereicht sie vielmehr ihm, wie uns, zur Unehre: und zwar um so mehr, je mehr
sie buchstäblich Gott über „alle Drnge" fürchtet. Was heißt denn fürchten? Sich von einem Menschen oder Dinge etwas Uebles versehen! So fürchtet der Mensch Leiden, Krankheit,
Noth, Schande,
ein reißendes Thier,
einen gewaltigen Menschen.
Und über dies alles soll er nun Gott, die Strafe Gottes fürchten?
Heißt das nicht Gott in die Reihe der Uebel stellen, wo nicht ihn zum größten aller Uebel machen? — Wovon man Unangenehmes, Wider
wärtiges, Böses erwartet, dem geht man möglichst aus dem Wege, flieht es.
So meidet auch Gott, wer ihn nur als einen Gegenstand
der Furcht kennt.
Wo der wahrhaft Gottesfürchtige sich nach Gott
sehnt, sein Wort gern hört und lernt: läuft dieser vor allem, was
Gottesdienst heißt, als drohte ihm ein Schade, entzieht sich nicht bloß
der aufdringlichen und salbadrigen Erinnerung an Gott, wie wir alle thun, sondern jeder Mahnung an Gott, jeder Verkündigung seines
Wortes.
Und wo er derselben nicht entgehen kann, da widerstrebt
er inwendig, sucht den Eindruck los zu werden, den unwillkommenen Gedanken an Gott sich aus dem Sinn oder, wie wir sagen, in sich todt zu schlagen.
Die Furcht schlägt in Feindschaft um — Furcht
und Haß sind überhaupt nur die entgegengesetzten Pole einer und derselben Regung.
Niemand hasset, befehdet und verfolgt, wovor er
nicht irgendwie Furcht hat:
andererseits wird man noch immer, was
einem Uebles droht, bekämpfen und, wo man ihm nicht entgehen kann, zu vernichten suchen.
So nimmt schon das schwächste Thier, wenn es
in die Enge getrieben wird, eine drohende Haltung an und setzt sich,
wenn es kann, zur Wehr: so bäumt sich auch in dem Menschen die Furcht und Angst gegen den unwillkommenen, lästigen und quälenden
Gottesgedanken auf, und erzeugt in ihm jene Feindschaft gegen Gott,
von der die Schrift sagt, daß wir uns alle von Natur unter der selben befinden und in ihr verharren, bis wir durch Christum mit
Gott versöhnt sind (Röm. 5, 10; Kol. 1, 21).
Freilich sind die
wenigsten sich dessen bewußt, schon darum nicht, weil auch die Furcht
Gott fürchten, lieben iirtb vertrauen.
33
selten unvermischt auftritt; am wenigsten haben wir, die wir immer
schon unter dem Einfluß des Christenthums leben, ein klares Be wußtsein von der Feindschaft des natürlichen Menschen; daß sie dessen ungeachtet auch in uns spurweise vorhanden ist, des werden wir inne werden, wenn wir in ernstem und gewissenhaftem Nach
denken uns klar zu machen suchen, was der eigentliche und letzte Grund unserer Abneigung gegen gewisse Dinge und Persönlichkeiten ist, denen wir im Grunde nichts anderes vorzuwerfen haben, als,
daß sie uns den Gottesgedanken in seinem ganzen Ernste nahebringen. Andererseits zeigen gerade in unseren Tagen nicht selten Beispiele,
bis
zu
welchem
Hasse
bewußten
gegen Christenthum,
Religion,
Gott diese in der Furcht wurzelnde Abneigung des Menschen gegen
das Göttliche führen kann. — Das ist und wirkt die Furcht vor Gott über alles ohne Liebe Zustand,
von welchem
in
und Vertrauen — ein
vollem Maße
gilt,
daß
entsetzlicher
„die Furcht
Pein hat" (1. Joh. 4, 18).
Anders diejenige Furcht vor Gott, die in der Liebe und in dem Vertrauen wurzelt und von ihnen durchdrungen ist. Giebt es eine
solche?
Die Ehrfurcht, welche wir als Kinder gegen unsre Eltern
empfinden, bildet sie vor; in dem Glauben an Christus, der uns zu Kindern Gottes macht, wird sie uns zu Theil.
Allerdings auch ein
Kind, das GotteSkind fürchtet den Vater. Es wird ihm nur mit Ehrfurcht nahen, mit Ehrerbietung von ihm sprechen, mit heiliger Scheu zu dem Heiligen emporschauen: aber es flieht nicht vor ihm, weil es sich keines Ueblen von ihm versieht: es flieht nicht, wenn er kommt, wie eine gescheuchte Katze, in den Winkel; sondern es sehnt sich
nach ihm, eilt ihm entgegen, hängt an seinem Halse, dessen Liebe und
Güte es erfahren.
Es ängstigt sich auch nicht vor Gottes Zorn,
noch bebt es, wo es etwa gefehlt hat, vor der Strafe; denn es weiß, „der Vater wird sich nicht ungeberdig stellen" und, wenn er straft,
um das Kind zur Erkenntniß seines Unrechts zu führen, auch das
in Liebe und aus Liebe und in einer Weise thun, daß dem Kinde kein Uebles geschieht, sondern die Züchtigung lediglich zu einer Hülfe
und Unterstützung im Guten dient.
Es denkt gar nicht an Strafe.
Woran es denkt, was es scheut, ist, daß es den Vater betrüben, diesem Vater Schmerz oder Kummer bereiten könnte. (ältester Materialien. 2. Auflage.
Wie sollte ich 3
1. Hauptstück. Erstes Gebot.
34
solches Unrecht thun und wider den Herrn, meinen Gott, sündigen!
davor fürchtet es sich mehr, als vor allem anderen; und läßt lieber alles über sich ergehen, als daß es wissentlich „in eine Sünde willigte,
noch thäte wider Gottes Gebot" (Tob. 4, 6; 1 Mos. 39,9).
Und in dieser Gottesfurcht weiß es auch nichts von der Pein, die sonst der Furcht beiwohnt, aus welcher der Mensch, der sich nach Gott immer nur umschaut, wie der Knecht nach dem Stecken des
Gebieters, nimmer herauskommt.
Im Gegentheil: diese Furcht be
seligt es: wie wir ja auch Menschen gegenüber erfahren, daß wir uns nicht Wohler, nicht glücklicher fühlen, als, wenn wir einen haben, an dem wir mit ganzer ungeteilter Ehrerbietung emporzuschanen
vermögen. Gleicherweise ist auch unsre Liebe zu Gott nur dann die rechte, wenn sie mit der höchsten Furcht und dem höchsten Vertrauen ver
bunden ist.
Von dem Vertrauen versteht sich das von selbst.
Wie
kann, wie wird man wohl lieben, wem man mißtraut?
Aber auch von der Furcht läßt es sich mit leichter Mühe nachweisen. Aller dings sagt die Schrift, Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die
völlige Liebe treibet die Furcht aus; wer sich fürchtet, ist nicht völlig
in der Liebe (1 Joh. 4, 18).
Und ist das ja, wie sie es meint,
vollkommen wahr und soll wahr bleiben.
Dennoch haben auch wir
Recht und werden trotz des scheinbaren Widerspruchs mit dem Buch
staben der Schrift auch von dieser Recht bekommen, wenn wir be haupten, Furcht — nämlich in unserem Sinne — ist doch in der Liebe, ja es giebt keine wahre, reine, geistige Liebe, als welche in
der Furcht, der Ehrerbietung, dem Respekte vor dem, welchen man liebt, wurzelt und davon getragen wird. Das gilt unter allen Um ständen und für alle Verhältnisse, von den über uns gestellten, den eigentlichen „Respektspersonen" herunter bis zu denen, die in jeder
Beziehung unter uns sind, unsren Zöglingen, unsren Schülern, den
unmündigen Kindern. Das mag manchem zunächst sonderbar vor kommen und namentlich in den genannten selbst wohl ein gewisses Lächeln erregen, wenn sie hören und sich vorstellen, daß wir, die
Eltern, Lehrer, Erzieher, Respekt vor ihnen haben sollen.
Dessen
ungeachtet ist es so: freilich vermögen wir es nicht vor ihnen, wie sie sind, wohl aber müssen wir es vör dem, wozu sie bestimmt sind.
Gott fürchten, lieben und vertrauen.
35
Wehe dem Lehrer, dem Vater, der Mutter, die der Bestimmung ihrer
Kinder zu dem Höchsten, der Theilnahme am Heile in Christo, am
Himmelreiche
vergäßen,
den
Keim
nicht
achteten,
welchen
sie
dazu in sich tragen, geschweige denselben verletzten und tödteten! Das ist der Grund, weshalb selbst rohere Menschen nicht leicht in
Gegenwart von Kindern ihre Roheit zeigen mögen und, die sich sonst
vor nichts und niemandem scheuen, Kindern, ihren Kindern gegen über sich einigermaßen zügeln.
Das ist das sichere Merkmal, woran
wir überall wahre und falsche Liebe unterscheiden können.
Wer die
Achtung gegen uns verletzt — sei es, daß er sich in unsrer Gegen
wart gehen läßt, sich Leichtfertigkeiten und Unwürdigkeiten erlaubt,
uns zu Unrecht und Sünde verleiten will, sei es, daß er uns schmeichelt und dadurch seine Nichtachtung bezeugt, des Liebe zu uns ist eine Heuchelliebe oder, wenn sie wirklich von ihm empfunden wird, doch
keine wahre Liebe, sondern eine sinnliche Leidenschaft, welche, je maß loser und heftiger sie auftritt, um so weniger diesen heiligen Namen verdient.
Ebenso ist es mit unsrer Neigung zu andern.
Auch hier
gilt: wen wir nicht achten, in wessen Nähe wir uns nicht unwill kürlich sittlich gehoben und durch den Gedanken an ihn gebessert
fühlen, für den empstnden wir keine reine Zuneigung, und wir haben
allen Grund, unsre Liebe zu ihm und unsre Freundschaft mit ihm zu überwachen, daß sie uns nicht in das Verderben führe. — Es bedarf keiner längeren Ausführung, daß das Gesagte auch auf die
Liebe zu Gott Anwendung finde, daß auch hier die höchste Liebe nur
da eine reine sein und wirklich ihn lieben werde, wenn sie mit der Ehrfurcht verbunden ist, welche das Wesen des Heiligen fordert, jede andere dagegen, wo nicht erheuchelt, so doch mit unlauteren, selbstsüchtigen und sinnlichen Elementen vermischt sein und nicht Gott,
sondern etwa den Gaben, die er giebt, den Gütern, die wir von ihm erwarten, unserm Wohlbefinden, Genuß u. s. w. gelten werde. Es fragt sich nur, ob es denn eine solche Liebe zu Gott ohne die Ehrfurcht vor ihm wirklich gebe. Da brauchen wir nur auf die zahllosen aufmerksam zu machen, die die Liebe zu Gott und den
lieben Gott beständig im Munde führen, sich auch äußerlich an ihn
halten und selbst fleißig in frommen Uebungen sind, im übrigen aber lassen sie Gott, wie man sich ausdrückt, „einen guten Mann" 3*
36
1. Hailptstück. Erstes Gebot.
sein, der sie um's Himmelswillen nicht ernstlich auf die Probe stellen darf, ohne daß sie murren; auf die andern, die sich in schwärme
rischen Liebesgesühlen ergehen, im übrigen aber dem Gottesgedanken
keinen oder einen gar geringen Einfluß auf ihr sittliches Verhalten einräumen; endlich auf die, welchen die Liebe zu Gott und der Eifer für seine Sache sogar den erwünschten Vorwand giebt, in majorem
Dei gloriam „zur größeren Ehre Gottes" seinen eigenen Geboten zu widersprechen: die brauchen wir nns nur vorzuführen und uns die unglaubliche Duselei der einen, die sittliche Schlaffheit und den
abscheulichen Mißbrauch der andern vor Augen zu halten, um zu erkennen, wie noth es in unsren Tagen thut, daß ihnen die Furcht
Gottes gepredigt werde: Wenn ihr Gott liebt, so haltet seine Gebote; wo nicht: „irret euch nicht, Gott läßt sich nicht spotten; was der Mensch säet, das wird er ärnten" (Gal. 6,7). Endlich giebt es auch, wie wir alle wissen, ein sehr starkes und
festes und dabei wahrhaft gotteslästerliches Vertrauen.
Wenn der
italienische und spanische Bandit, ehe sie auf Raub ausgeheu, zuvor Messe hören oder vor irgend einem Bilde eine Kerze anzünden und
nun fest darauf vertrauen, daß der Raub gelingen, und sie kein Schade
treffen werde, wer will in Abrede stellen, daß das Gott nicht ehre,
sondern schände? Wenn der Vorwitzige das thut, was unser Heiland, als der Versucher an ihn herantrat, ablehnte, daß er sich nämlich ohne Noth in Gefahr begeben und unberufen und ungeheißen vom Tempel
springen solle, da er sich ja darauf verlassen könne, daß Gott ihn schützen werde: so erkennt jedweder, daß solch ein Uebermuth ebenfalls
nicht Gottvertrauen, sondern, wie es der Heiland nennt, ein Gott Nicht minder, wo -einer träge die Hände in den Schoß
versuchen ist.
legt, statt seine Pflicht zu thun, und denkt, Gott soll ihn nähren, oder ein anderer in heilloser Ueberschätzung seiner selbst und Ver
kennung des,
was ihm Noth, erwartet, Gott solle und werde auf
sein Gebet hin, bloß, weil er so zuversichtlich, eigentlich unkindlich und aufdrängerisch ist, seinen heiligen Rathschluß ändern und nahezu
seine Weltordnung auf den Kopf stellen: so ist auch das ein solches,
welches wir trotz aller wirklichen oder eingebildeten Festigkeit des Vertrauens nicht loben, sondern ernstlich tadeln werden. Fragen wir aber, was das sei, was in allen diesen Fällen ein derartiges falsches
Gott fürchten, sieben und vertrauen.
37
Vertrauen aufkommeu läßt, beziehungsweise ein ursprünglich richtiges verdirbt: so ist es das, daß solches Vertrauen der Furcht und der
Liebe Gottes ermangelt.
Wer Gott fürchtet, wird ihm nicht zumuthen,
Unlauteres und Sündiges zu unterstützen: wer Gott liebt, nichts
Eigenwilliges und Selbstsüchtiges bei ihm suchen. trauen und in seinem Berufe bleiben.
Er wird Gott ver
Er wird sich gewissenhaft
fragen, ist das Gottes Gebot und Rath, ist das Pflicht? Dann wird
er furchtlos stehen, wohin ihn Gott gestellt, ausrichten, was ihm Gott befohlen, ertragen, was ihm Gott auferlegt: gewiß, daß Gott
diejenigen, welche seine Wege gehen, auf diesen Wegen behütet und ihnen nichts geschehen läßt, als, was zu ihrem zeitlichen und ewigen
Frieden dient').
Zweites Gebot. Du sollst den Namen deines Gottes nicht mißbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen miß
braucht (2 Mose 20, 7). — Hier kommt es auf zwei Worte an: 1) was der Name Gottes
sei, 2) wodurch derselbe gemißbraucht werde.
Unter dem Namen Gottes verstehen wir jede Bezeichnung Gottes
in weiterem Sinne, alles, was dazu bestimmt ist, an ihn zu erinnern, insbesondere, was zum gottesdienstlichen Gebranch ausgesondert ist, alles Heilige; so daß man das 2. Gebot auch so ausdrücken kann:
du sollst das Heilige heilig halten.
In diesem Umfange umfaßt der
Name Gottes a. eigentliche Namen, Worte, mit denen wir Gott be
nennen, b. heilige Dinge, c. heilige Handlungen.
Das Gebot be
zieht sich auf alle drei. Die Araber nennen Gott das Wesen von tausend Namen, um damit seine über alle menschliche Rede erhabene Herrlichkeit zu be zeichnen.
Wer kann den Reichthum der Liebe, Weisheit, Macht,
■') Nom. 8, 38. 39. Ich bin gewiß u. s. w. Sieb > Ein' feste Burg ist unser Gott — Und wenn die Welt voll Teufel wär' u. s. w. Luther auf dem Wege nach Worms: Und wem, in Worms soviel Teufel wären, als Ziegel anf den Dächern rc.
1. .Hauptstück. Zweites Gebot.
38
kurz des Wesens Gottes ausreden?
Diese Fülle des Wesens Gottes,
die unendliche Mannigfaltigkeit seiner Osfendarungen und Beziehungen zu uns bringt es mit sich, daß auch wir zahllose Bezeichnungen für
Gott haben und
bedürfen.
Diese Bezeichnungen sind in mannig
facher Hinsicht verschieden, sofern die einen Gott auf eine ursprüng
liche Weise bezeichnen
und so gut wie ausschließlich von ihm ge
braucht werden, wie Gott, Jehovah (der Ewige), der Allmächtige
u. s. s., andere dagegen uneigentlich erst von Menschen und mensch
lichen Verhältnissen her auf Gott übertragen worden sind oder über
tragen werden, als: Vater, Herr, König — der Gerechte, der Weise ii. a. mehr.
Andererseits freilich werden auch jene Namen,
lich in gewissen Beziehungen und
natür
sich von selbst verstehenden Be-
gränzungen, ab und zu wieder auf Menschen übertragen, wie, wenn
nicht bloß wir, sondern auch die heilige Schrift Fürsten und
Ge
waltige Götter, die Götter der Erde nennt (Ps. 82, 6; Joh. 10, 34f.), oder wenn wir von einem allmächtigen Minister sprechen:
so daß
der Unterschied ein fließender ist. — Ein anderer Unterschied ist der des Umfanges, daß etliche Gottesnamen Gott auf eine umfassendere
Weise bezeichnen, als andere, die nur einzelne Beziehungen hervor heben, — oder des gemüthlichen Gehalts, daß in etlichen die Innig keit unseres Verhältnisses zu Gott stärker hervortritt:
wie denn in
beider Beziehung der Ausdruck Vater »der Vater im Himmel eine
andere Tragkraft hat, als, wenn wir sagen:
weiser, Gerechter u. dgl. m.
Allmächtiger oder All
Endlich findet noch
ein bedeutender
Unterschied, daß ich so sage, in der Nähe oder Ferne der Beziehung
statt, daß ein Theil der Gottesnamen Gott direkt und unmittelbar bezeichnet, andere dagegen erst durch eine Umschreibung,
maßen ans einem Umwege zu ihm führen.
gen sind:
der Himmel, die göttliche
gewisser
Dergleichen Bezeichnun
Vorsehung,
das
allwaltende
Schicksal und andere, namentlich in den Schwüren häufig angewendete Umschreibungen.
Alles dieses ist nicht ohne Bedeutung; vielmehr
hängt von dem richtigen Gebrauch dieser verschiedenen Bezeichnungen
in hohem Grade das Angemessene oder Unangemessene, das Ergrei fende oder Kaltlassende unserer religiösen Aussprache ab.
Nur in
einem Stücke findet kein Unterschied statt: Alle diese Namen sind
gleich heilig, weil sie insgesammt Bezeichnungen des Heiligen, Gottes
Gottes Nomen.
Falsche Unterscheidungen.
39
sind, die Heiligkeit aber nicht im Laute, sondern nur in der Bezie hung auf das Heilige liegen kann.
Trotzdem werden auch in dieser
Hinsicht öfter recht verhängnißvolle Unterscheidungen gemacht.
grellsten tritt uns das bei den Juden entgegen, welche denjenigen Namen,
Am
bekanntlich
unter welchem sich Gott dem Moses offenbart,
den Bundesnamen „Jehovah", für einen heiligeren, als alle anderen, ja für den ausschließlich
heiligen hielten und darum bis auf den
heutigen Tag, um ihn nicht zu entweihen, überhaupt nicht in den
Mund nehmen wollen.
Noch heute sprechen rechtgläubige Juden den
Namen Jehovah niemals aus, sondern, wo Jehovah steht, da lesen
und sprechen sie statt dessen Adonai (mein Herr).
Da ist richtig
die Heiligkeit in die Lautverbindung gesetzt: während man sich an
drerseits dem Wahn hingiebt, sich bei Dingen, welche zum Gebrauche
gegeben sind, durch Nichtgebrauch am sichersten vor Mißbrauch zu schützen ').
Je häufiger, wenn auch nicht gerade in dieser Weise,
derartige Unterscheidungen auch unter uns gemacht werden, und je
wichtiger sie sind, insbesondere für die Lehre vom Eide, bei der wir nochmals auf dieselben zurückkommen werden, um so mehr betonen
wir: hierin d. i. in Bezug auf die Heiligkeit ist kein Unterschied, sondern jede Bezeichnung Gottes ist als solche gleich heilig.
Jeder
Laut unsrer Zunge, jedes Wort unsrer Sprache, welches es sei, und welche Bedeutung es sonst im profanen Gebrauche habe, wird Gott
damit angerufen,
der Ewige damit bezeichnet,
so sind sie heilige
Gottesnamen; und umgekehrt: jedes andere Wort, welches sonst in der Regel, ja fast
ausschließlich von Gott und göttlichen Dingen
gebraucht wird und dadurch einen gewissen Charakter der Heiligkeit angenommen hat, es verliert diesen Charakter, so wie es eben nicht
mehr aus Gott bezogen wird 2).
Denn Gott ist der Heilige, und die
Beziehung auf ihn macht den Namen heilig, nicht der Laut. Entsprechendes gilt auch von den heiligen Dingen.
Keins der
selben ist an sich heilig, sondern jedes derselben wird geheiligt durch
') Bekanntlich die Weisheit des unnühen Knechtes, der sein Pfund, um es »licht zu verlieren, vergräbt (Matth. 25, 14 s.).
-) Z. B. wenn wir Vvu denen sprechen, deren Gvtt ihr Bauch ist: oder wenn wir von den Göttern der Heiden reden und deren Namen anrufen, die für uns nichts sind.
1. Hauptstück.
40
Zweites Gebot.
den Gebrauch, zu dem es bestimmt ist, durch die Beziehung auf Gott,
den religiösen Zweck, welchem es dient.
Dadurch sind sie andrerseits
alle gleich heilig, und ist trotz aller sonstigen Unterschiede unter ihnen
in dieser Beziehung kein Unterschied, soll auch ein solcher nicht ge
macht werden.
ja unmöglich
Nehmen wir z. B. die kirchlichen Gebäude, so ist es
die unendliche Verschiedenheit zu übersehen,
unter ihnen stattfindet.
welche
Sie springt in die Augen und ruft die
Frage auf, welche unter diesen alten und neuen, schönen oder minder
schönen Kirchen die älteren, die schöneren, die prachtvolleren, weiter die den religiösen resp, confessionellen Charakter am bestimmtesten
ausprägenden, die angemessensten seien.
Wenn dagegen einer fragen
wollte, welche von zwei oder mehreren Kirchen die heiligere sei, so wird jedermann staunen.
Die Frage hat ein für allemal keinen
Raum, mindestens auf evangelischem Boden.
Auf römischem möchte
es allenfalls sein: sofern hier in der That einem oder dem andern
kirchlichen Gebäude durch den besonders heiligen Heiligen, dem es geweiht ist, oder dessen Reliquien in ihm aufbewahrt werden, oder
durch ein in ihm vorhandenes besonders wunderkräftiges Bild der Charakter besonderer Heiligkeit aufgedrückt werden könnte. uns Evangelische hat das doch keinen Sinn.
Aber für
Desgleichen die sonstigen
heiligen Geräthe, Gewänder, Leuchter, Becken, Abendmahlsteller, Kelche u. dgl. mehr: so ist es ohne Zweifel interessant, unter Umständen belehrend und für die Geschichte einer Kirche vollends wichtig, wenn
uns da ab und zu uralte, kostbare, durch die Schicksale, die sie er litten, oder die Personen, die sie besessen, ausgezeichnete, künstlerisch
bedentende oder sonst irgendwie merkwürdige Geräthe begegnen: aber in religiöser Beziehung werden wir auf alles solches keinen Werth legen, und unsre Andacht, sei es durch den mehr oder minder kost baren Stoff, sei es durch die besonders schöne Arbeit und ähnliches
weder gemehrt noch gemindert finden.
In dieser Beziehung werden
wir nur eins fordern, daß die der Gottesverehrung dienenden Geräthe sauber und würdig seien, und wir bei ihnen weder durch ihre auf
fallende Mißgestalt noch durch ihre gegen unsre häuslichen und sonstigen Gewohnheiten abstechende Aermlichkeit, wo nicht gar Unsauberkeit,
verletzt werden, weil solches Mißachtung des Zweckes, dem sie dienen, verrathen würde.
Im übrigen aber werden wir von Christen ver-
41
Heilige Dinge und Hmidlnngen.
langen, daß sie mit derselben Andacht Gottes Wort in der unschein barsten Dorfkirche, wie in dem geschmücktesten Dome, anhören, das
heilige Abendmahl mit derselben Inbrunst aus
einem zinnernen
oder hölzernen Becher, wie aus einem goldenen, mit Edelsteinen verzierten Kelche, empfangen, und die Taufe aus irdener Schüssel, ja aus dem Bache ebenso für Taufe halten und heiligen, wie die aus
dem kostbarsten Becken, mit einem Worte auf alle diese Dinge im Gottesdienste selbst kaum achten, geschweige ihnen religiösen Werth beilegen.
Wo nicht, werden wir einem solchen die ersten Elemente
evangelischen Verständnisses, wenn nicht der Frömmigkeit, absprechen.
Denn das, was allein alle diese Dinge heiligt, ist ja in allen Fällen dasselbe. Mit dem Gesagten scheint einigermaßen ein Ausspruch Christi
im. Widerspruch zu stehen, nach welchem es beinahe aussieht,
als
solle es doch gewisse Dinge geben, denen an sich eine größere Heilig
keit zukomme, die von ihnen aus auf andre übergeht, Matth. 23,16 f.:
„Wehe euch, verblendete Leiter, die ihr sagt: wer da schwöret beim Tempel, das ist nichts (d. h. der Eid verbindet nicht); wer aber
schwöret beim Golde am Tempel, der ist schuldig (d. i. verpflichtet, den Eid zu halten).
Ihr Narren rc."
Was will der Herr?
vergleiche die verwandte Stelle Matth. 5, 33 f.
Man
In dieser redet er
gegen die leichtfertige und frevelhafte Unterscheidung, durch welche sich die Leute von ihrem Eide, überhaupt von der Pflicht der Wahr haftigkeit los zu machen suchten, indem sie nur diejenigen Eide für vollgültige gelten lassen wollten, welche bei dem einen Namen Jehovah geschworen wären, alle andern dagegen, bei denen dieser Name nicht ausdrücklich genannt, sondern in irgend welcher Weise umschrieben worden sei, entweder als gar keinen Eid oder doch nur als einen
minder verbindlichen ansahen. Dem tritt er entgegen, indem er lehrt: Eid sei Eid, und einer so verbindlich, beziehungsweise so verdammlich, wie der andre, gleichviel, wobei er geschworen worden. Denn, was auch im Schwure genannt werde, durch den Schwur selbst
erhalte es die Beziehung auf Gott und werde zu einem Namen Gottes.
Darum, wer da schwört bei dem Himmel, der schwört bei
dem Stuhle Gottes und dem, der darauf sitzt" (Matth. 23, 22).
Ganz dasselbe führt er Matth. 23 in Beziehung auf die weiteren
42
I. Hauptstück.
Zweites Gebot.
Unterscheidungen an, welche die Lügenhaftigkeit und Spitzfindigkeit der Pharisäer zwischen dem Schwören beim Tempel und beim Golde am Tempel machte: nur, daß er hier diese Unterschiede nicht bloß als
gottlose (Ihr Narren ’) rc.), sondern auch als gedankenlose und dumme
darstellt (Ihr Blinde).
An sich sei ein Eid, wie der andre; wenn
man aber einmal einen Unterschied der Heiligkeit machen wolle, so sei klar, daß er gerade umgekehrt gemacht werden müsie, als es seitens
der Pharisäer geschehe.
Sofern nämlich der Tempel, desgleichen der
Altar ein für allemal Gott geweiht seien, dagegen das Gold
und
das Opfer erst durch die Hineinnahme in den Tempel und das Aus
legen auf den Altar als auch zu gottesdienstlichen Zwecken bestimmt bezeichnet würden, während sie sonst eben Gold, eine Münze, ein
Barren, ein werthvolles Gefäß, das Opfer ein Thier oder ein Theil desselben oder eine Frucht wären, die auf den Markt gebracht oder zur Speise verwendet würden.
Immer also sei es die Beziehung
aus Gott, mit dem einzigen Unterschied, daß sie bei den ein für alle
mal zum Gottesdienst bestimmten Dingen (Tempel, Altar, heilige Geräthe) immer schon gegeben, bei den andern (Gold am Tempel, Opfer, dem in den heiligen Gerüchen befindlichen Wasser, beziehungs
weise Brot und Wein) jedesmal erst neu eintretend ist.
Und zwar tritt
sie dadurch ein, daß diese letzteren Dinge in die zum Gottesdienste,
zur Taufe und Abendmahl ausgesonderten Geräthe gethan werden.
Es würde ermüden, wollten wir in ähnlicher Weise noch für
die heiligen Handlungen nachweisen, daß auch bei ihnen kein Unter schied der Heiligkeit statthabe, weder, wenn wir sie unter einander
vergleichen, noch auch, wenn wir die verschiedenen Formen in's Auge fassen, welche bei den einzelnen vorkommen.
Mag die eine vor der
andern erbaulicher, feierlicher, ergreifender sein, weil sie dem Centrum des religiösen oder individuellen Lebens näher liegt, oder auch, weil
sie seltener und mit besonderer Zurüstung gefeiert wird, heilig sind sie alle, und isset und trinket sich nicht bloß, der das Gericht, welcher das Abendmahl mißbraucht, sondern auch,
wer
mit der Taufe
Schacher treibt3) oder den Eid bricht. — Desgleichen die verschie denen Formen, die mannigfach abweichenden Gebräuche, welchen wir *) „Narr" ober „Thor" bedeutet dem Ebräer so viel, als „Gottloser". 2) Vergl. S. 45 und das 4. Hauptstück unter IV. (Pathen).
Was hecht: Gottes Namen mißbrauchen?
43
im einzelnen bei diesen Handlungen begegnen: nun so sind diese
allerdings nicht gleichgültig, sondern sei es an sich, sei es örtlich, zeitlich, die einen vor den andern angemessener, erwecklicher, würdiger.
Und wird es darum überall Pflicht sein, auch hierin nach dem Besten zu streben und auf das Ziemende zu halten.
Aber eine heilige Hand
lung darum, weil sie in einer minder angemessenen, uns fremden,
ja sogar befremdenden und abstoßenden Gestalt uns entgegentritt, — darum für nicht heilig halten, sie verachten, wohl gar entweihen: das würde doch ebenso Mangel an Einsicht in diese Dinge, wie an wirklicher Frömmigkeit, verrathen. Man denke nur an die mannig fachen ungehörigen Zuthaten, die sich ab und zu an den Eid gehängt
haben, oder an die sehr befremdende und unser Gefühl verletzende Weise, in der noch über die römische Kirche hinaus die griechische Kirche das Abendmahl begeht
ist deshalb ein solcher Eid kein Eid,
das Abendmahl kein Abendmahl? Darf jener gewissenlos geschworen,
dieses leichtfertig begangen werden?
Wir kommen zu der zweiten Frage, wie und wodurch der Name Gottes gemißbraucht,
das Heilige entheiligt werde? Die häufigste
Antwort darauf ist: wenn man denselben zu oft braucht! Wie oft soll man ihn denn brauchen? Das führt zu dem bereits erwähnten Irrthum der Juden, daß sie, um den Namen Gottes nicht zu miß
brauchen, das ihnen anvertraute Pfund vergruben, denselben gar nicht brauchten. Das ist Thorheit, und das Nichtige daran nur dies, daß bei fortwährendem in dem Munde Führen des göttlichen Namens
der Verdacht nahe liegt, als könne kein Ernst dahinter sein. Aber das ist doch nicht nothwendig, wenn es gleich öfter zutrifft. Der
Religionslehrer spricht unzähligemal in einem Athem
den Namen
Gottes aus, der Prediger, welcher das Abendmahl verwaltet, wieder holt unaufhörlich die Einsetzungsworte: wer darf sagen, daß sie nicht
bei der Sache feien; während ein anderer Gottes Wort und Namen
nur einmal in den Mund nimmt, und es ist eine Lästerung, nur einmal zum Abendmahl geht, und es ist ihm Gericht! — Nicht minder
unzutreffend ist eine andere nicht selten gehörte Antwort:
*) Die Griechen feiern das Abendmahl mit Brod und Wein: aber sie brocken jenes in diesen und reichen dann beides löffelweise dar.
44
1. Hauptstück.
Zweites Gebot.
das Heilige werde entweiht, Gottes Name gemißbraucht, wenn man
ihn brauche, wo er nicht hingehört! Fragt sich: wo gehört Gott nicht hin? wo ist er nicht gegenwärtig? wo bedürfen wir seiner nicht und dürfen ihn nicht anrufen? „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist,
wo soll ich hinfliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da: bettete ich mir in die Hölle, siehe, so bist du auch da" (Ps. 139, 7. 8).
Wenn man also noch in der Hölle Gott bußfertig
anrufen darf, wo ist ein Ort, wo eine Gelegenheit auf Erden, wo man es nicht dürfte, vorausgesetzt, daß es in der rechten Weise ge schieht? Aber der Herr tadelt doch die Pharisäer, daß sie an den
Ecken stehen und beten? Doch nur, weil sie es in Heuchelei thaten, um mit ihrer Frömmigkeit zu prunken. Desgleichen, als vor etlichen
Jahren ein junger Fanatiker mit seiner frommen Schar in einem öffentlichen Vergnügungslokal, einer Tabagie sich hinpflanzte und anhub, fromme Gesänge zu singen, und dafür erduldete, was er ver
diente: da hat niemand weder sein Singen noch auch das Singen an diesem Orte getadelt.
Wäre er mit den ©einigen allein gewesen,
oder wäre ihm die Aufforderung der Versammelten entgegengekommen, wer hätte etwas Arges darin gefunden? Sondern, was man tadelte
und mit Recht als einen schnöden Mißbrauch des Heiligen betrachtete,
das war die aufdringliche Weise, die herausfordernde Schaustellung des Heiligen. — Von beiden Antworten weg wird man also nach einer genügenderen suchen müssen. Dieselbe wird gefunden, wenn man nur
den Wortlaut des Gebotes in das Auge faßt, wie dasselbe gemeinhin
gefaßt ist: Du sollst den Namen deines Gottes nicht unnützlich führen, denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen miß
braucht. ') Also der Name Gottes wird gemißbraucht, wenn man ihn
unnütz, das ist ohne Nutzen führt, ohne den Nutzen, zu welchem er
gegeben ist: zur religiösen Erhebung, zur Erbauung, zum Heil der Seelen. — Das geschieht zunächst, wenn er gedankenlos gebraucht wird, z. B. wenn einer Gottes Wort liest, Gebete aufsagt, Religions
übungen mitmacht, ohne daß Herz und Seele dabei ist.
kommt? Ein frommer Mann
hat einmal gesagt:
Ob das vor
es gäbe keinen
') In manchen Bibelansgaben und Katechismen steht beidemal „mißbraucht"; auch im ebräischen Urtext steht beidemal der gleiche Ausdruck (De Wette: zur Un wahrheit auosprechen).
WciS heisst: Gottes Nomen mißbrauchen?
45
ärgeren Märtyrer, als das „Vater unser".
Und Gott weiß, und
wir auch können es möglicherweise an uns
selbst merken, daß
Recht hat.
er
Daß da doch jeder, der dem Heiligen naht, von ihm
Gebrauch macht, daran gedenke, daß es unsere erste unnachläßliche
Pflicht sei, uns zusammenzufassen, unsere Gedanken zu sammeln und mit voller ungeteilter Kraft auf das, was vor uns liegt, zu richten!
Möge niemand vergessen, daß es keine ärgere Herabsetzung des Hei
ligen und Nichtachtung Gottes giebt, als wenn man ihm und seinen Handreichungen in dieser mehr als bequemen, schlaffen und zerflos
senen Weise naht, wie es leider manche thun! Wo bleibt da das erste Gebot, welches Luther mit Recht bei jedem folgenden wiederholt und der Erklärung desselben voranstellt: wir sollen Gott über alle
Dinge furchten und lieben, daß wir u. s. w.—? Das Heilige wird
entheiligt, wenn man es zu andern Zwecken braucht, als, wozu es bestimmt ist, zur Erbauung, zur Erhebung der Seele, z. B. wenn
man in die Kirche geht, „nm den Kaiser zu sehen" oder sonst wie die Schaulust
zu befriedigen,
den Anzug
der
geputzten Leute
zu
mustern, den eignen zur Schau zu stellen, und was dergleichen mehr ist.
Wozu ist das Gotteshaus da? Wenn du die Neugierde befrie
digen, sehen und gesehen werden willst, geh' auf die Parade: wenn du aber die Kirche betrittst, dann laß dergleichen dahinten! Am häu
figsten wird gegen diese so einleuchtende Wahrheit bei sogenannten großen Trauungen gefehlt und zwar von solchen, von denen man es am wenigsten erwarten sollte, der sonst so sittsamen weiblichen Jugend, die aber bei dieser Gelegenheit oft nicht sittsam erscheint, über der
übergroßen Schaulust oft sogar des äußeren kirchlichen Anstandes vergißt. — Schlimmer freilich, als dieses, was
zu
einem guten
Theile auf Unbedacht zurückgeführt werden kann, ist die Benutzung des Heiligen lediglich als Mittel zu sernabliegenden Zwecken, selbst wenn sie nicht, was das abscheulichste ist, — in reiner Heuchelei ge schieht: als die nicht selten vorkommende Ausnutzung der Taufe zur
Erlangung
von Geldunterstütznngen
seitens
der
Pathen
oder die
Anwendung des heiligen Abendmahls als liebe Arznei und letztes Mittel in Sterbensnöthen: ein Mißbrauch, der neben sonstigem Aber
glauben an die magische Wirkung des Abendmahls öfter vorkommt, als man glaubt.
I. Hauptstück. Zweites Gebot.
46
Diese Beispiele genügen wohl, um zu zeigen, wie noth auch in
unsern Tagen noch die Einschärsung dieses Gebotes thut, wie dringend
an die ernsten Folgen zu erinnern ist, welche seine Uebertretung, vor allem die muthwillige und heuchlerische nach sich zieht.
Nicht, daß
man, wie sonst wohl, um die Menschen zu warnen, die Fälle auf zählt, wo arge Flucher, Gotteslästerer und andere „von der Hand des Herrn getroffen", die einen vom Blitz erschlagen,
andre vom
Schlage gerührt oder sonst wie plötzlich „in ihren Sünden fortgerafft
worden seien".
Denn so erschütternd dgl. ist, wo es vorkommt, so
tritt es einerseits nicht immer ein,
fromme,
andrerseits werden
gottesfürchtige Menschen oft
ihnen jedenfalls seligen — Tode weggenommen.
es uns wohl zu richten?
doch auch
genug von einem jähen — Zuletzt aber: ziemt
Darum bleibt das Wort: „denn der Herr
wird den nicht ungestraft lassen,
der seinen Namen mißbraucht",
nicht minder ernst und nicht minder wahr.
Nur, daß wir statt jener
— ich wiederhole es — erschütternden, aber in manchen Fällen mehr
als zweifelhaften, einzelnen äußeren Vorkommnisse, vielmehr die nie
ausbleibenden innern Folgen in's Auge fassen,
welche die Entwei-
hnng des göttlichen Namens, der Mißbrauch des Heiligen nach sich zieht: die Schwächung seiner Wirkung auf das menschliche Gemüth, die wachsende Verhärtung des Herzens, kraft deren der Mensch allem
Heiligen vollkommen stumpf gegenüber steht und zuletzt selbst da von demselben keines Eindrucks mehr fähig ist, wo er gebrochenen Her
zens sich nach einem solchen sehnt.
Oder warum können viele in
dem Gottesdienste gar nicht mehr aufmerksam sein, selbst wenn sie wollen? Warum vermögen sie selbst
beim Gebete nicht gesammelt
zu bleiben und den Trost zu finden, den sie suchen? Sie haben sich
durch Mangel an ernster Fassung, da, — wo
waren,
diese Unachtsamkeit und
sie derselben fähig
dies zerflossene Wesen anerzogen!
Jene andern aber: ob wohl so viele leichtsinnige Eheschließungen und in Folge des unglückliche Ehen vorkommen würden, wie es leider der Fall ist, wenn man. bei den Eheschließungen, denen man beige
wohnt, den ganzen Ernst der Sache empfunden hätte? — Ob nicht
mancher noch in Todesnöthen gefaßter sein würde, wenn er jeder
Leichenfeier so beigewohnt hätte, wie es sich ziemt, und nicht mancher manche eben nur abgemacht, ein andrer die ernste Feier, — wie ein
Luthers Erklärung.
Fluchen.
47
Schaustück, behandelt hätte? Von dem offenbar heuchlerischen Miß brauche des Heiligen gar nicht zu reden.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot. I.
Fluchen.
Es wird mit dem Worte ein zwiefaches bezeichnet, das scharf unterschieden werden muß, ein Thun der Roheit und ein Thun der
Bosheit.
Unter jenem verstehen wir das Ausstößen von allerhand
jachen und wilden Redensarten, welche ursprünglich Anrufungen Gottes, insbesondere Verflnchungsformeln, d. i. Formeln waren, in denen
Schaden und Verdammniß, sei es auf den Redenden, sei es auf andre
herabgerufen wird,
die aber diesen Sinn allmählich verloren haben
und lediglich zu Ausdrücken ungezügelter Heftigkeit und Ungeberdigkeit geworden sind. Wer z. B., der da sagt: „Gott verdamm' mich",
oder: „hol' ihn der Teufel", will damit wirklich den Wunsch ausge sprochen haben, daß Gott ihn verdammen, jenen der Teufel holen
möge? Welcher andere, der mit einem Kreuz-Donnerwetter dazwischen fährt, denkt nur daran, daß das ursprünglich bedeutet hat, daß Gottes Donner und Wetter ihn oder andre treffen möge? Ja, manche dieser Redensarten sind sogar im Laufe der Zeit, sei es überhaupt, sei es im Munde einzelner zu reinen Interjektionen geworden, in denen sich
nichts von Zorn und Haß, im Gegentheil Zuneigung, freilich eine etwas derbe Frende und Verwunderung ausspricht.
Nichtsdestoweniger ist es nicht schön.
Es ist in allen Fällen
unüberlegt, ungeschlacht und roh und verträgt sich nicht mit der Haltung, die dem Christen geziemt. Nicht umsonst pflegt man zu sagen, dieser oder jener flucht, wie ein Landsknecht oder ein Fuhr mann, und deutet damit an, daß sich diese Unart höchstens bei solchen
entschuldigen lasse, deren gesammte Lebensart und Umgebung bessere Gesittung auszuschließen scheint, bei — wie man sich ausdrückt — „gemeinen Menschen".
Aber der Christ ist nie — wenigstens soll er
es nicht sein — ein gemeiner Mensch, sondern selbst, wenn er der geringsten einer im Volke ist, ist und bleibt er „vornehmer Leute Kind", nämlich „Gottes Kind" und Christi Mitbruder (vergl. 1 Petr. 2, 9), und soll und wird sich danach halten. Einem Christen schwebt Christus vor, ja wohnt ihm inne, wie ihn der Prophet nach Matth. (12, 19. 20;
48
I. Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
vergl. Jes. 42,2) schildert: Er wird nicht zanken n. s. w. — Ein Christen haus ist ein stilles Haus, ein Christ — ohne Zwang und falsche Würde — ein gehaltener Mann, vor allem das Weib schweigsam und
voll milder Rede.
Wo man einen noch weithin hört, wo er flucht
und schreit, da ist das ein Zeichen, daß in diesem Stück der Geist Christi noch nicht durchgedrungen ist, möge er im übrigen ein sehr
redlicher, ja ein gottesfürchtiger Mann sein.
Es ist aus diesen Sach
verhalt um so mehr aufmerksam zu machen, je häufiger man in der Beurtheilung dieser Dinge auch einer falschen Prüderie begegnet, die Silben sticht und selbst solche Ausdrücke zu Todsünden stempelt, die
in der That nichts, als Interjektionen, sind.
Der ist einfach zu er
widern, daß in vielen Fällen ein rechtschaffener Fluch mehr von ge sunder Frömmigkeit in sich trage, als ein weinerliches, geschweige ein heuchlerisches Gebet. —
Anders steht es mit dem Fluchen, welches den Gegensatz vom
Segnen bildet, die Herabrufung des göttlichen Zorns, der göttlichen Strafe und Rache auf irgend jemanden, dem wir meinen Ursache
zu haben zu zürnen.
Das ist immer eine Entweihung des göttlichen
Namens, ja eine Beleidigung Gottes.
Man denke, der heilige Gott,
der Vater der Liebe und des Erbarmens soll sich hergeben, unsre unheiligen Rachegelüste zu befriedigen! Sagt man, davon sei keine Rede, sondern nur von einem heiligen Zorne,
der frei von jeder
persönlichen Gereiztheit nur den Frevel, die Gottlosigkeit nicht unbe straft lassen wolle, dessen sich die Ruchlosen schuldig machen: so ist
zu erwidern: es giebt keinen heiligen Zorn, als welcher eins ist mit
der
erbarmenden Liebe.
Dazu,
selbst
im
besten Falle:
wer bist
du, daß du an Gottes Statt verdammst? Was gegen ihn gefrevelt wird, überlaß ihm zu räche»! Du hast es nur mit dem zu thun,
was gegen dich gesündigt ist, und da ziemt dir, der du selbst der Gnade bedarfst und nur von ihr lebst, selbst
den schwersten Ver
gehungen gegenüber nur zu vergeben und um Gnade und Vergebung
zu bitten, also zu segnen, — nach dem Worte deines Meisters: Seg
net, die euch fluchen, bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen
(Matth. 5, 44), und der Mahnung des Apostels: Rächet euch selber nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn, denn es steht
geschrieben u. s. w. (Röm. 12, 19—21). — Darum schadet auch,
Fluche» (iiitd Roheit oder Bosheit).
Der Bann.
wer flucht, immer nur sich selbst'), nie einem andern.
49
Der Gott,
der segnen will, kann wohl Gebete erhören, aber nie einen Fluch"). Ob das nicht doch Ausnahmen erleidet? Mindestens Sirach 3,
11 scheint eine solche zu begründen: „Des Vaters Segen baut den Kindern Häuser, aber der Mutter Fluch reißet sie nieder/'
Danach
scheint in der That Eltern die Berechtigung, wie zu segnen, so auch
zu fluchen, zugesprochen, und, wenn sie letzteres thun, diesem Fluchen ebenso Kraft und Wirkung beigelegt zu werden, wie ihrem Segnen.
Aber auch hier bleibt: wer einem andern flucht, sündigt; und machen Eltern, die Stellvertreter Gottes, die Abbilder seiner Liebe, davon am wenigsten eine Ausnahme/ Ein seinen Kindern fluchender Vater ist das widernatürlichste und entsetzlichste, was es giebt.
Eben des
halb wird auch in der Regel etwas ganz entsetzliches geschehen sein,
und werden Kinder auf das unerhörteste gegen die Eltern gefehlt haben, ehe diese, welche doch sonst ihr Herzblut für die Kinder lassen, dazu
kommen,
ihren
nicht der Fall ist,
Fluch
auf die Kinder zu legen.
Wo das
sondern schuldlosen Kindern von gottlosen und
verblendeten Eltern geflucht wird, da gilt von diesem Fluche, was
in der Schrift überhaupt von unverdienten Flüchen gesagt ist.
Die
Kinder werden dann wohl über die irregehenden Eltern zu trauern,
im übrigen aber sich nicht zu ängstigen, sondern auf Gottes Segen
zu hoffen haben. — Nicht am seltensten ist gegen dieses Gebot in Sachen des Glau
bens gefehlt worden, wo Abfall vom Glauben oder sonst Frevel gegen denselben vorzuliegen schien.
Ein Beispiel davon bieten uns bereits
die Apostel, Luk. 9, 54, welche, als einst ein samaritischer Flecken
aus Religionsgründen ihnen und ihrem Meister die sonst über alles heilig gehaltene Gastfreundschaft verweigerte, Jesum fragten, ob sie nicht Gott anrufen sollten, wie Elias gethan, daß er Feuer vom Himmel fallen lasse und diese Frevler vertilge.
Aber eben da steht auch das
Urtheil des Herrn über dergleichen Flüche:
„Wisset ihr nicht, wes
t) Sir. 27, 28. Wer einen Stein in die Höhe wirst, beut fällt er auf ben Kopf. 2) Spruch. Sal. 26, 2. Wie ein Vogel dahin fährt, unb eine Schwalbe fliegt, also ein unverdienter Jlnch trifft nicht. El fester, Materialien.
2. Auflage.
1. Hauptstück.
50
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
Geistes Kinder ihr seid? Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten."
Nicht zu verwechseln mit dem Fluchen und Verfluchen ist die Excommunication oder der kirchliche Bann.
Zwar ist beides that
sächlich häufig genug mit einander verbunden gewesen, wie denn die Bannflüche der Päpste in dieser Beziehung Beispiele in Fülle dar bieten; aber an und für sich sind beide durchaus verschieden.
An
sich ist die Excommunication nichts, als die Ausschließung jaus der kirchlichen Gemeinschaft, beziehungsweise von besonderen Rechten und
Thätigkeiten derselben, wozu eine kirchliche Gemeinschaft an und für
sich ebenso berechtigt ist, wie jede andre Gemeinschaft in Beziehung auf sie und ihre Rechte und Thätigkeiten.
Es kommt nur darauf
an, warum und durch wen diese Ausschließung geschieht. — Daß sich an diese Ausschließung der Gedanke der Verdammniß gehängt,
ist lediglich eine Eigenthümlichkeit der römischen Kirche, welche sich für die allein seligmachende hält.
persönliche Frevel
Die Verfluchungen aber sind der
der betreffenden Päpste, Bischöfe u. s. w.
Das
ärgste in dieser Beziehung bietet die Bannbulle dar, in welcher Papst
Clemens VI. (13. April 1346) den Kaiser Ludwig, den Baier, excom-
municirte, die alles enthält, was giftigster Haß und äußerster Fana tismus nur immer ersinnen kann (Gieseler 2, 3; S. 72 f.). 2. Vom Schwören.
1. Was schwören heißt, darf als bekannt vorausgesetzt werden. Es ist die feierliche Anrufung Gottes als Zeugen der Wahrheit unsrer
Aussage oder der Aufrichtigkeit unsres Versprechens.
Jenes ist der
Aussage- (Zeugen-, Reinigungs-, Manifestations-) Eid, dieses
der
Versprechungs- (Huldigungs-, Fahnen-, Amts-) Eid oder das Gelübde. 2. Luther sagt, daß wir nicht bei dem Namen Gottes schwören
sollen.
Wir aber haben gesehen,
daß
immer bei dem Namen
Gottes geschworen wird, weil auch, was sonst im Eide — Himmel,
Erde, Leben u. s. w. — genannt werde, solches durch den Eid selbst die Richtung auf Gott erhalte und zu seinem Namen werde.
Niemand
schwört bei den Wolken über uns, sondern bei dem Throne Gottes (Matth. 23, 22), niemand bei dem Sande, dem Lehm, dem Erdkloß unter unsern Füßen, sondern bei der Erde, die uns ernährt, und
Schwören.
Gegen Abschwächung und Vorbehalt.
51
welche er regiert; niemand bei den Gaffen, Häusern, Schornsteinen
von Jerusalem, Mekka, Rom, sondern bei der gottgeweihten IStadt.
Desgleichen, wer bei seinem Haupte, seinem Leben schwört, schwört
bei der Macht, die über ihm ist: denn „du vermagst nicht ein ein ziges Haar auf demselben weiß oder schwarz zu machen" (Matth. 5, 36),
du deines Lebens Länge nicht eine Spanne hinzuzusetzen.
Das gilt selbst
von solchen Eiden, welche kaum danach aussehen, unschuldige Namen zu sein scheinen; als: wenn ein König bei seiner Krone, der türkische Sul tan bei seinem Säbel, der Araber bei seinem Barte schwört.
Aber auch
da schwören jene bei der ihnen von Gott verliehnen Macht (der tür
kische Sultan wird bei seiner Thronbesteigung mit dem Säbel um gürtet, wie unsre Fürsten gekrönt werden), dieser aber schwört bei der gottgeheiligten, priesterlichen und männlichen Würde.
Was diese
Beziehung aus Gott gar nicht hat, derselben gar nicht fähig ist und
sich doch an Gottes Stelle setzt, das ist ein Götze.
Wie denn mit
manchem, z. B. mit der Ehre und dem Ehrenwort, häufig schier ein
Götzendienst getrieben wird.
Aus diesem Grunde fordert die Schrift
sogar, daß man nur bei dem Namen Gottes und bei keinem andern schwören solle (vergl. Jak. 5, 12).
Und in der That ist solches jeden
falls das würdigste und heilsamste.
Denn obschon jene Umschrei
bungen dasselbe sagen, und dieselbe verpflichtende Kraft haben, wie
die ausdrückliche Nennung Gottes: so hängen sie doch
mehr oder
weniger bald mit einem Mangel an Würdigkeit zum Eide, daß man sich nicht recht getraut zu schwören, bald mit der Lust zu Ausflüchten zusammen.
Sie sind bewußte oder unbewußte Versuche, den Eid
abzuschwächen.
Unter allen Umständen gilt auch vom Schwören das
Sprüchwort des Herzogs Georg von Sachsen: Gerade aus giebt die besten Renner. 3. Alle Eide, mit welchen Worten und in welcher Form sie geschworen werden, haben vor Gott und vor Menschen dieselbe un
bedingte Verbindlichkeit, und ist es vergeblich, wenn man meint, sich durch irgendwelche Kniffe und Kunstgriffe von derselben losmachen zu können. 4. Der Eid wird geleistet und gilt in dem Sinne, in welchem
er uns abgesordert wird, und ist es nicht gestattet, statt dessen einen andern in
ihn hineinzulegen.
Gedankenvorbehalte (reserva-
1. Hauptstück.
52
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
tiones mentales), wie sie innerhalb des Jesuitenordens gelehrt und ver
theidigt werden, daß man jeden Eid schwören könne, wenn man nur bei sich selber etwas anderes denke, heben jede Treu und Glauben
auf und sind vor Gott und Menschen verdammlich. 5. Der Eid ist das Bekenntniß unsres Glaubens an einen
lebendigen, allwissenden, heiligen Gott, der Meineid und Eidbruch straft.
Darum soll mau niemanden zum Eide zulassen oder nöthigen,
welcher offen ausspricht, daß er überhaupt an keinen Gott glaubt.
Einem solchen ist vorzuhalten, daß, wenn er, zur Aussage der Wahr heit aufgefordert, lügt oder sein Versprechen bricht, doch ebenso werde bestraft werden, als, wenn er geschworen hätte. Weil der Eid Bekenntniß des Glaubens ist, so soll er auch dem
Glauben gemäß sein.
Es ist ungehörig, Leute zu Eiden zu nöthigen,
die ihrem Glauben widersprechen oder denselben ihrer Ansicht nach
nicht voll ausdrücken. 6. Der Eid ist unter Umständen ein ebenso nothwendiger Ausdruck lebendigen Glaubens, wie das Gebet. Wer könnte es z. B. tragen, in die Ehe zu treten, ohne daß er dem Gatten, der Gattin feierlich vor Gott Treue gelobte?
Ein solches Gelübde vor Gott ist
aber ein Eid, wenn es gleich nicht in der hergebrachten Form ge
richtlicher Eide auftritt. Nicht minder geloben (schwören) wir bei Aufnahme in die Gemeinde Gehorsam dem göttlichen Wort und treues Halten an der Gemeinde, bei Uebernahme des Predigtamtes
gewissenhafte Verwaltung des Amtes u. s. f., und niemand möchte ohne solches feierliche Gelübde in Gemeinde oder Amt eintreten
wollen: es würde ihm etwas fehlen, er würde sich gepreßt und ge hemmt fühlen, wenn er nicht aussprechen dürfte, wovon doch seine Seele voll. Desgleichen ist der Huldigungseid, den ein Volk, der Krönungseid, den ein Fürst bei seiner Thronbesteigung leistet, — ihr
feierlicher Bund vor Gott — naturgemäß, Ausdruck des Bewußtseins, daß ihr Verhältniß ein von Gott geordnetes sei, und daß sie Gott von demselben werden Rechenschaft zu geben haben.
7. Trotz dieser inneren Nöthigung des Glaubens bei feierlichen
Gelegenheiten zu feierlicher Anrufung Gottes, der ja unser Zeuge ist, als Zeugen, Helfers, Richters unsrer Aussage oder unsres Versprechens,
hat es einzelne Christen gegeben und giebt es noch mehrere christ-
Nochwcudigkeit beü Eides (gegen Quäker und Meuiioiiiten).
53
liche Parteien (Quäker und Mennoniten), welche den Eid verwerfen, weil sie der Meinung sind, daß ihn Christus (Matth. 5, 34) ver
boten habe. Dagegen hat die christliche Kirche im ganzen von je her mit großer Einmüthigkeit den Eid nicht nur gestattet, sondern ihn insbesondere der Obrigkeit gegenüber für Pflicht erklärt, indem
sie der Ueberzeugung ist, daß Christus ihn gar nicht verboten haben
könne, ihn vielmehr selbst geleistet habe (Matth. 26, 63 f.).
Ihre
Gründe sind außer dem an und für sich entscheidenden Beispiele Christi: a. die bereits besprochene Begründung des Eides im Glauben, wie in frommer Liebe; b. die Weife, wie die heilige Schrift, auch
die Neuen Testaments von dem Eide redet (Ebr. 6, 13—18).
Es ist
unmöglich, daß ein Apostel oder eines Apostels Schüler sich so hätte ausdrücken können, wenn in der ersten Gemeinde auch nur entfernt
die Erinnerung an ein solches Verbot des Herrn vorhanden gewesen wäre. Endlich c. die häufigen Stellen, in denen insbesondere der Apostel Paulus in feierlicher Weise Gott zum Zeugen anruft (Röm.
1, 9; 9, 1. Gal. 1, 20).
8. Auch Matth. 5, 34 hat der Herr Christus nicht den Eid, sondern, wie wir bereits früher, insbesondere bei der Vergleichung
mit Matth. 23, 16 f., festgestellt haben, die ruchlosen Unterscheidungen,
welche man seiner Zeit hinsichtlich der Verbindlichkeit der Eide machte, überhaupt den Mißbrauch, welchen Lügenhaftigkeit und Leichtsinn mit dem Eide trieben, verboten; wie, wenn noch heute Leute mit der Wahrheit warten, bis man sie durch Abforderung besonderer Betheurung „auf Ehre" oder „sag' mal wahrhaftig" in die Enge treibt; wenn andere im Handel und Wandel, im gewöhnlichen geschäftlichen
Betriebsverkehr fort und fort mit Betheurungen, ja Schwüren um sich
werfen und damit verrathen, daß man ihnen nur das, was sie in solcher Weise betheuren, und auch das nicht einmal glauben könne; wenn ungerechtfertigtes Mißtrauen unaufhörlich Betheurungen fordert, und was dergleichen mehr ist. Was der Herr verlangt, ist unbe dingte Wahrhaftigkeit, eine Wahrhaftigkeit, die nicht bloß den Eid,
sondern jedes Wort, wie einen Eid, hält, für die es aus diesem Grunde gar nicht erst besonderer Betheurungen bedarf, weder, um die Wahrheit zu sagen, noch, um Glauben zu finden, der es daher
auch, wo nicht besondere Veranlassungen zu feierlicher Behandlung
54
1. Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
der Sache vorliegen, gar nicht in den Sinn kommt, feierliche Be
theurungen, sei es selbst zu geben, sei es von einem andern zu fordern, ja, die solches nicht einmal leidet.
Ich wenigstens habe immer —
und ich denke, jeder wahrhaftige werde es thun — wo einer anhub, zu betheuren und zu schwören, dem Schweigen geboten und mich be ziehungsweise von ihm gewandt, weil ich gedachte an das Wort:
Ein Mann ein Wort, ein Wort ein Mann; wer aber viel schwört, der lügt viel, oder, wie der Herr sagt, aber freilich nur in diesem Sinne es meint: Ja ja, nein nein, was darüber ist, das ist vom
Uebel. 9. Mit allen diesen Auswüchsen haben die vorher erwähnten feierlichen Anrufungen Gottes in feierlicher Stimmung bei festlicher
Gelegenheit, hat auch der Eid vor Gericht nichts zu thun: Derselbe tritt nicht in den Dienst der Unwahrhaftigkeit und der Lüge, sondern der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Er ist auch nicht ein Ausdruck
unbrüderlichen Mißtrauens, das wäre er nur, wenn er bloß von An
rüchigen und Zweifelhaften gefordert würde; aber er wird von allen verlangt, ja in gewissen Fällen ist es sogar eine Auszeichnung und
Anerkennung der Glaubwürdigkeit eines Menschen, wenn einer zum
Eide verstattet wird.
Er ist die an alle herantretende Mahnung
an den Ernst der Sache und an die Verantwortung vor Gott. Er ist ein Dienst der Liebe, der Unbedachtsamkeit und Schwäche geleistet,
daß sie sich nicht durch Nebendinge zerstreuen, durch Nebenrücksichten verlocken lasse. Er ist Geängsteten eine Stütze und eine Hülfe in Erfüllung schwerer Pflicht. Sind doch die Fälle nicht selten, daß Christen genöthigt sind, sei es durch ihre Aussagen als Zeugen, sei
es durch ihr Verdikt als Geschworene Schweres über ihre Mitmenschen zu verhängen, Veranlassung zur Fällung eines Todesurtheils zu geben.
Wie wird da nicht mancher nur in seinem Eide Kraft und
Ruhe gefunden haben! Aus allen diesen Gründen darf und soll der Christ den gerichtlichen, wie jeden andern von der Obrigkeit gefor derten Eid, mit gutem Gewissen und mit derselben Freudigkeit leisten, mit welcher er in der Kirche die feierlichen Gelübde ablegt, welche
dort gefordert werden.
Er denke nur daran, daß Gott nicht bloß
will, daß er gepredigt, und der Glaube bekannt, sondern auch daß Recht und Gerechtigkeit — sein Recht — geübt werde, und daß es
55
Nothwendigkeit des Eides (gegen Quäker und Memwniten).
übel um die Verkündigung des Evangeliums stehen würde, wo in
einem Lande nicht Recht gesprochen, und Gerechtigkeit — und zwar im Aufschauen zu ihm — aufrecht erhalten wird.
Er lasse sich nicht
durch die scheinbare Geringfügigkeit der Gegenstände stören, um die
es sich handelt, daß — wie manche häufig klagen — um jede Kleinigkeit geschworen wird.
Was ist klein? Auch eine Million, um derentwillen
es diesen klagenden allenfalls werth erscheinen dürste zu schwören, ist schließlich Tand der Erde.
Sodann aber wird niemals weder die
Million noch der Heller, die unterschlagene Nadel oder die gestohlene
Gans beschworen, sondern beschworen wird immer nur die Wahrheit der Aussage im Dienste der Gerechtigkeit, und diese ist niemals klein. Wer dieser mit einfältigem Herzen dient, dient immer auch Gott. 10. Es ist nicht genug, daß man im allgemeinen den Eid als
gerechtfertigt erkennt, er mnß auch im einzelnen ein rechter und untadelhafter sein. Vom Aussageeide wird gefordert, daß er „niemand zu Gunsten,
niemand zu Leide" die Wahrheit sage und zwar die ganze Wahr heit und nichts, als die Wahrheit; daß der Schwörende sich durch nichts
in der Welt verleiten
lasse, weder von der ihm bekannten
Wahrheit etwas auszulassen noch auch hinzuzusetzen.
Mag er dieses
oder jenes thun, in beiden Fällen schwört er falsch, und die Strafe,
göttliche und menschliche, wird nicht von seinem Haupte bleiben.
Es ist
nicht immer so leicht, diese Forderungen zu erfüllen, als es aussieht, auch, wenn man den Willen dazu hat: sofern sich unsre Wissenschaft von den Dingen fast immer zusammensetzt aus dem, was wir selber wahrgenommen haben, und dem, was andre über denselben Gegen
stand zu uns gesprochen haben, und wir besonders nach längerer
Zeit oft gar nicht im Stande sind, beides von einander zu trennen und für jeden Zug des Bildes, welches wir von einem Vorgang in uns tragen, genau noch die Quelle anzugeben.
Eben so verdunkelt
und verwischt sich
Um so sorgfältiger
das Bild
durch Vergessen.
haben wir unsre Aussage zu überwachen, damit wir nicht, indem
wir als eigene Wahrnehmung geben, was nur die hinzugekommene Wahrnehmung
anderer, ja vielleicht nur deren Vermuthung oder
Urtheil war, oder durch unabsichtliche Auslassung wesentlicher Züge dem Richter ein falsches Bild von der Sache geben
und ihn zu
56
1. Hmiptstück.
Luthers Erklärung zuiu ziveiten Gebot.
einem falschen Urtheil veranlassen, jedenfalls mehr und anders aus sagen, als wir verantworten können.
Besinne dich, was du gesehen,
gehört, überhaupt wahrgenommen hast: das und nur das sage aus! Kannst du dich darauf nicht mehr mit Sicherheit besinnen, so erkläre
das: so beschwörst du auch nur dies, daß du der Sache nicht ganz sicher bist: und der Richter weiß, was er davon zu halten hat.
Sagst
du aber: ich weiß, wo du nicht gewiß bist; oder umgekehrt: ich weiß nicht, wo du weißt, daß du weißt: da schwörst du, wo nicht einen Meineid, so doch einen fahrlässigen Eid.
Bedenke: Fahrlässig
keit beim Eide!! Bei Versprechungseiden oder Gelübden ist es nicht genug, daß man sie redlich meint und sie halten wolle — das versteht sich von
selbst: sondern man muß auch in sich gewiß sein, daß man sie
schlechthin — Unvorhergesehenes abgerechnet — werde halten können und sie halten dürfe.
Unbedachtes Versprechen, selbst, wo es nicht
beschworen wird, ist etwas leichtfertiges! Darfst 'bu leichtfertig sein? — Vollends, wo du gelobest vor Gott, wovon du voraus siehst, daß du schwerlich jemals, ja vielleicht niemals in die Lage kommen werdest,
dein Wort zu erfüllen, da ist im Eide selbst schon der Bruch des
Eides! Endlich darf nicht geschworen werden, was nicht gehalten wer den darf, z. B.: Aufruhr, Mord, kurz alles, was Sünde oder Ver brechen ist, wenn man es thut, was demgemäß auch den Eid, durch
welchen man sich zu dergleichen verbindet, zu einem verbrecherischen macht.
Welche Veranlassung, wenn man ein Gelübde ablegt, auf
das sorgsamste zu prüfen, was man gelobt! 11. Meineid (der falsche Eid), wie Eidbruch, sind unter allen
Umständen etwas entsetzliches.
Insofern steht die Sache für den
letzteren etwas günstiger, als bei ihm im allgemeinen die Versündi gung gegen den Eid nicht schon im Schwören selbst liegt, wenigstens braücht dasselbe nicht der Fall zu sein: sondern es kann der Eid
an sich selber ein aufrichtiger und ehrlicher gewesen sein, und der Bruch folgt nur
u. a. tu., nach.
durch Vergessenheit, in Folge böser Verlockung
Wo es sich so verhält, da bleibt der Eidbruch aller
dings verdammlich, er ist indeß doch nicht die offenbare Gottesläste
rung, welche der falsche Eid in sich schließt, sondern eher Gottver-
Meineid.
Fahrlässiger Eid.
57
Eidbruch.
in denen der Bruch eines ver
gessenheit. — Ja, es giebt Fälle,
sprochenen Gelübdes, Eides — also Eidbruch — sogar Pflicht ist, wenn
dieselben nicht ohne neue Sünde
gehalten
werden können.
Außer den schon früher angedeuteten Fallen erinnern wir nur an das Beispiel des Herodes (Matth. 14, 1 f.).
Wer wird nicht zuge
stehen, daß das Halten seines liederlichen und großsprecherischen Ver
sprechens ein Schritt weiter in die Verdammniß war, und wenn er Gott fürchtete,
daß er,
trotz des Eides den Johannes nicht hätte
todten lassen dürfen, vielmehr in sich gehen und sein Versprechen
hätte zurücknehmen müssen? — Das gilt nicht bloß von gottlosen und verbrecherischen Eiden, wie dieser war: sondern auch von solchen, welche ursprünglich in gutem,
worden
sind,
aber
irrendem Gewissen
geschworen
wenn das in Gott verständigte Gewissen später zur
richtigen Erkenntniß gelangt.
Luther z. B. hatte die Mönchsgelübde
geleistet, insbesondere Ehelosigkeit gelobt.
Hat er recht oder unrecht
gethan, als er — nachdem er die Heillosigkeit des Möuchsthums er
kannt hatte, aus dem Kloster trat und — um andern Muth zu machen
— selbst ein Weib nahm? Oder hätte er zwar andre lehren sollen,
was gegen Gott und die menschliche Natur war,
nicht zu
halten:
selber aber ehelos bleiben, wo doch sein Beispiel allein entscheidend
wirkte? Andre hierher gehörige Beispiele bietet uns die Geschichte unsres Fürstengeschlechts.
Joachim L, bei allen seinen Vorzügen
ein fanatischer Gegner der Reformation, hatte seine Söhne Joachim und Hans schwören lassen, daß sie in der römischen Kirche verharren
wollten.
Beide traten zur Reformation über.
Johann Sigismund
hatte seinem Vater unverrücktes Halten an dem Lutherthum eidlich geloben müssen: er
folgte seinem
Gewissen und
ward
reformirt!
Neuerdings hat man gegen Geistliche, welche, ihrem Gewissen fol
gend, in einem oder dem andern Stücke von der Lehre der Kirche, auf welche sie bei ihrer Ordination verpflichtet seien, abwichen, öfter den Vorwurf
würde,
des Eidbruchs
erhoben.
Ob man
das
wohl
thun
wenn man der Vorgänge der Reformation und der andern
angeführten Beispiele eingedenk wäre, dazu sich die Weise vergegen wärtigte, mit welcher die Verpflichtung auf die Bekenntnisse in der Kirche seit unvordenklichen Zeiten
und
noch
heute von den Ver
pflichtenden selbst gehandhabt worden ist und gehandhabt wird? —
58
1. Hariptstück.
Luthers Erklärung 311111 zweiten Gebot.
Mit dieser Geltendmachung des Rechtes schwer bedrängter, zu Gott
schreiender Gewissen, sich von der Unwissenheit zur Erkenntniß, von der Unnatur zur Natur, von falschem Gottesdienst zur rechten Gottes verehrung zu bekehren und diese Erkenntniß auch praktisch auszu führen: mit der Geltendmachung dieses Rechts und dieser Pflicht
soll mit nichten der Gewissenlosigkeit das Wort geredet werden, welche
darum, weil ein gottloser oder widernatürlicher Eid nicht gehalten werden darf, nun jeden Eid glaubt brechen zu dürfen, wenn es ihr aus irgend welchem Grunde beliebt.
Geht das selbst in jenen Fällen
niemals so glatt ab, wird es nur nach der gewissenhaftesten Ueber-
legung und den schwersten innern Kämpfen zulässig sein, und selbst dann noch immer ein Stachel im Gemüthe zurückbleiben: so ist das hundertfach bei dem Bruch in sich gerechtfertigter Eide der Fall,
zumal wenn einer, ungeachtet er sein Versprechen nicht hält,
die
Ehren, Würden, Vortheile festhalten will, welche er auf dieses Ver sprechen hin empfangen hat: dann ist doch das erste, was, ich sage gar nicht von einem gottfürchtenden Menschen, nein, von der ordi
närsten Ehrlichkeit gefordert werden muß, daß, wer nicht leisten kann, vollends nicht leisten will, was er versprochen hat, sich derjenigen
Vortheile entäußert, welche an die Leistung geknüpft waren.
Da
den Eidbruch entschuldigen, höhere Rücksichten, politische Nothwendig
keit u. s. w. vorschieben, heißt es doch gerade machen, wie die abessynischen Namenchristen, die, wenn sie geschworen haben, mit einem Holze über die Zunge fahrend, die Anwesenden zu Zeugen aufrufen, wie sie
ihre Zunge von ihrem Eide gereinigt hätten! „Welcher ist die Ver-
dammniß" und das Gericht der Geschichte.') dem Eidbruch nicht.
Nein, so steht es mit
Derselbe ist immer ein furchtbar Ding, bei dem
es sich um das Heil der Seele handelt.
Entweder der Eid ist gerecht
fertigt, dann verdammt der Bruch; oder der Bruch ist gerechtfertigt,
dann thut es der Eid. —
Welche dringende Aufforderung
sowohl für diejenigen, welche
ein Gelübde leisten, als auch für die, welche ein solches auferlegen
und abfordern, auf das gewissenhafteste zu prüfen, was man gelobt
’) Man betrachte nur, wie in Frankreich wieder und wieder die Erinnerung
und das Urtheil über den „Staatsstreich" von 1851 laut wird.
Zaubern.
59
Ursprung des Glaubens daran.
oder geloben läßt, damit nicht, was bestimmt ist, Halt und Trost
für gottesfürchtige Gewissen zu sein, ein Verderben der Leute und
ein Fallstrick für das Gewissen werde! — Gerade in Glaubens sachen findet in dieser Beziehung noch viele Gedankenlosigkeit und Zweideutigkeit statt. — III.
Vom Zaubern und dergleichen.
Unter Zaubern versteht man den Versuch, das, was man nicht
auf natürlichem Wege, durch den Gebrauch der von Gott geordneten Mittel (Gebet, Arbeit, Sparen) erreichen kann, auf „übernatürliche"
Weise zu erlangen, sei es durch Anrufung Gottes, sei es des Teufels, sei es durch Anwendung sonstiger geheimnißvoller Mittel.
Ist auf
diesem Wege jemals etwas erreicht worden? Man würde es nicht versucht haben, wenn man nicht daran geglaubt hätte, und man würde nicht daran geglaubt haben und hie und da noch daran glauben,
wenn Zauberei und „Hexen" nicht ab und zu wirkliche, wenn auch nur scheinbare Erfolge gezeigt hätte! Worauf beruhen diese scheinbaren
Erfolge der Zauberei? a. Zuerst aus offenbarem Betrug pfiffiger oder böser Menschen, welche die Unwissenheit ihrer Zeit oder ihrer Umgebung in selbst
süchtiger Weise ausbeuteten, und entweder ihre Mitmenschen über haupt betrogen oder sie hinsichtlich der Mittel, durch welche sie ihre Wirkungen hervorbrachten, z. B. kranke Thiere oder Menschen heilten, wissentlich im Dunkel ließen. So erinnere ich mich, wenn ich nicht irre, in der Beschreibung einer Reise durch den nördlichsten Theil
von Schweden gelesen zu haben, wie ein Reisender in einer Hütte
einen Beschwörer getroffen habe, welcher den Kranken zunächst durch tüchtige schweißtreibende Mittel in einen kritischen Schweiß gebracht, und dann erst seine Beschwörungen begonnen und mit vielem Geschrei
und Verrenkungen des Körpers um den Leidenden herumgesprungen sei. Der Mann, der einen intelligenten und wohlwollenden Eindruck ge macht, habe dann auch den Grund seines Verfahrens angegeben, daß, wenn er nicht diesen Hokus-Pokus treibe, kein Mensch irgend eine Arznei von ihm annehmen noch seinen Vorschriften gehorchen werde.
Ueberdies unterstütze der Glaube die Wirkung der Heilmittel.
Das
war ein beziehungsweise ehrlicher Beschwörer; andre haben betro-
1. Hauptstück.
60
Luthers Erklärung 311111 zweiten Gebot.
gen, sei es, um ihr Ansehn zu vermehren, sei es um sonstiger Vor theile willen.
b. Ein großer Theil von den — übernatürlichen Mitteln und Kräften zugeschriebenen — Erfolgen kommt auf Rechnung gewisser
Naturkräfte, deren sich die Leute selbst nicht bewußt waren, bereit
Gesetze man noch heute nur theilweise kennt: Elektrizität, Magnetis mus, Galvanismus.
Alle diese, weithin durch die Natur verbreitet,
ja weiter, als der ununterrichtete Mensch weiß, wirken überall in der
Welt; aber gewisse Dinge, Thiere und auch Menschen sind vorzugs
weise Träger derselben, wie z. B. die uns allen bekannte Hauskatze in hohem Grade elektrisch ist, der elektrische Aal und der Roche da gegen förmlich einen elektrischen Apparat im Leibe führen, kraft dessen
sie Menschen und Thiere lähmen, ja todten können.
So ist wohl
auch in einzelnen Menschen die eine oder andere Kraft stärker ent wickelt, als in anderen, und sie dadurch befähigt, Wirkungen hervor
zubringen, bereit andre nicht mächtig sind.
Namentlich gehört hier
her der sogenannte magnetische Schlaf mit seinem Hellsehen und in die Ferne Sehen,
aus
dem wahrscheinlich zum großen Theil die
Wahrsagerei des Alterthums (der Pythia, der wahrsagenden Sklawin zu Philippi Apost. 16) beruhte.
Die Erscheinungen dieser und ähn
licher Zustände find wissenschaftlich noch nicht hinlänglich aufgeklärt;
nur das scheint festzustehen, daß, so viel wissentlicher und unwissent licher Betrug, Selbsttäuschung und Täuschung anderer sich an sie an geschlossen hat, die Sache keineswegs auf reiner Täuschung beruht;
andererseits, daß insbesondere dieser magnetische Schlaf keine höhere Begabung, sondern eine krankhafte Störung des menschlichen Or
ganismus ist.
Das bedingt auch die Anwendung, welche ein Christ
davon machen kann, wovon später ein mehreres. — In früheren Zeiten nun, in welchen die Leute dem allen noch weniger auf den Grund zu sehen wußten, als jetzt, war es sehr natürlich, daß solche Menschen, welche in dieser Beziehung eigenthümlich begabt waren,
oder denen sonst wie Kräfte
zu Gebote standen, welche sie
theil
weise selbst nicht kannten, noch die Weise ihrer Wirksamkeit wußten,
von ihren Zeitgenossen für höher begabte Wesen — Wunderthäter
oder Zauberer —
gehalten
hielten
Ergebniß
und
als
wurden
und
sich
übernatürlicher
auch
selbst
Kräfte
dafür
ansahen,
Ursprung des Glaubens daran.
Zaubern.
61
was unsre Zeit mit Recht auf natürliche Mittel und Kräfte zurück
führt. c. Vor allem in Betracht zu ziehen ist der lange nicht genug
gewürdigte Einfluß des Geistes auf den Leib, namentlich die Ein
wirkung krankhaft gereizter Phantasie aus die Sinne.
Zahllos sind
die Fälle, in denen heftige Gemüthsbewegungen, insbesondere Furcht, Angst, Schrecken außergewöhnliche Wirkungen auf Gesundheit und
Leben, heilsame und schädliche, hervorgebracht haben.
trägt spät
Ein Mann
in der Nacht seinen an den Füßen gelähmten Freund
über einen Kirchhof.
Da sehen sie ein Gespenst; um schneller zu
fliehen, läßt der Träger den Kranken fallen, aber siehe, dieser ist
noch vor jenem zu Hause. fahren.
Die Furcht war ihm in die Beine ge
Ein Hofnarr hatte in guter Absicht,
Herrn durch den Schreck vom Fieber zu heilen,
Wasser geworfen.
nämlich, um seinen seinen Herzog in's
Für dieses Majestätsverbrechen wird er zum Tode
verurtheilt; doch sollte er, da er nur Schrecken erregt hatte, auch nur mit
dem Schrecken bestraft werden.
So werden denn alle bei einer Hin
richtung vorkommenden Prozeduren mit ihm durchgemacht, als es je doch zum letzten kommt, der arme Sünder statt mit dem Schwerte
mit einer Bratwurst in den Nacken geschlagen. Zusammengesunkenen aufhob, war er todt.
Als man aber den
So können viele von den
Zauberwirkungen ohne Zweifel auf die Furcht,
das Grauen, das
haarsträubende Entsetzen, das diese Hexen und Zauberer um sich zu
verbreiten wußten, zurückgeführt werden.
bildungskraft
Jedermann weiß, daß Ein
uns im Traume oder im Fieber Gestalten
vor
die
Seele stellt, uns Stimmen hören, Gespräche führen läßt, welche wir,
solange diese Zustände währen, unterscheiden vermögen.
gar nicht von der Wirklichkeit zu
Neuere Wissenschaft hat fcstgestellt, daß und
nach welchen Gesetzen bei einer krankhaft überreizten Phantasie Aehn-
liches auch im Wachen geschieht, daß die Sinne in einer Weise an geregt werden, daß die Kranken darauf schwören, sie Erscheinungen gesehen,
diese Menschen
haben diese
gesprochen, dies mit ihnen
geredet, ja sie mit Händen gegriffen und gefühlt: und dennoch ist alles solches nur ein innerer Vorgang ohne jede äußere Wirklichkeit.
Auf diesen Vorgängen beruht ein großer Theil, in dem einen Falle der Heiligen-Erscheinungen, in andern alle der Teufelsspuk, von denen
62
1. Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
die Berichte des Mittelalters voll, insbesondere die Akten der Hexenprozesse strotzen. Erscheinungen
Zwar darf man bei den Teufelsgeschichten — den
des Satans,
der Bündnisse mit dem
Satan,
den
Hexenritten und Hexenfesten — nicht vergessen, daß die Geständnisse
meist durch die „Tortur" erzwungen worden sind.
Was gesteht aber
ein Mensch nicht, wo er in dieser Weise „peinlich befragt" wird! Ich wenigstens traue mir nicht so feste Nerven zu, daß ich nicht ge
stände, wenn man es zu wissen verlangte, daß nicht Gott, sondern
ich die Welt geschaffen habe.
Andrerseits: wie kam man doch darauf,
dergleichen peinlich zu erforschen? Die Gedanken müssen also wohl schon vorher in den Köpfen gewesen sein und die Gemüther bewegt
haben.
Auch sind keineswegs alle Geständnisse erzwungen; viele sind
auch freiwillig abgelegt und in einer Weise, daß man sieht, die Be
kennenden glauben an das, was sie berichten. — Man bedenke nur Vorgänge,
wie sie Klüden in seinem „die Quitzows in der Mark
Brandenburg" erzählt, und wie sie ohne Zweifel öfter vorgekommen sind.
In der heiligen Weihnachtsnacht um die Mitternacht geht ein
Mann tief in den Wald fern von allen bewohnten Orten, bis dahin, wo keine Glocke mehr tönt, und auch er darf nicht an Gott denken,
geschweige dessen Namen aussprechen.
Da an einem Kreuzwege zieht
er den Zanberkreis, mit Schlangenköpsen und Jltisknochen und an
derem zauberhaften, graulichen Gethier, und
nun hebt er an, zu
zählen; — schon ist der Teufel da und sucht ihn mit allerhand Spuk
zu irren — vor- und rückwärts, dreimal bis 48, ohne sich einmal zu verzählen oder zu stocken.
Gelingt ihm das, so muß der Teufel
endlich als Sold den Heckegroschen darauf thun, zu dessen Erlangung dieser Spuk unternommen ward.
Wo nicht, durchbricht der Satan
den nicht mehr schützenden Zauberkreis und zerreißt den Menschen
in Stücke.
Wie mag ein solcher gezittert, wie mag er geschrieen,
wie mögen ihm die Haare zu Berge gestanden haben, — jedes vor übereilende Wild, der leise Flug der Eule, das ferne Geheul des
Wolfes malte ihm den Teufel vor; jetzt, jetzt ist er da; er schwur darauf, er hat ihn gesehen, nach ihm gegriffen; und nur, daß der Elende in seiner äußersten Noth
an Gott gedacht oder zu Gottes
Heiligen geschrieen, hat ihn gerettet.
Oder auch: es fraß ihn Bär
und Wolf, deren es ja in jener Zeit genug gab, und später Vorbei-
Zaubern.
63
Herenprozesse.
kommende fanden dann das hie und dahin gezerrte Gebein und den zerrissenen Zauberkreis: der Teufel hat ihn geholt; daß die Fährte des Raubthiers dabei war, störte den Glauben dieser Zeit nicht, der
Teufel nahm eben jede Gestalt an. Das alles hat für uns zunächst nur psychologisches und kultur historisches Interesse und lieft und erzählt sich jetzt ganz unterhaltend:
aber eigentlich ist es doch etwas
entsetzliches! Welche Verwüstung
und Verwilderung des Gemüths tritt uns doch in jenen Gedanken und Geschichten
entgegen.
Dieses
geflissentliche Hineinziehen
des
Heiligsten, um es zu entheiligen, welches sich in alle diesem Zauber spuk wiederfindet! Dieses Daransetzen nicht bloß des zeitlichen Lebens, sondern des ewigen Heils, um reich, mächtig, hieb- und schußfest zu
werden! Der feste Entschluß,
sich Gottes
und des Gedankens
an
ihn, theils für immer, theils auf längere oder kürzere Zeit zu entschlagen und es mit dem Teufel zu versuchen! Ob dieser erschien oder
nicht erschien, ist für die sittliche Beurtheilung der Sache gleichgültig;
der Bund war innerlich gemacht, das Verbrechen mit dem conatus (Versuch) vollendet. — Dazu die Erfüllung und Vergiftung der Phan tasie mit dem Allerscheußlichsten und Entsetzlichsten, dem Gemeinsten
und Schmutzigsten, welche wir nicht bloß bei denen finden, die diese Gedanken bis an den Wahnsinn pflegten und aus ihnen heraus Gott loses und Verbrecherisches vollbrachten — viele Zauberer und Hexen
sind ohne Zweifel als Verbrecher, Giftmischer, Verfertiger von schäd
lichen Liebestränken u. s. w. gestorben — sondern auch bei denen, welche gegen dieselben auf Tod und Leben kämpften! Zwei Jahr
hunderte hindurch lagerte der Glaube an diesen Teufels- und Zauber spuk, wie eine geistige Epidemie, aus der Christenheit, beschäftigte
ihre Gedanken, bestimmte ihr Handeln, machte sie gegen ihr Fleisch
und Blut wüthen.
Massenweise wurden die Hexen verbrannt;
es
gab Orte in Deutschland, vor deren Thoren die halbverkohlten Pfähle der Scheiterhaufen zu Dutzenden — wie ein Wald, sagt ein alter
Berichterstatter — standen.
Es ist festgestellt, daß über eine Million
Menschen diesem Wahne zum Opfer gefallen
sind.
Da war kein
Alter und Geschlecht, kein Rang und Stand, keine Tugend, die —
wenn der Verdacht einmal laut geworden war — gegen die Tortur
und den Feuertod schützte.
Und das ward nicht bloß von dem Pöbel
64
I. Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweite» Gebot.
und in Bosheit, aus Haß und gewinnsüchtiger Absicht ansgeübt:
nein, das ist das Erschütterndste dabei, ernste Richter und fromme Geistliche beschäftigten sich damit; die Erkennung von Hexen war
eine Wissenschaft, die Jagd auf sie eine Kunst geworden.
Es ist
bekannt, wie selbst die Reformatoren, Luther voran, die Bestrafung
der Hexen billigten, letzterer einen teuflischen Wechselbalg zu ersäufen
rieft).
Nicht minder bekannt ist, daß er an sich eigene Anfechtungen
und Erscheinungen des Teufels
erleiden zu müssen
gemeint hat.
Er hat heldenmüthig widerstanden — der bekannte Wurf des Tinten
fasses auf der Wartburg gegen den Teufel ist mit nichte« der ge ringste Beweis seiner geistigen Tapferkeit und selbst, wenn er eine Fabel wäre, ein drastischer Ausdruck der Mannhaftigkeit, die jeder
Christ gegen dergleichen Spuk beweisen soll —: aber was er unter diesen Erscheinungen gelitten, und welch einen Schatten sie auf sein Leben geworfen: das bedenken die leichtlebigen, auf das Aeußerliche
gerichteten Kinder unserer Zeit nur selten. — Dem tiefer Blickenden stellt sich
in diesem Teufels- und Zauberspuk eine der dunkelsten
Seiten in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes dar, und ge winnt er aus solcher Betrachtung den Ernst, mit welchem er alles, was nur im geringsten daran anstreist, behandelt.
Beiläufig
daß die letzte Hexe 1730 im Kanton
sei erwähnt,
Glarus verbrannt worden ist.
Dagegen trage ich
noch in eigner
Erinnerung, wie vor etwa 30—35 Jahren Fischer auf dem Putziger
Wiek in Pommern ein armes altes Weib, das durch ihre Zauberei Krankheit bei Vieh und Menschen hervorgerufen haben sollte, als
Hexe im Meere ersäuft haben. — Kommen denn noch in unsren Tagen Versuche vor, gegen welche das Verbot, du sollst nicht zaubern, geltend gemacht werden müßte?
Zuerst: der Glaube an Zauberei ist, wie das Ebenerwähnte beweist, noch nicht ausgestorben;
häufiger,
als
man
ist vielmehr nur unter anderem Namen
meint.
Wer hat nicht schon die Rede gehört,
wenn dem Unwissenden in Folge seiner Vernachlässigung sein Vieh siecht, sein Acker nicht trägt, sein Thun nicht lohnt: „das gehe nicht
mit rechten Dingen zu"!
Und allerdings kann ja nicht mit rechten
Dingen zugehen, was mit Faulheit, Ungerechtigkeit und Dummheit
zugeht: das sind Teufeleien genug, um das beste Anwesen zu rni-
Aberglaube unserer Zeit, Wahrsagen, Besprechen u. bergt.
65
niren. — Bis in die neusten Tage hinein bringen öffentliche Blätter die Nachrichten, wie bald hier bald da Abergläubische von Schatz
gräbern sind ausgeplündert worden.
Und wenn das sich immer nur
auf den „Salier“ beschränkte: aber nein, auch in großen Städten und bei „Gebildeten"
finden sich Ansätze und Erinnerungen an
Hexerei und Zauberei: Bleigießen am Sylvesterabend, nicht bloß zum Spaß, sondern, um im Ernst die Zukunft zu erfahren, Traum deuten, Wahrsagen aus Kaffeegrund, aus der Hand oder von einem
Karten legenden Weibe. Es ist ein nicht seltener Mißbrauch der heiligen Schrift, daß man entweder zu einem ähnlichen Zwecke oder auch, um sich in ungewissen Fällen Rath zu holen, blind in die Bibel hineingreift und den zufällig getroffenen Spruch als einen
prophetischen ansieht oder als Entscheidung Gottes, was wir thun sollen.
Eine wahrhaft verdammungswürdige Entweihung der heiligen
Schrift und das gerade Gegentheil von dem, wofür sich dieses Ver fahren oft ausgiebt, vom Glauben! — Was wir von der Zukunft
zu wissen nöthig haben, wird uns noch immer verständige Ueber«
legung zeigen; was wir nicht in dieser Weise ergründen, danach sollen wir nicht forschen, sondern es Gott befehlen und im Ver trauen erwarten. „Es ist genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe" (Matth. 6, 34).
Desgleichen in wichtigen Fällen, z. B. bei Eheschließungen, statt in das Gewissen zum Orakel greifen, ist nicht um ein Haar breit besser, als Knöpfe abzählen oder Blumenblätter zupfen, und
der Unterschied nur der, daß man bei jenem Gottes Wort mißhan delt.
Der Leichtsinn und die Gedankenfaulheit bleibt dieselbe. —
Weiter gehört in dieses Kapitel die ganze Reihe von Besprechungen: der Rose, des Fiebers, des Blutes, von Hautauswüchsen und, was
dgl. mehr ist, welchen manche große Dinge nachrühmen und sie ganz unbedenklich anwenden. Zuerst glaube ich nicht daran.
Ich habe noch
keinen gesunden, der die Wirkung davon an sich selbst erfahren hätte,
oder wo nicht vielmehr dieselbe auf andere Ursachen zurückzuführen
gewesen wäre, beziehungsweise sich als Täuschung enthüllt hätte'). Y) Ein eklatanter Fall von der Wirkung des Besprechens wird von einem er zählt, der ihn mit erlebt hat. In einem Stalle wollen plötzlich die Pferde nicht fressen. Alle Mittel werden vergeblich versucht: „Sie sind behext, es liegt ein Bann El test er, Materialien.
2. Auflage.
5
66
1. Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
Sodann sind sie gar nicht so ungefährlich, als es denen erscheint, welche sagen: man kann es ja doch versuchen, jedenfalls schadet es
nicht.
Es ist richtig, in manchen Fällen schaden sie so wenig, als
sie nützen, in andern kann das Hinzögern mit ihnen sogar den Tod bringen. Es giebt verschiedene Arten der Rose, die eine ganz ungefähr
lich, die andere — wenn nicht rechtzeitig ärztliche Hülfe kommt — tödtlich: der Laie aber vermag die beiden nicht
zu unterscheiden.
Darum mag einer sich wohl, vorausgesetzt, daß sonst nichts Unrechtes
und Unchristliches dabei vorkommt, ohne Sünde Warzen besprechen lassen; in ernstlichen Krankheiten soll er sich nicht darauf einlassen,
sondern sofort den Arzt fragen. — Drittens habe ich dagegen, daß die eben genannte unerläßliche Bedingung selten zutrifft.
In der
Regel wird bei derartigen Besprechungen die Formel: Im Namen
des Vaters u. s. w. angewendet.
Das ist ein entschiedener Mißbrauch.
Zwar wollte es einmal ein Gemeindeglied damit vertheidigen, daß
wir doch alles im Namen Gottes thun sollen, Namen bei allem anrufen dürfen.
also
auch seinen
Gewiß bei allem, aber doch in
der Gesinnung und zu dem Ziel und Ende, wozu derselbe gegeben ist, nämlich zu unsrer geistigen Aufrichtung, zum Beten, Loben und
Danken, aber nicht, um Warzen zu vertreiben. auch
Ebenso könnte man
das heilige Abendmahl als Mittel zur Sättigung oder
Medizin gebrauchen.
als
Der Frevel ist derselbe: nur, daß wir bei dem
Abendmahl gewarnt sind, den Leib des Herrn zu unterscheiden, dort aber noch gedankenlos verfahren. — Zu erwähnen ist hier auch die Weise, in welcher Gebildete und Ungebildete sogenannten Wunder
doktoren, klugen Schäfern und Scharfrichtern zuströmen und deren Mittel, je unverständlicher, namentlich aber, je widerwärtiger und grausiger,-um
so lieber —
mit einer Gewissenhaftigkeit brauchen,
welche einer bessern Sache werth wäre.
Diesem widersinnigen Treiben
liegt mitunter eine entfernte Ahnung der Wahrheit zu Grunde; nämlich auf bei» Stall." Der Scharfrichter wird geholt, den Bann zu lösen. Derselbe ist bereit und bittet sich nur einen Nagel von einem Sarge aus, uiib damit geht
er an's Werk. Als er den Stall verläßt, fressen die Pferde, wie ehedem. — Hinterher wird freilich kund, daß er nichts gethan, als den Pferden mit Wasser und Salz die Zähne von der Seife gereinigt, mit welcher sie der frühere Knecht, erbittert über seine Entlassung, beschmiert, und bereu ihnen widerwärtiger Ge schmack sie vom Fressen abgehalten hatte.
Zauberei und Wunder.
67
das durkle Bewußtsein, daß zu einem Heilkünstler eine gewisse natür
liche Bezalmng gehört, welche, wo sie fehlt, keine Wissenschaft zu geben vermag, die andrerseits bei Nichtstudirten
in ausgezeichneter Weise
vorhanden sein kann: sodann, daß unsre gesammte Arzneiwissenschaft auf Erfahrung beruht und mit Hausmitteln begonnen hat.
man dam immerhiir —
So mag
unter Beistand kundiger Aerzte —
die
Mittel jener Leute brauchen, wo einmal ausnahmsweise ein begabter
und verständiger auftaucht, der zu sehen und zu beobachten gelernt hat.
Derohne sich dergleichen Leuten hingeben, ihretwegen wohl gar
die „ftubirten" Aerzte verachten, das zeigt eine Geringschätzung der
Wissenschaft, welche insbesondere, wenn sie bei wissenschaftlich Ge
bildeten vorkommt, beweist, wie wenig diese in ihrer eignen Wissenschaft geleistet und gelernt haben.
Die Schrift sagt: Verachte den Arzt
und seine Kunst nicht, denn sie sind von Gott (Sir. 38). — Endlich
noch dic Frage: Darf und in wie weit darf ein Christ sich der Hülfe der sogenannten Clairvoyants bedienen, ihre Vermittlung in Krank
heitsfällen in Anspruch nehmen und ihren Anordnungen, wenn sie ihm unzesncht entgegenkommen, folgen? Diese Frage kann verschieden
beantwortet werden, je nachdem man zu der Sache steht.
diesen Erscheinungen
nichts,
als das Spiel
Wer in
geheimnißvoller,
noch
nicht aufgeklärter Naturkräfte sieht, der mag sich unter dem Beirath
Kundiger dieser Kräfte ebenso, wie jeder anderen, bedienen, voraus gesetzt, das daraus den magnetisch Affizirten kein weiterer Nachtheil erwächst, fe weder in ihrer Gesundheit geschädigt, noch
durch
die
Ausmerlsankeit, welche man ihnen schenkt, ihre Seele verderbt werde. Anders desienige, welchem dieses ganze Gebiet verdächtig ist, der es als einen Tummelplatz des Aberglaubens, bewußter oder unbewußter
Täuschung ansieht. verhalten.
Der kann und darf sich nur
ablehnend dazu
Bei der hier noch herrschenden Dunkelheit ist die Sache
immer bedenklich. Es wäre noch übrig, von dem Verhältniß
der Zauberei zum
Wunder, ramentlich dem biblischen Wunder zu reden.
Bevor wir
uns baraif einlassen, müßten wir zuvor das letztere ausführlich be
sprochen heben, was an seinem Orte geschehen soll (siehe 2. Hauptst. 2. Art.).
So können wir hier nur sagen: die Zauberei unterscheidet
sich von bim Wunder zuerst durch die jeweilen zu Grunde liegende 5*
1. Hauptstück.
68 Gesinnung.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
Jene ist ein willkürliches, unsittliches und ungöttliches
Thun, ausgeübt in selbstsüchtiger, niederer, wo nicht böswilliger, sich
unter Umständen bis zum Hasse gegen die Menschheit steigernder
Absicht: Wunder dagegen werden wir nur bei solchen einräumen, deren gesummte Erscheinung auf uns den Eindruck hervorragender
Heiligkeit macht, die Gottes Wege in Lauterkeit wandeln, Menschen wohl in heiliger, selbstsuchtloser Liebe suchen.
Sodann unterscheiden
sie sich hinsichtlich der in ihnen wirkenden Kräfte und der von ihnen erzielten Wirkungen.
Unsre ganze Darstellung zeigt,
daß wir die
Wirkungen der Zauberei überhaupt für problematisch vielmehr aus andern Ursachen herleiten, desgl. die
halten, sie
in ihnen zur
Erscheinung kommenden Kräfte
nicht
gesunde und krankhafte ansehen.
Dem fügen wir noch hinzu, daß,
als
höhere,
eher
als un
wo wirklich einmal eine Zauberkraft das Maß nicht bloß des Alltäg lichen, sondern auch des innerhalb der menschlichen Natur überhaupt Möglichen zu überschreiten scheinen sollte, wir solches nur als Folge
der einseitigen Zuspitzung einer einzelnen Kraft betrachten, den Gesammtzustand des Menschen selbst aber nach wie vor als unter dem Niveau der harmonisch ausgebildeten Menschennatur stehend halten würden.
In dem Wunder erblicken wir in der That „Kräfte" Gottes,
die zwar ebenfalls das Maß des überhaupt Menschenmöglichen und Denkbaren nicht unbedingt überschreiten, jedenfalls aber eine höhere Begabung sind, wie sie Gott nur seinen auserwählten Rüstzeugen verleiht. — In der Schrift haben wir nur einen merkwürdigen Ab schnitt Apostg. 19, 11—17, in welchem uns dicht bei einander der Wunderthäter (v. 11),
die
beginnenden Auswüchse
des Wunder
glaubens (v. 12), endlich die Beschwörer (v. 13) entgegentreten. „Gott wirkte nicht geringe Thaten durch die Hände Pauli", wie sich nach der Gesammtanschauung der Schrift von selbst versteht, in bei'
Kraft des Geistes mittelst des Glaubens an Christus.
Die Menge
dagegen schreibt bereits der rein leiblichen Berührung seiner Gewänder
wunderthätige Wirkung zu; endlich die umlaufenden Juden brauchen
den Namen Jesu — den sie auch nur als den „Jesus, den Paulus predigt", zu bezeichnen wissen, den sie folglich sonst nicht kennen,
geschweige innerlich zu ihm eine Beziehung haben — als eine magisch wirkende Zauberformel.
Der Unterschied tritt hier so scharf und
Lugen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).
69
kennbar hervor, daß sogar der vom bösen Geiste Besessene — einer
jener nervös zerrütteten Menschen, wie sie damals im Oriente, be sonders in Palästina massenhaft vorkamen — davon assizirt wird
und sich in plötzlichem Parorismus, wie sie bei dergleichen Kranken
Vorkommen, auf die Betrüger wirft und sie verwundet. IV.
Vom Lugen oder Trügen im Namen Gottes.
Unter dem Lügen oder Trügen beim Namen Gottes versteht man jede Art von Scheinheiligkeit oder Heuchelei — ein Vorwurf, welcher oft genug auch gegen die Aeußerungen einer fremdartigen, querköpfigen, exzentrischen Frömmigkeit erhoben wird.
Was sich bei uns nicht mit
der Wahrheit vertragen würde, oder auch, was uns lästig, unbequem, widerwärtig ist, das, schließen wir, könne auch bei andern nur ein
zur Schau Getragenes, Gemachtes sein, und schelten es im Gegensatz zur Frömmigkeit Frömmelei, Pietisterei, Muckerei, ohne zu bedenken, daß wir damit gegen die Betreffenden den unter allen schwersten Vor wurf schleudern; denn auch die Zöllner, ja die verworfensten Sünder
werden eher in das Himmelreich kommen, denn ein Heuchler (Matth. 21, 31).
Da gilt es recht sorgsam unterscheide». Die beste Gelegenheit dazu bietet der Pharisäer zur Zeit des
Herrn, diese klassische Ausgestaltung der Scheinheiligkeit, welche der Herr selbst Heuchler gescholten hat: „Wehe euch Schristgelehrten und
Pharisäern, ihr Heuchler" (Matth. 23), deren Namen die sprüchwörtliche Bezeichnung für jede Art von Heuchelei geworden ist, und die dennoch bei weitem nicht alle Heuchler waren: man denke nur
an Paulus (Apostg. 22, 3; 23, 6; 26, 5; Phil. 3, 5 s.), an Simon Zelotes'), welcher der äußersten Partei unter den Pharisäern ange hörte (Apostg. 1, 13), an die Urgemeinde zu Jerusalem mit der starken
Vertretung der pharisäischen Richtung in ihr! Was machte da den Unterschied und war am Pharisäismus das Heuchelwesen? Die Pha
risäer, wie die etwas nach ihnen und int Gegensatz zu ihnen ent standenen Sadduzäer, waren religiös politische Parteien (eine Ver bindung
auf dem Boden
des theokratischen Judenthums eben so
natürlich, als unberechtigt und unerquicklich, wo sie uns heute auf ]) Zelotes = Eiferer; so auch Matth. 10, 4 Simon, der Kananites oder Ka-
nanäus, nicht: Simon von Kana, sondern: Simon, der Eiferer, von dem ebräischeu Jtannah = Eiferer.
70
1. Hauptstück.
Erklärung Luthers zum zweiten Gebot.
dem Boden des Christenthums entgegentritt).
Die Pharisäer, eine
Vereinigung von Männern aus dem ganzen Volke, Priester und
Nichtpriester, Gelehrte und Ungelehrte, Vornehme und Geringe, bilde
ten die gesetzesfromme, heidenfeindliche, nationale Partei, die den alten Glauben und den alten Staat — das Gesetz wieder zurück führen wollte, unangesehen die gänzlich veränderte Weltlage.
Zur
Zeit der Makkabäischen Erhebung, in welcher sie unter dem Namen
der Chasidim („Fromme") austraten, die Träger dieser Erhebung, waren sie noch geraume Zeit nachher der Kern der Nation.
Ihre
spätere Entartung ist, obschon nicht ausschließlich, ihrem Auftreten
als Partei zuzuschreiben. — Nichts verdirbt ursprünglich reine Be strebungen so sehr, verstärkt den Egoismus, stumpft das Gewissen ab,
als /wenn sie in den Kampf um Parteiherrschaft gezogen werden. Da macht man mit und benutzt Mittel, welche man für sich allein
nicht brauchen würde, da gelangt man dazu, auch die Frömmigkeit zu einem Mittel zu machen. — Doch lag ein Keim des Verderbens
allerdings in dem Pharisäismus selbst. Derselbe entbehrte des ur sprünglichen religiösen Lebens, er war wesentlich Tradition und Restauration an Stelle des Prophetenthums, Schriftgelehrsamkeit,
die man höher hielt, als die ursprüngliche Offenbarung.
„In den
Worten des Gesetzes giebt es Wichtiges und Unwichtiges, die Worte
der Schreiber aber sind alle wichtig.
Darum, mein Sohn, sei sorg
fältiger in den Lehren der Sopherim, als in denen des Gesetzes." Dazu das Streben, das Gesetz mit immer weiteren Geboten zu um
geben, um es und um sich vor jeder selbst unbeabsichtigten Uebertretung zu schützen: „Machet einen Zaun um das Gesetz." Das gab dem Pharisäismus die Richtung aus das Aeußerliche und drückte ihm
den Charakter der Peinlichkeit und des Haftens am Kleinlichen auf, unter welchem redliche Gemüther, wie Paulus, sich verzehrten (Röm. 7),
die Masse aber mehr und mehr zu der geistigen Blindheit oder der Verlogenheit herabsank, über welche der Heiland wiederholt, nament lich in der großen Strafpredigt Matth. 23 sein Wehe rief.
Bei alle
dem stehen die Pharisäer ihrem Kerne nach höher, als die sie be
kämpfenden Sadduzäer, die hierarchisch aristokratische Partei, kalte, herrische, äußerem Wohlleben hingegebene Menschen, ohne Liebe für das Volk und ohne Einfluß auf dasselbe, die aber zu Jesu Zeit die
Siigen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).
Regierung führten,
71
„ein charakterloses Gemisch hierarchischer Ver
steifung und fremdländischer Aufklärung", die einerseits viel aus schließlicher, als die Pharisäer, deren Zusätze sie verwarfen, auf die
alleinige Geltung des Gesetzes zurückgingen und jede Uebertretung desselben von Regierungs wegen auf das grausamste straften, andrer
mit der griechischen Bildung und den fremden Machthabern
seits
liebäugelten, Freunde und Stützen der Römer, deren Herrschaft sie für unabwendbar hielten, und gegen die sie um so weniger revoltirt haben wollten, als sie deren Regierung in materieller Beziehung als
Vortheilhaft für das Land erkannten. Ihnen fehlten die großen Gedanken, welche der Pharisäismus noch in seiner Entartung, freilich in verkümmerter Gestalt, festhielt: die Gerechtigkeit vor Gott, das
Reich Gottes, der Glaube an die Bestimmung des Volkes und den kommenden Messias.
Das erklärt, warum der Herr neben dem
Hasse, welcher ihm von den Pharisäern wurde, auch unter ihnen viele Anhänger und sogar Jünger gewann, unter den Sadduzäern dagegen nicht einen.
Der Sadduzäismus verhielt sich zu dem Messias
Das hat nicht gehindert, daß sie nicht gelegentlich, wo Regierungs-Interessen in's Spiel kamen, gegen das Christenthum gleichgültig.
ebenso wütheten, wie die fanatischen Pharisäer. Kaiphas z. B., der den Rath gab, es ist besser, daß ein Mensch für das Volk sterbe, als daß
das ganze Volk zu Grunde gehe (Joh. 11, 50), war ein Sadduzäer,
ebenso der Ananias, unter dessen Hohenpriesterthum (Apostg. 4, lf.; 23, 2) der Bruder des Herrn, Jakobus, hingerichtet wurde.
Es erübrigt noch, uns die Züge zu vergegenwärtigen, welche
der Herr in seiner Strafrede wider die Pharisäer vorführt, welche
insgesammt Anwendung auch auf unsere Zeit leiden. Matth. 23,1 f.: Auf Mosis Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer u. s. s.
An Mosis Stelle leiten jetzt die Schriftgelehrten und Pharisäer das Volk.
Alles nun, was sie aus dem Gesetze lehren, das thut und
haltet: aber sie selbst nehmt nicht zum Muster hinsichtlich der Frömmig
keit.
Sie sagen es wohl, aber sie thun es nicht. — Ueber alles also
die Hinweisung auf den Widerspruch zwischen Lehre und Leben, Lehre und Gesinnung. V. 4. Sie binden schwere und unerträgliche Bürden zusammen und legen sie den Menschen auf die Schultern.
Charakterisirung der
72
1. Hauptstück.
Erklärung Luthers zum zweiten Gebot.
pharisäischen Glaubens- und Sittenlehre als einer mühseligen Zusam menstellung von lauter Einzelheiten und Kleinigkeiten, unlebendigem,
dürrem Holz, statt eines Gusses aus dem Ganzen und dem Vollen. — Denselben Charakter des Unlebendigen, bei allem Fanatismus der
Wärme des Herzens Entbehrenden, in trockener Verständigkeit Zusam mengesuchten und künstlich Zusammengehaltenen zeigt eine dem Phari säismus verwandte orthodoxistische Richtung unserer Tage. Auch hier
nicht die volle, ganze, unbedingte, fröhliche Hingabe des Herzens an Gott, an Jesum Christum, an den Geist Gottes und Christi, sondern die
verstandesmäßige Annahme einer Anzahl von Glaubenslehren, die Un terwerfung unter eine Reihe von Begriffsbestimmungen, das Aufladen
des ganzen „Bündels" von Bekenntnissen, die viele nicht einmal kennen,
auch nicht zu kennen brauchen — es ist genug, daß die „Kirche",
die „Obersten" (vergl. Joh. 7,47 s.) sie aufstellen und an ihnen festhalten.
Athanasianum und unverfälschte Augsburgische Confession
und Concordienformel und demgemäß Trinität und die beiden Na
turen und Erbsünde und Teufel und, was sonst noch für Einzel heiten einer in sein Bündel schnürt (denn es ist gar kein Grund,
nur bei diesen stehen zu bleiben und nicht noch andere „Reiser" hin zuzufügen), das soll über Glauben oder Nichtglauben, Christenthum oder Nichtchristenthum, über Heil und Verdammniß entscheiden.
Ebenso in Beziehung aus das Leben: Auch hier kein sich vom Geiste Gottes treiben Lassen (Röm. 8,14), kein unbefangenes Handeln aus dem Glauben und der Liebe heraus, in dem fröhlichen Bewußtsein, die Liebe thut dem Nächsten nichts Böses, sie ist des Gesetzes Er füllung (Röm. 13, 10), sondern Satzung und Satzung, und Gebot
über Gebot.
Rühre das nicht an und Untertaste jenes: es ist ein
recht mühselig Ding, ein wahrer Knechtesdienst im Reiche Gottes, wenn einer sich und andern dergleichen Bürden aufladet.
Thut er
es indeß in Redlichkeit und hilft selbst mittragen, nun so ist und bleibt er allerdings ein armer, geplagter Knecht, aber ein Knecht Gottes, der ihm um seiner Treue willen schon weiter helfen und ihn über mehreres setzen wird.
Halset er dagegen, wie es der Er
löser diesen Pharisäern vorwirft, solche Lasten nur andern auf, will aber selbst mit keinem Finger daran rühren, wie es ja dergleichen
„Kirchenpolitiker" giebt: dann hat er sein Theil unter den Heuchlern!
Lügen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).
73
V. 5. Alle ihre Werke thun sie, daß sie von den Leuten gesehen werden, sie machen ihre Denkzettel breit und die Säume an ihren Kleidern groß: Denkzettel sind Streifen von Pergament, worauf die
Stellen 5 Mos. 6,4—9; 11, 13—21; 2 Mos. 13, 1—lOu. 11—16 ge schrieben in zwei würfelförmigen Kapseln von Pergament verwahrt waren, welche sie auf den linken Arm und an die Stirn mit Rie
men banden, aus wörtlichem Verständniß von 2 Mos. 13, 9 u. s. w. — Die Juden thun es noch beim Beten und nennen sie Tephillim
(Gebetsriemen).
Sie sollen an die Pflicht erinnern, das Gesetz zu
erfüllen, und galten zugleich als Schutz gegen die bösen Geister. — Die Säume, richtiger Zipfel, sind eigentlich die Troddeln
oder
Quasten an den 4 Zipfeln des Obergewandes (Zizith genannt, siehe
Bunsens Bibel), welche das Nationalabzeichen der Israeliten, daß
ich so sage, ihre Nationalkokarde waren, nach 4 Mos. 15, 38. —
Also das zur Schau Stellen, das Prunken mit diesen Aeußerlichfeiten, um ihre Anhänglichkeit an das Gesetz zu zeigen, das ist das ent
scheidende.
Auch sonst findet man ja Leute, die sich,, Denkzettel"
machen, um zu denken, und Bibelsprüche über die Pforten ihrer
Häuser und ihrer Thore schreiben, sich und anderen zur Erbauung und zur Stärkung.
Wer kann dagegen etwas haben? — höchstens,
wenn einer alle Wände voll Bibelsprüche hängt, daß man sagt, er sei ein absonderlicher Mann, der etwas zu viel auf Aeußerlichkeiten gebe, oder er müsse wohl ein schwaches Gedächtniß haben.
Indeß
die Quäker mit ihrer sich auszeichnenden Tracht und andere mehr sind auch absonderliche Leute, wer nennt sie darum Heuchler? Vers 6—12 tadelt die geistliche Ehrsucht, das sich grüßen und
Hände und Gewand küssen Lassen auf den Straßen und den herab lassenden, salbungsvollen Dank dafür, wie man das in katholischen Ländern und der Sache nach leider dasselbe auch noch in evange
lischen findet, — weiter: die geistliche Herrschsucht.
Es ist wohl
kaum nöthig, noch besonders darauf aufmerksam zu machen, daß,
wenn der Herr gebietet, wir sollen uns weder Meister noch Vater nennen lassen, noch andere so nennen, solches sich selbstverständlich nur aus die Beherrschung, beziehungsweise die Unterwerfung der Gemüther in Glaubenssachen beziehe. Die natürlichen und gesell schaftlichen Unterschiede hat ja das Christenthum nirgends aufheben
1. Hauptstück.
74
Erklärung Luthers zum zweiten Gebot.
wollen, wie die Quäker thun; vielmehr hat es geboten, jedermann die ihm zukommende Ehre zu geben (1 Petri 2,17 f.). Aber in Sachen
des Glaubens und Gewissens sollen wir keinen als Herrn und Mei
ster anerkennen, als den einigen, der es ist, Christus, niemanden Vater oder heiliger Vater nennen, als gehe das Heil von ihm aus, oder als vermittle er dasselbe, keinem eine unser Gewissen bestimmende Autorität einräumen, weder dem Papst
noch
den
Reformatoren
oder irgend einer andern noch so hervorragenden Persönlichkeit, ge schweige dem einzelnen Geistlichen als solchen.
Das ist das Große
an den Reformatoren, daß sie, Luther voran, wenn man ihnen nur
wirklich folgt, uns immer wieder in's Freie von sich fort zu Christo
führen.
Darin wird sie der rechte evangelische Prediger und Seel
sorger zum Vorbild nehmen. V. 13.
Inwiefern schließen die Pharisäer und, die ihnen ähn
lich sind, das Himmelreich zu?
In mancherlei Weise!
Indem sie
den Leuten den Weg zum Himmel so schwer machen, daß die Men schen den Muth verlieren, ihn zu betreten; indem sie durch ihre
Anmaßung, ihren Hochmuth, ihre Frömmelei Abneigung und Vor-
urtheil gegen die von ihnen vertretene Sache erwecken; indem sie jede geistige Regung unterdrücken und diejenigen verfolgen, welche
sich nach einer geistigen Regung sehnen; indem sie verketzern und in
den Bann thun alle und alles, wer und was sich nicht an sie an schließt u. s. f.
Vers 14 richtet sich gegen die fromme Erbschleicherei und son stige
Ausbeutung
des
Volks,
namentlich
der frommen Armuth
zu selbstsüchtigen Zwecken unter allerlei scheinheiligen Vorwänden.
„Darum werdet ihr desto mehr Verdammniß empfangen," nämlich
erstens wegen dieser Ausbeutung, sodann, weil ihr „Gebete vorwendet", die Frömmigkeit als Schlüssel zu den Sparpfennigen der Armuth
braucht. — Nebenbei liegt hierin auch eine Warnung gegen die
Weise, in welcher man auch sonst wohl, gar nicht in Heuchelei und in Selbstsucht, sondern in der lautersten Absicht und zu den besten
Zwecken die Leute förmlich ausbeutelt. — Das ist dann nicht Schein heiligkeit, aber es ist unweise und verstößt gegen die Regel, welche der Apostel Paulus hinsichtlich der „einfältigen Steuer", welche er bei den griechischen Gemeinden zum Besten der verarmten Gemeinde
Bilgen und Trügen im Namen Gottes (Proselytenmacherei). zu Jerusalem sammelte, aufgestellt hat.
„Denn wenn die Geneigt
so ist sie, je nachdem sie vermag,
heit vorhanden ist,
nicht, nachdem sie nicht vermag.
75
angenehm,
Denn nicht sollen andere Ruhe,
und ihr Trübsal haben, sondern es soll Gleichheit stattfinden" (2 Kor.
8, 12. 13).
Freilich ist es Pflicht, nicht
immer bloß die Reichen,
sondern auch die minder Begüterten in die Gemeinschaft großer und
guter Werke zu ziehen und sie dadurch der Freude und der geistigen Erhebung theilhaftig zu machen, welche die opferwillige Theilnahme
an vaterländischen, kirchlichen oder allgemein menschheitlichen Ange legenheiten gewährt.
Aber jeglich Ding hat sein Maß.
Das rechte
Maß in diesen Dingen wird derjenige finden, welcher in gleich auf richtiger Liebe die einzelne Persönlichkeit, wie das Große und Ganze
und die dasselbe beherrschenden Gedanken, auf dem Herzen trägt. V. 15.
Das Wehe über die Proselytenmacherei der Pharisäer.
Aber was ist Proselytenmacherei?
Sind nicht auch die Apostel in
alle Welt gegangen und haben die Leute zu Jüngern gemacht? Ist
es nicht Pflicht, die Wahrheit auszubreiten?
War das Judenthnm
nicht, gegen das Heidenthum gehalten, Wahrheit?
Bildeten nicht
die in allen irgend bedeutenden Orten vorhandenen jüdischen Ge
meinden mit den Kreisen von „Gottesfürchtigen aus den Heiden", welche sich an dieselben anschlossen, — bildeten sie nicht, so zu sagen, die Etappen auf der Heerstraße, auf welcher das Christenthum in
die Welt einzog, die Burgen und Ruhepunkte, von denen aus es seine Eroberungen in der Welt machte? Herr das Wehe?
Ueber die Unruhe,
Worüber also spricht der
dje Hast,
den ungezügelten
Eifer, welche die Pharisäer bei ihren Versuchen, die Heiden zu be kehren, an den Tag legten?
So ist das allerdings in der Weise,
wie sich der Herr ausdrückt, angedeutet: es begründet jedoch für sich
allein jenes Wehe nicht!
Oder, daß sie sich unsittlicher Mittel be
dienten, etwa, wie das noch heute geschieht, mit dem goldenen Netze
fischten?
So steht das nicht da!
gegeben wird, ist allein dies:
Was als Grund des Wehes an
daß die Pharisäer, wenn sie einen
Judengenossen gemacht hatten, aus ihm ein Kind der Hölle machten, zwiefältig mehr, denn sie selbst seien!
Worin ist das begründet?
Da haben wir daran zu denken, daß die Pharisäer, einst die Träger des sich aufraffenden Judenthums,
mehr und mehr zu einer eng-
76
1. Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
herzigen, allein das Ihre suchenden Partei geworden waren, auch die Bekehrung der Heiden nur zu Parteizwecken und Parteivortheil be
trieben, die sich nicht begnügten, die Heiden zur reineren Gottes erkenntniß zu führen, sie zu Gottesfürchtigen zu machen, sondern
Pharisäer — Parteigenossen — gewinnen wollten, und darum ihren
„Verkehrten", je eifriger sie waren, alle ihre Parteilaster einimpften. Das ist überhaupt auch heute der entscheidende Unterschied zwischen
der pflichtmäßigen Ausbreitung der Wahrheit und der von Gott verdammten, von aller Welt getadelten und dennoch von viel meh reren, als es selbst wissen, geübten Proselytenmacherei.
Die Wahr
heit in pflichtmäßiger Weise breitet derjenige aus, welcher sich be gnügt, sie an und in die Leute zu bringen, dann aber jedem über
läßt, wie er sie sich aneignet und ihr in gewissenhafter Weise dient,
gleichviel, ob das seine, des Lehrers besondere Weise sei und in
seinem engeren Kreise geschehe oder nicht.
Wer dagegen für seine
Kirche, seinen Kreis, seine Genossenschaft wirbt, der ist — Pro
testant oder Katholik oder, was er sonst sei — auf dem Abwege zur Proselytenmacherei und in Gefahr, mit ihren Auswüchsen auch
ihrem Wehe anheimzufallen.
Bei den Katholiken ist selbst der mil
deste, wenn er sonst eifriger Katholik ist, dieser Gefahr ausgesetzt, weil er nur seine Kirche als Kirche und außer ihr kein Heil aner
kennt.
Dem Protestanten dagegen, der weit über seine, ja über alle
Kirchen hinaus Möglichkeit des Heils vorhanden weiß, wo nur der
Name des Herrn angerufen wird '), dem kann es nie einfallen, Jagd
auf die Seelen zu machen und Griechen oder Römer einzuladen,
daß sie ihre Kirche mit seiner kirchlichen Gemeinschaft, geschweige mit einer seiner Sonderkirchen vertauschen. Er läßt sein Licht leuchten vor den Leuten und freut sich, wenn dasselbe zündet.
Aber er ist
zufrieden, ja er fordert, daß die zur evangelischen Erkenntniß Ge
kommenen ihre nun gewonnene Erkenntniß zunächst in dem Schoße ihrer eigenen Gemeinschaft verwerthen; und, wenn sie erklären, das
nicht zu vermögen und auch sonst keine andere kirchliche Gemeinschaft zu finden, in der sie ihrer Ueberzeugung leben können — da erst
öffnet er ihnen seine Gemeinschaft. ’) Röm. 10, 11-13.
Philipp. 1, 18.
Wo er anders handelt, wo er, Mark. 9, 38-40.
Lügen und Trügen im Namen Gottes (Proselytenmacherei).
77
statt die Leute zu Gott und Christus und zu ihnen selbst zu führen, sie in sich selbst fest und gewissenhaft zu machen, darauf ausgeht,
sich auszubreiten, seine Gemeinde zu mehren, da macht er sich ebenso der Proselytenmacherei schuldig, wie der Katholizismus, wenn er es auch nicht so fanatisch und mit den unlautern Mitteln thut, wie man
es jenem vorwirst'). V. 16—22.
Dieser Abschnitt bringt die bereits besprochenen
Auslassungen des Herrn über die Blindheit und die Ruchlosigkeit, welche die Pharisäer in ihren Unterscheidungen hinsichtlich des Eides
bewiesen. — Die Frage ist nur: wie war es möglich, daß die ur sprünglich ernsten und Gott fürchtenden Pharisäer bis zu dieser Tiefe
sanken? Ich zweifle nicht, der Weg dazu war der „Zaun um das Gesetz", — die Aengstlichkeit, mit der man, um den Schwur bei dem Namen Gottes zu schützen, andere, diesen Namen mehr oder minder verhüllende, Schwüre um denselben stellte.
Es konnte ja nicht fehlen,
daß man das Umzäunende für minder heilig hielt, als das Um zäunte.
Damit war jeder Verderbniß der Sache Thor und Thür
geöffnet. V. 23.
„Minze, Till (Anis), Kümmel", die kleinsten Gartenge
wächse, wobei die Zehntpflichtigkeit streitig war.
Im Gesetz über die
Zehnten (5 Mos. 14, 22 f.; 3 Mos. 27, 30) ist von ihnen nicht die Rede.
— Dieser Ausspruch malt die Kleinigkeitskrämerei des Pharisäismus, wie der gesetzesfromme Pharisäer sich nicht begnügt, die Säcke voll
Getreide u. s. w., auf die es ankam, abzuliefern, sondern, wie er da
nach
mit demüthiger, frommer oder auch selbstbewußter Miene in
!) Siehe die bereits angeführte Erzählung Mark. 9, 38—40, welche deutlich beweist, daß der Herr selbst den von ihm Angefaßten Freiheit gelassen haben wollte, ob sie sich dem Kreise seiner engeren Jüngerschaft anschließen wollten oder nicht, und anerkennt, daß sie auch in dem letzteren Falle „in seinem Namen" Teufel austreiben und für seine Sache wirksam sein könnten. Das ärgste Beispiel protestantischer Proselytenmacherei bietet das Verfahren der „Lutheraner" in Ostindien dar, welche mit einer Exklusivität ohne gleichen nicht nur ihre Kirche als die allein vollkommene darstellen und demgemäß darauf ausgehen, die Heiden just zu „Luthe ranern" zu machen, sondern, die auch so weit fortschreiten, von andern evangelischen Missionen bekehrte Heiden diesen abspenstig zu machen und in ihre Gemeinde auf zunehmen. Das unterscheidet sich doch fürwahr wenig von dem Verfahren der katholischen Missionare in Tahiti (cf. Basler Missions-Magazin 1868. Arbeiter in der Tahiti-Mission. Gräuel).
1. Hauptstück.
78
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
den Busen greift und die Düte Kümmel und die Prise Anis und
das Büschel Minze hervorholt, nach denen niemand verlangt.
Und
mochte das sein: aber über das alles vergaß er die Hauptsache, „das
Gericht und die Barmherzigkeit und die Treue".
wurf erhebt noch stärker V. 24.
um
nicht etwa Mücken
und
Denselben Vor
Man seihete (siebte) den Wein durch, andere
unreine Thiere mitzutrinken,
Kamele dagegen verschluckte man, d. i. wahrend man im Kleinlichen, ja Nichtigen die äußerste Peinlichkeit bekundete, machte man sich kein
Gewissen daraus, die ungeheuersten, unglaublichsten Versündigungen zu begehen.
Beispiel: das Verhalten der Juden bei dem Tode Christi
Joh. 18, 28: den Fuß in das Haus des Pilatus zu setzen, tragen
sie Bedenken, auf daß sie nicht unrein würden; dagegen in dem Morde, den sie an einem Schuldlosen begehen, finden
sie kein Hinderniß,
Passa zu essen. V. 25.
Es versteht sich ja von selbst, daß die Pharisäer Becher
und Schüsseln auf beiden Seiten „auswendig und inwendig" polirten. Nur begnügten sie sich eben mit den Gefäßen, ohne daran zu denken, was in denselben war, „Raub", und, wer an sie herantrat: „ein
Unmäßiger, ein Fresser".
V. 27. „Die Gräber" mußten am Schluffe
jedes Jahres geweißt werden, damit man sie erkannte und sich nicht an ihnen verunreinigte (4 Mos. 19, 16 s.).
V. 29. Die vorgege
bene Verehrung für die verstorbenen Propheten, während man die
lebenden verachtete und verfolgte.
Gerade, wie die Strenggläubigen
jetzt Luther und seine Gefährten nicht hoch genug erheben können; dagegen, wenn heute jemand ihm nach „dem Papste an die Krone
und den Mönchen an die Bäuche greift" (Worte des Erasmus über
Luther),
denselben
als ungläubigen Frevler verdammen.
V. 35.
„Auf daß über euch komme all' das gerechte Blut — von dem Blut an des gerechten Abel bis auf's Blut Sacharja's."
Gemeint ist
nicht Sacharja, der Sohn des Berechja, Sach. 1,1, von dessen Er mordung wir nichts wissen, sondern der Sacharja, dessen die Chro niken — in der ebräischen Bibel das letzte Buch — gedenken ').
’) 2 Chron. 24, 20. 21.
„Und der Geist Gottes zog an Sacharja, den Sohn
Zojada's, des Priesters — und steinigten ihn." — „Berechja's Sohn" bei Matth,
ist offenbar spätere Einschiebung, die Lnk. 11, 51 nicht hat.
Lügen und Trügen im Namen Gottes (Heuchelei).
79
Der Sinn also ist: über dieses heuchlerische, propheteilmörderische Ge
schlecht soll all' das vergossene Blut der Gerechten kommen, dessen die Schrift von ihrem
ersten bis zu
ihrem letzten Buche gedenkt!
Eine furchtbare Drohung, noch dadurch verschärft, daß sie gerade von
dem kam, dem, als er sie aussprach, das Herz brach (V. 37): Jeru salem u. s. w.
Wir wissen, in welcher Weise das in Erfüllung ge
gangen ist. Resultat: Heucheln, Lugen und Trügen beim Namen Gottes ist ein so furchtbares Ding, daß wir uns zehnfach besinnen und, wo es irgend
möglich ist, lieber alles andre werden annehmen müssen, ehe wir jeman den dieses Verwerflichsten anklagen.
Andrerseits ist, wie das Beispiel
der Pharisäer zeigt, auch eine ursprünglich ernst gemeinte Frömmigkeit
nicht vor Entartung sicher, und schließt sich leichter, als man es denkt, Unwahrhaftigkeit — zunächst eine unbewußte, danach aber auch bewußte — an sie an.
Am ehesten wird das geschehen, wo in einem Kreise
die Frömmigkeit noch etwas gilt (wo das nicht der Fall ist, wird keiner auf den Gedanken kommen, die Maske der Frömmigkeit vor zunehmen), andrerseits das Leben der rechten Innerlichkeit und Frische
ermangelt, und die Richtung auf das Traditionelle, Aeußerliche und Einzelne, Worte und Geberden vorwaltet.
Da gilt es doppelt wachen,
daß sich nichts Unwahrhaftes in uns einschleiche; der Weg dazu, uns die heilige Ehrfnrcht vor Gott und dem heiligen Geiste in uns') zu bewah
ren, ist, daß wir nie aufnehmen, nie, auch aus Liebe nicht, mitmachen oder darstellen, was nicht unser eigenstes, innerstes Leben ist.
Zwar
haben wir, wie Paulus, die Pflicht, den Juden ein Jude, den Schwachen ein Schwacher, jedermann allerlei zu werden, aus daß wir allenthalben
ja etliche selig machen (1 Kor. 9, 19—23); das heißt aber nicht mit
den Leuten heucheln, sondern es heißt: liebevoll in jedes Bedürfnisse und Weise eingehen, sich in seine Art versenken und sie zu verstehen
und uns ihr verständlich zu machen suchen, zeigen, daß man trotz dieser abweichenden Art sie achtet und anerkennt, selber auch unge achtet unserer andren Art und Weise dasselbe, nämlich das Evan gelium suchen will; dabei aber eben unsre Art in keiner Weise ver
hehlen, sondern sie ebenso darstellen, daß sie von dem andern Theile
T) Eph. 4, 30.
Betrübet nicht den heiligen Geist Gottes.
80
1- Hauptstück.
Luthers Erklärung zum zweiten Gebot.
verstanden werden kann.
Drittes Gebot.
Wo das geschieht: da sind wir wahrhaft; wo
wir dagegen diese Unterschiede, auch wo wir um der Wahrhaftigkeit willen Grund haben, sie herauszustellen, verbergen und die Leute
zu der Meinung verleiten, wir wären, wie sie: da lieben wir nicht, sondern wir heucheln, wie einst selbst ein Petrus und Barnabas that
„aus Furcht vor den Juden".
Wohl dem, welchem in solchen Fällen
der strenge Mahner nicht fehlt, als welcher sich damals Paulus be
wies (Gal. 2,11—14).
Anmerkung.
Ueber die zweite Hälfte der Erklärung Luthers
„sondern den Namen Gottes in allen Nöthen anrufen, beten, loben nnd danken", hat Eltester keine Aufzeichnungen hinterlassen, doch findet sich das hierher Gehörige der Sache nach in der Behandlung
des Gebetes im 3. Hauptstück.
Das dritte Gebot.
Es giebt nicht leicht etwas, was größere Wichtigkeit für das leibliche und geistige Wohl des einzelnen, wie der Völker hätte, als das
richtige Verständniß und die rechte Handhabung dieses Gebots. beidem fehlt es noch auf kaum zu fassende Weise-
An
Auf der einen Seite
die mehr als jüdische Strenge mit ihren pharisäischen Uebertreibungen,
welche vielfach den Tag der Erquickung zu einem Qualtag macht, aus der andern eineVernachlässigung, Nichtachtung undVerlüderung, welche deutlich zeigen, daß vielen unsrer Zeitgenossen selbst die ersten Ele
mente des Verständniffes von dieser Einrichtung abhanden gekommen sind, und daß selbst ernstere Menschen keine Ahnung haben, um welche Fülle von leiblicher und geistiger Stärkung und ächt menschlicher
Erfrischung und Erhebung sie sich und andere bringen, indem sie
sich und anderen den religiös geweihten Ruhetag
nehmen.
Der
Grund zu diesen sich gegenseitig fördernden Verirrungen liegt außer
in demjenigen, worin schließlich alle Abirrungen aus religiösem Ge biete wurzeln, der geistigen Stumpfheit, der Richtung auf das Aeußer-
liche, dem Sichverlieren in sinnliche Lust, vornehmlich in der Weise,
Jüdische und christliche Auffassung des Feiertags.
81
wie man das Gebot der Sabbathheiligung noch heut, wo nicht aus
schließlich, so doch überwiegend von dem gesetzlichen Standpunkt des alten Testaments ans in's Auge faßt, die evangelische Anschauung
dagegen, in welcher das Gesetz seine Vollendung finden soll, ent weder gar nicht oder nur so nebenbei, gewissermaßen als Ausnahme zur Geltung zu bringen und wieder nur als Gesetz zu behandeln weiß.
Damit ist nothwendig gesetzt, wenn man das Gesetz festhält:
das Schroffe, Starre, Rigoristische, welches wir in England, Schott land, Nordamerika in der christlichen Sonntagsfeier finden; wo man
dagegen von der Ausnahme vom Gesetz ausgeht, das letztere also
nicht mehr als unbedingt verpflichtend ansieht: das Nachlasfende, Lüderliche, Laxe in seinen verschiedenen Abstufungen, das auch nicht besser, ja hinsichtlich seiner Wirkungen auf das Volksleben im Großen
sogar heilloser ist, als jenes: während die rechte gottgewollte Sabbath
feier mit ihren beseligenden Wirkungen weder bei diesem noch bei jenem gefunden wird.
Da gilt es nicht bloß Jüdisches und Christ
liches, Gesetz und Evangelium unterscheiden, sondern auch das letztere,
das Christliche, als das allein und unbedingt entscheidende voran stellen, vor dem sich jenes auszuweisen, beziehungsweise zu weichen
hat.
Dann erst dürfen wir hoffen, zu einem rechten Verständniß
der Sache zu gelangen und auch das Alte Testament mit seinen
vorbereitenden, das Höhere weissagenden Zügen und in seiner rela tiven Berechtigung zu begreifen und einzusehen, ob und wiefern ihm
eine solche noch heute zukommt. Mit seinen Heilungen am Sabbath, wie mit seinen Aeußerungen über denselben gelegentlich dieser Heilungen (Matth. 12,1—8, 9—13; Luk. 13, 15 f.; 14, 1 f.; Joh. 5, 1 f.) hat der Herr Christus mit
nichten nur einzelne Ausnahmen von dem übrigens unverbrüchlichen Sabbathgesetze hinstellen und auch uns nur die Erlaubniß zu ähn
lichen Ausnahmen — den sogenannten Werken der Noth und der Liebe — ertheilen wollen, sondern er hat damit überhaupt das Sabbathgebot auf eine höhere Stufe gehoben und dem Menschen,
dem einzelnen, wie der Gemeinschaft, eine andere Stellung zu ihm
gegeben.
„Der Mensch ist nicht des Sabbaths wegen, sondern der
Sabbath ist des Menschen wegen da."
„Darum ist des Menschen
Sohn ein Herr auch des Sabbaths" — d. i. der Sabbath ist nicht ©Hefter, Materialien.
2. Auflage.
6
1. Hauptstück.
82
Drittes Gebot.'
Selbstzweck, dem der Mensch zu dienen und sich mit allem an ihm
und um ihn knechtisch zu unterwerfe« habe: sondern umgekehrt, er soll dem Menschen dienen. Er ist Mittel; Zweck aber ist der Mensch,
Beförderung seines Wohls, seiner Würde, die Entfaltung wahrhaf tigen Menschenthums.
In diesem Sinne soll er geordnet und ge
handhabt werden, und des Menschen Sohn, d. i. zunächst Christus,
weiter die Gemeinde Christi, aber auch der einzelne ächte Mensch
haben je in ihrem Wirkungskreise das Recht, ihn also zu ordnen und zu gebrauchen.
Was den Menschen erquickt, was die Seele über den
Schmutz, die Roth, das Elend, die Sorge des Lebens erhebt, was Friede schafft in das Herz, Freude in Stadt und Land: das alles ist
nicht bloß erlaubt und darf ausnahmsweise zugelasfen werden, sondern es ist Pflicht.
Ist es Ruhe: Ruhe; ist es Beschäftigung: Beschäf
tigung; ist es Arbeit: Arbeit; es ist Kampf: Kampf.
Wie letzteres
schon die Makkabäer erkannten und, gewitzigt durch die Erfahrung, da sie sahen, wie die Syrer die Juden, denen sie abgemerkt, daß sie am
Sabbath sich nicht wehrten, nun immer gerade am Sabbath überfielen
und wie Schlachtschafe abschlachteten, endlich bei sich sestsetzten: „nein,
angreifen wollen wir am Sabbath nicht; aber, wenn wir angegriffen werden, wollen wir fechten" (1 Makkabäer 2, 31 —41); was freilich
auch nur ein halbes Ding war und nicht hinderte, daß sie schließlich doch wieder in die ganze Knechtschaft unter der Satzung geriethen.
Außer den Aeußerungen und dem Beispiel Christi enthält das neue Testament noch andere — wenige, aber entscheidende Andeutungen der christlichen Anschauung vom Sabbath.
Die ältesten Christen,
die Urgemeinde in Jerusalem und dem jüdischen Lande, beobachteten selbstverständlich noch den jüdischen Sabbath, der ja Landesgesetz war.
Ebenso werden die außerpalästinensischen Gemeinden, so viele sich im Anschluß an die Synagoge aus den jüdischen Proselyten (den Gottes fürchtigen aus den Heiden) gebildet hatten, zunächst wohl sortgefahren
haben, ihr relgiöses Bedürfniß am Sabbath zu befriedigen (Apostelgesch. 13, 14 u. 44; vergl. 16, 12 s.).
Je mehrere Heiden jedoch über
traten, um so mehr löste sich die Gemeinde von der Gebundenheit an den Sabbath und ordnete in freierer Weise ihren gottesdienst
lichen Tag, wie das Röm. 14, 5 f., Kol. 2, 16. 17, besonders aber
Gal. 4, 9—11 beweisen.
Namentlich die letzte Stelle zeigt deutlich,
Jüdische und christliche Auffassung des Feiertags.
83
daß der jüdische Sabbath als solcher dem Christenthum fremd ist. Von der Zerstörung Jerusalems ab kam mehr und mehr auch bei
den palästinensischen Christen
Wochentags,
die gottesdienstliche Feier des ersten
des Sonntags, von
der sich möglicherweise schon int
Neuen Testamente Spuren zeigen'), als des Tages, an welchem der
Herr auferstanden, in ausschließlichen Gebrauch, und haben seit der
Zeit nur einige querköpfige Sekten Ansatz gemacht, die Feier des 7.
Tages wieder in die Kirche einzuführen.
Mit
der Verschiedenheit
des Tages wird selbstverständlich auch die Verschiedenheit der Weise,
die freiere Stellung
zu dem
gottesdienstlichen Tage, entschieden?),
und ist neue Verdunklung in dieser Beziehung erst eingetreten, als man überhaupt begann, Christliches mit Heidnischem und Jüdischem
zu vermischen und zu verwechseln.
Die Reformation hat auch
in
dieser Hinsicht die Urgedanken des Evangeliums wieder an das Licht
gebracht, obwohl nach
dem vorher Bemerkten allerdings noch viel
fehlt, daß sie schon überall in der Kirche durchgedrungen sind.
Wir
führen einige dahin gehörige Aussprüche Luthers und Calvins an.
Luther sagt in seinem großen Katechismus: „Den Feiertag heiligen
ist nichts anderes, als heilige Worte, Werke und Leben führen." Desgleichen kurz vorher: „Man soll am Sonntage Raum und Zeit
nehmen, des Gottesdienstes zu warten. — Solches ist aber nicht also an Zeit gebunden, wie bei den Inden, daß es eben dieser oder jener
Tag sein müsse, denn es ist keiner an sich besser, als der andere. — Weil aber von Alters her der Sonntag dazu gestellt ist, so soll man
es auch dabei bleiben lassen." Feiertag sei dazu
Endlich an einem andern Orte:
„Der
da, daß wir an ihm lernen, alle Tage unsres
Lebens von unsren bösen Werken feiern, den Herrn durch seinen Geist in uns wirken lassen und also den ewigen Sabbath in diesem Leben
anfangen."
Desgl. Calvin (in seinem Katechismus): Wir sollen von
’) 1 Kor. 16, 2. „Auf je der Sabbather einen", d. h. nach dem Urtext: „eins jeden erstell Wochentag." Bergl. Matth. 28, 1; Mark. 16, 1 u. 2 f.; Luk. 24, 1; Joh. 20. 1.
2) Jnstinus, ein im Anfang des 2. Jahrhunderts in Palästina lebender Christ, sagt vortrefflich: Das neue Gesetz will, das; ihr immer Sabbath halten sollt. — Wenn unter euch ein Meineidiger und Dieb ist, so höre er auf, wenn ein Ehe brecher, so thue er Butze, dann feiert er den lieblichen und wahrhaftigen Sabbath des Herrn.
1. Hauptstück.
84
Drittes Gebot.
unseren eigenen Werken abftehen und ruhen, unsrer Natur und den
Lüsten absagen und uns ganz und gar in den Willen Gottes und die Regierung seines Geistes ergeben, damit er sein Werk in uns habe,
und zwar soll dies nicht nur an einem Tage, sondern beständig geschehen; wiewohl diese geistige Ruhe in diesem Leben nur anfängt
und nicht eher vollkommen wird, bis wir von dieser Welt scheiden. Der christliche Sonntag ist etwas Anderes und Höheres, als der
jüdische Sabbath; aber er ist nicht ein schlechthin Neues.
Er ist die
Erfüllung des in der alttestamentlichen Einrichtung geweissagten, die Erlösung der in der starren Hülle des Gesetzes gebundenen geistigen Elemente: und diese Elemente sollen und können in frommer Weise in ihn hinübergehen. Das Gebot der Sabbathruhe ist 2 Mos. 20, 9—11 angeschlossen
an die Schöpferruhe Gottes nach dem sechsten Tagewerk: „sechs Tage sollst du arbeiten u. s. w."
Es versteht sich wohl von selbst, daß
selbst der alte Gesetzgeber sich nicht gedacht habe, daß der allmächtige
Gott von der Arbeit des Schaffens ermüdet worden sei und sich habe hinsetzen und ausruhen müssen.
Nicht allein unser Herr Christus
spricht: „Mein Vater wirket bis hierher" (Joh. 5,17), sondern auch im 121. Psalm (v. 4) heißt es bereits:
und schlummert nicht."
„Der Hüter Israels schläft
Sondern, was mit diesem kindlichen Aus
druck bezeichnet werden soll, ist die selige Befriedigung, welche Gott in seinem Schaffen und in seinen Schöpfungen gefunden.
Der Sinn
ist dann: Wie Gott in seinem Wirken befriedigt sei, so wolle er in
seiner unendlichen Güte, daß auch der Mensch sein Werk auf Erden nicht, wie ein Frohner, mit Seufzen, sondern mit Freuden verrichte. Darum hat er ihm, der allerdings von der Arbeit müde wird, nach
6 arbeitsvollen Tagen den 7. als einen Ruhetag verordnet, an dem
er alle Last und Sorge des Berufs möglichst von sich schüttle und sich erquicke.
Also der Sabbath zu freudigem, des Menschen wür
digem Dasein und Wirken. — Noch 5 Mos. 5,12—15 gegeben.
eine
andere Anknüpfung ist
Nachdem nämlich auch dort geboten ist,
daß der Mensch („du") nicht allein selbst am Sabbath ruhe, sondern gleiche Ruhe auch seinen Hausgenossen, seinem Gesinde, seinem Vieh, bis auf den Fremdling, der in seinen Thoren sei, gönnen solle, „auf
daß dein Knecht und deine Magd ruhe, gleich wie du," heißt es:
Segen der Sonntagsruhe.
85
„Denn du sollst gedenken, daß du auch Kuecht in Aegyptenland
wärest, und der Herr, dein Gott, dich von dannen ausgeführet hat mit einer mächtigen Hand und ausgestrecktem Arm. Darum hat dir der Herr, dein Gott, geboten, daß du den Sabbathtag halten
sollst."
Also die Anordnung des Sabbaths trotz der eisernen Strenge,
mit welcher derselbe aufrecht erhalten wurdeein Ausfluß erbar
mender Liebe und Fürsorge namentlich für die Armen und Gedrückten im Volk, welche in dieser Weise gegen die Härte der Mächtigen und Gebietenden geschützt, in die Gemeinschaft des Hauses gezogen und
zur Freudigkeit des Daseins erhoben werden sollten. — Und in hohem Grade ist dieser Zweck erreicht worden. Ob wohl das jüdische Volk, unterdrückt, gehetzt und zertreten, wie kein anderes, die Last dieses Elends ertragen und sich trotz derselben die geistige Schärfe
und Frische bewahrt haben würde, durch welche es sich auszeichnet, ob es den festen Zusammenhang, den starken Familiensinn, wie das
Erbarmen entwickelt hätte, mit dem es, uns Christen zum beschä menden Muster, sich seiner Geringen annimmt, ohne die Treue, mit
der es in allem Elende und unter allen Verfolgungen im Verbor genen feinen Sabbath gehalten? Das sind Elemente, welche der christlichen Sonntagsfeier nicht verloren gehen dürfen. Nicht bloß die Juden, wir auch, wir alle bedürfen nach den Mühsalen der Woche zunächst der Ruhe des Feiertags. Zwar
unterbrechen wir täglich mehrfach unsere Arbeit und können gar nicht
anders.
Ob aber diese kürzeren Pausen, in denen wir die Arbeit
nur halb aus der Hand legen, oft kaum den Schmutz derselben von uns abwischen, ob sie auf die Dauer genügen, uns die verlorenen Kräfte zu ersetzen? Wer das meint, hat schwerlich jemals in seinem Leben das Gebot erfüllt: — sechs Tage sollst dn arbeiten und alle
deine Dinge beschicken.
Er würde sonst anders urtheilen.
Schon
der Körper erträgt eine stete, nur durch knappe Pausen unterbrochene,
anstrengende Arbeit nicht, sondern verlangt ausgiebige Ruhe.
Man sehe nur unsere schwer arbeitenden Klassen, wie sie trotz der Sonntagsruhe, die ihnen meistens noch erhalten ist, so frühzeitig
altern und vor der Zeit stumpf und schwerfällig an ihrem Leibe ’) 4 Mvs. 15, 32—36 wird ein Manu gesteinigt, weil er am Sabbath Holz gelesen hatte.
1. HalPtstück.
86
Drittes Gebot.
werden! Was würde geschehen, wenn man sie Tag für Tag frohnen
ließe?
Vollends, wo bliebe die geistige Frische, die Lust an der Schon jetzt klagt mancher und zwar nicht bloß mancher
Arbeit?
mit der Hand, sondern auch mit dem Kopf Arbeitende, daß er ar
beiten müsse, wie ein „Vieh".
Ist damit gemeint, daß er übermäßig
arbeiten muß? Mitunter, aber keineswegs immer; denn das „Vieh"
muß selten übermäßig arbeiten, sondern wird, meistens schon aus Eigennutz, oft sogar mehr geschont, als der Mensch.
Sondern, was
mit jener Rede gemeint ist, ist, daß der Klagende nicht Raum und
Zeit finde, auf eine menschenwürdige Weise zu arbeiten, sich auf sich selbst, auf die Welt um ihn her und auf Gott zu besinnen, des Zu sammenhangs seiner Arbeit und der Bedeutung, die sie für das Ganze
hat, inne zu werden, sie dadurch geistig zu adeln und sich ihrer zu freuen.
„Das ist's ja, was den Menschen zieret, und dazu ward
ihm der Verstand, daß er im innern Herzen spüret, was er erschafft
mit seiner Hand."
Wo der Mensch das nicht vermag, was ist an
seinem mühseligen kleinlichen, oft so geisttödtenden Tagewerke — ich ineine damit garnicht bloß das Werk, welches der Mensch auf
dem Acker und in der Werkstatt und der Küche, sondern auch, was er in den höchsten Lebensstellungen zu vollbringen hat — was ist
das ihn befriedigen könnte? Der Lohn? Guter Gott! Der Lohn, der in tausend Fällen kaum ausreicht, dem Menschen das
an dieser,
Leben zu fristen, der aber auch, wo er auf das reichlichste bemessen
ist, die Seele nicht satt macht und, wo dennoch ein Mensch in ihm ausruhte, diesen Menschen, und wenn er ein Fürst wäre, unter den
Frohnknecht und Tagelöhner erniedrigt! Wehe dem einzelnen, und noch mehr, wehe dem Volke, in welchem es dahin gekommen, daß die Leute nichts kennen, als — wie das bezeichnende Wort lautet, „büffeln", und dann der eine so, der andere anders, der eine im rohen Genusse, der andere in allem Raffinement des Lebens sich
füttern!
Da muß aller Sinn für das Höhere und Edlere schwinden,
Stumpfheit, Unsittlichkeit und immer weiter greifender Unfriede ein
treten. Davor den Menschen und die Völker zu bewahren, ist uns die
Ruhe des Sonntags geordnet; die ausgiebige Ruhe eines ganzen
Tages, an welchem wir uns möglichst aller Last und aller Sorge
Segen der Sonntagsruhe.
87
unseres täglichen Berufes entschlagen, den Staub der Werkstatt, wie
der Akten, von uns schütteln und leiblich und geistig eine Brust voll
frischer Luft athmen; an dem wir in der Betrachtung
der Dinge
um uns und über uns uns über das Kleinliche und Beschränkte unseres täglichen Treibens zu einem freieren Umblick erheben, das scheinbar Geringe würdigen, das für wichtig Gehaltene auf seinen wahren Werth zurückführen lernen; an dem wir . uns auf unseren himmlischen Beruf, auf Gott besinnen und in der Erinnerung daran,
daß er es ist, der uns aus die Stelle gestellt, die wir einnehmen, und uns das Loos beschieden, das uns zu Theil geworden, die Heiter
keit der Seele und die innere Befriedigung gewinnen, deren wir
uns selbst inmitten eines Drangsals, ja leidensvollen Lebens erfreuen können und sollen. In diesem Sinne sollen wir den Feiertag, gleichviel, welcher es sei — nur, daß er ein allgemeiner sei, weil nur, wenn gleichzeitig
alle ruhen, auch jeder einzelne zur vollen Ruhe gelangen kann — in diesem Sinne sollen wir ihn auch ohne zwingendes 'Gebot ge wissenhaft halten und zunächst uns die Ruhe gönnen und zu dem
Ende alle eigentliche Arbeit, soweit sie nicht zu der schlechthin un
entbehrlichen gehört, unbedingt unterlassen.
Denn allerdings giebt
cs Thätigkeiten, die nicht ausgesetzt werden können, die fortgesetzt
werden müssen. Wind und Wetter, Hunger und Durst und noch manches andere fragen nicht nach Alltag, nicht nach Feiertag. Der
Seemann muß auch am „Sabbath" auf Steuer und Segel achten, der Landmann „seinen Ochsen und seinen Esel von der Krippe lösen und zur Tränke führen" (Luk. 13, 15), der Soldat Posten stehen, der Gärtner seine Pflanzen begießen, damit nicht der Brand und die Dürre eines Tages die Hoffnung des ganzen Jahres vernichte,
und, was dgl. mehr ist.
Ebenso giebt es ja im Haushalte Geschäfte,
welche sortgehen müssen: das Haus säubern und die Speisen bereiten, da wir doch wahrlich nicht am Feiertage es werden unsauberer haben
wollen, als am Werkeltage, oder gar hungern und frieren.
Aber,
was ohne Schaden für die Nahrung und Nothdurft des Lebens, den Wohlstand, die Sicherheit, ohne Störung für das festliche Behagen ausgesetzt werden kann, das soll allerdings ausgesetzt werden, und
wir es nicht anrühren.
Nicht, als sollten wir nun, wie es einstmals
1. Haiiptstück.
88
Drittes Gebot.
die pharisäische Uebertreibung forderte, und noch heute die purita nische Sitte in England, Schottland und Amerika verlangt, außer
demjenigen, was
unmittelbar zum Gottesdienste gehört, garnichts
thun, unter anderm keine Gesellschaft besuchen, es sei denn ein Kon-
ventikel, kein Buch vornehmen, als ein Andachtsbuch, kein Lied singen
und keine Musik machen, als einen Psalm: das ist eine Thorheit und eine Qual. Sondern nur von dem eigentlichen Wochenwerke ist die Rede, das soll aus der Hand gelegt werden; im
übrigen
dürfen und sollen wir außer den religiösen Uebungen, an denen es kein lebendig Frommer, nicht am Werkeltag, geschweige am Sabbath tage, fehlen lassen wird, alle und jede erlaubte Beschäftigung vor nehmen, die zu unserer leiblichen und geistigen Erfrischung dient,
sofern sie nur keinen andern in seiner Ruhe stört, noch auch die allgemeine Ruhe in anstößiger Weise unterbricht.
Das wird für die
Verschiedenen je nach ihrem sonstigen Berufe, Lebensstellung und
Neigung ein sehr verschiedenes sein.
Dem, .der die ganze Woche
über den Büchern und dem Arbeitstische gebückt gesessen, wird es
z. B. eine Erquickung sein, wenn er sich des Sonntags im Freien
tüchtig ergeht, selbst Hand-, Garten- und Feldarbeit verrichtet und in solcher ihn erheiternden Beschäftigung seine Gedanken ausruht und das stockende Blut in Bewegung setzt.
Wieder, wer in der Woche
draußen des Tages Last und Hitze reichlich getragen oder sonst in vorwiegend leiblicher Arbeit Seele und Leib ermattet hat, dem wird's
Feiertagsbeschäftigung sein, wenn er, was jenem Arbeit wäre, ein Buch in die Hand nimmt und studiert.
Wer bis zur Ermüdung
mit den Menschen verkehrt hat, wird die Zurückgezogenheit, der Ein
same die Geselligkeit suchen, kurz jeder dasjenige frei und fröhlich
thun, was jedem frommt und ihn leiblich und geistig erfrischt und
ihm Freudigkeit zu seinem Beruf und Kraft für die neue Woche giebt; ohne daß einer den anderen richtet, noch ihm, wie er sich ver
halten solle, vorschreibt.
Denn so gewiß jeder auf seine Hand und
nach seiner Fa?on muß selig werden können, um so mehr muß er nach seiner Weise fröhlich sein dürfen, vorausgesetzt, daß diese mit
den Geboten Gottes, der Liebe zum Nächsten und der Ordnung über einstimmt.
Doch nicht bloß uns selbst sollen wir Ruhe gönnen, sondern,
Pflicht der Sonntagsruhe in christlicher Freiheit.
89
so viel in unsern Kräften steht, auch für die Ruhe anderer sorgen. Hier erwächst allen Herrschaften, Vorgesetzten und Gebietenden eine
heilige, nicht immer im Auge behaltene Pflicht.
Wie viel können
sie thun, durch weise Vertheilung der Arbeit ihren Untergebenen zu
der ihnen nöthigen Erholung zu helfen! wie leicht nehmen sie es oft, durch Aufträge, Wünsche, verkehrte Einrichtungen die Sonntagsruhe, deren jene sich sonst wohl erfreuen könnten, zu durchbrechen! Wie selten denken selbst christliche Gutsbesitzer daran, ihren Tagelöhnern,
wie es sich ziemt, in der Woche Frist zur Bestellung des ihnen zu
gewiesenen Ackers zu lassen und sie nicht durch ihre Weise, die Leute auszunutzen, zur Arbeit am Sonntage zu zwingen! Von dem Gräuel,
der in Werkstätten mit der Sonntagsarbeit an Gesellen und Lehr
burschen, gleichviel ob mit, ob ohne ihren Willen, geübt wird, gar nicht zu reden.
Wie oft hört man nicht bloß von harten Männern,
nein, von Hausfrauen Dienenden gegenüber die lieblose Rede, wozu
ein solcher Mensch auszugchen brauche, er solle daheim bleiben und
der Dinge warten, dazu man ihn brauche; das sei gescheidter! Als wenn der blaue Himmel und das grüne Feld und der Wald und,
was sonst die Welt an Erheiterndem und Erquickendem darbietet, als wenn der freundliche Verkehr mit seines Gleichen und die trauliche Unterhaltung, als wenn der Besuch des Gottesdienstes mit seiner
erhebenden Andacht nur für die Großen und Reichen und Mächtigen da wäre! Der Mensch kann sich recht versündigen und denkt nament
lich im Wohlstände und in der Macht selten so, wie er soll, an das Wort: „Ihr Herren, was recht und billig ist, das beweiset den Knech ten, und wisset, daß ihr auch einen Herrn im Himmel habt" (Kol. 4, l)1). Aber auch sonst haben wir in dieser Beziehung Pflichten zu er
füllen, daß wir ohne die dringendste Noth niemandes Sonntagsruhe durchbrechen, z. B. am Sonntage nicht einkaufen, was nicht eben
auch an ihm gekauft werden muß, noch sonst mit Geschäften einem nahen oder ihm in irgend welcher Weise lästig fallen.
Und wenn
es auch nur eine ganz kurze Zeit ist, daß wir ihn in Anspruch nehmen, und er selbst freundlich oder auch leichtlebig genug ist, uns
9 Bergt. 5 Akos. 5, 15. „Dn sollst gedenken, daß bn auch Knecht in Aegyptenland warst" n. s. w.
1. Hauptstück.
90
Drittes Gebot.
dieserhalb nicht zu zürnen, in allen Fällen haben wir uns einer Nücksichtslosigkeit schuldig gemacht, welche, wenn sie allgemein würde, jede Feiertagsruhe schließlich zu einer illusorischen machen würde.
Je häufiger die Neigung zu derartigen Rücksichtslosigkeiten auch
heute noch vorhanden ist, bald aus Unverstand, bald auch aus wirk licher Lieblosigkeit, um so weniger darf diese Angelegenheit dem guten Willen des einzelnen überlassen bleiben, sondern sind allgemeine gesetz
liche Ordnungen — Sonntagsgesetze — nöthig.
Dieselben stoßen
unter uns vielfach auf das Vorurtheil: als müßten mit ihnen noth wendig Eingriffe in die persönliche Freiheit, Frömmelei und Heu chelei verbunden sein.
Widerspruch
mit
den
Das kann nur von solchen gelten, welche in
entwickelten
Grundsätzen
entworfen wären.
Gute Sonntagsgesetze haben allein dafür zu sorgen, daß thunlichst
jedem die Möglichkeit der Sonntagsruhe gegeben sei, und hierin
schlechthin niemand den andern störe, sei es, daß er ihn zur Arbeit zwinge oder sonst wie in Mitleidenschaft ziehe und ihm den Sonn tag verderbe.
Ob und wie im übrigen die einzelnen diese Möglich
keit benutzen, darum hat sich das Gesetz nicht zu kümmern, sondern das dem Ermessen eines jeden zu überlassen. Wer das Eingriff in die Freiheit nennt, der versteht unter der Freiheit nicht die Freiheit
aller, sondern seine Willkür, seine Mitmenschen auszubeuten und mit ihnen zu schalten und zu walten, wie ihm beliebt.
Insbesondere hinsichtlich des Gottesdienstes hat das Gesetz na türlich zuerst den Gottesdienst selbst gegen jede muthwillige Störung
zu schützen, weiter aber möglichst zu sorgen, daß alle, die den Gottes dienst besuchen wollen, ihn auch wirklich müssen besuchen können;
dagegen nicht.
den Besuch des Gottesdienstes vorschreiben, das darf es Beichtzettel und Zeugniß über Anwesenheit in der Kirche
haben in der evangelischen Kirche keinen Raum, so wenig, als Dragonaden, mit welchen sie übrigens gleichen Werth haben.
Endlich
wird das Gesetz auch noch den öffentlichen Anstand zu schützen und allem zu wehren haben, was in dieser Beziehung das allgemeine Gefühl gröblich verletzt.
Nur, daß es wirklich der öffentliche An
stand und das allgemeine Gefühl sei, was es in Schutz nimmt, und nicht etwa überzartes und verkehrtes Empfinden einzelner Men
schen und Kreise, die außer sich gerathen, wenn z. B. ein Bauern-
Sonntagsgesetze.
91
bursch am Sonntag in der Schenke juchzt oder sich sonst nicht gerade konventikelmäßig beträgt.
Ein weiser Gesetzgeber wird, wie überhaupt
gegen Volkslustbarkeiten am Sonntage, so auch gegen minder edle — vorausgesetzt, daß sie nicht geradezu unsittlich sind, um so weniger gesetzlich einschreiten und mit Verboten vorgehen, als ihm die Er
fahrung zeigt, daß er damit nichts bewirkt, als, daß er den krank haften Ausschlag — wenn es überhaupt ein solcher und nicht bloß
ein unschöner, übrigens aber heilsamer war — aus Herz und Leber
des Volkslebens treibt, dazu sich sagen muß, daß es unter allen Umständen besser ist, daß der gemeine Mann sich am Sonntag lär
mend belustige, als daß er, wie es in den Ländern puritanischer Strenge der Fall ist, weil ihm die Möglichkeit, sich in seiner Weise zu erheitern, verschlossen ist, — und nicht er allein — sich in den
Winkel setzt und schweigend betrinkt. Das ist der Unsegen, wenn man durch Gesetze die Leute fromm machen will. Und auch Roheit
läßt sich nicht durch Verbote vertreiben, sondern dadurch, daß man, dem Volke Besseres zeigend, den Siun für Besseres weckt. Schon in der bisherigen Darstellung haben wir wiederholt darauf
hingedeutet, daß der christliche Ruhetag nicht bloß ein Ruhetag, sondern auch der gottesdienstliche Tag sein solle. .Wir haben das
jetzt weiter auszuführen. Das menschliche Leben ist Unruhe; Ruhe ist allein bei Gott. Demgemäß wird auch unsere Sonntagsfeier ihren Zweck, uns zu
einer des Menschen würdigen und ihn befriedigenden Ruhe zu führen, nur erreichen, wenn sie von religiöser Erhebung und Erbauung ge tragen und durchzogen ist.
Erst durch diese erhält auch alles übrige,
was den Sonntag auszeichnet, die Ruhe von der Arbeit, die er
heiternde Beschäftigung, der festliche Anzug, selbst die bessere Kost seine rechte Weihe und wird zu einem Ausdruck, wie zum Beförderungs mittel, gehobener Stimmung, während es derohne leicht nur den Charakter der Leibespflege und der Zerstreuung annimmt. Striegeln
aber und besser füttern kann man auch das Thier. — Die religiöse
Erhebung ist nicht bloß auf den öffentlichen Gottesdienst beschränkt, im Gegentheil wird derselbe seine volle Kraft nur da entfalten, wo
er nicht einsam am Tage dasteht, sondern ihm die häusliche Erbauung,
1. Hauptstück. Drittes Gebot.
92
Beschäftigung mit Gottes Wort und Gebet,
Familienglieder, sei es des vorangeht, wie nachfolgt.
sei es im Kreise der
einzelnen im Kämmerlein — sowohl
Aber er bleibt die Krone der dem Feier
tage ziemenden gottesdienstlichen Uebungen, die — mit seltenen Aus nahmen — erst von ihm das rechte Leben empfangen, ja überhaupt am Leben und in Uebung erhalten werden.
Es spricht wohl mancher,
daß er sich zu Hause ebenso gut, ja besser erbauen könne, als in der Kirche.
Den nehmen wir zuerst beim Worte, daß er zugestanden
hat, daß er sich daheim erbauen könne, fragen ihn aber aus das Gewissen, ob er es thue? und wenn er das wohl in der Regel wird verneinen müssen, weiter, seit wann er das nicht mehr thue, und ob er nicht mit der häuslichen Erbauung nachgelassen habe und selbst
die einsame Betrachtung bis auf das tägliche Gebet minder pflege, seit er sich gewöhnt habe, den öffentlichen Gottesdienst ohne Noth
zu versäumen? Jedoch
auch
abgesehen davon,
hat der öffentliche
Gottesdienst seinen eigenthümlichen Segen! Allerdings gilt das Wort,
daß, wo zwei oder drei in Christi Namen beisammen sind, der Herr mitten unter ihnen sein wolle (Matth. 18, 20); und das andere, daß,
wo auch nur zwei von uns unter sich einig werden, was sie bitten
wollen, der Vater ihnen solches geben werde (Matth. 18, 19), gilt und erfüllt sich oft in hohem Maße.
In der Regel indeß werden
wir gesammelter sein, uns mächtiger erfaßt und gehoben und allsei
tiger angeregt fühlen, wo unser Gebet sich in das Beten und Flehen,
Loben und Danken der Gemeinde mischt, und unsere Andacht von
der gemeinsamen Andacht aller getragen und erhöht wird, als, wo
wir nur unserer eignen, oft bald abgebrochenen und meist einseitigen
Betrachtung hingegeben sind.
Namentlich, wo das Gotteshaus uns,
und wir das Haus kennen, da saßt uns schon, wo wir es betreten,
die Erinnerung an alle und Erquickung,
in ihm verlebten Stunden
da umgeben uns,
der Erhebung
wie gute Geister,
alle früher
empfangenen Eindrücke, da reden selbst die Steine, geschweige die Gemeinde zu uns: Alte und Junge, Hohe und Niedere, Fröhliche und
Leidende —
alle mit ihren Gedanken, ihrem Sehnen und Hoffen
auf das Ewige gerichtet, das Gotteswort, das alle erhebt, mahnt, stärkt und tröstet und nun mit seinem reichen Schatze sich auch für
uns wieder öffnet.
Wir kennen die meisten, wissen ihre Geschicke;
Pflicht und Segen des Kirchenbesnchs.
Ursachen der Unkirchlichkeit.
93
was sie erlebt und erfahren, tritt tröstend und warnend, unsern Ernst weckend, unsern Muth belebend, vor unsere Seele: uns auch wird Gott zur Seite stehen und uns zum Ziele führen.
Das ist eine Stär
kung für unsern Glauben, eine Belebung unserer Liebe, eine Erhebung über das bloß persönliche in das gemeinsame Leben und Fühlen,
wie wir es nicht leicht in anderer Weise und an einem anderen Ort erfahren!
Warum nur berauben sich so manche dieses Gipfelpunkts der reli
giösen Erhebung? Viele schieben ihren Gesundheitszustand vor, daß sie krank seien oder fürchten müßten, krank zu werden, wenn sie die Kirche besuchten! Wenn das wahr ist, so sind sie entschuldigt.
Der Gottes
dienst ist nicht dazu da, daß man sich für die Woche verdirbt, son dern, daß man sich für dieselbe kräftigt.
Wer Schaden von dem
selben zu befürchten hat, der trage zu seinem andern Leiden die Ent
behrung — für jemand, der die Freude und den Segen regelmäßigen Besuchs
der Kirche kennt, eine der größten — daß er von dem
öffentlichen Gottesdienste der Gemeinde abgeschnitten ist, und baue sich möglichst seine Kirche im Hause aus.
Aber ist es wahr? —
Andere entschuldigen sich damit, daß sie keine Zeit haben. Leider giebt es bei der vielfachen Verwicklung unserer Lebensverhältnisse und der noch immer großen Anzahl derer, welche, was das Wohl
ihres Nächsten betrifft,
nicht nach Gesetz, nicht nach Evangelium
fragen, manche, die wirklich keine Zeit, die Kirche zu besuchen, haben. Für die werden wir anderen einzutreten und durch immer nachdrück
lichere Hinweisung auf das, was sich ziemt, wie durch entgegen kommende kirchliche Einrichtungen, auch ihnen diese Zeit zu verschaffen
suchen.
Aber bei weitem die meisten haben keinen ernsten Drang.
Nicht, daß sie deshalb unsromm oder gar gottlos wären (wir wissen,
es sind ganz religiöse Leute darunter, deren inneres Leben allerdings nothwendig minder entwickelt bleibt, als es bei anderem Verhalten
der Fall sein würde); sie sind nur zu bequem;
die ganze Woche
auswärts geplagt und im Berufe hin- und hergezogen, vermögen sie sich nicht von ihrer häuslichen Behaglichkeit loszu.eißen, zumal sie die Erquickung, welche der Gottesdienst zu gewähren vermag, nicht
kennen, noch bei ihrer Art, demselben hie und da einmal beizu wohnen, kennen lernen können.
Denn so steht es doch mit allen
94
1. Hauptstück.
Drittes Gebot.
Gütern: keins fällt dem Menschen von selber in den Schoß, son
So wird auch die
dern alles will errungen und erarbeitet werden.
rechte Freude und das Behagen am Kirchenbesuch nur denen zu Theil, welche regelmäßig an dem Gottesdienste theilnehmen und in
der Kirche zu Hause sind, nicht denen, welche nur als seltene Gäste
erscheinen.
Man muß sich eben in der Kirche einwohnen. — Am
häufigsten hört man die Rede: ich erbaue mich in der Kirche nicht; die Gemeinden sind eben nicht, wie dn sie schilderst, sondern roh
und zerfahren, die Gottesdienste unerquicklich, die Predigten lang weilig.
Es muß ja wohl etwas an dieser Rede sein, sonst wäre
die koloffale Entfremdung vom Gottesdienste nicht möglich, daß nicht
bloß einzelne, schlechte Leute, sondern ganze Schichten unseres im übrigen doch nicht gottlosen Volks, ja fast die gejammte gebildete
Männerwelt sich vom Gottesdienste fern halten.
Unser Gemeinde
leben ist mangelhaft organisirt; es fehlt an Möglichkeit, gemeinsam in der Kirche und für sie zu wirken; darum ist auch, wo die Ge
meinde zusammentritt, das Gemeindegefühl und Gemeindebewußtsein
schwach. — Unsere Gottesdienste haben Mängel.
Ihr größter Mangel
ist, daß in ihnen alles viel zu sehr von oben eingerichtet wird, nicht so wohl, wie es die Gemeinde erbaut, sondern, wie es schön, alterthümlich, reformatorisch, apostolisch, nämlich nach der Meinung der Bestim menden erscheint; die Gemeinden aber finden es ermüdend oder trocken.
Ja, es fehlt nicht an Beispielen, daß einzelnen Gemeinden Gebete und Gesangbücher trotz ihres Widerspruchs aufgenöthigt worden sind.
Endlich auch
die Predigt entspricht nicht immer den
machenden Anforderungen.
an sie zu
Es wird im allgemeinen viel zu viel
und lange nicht gut genug gepredigt.
Melanchthon forderte für die
Predigt vor allem meditatio (Nachdenken), sodann oratio (Gebet). Jetzt soll es vielfach die Frömmigkeit, der heilige Geist allein thun,
obschon derselbe Nachlässigen und Trägen eben nicht verheißen ist. In andern Fällen sind die Prediger so sehr mit Geschäften, oft ganz
fremdartigen, überladen oder stürzen sich auch in allerhand fromme Vielgeschäftigkeit, daß sie nicht im Stande sind, am Sonntage eine wirklich tüchtige Predigt zu halten'). ') Apostelgesch. 6, 2. und zu Tische dienen.
Das Uebelste aber ist, daß
Es taugt nicht, das; wir das Wort Gottes unterlassen
Pflicht und Segen des Kirchenbesnchs.
Ursachen der Unkirchkichkeit.
95
die Predigt sich vielfach im Widerspruch mit der gesammten Bil
dung und den berechtigten Forderungen der Zeit befindet: es wird
Veraltetes, Unverständliches, es wird lutherische Dogmatik statt leben digen Christenthums gepredigt. — Und wenn es immer nur ge
predigt würde; in Liebe vorgetragen und brüderlicher Ueberlegung anheimgegeben, läßt sich zuletzt jede redliche Ueberzeugung anhören und wirkt, auch wenn man ihr nicht beitreten kann, anregend und
durch die Wärme, mit der sie vorgetragen wird, erbauend.
Aber es
wird eben nicht bloß gepredigt, sondern auch angeherrscht und mit
Schelten und Poltern und Absprechen über Glauben und Unglauben und ewige Seligkeit den Gemeinden anfgedrängt.
Das ist schlimm;
aber es wird doch dadurch nicht besser, daß wir uns um dieser Aus
wüchse willen ganz vom Gotteshause und Gottesdienste zurückziehen und gewissermaßen fahnenflüchtig werden und dem, was uns miß fällt, das Feld räumen, sondern dadurch, daß wir es uns ernstlich verbitten
und alle vorhandenen Mittel benutzen — und es
sind
deren vorhanden, und werden sich immer mehrere finden —, um es
abzustellen.
Sodann soll man auch nicht in's Schwarze malen.
Unsere evangelische Kirche ist und bleibt trotz allem, was man an
ihr auszusetzen hat, die evangelische, unsere Gottesdienste enthalten einen so tüchtigen Kern der Erbauung, unter unseren Geistlichen ist
immer noch ein solcher Stamm begabter und geschickter, vor allem treuer Prediger, daß, wer sich in unseren Gottesdiensten nur er bauen will, — mit seltenen Ausnahmen — ausreichende Gelegenheit
dazu findet.
Darum, ohne irgend etwas von demjenigen zurück
nehmen zu wollen, was wir von der Mitschuld der Kirche an dem Verfall des Kirchenbesuchs gesagt haben, werden wir die über das
Unerbauliche des Gottesdienstes Klagenden noch lange nicht für ent
schuldigt halten, sondern sie vielmehr zuerst nur fragen, ob sie denn wirkliche Erbauung, d. i. Sammlung in Gott, Stärkung und Kräfti gung ihres inneren Lebens, und nicht vielmehr nur Unterhaltung, sei es durch eine geistreiche Rede, sei es durch die schöne Fügung
und den Wohllaut der Worte, bis herab auf das Alleräußerlichste
und Nichtigste, die Musik der Stimme, gesucht, und wenn ja, was
sie denn ihrerseits gethan hätten, diese Sammlung zu finden.
Das
führt auf dasjenige, wovon wir gleich anfangs ausgingen, daß der
96
I. Hauptstück.
Drittes Gebot.
öffentliche Gottesdienst seine volle Kraft nur da entfalten werde, wo er nicht nur vereinzelt dastehe, sondern durch die häusliche Andacht
unterstützt werde.
Wer rechte Sammlung und Erhebung in der
Kirche finden will, der muß irgend welche Sammlung immer schon
mitbringen; je mehr einer davon in die Kirche bringt, um so mehr wird er danach aus ihr mit fortnehmen.
Wie aber kommen die
meisten? Frisch aus den Sorgen und den Zerstreuungen des Lebens, aus doppelter Unruhe und Hast, um rasch noch fertig zu machen, was bei rechter Einrichtung schon den Tag vorher, mindestens in
aller Frühe beschickt worden wäre.
Und wie find sie da?
Gehen
sie wenigstens jetzt mit voller Energie der Selbstthätigkeit auf den Gottesdienst ein, und suchen sie mit angestrengtem Nachdenken der
Predigt zu folgen? Anstrengung! Wer darf solche nach allem, was man sich in der Woche gequält hat, noch Sonntags in der Kirche
fordern!
Dafür ist der Prediger da!
Der soll die Leute trösten,
ergreifen, erschüttern, bessern, ohne daß sie nöthig haben, sich erst
den Kopf zu zerbrechen. — Und wie gehen sie aus dem Gottes dienste fort?
Sie sagen: das war eine schöne Predigt, oder auch:
die Predigt hat mir heute nicht gefallen, und sprechen von etwas
anderem! So geht allerdings manche tüchtige Predigt, wie die mei sten der „schön gefundenen", spurlos an den Leuten vorüber. Der rechte Kirchenbesucher hat bereits am Vortage daran gedacht,
daß morgen der gottesdienstliche Tag ist, und Haus und Werkstatt auf
geräumt und alles Nöthige im Amt bestellt, daß er dem Gottesdienste mit Ruhe beiwohnen möge.
So gewinnt er Zeit, bereits die Morgen
stunden gesammelt zu durchleben und sich auf die Hauptfeier vorzuberei
ten. Sei es, daß er, der eine allein, der andere mit den Seinigen, jeder, wie es die Einrichtung des Hauses gestattet, und ihn der innere Sinn treibt — sei es, daß er überlegt, was die Woche gebracht, und wie ihn Gott gesegnet, und was er gefehlt hat, sei es, daß er sich auf
die letzte Predigt besinnt und in den Zusammenhang der Betrach tungen zu versetzen sucht oder sonst wie sich ernstlich mit Gottes Wort beschäftigt. So erscheint er äußerlich und innerlich bereitet und geschmückt in der Kirche und ist nun auch im Stande, sich den Segen der gemeinsamen Erbauung anzueigncn.
Was er so gewonnen,
sucht er auch, nachdem er das Gotteshaus verlassen, zu befestigen,
Das Kirchenjahr.
97
indem er das Gehörte mit den ©einigen — nicht kritisirt und durch loses Beschwatzen den Eindruck desselben schwächt — sondern es über legt und auf sich und seine Verhältnisse anwendbar macht.
Dann
geht er hin und verbringt den anderen Theil des Feiertages, wix es sein Bedürfniß mit sich bringt und ihn erheitert, gewiß, daß Gott
mit ihm ist, und sein guter Geist ihm auch das Fröhliche gesegnet.
Das ist die Art, wie auf Grund unsrer deutschen Weise — die sich so vortrefflich auch in der Erklärung Luthers zu diesem Gebote spiegelt — der Feiertag ebenso ernst, wie erheiternd, wahrhaft er bauend begangen werden kann, gleich weit ab von jedem Leichtsinn,
wie von jeder puritanischen, wesentlich doch in dem Gesetze stecken
gebliebenen und dasselbe noch übertreibenden Strenge. Wie der öffentliche Gottesdienst am Sonntage nicht ein verein zelter fein soll, so stehen auch die einzelnen Sonn- und Festtage nicht
nur als einzelne da, sondern es findet ein Zusammenhang zwischen
ihnen, ein Kreislauf statt. der
Diesen jährlich wiederkehrenden Kreislauf
christlichen Sonn- und Feiertage nennen wir das Kirchenjahr.
Man muß mit demselben bekannt sein und es inne haben, weil die
Stellung jedes Sonntages in ihm aus den Ton und die Haltung des Gottesdienstes an ihm Einfluß hat.
Die ältesten Christen hatten, so weit sie nicht als geborene Juden
die jüdischen Feste feierten, keine Jahres-, sondern nur Wocheufeste, den Tag des Herrn, neben welchem sie noch Mittwoch und Freitag
(letzteren
als
den
Todestag
des Herrn)
als
„dies
stationum“,
„Wachen der Krieger Christi", durch Gebetsversammlungen und Fasten bis drei Uhr nachmittags anszeichneten.
Am frühesten kam die Jah
resfeier der Auferstehung, das Osterfest, auf, wurde jedoch anfäng lich in den verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zeiten begangen. Die morgenländischen Christen nämlich, welche geraume Zeit auch
das jüdische Passah gehalten hatten, feierten danach auch den Tod und die Auferstehung des Herrn, wie sich das von selbst ergab, an diesem Fest, an dem bestimmten Monatstage, dem 14. des jüdischen
Monats Nisan, unangesehen, auf welchen Wochentag die Feier fiel,
gerade, wie wir Weihnachten immer am 25. Dezember feiern.
Die
abendländischen Christen dagegen, welche als geborene Heiden das Eltester, Materialien. 2. Auflage. 7
1. Hauptstück. Drittes Gebot.
98
Passah nicht kannten, hatten sich von den Wochenfesten her so sehr gewöhnt, gerade den Sonntag als den Tag der Auferstehung, den Freitag als den des Todes Christi anzusehen, daß, als die jährliche
Feier der Auferstehung aufkam, sie nun auch für diese den Wochen
tag sesthielten und Ostern stets an einem Sonntag, dem großen
Sonntag, begingen, mit Hintenansetzung des Monatstages oder, wie wir sagen, des Datums.
Darüber entstand um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts lebhafter Streit, der indeß ausgeglichen wurde; schließ
lich setzte sich die abendländische Weise durch.
Bei dieser stand nun
aber wohl überhaupt die Feier am Sonn- und Freitag fest, nicht
aber an welchem, ob an dem vor oder dem nach dem 14. Nisan;
und so blieb abermals eine Verschiedenheit in der Osterfeier, bis endlich vom 6. Jahrhundert an die in der alexandrinischen Kirche gebräuchliche Weise, Ostern jedesmal an dem ersten Sonntag nach
dem ersten Vollmond nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche zu feiern, die allgemeine wurde. unsrige ist,
Nach
dieser Weise, welche auch die
kann es demnach zwischen den 22. März und 25. April
fallen, also um volle 5 Wochen differiren.
Danach richtet sich sodann
die Zahl der Ostern vorangehenden (1—6) Epiphanias-, sowie der aus Pfingsten folgenden (22—27) Trinitatis-Sonntage. — Die Feier
des Pfingstfestes ist wohl gleichzeitig mit der des Auferstehungsfestes Etwas später fällt die Entstehung des Epiphanias
ausgekommen.
festes (6. Januar) d. i. des Festes der Erscheinung Christi, dessen
Gegenstand bald die Ankunft der Weisen aus dem Morgenlande als Unterpfand,
daß Christus auch
den Heiden erschienen sei (daher
Genethlia ethnon, Geburtstag der Heiden), bald die Erscheinung der
Herrlichkeit Jesu in dem Wunder auf der Hochzeit zu Kana, bald auch die Taufe Jesu war.
Das späteste ist das Weihnachtssest (seit
dem vierten Jahrhundert); je mehr sich dasselbe ausbreitete, um so
mehr trat das Epiphaniasfeft zurück.
Wir feiern dieses gar nicht
mehr; in der morgenländischen Kirche dagegen steht es noch heut in
hohem Ansehen. Jedem der drei großen Hauptfeste ging in der alten Kirche und
geht noch heut eine Vorbereitungs-Fastenzeit voran: 1. Die Rüstzeit auf Weihnachten umfaßte die 4 Sonntage im Advent (Ankunft Christi),
mit deren erstem das Kirchenjahr begann, 22—28 Tage, je nachdem
Das Kirchenjahr.
99
Weihnachten auf einen Montag oder Sonntag fiel.
2. Auf Ostern
bereitete das große 40tägige Fasten (zur Erinnerung an das 40tägige
Fasten Jesu iu der Wüste), Quadragesima, vor.
Die Zahl der Fast
tage war und ist in der römischen und griechischen Kirche noch heut in der That 40 Tage, die Zeit der „Fasten" dagegen eine längere. In der römischen Kirche umfaßt sie 46 Tage (von Aschermittwoch-
Ostern), in der griechischen noch eine Woche länger, weil nach ur altem Gebrauch in jener am Sonntag, in dieser auch am Sabbath nicht gefastet werden darf.
In der evangelischen Kirche sind
die
Fasten, d. i. das gezwungene Fasten an bestimmt vorgeschriebenen Tagen bekanntlich abgeschafft; gegen das Fasten aus freier Wahl, wenn
es
einer für nöthig findet, sich in dieser Weise in die Zucht zu
nehmen und seinen Leib zu zähmen (1 Kor. 9, 27), hat sie dagegen
nichts einzuwenden, nur, daß weder ein Schein damit getrieben, noch ein Verdienst daraus gemacht werde, der Christ sich auch nicht auf
die Enthaltung von Speise und Trank beschränke, sondern sie aus
alles ausdehne, wovon er spürt, daß die Neigung dazu ihm über den Kopf wachsen will. ■ — Die lateinischen Namen der Sonntage
in der Fasten mit Ausnahme des Palmsonntages — Invocavit, Remi-
niscere etc. —, wie ebenso die Namen der Sonntage zwischen Ostern und Pfingsten, rühren von den Anfangsgebeten (introitus) in der
Messe her.
Der Name Gründonnerstag (des Tages der Fußwaschung
und Einsetzung des heiligen Abendmahls) wird abgeleitet bald von den grünen Kräutern, welche mit dem Passah genossen wurden, bald
von dem Weinstock (Joh. 15), von welchem das Gemach, in dem der Heiland das -Abendmahl feierte, umzogen war, bald von der Entsündigung der von der Kirche ausgeschlossen oder
zucht Gewesenen, wieder
„Grünen",
unter Kirchen
wieder in die Kirche Aufgenommenen, nunmehr d. i.
Sündenlosen (daher dies viridium oder
Antlaßtag') im Mittelhochdeutschen Tag des Erlasses der Kirchen strafen und der Wiederaufnahme in die Kirchengenleinde). — Charfreitag ist nach Grimms Wörterbuch der „Trauerfreitag",
von dem
]) Deutsches Wörterbuch von Weigand 1857: Daß viridis in der nnttellateinischen Kanzel- und Kircheusprache nach „in viridi ligno“ bei Luk. 23, 31 auch die Bedeutung „süudenlos" hatte, erhellt aus Eychmans vocabularium predicantium (1483), wo es Bl. x, 5a heißt: „viridis“ ein grünender, der da on fünde ist, „grün". 7*
1. Hauptstück. Drittes Gebot.
100
althochdeutschen chara, gothisch Kara, luctus. — Der Sonnabend in der Charwoche war der allgemeine Tauftag.
Der Ostersonntag führte,
wie schon bemerkt, den Namen des großen Sonntags, der Sonntag nach Ostern den des weißen Sonntags (dominica in albis), weil
an ihm die Neugetauften zum letzten Male beim Gottesdienste mit
ihren weißen Taufgewändern erschienen. — 3. Als Vorbereitungszeit auf Pfingsten galt die ganze Zeit zwischen Ostern und Pfingsten, in welcher übrigens als in der Freudenzeit der Christenheit nicht ge fastet wurde.
Darnach gliedert fich das Kirchenjahr also:
1) Die Weihnachtszeit.
4 Sonntage im Advent.
Die Octave nach Weihnachten.
Weihnachten.
(Das bürgerliche Neujahr ursprüng
lich im Gegensatz zu den Ausschweifungen der Heiden an den Sa turnalien ein strenger Buß- und Fasttag; seit dem 7. oder 8. Jahr
hundert der Tag der Beschneidung Christi).
Epiphaniasfest, 1—6
Sonntage nach Epiphanias.
2) Die österliche Zeit. gesimä (70ste),
Zuerst 3 überleitende Sonntage, Septua-
Sexagesimä (60ste), Quinquagesimä (50ste) d. i.
der dem 70sten, 60sten, 50sten Tage vor Ostern am nächsten gele
gene Sonntag. — Darauf die 6 Sonntage in der Fasten. große oder Charwoche.
Die
Ostern.
3) Die Pfingstzeit von Ostern bis Pfingsten.
Am Mittwoch in
der Mitte zwischen beiden der allgemeine Buß- und Bettag.
Am
Donnerstag zwischen den Sonntagen Rogate und Exaudi — 40 Tage nach Ostern — das Himmelfahrtsfest (erst seit dem 4. Jahrhundert).
Pfingsten.
Die Octave nach Pfingsten oder das Fest der Dreifaltig
keit (festum trinitatis).
Und nun
4) Die festlose Zeit, 22—27 Sonntage nach Trinitatis, in der nur Nebenseste, d. i. nicht Thatsachen aus dem Leben Christi feiernde
Feste, und daher meist nur an Sonntagen, nämlich das Aerntefest (am Sonntag nach dem 29. September), das Reformationsfest (am
Sonntage nach
dem 31. October) und das Todtensest (am letzten
Sonntage im Kirchenjahr) begangen werden.
Das
letzte ist das
jüngste aller Feste und ein recht lebendiges Beispiel, wie Feste ent stehen und auf naturgemäße Weise sich ausbreiten.
Es ist nämlich
entstanden aus der Gedächtnißfeier, welche nach dem großen Befreiungs-
kriege von 1813 —1815 zur Erinnerung an die in diesem Kriege Gebliebenen begangen roiirbe. Die Feier schlug so ein, daß sie fort an jährlich wiederholt wurde und jetzt mit allmählich geänderter Beziehung auf die im letzten Jahre Verstorbenen, wie auf die Ver storbenen überhaupt, uns unentbehrlich geworden ist. Zu bemerken ist noch, daß die schottische Kirche dieser gesammten Einrichtung entbehrt und keinerlei Feste außer dem „allein von Gott gebotenen Sabbath" feiert. Unchristlich ist das nicht, aber in hohem Grade ungemüthlich und starr, wie überhaupt die Anschauung und Praxis dieser Kirche in Betreff des Sabbaths. Der evangelische Gottesdienst besteht aus Predigt, Gemeinde gesang und Gebet. Keines von diesen dreien darf fehlen, ohne daß der evangelische Charakter des Gottesdienstes verletzt werde. Soge nannte liturgische Andachten dürfen nur die Stelle von Nebengottes diensten beanspruchen; wo sie sich statt der Predigt an die Stelle des eigentlichen Gottesdienstes drängen, oder die Predigt auch nur verkürzen und auf ein Minimum beschränken, sind sie vom Uebel. „Das Wort, das Wort, das Wort vor allem hat es gethan und muß es noch immer wieder thun." — In dem Vormittagsgottes dienste pflegt sich das gemeinsame Gebet der Gemeinde zum Altar gebet zu entfalten. Der Ort entspricht der Sache. Er bezeichnet das Gebet als aus der Gemeinde kommend, als ihr gemeinsames Gebet, während das von der Kanzel verkündete Wort auf tritt als das belebende, tröstende, ermahnende, strafende Wort Gottes, das an die Gemeinde kommt, wie es der Geist Gottes dem einzelnen jedesmal giebt auszusprechen. — Als das Gebet der Gemeinde, welches nicht bloß in ihrem Namen und für sie geschieht, sondern welches sie, die Gemeinde, selber betet, und der Vorbetende nur statt ihrer ausspricht (sie aber betet es still mit)1), — als solches wird und muß das Altargebet überwiegend altherkömmlich bekannte stehenve Elemente enthalten; wie vermöchte sie sonst mitzubeten! ') Es giebt aber auch ein lautes Mitbeten.
Das ist jedoch, wenn nicht eine
Judenschule entstehen soll, mir in der Weise des Gesanges möglich
Uebergang 311111 Ehoratgesaug.
und bildet den
102
1. Hauptstück.
Drittes Gebot.
Andererseits dürfen indeß, damit es nicht zu einem rein mechanischen Aufsagen und Herleiern werde, auch freie Elemente in ihm nicht
ganz fehlen, mindestens muß ähnlich, wie
bei dem Gesangbuche,
eine Wahl und ein Wechsel in dem, was von den überlieferten Ge beten jedesmal gebraucht wird, stattfinden.
Gerade umgekehrt steht
Sie ist und soll sein der Ausdruck der persön
es mit der Predigt.
lichen Ueberzeugung des Redenden, allerdings nicht seiner Weisheit,
sondern Verkündigung des göttlichen Wortes, aber so, wie er es ver steht, und wie es
ihm lebendig geworden ist').
Darum verträgt
sie wohl und fordert einen festen Rahmen, durch welchen sie sich an den übrigen Gottesdienst an- und mit ihm zu einem Ganzen
zusammenschließt, als: den stehenden Spruch am Eingänge, das Gebet des Herrn am Schluß,
die hie und da übliche Unterbrechung der
Rede durch einen Kanzelvers oder Kanzelgebet; grundelegung des Textes, Text bei
daß
vor allem die Zu
überhaupt über einen bestimmten
manchen Gelegenheiten, und in manchen Gegenden über
eine bestimmte Reihe von Texten gepredigt wird, und was sonst noch
durch das Herkommen fest geworden ist; aber innerhalb dieses Rahmens
vertritt sie das bewegliche Element im Gottesdienste.
Die Aufgabe
ist, den Gottesdienst so einzurichten, daß das bewegliche und das
stehende Element im inneren Einklang stehen und ungezwungen in einander übergehen. Das stehende Altargebet führt den Namen der Liturgie; litur-
gia (Leitourgia) ist ein griechisches Wort und bezeichnet in der alten griechischen Sprache einen öffentlichen Dienst zu Nutzen des Staats^). Agende nennt man die Sammlung der in einer Kirche üblichen
liturgischen Formulare sammt den darüber erlassenen Vorschriften. — Unsere sonntägliche Liturgie ist wesentlich
die Erneuerung von
Luthers deutscher Messe, d. i. der römischen Messe, wie Luther die
selbe in den Anfängen der Reformation, mit Beseitigung dessen, was sich in dem römischen Ritual auf das Meßopfer bezieht, zu Frommen
jener Tage in's Deutsche übersetzt hat.
') Apostelgesch. 2, 4.
2) In Athen
Röm. 12, 6—7.
Schon das läßt zweifeln, ob
2 Kor. 4, 13.
B. Ausrüstung eines Kriegsschiffes für den Staut durch einen
oder mehrere Bürger.
Evangelische Gottesdieiistvrdiuuig. Preußische Agende v. 1829.
103
sich in ihr der evangelische Geist rein und voll ausgedrückt haben
werde. Luther selbst war weit entfernt, seine Messe als ein Gebet oder
auch nur als ein Muster hinzustellen.
Er gab sie als etwas, was
jeder nach Gefallen brauchen und, wenn er könne, bessern möge.
Und
hatte man seitdem vielfach geändert, und waren im Laufe der Zeiten eine ganze Reihe von Liturgien und Agenden aufgekommen, welche, theils mehr, theils minder gut, jedenfalls dem Geschmack der Ge
meinden entsprachen.
Als man vor nunmehr etwas über 40 Jahren
statt dieser im allgemeinen im gesegneten Gebrauche stehenden Agen den der evangelischen Kirche wiederum die alte, in ihren Einzelheiten
allerdings durchweg mit dem Evangelium verträgliche, aber in ihrem ganzen Gange au die römische Messe erinnernde, dazu trotz ihrer
Uebersetzung in's Deutsche dem deutschen Charakter nicht entsprechend „erneuerte Messe" Luthers zur Aneignung barbot'),
hätte sich
die
Kirche schwerlich zur Wiedereinführung derselben bequemt, wenn nicht der um unsere evangelische Kirche übrigens hochverdiente König Frie drich Wilhelm III. an dieser Liturgie ein lebhaftes persönliches In teresse gehabt hätte, in Folge dessen den Geistlichen, welche dieselbe
anfangs
ablehnten,
dennoch
anzunehmen
scheiden.
schließlich nichts übrig blieb, als entweder sie oder
aus
dem
Amte
und
der
Kirche
zu
Allerdings hat sie sich seitdem festgesetzt, und das jüngere
Geschlecht kennt keine andere, als sie.
Aber lebendig ist sie trotzdem
in der Kirche nicht geworden; das beweist der Umstand, daß, wenn
es irgend geht, noch heute die Gemeinden erst „nach der Liturgie" zur Predigt kommen.
Gereicht das unserem Gottesdienste zu großem
') Unsere Liturgie mit ihrem fast dramatischen Charakter, ihren Antiphvnien und Wechselgesprächeu zwischen dem Geistlichen und dem Chore, ihrer Häufung von lauter kurzen Gebeten (eigentlich lauter Stoßseufzern und Anrufungen) und ebenso abgerissenen Gesangsstücken (ohne daß man eigentlich jemals außer am Schluffe zu einem wirklichen Gebete kommt) ist wesentlich das Produkt des grie chischen und römischen Volksgeistes, dem lebhaften, zu jähen Sprüngen geneigten Charakter jener Stationen ganz entsprechend und für sie und ihnen ähnliche erbau lich. Der ruhige und nachdenkliche Deutsche bewegt sich nicht in Sprüngen, am wenigsten in der Andacht; feinem Bedürfniß wird auch im Gottesdienst das Ge haltene und sich gehörig Entfaltende, also statt jener vielen kurzen Gebete ein oder mehrere längere Gebete im gehörigen Wechsel mit angemessenen Lesungen und dem Choralgefange zusagen. Muster solchen „deutschen" Gebetes war das ehe malige vortreffliche reformirte Morgengebet.
104
1. Hauptstück.
Drittes Gebot.
Nachtheil, so ist andererseits nicht zu vergessen, daß durch diese Litur
gie und die über sie geführten Verhandlungen das Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der einzelnen Geistlichen und der einzelnen
Gemeinden mit der gesammten Kirche, das sehr matt geworden war, wieder geweckt, der Gedanke an Ordnung auch für diese Gebiete zur
Anerkenntniß gebracht, und ein Verständniß für die liturgischen Dinge angebahnt worden ist, in Folge dessen es hoffentlich einer nicht allzu
fernen Zeit gelingen wird, in geordneter Weise zu erreichen, wonach man bisher nur mit theilweisem Erfolge gerungen: Aufstellung einer
Liturgie oder einer Sammlung von Liturgien, in der sich ebenso der evangelische, wie der deutsche Charakter unseres Volks und unserer
Kirche, voll ausdrücken, zu der die Gemeinden wieder herzuströmen
und sich an ihr erbauen werden, wie sich unsere Väter an dem von Luther gereinigten Gottesdienste erbaut habens.
Welcher Evangelische jemals einem katholischen Gottesdienst bei
gewohnt hat, der wird den Unterschied zwischen Gottesdiensten unserer Kirche inne geworden sein. dieser Unterschied eigentlich?
diesem und den Worin besteht
Zuerst: der evangelische Gottesdienst
wird immer in der Landessprache gehalten, der katholische immer in der lateinischen. — Sodann: bei uns nimmt die Gemeinde selbst thätig am Gottesdienste Theils der Choralgesang ist ein wesent
liches Stück unserer Gottesverehrung; in der römischen Kirche ist
die Gemeinde passiv.
Ferner:
der katholische Gottesdienst besteht
wesentlich aus einer von einem Verlaufe von Handlungen umgebenen Handlung, dem Meßopfer, Hin- und Hergehen am Altar, Kleider
wechseln, Kniebeugungen, Wendungen rechts, links, zur Gemeinde,
zum Altar, Wendungen der Augen und der Hände, Lesungen hier, Lesungen da, Räucherungen, kurz aus lauter Ceremonien (das Wort *) Wer sich für diesen Gegenstand, der für die Besserung unseres kirchlichen
Lebens von der größten Wichtigkeit ist, insbesondere für meine hier kurz angedeuteteii Anschauungen interessirt, den verweise ich dringend ans das Gutachten, be
treffend die liturgischen Bedürfnisse der evangelischen Landeskirche, welches ich auf Aufforderung des Ev. Ober-Kirchenraths zur Vorlage für die im Jahre 1856 ab gehaltene „kirchliche Konferenz" erstattet habe,
und
welches danach sammt den
anderen Gutachten in den Aktenstücken aus der Verwaltung deS Ev. Ober-Kirchenratho, Bd. 3 veröffentlicht worden ist. — Ich stehe noch heute fest zu den daselbst ausgesprochenen Grundsätzen und bin überzeugt, daß sie sich durchsetzen werden.
105
Evmigelischer und katholischer Gottesdienst.
ist Nebensache, in der stillen Messe wird alles lautlos hergesagt),
Ceremonien, welche theilweise einen guten Sinn haben, theilweise aber auch den Gelehrten nicht mehr verständlich und öfter auch der artig sind, daß es einem Protestanten schwer wird, den Ernst dabei
zu bewahren.
Im römischen Gottesdienst hat alles mystische Be
deutung, von dem Altartuche und dem kleinen leinenen Tuche (corporale) bis auf die vielfältig zusammengesetzte priesterliche Kleidung
und die Abwechslung in den Farben der Meßgewänder: weiß an Sonn- und Festtagen, die einen hohen Inhalt haben, roth an Mär
tyrertagen, grün als Symbol der in der Hoffnung des Sieges strei
tenden Kirche vom Epiphaniastage bis zur Fastenzeit und von Pfingsten bis Advent, violett — auf Ernst und Trauer deutend — im
Advent und in der Fasten, ferner bei allen Messen um Abwendung eines Uebels bei Landplagen, Pest und Krieg; schwarz endlich am Char-
freitage und bei Todten- und Seelenmessen.
Der überall mit größt
möglichem Pomp ausgestattete Gottesdienst ist auf das Sinnenfällige gestellt, bestimmt, das Volk durch äußerliche Eindrücke zu rühren, zu erschüttern und zur Andacht zu reizen, bei dem Zurücktreten
des
Wortes aber außer Stande, eine andere, als eine unbestimmte Ge
fühlsandacht, hervorzurufen; die Predigt eigentlich eine Zufälligkeit, sofern ein voller feierlicher Gottesdienst ohne sie abgehalten werden kann '); die Kirchen selbst auf das Sehen eingerichtet. gegenüber ist
— Dem
der evangelische Gottesdienst durch und durch auf's
Wort, auf Klarheit und Kraft der Gedanken gestellt, und sind
der Ceremonien so wenige, daß manche in unserer Kirche selbst schon über Nüchternheit und Kahlheit des Gottesdienstes geklagt haben.
Mag an dieser Klage etwas sein, und mag man bedauern, daß mit dem Wüste zum Theil störender, jüdischer und heidnischer Ceremo nien auch so manche an sich unschuldige, sinnvolle, dazu durch das
Alter ehrwürdige Gebräuche, die ohne Schaden hätten beibehalten werden können, im ersten Eifer der Reinigung abgeschafft worden sind; der rechte evangelische Mensch wird lieber selbst die Kahlheit l) Wie sehr die Predigt in der katholischen Kirche Nebensache ist, erhellt am dentlichsten daraus, das; es manche Kirchen giebt, die gar keine feste Kanzel haben,
sondern nnr ein bewegliches (bestell,
welches, wenn von ihm Gebrauch gemacht
werden soll, ans seinem Winkel in die Mitte der Kirche geschoben wird.
Drittes Gebot.
1. Hauptstück.
106
ertragen, als daß er die Reinheit und die Wahrheit seines Gottes dienstes aus's Spiel setzt, und,
indem er herzustellen sucht, was,
nachdem es einmal gefallen, sich nicht wieder aufrichten läßt, ohne
daß man auf Aeußerlichkeiteu ein unverhältnißmäßiges Gewicht legt, — die Seelen der Menschen in die Irre, die Kirche nach Rom führt.
Die Vorgänge in der anglikanischen Kirche sind in dieser Beziehung
ein warnendes Beispiel. — Viertens:
„Es ist in dem römischen
Kultus keine Zusammenstimmung des Geistlichen mit der Gemeinde. Indeß der Gottesdienst,
die Messe,
Geistlichen verrichtet wird
und
die Liturgie von Seiten des
mechanisch
vor
sich
geht,
geht
andererseits im Volke der Gottesdienst und die Andacht auch ihren
aparten Gang; es wird während desselben aus dem Brevier gebetet oder ohne dasselbe nach Leitung des Rosenkranzes; jeder hat seine besonderen frommen Gedanken, bis ihn endlich der Laut des Glöck
chens am Altar darin unterbricht, ihn in das Gemeinsame hinein
zieht, aber ihn dann sofort wieder in seine besondere andächtige Be schäftigung
zurückfallen läßt"
(Marheineke's Symbolik,
S. 238).
Während in dem evangelischen Gottesdienste alle Sinne in tiefster
Sammlung auf den gemeinsamen Gesang,
das
gemeinsame
Gebet, auf die Predigt gerichtet sind, fällt in dem katholischen Kultus die Versammlung geistig völlig auseinander und löst sich selbst ört lich vielfach in die verschiedenen Gruppen auf, welche sich um meh rere Altäre, an denen gleichzeitig Gottesdienst gehalten wird, ver
sammeln und jede für sich das Ihrige treiben, andern zu bekümmern.
ohne sich um die
Wie wenig die Gemeinsamkeit für den ka
tholischen Gottesdienst bedeutet, sieht man vor allem daraus, daß
derselbe vollgültig
selbst in Abwesenheit jeder Gemeinde
gehalten
werden kann; namentlich bei Privatmessen ist außer dem Priester nur die Anwesenheit des Ministranten erforderlich. — Der Grund oder, wenn man will, die Spitze von dem allen ist die grundver
schiedene Ansicht, welche beide Kirchen überhaupt von dem Gottes dienste haben.
In der evangelischen Kirche ist derselbe Darstellung
des Glaubens zur Erweckung, Läuterung, Kräftigung des Glaubens. In der römischen Kirche ist er ein Werk, ein Werk, das die Kirche
thut, indem sie durch ihren Priester das Meßopfer verrichtet, so wie
ein Werk des einzelnen, indem er der Messe beiwohnt.
Anderer-
Viertes Gebot.
107
Pflichten der Kinder gegen die Eltern.
s eits kommt es nur darauf an, daß das der Vorschrift gemäß voll
zogen
werde; ,ift
das der Fall, so wirkt es,
„Entsündigung des Volkes".
was es wirken soll,
Daraus folgt alles andere.
Das vierte Gebot. Zuerst ist darauf
aufmerksam zu machen, daß
sollst Vater und Mutter ehren.
es heißt: Du
Warum nicht kurzweg: deine Eltern?
Um einzuschärfcn, was leider manche Kinder außer Augen lassen,
daß beiden Eltern dieselbe Ehre, dieselbe Liebe gebührt.
Mancher
Sohn gehorcht wohl dem Vater, gegen die Mutter aber ist er wider-
spänstig; ein anderer schließt sich wieder an diese an, entzieht sich dagegen jenem! Wo man nicht beiden Eltern unterthänig ist,
ist
es auch dem andern Theile nicht auf die rechte Weise. —
man
Sodann: Von allen andern Menschen heißt es: du sollst deinen Näch sten lieben, wie dich selbst, hier aber wird geboten: du sollst Vater
und Mutter ehren.
Offenbar, um anzudeuten, daß unsere Eltern
als solche über allen Menschen, vor allem über uns stehen, mehr
sind, als wir; daß ihnen eine höhere, besonders geheiligte und sonst
keinem
zustehende Würde zukommt.
Fragen wir, welches dieselbe
sei, und worin sie bestehe, so ist zu antworten: darin, daß uns Gott die Eltern nicht bloß zu Urhebern unseres Daseins gemacht, sondern überhaupt zu Abbildern seines göttlichen Wesens und Waltens gesetzt
hat.
Sie sind seine Stellvertreter und Offenbarung an uns.
Durch
sie und an ihnen, mit deren Namen er sich nennt, thut er uns seine Liebe kund: in ihnen lernen wir in der natürlichsten und ungezwun
gensten Weise ihn lieben und „Abba, lieber Vater" sagen.
Darum
bezeichnete schon der Römer die Frömmigkeit gegen die Eltern mit
demselben Worte, mit welchem er die Frömmigkeit überhaupt be nannte.
Er nannte beides pietas (Pietät).
Und es ist so: Glaube,
Liebe, Hoffnung zu Gott, Gottesfurcht im edelsten Sinne, entwickeln sich in uns in dem Verhältniß zu unsern Eltern; in wem sie sich
nicht so entwickeln, wer „das Reich Gottes nicht empfängt als ein
Kindlein", — der wird schwerlich zu Gott kommen.
ein ruchloses Kind
nie
ein frommer Mensch
sein.
Jedenfalls kann Liebe
ist es,
1. Hauptstück.
108
Viertes Gebot.
welche im Menschen das tiefste Leben aufregt,
und
jeder
Grad der Liebe bahnt den Weg zu einem höheren.
niedere
So soll
die
Liebe zu den Menschen, wenn sie entwickelt ist, den Weg zur Liebe
Gottes bahnen.
Die erste Liebe aber, auf die sich der Mensch, wenn
er in die Welt tritt, hingewiesen fühlt, ist die kindliche Liebe.
zarter diese entwickelt wird,
desto reiner und
Je
göttlicher wird jede
andere Liebe werden, deren uns das Leben fähig macht.
Es giebt kaum eine Stelle, in welcher uns diese Würde der Eltern und unsre Stellung zu ihnen herrlicher und nachdrücklicher vor Angen
gestellt wird, als Jesus Sirach 3, 1—18; dort heißt es u. a.: „Der
Herr will den Vater von den Kindern geehret haben, und, was eine
Mutter die Kinder heißt, will er gehalten haben.
Wer seinen Vater
ehrt, des Sünde wird Gott nicht strafen; und, wer seine Mutter
ehret, der sammelt einen guten Schatz.
Wer seinen Vater ehrt, der
wird auch Freude an seinen Kindern haben, und, wenn er betet, wird er erhört.
Wer seinen Vater ehret, der wird desto länger leben;
und, wer um des Herrn willen gehorsam ist, an dem hat die Mutter einen Trost.
und
Wer den Herrn fürchtet, der ehret auch
den Vater
dienet feinen Eltern und hält sie für seine Herren".
Also:
Gott will, daß wir Vater und Mutter ehren, und sein Segen wird über die kommen, welche solches thun.
Darum, wer ihn fürchtet,
der ehrt seine Eltern und hält sie nicht als seines Gleichen, sondern als seine Herren und dienet ihnen! Welche Mahnung nicht allein für mißrathene, ruchlose Kinder, sondern für die Kinder, wie sie meist sind! Oder ist es nicht leider das Gäng' und Gäbe, daß selbst
„gute" Kinder
sich
die Dienste, Gaben, Opfer ihrer Eltern,
durchwachten Nächte der Mutter, den Angstschweiß, mit
dem
die
der
Vater das tägliche Brod herbeischafft und für Nahrung und Kleidung
sorgt, zwar gern gefallen lassen, auch dafür Dank sagen, es aber
im Grunde doch als etwas ansehen, was sich von selbst versteht, und wozu die Eltern da sind; dagegen, wenn sie für jene, ich sage gar
nicht: Opfer zu bringen, sondern nur auf ein Vorgenommenes zu verzichten, einer Bequemlichkeit zu entsagen, einen etwas ungewöhn
lichen Dienst zu leisten haben, es als ein Lästiges empfinden und in einer Weise thun, daß es den Eltern kaum entgehen kann, wie
sauer es ihnen wird.
Heißt das nicht das Verhältniß umkehren und
Pflichten der Kinder gegen die Eltern.
109
die, welche unsere Herren sein sollen, welche ihr Herzblut für uns
geben, — zu unsern Bedienten machen? Nicht also: sondern, wer den Herrn fürchtet, der dient seinen Eltern und „ehret sie mit der That, mit Worten und mit Geduld"; auf daß nicht ihr Seufzen,
sondern ihr Segen über ihn komme (V. 9 u. 10).
Das ist aber
der rechte Segen, daß die Eltern ihrer Kinder froh sind und, so oft sie ihrer gedenken, Gott über ihnen danken und das Gebet für sie mit Freuden thun (Pilipp. 1, 3 f.).
Rechte Kinder ehren ihre Eltern vor allem durch Gehorsam. Sie warten nicht, bis ihnen etwas geboten wird; sie lauschen den
Eltern ihre Wünsche ab und suchen ihnen zuvorzukommen.
füllen sie in Heiterkeit.
Sie er
Je mehr die Eltern alles, was die Kinder
angcht, auf dem Herzen tragen, um so mehr ist es diesen Gewissens sache, den Eltern überhaupt ein stöhliches Angesicht zu zeigen, fin
steres, mürrisches und unwirsches Wesen dagegen zu verbannen.
Ist
das doch das einzige, was sie von sich aus den Eltern thun, und womit sie einigermaßen die unendliche Liebe und Treue, deren Gegen
stand sie sind, vergüten können, daß sie durch
ihren jugendlichen
Frohsinn Heiterkeit in das ernste, sorgenvolle, oft so trübe Leben ihrer
Eltern tragen. — Rechte Kinder ehren ihre Eltern mit Worten, so wohl, wenn sie zu ihnen, als auch, wenn sic von ihnen reden.
Er
steres versteht sich von selbst und wird nur von ruchlosen Kindern
übertreten; an letzteres sind selbst brave, aber unbedachte Kinder zu erinnern.
Sie vergessen, wenn sie von den Eltern sprechen, den Re
spekt, den sie den
abwesenden schuldig sind und in der That auch
gegen sie empfinden, und ergehen sich namentlich in einem gewissen Alter im Kreise ihrer Altersgenossen in burschikosen Ausdrücken.
es immerhin nicht böse gemeint sein, so lautet es
Mag
doch übel, und
der sittlich durchgebildete, ja der seinem natürlichen Gefühl folgende
Jüngling hält sich von dieser Roheit fern. — Auch die trefflichsten Eltern haben, wie eben Menschen, ihre Schwächen und greifen hie
und da fehl, auch gegen die Kinder.
Es kann nicht unsre Aufgabe sein,
uns darüber zu täuschen: wahre Liebe ist gegen die Fehler und Un vollkommenheiten geehrter und geliebter Personen niemals blind, sie
sicht dieselben sogar heller und empfindet sie tiefer und schmerzlicher, als es der Gleichgültigkeit möglich ist.
Aber sie trägt dieselben in
1. Hmiptstück. Viertes Gebot.
110 Geduld.
Kinder,
denen von den
Eltern Unbill widerfahren ist,
schweigen: sie reden gegen niemanden davon, es sei denn gegen Gott, daß er den Eltern Erkenntniß gebe.
Am wenigsten machen sie die
Schwächen ihrer Eltern zum Gegenstände des unterhaltenden Ge sprächs, noch „spotten sie ihres Vaters Gebrechen" (Sirach 3, 12), wie Ham einst seinem Vater that; denn sie fürchten Gott.
„Denn den
Vater ehren ist deine eigene Ehre, und deine Mutter verachten ist deine eigene Schande" (v. 13).
Die Pflicht, die Eltern zu ehren, hört nimmer auf, wenn sie mit der Zeit auch andere Gestalt annimmt.
Das Kind, der un
mündige, unter der Hand des Vaters befindliche Sohn hat einfach dem Gebote des Vaters zu gehorchen.
Der mündig gewordene, der
selbst bereits einem Hause vorsteht und ein Amt bekleidet, für welches
er verantwortlich ist, muß sich selbständig entscheiden: doch wird auch
ein solcher des Vaters Rath mit Ehrerbietung hören und ihm unter
allen Umständen die Ehrfurcht beweisen, welche dem höheren Alter, der gernsteren Erfahrung, vor allem dem Vater gebührt.
Davon
entbindet ihn nichts, auch nicht die höhere Stellung, welche er im
Leben gewinnt, oder, daß er wirklich „geschickter" ist, als Vater und
Mutter.
Denn Elternwürde geht über jede andere Würde,
und
Elternliebe ist ein Titel, gegen welchen auch die größte Bildung zu
rücksteht: abgesehen davon, daß es schließlich
doch
seine tüchtigen
Eltern sind, denen er sein Emporkommen in der Welt verdankt. Undankbar und gottvergessen die Kinder, welche das außer Augen lassen, und sich, emporgekommen, ihrer geringen, ihrer „ungebildeten" Eltern schämen! Und nicht bloß das, sondern
auch
die Blinden!
Denn was ist das für ein Ruhm, wenn einem Rang und Stellung schon in die Wiege gelegt worden sind? Wer dagegen aus geringem Stande zu hohen Dingen gelangt, der zeigt, daß er ein Tüchtiger ist, daß er von Tüchtigen stammt.
Daher findet auch das bereits
erwähnte Wort, daß, wer den Vater ehrt, der ehrt sich, und, wer seine Mutter verachtet, der schändet sich, nirgends so sehr, als gerade
unter solchen Verhältnissen, seine Anwendung.
Aber wo ist Hoffart
und Eitelkeit schließlich nicht auch immer dumm gewesen?
Die schwerste,
aber unerläßliche Probe erleidet
die kindliche
Pflicht, wenn Fälle eintreten, aus welche v. 14 u. 15 deutet: „Liebes
Pflichten der Kinder gegen die Eltern.
111
Kind, pflege deines Vaters im Alter und betrübe ihn ja nicht, so lange er lebt, und halte ihm zu gut, ob er auch kindisch würde."
Es ist ein hartes und schweres Ding, wenn ein tüchtiges Leben in
Mangel und Dürftigkeit ansgeht,
nnd,
der einst viele mit starken
Schultern getragen, schließlich seine Hand nach Almosen ausstrecken muß.
Am herbsten ist es, wenn mit den Körperkräften auch des
Geistes Kräfte schwinden, und sich jener der Kindheit ähnliche Zu stand einfindet,
welcher das höhere Greisenalter öfter zu einer so
traurigen Erscheinung macht.
Wenn dann nur den gebrechlichen, hilf
losen Alten dankbare Kinder leben, welche es als theuerste, gern er füllte Aufgabe erkennen, jetzt den Eltern alle die Liebe und Treue
zurückzugeben, die sie einst von jenen erfahren! Gottesfürchtige Kinder welche noch den kindischen Greis und die geistesschwache Mutter mit
der Ehrfurcht umstehen, welche ihnen die Eltern in den Tagen ihrer
Kraft eingeflößt haben! Gewiß, es geschieht! Was sollte man sonst
von der Menschheit denken? Aber es geschieht nicht immer, nicht in dem Maße, wie es nöthig ist, noch mit der vollen Freudigkeit. trauriges, aber wahres Sprüchwort sagt:
Ein
ein Vater ernährt wohl
sieben Kinder, aber sieben Kinder sind nicht im Stande, einen Vater
zu ernähren.
Und es trifft noch immer ein.
Vergebens wenden die
Betreffenden zur Entschuldigung ein, oder wird für sie geltend ge macht, daß die Kinder es nicht vermöchten, hauptsächlich, weil die
meisten indeß selbst Väter und Mütter geworden wären und selbst für ihre Kinder zu sorgen hätten! Aber darf man Weib und Kind
haben, so lange man einen unserer Hülse und Pflege bedürftigen Vater, eine ohne uns verlassene Mutter hat? Aber gehen die Kinder
in alle Welt und thun, was ihnen beliebt, und für die Eltern mag
Gott oder das Spital sorgen? Andere Entschuldigungen übergehe ich
vollends: sie kommen schließlich darauf hinaus, daß ein Vater, eine
Mutter ihre Kinder, wenn es möglich wäre, wohl mit ihrem Herz blut nähren, diese dagegen zum Besten der Eltern oft nicht einmal auf ein neues Band oder eine Zigarre verzichten mögen! Steht es
so mit der leiblichen Pflege: wie verhält es sich vollends mit der
Ehrfürchtigkeit, von der wir sahen, daß wir sie unsern schwach ge
wordenen Eltern schuldig sind!
Wenn dagegen nicht oft, recht oft
gefehlt würde — gefehlt nicht bloß vom niedern Volk, sondern auch
1. Hcmptstück. Viertes Gebot.
112
von höher stehenden, „gebildeten" Leuten: so würde der alte Weise nicht so allgemein, so wehmüthig bitten: liebes Kind, betrübe nicht
deinen Vater im Alter und halte ihm zu gut, ob er auch kindisch würde.
Wer Ohren hat zu hören, der höre: auf daß nicht, wo die
Besserung und Liebe fehlt, danach der Schrecken und die Vergeltung
komme.
Ein
junges
Ehepaar hatte einen
und einen ganz jungen Sohn.
altersschwachen
Vater
Der Alte, des Mannes Vater, mit
seinen von Schwäche zitternden Händen verschüttete bei Tisch öfter
von der Speise und zerbrach auch hie und da ein Geschirr: so daß die Schwieger nicht müde ward, über die Unsauberkeit und
den
Schaden zu schelten, bis sie es durchsetzte, daß der Vater vom Tische weg auf die Bank hinter dem Ofen übersiedelt ward und dort seine
Speise aus einem hölzernen Napfe nahm.
Während
und hämmerte Hänschen im Zimmer umher.
zärtliche Mutter, was zimmerst du den»
des polterte
Hänschen, fragte die
da? Einen Trog, liebe
Mutter: da sollst du und Vater daraus essen, wenn ihr so alt, wie
Großvater, geworden seid! — „Wer seinen Vater ehrt, der wird auch Freude an seinen Kindern haben" (v. 6).
Aber, „wer seinen Vater
verläßt, der wird geschändet; und, wer seine Mutter betrübt, der ist verflucht von dem Herrn" (v. 18 u. 11).
So weit diese Stelle. Mit ihr stimmt weiter die gesammte Schrift, sowohl Alten als auch Neuen Testaments überein.
Wir heben nur
hervor, zuerst aus demselben Buche Jesus Sirach 7,29. 30: „Ehre deinen Vater von ganzem Herzen, und vergiß nicht, wie sauer du
deiner Mutter geworden bist; und denke, daß du von ihnen geboren bist; und was kannst du ihnen dafür thun, das sie an dir gethan
haben?"
Sodann 3 Mos. 19, 3: „Ein jeglicher fürchte seine Mutter
und seinen Vater"; sammt den strengen Geboten: wer seinem Vater und seiner Mutter fluche, vollends, wer sie schlage, der solle ndes Todes sterben (3 Mos. 20,9; 2 Mos. 21,15 u. 17).
30,17:
„Ein Auge,
das
Dasselbe besagt Sprüche
den Vater verspottet und verachtet, der
Mutter zu gehorchen, das müssen die Raben am Bach aushacken, und die jungen Adler fressen", d. i. ein solcher Mensch müsse
den
Tod des Verbrechers sterben und selbst des Begräbnisses verlustig gehen. — Auch die Stellen des Neuen Testaments: Eph. 6, 1—3 u.
Kol. 3, 20 gehen durchaus auf das Alte Testament zurück,
wie die
Pflichten der Eltern gegen die Kinder.
113
Hinweisung auf die den alten Geboten angehängte Verheißung be weist.
Wenn in ihnen die Ermahnung, den Eltern zu gehorchen,
das eine Mal ganz dem Alten Testament entsprechend begründet
wird: „denn das sei dem Herrn gefällig", das andere Mal dagegen: „denn das sei billig", so ist bei letzterem an das bereits Erörterte
zu erinnern, daß naturgemäß für die Kinder eine Zeit kommt, in
welcher sie, im eigenen Hausstande oder öffentlichen Amte stehend, ja
selbst bereits Vater und Mutter geworden, aus dem Verhältniß des strikten Gehorsams in das Freundes-Verhältniß zu den Eltern über
gehen, in welchem wohl noch von Liebe, Dankbarkeit und Verehrung, aber nicht mehr von Unterwürfigkeit die Rede ist und sein kann. Dieser
Uebergang ist aber kein plötzlicher, sondern verläuft, wie alle Ueber-
gänge, allmählich: so daß, bis er entschieden ist, sehr wohl eine Meinungsverschiedenheit zwischen Eltern und Kindern eintreten kann, ob und in wie weit selbständige Entscheidung für die letzteren bereits
am Orte und Pflicht sei.
Da soll die Billigkeit die Kinder zu dem
treiben, was ihrer Meinung nach eigentlich nicht mehr gefordert werden sollte'). Angeschlossen an diese Ermahnung an die Kinder, findet sich
in den neutestamentlichen Stellen eine Ansprache an die Eltern, in welcher letztere hingewiesen werden auf das, was sie ihrerseits den Kindern schuldig sind, sowohl, was sie den Kindern gegenüber zu meiden, als auch, was sie zu thun haben.
Als das zu Meidende
wird angegeben, daß die Eltern sich hüten sollen, ihre Kinder zum Zorn zu reizen (Eph. 6, 4) oder sie zu erbittern, auf daß sie nicht scheu werden (Kol. 3, 21).
Beides ist offenbar dasselbe: die War
nung, dafür zu sorgen, daß sich nichts Widriges in den Gemüthern der Kinder sestsetze, wodurch die Liebe zu den Eltern und das Ver trauen zu ihnen, worauf alle gedeihliche Einwirkung jener auf sie beruht, gestört werde. Fragen wir, wie bei dem Durste der Kinder, zu lieben und geliebt zu werden, ihrem Drange, sich anzuschließe»,
und ihrer Geneigtheit zum Vertrauen eine derartige Widrigkeit ent
stehen könne, so tritt uns als erste Ursache die Kälte der Erwach9 Siehe hierüber und über das Folgende die ganz ausgezeichneten Predigten
von Schleiennacher über den christlichen Hausstand, ein in unserer Literatur ganz
einzig dastehendes Werk, das in keinen! Hanse fehlen sollte. — (ältester, Materialien.
2. Auflage.
114
1. Hauptstück.
Viertes Gebot.
senen und ihre Gleichgültigkeit gegen die Angelegenheiten der Kinder
entgegen, daß sie selbst in dem Kreise der Ihrigen, nur mit ihren
eigenen Gedanken und Interessen beschäftigt, so gar keinen Sinn für das haben, was die Kinder bewegt und ihnen wichtig däucht;
ja, daß sie, wenn letztere, ihrem kindlichen Drange folgend, an die Erwachsenen treten und ihr volles Herz anszuschütten begehren, diese
Aussprache abschneiden: die Kinder sollten sie mit ihrem dummen Zeug in Ruhe lassen.
Das wirkt, wie Winterfrost, auf die junge
Saat und schließt die Seelen zu, daß sie sich auch dann nicht öffnen,
wenn wir einen Blick in sie zu thun begehren. — Weiter die Launen haftigkeit, welche in den geheiligten Kreis des Hauses, in welchem
wir uns in freundlichem Verkehr einer den andern erheitern sollen,
die Widerwärtigkeit und allen Verdruß des Lebens hineinträgt und aus die Unsrigen ablagert, daß sie mit Furcht auf uns schauen, wie
wir heute gestimmt sind, ob sich dieser Finsterniß und dem drohenden
Ungewitter gegenüber ihre Rede hinauswagen dürfe. — Endlich die allzu große Strenge und Härte in der Behandlung, vor allem in
der Bestrafung der Kinder.
Ehedem war dieselbe noch größer, als
jetzt, geradezu an Barbarei gränzend.
Wie z. B. Luther von sich
erzählt, daß er von seinem Vater um geringfügiger Ursachen willen wiederholt so hart gezüchtigt worden sei, daß er nahe daran gewesen, das Vertrauen zu verlieren, und Mühe gehabt habe, sich wieder zu recht zu finden. Das ist jetzt wohl anders geworden: doch wird
noch immer viel und um so leichter darin gefehlt, als viele Eltern
meinen, daß eine derartige Strenge nicht nur unentbehrlich, sondern eine pflichtmäßige und von der Schrift geforderte sei, und daß auch
der Apostel Paulus sie empfehle.
„Laß nicht ab, den Knaben zu
züchtigen; denn, wenn du ihn mit der Ruthe hauest, so darf man
ihn nicht tobten.
Du hauest ihn mit der Ruthe, aber du errettest
seine Seele von der Hölle" (Sprüche Salomonis 23, 13. 14).
„Wer
sein Kind lieb hat, der hält es stets unter der Ruthe, daß er her nach Freude an ihm erlebe" (Jesus Sir. 30, 1). „Ruthe und Strafe giebt Weisheit" (Sprüche Sal. 29, 15). „Wer seiner Ruthe schont, der hasset seinen Sohn; wer ihn aber liebt, der züchtigt ihn bald" (Sprüche Sal. 13, 24).
„Ein verwöhntes Kind wird muthwillig. —
Zärtele mit deinem Kinde, so mußt du dich hernach vor ihm fürchten"
Pflichten der Eltern gegen die Kinder.
115
Das hat wohl auch seine Art und insbesondere
(Jes. Sir. 30, 8. 9).
seine Stelle gegenüber der zuletzt erwähnten Verzärtelung und Dul dung, ja Beschönigung aller Untugend der Kinder seitens schwacher
Eltern *).
Aber wenn einer meinte,
daß das auch der Rath des
Apostels und der Sinn der Anweisung sei, in welcher derselbe, was
Eltern ihren Kindern zu thun haben, zusammenfaßt: „Ziehet
sie auf in
der Zucht und Vermahnung zum Herrn": der übersieht
— ein Irrthum,
der freilich häufig genug ist — den Unterschied,
der zwischen Zucht und Züchtigung oder Strafe und Ruthe statt
findet.
Beide sind so verschieden, daß sie sogar entgegengesetzt sind,
und man dreist sagen kann, je mehr Zucht an den Kindern geübt
worden ist, um so weniger wird Strafe Platz haben; und umgekehrt, je mehr nach Strafe vollends Ruthe nöthig sei, da müsse es in dem
selben Maße an der rechten Zucht fehlen oder gefehlt haben.
Die
Strafe folgt auf den Ungehorsam, die Zucht aber setzt den Gehorsam
voraus ; die Strafe giebt den Kindern nur zu leiden, die Zucht aber zu thun; die Strafe verknüpft bald mehr bald minder willkürlich
mit dem Unrechten und Tadelnswerthen etwas Unangenehmes, Bit teres, die Zucht aber legt eine löbliche Anstrengung der Kräfte zum Leisten
oder
zum Entbehren
innere Freude verknüpft ist.
auf,
mit welcher von
selbst eine
Die Strafe kann das Böse nur zurück
drängen, die Zucht dagegen weckt die in dem Menschen vorhandenen Kräfte und leitet sie an, sich auf das Gebot der Pflicht, und nur
auf dieses zu regen;
sie lehrt die Kinder im Gehorsam gegen die
höhere Stimme, welche aus Eltern und Erziehern spricht, ihre eigene
Lust zähmen
und
dem elterlichen Willen sich fügen, Maß halten
und sich selbst beherrschen.
Die Strafe bessert auch nicht, sie ver
mag höchstens den Ausbruch des Bösen zu verhindern — das ist ihre Aufgabe und, wo es einmal bis zu diesem Punkte gekommen ist, ihre traurige Berechtigung — das Böse selbst aber überwindet
sie nicht; sie nährt es vielmehr in seiner Wurzel, indem sie durch
Einwirkung auf sinnliche Lust die Lust überhaupt und die Selbstsucht mehrt, dafür den Willen bricht, zur Feigheit und Heuchelei erzieht.
Wo Strafe gebessert, Ruthe gezogen zu haben scheint, da sind es
') Eli und seine Söhne (1 ©ant. 2, 12—34).
116
1. Hauptstück.
Viertes Gebot.
trotzdem nimmer diese gewesen, welche das Gute gewirkt haben, son dern die Liebe,
die hinter der Strafe war, das in Liebe brechende
Herz der Erzieher, welches unter der Strafe mehr litt, als die Ge
straften selbst, und
darum
auch
diese den geistigen Schmerz,
die
Eltern betrübt zu haben, viel tiefer empfinden ließ, als das leibliche
Uebel, das jedes tapfere Gemüth schon als Kind verachtet. — Wollte Gott, daß alle Eltern dieses Unterschiedes stets inne wären, es würde die Kinderzucht besser gedeihen, und mehr Friede in den Häusern sein!
Wie die Zucht im Gegensatze zur Strafe steht, so ist auch das
zweite, was der Apostel den Eltern einschärft, „die Ermahnung zum
Herrn", etwas wesentlicheres, als man in der Regel darunter ver steht: Belehrung über den Herrn, überhaupt über die Gegenstände
des christlichen Glaubens. — Allerdings hat auch diese Mittheilung gewisser Kenntnisse, Erweckung verständiger Erkenntniß in beschränktem
Maße innerhalb bestimmter Gränzen ihren Ort; die Ermahnung
aber ist etwas ganz
uneingeschränktes,
immer
Platz greifendes:
Einwirkung auf das Gemüth, um den Willen in Bewegung zu sehen sowohl für das Leiden, als auch für das Handeln. Da will der Apostel, daß wir in allen Stücken so auf die Kinder einwirken, daß 'sie überall mit ihrem Willen auf Gott und auf den, in dem allein wir Gott voll und rein erkennen, auf „den Herrn", auf Jesum Christum
gerichtet seien.
Also, wenn es gilt, sie zu einem Thun zu ermuntern,
daß wir da ihre Seele nicht bewegen durch Vorhaltung des Vor theils oder Nachtheils, den sie davon haben würden — denn das würde eine Ermahnung zur Selbstsucht sein; auch nicht durch Hin
weisung auf Lob und Tadel der Menschen — das hieße sie zur
Eitelkeit, Hoffart und Menschenknechtschaft ermahnen, noch durch sonst etwas andres, als einzig und allein dadurch, daß wir ihnen den Willen, die Liebe, das Wohlgefallen Gottes vorhalten.
Desgleichen im Leiden
sollen wir alle Trübsale — sowohl, was ihren Ursprung, als auch, was
die Weise betrifft, wie wir dieselben handhaben müssen — abermals
auf Gott zurückführen,
daß er es ist, der die Trübsal sendet, daß
sie darum auch gut sei und, wenn sie dieselbe nur recht benutzen, zum Besten diene, und daß sie deshalb nur hierfür, für die rechte Aus nutzung sorgen, alles andre aber Gott anheimgeben möchten: so daß
auch hier ihre Herzen und Gedanken weniger an dem Traurigen und
Pflichten der Eltern.
Stellung der Herrschaften und Obrigkeiten.
]]?
Unangenehmen haften, was sie leiden, als auf das gerichtet werden,
was Gott will, daß sie Löbliches thun. — Und alles-dieses so, daß wir, in allem mit unsrem eignen Beispiel vorangehend, dnrch dasselbe kräftiger ermahnen,
könnte.
als
es durch
die beweglichste Rede gefchehen
Das Reich Gottes steht auch in der Erziehung der Kinder
viel weniger in Worten und in Geberden, als in Kraft: je mehr That, um so weniger Wort, vor allem um so weniger Künste werden
nöthig sein. Je mehr es in diesem Werke aus unsre Persönlichkeit ankommt,
und ohne die rechte Persönlichkeit gar nichts gewirkt werden wird,
um so mehr haben wir uns zu hüten, daß wir nicht zu uns er mahnen, sondern, wie die Weisung lautet — unsre Ermahnung Er mahnung zum Herrn sei. Gerade die Eifrigsten versehen es in dieser Beziehung am häufigsten, indem sie ihre Meinung, vollends ihre
theologische Auffassungsweise den Kindern aufdrängen und dieselben zu einem reinen Abklatsch ihrer — immerhin ehrenwerthen, doch immer
beschränkten Persönlichkeit zu machen suchen; indem sie dieselben auch sonst nur zu ihrem Wohlgefallen und zu ihrer Ehre erziehen, nur das
in ihnen entwickeln, beziehungsweise auf sie aufpfropfen, was ihren Ab
sichten, Hoffnungen, Wünschen entspricht, den berechtigtsten Neigungen der Kinder Gewalt anthun und sie in Lebenslagen drängen, die wohl ihnen selbst genehm sind, zu welchen jene jedoch nicht angelegt sind,
und in welchen sie darum weder das, was sie wirken sollen, wirkest noch sich glücklich fühlen werden. Da gilt nicht: zu uns, nicht für uns, sondern: zum „Herrn", oder, wie der bezeichnende Aus
spruch lautet, welcher uns bei der Taufe vorgehalten wird: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht!" Christus muß das Mark und das Ziel der Kinderzucht sein, nicht wir; sonst
erziehen wir zum Schaden. Luther in seiner Erklärung dehnt
das vierte Gebot von den
Eltern auch auf die „Herren" aus, desgleichen wird dasselbe in andern
Katechismen überhaupt auf alle Herrschaften und Obrigkeiten bezogen.
Es ist nichts dagegen zu erinnern, sofern die Dienenden zu
den Hausgenossen gehören, andrerseits die obrigkeitliche Gewalt sich ursprünglich aus dem patriarchalischen Verhältniß entwickelt hat. Nur, daß man zu unterscheiden wisse und die Regeln für das Ver-
118
1. Hmiptstück.
Viertes Gebot.
hältniß von Obrigkeit und Unterthan nicht aus der hausväterlichen
Gewalt hernehme,
die für dasselbe nicht mehr paßt.
Mögen wir
immer unsre Fürsten, wenn wir sie ehren wollen, Väter des Vater landes nennen: so unterscheiden wir doch sehr bestimmt zwischen Landeskindern und Kindern des Königs. Das bürgerliche Verhältniß
ist längst über das patriarchalische hinausgewachsen und zu einem
durch Recht und Gesetz geordneten geworden.
Im Staat greift nicht
mehr der kindliche Gehorsam, sondern Ueberzeugung des Mannes
und Gehorsam gegen das Gesetz Platz. Die Liebe und Treue gegen den Fürsten braucht darum nicht zu schwinden, nur ist sie eine andre
und äußert sich anders und hat andre Rechte und Pflichten, als die Liebe des Kindes zu seinen Eltern. Dies voraus, betrachten wir zunächst das Verhältniß von Herr
schaften und Dienstboten.
Hört man die allgemeine Stimme, so
ist heute kein anderes Verhältniß so sehr verderbt, als dieses.
Herrschaften klagen,
Die
daß es keine anhänglichen, treuen, bescheidenen
Dienstboten mehr giebt, sondern alle wollten hoch hinaus, suchten das Ihre, nämlich den Lohn, wären mißmuthig und unfreundlich.
Die Dienstboten dagegen beschweren sich über lieblose Behandlung, hoffärtiges Wesen, Härte, daß man mit ihnen nicht, wie mit Menschen,
die auch ein Herz haben, sondern, wie mit untergeordneten Wesen, die lediglich zur Arbeit benutzt und, wenn ausgenutzt, verstoßen würden, umginge.
Beide haben Recht, beide müssen, wenn es besser
werden soll, sich bessern.
Was sie da zu thun haben, zeigt beiden
das Wort, welches wir in der christlichen Haustafel Eph. 6, 5—9, Kol. 3, 22—4, 1 finden.
Die Herrschaften sollen
ihre Dienstboten als solche ansehen,
welche der Herr ihnen zugeführt hat,
nicht bloß, daß jene ihnen,
sondern auch, daß sie den Dienstboten dienen und die Pflichten er
füllen, welche ihnen gegen sie obliegen, über deren Erfüllung sie Gott
werden Rechenschaft geben müssen.
Das ist der Inhalt der kurzen,
aber unendlich bedeutungsvollen Ermahnung: „Ihr Herren thut auch
dasselbige gegen sie und lasset das Drohen und wisset, daß auch
euer Herr im Himmel ist, und ist bei ihm kein Ansehen der Person" (Eph.); und ihr Herrn, was recht und gleich ist, das beweiset den Knechten und wisset,
daß ihr auch einen Herrn im Himmel habt
Herrschende und Dienende.
(Kol.).
Dadurch ist
die Kluft überbrückt,
119
die namentlich ehemals
Gebietende und Gehorchende, Herrn und Knechte von einander trennte,
zumal Eph. 6, 7—8 auch die Knechte daran erinnert: „Lasset euch dünken, daß ihr dem Herrn dient und nicht den Manschen, und wisset, daß, was ein jeglicher Gutes gethan hat, das wird er von dem Herrn
empfangen, er sei ein Knecht oder ein Freier"; zugleich wird dadurch eine Gleichartigkeit des Dienens und der Verantwortung hergestellt,
welche das ganze Verhältniß umwandelt. Fortan: dienen beide, jeder in dem andern Christo: beide thun, was sie dem andern schuldig sind, weil sie trotz ihrer äußerlich verschiedenen Lage sich beide als Diener
Christi gleichzeitig
frei und gebunden fühlen.
Damit ist zunächst
auf feiten der Herrschaft alles Pochen auf Gewalt— „das Drohen", alle Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit („dafür wird der Dienstbote bezahlt") abgeschnitten.
mehr, als Geld,
Herz — schuldig ist. ihr leibliches,
Der Herr weiß, daß er dem Dienstboten
daß er ihm Schutz, Theilnahme, Fürsorge — ein
Er gebietet nicht bloß,
wie ihr geistiges Wohlergehen.
er sorgt für sie, für
Das kann in einem
christlichen Hauswesen nicht vorkommen, daß die Dienenden darben,
hungern, frieren, daß sie durch mangelhafte Kost und feuchte Woh nung ihre Gesundheit einbüßen, während die Rosse des Herrn in Prachträumen weilen, und das Schoßhündchen auf Teppichen schläft. — Die Herrschaft erzieht ihre Dienstboten und hat Geduld mit ihnen. Sie weiß, daß das abhängige Verhältniß der Dienenden nur ein
vorübergehendes ist, bestimmt, nur so lange zu dauern, bis dieselben in der Lage seien, selbst einen Hausstand zu gründen.
Die Ge
bietenden sind beflissen, daß ihren Dienenden der Aufenthalt in ihrem Hause dazu eine Vorbereitung werde; sie leiten sie zur Häuslichkeit,
Ordnung,
Sauberkeit, Sparsamkeit an.
Sie ziehen die, auf deren
Dienst im Hause gezählt, und die des Hauses Genossen sind, in den Genuß des Hauses, seines geordneten Ganges, seiner Freuden, seiner Feste:
sie sehen nicht scheel, im Gegentheil, sie freuen sich,
wenn langgediente Hausgenossen des Hauses Ehre als ihre Ehre,
des Hauses Glanz als ihren Glanz und dann auch
des Hauses
Schicksal als ihr Schicksal betrachten und, wie von unsrem Herrn und unsrer Frau, so auch von unsren Kindern, unsren Besuchen sprechen. Sie ziehen, ohne einer falschen Vertraulichkeit Raum zu
1. Hniiptstück. Vikrtes Gebot.
120
gestatten, ihre Dienenden zn sich empor,
sie haben ein freundliches
Wort für sie und verstatten ihnen in Dingen, welche die Dienenden
verstehen, ein Wort.
So adeln sie den Dienst in ihrem Haufe und
schaffen die Grundlage, auf welcher die Dienstleistungen jener für diese, wie auch
für sie selbst, annehmbar und zu ertragen sind.
Welch Widerwärtiges, Verachtete in unserer Nähe zu haben, und ihre körperliche Berührung zu dulden, und welch Widerspruch, uns, unsre
Ehre,
unsre Kinder Personen
anzuvertrauen, die wir für Nichtse
halten! Sie suchen endlich auch die Zukunft ihrer Dienenden zu sichern und verstoßen alte oder kranke Dienstboten nicht. Freilich ist
es oft schwer, in dieser Hinsicht so zu sorgen, wie man es möchte, und wie es ehedem häufiger geschah, daß man nämlich treu gediente Dienende auch, nachdem sie dienstunfähig geworden waren, im Hause behielt und bis an ihr Ende verpflegte.
Der Druck des Lebens und
seine Anforderungen sind jetzt gar hart, so daß selbst mancher Höher-
gesteüte in der Gesellschaft, was früher unerhört war, im eigentlichen
Sinne Sorge um das tägliche Brod hat.
Trotzdem ist es ein schönes
Ding um die Treue, nicht bloß der Dienenden, sondern auch um die Herrentreue, und es wird solcher Treue noch immer gelingen, an
was, leider Gottes, die Mehrzahl unsrer Herrschaften jetzt kaum denkt, nämlich auch den aus dem Hause scheidenden Hausgenossen ein An halt, Berather, Tröster zu sein; ihnen mit einem Wort freundliche
Theilnahme zu bewahren und zu zeigen. — So bildet sich allmählich eine bessere Sitte,
welche ihre Einwirkung auf die einzelnen nicht
verfehlen und dahin führen wird, dieses ganze, liegende Verhältniß zu bessern.
so sehr im Argen
Aber auch die Dienenden werden durch die von dem Apostel ihnen gepredigte religiöse Auffassung ihres Geschickes, d. i durch die
Beziehung desselben auf den Herrn, andre werden. Zuerst: sie hören auf, das ihnen beschiedene Loos als ein willkürliches, durch irgend welches Unrecht der Menschen und menschlicher Verhältnisse herbei geführtes anzusehen, eine Auffassung, die sich so leicht in den Dienen den festsetzt und vor allem geeignet ist, ihre Seele mit Mißmuth zu
erfüllen.
Fortan wissen sie, daß Gott sie in dieses Verhältniß ge
setzt, damit sie ihm in demselben die Dienste leisten, welche sie ihm vorläufig in keiner andern Weise leisten können. — Sie denken auch
Herrschende und Dienende.
von
demselben
121
nicht mehr gering und schämen sich desselben nicht:
sie beginnen die Bedeutung zu ahnen, welche ihr immerhin unschein
barer Dienst für den äußeren und inneren Frieden, den Wohlstand, die Stille des Hauses, sowie für die Lösung der dem Hause gestellten
Aufgaben, insbesondere für das Gedeihen und die Erziehung der Kinder hat.
Namentlich in letzterer Beziehung ist ihr Einfluß ein ganz un Welch
berechenbarer.
Unheil
pflichtvergessene Dienstboten
haben
nicht
an Kindern
schon
leichtsinnige und
angerichtet!
Andrerseits:
wie mancher Mensch verdankt, daß er ein gesunder blieb, verdankt, daß er ein rechtschaffner wurde, viel mehr der Gewissenhaftigkeit, der Pflege, der Ueberwachung, überhaupt der Einwirkung eines alten und
treuen Dienstboten, als den Bemühungen seiner eignen Eltern, die
vor allen Geschäften, Gesellschaften, Vergnügungen leider nicht „die Zeit hatten", sich so speziell um die Kinder zu bekümmern! In alten
Zeiten klagten heidnische Schriftsteller, daß sich das Christenthum vor allem durch Weiber und Sklaweu verbreite und das jüngere Geschlecht
Es ist dieser Dienst — recht eigentlich
ergreife.
ein Dienst,
dem
Herrn geleistet — auch noch heute den Dienenden nicht verschlossen.
Erkennen, erfüllen sie ihn: wie hoch steht ihr Loos vor ihren eignen
Augen, wie hoch sie selbst vor Gott da! —
Sie klagen auch
nicht über
die Beschwerden,
Mühen,
Ent
behrungen, welche ihr Stand mit sich führt — die größte die, ab hängig
zu sein und
ihre Lebensführung nicht rein aus sich selbst
gestalten zu können; sie, die gerade als Dienende häufig Gelegenheit haben, tiefer in mehrere Häuser zu blicken,
als mancher andere, sie
erkennen: „ein jeder Stand hat seinen Frieden, ein jeder Stand hat
seine Last."
Sie thun ihren Dienst mit Lust, „nicht mit Dienst nur
vor Augen, den Menschen zu gefallen, sondern als Knechte Christi",
ebenso eifrig, wo man sie sieht, als, wo sie unbeobachtet sind;
auch
nicht um Lohn; „der Arbeiter ist seines Lohnes werth" (Luk. 10, 7),
aber,
wer nur
Herrschaft
um
des Lohnes
sofort verläßt,
willen dient und selbst eine gute
sobald ihm anderwärts bessere Bezahlung
geboten wird, der verkauft sich selbst und darf sich nicht beschweren, wenn man eine solche Knechtsseele als eine bezahlte behandelt.
Der
rechtschaffene Dienstbote legt seine Anhänglichkeit in seinen Dienst und hält aus, wenn auch in einem Hausstande vorübergehend knappe
1. Hauptstück. Viertes Gebot.
122
Zeit, trübere Tage, die Last der Krankheit und der Krankenpflege
kommen.
Da vor allem bewahrt er sein freudiges Wesen und hütet
sich vor der Verdrossenheit, die mehr, als manches, den Verkehr mit
den Dienenden zu einer Plage, das Leben im Hause zu einem un leidlichen macht.
Er
ehrt seine Herrschaft
„mit der That, mit
Worten"') und, wo es nöthig ist —mit freundlicher „Geduld"; wie
er ja fordert, daß sie mit ihm Geduld haben solle.
Was ist es doch
für ein Großes um einen solchen frommen, gewissenhaften, anhäng lichen, treuen Dienstboten, und wie ist recht eigentlich von einem
solchen geredet, was der Herr Matth. 25, 21 sagt: „Ei du frommer und getreuer Knecht, du bist über wenigem treu gewesen, ich will
dich über viel setzen.
Gehe ein zu deines Herrn Freude"!
Schon vorher haben wir daraus hingewiesen, daß das Verhältniß
zwischen Obrigkeit und Unterthanen die Pflichten des Fürsten und der Staatsbürger, nicht des Vaters und der Kinder in sich schließe; daß mit
einem Worte das Verhältniß ein staatsrechtliches, nicht ein häusliches sei. Nicht minder wichtig, als dieses Bedeutsamste, ist, daß wir nicht er
warten sollen, daß uns in der Bibel und dem Katechismus staatsrecht liche Belehrungen gegeben werden. Es ist ein verhängnißvoller Irr thum, wenn man unternimmt, unmittelbar aus der Bibel und der Dog
matik heraus den Staat zu construiren,
Gesetze zu entwerfen, Ein
richtungen zu treffen, Regeln für unser politisches Verhalten als
solches herzustellen, wie es im Staate des Mittelalters und in dem puritanischen Staat geschehen ist und noch geschieht. Sondern, was uns gegeben wird, hat allein sittlich religiöse Beziehung, sind
allein Ermahnungen, welche sich an unser frommes Gewissen wenden und uns zeigen, wie sich die bürgerlichen Verhältnisse darstellen, wenn wir sie im Lichte des Evangeliums betrachten. Diese sittlich
religiösen Grundsätze finden wir in der Bibel, wenn auch nicht detaillirt, doch hinreichend klar vorgezeichnet, daß wir nicht irren können und hinsichtlich derselben Uebereinstimmung unter den Christen und Gehorsam fordern dürfen: wohingegen die Anwendung derselben
auf das politische Verhalten in den Verhältnissen des Staats ein Gegenstand weitern Nachdenkens und das Produkt der besonderen
9 Auch mit Schweigen: ein treuer Dienstbote trägt nichts aus dem Hause.
Obrigkeit und Unterthanen.
123
politischen Kunst und bestimmter Kenntnisse ist, und daher auch unter
Abweichungen stattfinden können. Die Stellen, auf welche es hier vor allem ankommt, sind: Römer 13, 1—7; gleich frommen Christen
1 Petri 2,12-20; Matth. 22,15—22; 26, 51-56; Luk. 22,49—53; Joh. 18, 36f. u. 19, 11 u. s. w.
Außerdem 1 Timoth. 2,1—6; Apostg.
4,15—20; 5, 25—29; 23, 5.
Ferner Sirach 10, 1—5.
So weit Eltester selbst über das Verhältniß von Obrigkeit und
Unterthanen!
Sicherlich hätte er noch Wesentliches hinzugefügt, vor
allem aus seinem für König und Vaterland so warm und treu
schlagenden Herzen, wäre er nicht über der Arbeit gerade an diesem Abschnitt hingestorben, an den er noch wenige Tage vor feinem Ende unter dem Ringen mit unsagbaren Schmerzen seine letzte Kraft ge setzt (das 6. Gebot hatte er gleich anfangs vorweggenommen). Nach dem Zeugniß früherer Schüler wußte er vor andern das „Jedermann
sei Unterthan der Obrigkeit" (Röm. 13) den Seelen der Jugend ein
zuschärfen und sie zur Liebe für Thron und Vaterland zu begeistern.
Die hier durch den Tod entstandene Lücke ist die Veranlassung zu folgenden Ausführungen:
1. „Jedermann soll der Obrigkeit Unterthan sein, die Gewalt über ihn hat" (v. 1), also der Obrigkeit in jeder Form je nach Brauch des Landes, gleichviel, ob wir eine andre Form für besser halten, auch Ehrfurcht vor dem
in jeder Person, die in ihrem Auftrag dasteht.
Könige und dem allverehrten Kaiser versteht sich für einen guten
Preußen und Deutschen von selbst; aber du sollst ihn durch Ehr erbietung und Gehorsam auch gegen den geringsten Beamten ehren, der ihn und das Gesetz vertritt, welche Stellung du auch anderweit demselben gegenüber einnehmest.
2. „Die Obrigkeit ist von Gott geordnet" (v. 1). Es handelt sich nicht nur um die Person, sondern um eine Ordnung Gottes,
vor allem um das Gesetz. Von Königstreue reden und unbequeme Gesetze umgehen, auch in Kleinigkeiten, stimmt übel zusammen. Wie manches Gute wird dadurch erschwert, daß jeder sich kleine Ab
weichungen von heilsamen Ordnungen erlauben zu dürfen glaubt! Wie wohlthuend berührt es, wenn in buntem Menschengewirr ohne ein großes Aufgebot von Beamten und doch ohne Störung und Un-
I. Hauptstück. Viertes Gebot.
124
Ordnung tausende durch einander wogen, weil jeder aus Ordnung hält! Wohl dem Volke, das sein Gesetz in sich trägt nnd in ihm und
in der Obrigkeit sich selber ehrt! 3. Alle Verhältnisse, die das 4. Gebot umfaßt, — zwischen
Eltern und Kindern, Lehrenden und Lernenden, Herrschenden und
Dienenden,
Obrigkeit und
Unterthanen — sind
Verhältnisse
der
Pietät (S. 107), d. h. auf Frömmigkeit gegründet und auf Erziehung zur Frömmigkeit angelegt.
Gott hat sie durch die Natur des Menschen
und die Geschicke der Völker geordnet, um uns durch die Bande der Ehrfurcht und Liebe in Familie, Gemeinde und Staat zur Ehrfurcht
gegen Gott und zur Liebesgemeinschaft seines Reiches heranzubilden. Daher die Wichtigkeit dieser Verhältnisse und die Verheißung zum
4. Gebot: „auf daß du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott, giebt" (2 Mos. 20, 12)! Diese Worte, zuvörderst nicht auf
den einzelnen, sondern auf das ganze Volk, zuerst Israel und dann die Menschheit als Volk Gottes, bezogen, haben tiefe Wahrheit: So lange
in einem Volke noch das Familienleben gesund ist, und die
Herzen der Eltern und Kinder sich zu einander wenden, so lange noch Herrschende und Dienende in dem Wechselverhältniß der Ehrfurcht
und billiger Fürsorge stehn, und das Volk sich selbst in seinen Ge setzen und seinen Herrschern achtet, aber auch die Obrigkeit ihres
Schutzamtes für alle waltet: so lange wird Gott es auch aus schwersten Schlägen immer wieder aufrichten; denn noch lebt in ihm ein gesunder
Kern.
Wo aber ein Volk diese Pietätsverhältnisse zu lockern beginnt,
da arbeitet es an seinem eignen Untergange. 4. Daher müssen sie aber auch vor andern unverbrüchlich heilig gehalten werden und alle das gemeinsam haben, daß jeder Theil seine
Pflicht gegen den andern bis an den Tod, beziehungsweise bis zur Lösung des Verhältnisses auch dann erfüllt, wenn der andere der seinen vergißt.
Elternliebe hört auch
gegen das ungerathene Kind nicht
auf (Luk. 15, 11 f.), ebenso wenig jemals Kindespflicht gegen schlechte
Eltern.
So lange sie bei einander bleiben, soll der Knecht auch dem
wunderlichen Herrn gehorchen (1 Petr. 2, 18), und der Herr sorgen auch für den untreuen Knecht.
Zum Gehorsam gegen die Obrigkeit
vollends mahnt Paulus die römischen Christen auch unter einem
Nero (Röm. 13): das mag sich so mancher zu Herzen nehmen,
Gehorsamspflicht gegen jede Obrigkeit, einzige Gränze. für
den
125
die Obrigkeit nur zum Kritisireu da zu sein scheint, oder
der in ihr und ihren Beauftragten nicht sowohl Diener des Staates
und Gesetzes — das
sie sein —, sondern seine Diener er
sollen
blickt, denen gegenüber er meint, jede Rücksicht aus der Acht lassen zu
dürfen, sobald
sie ihiu sein Recht
scheinen oder auch
nur
um
breit zu kürzen
ein Haar
nicht in jeder Hinsicht zu Diensten stehn.
Dem gegenüber ist einzuschärfen, daß wir nach der Schrift auch der pflichtvergessenen Obrigkeit Gehorsam und. Ehrerbietung schulden.
5. Aber ist denn gegen eine solche keinerlei Widerstand, ist nicht
gegen die offenbare Ungesetzlichkeit sogar Revolution erlaubt?
Be-
waffuete Auflehnung gegen die rechtmäßige Obrigkeit, auch gegen die schlimmste, ist nie ohne Sünde und zieht stets Fluch nach sich,
wie
insbesondere die Völker, welche, wie das französische und spanische,
häufig dazu greifen,
nur allzusehr an sich erfahren.
Freilich liegt,
wo Revolutionen im größeren Umfange vorkommen, die Sünde meist
auf allen Seiten,
oben und
unten,
und gewöhnlich ist schon von
früheren Geschlechtern her der Zündstoff gehäuft.
Damit das nicht
geschehe, dazu werden weise Obrigkeiten stets bei Zeiten berechtigten Klagen abhelsen, dazu hat jeder ihrer Beamten vom ersten bis zum letzten sich beständig zu predigen und selbst dem Unverstand gegenüber
nicht zu vergessen, daß er nicht Herr des Volks, sondern Diener seines
Wohls in Gottes Auftrag sei.
Doch das einzige Widerstandsmittel des
Christen gegen Unbill der Obrigkeit bleibt unter allen Umständen das Wort: „Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen" (Apostelg.
5, 29).
Das hat er nicht etwa in gewaltthätiger Auflehnung, sondern
in schlichtem Handeln nach Gewissen, Ueberzeugung, Gesetz mit aller Festigkeit geltend zu machen und
dann mit Christo zu leiden, was
Gott durch die auferlegt, die keine Macht über ihn hätten, wenn sie ihnen nicht von oben gegeben wäre (Joh^ 19, 11).
Wo es in einem
Volke viele giebt, die in solcher Weise furchtlos für Recht und Wahr heit eintreten, da wird auch der ärgste Tyrann sich auf die Dauer
nicht halten können, und das gequälte Volk wird um so gekräftigter aus der Prüfung hervorgehen, je strenger es in den Bahnen gesetz lichen Widerstandes
blieb.
Gegen Fremdherrschaft
und solche, die
sich wider Recht zu Herrschern aufwerfen, darf das Volk zur Waffe
der Nothwehr greifen, nur daß es auch hier möglichst im Anschluß
1- Hmrptstück.
126
Viertes Gebot.
an vorhandene Ordnungen geschehe,
und der Geist der Zucht be
wahrt werde. 6. Dem preußischen und deutschen Volke hat Gottes Gnade den
Gehorsam gegen die Obrigkeit leicht gemacht.
Unser großer Friedrich
hat den deutschen Fürsten nicht vergeblich die Losung vor Augen ge stellt: „Der König ist der erste Diener des Staats." Und er hat damit nur ausgesprochen, was unsere Hohenzollern nun fast ein halbes Jahrtausend bei ihrer Regierung mit mehr oder minder klarem Be
wußtsein geleitet hat.
Durch ihre Großthaten, Treue und Ausdauer
ist Preußen und Deutschland unter Gottes wunderbaren Gnaden führungen groß und einig geworden; und wir werden von Europa
um unser Herrscherhaus und unsern Kaiser beneidet.
Fürst und
Volk umschlingt das Band innigster Verehrung und Liebe; und, wie
unsre Fürsten des Volkes Geschick als das ihrige empfinden, so nimmt das Volk an Freud' und Leid des Kaiserhauses den wärmsten Antheil.
Wie wäre es nicht heiligste Pflicht der Dankbarkeit, daß
jeder dazu helfe, dieses Band noch immer inniger und fester zu ge
stalten, nicht durch Sklawensinn, sondern in christlicher Freiheit, Wahrheit, Pflicht- und Ueberzeugungstreue! 7. Mit der Pflicht gegen die Obrigkeit hängt innig zusammen die Pflicht gegen das Vaterland.
„An's Vaterland, an's theure schließ' dich an, das halte fest mit deinem ganzen Herzen! Hier sind die starken Wurzeln deiner Kraft" — diese Worte des alten Attinghausen in Schillers Tell finden in
der Brust des Christen vollen Widerhall. So wenig die Liebe zu unsrer Familie die Liebe zu Gemeinde und Vaterland ausschließt,
so wenig schließt die Liebe zum Vaterland die von Christus gebotene allgemeine Menschenliebe aus, sondern die Liebe im engeren Kreise
erzieht für die im weiteren. Freilich mit Nationaldünkel und Nationalherrschsucht, die alle andern Völker unterdrücken will und statt friedlichen innern Ausbaus Erweiterung der Gränzen in's Maß lose erstrebt (Chauvinismus), hat das Christenthum nichts zu schaffen
und noch weniger mit Nationalhaß oder gar mit dem gehässigen
Pochen auf irgendwelche Abstammung, aber ebenso wenig mit vater landslosem Weltbürgerthum. Der Christ liebt sein Vaterland und Volk als das ihm nächststehende Glied im Gottesvolk der Menschheit;
Liebe zu König und Vaterland (Weltbürgerthum).
127
es zu einem möglichst werthvollen Gliede desselben heranbilden zu helfen, das ist ihm eine erhebende Aufgabe. Solche Liebe zum eignen Volke spiegelt sich wieder in Christi Thränen über Jerusalem
und in dem Schmerz des Paulus über Israels Verstockung gegen
das Evangelium, wie in seiner heißen Sehnsucht nach der Bekehrung desselben (Röm. 9, lf.; 10, lf.; 11, 26).
Und welche Liebe zu seinem
deutschen Volke pulst rt in der Schrift unseres Luther an den christ lichen Adel deutscher Nation!
Wer kann all' die edlen Gaben ausreden, die uns das Vater land mitgiebt:
Schutz, Wirkungskreis, vor allem der Muttersprache
trauten Laut, in seinen Sitten und Bräuchen die ersten Keime und liebgewordenen Formen für alles, was uns hehr und heilig ist!
Unser deutsches Vaterland zumal giebt uns eine ruhmreiche Geschichte mit den Erfahrungen nie ermüdender Gotteshülfe in schweren Zeiten,
als Frucht derselben das Gefühl, einem geachteten, einigen Volke anzugehören, dazu hohe Vorbilder, unsre großen Denker und Dichter,
die klassischen und die heiligen Sänger, unsere Kunst, unsere Lieder, unsern deutschen Gottesmanu Luther, unser deutsches Weihnachtsfest!
Wie viel es uns giebt, wir würden es erst inne werden, wenn mir seiner entbehren müßten.
So gilt es denn, für dies heilige Gut
auch alles einzusetzen — und nicht erst in den Stürmen des Krieges. Wie unpatriotisch, daß so viele die Lasten, die sie für das Vater
land tragen müssen, eben nur als eine Last ansehen, von der man möglichst abmarktet, und daß wiederum andre zu bequem oder zu
furchtsam sind, um zum Besten des Vaterlandes, z. B. bei Wahlen aller Art, ihre Ueberzeugung geltend zu machen und an ihrem Theile verderblichen Zeitströmungen entgegenzutreten! „Lieb Vater land,
kannst
ruhig
sein", können
wir
aus
vollem Herzen
nur
singen, wenn nicht nur die Wacht am Rhein fest steht, sondern, wenn wir alle, jeder in seinem engern oder weitern Wirkungskreise,
mit
ächt christlicher Hingabe an die Gemeinschaft auf der Wacht stehn, daß überall Zucht, Gerechtigkeit, Liebe, Frömmigkeit walte, alle bösen
Geister niederhalte, und unser deutsches Volk mehr und mehr ein Volk Gottes werde.
I. Hauptstück.
128
Fünftes Gebot.
*Das fünfte Gebot sagt nicht ausdrücklich,
wen wir nicht todten sollen.
Nun ist zwar
zunächst nur der Mensch gemeint; dennoch liegt die Frage nahe, ob
und mit welchem Rechte wir Thiere todten und ihr Fleisch essen dürfen;
und erst durch Beantwortung dieser Frage tritt auch die
Heiligkeit des Menschenlebens in ihr volles Licht, zugleich werden wir dadurch
auf die Pflicht des Erbarmens auch gegen das Thier
Worauf beruht jenes Recht?
geführt.
Zuvörderst auf einer unab
wendbaren Naturnothwendigkeit und damit auch auf der Ordnung
dessen,
der die Natur in's Dasein rief:
Tödtung des Thieres nicht bestehen. Vegetarianer geltend,
der Mensch kann ohne
Zwar machen neuerdings die
daß ganze Völker, wie die Inder'), fast
nur von Vegetabilien leben; und sie selbst suchen durch Enthaltung
vom Fleischgenuß den Thatbeweis zu liefern,
daß nur Pflanzenkost
dem Menschen zuträglich sei. Auch mag Einschränkung des Fleisch genusses in heißen Ländern rathsam sein; ja, vielleicht war Pflanzen
kost die ausschließliche Nahrung der ersten Menschen: ihre kleine Zahl, die Fruchtbarkeit der Urheimath, die Einfachheit der Lebensverhält nisse und der Mangel an Waffen konnten diese Ernährungsweise be günstigen.
Fast scheint der biblische Schöpfungsbericht (1 Mos. 1,
28— 30) noch diesen Zustand vorauszusetzen: nach ihm soll der Mensch sich die Thiere Unterthan machen, als Speise jedoch werden ihm, wie den Thieren, nur die Pflanzen angewiesen.
Dagegen sind die Ver
suche der Vegetarianer noch von viel zu kurzer Dauer, um erkennen zu lassen, ob die Menschen auch in unserm rauheren Klima bei
minder fruchtbarem Boden, dichterem Zusammenleben und daher größeren Anforderungen an ihre Kraft auf die Dauer ohne Ver
kümmerung allein von Pflanzenkost bestehen können; der Mangel an Thatkraft bei den uns stammverwandten Hindus, die — 150 Millionen an der Zahl — sich von einigen tausend Engländern beherrschen
lassen, spricht wenig dafür.
Doch das dahingestellt: würde bei unsern
*) Ihre Religion, der Bramaismus, und auch der daraus entstandene Bud dhismus verbietet das Todten der Thiere.
Letzterer hat sich besonders über Central-
asie», China und Japan verbreitet; doch wird hier das Verbot streng nur von den
Priestern und auch von ihnen nicht überall mit gleichmäßiger Strenge gehalten.
Warum dürfen wir Thiere tobten? Unsere Pflicht qegen das Thier.
129
Boden- und Witterungsverhältnissen und weiter nach Norden die Erde genug Pflanzennahrung liefern — nicht nur für einige Vege
tarianer, sondern für die ganze immer dichter werdende menschliche
Bevölkerung und für das nun ungestört sich mehrende Heer der Thiere, vorausgesetzt auch, daß wir die fleischfressenden und unmittelbar
belästigenden als Friedensstörer vertilgen?
Woher nähmen wir end
lich die unzähligen thierischen Stoffe, ohne deren Verarbeitung unsere heutige Industrie, Kunst und Wissenschaft gar nicht denkbar ist,
wenn wir hierbei auf die dazu vielfach unbrauchbaren Leichname der durch Alter und Krankheit gestorbenen Thiere beschränkt würden? Mit einem Worte: der Mensch ist berechtigt, Thiere zu tobten, weil
sie sonst ihn sammt der menschlichen Kultur von der Erde verdrängen würden.
Indeß die Nothwendigkeit allein begründet doch nur das
rohe Recht des Stärkeren; die
einzig
durchschlagende sittliche Be
gründung unseres Rechtes zugleich mit der ersten ausdrücklichen Er laubniß, Thiere zu tobten und ihr Fleisch zu essen, giebt das Wort
der Schrift (1 Mos. 9, 1—6): „Alles, was sich reget und lebet, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut, habe ich es euch alles ge geben. — Wer Menschenblut vergießt, des Blut soll auch durch Menschen vergossen werden; denn Gott hat den Menschen zu seinem
Bilde gemacht."
Als Gottes Bild und deshalb Beherrscher der Erde
darf und soll der Mensch das niedere thierische Leben, wenn es sein muß, auch durch dessen Zerstörung, seinem höheren Leben dienstbar
machen; nur so kann er die Aufgabe erfüllen, allerorten immer vollkommneres, geistiges, gottähnliches Leben zu entfalten.
Diese Nothwendigkeit ist ein Theil derselben wunderbaren, oft so hart erscheinenden und doch heilvollen Ordnung Gottes, wonach
auch sonst alles Leben so mannigfach aus Schmerz und Tod geboren, dadurch erhalten und zu immer höheren Gestaltungen entwickelt wird. Warum es so sei, ist uns verborgen, wir haben uns nur in Ehrfurcht darunter zu beugen und stets im Auge zu behalten, daß es Gottes
Ordnung, nicht menschliches Belieben ist.
Deshalb haben wir diese
Gottesordnnng — unser Recht über das Thier nicht im Dienste
unserer Selbstsucht,
sondern zur Förderung der Zwecke Gottes zu
verwerthen: Niederes Leben dürfen wir vernichten, damit gottähn licheres sich gestalte, Leben der Pflanzen und Thiere brechen, damit (Lltester, Materialien. 2. Auslage. 9
I. •ömiptftücf. fünftes Piebot.
130
der Menschen leibliches und geistiges Leben immer ungehemmter und voller sich
ausbreite').
Aber nie sollen
wir vergessen, daß
auch
Pflanzen- und Thierleben schon Vorstufe menschlichen Lebens, auch schon Offenbarung göttlicher Herrlichkeit ist.
Auch nicht ein winziges
Hälmchen kannst du kleiner Mensch in's Dasein rufen, deshalb ehre
im geringsten Lebenskeim des Schöpfers Allmacht und Weisheit und zerpflücke ohne
nicht ein Blümchen im Grase!
Noth auch
Seine
Güte berief zur Lebensfreude auch das Insekt, das sich in der Sonne
wiegt: darfst du dich seiner Schmerzen freuen?
Deinen Hunger zu
stillen, magst du dem Thierleben ein Ziel setzen; aber nicht umsonst
hat Gott auch in das brechende Auge des verendenden Wildes, und in den Schmerzensschrei der Thiermutter, der man ihr Junges raubt, ein Etwas gelegt, das dem unverdorbenen Menschen, wie ein Ver
wandtes, durch das Herz schneidet: darfst du die Todesqual deines
Mitgeschöpfes erhöhen nur, um deinen Gaumen zu kitzeln oder einer vornehmen Passion zu fröhnen?
Ist es nicht auch Ahnung höheren
Lebens, was uns aus den sehnenden Tönen der Nachtigall entgegen quillt?
Sollten
lieblicher Sänger
dem niederen Sinnenreiz leckerer Zungen Hunderte geopfert
werden?
bedeutsame Mahnung darin,
So liegt denn immerhin eine
daß das fünfte Gebot ohne ausdrück
liche Einschränkung auf den Menschen das Tödten verbietet.
Das
*) Man pflegt die Regel ausznstelleu: Wir dürfen Thiere tödten, meint ihr Leben uns schadet, ober ihr Tod nns iiü(tt. Dao ist im allgemeinen richtig; nur, daß der Ruhen zn der Qual, die wir beut Thiere bereiten, in angemessenem Ver hältniß stehe, und in Wahrheit höheres Leben dadurch gefördert werde. Von dem selben Gesichtspunkt aus sind auch die Viviseetion und die gegenwärtig so leb haften Bestrebungen dagegen zu beurtheilen: die Viviseetion, das Zergliedern noch lebender Thiere, hat seine — dem fühlenden Menschenherzen innuerhin schwer an kommende — Berechtigung, soweit sie wirklich der Wissenschast dient; denn dann wird durch vorübergehende Pein eines niederen Wesens dauerndes Wachsthum an Wahrheit und geistigem Leben, Erhohnngkmenschlicher Wohlfahrt, Linderung mensch licher Leiden gewonnen. Aber nie sollte sie nur der Neugier und dem Vorwitz dienen. Zu weit gehen die Bestrebungen dagegen, sofern sie die Wissenschaft einengen wollen, und sofern tlnknndige den Alännern der Wissenschaft darüber Vor schriften geben inochten, wie weit Viviseetion nothwendig und erlaubt sein solle. Berechtigt sind sie, sofern sie nur die Gewissen dafür schärfen wollen, daß der Mensch auch int Eifer für die Wissenschaft des Erbarmens gegen die seufzende Kreatur eingedenk bleibe.
Heiligkeit deS Meiischenlebenö.
131
will sagen: Halte jedes Leben heilig als Offenbarung göttlicher Herr
lichkeit! Zerstöre, verkümmere keins ohne Noth! Folge vielmehr der Mahnung
(Spr.
Viehes" —!
12, 10):
„Der
Gerechte
erbarmet
sich
seines
Es ist ein schöner Zug des Alten Testaments, daß es
in seiner Gesetzgebung mehrfach auch auf das Thier Rücksicht nimmt,
daß es z. B. auch für das Vieh Sabbathsruhe fordert (2 Mos. 20,10; 5 Mos. 5, 14) und verbietet, dem dreschenden Ochsen das Maul zu
verkürben (5 Mos. 25, 4).
Vollends sollten wir Kinder des neuen
Bundes nicht vergeblich zu uns geredet sein lassen, was (Röm. 8,19f.)
Paulus sagt „von dem
ängstlichen Harren der Kreatur", das „aus
die Offenbarung der Kinder Gottes wartet"; auch sie soll von dem Dienst der Eitelkeit frei werden, dem sie Gott „auf Hoffnung unter worfen hat"; auch sie soll nicht von jedem Antheil an der Erlösung
durch die Lindigkeit Christi ausgeschlossen bleiben.
Daher sind Be
strebungen gegen Thierquälerei auf das entschiedenste zu unterstützen, insbesondere sollten Kinder davon zurückgehalten und vor allem be
wahrt werden, was, wie z. B. das Zuschauen beim Schlachten, ge eignet ist, ihre jungen Herzen gegen die Leiden der Thiere und da
durch mittelbar auch gegen die der Menschen zu verhärten. Andrerseits hat Luther ganz Recht, wenn er bei der Kürze seiner Erklärung zum 5. Gebot ist derselben nur den Menschen berücksichtigt:
denn in erster Linie sollen wir uns durch dieses Gebot den einzig
artigen Werth des letzteren gegenüber allen anderen Erdenwesen auf Herz und Gewissen gelegt sein lassen; und durch nichts kommt der unermeßliche Abstand zwischen Mensch und Thier schärfer zum Aus druck, als dadurch, daß — unter welchen Bedingungen auch immer —
die Tödtung des Thieres erlaubt, die des Menschen hingegen schlecht hin verboten ist! Denn der Mensch ist Gottes Bild: deshalb sein Leben von unendlichem Werth! Von unvergleichlich höherm Werth,
als das kostbarste Thier, anch der geringste Mitmensch! Deshalb darf
der Mensch nie dem Thiere gleich nur Sache, Stoff, Mittel, Waare werden, wie unter dem Hasten der Gegenwart nach dem Erwerb im
rastlosen Kampf um's Dasein nur zu leicht geschieht.
Thierschutz
vereine sind vortrefflich, aber zuerst der Mensch und Menschenwohl ergehen und dann das Thier und Geld und Geldeswerth!
An der
Stelle des Alten Bundes, welche die Unverletzlichkeit des Menschen gy
1. .vmiptstück.
132
Sstnftei' toebot.
lebens durch seine Gott-Ebenbildlichkeit begründet, heißt es in Vor ahnung der neutestamentlichen Gotteskindschaft (1 Mos. 9, 5): Gott
wolle „des Menschen Leben rächen an einem jeglichen Menschen, als der sein Bruder ist".
Also jeder Mord gleich dem ersten, den die
Schrift berichtet, Bruder-, Schwestermord!
keit
des Menschenlebens
über
eine ursprüngliche Ordnung Gottes gegründet: des Menschen zu Gott
So wird die Heilig
alle menschliche Willkür hinaus auf
als sein Bild
auf das Verhältniß
und Kind und auf das der
Menschen untereinander als eines Vaters Kinder.
Daraus folgt,
daß Abweichung von dieser Ordnung nur zur Sicherung oder Wieder
herstellung ihrer selbst zulässig ist.
Mit andern Worten: Tödtung
des Menschen ist nur erlaubt als Nothwehr, und diese kann geübt werden vom Einzelnen, von einem ganzen Volke oder von der Obrigkeit. 1.
des
Nothwehr
Einzelnen
—
Abwehr
gewaltthätiger,
widerrechtlicher Angriffe auf Leben, Eigenthum und Freiheit ist be
rechtigt.
Denn der also Angreifende hat das Band zwischen sich und
mir,
der ganzen
ja
menschlichen Gemeinschaft, so viel an ihm ist,
zerrissen, hat sich dem reißenden Thiere gleichgestellt. theidige ich
zugleich
die
In mir ver
menschliche Gemeinschaft; wer heut mein
Leben antastet, gefährdet morgen vielleicht das meiner Mitmenschen; ein Feigling wäre, wer gegen den Einbrecher nicht im eignen Leben und Eigenthum zugleich seine Familie, seine Hausgenossen und Nach
barn vertheidigen wollte.
Dem widerspricht auch nicht Jesu Mahnung
(Matth. 5, 39f.), dem, der uns auf den rechten Backen schlägt, den
andern auch darzubieten; weist er doch selbst den Schergen, der ihn
schlägt,
ernst und
Vielmehr haben
gelassen in
seine Schranken (Joh. 18, 22.23).
wir hier eins von den merkwürdigen Worten des
Erlösers vor uns, welche durch scheinbaren Widersinn der Form zum
Nachdenken reizen und, wie durch Widerhaken, den darin verborgenen
Wahrheitskern um festigen -sollen.
so
unverlierbarer in der Seele des Hörers be
Er wendet diese Form besonders bei Wahrheiten an,
die dem selbstsüchtigen, trägen Menschenherzen schwer eingehen: und
welche ginge unserm Zornmuth, unserer Ungeduld schwerer ein, als die, welche er
offenbar hier uns an das Herz legen will, daß wir
lieber immer neues
einmal
Unrecht leiden, als einmal Unrecht thun, als
der Liebe selbst gegen den Feind vergessen sollen?
Und die
Die Nothwehr des Einzelnen. Dos Duell.
133
Liebe soll auch in der Nothwehr ihre Geltung behaupten: sie wird nichts unversucht lassen, um die Absicht des Angreifers ohne Blut vergießen — etwa durch Entwaffnung — zu vereiteln, sie verbindet die Wunden des überwältigten Gegners und bedarf nicht der Er innerung, daß, den kampfunfähig am Boden liegenden oder fliehen den zu todten, auch das Staatsgeseh verbietet, und daß Anwendung von Waffengewalt, wo noch rechtzeitig die Hülfe der Obrigkeit an gerufen werden kann, unerlaubte Selbsthülfe ist. Für sie ist es insbesondere selbstverständlich, daß das Duell mit dem Geiste des Christenthums sich nicht vereinigen läßt. Das Duell ist ein verabredeter, geregelter Zweikampf zur Schlichtung eines Streites. Ein solcher ließe sich allenfalls noch rechtfertigen, wenn er, wie etwa in alten Zeiten der Kampf zwischen Paris und Menelaus, zwischen David und Goliath, den Zweck hätte, durch den Kampf zweier hervorragender Helden den Streit ganzer Völker beizulegen und so dem allgemeinen Blutvergießen ein Ziel zu setzen, obschon die Erfahrung lehrt, daß das Volk, dessen Held unter liegt, sich nie bei dem Ergebniß eines Kampfes beruhigt, der über das Kräfteverhältniß der Völker selbst nichts entscheidet. Das Duell unsrer Tage aber soll Privatzwistigkeiten zum Austrag bringen und ist eine Nachbildung der Zweikämpfe, durch welche die Ritter und Edlen des Mittelalters bei ihren Fehden ein Gottesurtheil über Recht oder Unrecht ihrer Sache herbeizuführen suchten; die mittelalterlichen Gottesurtheile oder Ordalien sind hinwiederum ein Nachklang heid nisch germanischen Aberglaubens, und schon das sollte uns gegen das Duell von heut bedenklich machen. Ließe sich doch sogar eher, als dieses, mancher Zweikampf des Mittelalters — als eine Art von Nothwehr gegen Raub, Brand und Mord — vertheidigen: in den Zeiten des Faustrechts war ein ehrlicher Zweikamps sicherlich besser, als eine wüste Rachefehde, welche auch die wehrlosen Weiber, Kinder und Hörigen der Streitenden gefährdete. Daß dagegen bei unsern geordneten Rechtszuständen das Duell jeder Berechtigung entbehrt, bedürfte keines Beweises, wenn es nicht noch immer vermöge eines tief gewurzelten Vorurtheils besonders in einzelnen Ständen als un entbehrliches Mittel zur Vertheidigung gegen Ehrenkränkungen gälte. Wie widersinnig die ganze Auffassung, die hier zu Grunde liegt!
134
1. Hauptstück.
Fünftes öebot.
Als ob der Vertreter der gerechten Sache und nicht vielmehr der
beste Schläger oder Schütze siegte, und wäre er der ehrloseste Ehren dieb!
Auch sehen wohl die meisten nicht mehr ein Gottesurtheil im
Ausfall des Kampfes: man glaubt vielmehr, durch Einsetzung des
Lebens für die Ehre vor aller Welt sein gutes Gewissen zu erweisen
und so schon durch den Kampf selbst, gleichviel, wer siegt, die ver letzte Ehre wiederherzustellen.
fällt mit
Doch
des Christen Ehre steht und
der Ehrenhaftigkeit seiner Gesinnung: dieser Ehre thut
keine Beleidigung Abbruch; den Flecken auf ihr wäscht weder eigenes noch fremdes Blut ab, noch auch der Muth, sein und des Nächsten
Leben und das Glück der Angehörigen beiderseits auf das Spiel zu
setzen; er kann sittlich dem Muth weit nachstehen, der dazu gehört,
aus christlicher Ueberzeugung, unbekümmert um das Vorurtheil der
Standesgenosfen und um die Folgen (etwa für die militärische Lauf bahn) eine Forderung abzulehnen.
Oder ist das Duell vielleicht
— insbesondere für Offiziere — ein unentbehrliches Erziehungs
Dürften dann die Ehrengerichte die Zahl der Duelle durch anderweite Beilegung der Ehrenhändel einzuschränken mittel zur Tapferkeit?
suchen?
werden?
Müßten nicht umgekehrt die Gelegenheiten
dazu vermehrt
Und sollte wirklich in den heißen Kämpfen unseres Vater
landes die überwiegende Zahl der Offiziere, die durch besonnenes
Benehmen Anlässe derart zu vermeiden wußten, an Tapferkeit denen
nachgestanden haben, welche sich in Zweikämpfe verwickeln ließen? Wird aber, wie in Studentenkreisen, durch allerlei Vorsichtsmaßregeln
das Duell zum bloßen Spiele jugendlichen Uebermuths
gemacht,
wozu durch wenig ernst gemeinte Beleidigungen die Anlässe geschaffen
werden: so ist bei Ausschluß aller Gefahr auch das Erziehungsmittel leeres Spiel; denn die erwünschte Uebung im Waffengebrauch kann
auch
ohne Blutvergießen gewonnen werden,
während die immer
wiederholten tödtlichen Ausgänge von Studentenduellen
daß man mit ernsten Dingen nicht spielen soll.
beweisen,
Zu wahrem Muth
erzieht am besten: unablässige, nie zaudernde Pflichterfüllung, Uebung
der Thatkraft in der Ueberwindung jeglicher Schwierigkeit, stets wach same Selbstbeherrschung, Begeisterung für alle idealen Güter der
Menschheit, Liebe zu König und Vaterland, Stärkung des Gottver trauens,
Schärfung
des
Gewissens.
Für
das unverfälschte
Der Krieg.
135
christliche Gewissen aber ist und bleibt auch die Tödtung im Duell ein Mord, wie milde wir auch den Thäter beurtheilen mögen, dem
der Muth fehlte, die Schranken des Vorurtheils zu durchbrechen. 2.
Als Nothwehr eines ganzen Volkes gegen Vergewal
tigung durch ein anderes, aber auch nur als solche, ist der Krieg berechtigt.
Zeder andre
Krieg,
Rache-,
oder gar Krieg zur Aufnöthigung
Raub-,
Eroberungskrieg
einer Religion ist verwerflich.
Dagegen haben die Mennoniten und Quäker mit ihrer Verurtheilung auch des Vertheidigungskrieges sowohl die heilige Pflicht, das Vater
land zu schützen, als auch die Schrift wider sich: Der Täufer fordert
von den Kriegern als Frucht der Buße Enthaltung von unrecht mäßigem Gewinn, Jesus lobt den Glauben des Hauptmanns von
Kapernaum, Petrus tauft den Hauptmann Kornelius, keiner verlangt von ihnen den Austritt aus dem Kriegerstande: erkennen sie dadurch
nicht die Berechtigung dieses Standes und des Krieges selbst an? Ist jedoch der Krieg nur zur Vertheidigung des Vaterlandes gestattet,
so ist auch nur der Kriegsdienst zum Schutze des eignen Vaterlandes
sittlich begründet; im fremden Solde sinkt er zum feilen Mordhand werk herab; und es gereicht Zwingli zu hoher Ehre, daß er schon
vor Beginn seiner reformatorischen Laufbahn als Pfarrer in Glarus das Reislaufen seiner Landsleute, d. h. ihr Eintreten in fremde Kriegsdienste, ohne Rücksicht auf Volksgunst, aus das schärfste geißelte. Dagegen übt der Krieger im Dienste feines Vaterlandes, gleichviel,
ob Berufssoldat oder Wehrpflichtiger, ein heiliges Wächteramt, das
im letzten Ziele auch den Frieden fördert. In diesem Amte hat er Gelegenheit, die höchsten Mannes- und Christentugenden zu entfalten und so einer der unheilvollsten Früchte der Sünde, dem Kriege, einen Theil des Giftes zu nehmen und selbst Seiten des Segens abzuge
winnen. Diese Aufgabe wird er ebensowohl durch Tapferkeit, höchste Anspannung aller Kräfte, Geduld und Ausdauer in Kampf und Be
schwerde als durch streng rechtliche, schonende und liebreiche Behand lung der Wehrlosen und Verwundeten erfüllen.
So soll durch die
Noth des Krieges und das Männer mordende Kampfgewühl jetzt schon die Liebe hindurchleuchten, die einst das „Friede aus Erden"
zur vollen Wahrheit machen wird. — Darüber, ob ein Krieg gerecht
sei,
haben selbstverständlich nur die Staatslenker zu entscheiden;
1. Hauptstück.
136
Fimftco Gebot.
dürfte der einzelne Krieger von seinem Urtheil darüber seine Mit
wirkung abhängig machen, so würden für das Vaterland die größten
Gefahren entstehen.
Dafür hat er aber auch nicht die ungeheure
Verantwortung für das Leben und Glück von tausenden zu tragen, die in der Entscheidung über Krieg und Frieden beschlossen ist.
3.
Nothwehr ist endlich auch der Gebrauch, den die Obrigkeit
zum Schutze der öffentlichen Sicherheit und Ordnung von ihrem
Schwerte macht, sei es, daß sie gewaltsamen Widerstand bricht, sei
es,
daß sie an dem überwältigten Verbrecher das Strafamt übt.
Auch die Todesstrafe läßt sich nur als Nothwehr rechtfertigen, und
allein von diesem Gesichtspunkte aus kann auch die Frage entschieden
werden, ob
dieselbe beizubehalten oder abzuschaffen sei.
In dem
Streit darüber wird ebenso sehr gefehlt, wenn man ihren Anhängern Mangel an Humanität, als, wenn man ihren Gegnern Ungehorsam
gegen die Schrift vorwirft.
Zwar fordert der Alte Bund das Blut
dessen, der Menschenblut vergießt (1 Mos. 9, 6); ja, auch Jesus weist den Petrus zurecht (Matth. 26, 52): „Wer das Schwert nimmt, der
soll durchs Schwert umkommen"; und dem ähnlich betont Paulus
das Rächeramt der Obrigkeit (Röm. 13, lf.).
Aber will denn die
Schrift jede äußere Ordnung, die sie für ihre Zeit als Gottes Orddnung einschärft, für alle Ewigkeit aufrecht erhalten wissen? Oder ist
die Todesstrafe nicht eine äußere Ordnung?
Paulus ermahnt auch
die Sklawen, ihren Herren zu gehorchen, und beruft sich dafür aus
drücklich auf Gottes Willen (Cph. 6, 5f.); und doch hat Christi Geist
die Sklawerei allmählich unmöglich gemacht: könnte derselbe Geist nicht auch einmal die Todesstrafe entbehrlich machen? Warum muß sie denn sein?
Etwa nur deshalb, weil jeder Sünde die Vergeltung,
die Sühne, die entsprechende Strafe folgen muß?
Stimmt das zu
dem Geist, der für das „Auge um Auge" die Feindesliebe setzt, und
der keine andre Sühne kennt, als die Liebe, die vom Kreuz her dem bußfertigen Sünder die rettende Hand reicht?
Todesstrafe geltend,
Man macht für die
daß reuige Mörder sie bisweilen erbitten, weil
sie nur von dieser Sühne Vergebung erhoffen:
aber sollte man die
selben nicht vielmehr auf die einzige wahre Sühne, die Gnade Gottes durch Christum, verweisen?
Nein, vor Christi Geist läßt sich
die
Strafe, die dem Sünder, statt ihn zu bessern, die Frist zur Besserung
Die Todesstrafe. gewaltsam abschneidet,
137
nur als unersetzliches Mittel der Nothwehr
gegen das Umsichgreifen des Verbrecherthums rechtfertigen; gäbe es
einen Ersatz, so wäre es unchristlich, wenn ferner noch, wie Fritz
Reuter es ausdrückt (Ut de Franzosentid, S. 213f.), ein Sünder den andern
voreilig vor das Gericht unsers Herrgotts bringt.
Aber
freilich: ist die Furcht berechtigt, daß ohne die Todesstrafe die Ach tung vor dem Gesetz ab-, und die Zahl der Verbrechen zunehmen werde- wäre es dann inhuman, wenn man den wenigen, welche durch
Frevel gegen das Leben ihrer Mitmenschen das Band mit der mensch das Leben kürzt, um eine weit
lichen Gemeinschaft zerrissen haben,
größere Zahl der Schwachen, aber noch zu Rettenden von der Bahn Zur Entscheidung darüber, ob
des Verbrechens zurückzuschrecken?
und wie lange wir dieses Mittels der Nothwehr gegen die Uebermacht der Sünde noch bedürfen, werden vor allem die Erfahrungen
in den Ländern abzuwarten sein,
ausgegeben hat.
in denen man dasselbe bereits
Noch halten es viele,
und nicht allein die Eng
herzigen, für unentbehrlich: auch einige Kantone der freien Schweiz haben es wiedereingeführt und so die Weissagung Göthes in Wilhelm
Meisters Wanderjahren (aus Makariens Archiv) bewahrheitet:
die
Todesstrafe abzuschaffen, werde schwer halten; geschehe es, so werde
man sie gelegentlich wieder zurückrufen. — Unzweifelhaft macht die selbe allein schon als drohende Bestimmung der Strafordnung, wie selten sie auch zur Anwendung komme, auf rohe Gemüther einen Eindruck, der sich schwer ersetzen läßt.
Wortes (Matth. 19, 26) vergessen:
Dennoch dürfen wir nicht des
„Bei den Menschen ist es un
möglich, aber bei Gott sind alle Dinge möglich."
Vielleicht darf die
Obrigkeit das Richtschwert aus der Hand legen, wenn unsere Für sorge für die Besserung der Sträflinge während und nach der Haft
eine allgemeinere und durchgreifendere geworden sein, und wenn das Christenthum mehr, als bisher, alle Schichten des Volks und alle Gebiete des Lebens durchdrungen haben wird.
Dazu mitzuwirken,
ist sicherlich ebenso christlich, als human, als Pflicht jedes einzelnen.
Von der Nothwehr gegen verbrecherische Angriffe sind scharf zn unterscheiden Nothlagen durch Gottes Schickung, die so schwer
zur Uebertretung des 5. Gebots, ja zu den grauenvollsten Handlungen versuchen, daß auch die Stärksten erliegen zu müssen scheinen: ent-
I. Hciuptstück. Fünftes- Gebot.
138
setzlichc Hungersnöthe während einer Belagerung, einer Wüstenreise oder, wie noch
in
neuester Zeit,
während einer Irrfahrt aus dem
Ozean haben die davon Betroffenen zu dem verzweifelten Uebereinkommen getrieben, sich nach Entscheidung des Looses einer des andern
als Nahrung zu bedienen.
Es giebt in der That Fälle dieser Art,
in denen wir, statt zu verdammen, nur beten können:
„Führe uns
nicht in Versuchung!" Aber, wie entschuldbar auch unserer Schwach heit halber:
gebung
Sünde — Sünde,
hoffen
die nur von Gottes Gnade Ver
darf, bleibt es dennoch.
die Einwilligung
der Opfer und
Daran ändert auch nichts
die schnellere Erlösung von den
Qualen des ohnehin gewissen Todes.
Bist
du die Vorsehung, um
zu entscheiden, wie fern oder vielleicht nah die Hülfe ist?
Sodann:
lieber mit einander sterben, als sich an dem Bilde Gottes vergreisen
und sich von der Noth so knechten lassen, daß man sich zum Kanni
balismus verirrt, welcher, auch wenn nur an der ohne menschliches Zuthun entseelten Hülle eines Mitmenschen und Gotteskindes verübt'),
unter allen Umständen den Menschen zum Thier herabwürdigt! End
lich:
keine Noth ohne von dem,
der nicht mehr auflegt,
als wir
tragen können (1 Cor. 10, 13), und der die Anfechtung schickt, damit wir Kraft der Geduld, des Glaubens, der Liebe bewähren! Aber die Krone nur dem, der bis an's Ende beharrt!
Weit häufiger, als diese, Gott sei Dank, seltenen Fälle, ist eine
Versuchung ganz andrer Art: Durch irgend ein Uebermaß des Leidens wird ein Leben zu einer so schwer zu ertragenden Last, daß sich die Frage aufdrängt:
Warum darf ihm nicht ein Ziel gesetzt werden?
Warum ist dem hoffnungslos leidenden Menschen die Erleichterung
versagt, welche wir dem unheilbar krankenden Thiere aus Erbarmen gewähren: möglichst schmerzlose Tödtung? Versuchlich nahe liegt die
Frage so manches Mal dem Mitleid, wenn es einen Theuren ohne
jede Aussicht auf Rettung von unsagbaren Schmerzen gequält sieht: aber von der Frage zur sündhaften That an den Mitmenschen sortzuschreiten,
davor bewahrt meist die Scheu vor der Heiligkeit des
Menschenlebens und vor dem göttlichen und
menschlichen
Gesetz;
J) Bei einer verunglückten Nordpolerpeditivu erhielten sich die Neberlebenden durch dao Fleisch der erstarrten Kameraden.
Selbstmord.
Seine Verwerflichkeit.
131)
davor wird immer zurückbeben die Liebe, die nicht lassen kann.
Viel
mehrere wagen für sich selbst die Frage zu stellen und — durch Selbstentleibung zu beantworten;
und so erschreckend häufig kommt
der Selbstmord in unsrer Zeit vor, daß man nicht entschieden genug das weit verbreitete Vorurtheil bekämpfen kann, als fei absichtliche
Selbsttödtung weniger Mord, als die Ermordung eines Mitmenschen, als sei des letzteren Leben zwar unantastbar, aber über das eigene
dürften wir frei verfügen, wie etwa über sonstiges Eigenthum. Wie?
Sind wir denn überhaupt mit allem, was wir sind und haben, unser und nicht vielmehr Gottes Eigenthum?
Müssen wir ihm nicht von
jedem Gut, also auch von unserm Leben Rechenschaft geben?
Aber
jedes andre Gut ist nur ein Mittel, um sein Reich auf Erden zu
fördern, dazu nur ein Mittel unter vielen; hat es feinen Zweck er füllt, so darf ich es hinter mich werfen. Gottes Bild und Kind
das ist
Menschen:
der
ist selbst
das Reich Gottes,
Der Mensch hingegen als
höchster Zweck seines Reiches:
das ist deshalb
höchste Aufgabe jedes
daß gottähnliches Leben sich in jedem einzelnen und in
Gemeinschaft entfalte.
Für diese höchste Aufgabe,
für diesen
göttlichen Inhalt ist das leibliche Leben zwar auch nur Mittel, Werk
zeug, Gefäß, aber das einzige, über das der Mensch verfügt; bei ihm steht es nicht, sich oder andern ein neues zu schaffen.
Daher
der Werth des Menschenlebens über das Thierleben und alles andre
Erdengut, auch über der Erde Weh und Lust weit hinaus! das Recht allein
Daher
des Menschen auf Unverletzlichkeit seines Lebens:
Aber mit dem höhern Rechte auch die höhere Pflicht:
dem Thiere
kürz' ich sein Leben, jetzt mir zum Nutzen, jetzt aus Erbarmen; aber der Mensch muß es tragen, bis Gott ruft! Wer es andern oder sich
eigenmächtig abkürzt, sei's
dort,
der
entzieht sich
aus Leidensscheu hier oder aus Mitleid
oder jene vorzeitig der Aufgabe, zu bereit
Lösung Gott das Leben gab:
er,
dessen wir sind, wir leben, oder
wir sterben (Röm. 14, 7—9), hat allein zu bestimmen, wann sie ge
löst sei.
Oder darfst du,
so lange er nicht ruft,
eines andern Leben sagen: es sei zwecklos?
von deinem oder
Wie, wenn es nur noch
dazu da wäre, daß der arme gequälte Träger desselben sich andern zum Vorbilde in Geduld und Ergebung vollende oder auch nur an
dern ein Gegenstand der Geduld und Aufopferung werde?
„Denn
1. •Öiuiptftiicf.
140
rtiinftec- Wcbot.
wer hat des Herrn Sinn erkannt, wesen?" (Röm. 11, 34.)
ganz im Sinne
oder wer ist sein Rathgeber ge
Selbstmord geißelt schon
Den
Sokrates
des Gesagten in den Gesprächen über die Unsterb
lichkeit angesichts des Giftbechers
(Plato's Phaedon, VI.):
er
ver
gleicht den Menschen einem Krieger, den Gott auf einen Wachtposten gestellt habe, und der deshalb nicht sich selbst ablösen noch feig* ent laufen dürfe.
In Wahrheit begeht der Selbstmörder nicht nur eine
einzelne ^Übertretung, sondern er sucht sich als ein Fahnenflüchtiger
ein für alle Mal dem Dienste seines Gottes zu entziehen. — Wer wollte mit klarem Bewußtsein von der Bedeutung seines Thuns so schweren Frevel auf sich nehmen?
Daß dennoch
gerade in unsern
Tagen so viele sich so weit verirren, ist theils auf eine falsche Milde bei Beurtheilung des Selbstmordes, theils
auf eine gesteigerte Er
regtheit des Nervenlebens, vor allem aber auf Mängel religiöser Art
zurückzuführen: Oft begegnet man
1.
lung des Selbstmordes. satz
Hülle
gegen
die
Härte,
des Selbstmörders
einer falschen Milde bei Beurthei
Sie ist
zum Theil
welcher
mit
man
der einseitige Gegen früher
der
irdischen
ehrliche Begräbniß versagte.
das
Man
vermaß sich dadurch, zu richten, wo allein noch ein Höherer zu richten hat, und traf doch nicht den Schuldigen, sondern die trostbedürftigen Hinterbliebenen; man unterschied auch zu wenig zwischen den Selbst
mördern, die ein ruchloses Leben durch eine ruchlose That beschlossen, und
denen, welche nach einem sonst ehrenhaften Leben einer ein
maligen schweren Versuchung
erlagen; man vergaß,
daß öfter die
That mehr ein Leiden, als ein Thun des Thäters war, Geist,
vielleicht
weil
sein
ohne Wissen der Nächststehenden, von verwirrenden
Wahnbildern umnachtet wurde;
man vergaß,
daß wir alle viel zu
sehr um Gnade flehen müssen, um nicht auch für Tiefgesallene noch
beten und hoffen zu dürfen.
Aber dies herzliche christliche Erbarmen
gegen den Sünder, das von dem demüthigen Bewußtsein des eignen Unwerths getragen wird, verkehrt sich neuerdings nur zu oft in Be
schönigung mörders
der Sünde selbst.
Gewiß: auch am Grabe des Selbst
betendes Aufschauen zn Gottes Barmherzigkeit und Scho
nung für den Schmerz der Leidtragenden, aber auch der volle Ernst christlicher Wahrhaftigkeit zur Warnung dem Schwachen — und wer
Sefbftiitorb.
wäre nicht schwach?
llijiirfjen bet Verbreitung.
141
Wie verkehrt der Vorwurf der Unduldsamkeit
gegen den treuen Seelsorger, der von beiden nicht lassen kann! Wie unsittlich und trostesleer, wenn man durch äußern Glanz der Trauer
feier die Sünde zugleich zur Schau stellt und zu verdecken sucht!
Wie Ernst und Milde in wahrhaft christlichem Geiste zu vereinen sei, dafür giebt ein beachtenswerthes Beispiel die Rede Eltesters am
Grabe eines Selbstmörders (Worte der Verständigung, S. 58 f.; seht bei Ambros. Barth, Leipzig). Von Einfluß auf die Vermehrung der Selbstentleibungen
2.
ist ohne Zweifel die Steigerung der nervösen Erregtheit in
unsrer Zeit.
Immer umfassender wird der Strom des Weltverkehrs,
auf dem wir dahin treiben, immer zahlloser, wickelter,
mannigfaltiger, ver
aufreibender werden auch die Beziehungen, Genüsse, Zer
streuungen, Aufgaben und Anspannungen der Kräfte Leibes und der
Seele für jeden einzelnen: was Wunder, wenn Nervenüberreizungen,
erkannte oder unerkannte Geistesstörungen und Selbstmorde die Folge sind?
Man hat sogar statistisch nachzuweisen versucht, daß die Zahl
der letzteren durchschnittlich in den Tagesstunden die größte ist, in welchen auch die krankhaften Nervenerregungen am heftigsten aufzu
treten pflegen. Das soll uns vor übereiltem Verdammen warnen, aber ja nicht verleiten, jeden Selbstmord aus krankhaften Zuständen der Nerven oder des Gehirns zu entschuldigen. Ist denn jede Reiz barkeit oder Neigung zur Schwermuth schon Gemüthskrankheit oder
sonst wie eine unzerreißbare Fessel für unsern sittlichen Menschen, für unsre Willenskraft? Sind nicht Versuchungen, auch die aus dem
Nervenleiden, dazu da, daß wir dagegen ankämpfen und im Kampf erstarken?
verschuldet?
Und wenn Krankhaftes vorliegt, ist alles Krankhafte un Wie manche leibliche und geistige Zerrüttung würde
nicht entstehen bei größerer Mäßigkeit und Bändigung der Leiden schaften, bei minder ungesundem Hasten nach Vergnügen,
Zerstreu
ungen und künstlichen Ueberreizungen in unserm ohnehin schnellleben den Zeitalter, in welchem mehr, als je, weiser Wechsel zwischen stetiger
Arbeit, maßvollem Genuß und stiller Sammlung erforderlich ist, um Leib und Seele gesund zu erhalten!
Der Selbstmord beginnt
schon da, wo wir unsern Leib durch irgendwelche Maßlosigkeit ver
wüsten, durch Mangel au Zucht erschlaffen lassen oder auch nur ver-
säumen, ihn durch unablässige Arbeit an uns selbst, durch Enthalt samkeit und Uebung der Kraft, durch Abhärtung und Vorsicht zu einem schneidigen Werkzeug für die Aufgaben des Reiches Gottes zu erziehen. 3. Tiefster Grund des Selbstmordes ist Mangel an festge wurzelter Frömmigkeit: das erschreckende Umsichgreifen desselben wird unleugbar dadurch begünstigt, daß in weiten Kreisen der Glaube an Gott, Jenseits und Vergeltung schwer erschüttert ist, und dem entsprechend äußeres Wohlergehen als Hauptziel des Lebens ange sehen wird. Wenn mit dem letzten Hauch alles vorüber ist: warum die Last des Lebens nicht von sich werfen, sobald sie die Lust über steigt? Wem es die Liebe zu den Seinen zuläßt, der möge dann so thun! Freilich: wenn der Glaube an die unsichtbare Welt und ihre Ideale je aufhören könnte, das Erdenleben zu verklären, so würde mit ihm die unentbehrlichste Stütze auch für die Sittlichkeit schwin den, und die wachsende Zahl der Selbstmorde würde nicht die einzige gefahrdrohende Krankheitserscheinung am wurzelkranken Baume der Menschheit bleiben. Wem aber der Glaube an den Gott der Liebe und an unsre Bestimmung, in sein Bild uns zu verklären, mehr, als leerer Schall ist: sollte der nicht allen Versuchungen zum Selbst morde gewachsen sein? Was treibt denn die Menschen dazu? Immer ist es Verzweiflung — immer eine unerträglich scheinende Lage, aus der kein Ausgang, als der Tod, sich zeigt. Hast du diese Lage selbst verschuldet, und willst du nun der Schande und Strafe entrinnen? Wie? Häufst du nicht durch deine That auf deinen Namen noch über das Grab hinaus Schande auf Schande und stürzest du dich nicht, um menschlicher Strafe zu entgehen, in den Abgrund der Gerichte Gottes? Willst du nicht viel lieber als bußfertiger Sünder zur Gnade Gottes fliehen und, indem du die äußeren Folgen deiner Sünde muthig trägst, die Rechtschaffenheit deiner Buße bewähren? Wirst du so nicht auch die verlorene Ehre wiedergewinnen, — gewiß vor Gott, vielleicht durch Ausharren auch vor den Menschen? Es wäre denn, daß du mit Judas an der Vergebung des Vaters ver zweifeltest, zu dem dein Heiland am Kreuze für feine Feinde gefleht hat! Oder giebst du dir selbst den Tod, um den Schmerz nicht mit ansehen zu müssen, den du durch irgend ein unheilvolles Thun den
143
-flröminiiifeit ba>3 beste Schntzuiittel gegen bcn Selbftmorb.
Deinen
Schmerz
bereitet hast?
Du Heuchler und Feigling!
Ihnen
zu bereiten, warst du stark und selbstsüchtig genug:
ihn mitzutragen, hast genug bist
du sie zu lieb?
den
und,
Bekenne vielmehr: lieblos
du, um durch den Frevel an dir selbst ihr Herzleid zu
verdoppeln, zu feige aber und selbstisch, um es ihnen tragen zu helfen und durch deine Besserung zu lindern!
ohne deine Schuld über dich?
Oder kam der Leidenskelch
So hat Gott ihn seinem Kinde zur
Erziehung für den Himmel gereicht: willst du der Schule des Vaters
entlaufen, indem du der Arznei das Gift der Sünde beimischest — der Sünde, welche die Umkehr abschueidet? — Oder wäre Selbst mord etwa eine That des Muths?
Ist es nicht vielmehr Feigheit, aus
oder Angst vor dem, was kommen kann, den Posten,
Leidensschcu
auf den dein Gott dich stellte, zu verlassen?
Den Heiden mochte es
Muth scheinen, einem in ihren Augen entehrenden Zustande, wie der
Gefangenschaft, wie dem Leben in dem geknechteten Vaterlande, sich durch Selbstentleibung
zu entziehen:
denn
äußere Manneswürde,
persönliche Freiheit und die des Vaterlandes waren ihnen die höchsten Aber,
Güter.
so theuer auch uns
diese Güter sind,
der Christ
kennt eine Würde, eine Freiheit und ein Vaterland, die kein Schicksal
nehmen kann, die in dem gebundenen Christus den höchsten Triumph Welche äußere Lage könnte ihn so erniedrigen, daß er diese
feiern.
nicht zu
innere Hoheit
darin
Lösung
Aufgabe und
dieser
offenbaren vermöchte?
Freilich, zur
zur Ueberwindung der mannigfachen
Versuchungen, die dabei an unser schwaches Herz herantreten können,
taugt nicht
des
Petrus Sicherheit:
„Wenn sie dich alle verlassen,
ich werde mit dir in den Tod gehen", sondern nur unablässiges Wachen und Beten und das Vertrauen,
daß Gott nicht über Ver
mögen auflegt?) !) Es könnte anffallen, das; die Schrift den Selbstmord nicht ausdrücklich ver
bietet.
Sie berichtet Selbstentleibnngen vom Brudermörder Abimelech (Nicht. 9, 54),
von dem
mit Gott zerfallenen Saul (1 Sam. 31, 4), von Ahitophel,
rather des aufrührerischen Absalom (2 Sam. 17, 23), (1 Kön. IG, 18)
und
vom
dem Be
vom Königsmörder Simri
Verräther Judas (Ik'cittf). 27, 5;
vergl. Apostelgesch.
1, 15—20); sie laßt uns überall Selbstmord als die entsetzliche Frucht eines gott losen Wandels und als Selbstvernrtheilung erscheinen, ohne über seine Nerwerflich-
keit an sich etwas zu sagen.
Aber sie will auch kein Handbuch der Sittenlehre sein,
in welchem alle sittlichen Fragen
erschöpfend behandelt werden.
Die Verwerfung
144
1. .pmiptftiirf.
Fünftes Webot.
Von dem Selbstmorde streng zu unterscheiden ist die Selbstauf
opferung, die in ächter Nachfolge Christi das Leben für die Brüder hingiebt.
Sie kann nah an Selbsttödtung streifen, wie etwa die That
Winkelrieds, bleibt aber daran klar erkennbar, daß sie zum Gegen
stand und Zweck der Handlung nie den eignen Tod, sondern nur das Leben der andern, das Heil des Vaterlandes hat, und daß der eigne
Tod ihr nur der unvermeidliche Weg zn diesem Ziele ist.
Aechte
christliche Liebe drängt sich nicht ohne Noth dazu, sucht auch den
Tod nicht, sondern fleht, so lange Gott nicht klar den Weg des Todes weist, daß der Kelch vorübergehe.
Sie ist fern von jeder Eitelkeit
und darum auch von Vorwitz und Vermessenheit.
Wohl aber dem,
der, von ihr stark gemacht, Gottes Stunde erkennt und dann nicht
rückwärts blickt, sondern es bewährt:
„Wer sein Leben verliert um
meinetwillen, der wird es finden" (Matth. 16, 25). Pharisäische Oberflächlichkeit weiß sich zwar vor keiner Sünde so sicher, wie vor der wider das 5. Gebot; denn sie kennt nur das Todten mit der Hand.
Und doch sollten uns schon die Unter
scheidungen des Strafgesetzes in Bezug auf das eigent liche Todten vor Sicherheit und Selbstgerechtigkeit warnen; wie
viel mehr die Auslegung Luthers und des Neuen Testaments! 1. Man unterscheidet nach dem Grade der verbrecherischen Gesin
nung, die zur That trieb: 1) unvorsätzliche und unverschuldete Tödtung, in der also kein Verbrechen, sondern nur ein Unfall vor
liegt, 2) fahrlässige d. h. unvorsätzliche aber durch Fahrlässigkeit verschuldete Tödtung, 3) den Todtschlag, d. h. vorsätzliche, aber nicht
vorher überlegte Tödtung, 4) Mord, d. h. vorher überlegte Tödtung. Zum Morde gehört sicherlich ein entsetzlicher Grad der Herzenshärtigkeit. Dennoch ist mancher zum Mörder geworden, von dessen Er
ziehung und ursprünglicher Gemüthsart es niemand erwarten konnte:
aber er zog irgend eine Leidenschaft — Rachsucht, Haß, Eifersucht, Ehrgeiz, Herrschsucht im Busen groß, bis sie alles Bessere in ihm verschlang.
Wehe darum dem,
der nicht jede seiner Leidenschaften
des Selbstmordes liegt schon im 5. Gebot selbst, besonders in 1 Mos. 9, 6 (Men
schenblut ist mich das eigne Blut), Neuen Testaments von Eigenthum.
der
und vor allem in der ganzen Auffassung des
Bestimmung
des Menschen
als Gottes Kind
und
Ausleqnnq Vntljers mib des Nellen Testaments. in den kleinsten Anfängen bewacht!
145
Wie leicht reißt sie sonst auch
den Edlen, wenn nicht zum kühl geplanten Mord, so doch in einem unseligen Augenblick zu dem fort, was er wenige Minuten nachher
um tausend Welten ungeschehen machen möchte.
Wie bald belastet
sich vollends auch des Harmlosesten Gewissen mit fahrlässiger Tödtung! Wie zahlreich sind die Bundesgenossen Mangel an Gewissenhaftigkeit,
derselben von dem kleinsten
dem Leichtsinn beim Schließen des
Ofens und beim Umgehen mit Maschinen bis zu der Leichtfertigkeit,
die anvertraute Kinder verwahrlost oder mit der Mordwaffe spielt, bis zu der Habsucht, die gesundheitsschädliche Nahrungs- ober Arznei mittel feilbietet ober bie Arbeitskraft bes Nebenmenschen gewissenlos
ausbeutet'). 2. So führt uns schon bas Tobten im buchstäblichen Sinne mitten hinein in Luthers „Dem Nächsten an seinem Leibe keinen
Schaben noch Leib thun". „Helfen unb Färbern in
Aber wie viel tiefer noch greift sein
allen Leibesnöthen"! — Hier wirb zum
Tobtschläger nicht nur, wer unmittelbar ober mittelbar unb allmählich
bes Nächsten Leben unb Gesunbheit schäbigt, sonbern auch, wer es
nur an Fürsorge für Untergebene unb Schutzbefohlene ober an Liebes
rücksicht unb Erbarmen fehlen läßt--).
Ja, bie Versäumniß kann vor
Gott verbammlicher sein, als selbst ber Angriff auf bes Nächsten
Leben in ber Erregung bes Augenblicks; benn sie kann von bleiben« berer Verhärtung bes Herzens zeugen.
Unb
bas Herz ist es boch
zuletzt, bas allein alle Gebote hält unb übertritt. fürchten unb lieben unb baburch
Das muß Gott
bie unheiligen Triebe, bie, über
mächtig geworben, enblich bie Haub zum Morbe waffnen, in ihren verborgensten Keimen austilgen; bas muß Zorn, Haß, Rachsucht iu
Liebe — selbst zum Feinbe — wanbeln unb so im vollen Sinne
helfen unb förbern lernen.
So erst halten wir bas 5. Gebot nach
ber Auslegung Luthers unb bes Neuen Testaments: benn, „wer seinen Bruber hasset, ber ist ein Tobtschläger. — Wenn aber jemanb
bieser Welt Güter hat unb schließt sein Herz vor beut barbenben Bruber zu: wie bleibet bie Liebe Gottes bei ihm?" (1 Joh. 3,15.17).
„Wer mit seinem Bruber zürnet,
ber ist bes Gerichts schulbig": so
') Jak. 5, 4. ■) Jes. 58, 7; Matth. 25, 34-4G; Luk. IG, 10f. (Ältester, Materialien.
2. Auflage.
1. Hauptstnck.
146
Fünftes Giebnt.
weist uns, allen voran, Jesus von der pharisäischen Scheingerechtig keit, die nur das Todte» mit der Hand meidet, in die Tiefen des
Herzens.
Doch bedarf dieses überaus lehrreiche Wort (Matth. 5,
20—22) des Folgenden wegen der Erläuterung: Könnte es doch da
nach so aussehn, als führe uns der Herr von dem Quellpunkt des
sittlichen Lebens, der Gesinnung des Herzens, sofort wieder auf ein ebenso Aeußerliches,
wie die That, nur ein für die sittliche Beur
theilung minder Entscheidendes — auf das kränkende Wort zurück: „Wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Raths schul dig; wer aber sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig" —
also der Zorn macht zwar schon schuldig „des Gerichts", d. h. der
Strafe, welche die Gerichte in den kleineren jüdischen Landstädten (5 Mos. 16, 18) verhängen
konnten,
der Todesstrafe
durch
das
Schwert; aber das Rachasagen verwirkt die noch schwerere Strafe
des (hohen) Raths zu Jerusalem, die Steinigung'); das „Du Narr"
vollends das höllische Feuer!
Erklärt nicht hiernach Jesus
zwei
einzelne, überdies scheinbar willkürlich herausgegriffene Worte „Racha" und „Du Narr" für noch verdammlicher, als den Zorn, und unter den beiden wieder eines (du Narr) für das verdammlichste?
Zu
nächst ist zu erinnern: So gewiß Wort und That nur als Ausdruck
irgend einer Gesinnung ein Urtheil über unsern sittlichen Werth be
gründen, so wenig sind sie für unsere sittliche Entwicklung bedeutungs los.
Die gethane That, das gesprochene Wort gleichen dem Pfeil,
der, einmal abgeschnellt, durch keine Reue des Schützen zurückgerufen
wird, er wird ausrichten, was Herz, Auge, Hand ihm mitgab: Rede wird Gegenrede, That Gegenthat, Windsaat Sturm ärnten und auf
Sprecher und Thäter, zu immer neuer Sünde versuchend, zurück wirken.
„Das ist der Fluch der bösen That (auch des bösen Wortes),
daß sie fortzeugend Böses muß gebären."
Bor Gott verdammt nicht
minder, als die ruchlose That, der Vorsatz, den nur ein äußeres Hinderniß nicht zur Ausführung kommen ließ.
Dennoch, wem durch
Gottes Gnade im entscheidenden Augenblick das Mordgewehr ver sagte, er kann noch den heißen Kampf mit seiner Sünde zwischen
') Jesus bezieht sich auf die Verhältnisse vor Ankunft der Miner, diese nahmen
den Juden das Riecht über Velten und Tod.
Jesu Auslegung Matth. 5, 20—22.
sich und seinem Gott allein
147
ausringen: Das Blut ist noch nicht
zwischen ihm und der Welt und seinem Gott.
Aber, der des Feindes
Herz traf: — der furchtbare Finch schon allein im Bewußtsein des Mordes wird fortan seine Bahn bestimmen; wohl ist Gottes Gnade
auch in
diesem Fluch ihm nahe, wenn er, dadurch erschüttert, mit
dem blutbefleckten Gewissen unter das Kreuz tritt:
„Herr gedenke
mein!" Aber wie entsetzlich schwer, den Abgrund zwischen sich und der Menschheit und Gott zu überbrücken! Wie schwer oft schon, die Kluft
zu schließen, die durch ein übereiltes Wort zwischen uns und dem Bruder sich öffnet! Ebendeshalb will Jesus mit seiner scharfen Verurtheilung des „Racha" und „du Narr" zuvörderst vor jedem raschen
Zufahren mit kränkender Rede warnen.
Sodann aber ist doch das
heftige und heftigere Wort — geschweige die vorschnelle That — ein
Gradmesser
der Leidenschaft im Herzen; und selbstverständlich nur
diese, den im Worte sich Luft machenden gesteigerten oder gar schon
zum Haß verhärteten Zorn, nicht diesen oder jenen Schall verurtheilt Jesus: „Racha", ein Wort aus dem Aramäischen
oder Syrischen,
der damaligen jüdischen Umgangssprache, heißt „leer" und als Schelt
wort „Hohlkopf, Nichtsnutz", vielleicht mit Beziehung auf Eitles, Wahnhaftes in der Religion: „Jrrlehrer", ähnlich unserm Ketzer.
Das Wort gab also leidenschaftlichem Haß, vielleicht dem geheimen
Wunsche Ausdruck, den Gegner vor den hohen Rath zu bringen, der über religiöse Verbrechen zu entscheiden hatte.
kläger selbst des hohen Raths schuldig! der an
Deshalb der An
„Du Narr" bedeutet nach
sich tief frommen hebräischen Auffassung, welcher Thorheit
und Gottlosigkeit als eins gilt:
„Du Gottloser,
Gottverdammter
— der Hölle Verfallener!" — spricht also dem Bruder die Seligkeit ab und drückt den Haß aus auch über das Grab hinaus. Deshalb
der also Verdammende selbst (noch heut zur Warnung für alle Un versöhnlichkeit und — religiöse Verdammungssucht)
des höllischen
Feuers schuldig! Für den wirklichen Todtschlag, den Mord, mit dessen Vermeidung der Pharisäer sich schon so viel wußte, hat Jesus
gar kein Strafmaß mehr, nicht einmal — ein Wort.
Den Kern
der ganzen Stelle veranschaulicht uns am besten unser Luther, indem er (7. 644 — Ausg. v. Walch; Halle, 1747) aus Christi Sinn
heraus fragt: „Was heißt „du" (sollst nicht tobten) —?" und ant10*
I. .wniptftikf.
148 »ortet:
Fünftem Gebot.
„Nicht allein deine Hand noch Fuß noch Zunge noch ein
ander einzeln Glied, sondern alles, was du bist an Leib und Seele.
— So manch Glied du hast, so mancherlei Weise zu tobten, es sei
mit der Hand, Zunge, Herzen ober Zeichen und Geberden') — das mit den Augen ober mit den Ohren, wenn
nicht vergönnen
Leben
dn nicht gern hörest von ihm reden, das heißt alles getöbtet."
Und
noch beschämender für alle Selbstgerechtigkeit wendet er es (3. 1868)
mit Bezug
auf einen
verflachenden Zusatz
in
einer
griechischen
Handschrift, wonach der Herr gesagt hätte: „wer mit seinem Bruder
ohne Ursach zürnet" (also, ohne daß ihn jemand beleidigt hat), der erst
sei
des
Gerichts schuldig.
Von Leuten, die Christum so ver
ständen, urtheilt Luther, sie wüßten noch nicht einmal, daß alle Ge
bote
auf die Zeit nicht sowohl der Ruhe, sondern der Anfechtung
und Prüfung gingen, der Gewalt
der
damit der Mensch seine Ohnmacht gegenüber
Sünde
erkenne und
„nach
der
Gnade erseufze,
die ihm helfe; denn es könne der Mensch hier den Zorn und Unge
duld ohne die Gnade nicht lassen". — Und doch kommt Christi Aus legung des 5. Gebots in der bloßen Verwerfung des Zorns noch gar nicht zur vollen Geltung, sie gipfelt vielmehr in der Forderung der
Feindesliebe; diese erst macht uns zu Kindern des Vaters, der seine Sonne über Gute und Böse aufgehen läßt (Matth. 5, 44f.).
Ja,
Luther hat Recht: „daß dies gar ein tiefes Gebot ist; und mag es
niemand ohne die Gnade Gottes erfüllen" (3. 1855). Aber haben wir denn gar kein Recht, zu zürnen?
auch
Jesus
rechtigt ist
Spricht nicht
zürnende Worte wider die Pharisäer? — Gewiß, be
der
heilige Zorn, „der liebe Zorn", wie Luther ihn
nennt (7. 643), „der niemand kein Böses gönnt, sondern der Person
Freund, aber der Sünde feind ist."
Doch, wie leicht auch er, un
bewacht, „ein Deckel" und Ausgangspunkt für den selbstischen, nicht ') Luther spielt hier auf Augustins Erklärung des Wortes Racha au, wonach e-s gar feilt Wort, sondern ein Naturlnut zum Ausdruck des Zorns wäre. Au gustin stützt sich dabei auf das Urtheil eines Ebräers. Luther sagt hierüber
(3. 1854): „Das Wort Racha findet man in allen Sprachen; denn, wenn wir Deut schen uns erzürnen, so schnauben wir und schnarchen mit dem Halse." Diese Aus
legung, der sprachlich allerdings die oben gegebene vorzuziehen sein möchte, gäbe die sinnvolle Steigerung vom Todten mit dem zürnenden Herzen zu dem mit der
zornigen Geberde (Racha), bis zu dem mit dem gehässigen Worte (dn Narr).
Der heilige Zorn.
Deo Christen Vergeltung (Röm. 12, 19—21).
rettenden, sondern verheerenden
zeigt
149
und verzehrenden Zorn wird, das
der Todtschlag des Moses im heiligen Eifer um sein Volk
(2 Mos. 2, 12); das erfahren wir nur zu oft an uns selbst, wo wir es im Kampfe für die edelsten Güter, Recht, Glaube, Vaterland oder bei unserm Einwirken auf andere am treusten zu meinen glau
ben, wenn wir uns nicht fort und fort erinnern:
„Sei schnell zu
hören, langsam aber zu reden und langsam zum Zorn; denn des Menschen Zorn thut nicht, was vor Gott recht ist" (Jak. 1,19. 20),
und: „Lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen!" (Eph. 4,26).
Mit dem Unterschied
zwischen dem heiligen und unheiligen
Zorn hängt auf das innigste die Frage zusammen, ob denn der
Christ gar kein Anrecht auf Vergeltung habe.
Nichts liegt dem
Menschen so tief im Blute, als „das Auge um Auge, Zahn um
Zahn".
Wir wissen, wie scharf dem Jesus in mannigfachen Wen
dungen entgcgentritt von dem „Nicht 7 mal, sondern 70mal 7 mal
vergieb" (Matth. 18, 21 f.) bis zu dem „Segnet, die euch fluchen" und dem Darbieten des andern Backens dem,
der dich auf den
rechten Backen schlägt (5, 38f.): aber giebt es denn durchaus nichts Be rechtigtes in diesem Vergeltungstriebe?
Höchst lehrreich ist in dieser
Beziehung das Wort Pauli Röm. 12, 19—21: Nicht selbst sollen wir
uns rächen, sondern dem Zorn — nach der Mehrzahl der Ausleger: dem Zorn Gottes Raum geben; sein allein sei die Rache.
Schon
gewinnt es danach den Anschein, als empfehle der Apostel, sich selbst der Rache zu enthalten, damit Gott uns um so sicherer räche.
Aber
wie übel stimmt zu diesem Auskunftsmittel verfeinerter Rachsucht die Schlußmahnung, den hungernden Feind zu speisen, dadurch feurige
Kohlen auf sein Haupt zu sammeln und das Böse mit Gutem zu überwinden!
Gottes Zorn ist ja nicht der Verderben sinnende
des Menschen, sondern der Zorn des Vaters, der, um den Sünder
zu retten,
die Sünde bekämpft, bekämpft auch durch
die ewige
Ordnung, wonach Sünde Fluch ärntet, also auch durch 'Vergeltung,
aber viel lieber durch Vergebung.
Um diesem Urbilde des heiligen
Zorns für sein Nettungswerk Raum zu lassen, sollen wir unseren un
heiligen überwinden.
Dadurch wird allerdings ein berechtigter Kern
in unserm Vergeltungstriebe anerkannt: In dem triumphirenden Be leidiger siegt äußerlich die Sünde, der Kränkende hält sich wohl gar
150
1. Hauptstück.
Fünftes Gebot.
selbst für den Gekränkten und erscheint oft auch der Welt als solcher.
So wird der wirklich Gekränkte, Verfolgte ebenem in's Unrecht ge stellt, und in ihm zugleich das Recht, die Wahrheit, vielleicht sogar
Glaube und Evangelium, um dessen willen er leidet.
Geschieht uns
das, so dürfen, ja so müssen wir nm der guten Sache, wie um des Beleidigers willen wünschen,
daß die Sünde endlich auch äußerlich
überwunden, und Recht, Tugend, Wahrheit auch als solche erkannt
werden, erkannt werden auch von dem Beleidiger,
damit er in sich
gehe, vor allem aber, damit Gottes Reich Recht behalte. Wodurch kann
das erreicht werden? Weder durch Wiedervergeltung und Verbitterung — das hieße sich vom Bösen überwinden lassen — noch durch viel
Schelten und Pochen auf sein Recht — das verschließt nur des Nächsten Herz —: sondern zuvörderst durch ernste Selbstläuterung
von aller eignen Schuld und allem, was in uns noch den Sieg des Guten aufhält; sodann durch die Liebe, die feurige Kohlen auf des Widersachers Haupt sammelt, d. h. ihm durch Wohlthat weh' thut,
sein Gewissen überführend und also eine Rache übend nicht zum Verderben, sondern zum Leben; endlich — auch wenn des Nächsten Herz hart bleibt — durch Stillesein und Harren auf den Herrn, der
doch zuletzt den Sieg behält, und mit ihm, wer im Glauben an den Triumph der Liebe und Wahrheit durch Liebe, Geduld und Sanft-
muth das Böse überwindet.
Wer das thut, der hält das 5. Gebot
recht, denn er arbeitet mit an dem Sieg des Lebens über den Tod.
Das sechste Gebot
hat das Heiligthum der Ehe zum Gegenstände.
Was ich über die
selbe zu sagen habe, fasse ich in 4 Punkte zusammen:
1. Die Ehe ist ein „heiliger, von Gott selbst eingesetzter" Stand'). Und zwar ist sie nicht bloß ursprünglich einmal von ihm eingesetzt und gewissermaßen von ihm selbst eingesegnet: sondern sie ist noch
heute die von Gott geheiligte Grundlage aller menschlichen Ordnung, ’) Vergl. das Trauformular der preuß. Agende.
Heiligkeit, Bestimiimng iiitb sittliche Gnuldtageu bei* Ehe (Monogamie).
151
die unveräußerliche Bedingung aller wahrhaft menschlichen Entwick lung. —
Nicht die bürgerliche, nicht die kirchliche Gemeinschaft vermögen zu bestehen, wo die Ehe nicht heilig gehalten wird.
die häusliche Tugend der Römer schwand. Volk untergegangen,
Rom sank, als
Dagegen ist noch nie ein
dessen Frauen tüchtig waren.
Die erziehen
Männer, die senden Krieger in den Streit: da weiß der Gatte, der
Sohn, der Bruder, wofür er sein Blut vergießt. Nicht minder beruht das Gedeihen der Kirche auf der frommen Zucht der Hauswesen. Was frommt aller kirchliche Apparat, was
helfen alle Predigten, wenn das Leben im Hause vernichtet, was in dem Gottesdienste angesamt ist?
Vor allem für den Erfolg des
Jugendunterrichts ist das Haus von der äußersten Wichtigkeit.
Es
läßt sich geschichtlich nachweisen, daß fast alle wahrhaft großen Männer
fromme Mütter gehabt haben.
„Wer das Reich Gottes nicht empfängt
als ein Kindlein, wird schwer in dasselbe hineinkommen": dies Wort, das ursprünglich allerdings in einem andern Sinne gesprochen ist, behält auch nach dieser Richtung hin seine Wahrheit (Mark. 10, 15). Endlich wird — mit seltenen Ausnahmen — auch der einzelne
nur in gottwohlgefälliger Ehe ein voller Mensch.
Die Ehe ist mit
nichten nur zu gegenseitiger Hülfsleistung und, was dem ähnlich ist, sie ist vor allem zur Ergänzung und Vollendung des einen durch den
andern da.
Mann und Weib sind für einander geschaffen, daß der
Mann vom Weibe die Sitte und, was wohllautet, und das Verständ niß für das Individuelle, das Weib vom Manne, was Recht ist, und den Gemeinsinn und die Tapferkeit lerne, beide aus der Einseitigkeit und aus der Verzerrung, zu welcher diese führt, sich zur Fülle ihres
Urbildes entwickeln und schließlich für den Himmel reifen. Diese hohe Bestimmung kann die Ehe nur in derjenigen Ge stalt erreichen, in der sie von Gott eingesetzt ist: ein Mann und ein Weib zu einer unauflöslichen Einheit verbunden.
Jede Abweichung
von dieser Gestalt der Monogamie, sei es Vielweiberei, sei es vor
übergehende Verbindung zwischen Mann und Weib, zieht die Ehe von ihrer Höhe herab und ist die Quelle schwerster sittlicher Verderbniß. Und darf man sich da nicht auf die Patriarchen und andere Heilige des
A. Bundes berufen, von denen erzählt wird, daß sie in Mehrweiberei
gelebt: und bereu übel verstandenes Beispiel einst Luther» in einen verhängnißvvllen Irrthum geführt hat(vergl. sein Gutachten, betreffend die Doppelehe des Landgrafen Philipp von Hessen). — Im Gegen theil beweisen die gleichfalls berichtete Verstoßung Hagars mit ihrem Sohne, der Bruderzwist in Jakobs Familie, die furchtbare sittliche Verwüstung in Davids Hause — sämmtlich Folgen her Mehrweiberei — welch ein Fluch von je an auf dem Abfall von der ursprünglichen Einsetzung Gottes gelegen habe. Die göttliche Einsetzung des heiligen Ehestandes wird gleicher weise mißachtet und verkannt von denen, welche die Ehe verbieten oder sonst grundsätzlich von ihr ferne bleiben, wie von denjenigen, die in sie treten, ohne die Bedingungen zu erfüllen, an welche sie geknüpft ist. Das erstere geschieht bekanntlich in der römischen Kirche, welche nicht bloß ihren Priestern die Ehe unbedingt untersagt'), sondern auch allen übrigen Christen Ehelosigkeit (den Cölibat) als ein Mittel und eineStufe höherer christlicher Vollkommenheit empfiehlt. Damit hat dieselbe, trotzdem sie der Ehe den Titel eines Sakraments ver leiht, dieser den Makel aufgedrückt, ein Hinderniß der Vollkommen heit und nur für ordinäre Christen, die die Keuschheit nicht zu be wahren vermögen, bestimmt zu sein. Aber die römische Kirche hat auch noch nie erkannt, weder was Ehe, noch was Keuschheit ist. — An der Heiligkeit der Ehe versündigen sich auch die, welche leicht fertig in dieselbe treten, ohne die für sie gestellten Bedingungen zu beachten. Solche unerläßlichen Bedingungen sind: 1. Leibliche und geistige Reife. Die Ehe ist für Männer und Weiber („ein Mann und ein Weib"), nicht für Unreife, die noch der Erziehung bedürfen, für halbe Kinder eingesetzt. „Jung gefreit hat — schon viele — gereut." Es ist ein Unglück, wenn Burschen, die kaum der Lehre entlaufen sind, heirathen. Vollends ist das Tändeln mit Liebe und Verlöbniß der Mädchen, die besser noch in die Schule gehen, ein Frevel an der Ehe und ein Ruin ächter Weib lichkeit. — ') Es ist ein eigenthümliches Schicksal der Kirche, ivelche den Priestercölibat
für einen ihrer unentbehrlichsten Pfeiler hält, das; ihr angeblicher erster Bischof Petrus sammt andern Aposteln verheirathet war (Matth. 8, 14; 1 Kor. !), 5).
Sittliche (Mrnnbhiqen der Ehe.
Cölibat.
153
2. Wer einen Hansstand gründen will, muß ein „Hans" haben, wer ein Weib heimführt, es ernähren können.
Bettelehen sind Sünde.
Auch sonst soll, wer nicht eine Ehe zu führen vermag, nicht in die Ehe treten.
3. Weil der Mensch, wenn er in die Ehe tritt, Vater und Mutter verlassen und an seinem Weibe hangen muß, so soll er nicht eher in die Ehe treten, als bis er Vater und Mutter und, wer sonst an ihn
gewiesen ist, mit gutem Gewissen verlassen kann. vielen Ehen
trotz
Darum ist in so
Vater- und Muttersegen kein Segen, weil
das
Seufzen verlassener Eltern gegen die undankbaren Kinder schreit.
4. „Ehen
werden
im Himmel geschlossen."
Zur rechten Ehe
gehört das sichere Bewußtsein, nicht bloß, daß die Ehe im allgemeinen, sondern daß diese bestimmte Ehe Gott wohlgefällig sei; daß er es
sei, der die beiden zusammengeführt habe, und daß sie in dieser Ver bindung Heiligung des Herzens und Friede der Seele finden wer
den.
Wo dieses Bewußtsein, Glaube an Gottes Fügung und Glaube
an die Liebe, die Treue, den sittlichen Werth, die Zusammengehörig keit mit dem anderen Theile fehlt, da allerdings ist „Nichtfreien besser, als Freien"').
Achtung, hohe Achtung vor denen, welche auf den
Ehestand verzichteten, weil sie diese Zuversicht nicht zu gewinnen ver mochten, oder auch trotz derselben dem Zuge ihres Herzens nicht fol
gen konnten, ohne ihre Kindespflicht oder sonstige heilige Verpflich tungen zu verletzen.
Sie werden nimmer von der äußerlich und
innerlich schiefen Stellung und von der fast nie ausbleibenden geistigen J) Bergt. 1 Alot. 7, 8f. und 26 f. — Die unverkennbare Abneigung des Apostels Paulus gegeu die Ehe hängt offenbar mit der Erwartung der baldigen Wieder kunft Christi nnd der als ihr vorausgehend gedachten Umwälzungen zusammen, denen gegenüber die Knüpfung neuer Fannlienbande als unnütze Erschwerung der Trübsal erschien (v. 28. 29). Doch hat keiner mehr, als Paulus, für die Hebung
der Franenwürde mit) die ideale Auffassung der Ehe gewirkt (Gal. 3, 28; Eph. 5, 22s.); wie er denn auch gerade 1 Kor. 7 jeden Schein ausschließt, als mache er die Ehelosigkeit zu einem Gebot (v. 25 u. a. m.). Vollends wird es 1 Tim. 4, 2. 3 lüs besonderes Merkmal der Lügenredner, die in ihrem Gewissen gebrandmarkt sind, angeführt, daß sie verbieten, ehelich zn werden. Gegen den Priestercölibat oergl. 1 Tim. 3,2 (es soll ein Bischof sein — eines Weibes Mann). Die griechische Kirche versteht diese Stelle fälschlich so, als werde dem Bischof dadurch die zweite Ehe nach dein Tode der ersten Fran verboten, weshalb sie ihren Priestern nur die erste Ehe gestattet.
1. Hcmptstück. Sechstes Gebot.
154
Verkümmerung getroffen werden,
welche sich an willkürliche, durch
Hoffart, Selbstsucht oder Scheu vor dem Ernste der Ehe herbeige führte Ehelosigkeit zu heften pflegt.
Solchen, aber auch nur solchen
gilt vielmehr die Verheißung, welche der Herr in das Wort gelegt hat, daß es etliche gäbe, die sich „um des Himmelsreichs willen" der
Ehe enthielten (Matth. 19, 12).
An das in die Klöster Laufen und
das Verdienst der Möncherei und Nonnerei hat er dabei nicht gedacht.
II. Der Ehebund ist ein Abbild des Bundes zwischen Christus und der Gemeinde (Ephes. 5, 22—33). Im Alterthum war das Weib geringgeachtet, so daß bei den Juden darüber gestritten werden konnte, ob die Weiber Seelen hätten.
Die Frau war durchgängig
des
Mannes Magd; höchstens galt sie etwas als die Mutter seiner Kin der, der künftigen Erben und Bürger. — Das Christenthnm, wie
es die ursprüngliche Heiligkeit der Ehe hergestellt und ermöglicht hat, hat auch die Stellung der Fran wesentlich geändert: das Weib auch Gefäß der Gnade und dem Manne ebenbürtig.
Der Mann nicht
mehr Herr, sondern Haupt, Rath, Trost, Schutz, Priester seines Weibes und seines Hauses, wie Christus ist das Haupt der Gemeinde, und
„er ist seines Leibes Heiland".
So soll auch der Mann sein Weib
erlösen von aller Furcht und Aengstlichkeit und allem peinlichen, klein lichen Wesen und es zur freudigen Gefährtin und Gehülfin seines
Wirkens erheben.
Seine „Häupterschaft" beruht dem Herrn nach in
der Liebe, mit welcher er sein Leben — seinen Eigenwillen, seine Launen — darangiebt für sein Weib und sein Haus, mit welcher er
des Weibes und des Hauses Heiligung wirkt, daß sie herankommen zu der Reinheit und Schöne, zu der Christus sie berufen hat und sie, wie die gestimmte Gemeinde,
emporführt durch sein reinigendes
Wort. — Gleicherweise soll die Frau den Mann heiligen (1 Petr. 3, 1 f.). Sie soll dem Manne unterthänig sein, nicht nach Herrschaft trachten, nicht streitsüchtig sein, sondern mit sanftem und stillem Geiste „ohne Wort" durch keuschen Wandel und Entfaltung der Herrlichkeit
ihres inwendigen Menschen bei äußerer Einfachheit und Prunklosigkeit den Mann für das Höhere, Reinere, Sittige gewinnen und auch dem, „welcher nicht glaubt an das Wort" (a. a. £>.), eine so gewal
tige Predigt sein, wie sie kein Prediger an ihn bringen könnte. Kurz: Der Mann des Weibes Haupt — die Ordnung bleibt unverrückt —,
Die christliche Ehe. NimilflöSlichkeit der Ehe (Scheidung).
155
aber das Weib des Mannes und des Hauses Herz, „Krone," Zier, und beider gemeinsames Ziel das Heil im Herrn.
Das ist die
christliche Ehe d. h. die rechte, durch das Christenthum erlöste und geheiligte Ehe: welche den Menschen berechtigt und das „Geheimniß"
löst, daß „ein Mann Vater und Mutter verläßt und an seinem Weibe hängt und die beiden fortan ein Mensch sind" (Matth. 19, 5. 6;
1 Mos. 2, 24).
Wo man dagegen nur um „des Fleisches Lust und
der Augen Lust und des hoffärtigen Lebens" willen (1 Joh. 2, 16),
d. i. nur aus sinnlichem Wohlgefallen oder um des bloßen Fort kommens oder des Ranges, Standes, Geldes willen heirathet, da ist
die Ehe entwürdigt und unter Umständen das nichtswürdigste, was ein Mensch, Mann oder Weib, thun kann, und wenn alle Priester der Welt ihren Segen darüber sprächen. III. „Was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden" (Matth. 19, 3f.).
Die Ehe soll, und eine rechte Ehe —
und jede Ehe soll eine rechte sein — kann nie wieder geschieden
werden. — In der Ehe sind die zwei ein Mensch geworden. Mögen darum immerhin andere Verbindungen der Menschen, selbst die engsten, gelöst werden, wie denn selbst Eltern die Kinder von sich fort und über sich hinaus zur Selbstständigkeit erziehen, und die Kinder die Eltern zwar nimmer vergessen noch vernachlässigen dürfen, wohl aber
„verlassen" und ihre eignen Wege gehen müssen: der Ehebund kann nie ohne Sünde des einen oder des anderen, in der Regel aber beider Theile gelöst werden.
Nur der Tod oder, was demselben schlechthin
gleichkommt, löst die Ehe ohne Verschuldung der Betheiligten auf. Aber wie trotz des 5. Gebots ein Mensch unter die Mörder fallen und getödtet werden kann und in diesem Falle begraben wer den muß: so tritt faktisch auch in mancher Ehe in Folge der „Her-
zenshärtigkeit" der Menschen eine solche Verwüstung und Todtschlag
des innersten Wesens der Ehe ein, daß nichts übrig bleibt, als sie, damit nichts Aergeres geschehe, vollends die Verwesung nicht um sich greife, gleichfalls „begraben" oder aus der Welt schaffen.
Selbst
verständlich, daß in solchen Fällen alle, die es angeht, die Familie,
die Gemeinde, der Richter, alles nur irgend Mögliche versuchen wer
den, die kranke und verwundete Ehe zu heileu.
Wie schon Moses,
um die bereits von ihm gemißbilligte und nicht gewollte Ehescheidung,
I. Hauptstück,
156
die er aber bei der Sitte
sechstes Gebot.
des Orients und bei der Verwilderung
seines Volkes nicht ganz verhindern konnte, so viel wie möglich zu
erschweren und Zeit und Raum für ruhige Besinnung und mahnen
den Zuspruch zu gewinnen, überhaupt die arg verwüsteten ehelichen Verhältnisse zu regeln, die Verordnung wegen des „Scheidebriefes"
gegeben hat (Matth. 19, 7. 8; 5 Mos. 24, 1).
In viel höherem Grade
soll unter uns christlicher Ernst und christliche Liebe das Aenßerste thun, Ehescheidung zu verhüten.
Ist dieses allseitig geschehen, dann
trifft diejenigen, welche schließlich bei „Herzenhärtigen" die Lösung der Ehe auszusprechen haben, ebenso wenig eine Schuld, als bei Ver
sündigungen gegen das 5. Gebot diejenigen eine Schuld trifft, welche
dem Erschlagenen, den sie vergebens am Leben zu erhalten und zu heilen gesucht haben, schließlich den Todtenschein ausstellen und ihn bestatten.
Um jedes Mißverständniß zu vermeiden und das Wort Christi voll verstehen zu lehren, ist noch ausdrücklich auf den Unterschied auf merksam zu machen, der zwischen der Mosaischen Einrichtung und
der bei uns gültigen stattfindet: daß nämlich dort der Mann sich von seinem Weibe schied,
sie,
wenn er ihr nur den Scheidebrief gab,
(was zu Jesu Zeit kaum noch einem Weiterung und Mühe veranlaßte),
jeder Zeit lediglich nach seinem Ermessen entlassen oder „verstoßen" durfte; bei uns dagegen der Bestand der Ehe jeder persönlichen Will
kür sowohl des Mannes,
wie des Weibes,
entzogen ist
und die
Scheidung immer nur vom Richter nach mannigfaltigen Vorverhand lungen ausgesprochen werden kann. Bis hieher gehen die evangelische und die katholische Kirche in
ihrer Behandlung der Ehe und in ihrer Beurtheilung der Eheschei dung zusammen.
Beide mißbilligen die Ehescheidung, wie jeder sitt
liche Mensch es thut; beide müssen um der noch nicht überwundenen Herzenshärtigkeit willen trotz ihrer Mißbilligung sie zulassen. Da
gegen gehen sie auseinander hinsichtlich
der Wirkung,
welche sie
einer ordnungsmäßig ausgesprochenen Ehescheidung zuschreiben.
Die
katholische Kirche lehrt, die Ehescheidung scheide die Ehe nicht ganz,
sie hebe wohl den „Bund", aber nicht das „Band" auf, und traut demnach auch rite geschiedene Ehegatten nicht, so lange der abge schiedene Theil lebt: dann aber unbedenklich, unangesehen die sittliche
Beschaffenheit unb die möglicherweise große Schuld, welche der über-
Ehescheidung.
Form der Eheschließlmg (kirchliche und bürgerliche).
157
lebende Theil an der Scheidung seiner Ehe hat. — Für besondere
Fälle, wie z. B. bei der Ehe des Kaisers Napoleon mit Josephine»,
und ähnlichen hat sie noch die Aushülfe, daß sie dergleichen Ehen, um mancher Gründe willen, als einer unterlassenen Formalität wegen oder wegen „zu naher Verwandtschaft" für „nichtig" erklärt und
dann dergleichen Ehegatten als solche, die »och gar nicht verheirathet
gewesen, sofortige Wiederverhcirathung gestattet.
Sie beruft sich für
ihre Praxis, d. h. für den ersteren Theil derselben,
denn für den
zweiten möchte es schwer werden, Schriftgründe beiznbringen — auf IKor. 7, IO. 11.
Die evangelische Kirche sieht die Ehescheidung, die ja ihrer Lehre
nach nie eher eintreten soll, als bis der Nachweis von der innerlichen Vernichtung der betreffenden Ehe geführt ist, als volle Lösung an; und traut demuach den unschuldig abgeschiedenen Theil sofort, den
schuldigen dagegen erst, nachdem er Gewähr gegeben, daß er sich ge bessert habe.
Wohl kennt sie Matth. 5, 31. 32, desgl. 1 Kor. 7, 10.11.
Aber sie weiß auch Joh. 6, 63 und 1 Kor. 7, 12—16. Die evangelische Kirche denkt über die Ehe sittlicher, als die
römische.
Sie will nicht, was eine Lästerung auf die Ehe ist, noch
für eine christliche Ehe ausgeben; ebenso wenig Ehen nach Aufhebung
jeder Lebensgemeinschaft zwischen den „von Tisch und Bett" geschiedenen Ehegatten oder — nach Luthers Ausdruck — „gemalte Ehen" für wirkliche Ehen halten. — Und sie verfährt wahrhafter.
Sie giebt
nicht vor, wie die römische Kirche, Ehen, wie die erwähnte Napoleons u. a., welche dieselbe für nichtig erklärt, seien keine Ehen gewesen;
sondern sie sagt, wenn sie scheidet, geradeheraus: diese Ehe war eine
Ehe und hätte eine rechte Ehe werden können und sollen; jetzt ist sie durch Schuld der Menschen vernichtet. Gott gebe den Frevlern Buße. — IV. Die Ehe soll nicht nur innerlich allen Erfordernissen ent sprechen, sondern auch äußerlich zur Anerkennung gebracht werden. Religion und Sittlichkeit verwerfen heimliche Ehen, und die christliche
Kirche hat dieselben von je an gemißbilligt.
Der Mann soll sich
zu seinem Weibe, das Weib zu ihrem Manne vor Gott und Menschen bekennen. — Die Form, durch welche die Ehe bei uns öffentliche Anerkennung
und rechtliche Gültigkeit erlangt, ist die Trauung.
Dieselbe hat zwei
158
1. Hcmptstiick.
Sechstes Gebot.
Seiten, eine religiöse, sofern der Geistliche als Diener der Kirche
den angehenden Ehegatten Gebot und Verheißung Gottes vorhält und
Gottes Segen auf sie herabfleht; und eine rechtliche, sofern er als Organ der bürgerlichen Gesellschaft, nachdem in den Vorver handlungen die Uebereinstimmung der zu vollziehenden Ehe mit den
Staatsgesetzen constatirt ist, und im Auftrage derselben gleichzeitig die bürgerliche Gültigkeitserklärung vollzieht. — In neueren Zeiten
hat diese lange Zeit unbedenkliche und in unserem Volke eingelebte Verbindung zweier ursprünglich verschiedenen Funktionen und Hand
lungen in einer Person und einem Akte schwere Uebelstände hervor
gerufen, indem einerseits die katholische Kirche, aber auch etliche evan gelische Geistliche und Kirchenbehörden sich geweigert haben,
den
Staatsgesehen strikte Genüge zu thun und, wie es der Staat von den mit seinen Funktionen Betrauten fordern muß, nun auch alle
von dem bürgerlichen Gesetze gestatteten Eheschließungen zu vollziehen'), sofern andererseits mehr und mehr zum Bewußtsein kommt, daß die christliche Kirche ihren Gliedern doch noch andere und höhere An
forderungen in Beziehung auf Eheschließung und Eheführung stellen
müsse, als der Staat sie allein seinen Angehörigen gebieten kann. — Das hat auf den Gedanken führen müssen, auch bei uns die uran fängliche, in anderen Ländern und einzelnen Provinzen selbst unsers
eignen Staates (Reinprovinz und
Westphalen) bereits
bestehende
Form der gesonderten kirchlichen und bürgerlichen Eheschließung je
in einem besonderen Akte herzustellen. Das ist die sogenannte „Civil-
ehe"; ihre Einführung, auf welche im übrigen die gesummte Ent wickelung des Staates und der Kirche hindrängt, stößt jetzt noch auf vielfachen Widerspruch, hauptsächlich, weil schlichtere Leute durch
den ungeschickt gewählten Namen zu der Meinung verleitet werden, als solle die Ehe aufhören, christlich zu sein; sodann aber, weil viele fürchten, es würde bei Einführung dieser Einrichtung ein großer Theil sich mit der bürgerlichen Legalisirung ihrer Ehe begnügen, und
die kirchliche Trauung ganz aufhören.
Beides ist unbegründet.
Die
]) Die römische Kirche verweigert die Einsegnung sogenannter „gemischter Ehen", es sei denn, daß der akatholische Theil eidlich die Erziehung der zu erwägenden Kinder im katholischen Glauben zusagt. Etliche Evangelische verweigern die Wieder trauung aller nicht „aus Schriftgründen", übrigens aber rechtskräftig Geschiedenen.
Werth und Bedeutung der kirchlichen Trammg.
159
bisherige Auseinandersetzung zeigt, daß es sich bei Einführung des „Civilaktes"
bei der Eheschließung gar nicht um Aenderung der
Ehe, sondern eben nur um die korrekte Form der Eheschließung handle.
Andererseits wird, wie die Erfahrung zeigt, der religiöse
Mensch nie ablassen, neben der vom Gesetze vorgeschriebenen Form für die bürgerliche Anerkennung der Ehe auch die religiöse Weihe zu
suchen; und ebenso wird ja die Kirche nie aufhören, letztere ihren Gliedern darzubieten und von ihnen zu fordern. —
Zwei wichtige Veränderungen
1869),
seit Eltesters Tode (8. Jan.
die, wenn er sie erlebt hätte, nicht ohne Einfluß auf seine
Behandlung des 6. Gebotes geblieben wären, machen dem entsprechend
zwei Nachträge nöthig: 1. Seit der von ihm voransgesehenen Einführung der Civilehe (in Preußen 1. Oct. 1874, im deutschen Reiche 1. März 1875) wird
eine Ehe gesetzlich gültig durch die Verbindung vor dem Standes amt; den so Verbundenen bleibt es überlassen, die kirchliche Trauung
Nun hat zwar Eltesters Wort, daß „der religiöse Mensch nie ablassen werde, auch die religiöse Weihe für die Ehe zu
hinzuzufügen.
suchen", im wesentlichen Recht behalten: nach anfangs bedenklichem
Schwanken in den ärmeren Volksklasfen ist die kirchliche Trauung wieder mehr und mehr zur Regel geworden; ja, die gewährte Frei
heit hat auch hier, wie so oft auf religiösem Gebiet, trotz der von ihr unzertrennlichen Gefahren zum Segen gewirkt, sie hat zur Ueber windung der letzteren edle Kräfte in der evangelischen Gemeinde ge weckt und unserm Volke den Werth der kirchlichen Trauung mehr zum Bewußtsein gebracht.
Dennoch erhöht sie die Verpflich
tung, diesen Werth in das rechte Licht zu setzen; dazu diene folgende Ergänzung des von Eltester bereits Gesagten:
Zwar wird für den evangelischen Menschen die Ehe christlich
nicht durch einen bloß äußerlichen Weiheakt, sondern durch die christ liche Führung, und eine solche ist ihm auch ohne kirchliche Einseg
nung denkbar. Aber ist diese darum ein minder unveräußerliches Mittel, um den schon von Eltester betonten Zusammenhang der Ehe und Familie mit der christlichen Gemeinschaft lebendig zu erhalten
1. Hmiptstück.
160
Sechstes GSebot.
und im Volke die Ueberzeugung zu pflegen, daß nur eine in Gott
geführte Ehe eine gesegnete sein kann?
Nur auf das in das Ge
meindeleben innig cingegliederte eheliche und Familienleben kann
das Gemeindeleben selbst sich gesund erbauen; und nur, von diesem getragen und genährt, kann die Ehe sich ihrerseits zum wahrhaft christlichen Hausstande, zn einem Tempel Gottes in Glauben und
Liebe ausgestalten und dadurch zu einem Pfeiler der Gemeinde heran
wachsen.
Diesen Zusammenhang will die kirchliche Trauung zum
Ausdruck bringen, anbahnen und beleben; wo sie ohne Noth verab säumt wird, da fehlt es irgendwie an Sinn für diesen Zusammen
hang und für unsere Pflichten gegen die christliche Gemeinschaft. Aber nicht allein das Verhältniß der Ehe zur Gemeinde, auch
ihr eigner Gehalt — sowohl, was Ehegatten in ihr zu erfahren und zu leiden, als, was sie darin zu leisten haben werden — erheischt
die engste Beziehung derselben zur Religion: nur durch die Religion gelangt sie zur vollen Entfaltung ihres Wesens und. Segens, ja zur
Vollendung erst durch die Religion Jesu. Wo ein Mensch des andern Wohl und Wehe so eng, wie in der Ehe, an das seine kettet, da
gewinnt, wenn er die rechte Wahl traf, Herz und Leben eine neue Stütze und einen reicheren und tieferen Inhalt; aber um so größer
auch die Angriffsfläche für die Pfeile des Schicksals, um so zahlreicher
die verwundbaren Stellen der Seele: um so unabweisbarer an diesem entscheidendsten Wendepunkte des Lebens,
da zwei Wege sich zu
einem verweben, der in feierlicher Andacht vereinte Aufblick zu dem, der, wie „Wolken, Luft und Winden", so auch seinen Menschen kindern die Bahn zumißt,
der allein segnen, Wunden heilen und
Sorgen tragen helfen kann.
Wie viel mehr bedürfen wir dieses Auf
blicks
gegenüber den hohen Aufgaben der Ehe! Zwei sollen eins
werden, zwei verschiedene Charaktere mit ihren mannigfachen Eigen
heiten und — Fehlern sich in einander schicken: wie wird es dazu der
Liebe bedürfen, die „alles verträgt, alles glaubet, alles hoffet, alles duldet" (1 Kor. 13, 7), und die in ihrer Vollendung uns allein der Dulder am Kreuze lehrt!
Zwei Willen sollen eins werden, derart,
daß zwar der Mann, als Träger des Ganzen, das Haupt bleibt, aber doch nicht der Tyrann der Frau wird, sondern liebevoll ihren Willen in den seinen mit hineinzieht, und beider Willen zu einem
Werth und Bedeutung der kirchlichen Trauung.
Mischehen.
161
dritten geläuterten sich ergänzen: wie schwer, daß der Mensch das hier täglich von neuem erforderte Opfer des Eigenwillens bringe!
wie anders kann das gelingen, als dadurch, daß beide Ehegatten sich unter den heiligen Willen des einen Herren und Vaters beugen und alles eigne Wollen und Wünschen
dem einen gemeinsamen
Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit unterordnen? Zwei Persönlichkeiten sollen zu einer dritten höheren geistigen Per
sönlichkeit zusammenwachsen: wie anders kann das geschehen, als da durch, daß beide sich immer inniger mit dem Geiste der Liebe, die
bis an den Tod geliebt, erfüllen, in der Kraft dieser Liebe einer sich in den andern hineinleben und sich in die Gemeinschaft hineinziehen lassen,
die der scheidende Jesus den Seinen betend als das Ideal
aller menschlichen Gemeinschaft, auch der Ehe, vor Augen gestellt hat (Joh. 17, 21): „Du, Vater, in mir, und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien" —?
Wo zweier Herzen in diesem Ideal zu
sammenschlagen, da genügt es ihnen nimmer, nur die Rechtsformen für
die gesetzliche Gültigkeit ihrer Ehe zu vollziehen; diese stellen ihnen nur die eine, die staatsbürgerliche Seite derselben dar: aber für die hei ligen Gelübde und die heißen Gebete, die ihre Seelen bewegen, und für Erbauung des hehren Gottestempels, den sie mit einander geschaut, suchen sie Kraft, Ausdruck und Segen in der Weihe am Traualtar.
2. Die zweite Veränderung seit Eltesters Hinscheiden ist die Verschärfung des Gegensatzes zwischen der evangelischen und der
römischen Kirche durch den Kulturkampf und nicht minder durch den nunmehr erfolgten Friedensschluß des Staates mit der letzteren, sofern deren Machtbewußtsein und Ansprüche dadurch noch gewachsen sind. Um so unerläßlicher ist bei Besprechung
des 6. Gebots ein ernstes
Wort über die Mischehen, d. h. Ehen zwischen Angehörigen ver schiedener Religionsgemeinschaften.
Das Ideal der Ehe fordert Ein
heit im Centrum des geistigen Lebens, Religion.
Einheit in Gott — in der
Freilich können sich zwei Menschen innerlich in ihren
religiösen Anschauungen näher stehen, als ihr verschiedenes Religions bekenntniß schließen läßt. Vielleicht halten den nichtchristlichen, nicht evangelischen Theil vom Eintritt in die christliche, beziehungsweise evan
gelische Kirche nur irgendwelche Mißverständnisse oder auch äußere, etwa
Pietäts-Rücksichten ab, die, gleichviel, ob berechtigt oder unberechtigt, Eitester. Materialien. 2. Auflage. 11
1. Hauptstück.
162
Sechstes Gebot.
doch die Einigkeit im Geist nicht unmöglich machen. In der That können zwei Menschen durch den Zug der Herzen und die Macht der
Verhältnisse so auf einander hingewiesen sein, daß man auch bei der
höchsten Werthschätzung der Religion die Ehe zwischen ihnen trotz abweichenden 'Religionsbekenntnisses als
ansehen darf.
„im Himmel geschlossen"
Deshalb vermag die evangelische Kirche, die sich nicht
für die alleinseligmachende hält noch die Seligkeit von der Zugehörig keit zu irgend einer Kirche abhängig macht, die Mischehe nicht un
bedingt zu verwerfen und sollte selbst für Ehen zwischen Christen
und Nichtchristen ihren Segen,
wo er anscheinend in Aufrichtigkeit
der Herzen begehrt wird, nicht grundsätzlich versagen.
Die ältere
Kirche hat ihn für Ehen heidnischer Fürsten und christlicher Prin zessinnen gewährt und dadurch die Brücke für die Christianisirung
ganzer Völker geschlagen. gegen.
Dem steht auch die Schrift nicht ent
Zwar darf man dafür nicht ohne weiteres Pauli Urtheil
1 Kor. 7, 12f. anrufen, wo er dem christlichen Theil räth, den nicht
christlichen nicht zu verlassen, falls letzterer nicht selbst die Trennung
herbeiführe; denn dort spricht er von Ehen, die nicht erst eingegangen
werden sollten, sondern die schon bestanden hatten, als beide Theile noch heidnisch oder jüdisch waren, und erst durch die Bekehrung des
einen Mischehen wurden.
Aber sollte nicht trotzdem auf Fälle, in
denen der nichtchristliche Theil dem Evangelium schon innerlich nahe steht, das Wort (v. 14) anwendbar sein, daß der ungläubige Theil durch den gläubigen geheiligt werde, und ebenso das Wort Christi
Luk. 9, 50: „Wer nicht wider uns ist, der ist für uns"—? Warnen muß die Kirche dennoch vor jeder Mischehe mit dem Paulus (v. 15f.): „Im Frieden hat uns Gott berufen.
Was weißt du aber, ob du
den Mann oder das Weib werdest selig machen?"
Denn — abgesehen
von den Fällen, in denen, was dem einen das heiligste, dem andern
als Aberglaube oder als Entweihung, ja als der Weg zur Verdammniß gilt — als einen tief schmerzlichen Mangel an voller Einheit
müssen es doch auf die Dauer die religiös nicht ganz Gleichgültigen empfinden, wenn die Herzen sich in den geweihtesten Augenblicken,
im Gotteshause,
am Tische des Herrn, nicht zusammenfinden oder
nicht verstehen, oder wenn einer dem andern die wichtigste-Seite der Kindererziehung, die religiöse, völlig überlassen muß.
Mischehen. Gesetzliche Bestimmungen.
163
Aber welcher Theil wird hier der entscheidende sein?
Das ist
der sich immer wiederholende praktische Streitpunkt, dessen Wichtig keit vor der Hochzeit so oft verhüllt bleibt, nachher aber sich auf das
empfindlichste fühlbar macht, vor allem für den evangelischen
Theil bei Ehen mit Angehörigen
der
römischen
Kirche.
Der evangelische Christ, die evangelische Christin lasse sich nicht durch das Vertrauen auf die Liebe oder selbst die Versprechungen des. ka
tholischen Theils in Sicherheit wiegen: nicht mit dem Gatten, der Gattin allein, sondern weit mehr mit dem römischen Priester werden
sie es zu thun haben, und dieser ist eidlich verpflichtet, seinem Beicht kinde keine Ruhe zu lassen, bis katholische Kindererziehung durchgesetzt, und wo möglich auch der evangelische Theil der alleinseligmachen den Kirche zugeführt ist.
Vorher wird kein Friede sein, und ---
opfert letzterer auch nur die Kindererziehung — welch ein Friede, , allein,
verlassen zu stehen mitten im Kreise seiner Geliebtesten, denen sämmt lich Kirche und Schule es zur Pflicht macht, den evangelischen
Gatten, Gattin, Vater, Mutter für ewig verloren zu halten, wenn
es nicht gelingt, — die arme Seele
zu bekehren!
lassenheit — noch auf dem Sterbebett!
Welche Ver
Das sind nicht Schrechge-
spenster, sondern bitterste Erfahrungen aus der traurigen Wirklichkeit. Der Evangelische, der trotz alledem die Ehe mit einem Katholiken
eingehen will, wehre vor allem die Trauung in der römischen Kirche ab! Sie wird nur gegen das Versprechen katholischer Kindererziehung gewährt, und dieses Versprechen vielleicht erst kurz vor der Trauung in der Sakristei abgenommen: wie schwer dann die Weigerung, in
Folge deren die Hochzeitsgesellschaft unverrichteter Sache auseinander gehen müßte!
Oder sollen die Betheiligten das Versprechen an hei
liger Stätte mit dem stillen Vorsatz geben, es nicht zu halten? Me unevangelisch, unchristlich, gottlos!
Besonders zu beachten ist, daß — nach dem Allgemeinen Land recht Th. 2, Tit. 2, §§ 76—85 in Verbindung mit der Allerhöchsten
Deklaration vom 21. Novbr. 1803 und den Erkenntnissen
des Kgl.
Kammergerichts v. 27. Oct. 84, 23. Fbr. 85 u. 2. Novbr. 85. (s. Kirchl.
Ges. u. Verordn.-Bl. 85, S. 16; 86, S. 7 ü. 32)— die Kinder in Mischehen der Confession des Vaters folgen, wenn nicht die Ehe
gatten sich unter einander über ein anderes einigen, daß aber nach 11*
164
1. Hauptstück.
Sechstes Gebot.
dem Tode des Vaters dessen Confession entscheidend bleibt, auch wenn er lebend der Mutter anders lautende mündliche oder schriftliche
Versprechungen gegeben hat.
Nur die Kinder, welche schon ein
Jahr lang vor seinem Tode in einer andern Confession erzogen wurden, d. h. den Religionsunterricht derselben in der Schule oder
anderweit empfingen, dürfen in dieser Konfession verbleiben. evangelische oder katholische Taufe
Die
entscheidet über die
evangelische oder katholische Erziehung nichts.
Hieraus folgt,
daß die evangelische Frau eines Katholiken vor der katholischen Er ziehung ihrer Kinver im Falle seines Todes auch dann nicht ge
schützt ist, wenn er ihr die bündigsten mündlichen oder schriftlichen Versprechungen gab und im Herzen längst nicht mehr katholisch war: die Kinder, welche bei seinem Tode noch nicht ein Jahr lang evan gelischen Religionsunterricht genossen haben, gehören trotz aller
Thränen der Mutter unrettbar der römischen Kirche.
Das sollten
katholische Gatten evangelischer Frauen wohl bedenken, wenn sie, wie öfter der Fall, im Herzen nicht mehr katholisch sind, etwa längst
schon mit der Gattin die evangelische Kirche besuchen und nur aus Bequemlichkeit oder allerlei andern untergeordneten Rücksichten nicht zu derselben übertreten: sie sollten sich bei Zeiten klar für die eine oder
andre Kirche entscheiden, damit nicht nach ihrem Tode ihre Kinder der Gewalt einer Kirche überliefert werden, der sie selbst innerlich abgestorben sind.
Bemerkt sei übrigens noch, daß jedes Kind mit
vollendetem 14. Jahre das Recht gewinnt, seine Religion nach eignem
Ermessen zu wählen. Noch eine Frage: Sollte nicht christliche Duldsamkeit (Toleranz)
den evangelischen Theil nachgiebiger stimmen, da er weiß, daß auch ein Katholik selig werden kann? Nimmermehr: das wäre nicht Duld samkeit, sondern religiöse Gleichgültigkeit und Schlaffheit! Wohl weiß
er, daß der Gott der Liebe auch das Senfkorn des Glaubens, das Sehnen des Herzens nach ihm nicht verachtet, noch nach der äußern Confessionszugehörigkeit richtet.
Er unterscheidet von der römischen
Kirchenanstalt sorgfältig den katholischen Mitmenschen und erkennt in ihm gern den theuren Mitchristen an.
Frieden im Glauben d. i.
in
Aber, weil er selbst den
der Hinwendung
des
inwendigen
Menschen zu Gott gefunden hat, kann er nimmermehr freiwillig sein
Mischehen.
Liebstes, seine Kinder,
165
Falsche Duldsamkeit.
dem äußerlichen Wesen und der Gewissens
knechtschaft einer Kirche preisgeben, welche einen sündigen Menschen
für den unfehlbaren Richter in Glaubenssachen erklärt und alles,
was sich ihm nicht beugt, verdammt, welche für diesen unfehlbaren Papst in Rom das 'Recht beansprucht, in die Gesetzgebung unsres deutschen Vaterlandes hineinzureden, und den innern Frieden desselben gefährdet.
immer wieder
dadurch
Deshalb gilt es für den
Evangelischen, in erster Linie die Mischehe zu meiden.
Ist sie aber
einmal geschlossen, hat er um des Vaterlandes, um unsrer theuren Kirche, um seines und seiner Kinder Friedens willen in aller Liebe
und Sanftmuth sein gutes evangelisches Recht zu vertheidigen.
*Das siebente Gebot stellt das Eigenthum unter den Schutz des göttlichen Gesetzes.
Demgemäß übertritt dasselbe, wer immer fremdes Eigenthum auf unrechtmäßige Weise an sich bringt, sei es heimlich, mit eigner Hand (Stehlen im eigentlichen Sinne, Entwenden) oder durch andrer
Hände — durch Bergen gestohlenen Gutes gegen Antheil am Ge
winn (Hehlen), sei es offen mit Gewalt (Rauben) oder unter erlisteter Zustimmung des Nächsten durch Betrug. Für die sittliche Beur theilung kommen diese Unterschiede in der Form der Uebertretung
weit weniger in Betracht, als die Art der Beweggründe, die Schwere der Versuchung, der Grad der sündlichen Leidenschaft oder Herzens
verhärtung und die ganze Beschaffenheit des inwendigen Menschen,
aus deren Zusammenwirken die Sünde in jedem einzelnen Falle her vorging.
Allerdings scheut der Räuber meist auch nicht den Mord.
Indeß fehlt dem Diebe zur Gewaltthat oft nur der Muth und die That
kraft, nicht die Schlechtigkeit; und in dem Mangel an Willenskraft wurzelt nicht selten auch jene unselige Arbeitsscheu, die jedem Ver such, ihn zu redlichem Erwerb zurückzuführen, fast unüberwindliche
Hindernisse bereitet.
Der Hehler oder Diebeshelfer sucht mit dem
Diebe den unlautern Gewinn, mir ohne die Gefahr.
Der Betrüger
1. Hauptstück.
166
Siebentes Gebot.
aber schmückt seine Sünde noch heuchlerisch mit dem Scheine der
Rechtlichkeit oder gar Wohlmeinung.
Wie viel schmählicher, wenn
sein Betrug Reichthum zum Reichthum häuft!
Wie wird ein solcher,
wenn er' auch noch so ehrbar vor der Welt dasteht, in Gottes Gericht
vor manchem Diebe, den erst die Noth auf die'Bahn des Verbrechens trieb, die Augen senken müssen.
Auch hinsichtlich der verderblichen
Folgen für die Gemeinschaft ist der Unterschied unwesentlich:
Diebe
und Räuber gefährden Ordnung und Sicherheit, aber ohne den Hehler gäbe es weniger Stehler; gegen Räuber und Diebe schützen Waffen
und Schlösser, gegen den Betrüger schützt nur das bitterböse Miß
trauen, das den Verkehr vergiftet und den Redlichen kränkt. Auch, wenn man nur bei diesen groben Uebertretungen stehen
bleibt, läßt sich leicht erkennen, daß viel mehrere ihr Gewissen mit der Sünde wider das 7. Gebot beflecken, als es auf den ersten Blick scheinen möchte.
Manche Arten des Diebstahls und Betrugs werden
wegen ihrer allgemeinen Verbreitung in allen Gesellschaftsklassen oder in einzelnen Ständen und Volksschichten von vielen kaum noch als
Diebstahl und Betrug angesehen: so unter dem Gesinde die Näscherei, Unter den Aetmeren der Obst-, Holz- und Felddiebstahl, unter den Geschäftsleuten manche Weise der Waaren-Fälschung und -Anpreisung,
insbesondere auch das Leugnen und Verschweigen von Fehlern beim
Viehverkauf; so die falschen Angaben bei der Steuereinschätzung und die Verheimlichung zollpflichtigen Gutes, deren sich zuweilen selbst die Vornehmsten und Gebildetsten rühmen, als wenn Betrug am
Staate — am Vaterlande! — nicht Betrug wäre oder aufhörte Be
trug zu sein, weil man etwa nur die Unbequemlichkeit am Zollamt
vermeiden wollte.
Hierher gehört auch das weite Gewissen, mit dem
mancher von Unberufenen auffallend billige Waaren kauft, obwohl
die-Vermuthung des unlauteren Ursprungs nahe genug liegt.
Nicht
minder gehört hierher das gewissenlose Schuldenmachen, bei dem der
Schuldner sehr wohl weiß und sich sagen kann und muß, daß er nie oder höchst wahrscheinlich nie im Stande sein werde, die Schuld ab zutragen; und besondere Hervorhebung gerade in unserer Zeit verdient auch'die Menge der versteckt betrügerischen Geschäftsunternehmungen,
die aus fremdes Geld gegründet werden, obgleich die Unternehmer wissen, daß sie die Mehrzahl der Betheiligten um das Ihrige bringen
Verstecktere und feinere Arten der Uebertretung.
167
werden: um so schlimmer, wenn sie auf deren Kosten sich selbst im
voraus ihren Gewinn sichern!
Endlich: wer gefundenes Gut nicht
an seinen Herren zu bringen sucht, sei es, um es zu behalten, oder
aus Bequemlichkeit, der ist ein Dieb oder — ein Liebloser.
Schon der letztere Punkt erinnert uns, daß wir mit alledem noch
nicht über die Außenseite des göttlichen Gebots hinausgekommen sind. Nicht nur die Hand, auch das neidische Auge, das habgierige Herz stiehlt, ja, schon das träge, lieblose, geizige,
das uns nicht dazu
kommen läßt, dem Nächsten „sein Gut und Nahrung bessern und be
hüten zu helfen", oder vor dem darbenden Bruder sich verschließt.
Denn es gilt auch hier Gebot und Verbot beachten.
Und das Ge
bot in seinem innersten Kern erfassen wir erst, wenn wir Sinn und
Zweck des Eigenthums überhaupt im Geiste Jesu zu ver stehen suchen.
Hier aber können wir zunächst nicht an dem vielfachen
Widerspruch vorübergehen, der sich derzeit lebhafter, denn je, in weiten
Kreisen gegen die Berechtigung, der bestehenden Unterschiede in der
Vertheilung des Eigenthums erhebt: Ueberfülle hier, bitterster Man
gel dort! Müheloses Genießen hier, unausgesetzte saure Arbeit dort, vielleicht sogar ohne irgend eine Sicherstellung gegen die drückendste Noth in Alter und Krankheit!
Muß das so sein?
Immer wieder,
besonders in Zeiten politischer und religiöser Aufregung, wird diese Frage aufgeworfen, und lassen nicht nur Besitzlose, sondern auch.auf
richtige und falsche Freunde der Armen unter den Begüterten das Verlangen nach Ausgleichung des schroffen Gegensatzes zwischen Arm und Reich laut werden.
Als der kürzeste Weg dazu erscheint der
gedankenlosen Menge leicht die gleichmäßige Vertheilung aller Güter; doch liegt deren Unausführbarkeit so sehr auf der Hand, daß sie von einsichtigen und redlichen Volksfreunden niemals gefordert worden
ist. — Wie unabsehbar blutige Kämpfe wären nöthig, um sie durch zusetzen!
Wie unwahrscheinlich wäre es, daß die siegende Partei
ihren Sieg wirklich zu gleicher Vertheilung und nicht zur eigenen Bereicherung ausnützen würde! Und nun, auch den besten Willen
vorausgesetzt: wie unmöglich die gleiche Vertheilung bei der unend lich mannigfaltigen Verschiedenheit der Güter und bei der Schwierig
keit, ihren ost schwankenden Werth festzustellen, — auch nur in einem Lande, geschweige auf der ganzen Erde! — wie viel unmöglicher noch
168
1. Hauptstück.
Siebentes Gebot.
bei der Verschiedenheit der Menschen an Leib und Seele, Alter und
Geschlecht — mit ihren völlig verschiedenen Bedürfnissen und Wünschen!
Wie schnell aber würde eben diese Verschiedenheit auch nach wirklich gelungener Theilung die Gleichheit wieder aufhcben! Fleiß und Träg heit, Verschwendung und Sparsamkeit, Geiz und Freigebigkeit, Ge schick und Ungeschick, Gesundheit und Krankheit, Geburt und Tod,
Glück und Unglück wären tausendfältige Hebel, um statt der alten nur neue Unterschiede des Besitzstandes wieder einzuführen.
Soll,
um die Gleichheit zu erhalten, alle Jahre von neuem getheilt werden?
Wer wird noch arbeiten und sparen wollen, wenn sein Fleiß und seine Enthaltsamkeit nur den Trägen und Genußsüchtigen zu gute kommt, ja vielleicht ihre Trägheit und Genußsucht nur bestärkt? Die Forderung der allgemeinen gleichmäßigen Gütervertheilung
wird öfter mit dem Kommunismus verwechselt, ist jedoch von diesem höchstens die gröbste, handgreiflichste Folgerung.
Beide wollen den
Unterschied zwischen Arm und Reich ausgleichen und wenden den Grundsatz der französischen Revolution von der Gleichberechtigung aller Menschen auf das Eigenthum an. Aber der Kommunismus sucht sein Ziel auf einem andern, freilich nicht minder gefährlichen Wege zu erreichen. Er ist die Lehre von der Gütergemeinschaft'),
d. h. die Lehre,
daß allen alles gemeinsam gehöre,
daß also das
Privateigenthum nur insoweit berechtigt sei, als die Gemeinschaft dem
einzelnen, was er braucht, zueignet.
Hiernach ist die Gemeinschaft
der einzig berechtigte Besitzer und Arbeitgeber, der je nach dem Stande
des gemeinsamen Vermögens durch die von ihm erwählten Ausschüsse und Beauftragten jedem den ihm zukommenden gleichen Antheil an Unterhalts- und Genußmitteln, aber auch seine Arbeit zutheilt. In der zwangsweisen Zutheilung auch der letzteren liegt die unheil bare Schwäche der ganzen Lehre.
Daß sie von der Zutheilung der
Güter untrennbar ist, leuchtet sofort ein: Bisher treibt die Noth zur
Arbeit; die Art derselben wählt jeder nach Neigung, soweit nicht
Mangel an erwünschter Beschäftigung ihn zwingt, auch unerwünschte zu übernehmen; andernfalls macht höherer Lohn auch zur unange
nehmsten Arbeit willig, so daß durch das Verhältniß von Angebot und *) Communismus im mittelalterlichen Latein: Gütergemeinschaft.
Kommunismus.
169
Nachfrage ohne unmittelbaren Zwang jede Arbeit ihren Arbeiter findet.
Aber, wenn fortan jeder ohne Rücksicht auf die Leistung den
gleichen Antheil an den Gütern des Lebens erhielte: wie viele würden ohne Zwang überhaupt noch ernstlich arbeiten, wie viele vollends die
schweren oder gar die widerwärtigen, die Staub- und Schmutz-Arbeiten
übernehmen wollen?
Welche Beschränkung der Freiheit nun liegt in
der zwangsweisen Zutheilung der Arbeit — des Berufs! Und welche neue Ungleichheit, wenn der eine zur schweren Handarbeit, der andere
zur Arbeit des Gelehrten, der eine zu bequemer, der andere zu an strengender, dieser zu gesundheitsgefährdender, jener zu gesunder Ar
beit bestimmt wird!
Oder soll ein regelmäßiger Wechsel eintreten?
Soll dieselbe Person, die gestern Straßenkehrer und vorgestern Künstler war, heut Gelehrter, morgen Fabrikarbeiter oder Handwerker und am folgenden Tage Ackerbauer sein? Welche Unvereinbarkeit der zu stellen den Anforderungen mit den verschiedenen Fähigkeiten und Unfähig
keiten, Gaben und Mängeln!
Welcher Rückgang der Leistungen durch
die Unmöglichkeit, für viele Fächer zugleich die nöthige Ausbildung zu erlangen, — gerade in unserer Zeit, da immer verwickelter wer dende Aufgaben in jedem Beruf immer mehr Beschränkung und Ver tiefung der Ausbildung für einzelne Zweige erfordern, da unsere ge
jammte Kultur immer mehr steht und fällt mit dem großen Grund satz der Arbeitstheilung! Und bei all' diesem Widersinn: wenn die Gemeinschaft dem einzelnen die Sorge und Verantwortlichkeit für sein und der Seinen Fortkommen abnimmt, zugleich aber auch die Hoffnung abschneidet, durch Fleiß und Sparsamkeit weiter, als durch
das Gegentheil, zu kommen: welchen andern Sporn zum Fleiß und zu verständigem Haushalten wird sie noch haben, als die schärfsten
Zwangsmittel?
Was zur Freiheit und Gleichheit führen sollte, wird
zur allgemeinen Knechtschaft unter der Tyrannei der beaufsichtigenden
Leiter werden. Und würden alle Zwangsmittel den Anreiz zur Arbeit,
welcher in dem Ringen nach eignem, auf das eigne Fleisch und Blut sorterbenden Besitze liegt, je ersetzen können?
Wenn etwas diesen
Anreiz ersetzen könnte, so wäre es sicherlich freie christliche Liebe und
ernste religiöse Ueberzeugung.
Zwei Beispiele lehren jedoch schlagend,
daß auch diese Hebel nicht ausreichen, und zwar nicht einmal in
kleinen Gemeinschaften, in denen doch der einzelne noch mehr, als in
170
1. Hauptstück.
Siebentes Gebot.
größeren Staatswesen, die Erfolge seiner Anstrengungen für die Ge
sammtheit wahrnimmt und dadurch noch mehr zu solchen ermuthigt wird.
Das erste Beispiel giebt uns die erste Christengemeinde in
Jerusalem: sie führte nicht durch Zwang, sondern durch die Macht
der christlichen Liebe in der Morgenschöne ihrer weltüberwindenden Kraft Gütergemeinschaft ein'), verarmte aber in dem Grade, daß Paulus unter den Heidenchristen für sie Sammlungen veranstalten
mußte.
Das andre Beispiel
geben uns wiederholte Ansiedlungen
englischer Nonkonformisten "), welche wegen ihrer Abweichung von der
englischen Staatskirche unter Karl I. und II. nach Amerika flohen.
Sie waren ernste, thatkräftige Männer, Leute, die des Glaubens wegen ihre Heimath aufgaben.
Verschiedene dieser kleinen Kolonien
bewirthschafteten die in Amerika urbar gemachten Aecker anfangs
kommunistisch, blühten aber erst empor, als sie ihren gemeinsamen
Grundbesitz theilten und jedem Gemeindegliede seinen Antheil als
erbliches Eigenthum zuwiesen'). Die Schwierigkeiten, welche der Lehre der Kommunisten ent gegenstehen, haben in den Hauptpunkten auch die Sozialisten nicht zu beseitigen vermocht.
Beide gehen übrigens in ihren mannigfachen
Schattirungen so sehr in einander über, daß es schwer ist, sie klar auseinanderzuhalten.
Auch der Sozialismus (dem Wortsinne nach
„Genossenschafts- oder Gesellschaftslehre") will — zur Heilung der sozialen oder gesellschaftlichen Nothstände besonders in den unbe mittelten Klassen — eine Neuordnung der Eigenthumsverhältnisse von dem Grundsatz aus, daß die Gemeinschaft, die Sozietät (der Staat), der einzig berechtigte Besitzer und vor allem Arbeitsgeber
ist4).
Doch will er die Unterhalts- und Genußmittel den Arbeits
fähigen nur nach Verhältniß der Arbeitsleistung zutheilen, insofern also einen Unterschied des Besitzes, jedoch ohne Erblichkeit, zulassen.
Dagegen sollen alle durch Natur und Kunst gebotenen Mittel zur *) Apostelg. 2, 44. 45; 4, 32 f. *) Mit den Satzungen der englischen Staatskirche „Nichtübereinstimmende".
3) Von einer dieser Kolonien wird berichtet, daß die Arbeitsleistung sich nach der Theilung gegen früher versiebenfacht habe (Roscher). ‘) Der Sozialist Proudhon vertheidigte den völlig kominunistischen Satz: „Eigenthum ist Diebstahl."
Sozialismus.
Christlicher und Staats-Sozialismus.
171
Hervorbringung der Gennßmittel, also Grundbesitz, Kapital, Rohstoffe zur Verarbeitung u. s. w., sowie auch alle Bildungsmittel allen gleich
zugänglich sein.
Da auch hier die Gesellschaft die Arbeit zuweist, so
bleibt auch bei dieser Ordnung der Dinge die Frage unbeantwortet, wie die zwangsweise Zutheilung der Arbeit und also auch des Berufes in ausgedehntem Maße vermieden werden solle. Als Sporn zum Fleiß
wird zwar die Zutheilung der Genußmittel nach Verhältniß der Leistung
die Anwendung von Zwangsmitteln zum Theil ersetzen können; da aber die Erblichkeit ausgeschlossen wird, und der Vortheil angestreng terer Arbeit auf die größere Menge von Genuß- und Luxusmitteln
während des eignen Lebens beschränkt wird, so liegt die Versuchung
der Verschwendung zum Schaden der Gesammtheit nur allzu nah. Die selbstische Genußsucht und Neigung zum Aufwand wird ge steigert, und der edlere Trieb der Fürsorge für die Angehörigen über
den Tod hinaus bleibt unentwickelt.
Allgemeine Verarmung wird
bei Sozialisten und Kommunisten das Ende sein, und damit wäre dann die erstrebte Gleichheit erreicht, aber welche!
Es soll trotzdem
nicht verkannt werden, daß der Sozialismus auch manche wichtige
Wahrheit an das Licht gebracht hat.
Aber durch alles das, was er
besonders in feinen neueren, zum Theil maßvolleren Gestaltungen
vor dem Kommunismus voraus hat, beweist er nur das, worauf es hier ankommt: Gleichheit des Eigenthums ist nicht möglich, weil
Gott die Menschen verschieden gemacht hat; Aushebung des Privateigenthums ebensowenig, weil in dem Streben danach unentbehrliche Antriebe zu Fleiß und Sparsamkeit, ja die wichtigsten Hebel für die Kultur gegeben sind.
Aber sind diese Hebel und Triebe denn nicht wesentlich selbstischer Sollte nicht also das Christenthum denselben entgegen
Natur?
wirken, statt erbarmungslos den im Kommunismus und Sozialismus
zuM Ausdruck kommenden Nothschrei der Unterdrückten zu überhören? Sollten wir nicht vielmehr jene Lehren, die gegenwärtig die ganze gesellschaftliche Ordnung so schwer bedrohen, unschädlich machen und
verhüten, daß die Anhänger derselben immer mehr in das religions feindliche Lager getrieben werden, indem wir den Wahrheitskern in ihren Irrthümern anerkennen und den berechtigten Klagen der arbei
tenden Klassen abzuhelfen suchen?
Das sind die Gedanken der so-
172
1. Hauptstück.
Siebentes Gebot.
genannten christlichen und der Staats-Sozialisten.
Und wer
wollte ihr Bestreben nicht billigen, wer nicht mithelfen, daß durch gesetzgeberische Akte oder gemeinnützige Vereinsthätigkeiten die Schä
den thunlichst geheilt werden? Nur hüten wir uns, bestimmte äußere Ordnungen der Gesellschaft und des Eigenthums im Namen des Christenthums zu fordern, als sei unchristlich, wer diesen Forderungen nicht zustimmt und vielleicht auf andere Weise zu helfen gedenkt.
Denn über äußere Ordnungen und Maßregeln können die edelsten
Menschen, deren jeder das Beste will, verschiedener Ansicht sein, sie müssen mit den Zeiten und Umständen wechseln. Wer von ihrer Annahme oder Ablehnung die Christlichkeit abhängig macht, stellt
die ewigen Wahrheiten des Evangeliums in eine Linie mit vergäng lichen menschlichen Einrichtungen, zieht sie dadurch ohne Noth in den
Kampf der politischen Parteien herab und vergrößert so die ohnedies schon beklagenswerthe Zerrissenheit unserer theuren Kirche.
Wie ent
schieden lehnt doch Jesus mit seinem „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" (Matth. 22, 21), und mit
dem andern „Wer hat mich zum Richter oder Erbschichter über euch gesetzt?" (Luk. 12, 14) jede unmittelbare Einmischung der Religion
in die Ordnung der äußeren Verhältnisse ab!
Wohl kann und soll
das Christenthum darauf einwirken, aber nur mittelbar durch Um wandlung des innern Menschen und seiner Stellung zu den äußern Dingen.
Es hat die Sklawen nicht mit Gewalt befreit, sie sogar
zum Gehorsam angehalten'), aber sie gelehrt, ihr Joch als Kinder
Gottes zu tragen und dadurch die Aufhebung der Sklawerei innerlich vorbereitet.
So muß es auch die Nothstände, die aus dem Unter
schied zwischen Arm und Reich entspringen, von innen überwinden, indem es uns die rechte innere Stellung zum Eigenthum lehrt und dadurch die selbstischen Antriebe zum Erwerb in solche, die aus der
Liebe stammen, umschafft. Welche Stellung zum Eigenthum lehrt uns denn das Christen thum? Manches Wort Jesu, wie das Gleichniß vom reichen Mann und armen Lazarus (Luk. 16, 19 f.), wie das Gespräch mit dem
’) Brief an den Philemon; Eph. 6,5 s.; Kol. 3, 22 f.; vergl. 1 Kor. 7, 20—24: „Jeglicher bleibe in dem Beruf, darinnen er berufen ist, u. s. ro."
Stellung des Christen zum Eigenthum.
173
reichen Jüngling (Matth. 19, 16 f.; Mark. 10, 17 f.), wie die Selig preisung der Armen (Luk. 6, 20) scheint die Auffassung zu begünstigen,
als verwerfe er den Reichthum an sich, als verdamme er den Reichen
um des Reichthums willen, und Armuth willen selig.
als preise er den Armen um der
Aber, was den Reichen im Gleichniß an den
Ort der Qual bringt, ist nicht sein Reichthum an sich, sondern das
Aufgehn seines Herzens in Reichthum und Wohlleben, in welchem er gar keinen höheren Lebenszweck,. als den des selbstischen Genusses, kennt und für des Mitmenschen Leiden kein Auge hat. Nach Jesu
Weisung an den reichen Jüngling, das Seine zu verkaufen, es den Armen zu geben und ihm zu folgen, könnte es allerdings so scheinen,
als thäten wir alle am besten, wie der heilige Antonius, das Unsere
hinter uns zu werfen und in der Wüste Gott zu suchen. Markus leitet diese Weisung mit den Worten ein:
an und liebte ihn und sprach: —"
Aber
„Jesus sah ihn
Hiernach hielt Jesus den
Jüngling besonders werth und hoffte in ihm einen Apostel zu ge winnen; und nur von diesen, nicht von allen Mitgliedern des
Reiches Gottes verlangt er, daß sie ihren irdischen Beruf und Besitz
aufgeben, weil und soweit, aber auch nur, soweit es durch diesen besonderen Beruf unter den damaligen Verhältnissen nöthig war
(Petrus und Matthäus oder Levi haben auch nach ihrer Berufung noch ein Haus, und letzterer richtet sogar darin dem Herrn ein großes Mahl an: Matth. 8, 14 u. 9, 9f.; Luk. 5, 29).
Weil seine Jünger
um seinetwillen das Ihre verlassen haben, sagt er zu ihnen, nicht
zu den Armen überhaupt (Luk. 6, 20): „Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer", wobei allerdings nicht, wie Matth. 5, 3,
an die Armuth im geistigen Sinne d. i. an die Demuth gedacht werden kann. Weil der reiche Jüngling zu sehr in Weltlust besangen ist, um das gleiche Opfer zu bringen, spricht Jesus über ihn das
harte Wort:
„Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr
gehe, denn daß ein Reicher in das Reich Gottes komme", legt aber
bei Markus selbst dieses Wort durch das andere aus: „Wie schwer ist
es, daß die, so ihr Vertrauen auf Reichthum setzen, in das Reich Gottes kommen!" Also nicht Armuth oder Reichthum an sich, sondern die Stellung
des Herzens zu den irdischen Gütern macht
zum Reiche Gottes tüchtig oder untüchtig; und, welches die rechte
I. Hauptstück.
174
Siebentes Gebot.
Stellung sei, zeigt Jesus am klarsten in
dem Gleichniß von den
Zentnern oder Pfunden (Matth. 25, 14 f.; Luk. 19, 12 f.), welche ein Herr seinen Knechten austhut, damit sie für ihn neues Gut dadurch
gewinnen:
Alle Güter und Gaben Leibes und der Seele sollen wir
als ein uns von Gott anvertrautes Gut betrachten: Gott der einzige Besitzer, wir alle nur Haushalter, insofern alle gleich arm, als die
nichts zu eigen haben, sondern dem wahren Eigenthümer Gott über
das kleinste und größte Rechenschaft ablegen müssen, ob wir es im Dienste der Liebe zu unserer Mitmenschen Segen oder, wie der reiche Mann im Gleichniß, nur im Dienste der Selbstsucht verwandt haben!
Darin liegt, daß wir das Eigenthum keineswegs als etwas dem Reiche Gottes widerstreitendes oder auch nur gleichgültiges anzusehen
haben.
Gewiß sollen wir „am ersten nach dem Reiche Gottes
und nach seiner Gerechtigkeit trachten" (Matth. 6, 33) und, wenn
Gott durch die Verhältnisse anzeigt,
daß es zur Förderung seines
Reiches, um der Liebe und um des Gewissens willen nöthig ist,, auch
das letzte Irdische hingeben;
aber ohne Noth willkürlich dürfen wir
auch nicht das kleinste preisgeben: sonst gleichen wir dem Knechte,
der sein Pfund vergrub.
Im Gegentheil: wir sollen arbeiten und
mit den Händen etwas Gutes schaffen, auf daß wir haben zu geben
dem Dürftigen (Eph. 4, 28);
das „Trachtet am ersten nach dem
Reiche Gottes" hat nicht nur die Verheißung: so wird euch solches alles (d. h. was euch zum irdischen Leben noth ist) zufallen, sondern es schließt auch das Streben nach irdischem Besitz, als einem Mittel,
das Reich Gottes auf Erden zu bauen, mit ein. Das wird noch klarer, wenn wir das Eigenthum im Haushalt
des Reiches Gottes im Zusammenhänge mit der Bestimmung des Menschen erfassen, welche die Schrift uns schon am Eingang der Menschheitsgeschichte vor Augen stellt, und zu deren Erfüllung uns das Christenthum erziehen soll: Der Mensch als Bild Gottes soll
sich die Erde sammt allen ihren Gütern und Kräften „Unterthan machen" (1 Mos. 1,27 f.) — Unterthan machen nicht seinem Eigen
nutz, sondern dem Göttlichen, das in ihm lebt, und dadurch dem
Schöpfer selbst,
dem einzigen Herrn aller Kreaturen, damit aller
Orten an Menschen und Dingen die Herrlichkeit des himmlischen Vaters und sein Liebeswille offenbar werde, und sein Reich Wesen
Arten des Eigenthnmserwerbs.
und Gestalt gewinne.
Segen der Arbeit.
175
Jeder einzelne Mensch hat die Pflicht, an
dieser großen Aufgabe der Menschheit mitzuarbeiten, der Eigenthums
erwerb bildet einen Theil dieser Mitarbeit, und das Eigenthum
des einzelnen ist sein Antheil an "beut Hoheitsrecht der Menschheit über die Erde.
Hierin liegt die sittliche Begründung für das Privat-
eigenthum und für die ungleiche Vertheilung desselben.
Durch die
Herrschaft der Menschheit über die Erde soll die Herrlichkeit Gottes
zur Darstellung kommen.
Wie könnte des Unendlichen Wesen in
der endlichen Kreatur auch nur annähernd anders abgebildet werden,
als
durch
die Wiederspieglung desselben in einer möglichst großen
Mannigfaltigkeit eigenartiger Persönlichkeiten.
Jeder einzelne aber
vermag hier auf Erden seine Eigenart nach allen Seiten hin nur an den sichtbaren Dingen auszuwirken, am besten an den Dingen, die
er sein eigen nennt: in der Weise, wie jeder sein Eigenthum hand habt, ausgestaltet, verwerthet, von seiner Kleidung und der Ordnung
und dem Schmuck seines Zimmers bis zur Bewirthschaftung seines
Grundbesitzes und zur Verwaltung seines Einkommens oder seiner Kapitalien, prägt sich
die Perlönlichkeit aus; das Eigenthum ist
gleichsam die erweiterte Persönlichkeit.
Kommunistische Gleichmacherei
würde an die Stelle einer mannigfaltigen lebensvollen Entfaltung freier einander sich ergänzender Persönlichkeiten todte Einförmigkeit
setzen. Das Privateigenthum ist sodann auch ein schwer entbehrliches Mittel, den innersten Lebensnerv des Reiches Gottes, die Liebe, zu bethätigen: wodurch offenbart sich die Liebe häufiger, als dadurch,
daß sie das Ihre hingiebt, um andre zu beglücken und ihren Mangel
auszufüllen? Aus dem Gesagten ergeben sich wichtige Fingerzeige sowohl für die rechte Weise, Eigenthum zu erwerben und zu verwerthen, als für
die Sinnesart, welche uns bei der Handhabung und Werthschätzung der irdischen Güter und bei allen Fragen um Mein und Dein leiten muß.
Als zulässige Mittel, zu Eigenthum zu gelangen, werden im äußerlich gesetzlichen Sinne mit Recht angesehen: Arbeit, Kauf, Erbe,
Schenkung, wozu man noch mit gewissen Einschränkungen Erwerb
durch Zins und Glücksumstände rechnen mag. Sittlichen Werth er halten aber alle diese Mittel erst, sofern sie irgend eine Mitarbeit
176
1. Hauptstück.
Siebentes Gebot.
an der großen Menschheitsaufgabe in sich schließt, die Erde dem Menschen als dem Ebenbilde Gottes und dadurch Gott selbst und
seinem Reiche dienstbar zu machen.
Der gesegnetste Weg zum Besitz
ist deshalb die Arbeit,, gesegnet selbst dann, wenn sie nur als Mittel
zum Unterhalt und Lebensgenuß angesehen wird.
Denn das „Zm
Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brod essen" (1 Mos. 3, 19), d. h. die Nothwendigkeit der Arbeit zur Selbsterhaltung und Be
friedigung des natürlichen Strebens nach Lebensgenuß, hat Gott dem trägen und selbstsüchtigen Menschen als einen Segen, als ein Er ziehungsmittel für die Aufgaben seines Reiches mitgegeben.
Aber
freilich, wem die Arbeit nur unerläßliches Mittel zur Theilnahme am Leben und seinen Gütern ist, dem erscheint sie im alttestament-
lichen Geiste als Strafe, als nothwendiges Uebel, der blickt voll Neides auf die, welche nicht nöthig haben, zu beugen.
sich ihrem Sklawenjoche
Deshalb ist die Arbeit wahrhaft gesegnet erst dann,
wenn dazu die Liebe zu Gott und Menschen Herz, Haupt und Glie
der antreibt und stärkt, wenn uns die Arbeit — d. i. Gottes
Willen thun — zum Segen der Mitmenschen wirken — selbst schon unsre Speise (Joh. 4, 34), selbst schon Lebensgenuß ist. Nicht, als ob es uns nicht Befriedigung gewähren dürfte, wenn wir
als Frucht unserer Arbeit auch für uns und die Unsern einen
reicheren und gesicherteren Antheil an den Gütern des Lebens ge winnen. Der Selbsterhaltungstrieb und die Freude an den Gütern des Lebens ist auch von Gott gewollt, ist die Voraussetzung, auf welche sich die Liebe aufbaut.
Oder gehen nicht die meisten Liebes
erweisungen darauf aus, dem Nächsten den Lebensgenuß, irdischen, zu erhöhen?
auch den
Welchen Sinn hätte das, wenn wir selbst den
letzteren für nichts achteten? Aber, wem die Arbeit der Liebe an sich selbst Freude ist, der wird neidlos auf die blicken können, welche äußerlich größere Erfolge erzielen: denn eine Frucht fehlt seiner Arbeit auch bei dem kärgsten Lohn nie: der Segen am eignen innern
Menschen. Eine Befriedigung findet er bei seiner Arbeit stets, wie niedrig, wie schwierig, unangenehm oder widerwärtig sie auch sei: ist es eine Arbeit nach dem Willen Gottes, nothwendig im Haushalte
der Menschheit zu deren Segen, so darf er sich bewußt sein, an
Gottes Reich mitzubauen, eine Stelle im Haushalt des großen Vaters
Arten des EüMthnmserwerbs.
Kauf, Erbe, Schenkung (Armenpflege).
aller Menschen auszufnllcu. der Arbeit erkannt haben,
Andrerseits:
so
177
wenn wir diesen Werth
werden wir Arbeit zum Segen der
Menschheit zu finden wissen, auch wenn wir nicht um Brod dienen müssen; denn den Willen des Vaters thun soll dem Reichsten, wie
dem Aermsten, unentbehrliche Speise sein.
Das ist die Auffassung,
durch welche das Christenthum die Arbeit geadelt hat.
Wie würde
diese Auffassung, wenn sie Arme und Reiche durchdränge, die Schroff heit der Unterschiede zwischen beiden aufheben! Denn nirgends hätten
wir dann solche, die ohne Lebensfreude nur unter der Last der Arbeit seufzen, noch solche, die nur träge genießen. Der Kauf ist eigentlich nicht Neu-Erwerb von Eigenthum, son
dern
des schon Erworbenen.
nur Austausch
Er ist unentbehrlich,
weil keiner sich alle Lebensbedürfnisse unmittelbar durch Arbeit schaffen Kauf und Verkauf werden aber erst durch die Liebe zu dem,
kann.
was sie im sittlichen Sinne fein sollen:
welchen die Menschen
durch
Das wird erreicht,
einer des
ein wechselseitiger Dienst,
andern Mangel
ergänzen.
wo keiner nur seinen Vortheil sucht, sondern
jeder seine Christenehre darin setzt, daß auch dem andern durch Kauf und
geleistet
Verkauf etwas
werde.
So
entsteht
was wir
das,
Billigkeit der Gesinnung nennen, in der weder der Verkäufer den
Käufer
durch Vorschlägen oder gar Täuschung übervortheilen, noch
dieser jenen durch übertriebenes Herabhandeln drücken will.
Auch das Erbe wird erst gesegnet durch Liebe und Liebesarbeit. Segen liegt schon in der Liebe, die noch über das Grab hinaus sorgt:
um so mehr, wenn sie auch in dem Erben Liebe weckt, Liebe, welche das Erbgut in Segen für die Menschheit zu verwalten und durch
treue Arbeit die edlen Werke und Gedanken gestalten trachtet. ausbauen.
der Vorfahren
auszu
Wem Erbe zufällt, der soll es dankbar so in Segen
Wer aber auf Erbschaften, zumal durch unlautere Mittel,
ausgeht, ist ein Selbstsüchtling und Erbschleicher. Geschenke haben nur Werth als Zeichen der Liebe. Dem Christen
ist „Geben seliger, gern
giebt,
soll
denn Nehmen" (Apostelg. 20, 35).
auch
dem Nächsten
Aber, wer
nicht durch falschen Stolz die
Freude des Gebens abschneiden oder verkümmern, insbesondere Aermere nicht dadurch kränken.
Wir sollen nicht auf Dank rechnen, aber selbst
um so dankbarer uns erweisen, doch so, daß wir uns nie zu MenschenElte st er, Materialien.
2. Auslage.
12
I. Hailptstück. Siebentes Gebot.
178
knechten machen lassen, die um empfangener Wohlthaten willen, von
ihren Pflichten abweichen (1 Kor. 7, 23).
Wo das geschieht, da fängt
die Bestechung an, die den Bestochenen und den Bestecher gleich sehr entwürdigt.
Wer durch erheuchelte
Arbeitsunfähigkeit
und
Noth
Gaben erschleicht, ist dem Diebe und Betrüger gleich zu achten, um so mehr, als er dadurch Mißtrauen auch gegen wirklich Nothleidende
weckt.
Ihm gilt:
„So Jemand nicht will arbeiten, der soll auch
nicht essen" (2 Thess. 3, 10). recht
Andrerseits sollte überall durch eine
eingehende Armenpflege,
welche sorgfältig
Bedürftige und
bettelnde Müßiggänger zu unterscheiden sucht, dem berufsmäßigen Betteln der Boden entzogen werden.
nach Kräften befolgt:
Dazu gehört, daß jeder es
„Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht"
(Ebr. 13, 16), daß er aber möglichst nur da giebt, wo Hülfe ange
bracht ist.
Nicht, daß wir sie überall versagen sollten, wo die Armuth
verschuldet wurde: wer bedarf vor Gott nicht des Erbarmens gegen über der eigenen Schuld! Vielmehr das soll die Frage sein, ob wir
durch unsere Gabe auch wirklich helfen und nicht nur, wie durch so viele
Gaben an herumziehende Bettler geschieht, Faulheit, Trunksucht und
andere Laster fördern. Darum sollten wir die Unbekannten nach Mög lichkeit an die Vereine weisen und diese kräftig unterstützen, unmittel
bar hingegen nur eingreifen, wo wir selbst prüfen können, da aber auch mit vollen Händen geben und noch lieber, als durch baares Geld,
dadurch helfen,
redlichem Erwerb geben.
daß wir den Arbeitsfähigen Gelegenheit zu Welch ein weites und schwieriges Feld der
Liebesthätigkeit öffnet sich hier!
Da gilt es weder Opfer an Geld
und Gut noch Mühe scheuen. Zins nehmen in billigen Schranken ist an sich durchaus nicht verwerflich.
Das Kapital, als Frucht früherer redlicher Arbeit, ist
selbst ein berechtigter Mitarbeiter zu neuem Erwerb, ein solcher kann
es auch dem Schuldner werden, und es ziemt sich, daß der Ausleiher
am Gewinn theilhabe.
Auch hier leisten beide, Gläubiger und
Schuldner, sich wechselseitig einen Dienst.
Machen aber hohe Zinsen
und andre drückende Bedingungen das Darlehen statt zu einer Hülfe zu einer Quelle des Verderbens, so beginnt der Wucher, der um so
verwerflicher ist, wenn Noth oder Leichtsinn benutzt wird, um den
Mitmenschen auszubeuten und zu Grunde zu richten.
Zins.
Wucher.
Spiel.
179
Glücksumstände, etwa unvorhergesehene Veränderungen der Verhältnisse, die meine Arbeit unterstützen oder meinem Eigenthum
höheren Werth verleihen, soll ich dankbar als Gabe Gottes hin nehmen
und in treuer
ausnützen. graben
soll
Arbeit zu
meinem
und
Segen
anderer
Aber rechnen auf Glücksumstände oder nach Schätzen ich
nicht,
sondern
arbeiten
und
Gutes
schaffen,
und Gewinn erstreben nur durch Leistungen zum Segen, nie
aber durch den Verlust
anderer.
Deshalb sind alle Glücks
spiele als Mittel der Bereicherung unsittlich, um so mehr, je mehr sie geeignet sind, die Leidenschaft zu entfachen (Hazardspiel).
Auch
aus Furcht, für ängstlich und engherzig gehalten zu werden, sollst
du daran nicht theilnehmen, sondern durch muthiges Eintreten gegen
das leichtsinnige Treiben die Schwachen warnen.
Erlaubt dagegen
ist das Kartenspiel nur um des Vergnügens willen, auch das Spiel um Geld, wenn Gewinn und Verlust so gering ist, daß keiner um
des Geldes willen spielt, und keiner sich durch den Verlust bedrückt fühlen kann, daß vielmehr Gewinn und Verlust im Gelde gleichsam
nur einen gewissen, den Reiz des Spiels erhöhenden, sinnbildlichen
Ausdruck erhalten.
Sünde werden kann auch solches Kartenspiel in
demselben Sinn, wie jedes Unschuldigste, wenn es nicht in der Liebe geschieht, die auch beim Spiel nicht das Ihre, nicht allein die eigene Freude, sondern auch die des andern sucht, wenn die Leidenschaft aufgeregt oder die Psiicht darüber versäumt wird, oder auch, wenn
wir sittlich Schwache dadurch zur Sünde verleiten, wie etwa in Gegenden, wo Wirthshausleben und Spielsucht verheerend wirken. Da werden besonders Prediger zuzusehen haben, daß „ihre Freiheit
nicht zu einem Anstoß der Schwachen gerathe" (1 Kor. 8> 9).
Denn
„ich habe es zwar alles Macht, aber es bessert nicht alles" (10, 23). Den verwerflichen Glücksspielen sind gleich zu achten gewisse Arten von Wettens und Spekulationen — letztere, sofern sie Gewinn nur
durch anderer Verlust erzielens. ') Im römischen Kaiserreich verspielten manche an einem Abend im Kolosseum ihr ganzes Vermögen bei den Wetten darum, welcher Gladiator oder Wagen lenker siegen werde.
Ganz fehlt es auch heut nicht an leichtsinnigem Sport ver
wandter Art. 2) Das Erlaubte und Nothwendige liegt beim Börsenspiel so dicht neben
12*
Was die Verwerthung des Eigenthumesbetrifft, so muß noch besonders hervorgehoben werden, daß sie keineswegs bloß in Almosen geben besteht. Das Reich Gottes soll gefördert werden: dazu gehört die Entfaltung des ganzen geistigen Lebens, Wissenschaft, Kunst, Beherrschung der Naturkräfte; dazu gehört als Grundlage des geistigen die gesunde Entwicklung des leiblichen Lebens, der materielle Wohl stand, wie die Gott wohlgefällige reine Freude auch am Irdischen. Aber alles das hat nur Werth, wenn es durch das Band der Voll kommenheit, die Liebe, verklärt wird und den Menschen zur Gottähn lichkeit emporführen hilft. Wer zur Förderung menschlicher Entwick lung in diesem weiten Sinne das Seine verwendet, der arbeitet mit an der Aufgabe der Menschheit im Reiche Gottes. Blicken wir noch einmal zurück, um zusammenzufassen, welches die Sinnesart sei, die uns befähigt, das siebente Gebot zu halten! Als ein Gut, von Gott uns anvertraut, sollen wir das Eigenthum, das kleinste wie das größte, ansehen. Wir sollen damit zum Ausbau des Reiches Gottes im großen Haushalt unseres himmlischen Vaters wirken. Welches Bewußtsein der Verantwortlichkeit muß uns da erfüllen! Wie fern sollten wir gleich sehr von Neid gegen Begüterte und von Hochmuth gegen Aermere sein, indem wir allzeit vor Augen haben: „Welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen; und welchem viel befohlen ist, von dem wird man viel fordern" (Luk. 12, 48). Hier ist Verschwendung ebenso strafbar, wie Geiz: wie schwer freilich, überall die Sparsamkeit zu üben, die Weisheit und Liebe vereint, die weder der rechtzeitigen Marthasorge, noch der Noth der Armen vergißt und doch mit Maria und — dem Herrn ein Herz hat, weit genug auch für den Schmuck des Lebens und den nicht ängstlich rechnenden Ausdruck der Liebe (Luk. 10, 38—42; Matth. 26, 6st). Höchstes Gut und höchster Lohn soll uns das Reich Gottes selbst, das unter heiliger Liebesarbeit in die Gemeindem Verwerflichen, daß die Gränzlinie im einzelnen schwer zu ziehen ist; aber jeder Weise des Erwerbs, die der Menschheit keinerlei Dienst leistet und nur auf
andrer Verlust sich aufbaut, fehlt die sittliche Berechtigung. Vor allem sollten Privatpersonen beinr Kauf und Verfalls von Werthpapieren sich vor Spekulationen hüten und eingedenk sein: Stricke" (1 Lim. 6, 9).
„Die reich werden wollen, fallen in Versuchung und
Rechte Versöhnung zwischen Arin und Reich.
181
schäft Gottes Hineinwacksen sein; alles andre ist nur Stoff und Werk zeug dieser Liebesarbeit. Stoff und Werkzeug sind verschieden aus getheilt, aber an der Frucht an dem höchsten Gut, an dem Leben in Gott, an Gott selbst können alle gleichen Antheil haben: „Hier ist kein Knecht noch Freier. — Denn ihr seid allzumal einer in Christo Jesu" (Gal. 3, 28). Hier gilt keine die Mannigfaltigkeit des Lebens zerstörende Gleichmacherei, sondern an dem edlen Leibe Christi sind viele Glieder mit den verschiedensten Gaben und Thätigkeiten, aber jedes dienend dem Ganzen, jedes an- seiner Stelle nothwendig für das Ganze, gleich hoch gehalten von dem, der das Scherflein der Wittwe höher achtet, als die reichsten Gaben aus kaltem Herzen (Mark. 12, 41 f.). Wie müßte diese innere Stellung zu den Dingen um uns den Reichen demüthigen, den Armen heben und Arm und Reich versöhnen, alle aber zu der Freiheit führen, in welcher wir nicht von den Dingen beherrscht werden, sondern über den Dingen stehen, gleich fern von Geringschätzung der Gaben Gottes, wie von Ueberschätzung des Irdischen, von Habsucht und Geiz, genügsam in Armuth (1 Tim. 6, 6f.), dankbar im Ueberfluß, frei, wie Paulus (Phil. 4,12): „Ich kann niedrig sein und kann hoch fein, — beides: satt sein und hungern, beides: übrig haben und Mangel leiden." Denn wir sind nicht Besitzer, sondern Gottes Haushalter: „Run sucht man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden" — treu in der Liebe, die nicht das Ihre sucht (1 Kor. 4,2).
*Das achte Gebot.
Die vier Gebote vom fünften bis zum achten bilden insofern ein Ganzes, als sie zusammen die Persönlichkeit des Menschen nach ihren verschiedenen Seiten hin unter ihren Schutz stellen. Das fünfte schützt die Person im engsten Sinne — in ihrem leib lichen Leben, das sechste in ihrer Ergänzung durch die Ehe, das siebente in ihrer Erweiterung durch das Eigenthum, das achte die sittliche Persönlichkeit, soweit sie durch das Urtheil anderer bedingt
1. Hauptstück.
182
Achteö 6)cbüt
Falsches Zeugnis; wider deu Nächsten.
ist: es schützt den Ruf, Namen, Leumund') — das will sagen: unter
allen Gütern, die uns die Außenwelt zutheilt, das wichtigste für unser Der gute Leumund ist der Schlüssel zum Vertrauen
sittliches Leben.
unsrer Mitmenschen und für
unzählige zum redlichen Erwerb,
ja
nächst der Religion der beste Halt in Noth und Mühsal; sein Ver lust bedeutet für manchen Ausstoßung
aus
Besseren, Untergang außen und innen. Verbrecher aus verlorner Ehre"
Und doch:
denken.
der Gemeinschaft der
Schillers Erzählung „Der
giebt schon durch ihren Titel zu
wie leicht nehmen wir es oft mit dem guten
Namen des Nächsten!
Am gröbsten wird das achte Gebot durch falsches Zeugniß vor Gericht übertreten;
hier, sofern das Zeugniß be
es berührt sich
schworen wird oder Mein und Dein angeht, mit dem zweiten und
Doch wird viel häufiger im täglichen Verkehr dagegen
siebenten.
gefehlt.
Schmeichelei in's Angesicht,
„Afterreden", böse Zunge im
Rücken, Andeutungen, die das Schlimmste ahnen lassen und nichts
gesagt haben wollen, wenn man Beweise fordert — davor warnt
„Sei nicht ein Ohrenbläser
schon der weise Sirach (5, 16 u. 17):
und verleumde nicht mit deiner Zunge! lich Ding,
aber (nach dem Urtext:)
Das ist noch heut im Schwange bei Hoch und Niedrig
schändlicher." und zeigt,
Ein Dieb ist ein schänd
ein Zweizüngler ist viel
daß mancher,
der auf den Dieb stolz herabblickt, dem
Nächsten Aergeres, als dieser, anthut, wenn er es aus sicherem Ver steck thun kann.
Und wie viel weiter verbreitet, als
dung,
ist die unbewußte,
die bewußte Verleum
der Lüge rechte Schwester.
Oder ist
Wahrheit all' das leichtfertige Nacherzählen auf bloßes Hörensagen? Kannst du
die falschen Gerüchte,
wieder einfangen?
die du in Umlauf setzen halfst,
Warum nicht schweigen oder dem Verleumder
mit der ernsten Frage „Kannst du es beweisen?" das Handwerk legen?
Warum nicht,
Beredeten
wenn es ohne neues Aergerniß geschehen kann,
durch
dem
offene Aussprache Gelegenheit zur Vertheidigung
*) Leumund nach strenger Ableitung aus dem Mittelhochdeutschen: „laute d. i. öffentliche Meinung über jemanden".
Nichtig dem Sinne, aber nur schein
bar der Ableitung nach ist die (Srtlänuig: „was von jemandem in der Leute
Mund ist".
,Bösen Leumund machen".
geben?
„Entschuldigen — alles zum Besten kehren."
183
Ein Wort zerstreut vielleicht den bösesten Schein. — Ist
ferner Wahrheit dieses ungerechte Herausreißen aus dem Zusammen hänge, der oft mit einem Schlage alles ändert, oder dieses Schatten
auf Schatten Häufen, wo vielleicht, wenn das Licht mitgezeigt würde,
die Schatten fast verschwänden?
Wer von uns hat vollends eine
Vertheidigung gegen die Verkleinerungssucht, welche die Beweggründe
des Herzens richtet, wo sich nicht anfechten läßt, was vor Augen ist? Und doch haben wir alle diesen gefährlichsten aller Verleumder sofort gegen andere bereit, wo Vorurtheil oder Haß uns die Augen für
ihre Fehler schärfen. Und noch einen andern lassen sich wenige ent gehen: das ist die Konsequenzmacherei.
Aus einem Worte,
einer Ansicht, einer Handlung zieht man Schlüsse auf Ansichten und Absichten, die völlig fern lagen, — oft nicht einmal folge richtig! Aber wie folgerichtig auch: wer könnte denn bestehen, wenn er alles verantworten sollte, was sich aus jedem seiner Gedanken,
Worte und Werke bei strengster Konsequenz folgern läßt?
Gott sei
gedankt, daß niemand stets konsequent ist, daß ebenso oft Herz und
Wille den fehlgreifenden Verstand verleugnen, wie der ganze liebe
Mensch einzelne Verirrungen schwacher Stunden!
Daß man doch
das im persönlichen Umgang, wie bei religiösen und politischen Mei nungskämpfen immer bedächte!
So lange dein Nächster selbst vor
der schlimmen Konsequenz zurückschreckt, ziehe du sie nicht,
es sei
denn ihm zur Warnung! Daß wir doch überhaupt harmloser wären und von Luther lern
ten, den Nächsten „entschuldigen, Gutes von ihm reden und
alles zum Besten kehren!" einander machen!
Wie viel leichter würden wir es uns
Wie manche Freude würde nicht durch Empfind
lichkeit getrübt, wie manche Freundschaft nicht gestört werden!
Uns
befremdet es, wenn man uns sogleich Arges zutraut, wo nur Ver gessenheit, Zufall, Uebermacht der Verhältnisse vorlag: warum setzen wir nicht das Gute voraus, bis das Gegentheil bewiesen ist? Da
mit kann sehr wohl das
„Trau, schau, wem!"
bestehen.
Falsche
Vertrauensseligkeit fördert den Mißbrauch des Vertrauens und schlägt leicht in Mißtrauen um.
Wachsamkeit gegen Sünde und Schwach
heit, auch gegen deine eigne Vergeßlichkeit und Unordnung stützt das
Vertrauen und wehrt der Versuchung und grundlosem Verdacht. Wo
I. Hmlptstück. Achtes Gebvt. Falsches ZeiMiß wider den Nächsten.
184
mit Geld und Geldcswerth nmgegangen wird, halte der Unehrlichen
und noch mehr der Ehrlichen wegen auf Verschluß und klare Buch
führung!
Schöpfst du Verdacht, so schweige, bis du Beweise hast,
und vergiß nicht, daß auch du irren kannst!
Auch andern gegenüber
lege des Nächsten Verhalten stets auf's Beste aus! Neben die voraus
gesetzten bösen Absichten stelle die möglichen guten, neben den Schatten
das Licht!
Aber nie wider die Wahrheit!
Einseitige Vertheidigungs
sucht reizt, statt zu begütigen! Wichtig ist sicherlich das Schweigen über des Nächsten Schwächen.
Darauf zielt das „Nicht Verrathen" in Luthers Erklärung. Doch
hat das Wort eine viel umfassendere Bedeutung:
Verrath ist nicht
nur das Ausplaudern des anvertrauten Geheimnisses,
Mißbrauch
des
anvertrauten Gutes,
der
sondern auch
anvertrauten Vollmacht,
Uebergabe der anvertrauten Festung oder sonst Vorschub, dem Feinde des Vaterlandes geleistet,
aus Feigheit oder um Lohn,
heimliche
Schädigung des Freundes im eignen Interesse, Ermordung des Gast
freundes, Verführung anvertrauter Seelen, nachlässigung
des
anvertrauten Amtes.
Mißbrauch des Vertrauens.
im Grunde schon Ver
Das Gemeinsame ist der
Obschon daher auch andere Gebote
durch die verschiedenen Arten des Verraths übertreten werden, z. B.
das siebente durch Veruntreuung, so ist doch jeder Verrath zugleich eine Sünde wider das achte Gebot
im Großen:
Sünde am Leu
mund der Menschheit bei ihren eignen Gliedern, Abbruch an der Achtung des Menschen vor dem Menschen und an unserm wechsel
seitigen Vertrauen; er ist mitschuldig, baß nicht einer dem andern auf sein ehrliches Menschenangesicht Glauben schenkt.
Darum hält
das achte Gebot nur recht die Treue im Kleinen, wie im Großen:
s i e maßt sich nicht an, das anvertraute Geheimniß auch nur diesem einen zu sagen, der es ebenso nur diesem einen anvertrauen würde;
auf sie baut weder Vaterland noch Freund,
noch
selbst der Feind
vergeblich. — Recht an das Gebiet des Verraths streift auch die Zwischenträgerei, die unbedachtes oder vertrauliches Wort wieder
anbringt und „Hader zwischen Brüdern anrichtet" (Spr. 6, 19), zu mal, wenn eine Vertrauensstellung in Amt und Haus dazu benutzt wird.
Wiedererzählen magst du, was Freunde einander noch näher
bringt oder Feinde zu Freunden macht!
Verrathen.
185
Wurzel der VerklemerungSsucht.
Das Schweigen über die Sünden des Nächsten hat seine Gränze
in Wahrheit nnd Pflicht.
Unwahre gute Zeugnisse, mündliche wie
schriftliche, entwerthen die wahren und guten und benachtheiligen die
darauf Vertrauenden.
Verschweigen von Verbrechen kann zu neuen
Verbrechen versuchen nnd Unschuldige in Verdacht bringen.
Soweit
cs aber ohne Schaden und Pflichtversäumniß geschehen kann, soll ich
der Sünde des Nächsten, zumal der, welche nur mich persönlich trifft, nach dem Worte des Herrn (Matth. 18, 15f.) entgegentreten: „Sün
diget dein Bruder an dir, so strafe ihn zwischen dir und ihm allein. Höret er dich, so hast du einen Bruder gewonnen ..."
Wie oft würde
ein liebevoll ernstes Wort unter vier Augen oder, wenn die Art des Falles
cs
erfordert, vor wenigen vertrauten Zeugen (v. 16) eine
Seele retten, die, sogleich der Schande preisgegeben, sich verstockt und
untergeht!
Wie mancher Zwist wäre im Keime erstickt, wenn einer
dem andern die Aussprache Aug' in Ange gegönnt hätte,
statt die
Sache unter die Leute zu bringen.
Das achte Gebot lehrt uns vor andern den rechten Gebrauch der Zunge, dieses „kleinen Gliedes", das doch „große Dinge" an
richtet (Jak. 3, 5f.). stets
würde.
Wie viel Gutes
Demuth und Liebe,
von
könnte sie stiften,
wenn sie
Wahrheit und Gottesfurcht gelenkt
Was aber entflammt sie doch wieder und wieder zu „diesem
unruhigen Uebel voll tödtlichen Giftes",
das „kein Mensch zähmen
kann", — zu dieser „Welt voll Ungerechtigkeit"? oft vergessen,
daß
wir einst
„von jedem
Was läßt uns so
unnützen Worte werden
Rechenschaft geben müssen"? (Matth. 12, 36.)
Zu jeder Thatsünde
kann jede Herzenssünde, jede Leidenschaft verleiten: Zorn, Rachsucht, Habsucht, Herrschsucht, Eifersucht sind gleich geschäftige Verleumder;
was aber die Zunge selbst der Besseren wider
den Leumund des
Nächsten waffnet, das ist die tiefgewnrzeltste aller Sünden, die Sucht, besser, als andre, zu scheinen-die Eitelkeit.
die
Sterne
und
Je heller um uns
Sonnen, desto blasser unser Stern;
je dunklere
Schatten an unsern Mitmenschen, desto heller das eigne Licht!
Der
Splitter in des Bruders Auge soll uns und andere über den Balken in
unserm Auge hinwegtäuschen (Luk. 6, 41, 42). Daß wir doch danach strebten,
gut zu sein!
Dann würden wir merken, wie viel zmn
Gutsein noch fehlt; wir würden, nm es zu werden, gern das Gute
186
1- Hauptstück. Achtes Gebot. Falsches Zeugniß überhaupt — Lügen.
an andern anerkennen und von ihnen lernen; wir würden nicht richten,
um selbst nicht gerichtet zu werden (Luk. 6,37).
Die Demuth, die sich
selbst der Milde bedürftig fühlt, lernt leicht die Liebe, die „alles verträgt, alles glaubet, alles hoffet, alles duldet" (1 Kor. 13, 7), und gedenkt
auch bei dem Urtheil über andre des Wortes (Matth. 7,12): „Alles, was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen!"
An zwei Stellen des Neuen Testaments (Matth. 19, 18; Röm. 13, 9) lautet das achte Gebot — ohne den Zusatz
Nächsten":
„wider deinen
„Du sollst nicht falsch Zeugniß geben", d. h. „du sollst
nicht lügen". Das führt uns auf die Lüge im allgemeinen ohne Beziehung auf den Leumund des Nächsten oder auf den Mißbrauch
des Namens Gottes (2. Gebot S. 69).
Warum ist doch die Lüge
ein so „häßlicher Schandfleck an einem Menschen"? (Sir. 20,26.) Was macht die Wahrhaftigkeit zu einer so unbedingten Pflicht? Die Schrift antwortet (Eph. 4, 25): „Leget die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter
einander Glieder sind."
Wir sind einander Wahrheit schuldig, zu
erst als Glieder einer Gemeinschaft.
Denn keine Gemeinschaft
ohne Vertrauen, und kein Vertrauen ohne Wahrhaftigkeit!
Sie
allein bürgt für die Treue des Bildes, welches einer dem andern
durch Sprache und Geberde von der unsichtbaren Welt in seinem Innern giebt. Wenn diese Zeichen einmal nur bei einem trügen, so können sie immer bei allen trügen, deren Wahrhaftigkeit ich
noch nicht erprobte.
Die erste Lüge, die das Kind hört, raubt ihm
das Paradies des kindlichen Glaubens; auch für Vater und Mutter hat es jetzt das häßliche
„Du lügst" bereit.
Gleich dem Verrath
ist jede Lüge Mißbrauch des Vertrauens, selbst Verrath an dem
Vertrauen, an der Gemeinschaft, der Liebe der Menschen unter ein
ander, an dem Leumund der Menschheit bei ihren Gliedern.
Einmal
gelogen heißt allemal gelogen, darum darf keineLüge erlaubt sein,
auch die Nothlüge nicht.
Wäre doch sonst fast jede Lüge erlaubt!
Für welche Lüge — ausgenommen etwa Verleumdung, Prahlerei
und Uebertreibung — ließe sich denn keine Noth, Schaden, Unannehm
lichkeit vorschützen, die durch sie vermieden werden soll?
Ist nicht
ein Schaden auch die Einbuße eines Vortheils, den man sich durch eine kleine Nothlüge verschaffen könnte?
Wahrhaftigkeit als Pflicht gegen die Geineinschast und gegen uns selbst. Die Verwerflichkeit jeder Lüge,
187
auch der Nothlüge tritt in ein
noch helleres Licht, wenn wir die Wahrhaftigkeit nicht nur als Pflicht gegen die Gemeinschaft,
uns
selbst auffassen.
sondern zweitens auch als Pflicht gegen Durch jede Lüge begehen wir eine Art von
Selbstmord an unsrer sittlichen Persönlichkeit: wird sie entdeckt, durch Schädigung unsres guten Leumunds, immer aber durch Untergrabung
seiner Wurzel, durch Herabsetzung unsres innern Werthes, ohne den
der beste Leumund leerer Schall ist.
Denn jede Lüge schafft einen
Widerstreit in uns zwischen unserm äußern und innern Menschen,
stört dadurch die Harmonie unsres Wesens, nimmt uns die sittliche
Haltung und Würde und macht uns in unsern eignen Augen vor unsern Mitmenschen verächtlich.
Doch fassen wir die Sache noch
tiefer: Wahrhaftigkeit ist Uebereinstimmung unseres äußern Menschen mit unserm innern, in höherem Sinne mit unserm inwendigen Men
schen seiner ursprünglichen Anlage nach, Gottes Bilde;
mit dem Menschen nach
Wahrhaftigkeit im höchsten Sinne ist Uebereinstim
mung mit Gott selbst, der als das einige Wesen in allem trügenden
Schein, als das Bleibende in allem Wandel, aller Wahrheit Urgrund und Ziel ist.
Aus dieser Wahrhaftigkeit ruht unsere göttliche Würde.
Sie ist keine fertige, sondern eine werdende;
sie ist das immer
voller Jnsichaufnehmen der unendlichen Herrlichkeit Gottes in unser Herz und die Wiederabspieglung derselben in Wort und Werk.
Auf
sie zielt Pauli Wort(Eph. 4,24): „Ziehet den neuen Menschen an, der
nach Gott geschaffen ist (nach dem Urtext:) in rechtschaffner Gerechtigkeit und Heiligkeit der Wahrheit," das will sagen: aus der Wahrheit
geboren; „darum", so schließt sich nun unmittelbar die vorher be sprochene Mahnung an „darum leget die Lüge ab und redet die Wahr
heit."
Also Wahrheit die Lebenswurzel, Wahrhaftigkeit die erste Lebens
äußerung dieses neuen und doch ursprünglichsten Menschen, nach Gott geschaffen. Si e ist aller Tugenden Werkmeisterin und zugleich die natür lichste unter allen: sie ist die verlangende Rückerinnerung des Menschen
an seine göttliche Natur,
die Sehnsucht des Geschöpfes nach dem
Schöpfer, das Heimweh des Kindes nach dem Vater.
Sie lehrt uns
das Bruder- und Schwesterherz suchen, um des Vaters Bild darin
zu finden; sie macht uns erst zu „Gliedern unter einander" in dem einen Vater.
Um so richtiger ist Luthers scharfes Urtheil über die
I. Hmlptstück. Achtes Gebot. Falsches Zeugniß überhaupt — Lügeir.
188
Lüge (3. 1968):
„Wenn sonst alle Laster den Menschen nicht ver
unreinigen, so ist doch dies einige Laster wider des Menschen Natur.
Denn was begehret der Mensch mehr nach seiner Natur, denn, daß er die Wahrheit wissen will?"
Die Lüge befleckt Gottes Bild und
Spiegel in uns und damit unsre göttliche Würde. die Verführerin zu jeder Sünde,
denn
Zugleich ist sie
sie reicht ihr den Schleier.
Wohl dem, der nicht lügen kann: er wird zum voraus meiden, was das Licht scheut; die Wahrhaftigkeit ist die Wächterin seiner Tugend. Gegenüber der Leichtigkeit,
mit der vielen die Lüge über die Lippe
gleitet, hat es einen tiefernsten Sinn, wenn Jesus (Joh. 8, 44) den Teufel
„einen Menschenmörder von ansang"
Lügners" nennt:
ja,
und
„den Vater des
die Lüge ist der schlimmste Teufel in unserer
Brust, aller Laster Anfang ufld die Mörderin der Seelen.
Darum
noch einmal: hinweg mit jeder Lüge, auch der Nothlüge! Nichts gemein mit dem, was man gewöhnlich unter Nothlüge ver
steht (S. 186), haben die höchst seltenen Fälle, in denen die Wahrheits pflicht vorübergehend ruhen muß, weil für ihre Ausübung die innere
oder äußere Vorbedingung fehlt: In Krieg und Nothwehr ist das Band
der Gemeinschaft und
damit ein wesentliches Stück dessen,
was Wahrheit zur Pflicht macht, aufgehoben.
Wo ich Menschenblut
vergießen darf, ist auch die List erlaubt; denn so, nicht Lüge nenne ich hier die Täuschung. Doch darf ich sie auch hier nur im äußersten
Nothfall anwenden und nie vergessen, daß Wiederherstellung der Ge
meinschaft das Ziel, und Wiederherstellung des Vertrauens dazu die unentbehrliche Brücke ist.
Räuber und
Daher auch im Kriege und selbst gegen
Denn
Mörder Vertragstreue!
Brücke schlagen.
sie allein kann jene
Schande insbesondere über jeden Mißbrauch der
Parlamentärflagge und des rothen Kreuzes!
Geisteskranke
sind
unfähig, die Wahrheit zu fassen: weises Eingehen auf ihren Wahn ist nicht Lüge, sondern ein Mittel, sie zu beruhigen und vielleicht
aus
ihrer Scheinwelt
zur Wirklichkeit
Kranke sind zuweilen zu schwach, die Wahrheit zu tragen.
zurückzuführen.
Leiblich
ohne Gefährdung ihres Lebens
Die Kunde vom Tode des Kindes wäre
der schwerkranken Mutter selbst der Tod: und — Verhüllung — Aufschub der Wahrheit —
bis sie ihr gewachsen ist,
verdiente den
schmählichen Namen Lüge, wäre Sünde und nicht vielmehr Liebes-
Pflicht? Aber auch hier Beschränkung auf das Nothwendigste! Keine Vertuschung nur, um eine Beunruhigung zu ersparen! Was Gott auflegt, sollen wir mit einander tragen; überdies wäre die Folge Argwohn und Angst des einmal Getäuschten auch, wo kein Grund dazu vorläge. — Verletzt wird das Gebot der Wahrhaftigkeit in den bezeichneten Fällen stets nur dem Buchstaben, nicht dem Wesen nach; deshalb sollte man das Wort, mit dem sich so gern die Unwahr haftigkeit rein wäscht, das Wort Nothlüge, gar nicht daraus an wenden. Suchst du eiueu Prüfstein, um in einem gegebenen Zweifel deines Gewissens zu entscheiden, ob nur deine Eigenliebe eine Noth zur Entschuldigung der Lüge vorschütze, oder ob wirklich eine Zwangs lage dir die unentbehrliche Vorbedingung für Ausübung der Wahr heitspflicht auf Zeit entziehe? Wohlan! Trifft letzteres zu, so hat der Widerspruch zwischen deinem Worte und deinem bessern Wissen mit deinem sittlichen Menschen, deiner innern Würde und deinem Verhältniß zu Gott nichts zu schaffen: mitten aus deiner Rede kannst du frei und froh zu deinem himmlischen Vater aufschauen; ja, nach Beseitigung der Zwangslage wirst du dem getäuschten Nächsten, ohne zu errathen oder seine Mißbilligung zu fürchten, den Sachverhalt mittheilen dürfen. Kannst du das? Wirst du das können? Oder wird auch dann ein Etwas bleiben, das du vor Gott und Menschen und dir selbst verhüllen möchtest? Wenn das: so wird keine Nothlage die Lüge — die Selbstentwürdigung von deiner Seele nehmen. Auch die Höflichkeitsrücksicht entlastet nicht. Wie? die gesellige Nothlüge wäre erlaubt? Aus Rücksicht auf die Etikette dürfte das Kind Gottes des Vaters Bild in seiner Seele beflecken? — Du läßt dich verleugnen? du kannst dich wirklich nicht sprechen lassen? So sei kein Menschenknecht — gewöhne deinen Mitmenschen an die Frei heit und Wahrhaftigkeit des Gotteskindes! Oder ist dir's nur un bequem? So verleugne deine Bequemlichkeit, statt dich und deinen Dienstboten zum Lügner zu machen! — Wo du tadeln solltest, mußt du aus Höflichkeit loben? Kannst du nicht schweigen? Muß ich alles sagen, was ich denke, und durch mein leicht irrendes Urtheil, geschweige unberufenes Absprechen verletzen? Wahrhaftigkeit über all, Offenheit nur, wo sie frommt. Auch weiß die Liebe ost den
1- Hauptstück. Achtes Gebot. Falsches Zeugniß überhaupt — Lügen.
190
Tadel an Anerkennenswerthes
zu knüpfen.
Aber schmeicheln?
Wie entwürdigend — für deinen Mitmenschen, den du für so
eitel hältst,
um unbegründetes Lob zu glauben oder zu wünschen,
für dich, der du durch deine Lüge auch für die Folgezeit dein Ur theil, Lob wie Tadel, entwerthest!
Was treibt dich dazu?
Furcht,
anzustoßen? — Menschenfurcht den, den von Lüge und Furcht zu
befreien,
der König der Wahrheit am Kreuze starb?
Oder bewegt
dich die Liebe? Weißt du nicht, daß der Schmeichler unser Todfeind
ist, weil er unserm inwendigen Menschen auf dem Heimwege zum
Lebensbrunnen der Wahrheit, zu Gott, Netze stellt, indem er uns über die Schwächen täuscht,
die uns von Gott trennen?
Und es
wäre Liebe, das dem Bruder anzuthun?
Nur scheinbare Lüge ist Dichtung und Scherz.
Beide verhüllen
die Wahrheit nur mit leicht durchsichtigem Schleier. Die Dichtung,
das Märchen will sie dadurch dem kindlichen Verständniß faßlich, dem Gereifteren reizvoll machen. der Schein bestehen bleiben,
Für jenes muß oft eine Zeit lang
als sei Hülle und Kern eins.
Die
Unwahrhaftigkeit beginnt, sobald man diesen Schein künstlich zu er
halten sucht; vermeiden.
das sollte man auch auf religiösem Gebiet sorgfältig
Der Scherz diene harmloser Kurzweil oder der Liebe,
die unerwartete Freude sinnt!
Nie soll er hochmüthig die Einfalt
kränken noch des Heiligen spotten oder den Ernst der Zucht und Pflicht überwuchern. Das Uebertreiben und Ausschmücken bei Erzählungen ist oft nur das ungewollte Erzeugniß lebhafter Einbildungskraft,
doch
selten ganz frei von Eitelkeit, die sich interessant machen möchte.
Der Wahrhaftige schämt sich selbstverständlich dieses, wie jedes an dern Scheinwesens und Scheinwerthes; vollends gilt ihm jedes Prahlen mit der eignen Person als Selbstentehrung.
Ja, der im
vollen Sinn Wahrhaftige, d. i. der das Heimweh nach dem Urbild
aller Wahrheit — nach Gott kennt, scheut auch jedes Aufheben mit seinen wirklichen Leistungen. Denn ihm besteht sein wahrer Werth in dem, was er werden soll: das Abbild Gottes durch die Nach
folge Christi,
des einzigen wahrhaft gottähnlichen Menschen.
Im
Hinblick auf ihn, dem er ähnlich werden soll, erscheint ihm, was
er jetzt ist und leistet, immer kleiner, lernt er täglich strengere
Nichtige lind falsche Auffassung der Wahrhaftigkeit.
191
Wahrhaftigkeit gegen sich selbst, gewinnt er ein immer schärferes Auge für seine geheimsten Fehler. Aber seine Demuth hindert ihn nicht, nach Jesu Mahnung (Matth. 5, 16) „sein Licht vor den Leuten leuchten zu lassen" — durch anspruchslose Pflicht erfüllung in Glauben und Liebe. Denn seine Wahrhaftigkeit ist ebenso sehr, wie strenge Selbstkritik und stets wachsende Empfäng lichkeit für die Wahrheit und Liebe von oben, treue Darstellung des von oben Empfangenen in seinem Wandel, um die Herrlichkeit des Vaters nach seiner Gabe auch andern offenbaren zu helfen. Weil ihm dazu die Achtung seiner Mitmenschen ein wichtiges Mittel ist, meidet er, wie allen, so auch den „bösen Schein" (1 Thess. 5, 22) und weiß nichts von dem Trotz der mißverstandenen Wahrheitsliebe, der, um im Aeußern ja treu das Innere abzubilden, auch alle Schroff heit, Laune, Empfindlichkeit, Roheit und Leidenschaft mit heraus kehrt. Sie läßt er nimmer zu Worte kommen; nicht, daß er außen !chön thäte und innen Arges sänne, sondern, damit sie kein Unheil anrichten, und er Zeit und Kraft gewinne, sie völlig aus zutilgen. Denn sie sind ihm nicht das wahre Innere, sondern eine Lüge wider die Schöpfung, als die den ächten Kern des Menschen, das Gotteskind in uns, verdecken. Der ächten Wahrhaftigkeit ist auch die falsche Scham fremd, welche die edelsten Regungen im Innern verschließt, damit sie nur ja nicht für Heuchelei gehalten werden. Gewiß, was das Herz am tiefsten bewegt, scheut die Entweihung durch viele Worte und durch Hervortreten an der unrechten Stelle: „das Heiligthum nicht den Hunden!" (Matth. 7, 6.) Aber das gehört auch zur Wahrhaftigkeit, daß, was das Innerste bewegt, auch deu Weg zu andern Herzen suche, damit Liebe an Liebe, Glaube an Glauben sich entzünde. Wie manches Band der Gemeinschaft hätte sich inniger gestaltet, wie manches Gemüth wäre minder kalt gegen das Wehen des Geistes geblieben, wenn, als Gott die rechte Stunde gab, das bewegte Herz auchjdas rechte Wort gefunden hätte. — Die ächte Wahrhaftigkeit weiß Wahrheit und Liebe zu einen. Denn sie ist der Glaube an die Wahrheit, die die Liebe ist; deshalb nimmt sie die Liebe von oben immer verlangender, immer voller in sich auf, läßt sie immer tiefer bis in des Herzens Grund hineinleuchten und prägt sie immer reiner
I. Hauptstück.
192
Neuntes und zehntes Gebot.
und siegesfreudiger im ganzen äußern Menschen aus. Wo sie ist, d a ist der vollkommene Mensch, „der auch in keinem Worte fehlt" (Jak. 3, 2), da der ächte Nathanael, „in welchem kein Falsch ist" (Joh. 1, 47).
*Das neunte und zehnte Gebot
bei Luther ist ursprünglich ein einziges — das zehnte — wider das
Begehren.
Des Nächsten Haus, Weib, Knecht, Magd u. s. w. sind
nur zur Erläuterung als die Gegenstände beigefügt, auf welche sich
das Begehren richten kann.
Wollte man durch ihre Verschiedenheit
die Trennung begründen, so müßte man, wie schon früher (S. 8)
bemerkt, so viele Gebote als denkbare Objekte der Lust aufstelleu. Ueberdies schließt das Haus im neunten Gebot nach altjüdischcm,
wie griechisch-römischem Sprachgebrauch die Familie, und zwar Weib, Kind und Gesinde, also auch das zehnte mit ein und wird selbst
durch das „alles, was dein Nächster hat," in das letztere mit ein geschlossen.
Endlich steht zwar 2 Mos. 20, 17 das Haus, 5 Mos. 5,
21 aber das Weib voran, und hiernach beträfe das neunte das Weib,
und erst das zehnte das Haus und alles andere').
So theilt auch
wirklich Augustin ab, während im übrigen gerade ihm die in der römischen Kirche
geltende, von da in Luthers Katechismus über
gegangene und uns dadurch geläufige Eintheilung der Gebote ihre Entstehung verdankt"). Wenigstens faßt er im Widerspruch mit allen uns bekannten christlichen und jüdischen Schriftauslegern, die diesen Punkt berühren, auch mit Philo und Josephus das Gebot
gegen den Bilderdienst,
das zweite in der Bibel, nur als Aus
führung des ersten") und zerlegt dann, um die Zehnzahl — „die *) Wie unsicher» Anhalt hier
der Buchstabe bietet, erhellt auch daraus, daß
die griechische Uebersetzung der Septuaginta beidemal das Weib, der bei den Sa maritern geltende Text hingegen beidemal das Haus voranstellt.
2) Man nennt sie nach ihm die Augustinianische. 3) Durch diese Zählung erhält er für die Pflichten gegen Gott nur 3 Gebote und fuhrt dafür den seltsamen Grund an, daß in dieser Zahl sich die Dreieinigkeit
darstelle.
10 Worte" nach der Schrift (2 Mos. 34, 28) — festzuhalten, das ursprünglich eine uom Begehren in zwei. Alle Versuche, zwischen dem nennten und zehnten Gebot nach Luthers Zählung einen klaren Unterschied herauszubringen, sind gekünstelt') und zur Vertheidigung Luthers um so unnöthiger, als er zwar die bis dahin gebräuch liche Eintheilung beibehalten hat, selbst jedoch, ausgenommen allein den kleinen Katechismns, in seinen zahlreichen Auslegungen der Gebote, auch im großen Katechismus und in seinem ersten kurzen Katechismuscntwurf von 1520, für das neunte und zehnte Gebot stets eine gemeinsame Erklärung giebt und mehrfach bemerkt, daß beide ein und dasselbe, die böse Lust, verbieten, ja ausdrücklich her vorhebt: „es liege nicht viel an der Theilung", auch Paulus fasse es Röm. 7, 7 in eines"). Daß man in der That zur Zeit der Apostel nur von einem Gebot gegen die böse Lust wußte, beweist noch schärfer Röm. 13,9, wo Paulus mehrere Gebote aufzählt und am Schluß, offenbar in der Absicht, das letzte Gebot zu nennen, auch das „Dich soll nicht gelüsten" ohne jeden Zusatz anführt"). Wiewohl nun auch Luther als den Kern der beiden Gebote die böse Lust ansieht und bei Erklärung derselben im großen Katechis mus sehr schön sagt, „Gott wolle vornehmlich das Herz rein haben": so bezieht er sie doch in seinen Auslegungen keineswegs ausschließlich oder auch nur hauptsächlich auf das Gelüsten des Herzens (woran im kleinen Katechismus nur das „mit List nach seinem Erbe oder Hause stehen" austreift), sondern — geleitet durch seine Neigung, alles praktisch zu wenden — weit mehr auf die mannigfach vorkommenden, schon zur That übergehenden Bestrebungen, des Nächsten Gut oder ]) Schon ein altdeutsches (Gedicht aus dem 13. Jahrhundert, und später Melauchthon bezieht das 3. Webot auf de§ Nächsten Cout überhaupt, das 10. nur auf das Weib,
dem ähnlich
der römische Katechismus das 9. auf das Nützliche und
Gewinnbringende, das 10. auf die Leidenschaften und Wollüste; aber wie paßt dazu
Knecht, Magd, Ochse, Esel u. s. lu.?
Welchen
Wortlaut für die Beziehung des einen Gebots
Anhalt
giebt vollends der
auf die Erblust,
des andern auf
die aktuelle Lust seitens lutherischer Theologen?
-) 3. 1688 ii. 1978-1981; 10. 188 u. 196 f. 3) Näheres über die Eintheilung der Gebote, besonders auch das Geschichtliche, siehe
Geffcke-n:
„Ueber die
verschiedene
Eintheilung
des
Decalogus",
burg 1838. (ältester, Materialien.
2. Auslage.
13
Ham
I. Haupt stuck. Neuntes und .zehntes Gebot.
194
auch Weib und Gesinde auf eine vor dem Gesetz nicht strafbare, aber
vor Gott darum nicht minder verwerfliche Weise „mit einem Schein des Rechtes an sich zu bringen", wendig zu machen".
„abzuspannen,
abzudringen, ab
Gewiß eine überaus praktische Ergänzung des
6., 7. und auch 8. Gebotes,
wenn wir an die hundertfältigen Ge
stalten denken, unter denen berechnende Habsucht noch heut Unkundige, Machtlose, Arme zu bedrücken, auszunützen und durch Hinterthüren
des Rechts
das Ihre zu bringen weiß, oder an die unlautern
um
Wege, auf denen manche durch Zwischenträgerei und Doppelzüngig keit, Aufhetzerei und allerlei Lockmittel sich in Freundschaften, Fa
milien, Ehen oder auch zwischen Herrschaften und Dienstboten, Vor gesetzte und Untergebene störend eindrüngen und an sich haltbare, ja
segensreiche Bande geschäftig lockern helfen, um die Leute und den
Gewinn zu sich herüber zu ziehen. giösen Parteikämpfen glauben
Auch in den politischen und reli
öfter sonst achtbare Leute sich höchst
bedenklicher Hülfsmittel bedienen zu dürfen,
weit von sich weisen
die sie im Privatleben
würden, um im Dienste des Patriotismus
— des Fortschritts — der Freiheit — zur Ehre
Gottes — von
andern „abwendig zu machen" und für ihre Sache zu werben.
Im Alten Testament bedurfte es eines besonderen Gebotes gegen die böse Lust, weil der kurze Wortlaut der Gebote nicht zwingt, von der äußern That in die Tiefen der Gesinnung hiuabzusteigcn.
Auf
eben diese sind wir dagegen durch Luthers „Gott fürchten und lieben"
und durch die geistige Auffassung des ganzen Neuen Testaments, vor allem der Bergpredigt (Matth. 5) schon bei jedem einzelnen Gebote
hingewiesen und könnten daher auf ein besonderes Gebot in dieser Richtung,
beziehungsweise auf die Erklärung
desselben verzichten,
wenn nicht für die Bekämpfung der bösen Lust folgende allge meine Gesichtspunkte Beachtung verdienten:
1. Zu jeder
eine böse Lust,
äußern Uebertretung (Thatsünde) treibt irgend
Neigung,
Begierde,
— in gesteigertem Grade Laster).
Leidenschaft (Zustandssünde Je öfter wir uns
durch
die
Lust zur Uebertretung reizen lassen, um so mehr nistet sich erstere ein, wird aus der Lust der Hang, das Laster, die Sündenknechtschaft.
Schon die erste Thatsünde durchbricht den Damm der ursprünglichen Scheu vor der Uebertretung, ihr folgt leichter die zweite u. s. s.
So
That- und Zilstandssünden; Wechselwirkung aller mit allen.
195
hüte dich vor der ersten! „Wer Sünde thut, der ist der Sünde Knecht"
(Joh. 8, 34), bis sich mehr und mehr jener sündige Zustand ent wickelt, den Paulus Röm. 7 so ergreifend schildert: „Das Gute, das ich will, das thue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will,
das thue ich" (v. 19).
Vergl. auch Jak. 1,13 f.
2.
Wiewohl bestimmte Leidenschaften besonders häufig zu be stimmten Uebertretnngen verleiten, wie Haß, Neid, Rachsucht zum
Morde, Habsucht und Arbeitsscheu
zum Diebstahl, Eitelkeit und
Eifersucht zur Verleumdung und Verkleinerung: so kann doch jede sündliche Neigung, je mehr sie zur Leidenschaft wächst, jede That
sünde hervorrufen, und ebenso jedes Laster vermöge einer natürlichen Verwandtschaft aller Sünden unter einander jedes andre Laster ent
zünden.
Haß, Ehrgeiz haben zum Diebstahl, Eitelkeit, Putzsucht
zunr Morde getrieben; jede Lieblingsneignng (Passion), an sich viel
leicht ganz harmlos, z. B. wissenschaftliche Liebhabereien, wenn sie zur Leidenschaft werden, befähigen zuletzt zu jeder Sünde.
Andrer
seits hat Herrschsucht, Grausamkeit, Völlerei u. bergt von Natur Tapfere zu Feiglingen umgeschaffen,
Geräusch erbebten.
die bei jedem ungewohnten
Darum sei wachsam gegen jede Leidenschaft in
ihren kleinsten Anfängen, ehe sie deiner Herr wird und dich führt,
wo du nicht hin willst! 3. Die Lust wächst durch das Anschaun dessen, was sie ent facht. „Das Weib schauete an, daß von dem Baume gut zu essen wäre und lieblich anzusehn" (1 Mos. 3, 6): in dem Worte liegt eine
ernste Warnung. Wallenstein spielte so lange mit dem Gedanken, den Kaiser verrathen zu können, bis er im Verrathe unterging. Das Spielen mit versuchlichen Gedanken ist gefährlicher, als das
mit Feuer.
Wenn das Gewissen die Erfüllung eines Wunsches ver
wehrt, sinne nicht lange über das ob und wenn und wie, damit du darüber nicht vergessest, was vor Gott recht ist!
dich dein rechtes Ange,
Sondern, „ärgert
so reiße es aus" (Matth. 5, 29. 30), d. h.
tilge den sündigen Gedanken aus deiner Seele, und wäre er noch
inniger mit ihr verwachsen, als Auge und Hand mit deinem Leibe! Laß auch das an sich Unschuldigste, wenn du merkst, daß es dich knechtet und zur Sünde reizt!
Die Bitte „Führe uns nicht in Ver
suchung" hat zuvörderst den Sinn: Gott wolle unser Herz bewahren,
196
1.
Neuntes und zehntes Gebot.
Hauptstück.
daß wir nicht ohne Noth nns in Versuchung begeben,
sie in bestrickender Gestalt uns naht.
zumal, wo
Insbesondere du Vater, du
Mutter, behüte deiner Kinder Herz und meine nicht, du müssest ihnen Raum lassen, in der Versuchung Erfahrungen zu sammeln!
Nichts
4.
ist
schwieriger, als böse Neigungen, Leidenschaften
und Gewohnheiten zu besiegen und aus dem Herzen zu bannen.
Es
geht nicht ohne rückhaltloses, entschiedenes Wollen noch ohne Wachen und Beten („Mache dich, mein Geist, bereit, wache, fleh' und bete!").
Und noch ein Gesetz ist dabei zu beachten, das wir der Natur ab Diese leidet keinen leeren Raum,
lauschen können:
selbst die Luft
pumpe entleert ihn nie ganz; und, wo die atmosphärische Luft fehlt,
nehmen die Forscher
Auch
den raumerfüllenden Aether an.
Seele kann nicht leer bleiben.
Jesus deutet
die
daranf in einer Rede
die bei buchstäblicher Fassung kaum überwindliche Schwierig
hin,
aber, geistig gedeutet, überaus lehrreich wird.
keiten bietet,
Luk.
11, 24 f. spricht er von einem unsaubern Geiste, der, von einem Men
schen ausgetrieben, nachher mit sieben noch ärgern Geistern die alte
wohl gekehrte und geschmückte Wohnung, d. h. des Menschen Seele,
wiedererobert,
daß
es mit demselben Menschen ärger, denn vorher das bloße Verbannen des Bösen aus den
Das will sagen:
wird.
Gedanken, geschweige das bloße eine Zeit lang sich Enthalten genügt
nicht; mit irgend etwas will die Seele sich erfüllen,
darin Befrie
digung suchen, es lieben, dafür sich erwärmen, darin leben und aus
gehen.
Daher ist die Rückkehr der alten Sünde, bösen Gewohnheit,
Leidenschaft
mit
um
so
verheerenderer Macht
unvermeidlich,
je
schwerer die Enthaltung empfunden wird, wenn die Seele sich nicht
mit anderm Inhalt, mit den Himmelsbildern und Kräften des Reiches
Gottes erfüllt.
Statt der bösen Gedanken, Begierden und Gewohn
heiten suche bei dir und andern, die du davon heilen möchtest, gute Gedanken, edle Interessen und Strebungen einzubürgern. Geister,
bösen
den Geist Gottes selbst
keinen Ranm finden.
das Haus einnehmen,
Laß gute
damit die
Nur die, „welche Christo angehören",
d. h. von seinem Geist der Liebe in Besitz genommen sind,
nur die
können „ihr Fleisch sammt den bösen Lüsten und Begierden kreuzigen"
(Gal. 5, 24).
5.
Dazu, daß in uns das Böse überwunden,
und das Gute
Rechte Bekämpfung bcr bösen Lust.
eine Macht werde,
genügt
einseitigen Werthlegen
nicht ein einzelner Entschluß; bei dem
auf die einzelne bestimmte Stunde der Be
kehrung, wie tief auch der religiöse Untergrund sei, vergessen,
197
Wesen und Einheit der Tugend.
wie bald ein
wird vor allem
einzelner Eindruck und Vorsatz unter der
Wucht der wiederkehrenden alten nachtheiligen Einflüsse im Sande
verlauft.
Wie zu jeder andern Tüchtigkeit, so gehört auch zur sitt
lichen, zur Tugend Fertigkeit und zur Fertigkeit Uebung.
Durch
unablässige Uebung muß sich das Gute in die Seele hineingewöhnen, und
dadurch
der durch
die Buße,
neue Mensch allmählich wachsen
die
Sinnesänderung
geborne
und vom Kriechen und Gegängelt
werden zum Gehen und Laufen, vom Stammeln zum Sprechen, vom
unsichern Tappen und Tasten nach dem Rechten zum festen Einher schreiten des durch Christus von innen her frei gewordenen
Charakters sich heranbilden.
So erfüllt es sich: „So jemand will des
Willen thun, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei, oder ob ich von mir selber rede", und: „So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger
und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh. 7, 16. 17; 8, 31. 32).
6.
Volle Ueberwindung
der bösen Lust oder gar des Lasters
wird nicht durch bloße Vermeidung des Uebermaßes
nach
den ent
gegengesetzten Richtungen,
also durch Innehaltung der sogenannten
goldnen Mitte gewonnen.
Die Lehre
liege
des Aristoteles,
jede Tugend
in der Mitte zwischen zwei entgegengesetzten Lastern, so der
Muth zwischen Feigheit und Verwegenheit, die Sparsamkeit zwischen
Geiz und Verschwendungssucht, erklärt nur die äußere Erscheinung,
nicht
das Wesen
der Tugend.
Ihrem Wesen nach wurzelt sie in
einer ganz andern Herzensstellung zu Gott und Welt, als sämmtliche Laster, so daß ihr gegenüber alle, auch die einander entgegengesetzten,
auf einundderselben entgegengesetzten Seite liegen und unter einander für gleichartig zu achten sind.
Der Geizige und Verschwender, der
Feige und Verwegene sammt allen andern Lasterhaften gleichen sich darin,
daß ihrer aller Herzen von irgendeinem Erdengut und einer
damit
zusammenhängenden Lust oder
Furcht geknechtet sind,
der
Geizige vom Gelde, der Verschwender von allem, wofür er vergeudet,
der Feige von Furcht vor dem Schmerz und Liebe zum Leben, der
1. Hmiptstück. Neuntes und zehntes Gebot.
198 Verwegene
von
noch
irgendeinem
nntergeordncteren Lieben
Fürchten, wofür er fein Leben leichtsinnig einsetzt. Sinn Tugendhafte und
oder
Der in wahrem
auch Sparsame und Muthige ist
deshalb
allein von der Liebe und kindlichen Furcht Gottes ganz gefangen und hingenommen und giebt deshalb Geld, Gut und Leben hin oder hält es fest, jenachdem er dadurch am besten dem glaubt dienen zu
können, dem er mit allem, was er ist und hat, zusammt allem seinem Fürchten und Lieben, Hoffen und Streben zu eigen geworden ist.
Dadurch wird, stätigt:
was schon aus dem früher Gesagten folgt, be
daß wahre Tugend
auf ein altes Kleid
sein
nur ein vereinzelter neuer Lappen
nie
kann (Matth. 9, 16), sondern, daß jede
einzelne aus der Tiefe des innersten „von neuem", nach dem Urtext „von oben", d. i. aus dem Geiste Gottes wiedergeborenen Menschen hervorgehen muß (Joh. 3, 3), daß also, wie alle Sünden unter ein
ander zusammenhängen, so auch keine Tugend für sich allein ist und bleiben kann, sondern stets ein guter Geist und Himmelsgast auch die andern mit sich führt.
Sie alle aber wachsen allmählich aus
der einen Wurzel, dem Geiste von oben, zu einem Menschen Gottes
aus einem Gusse heran,
wo unter unermüdlicher Bekämpfung der
Sünde und Uebung im Guten nach Luthers erster These das ganze Leben
eine
beständige
Buße
—
Sinnesänderung
und
Herzens
erneuerung ist.
"Schluß der Gebote.
Drohung und Verheißung
am Schluß
der Gebote bei Luther
folgen in der Schrift schon auf die beiden ersten gegen Götzen- nnd
Bilderdienst (2 Mos. 20, 5. 6; 5 Mos. 5, 9. 10)
und haben für sie
ihre besondre, durch die Geschichte bestätigte Wahrheit (vergl. S. 7.
8.16.17.21). Denn das Heidenthum mit seinen entsittlichenden Wir kungen erwies sich noch jedem darin befangenen Volksleben verderb
lich; und jede Abirrung zu ihm zog auch für das Volk, dem, wie Luther mit Recht hervorhebt (3. 1575), Drohung und Verheißung
Zusmilmcuhmili des sittlichen Verhaltens mit Glück und Unglück.
199
zunächst galten, zog auch für Israel stets Verfall und Unterdrückung
nach sich — znletzt an den Wassern
in's 3. und 4. Glied", während
zn Babel recht eigentlich „bis
es durch die Treue seines bessern
Kerns gegen den wahren Gott der Träger des Heils wurde. Warnung auch uoch für
Welche
die christlichen Kulturvölker, durch irgend
dem Bilderdienst verwandte — Veräußerlichung
welche — immer
der Gottesanbetung die unentbehrlichste Heilquelle zur Gesunderhal tung
der Völker,
die Religion, zu trüben oder durch atheistische
Abwendung von ihr dem feinen Götzendienst der Welt- und Selbst liebe den Weg zu ebnen und dadurch den Keim des Siechthums in sich aufzunehmen!
Doch, wie die beiden ersten Gebote nach ihrem tiefern Sinn als das Gebot der rechten Gottesanbetung durch Liebe zu ihm und dem Nächsten alle andern umfassen, so gelten auch die ihnen beigefügte
Drohung und Verheißung für alle, weisen schon in ihrem Wortlaut
„so mich lieben und
meine Gebote halten" daraus hin und stehen
gleich passend am Schluß, wie am Anfang.
allgemeineren Beziehung
Nur darf auch bei dieser
nicht außer Acht gelassen werden, daß sie
zuvörderst für ein ganzes Volk gesagt sind.
Was für ein solches auf
die Dauer meist zutrifft, daß dem sittlichen Wohl- oder Uebelverhalten
auch das äußere Wohl- oder Uebelergehen entspricht (Spr. 14, 34),
auf den einzelnen wesentlicher Ein
bedarf in seiner Anwendung schränkungen und Ergänzungen:
1.
Schon bei den Inden,
nationalen Unabhängigkeit,
setzte
besonders
sich
der Glaube an eine äußere
Vergeltung bereits auf Erden auch für den daß
seit dem Verlust ihrer einzelnen fest, derart,
sie in jedem Leiden die Strafe für eine Sünde entweder des
Leidenden selbst oder auch
(nach dem „bis in's 3. und 4. Glied")
seiner Vorfahren erblickten, — ein Glaube, der sich auch neben dem
später entstandenen Glauben erhielt und noch
an eine Vergeltung nach dem Tode
die Jünger Jesu angesichts eines Blindgeborenen
zu der Frage veranlaßte, ob dieser gesündigt habe, oder seine Eltern
nicht
ausgestorbene,
Richten
verleitende
Vorstellung
Widerspruch mit tausendfältiger Erfahrung,
insbesondere
(Joh. 9, 1s.). ängstigende, steht in
Diese
theils
noch
heut
zu lieblosem
mit den vielen Naturübeln,
theils be
die mit der Sünde nichts zu schaffen
1. Hauptstück.
200
Schlich der Gebote.
haben'), in Widerspruch nicht minder mit der Schrift schon des
Alten Testaments, das am leidenden Hiob zeigt, wie Gott auch dem
Frommen Trübsal schicke, um ihn vor Selbstgerechtigkeit zu warnen
und vollends zu läutern,
in Widerspruch vor allem mit dem Gott
der Liebe im Neuen Testament,
den diese Ansicht auf das niedrig
menschliche „Zahn um Zahn" herabzieht, und endlich mit Jesu aus
drücklichem Wort,
mit dem er sich des Blindgeborenen
„Weder dieser noch seine Eltern."
annimmt:
Demgemäß hat der Christ sest-
zuhalten: nicht alle Uebel stammen aus der Sünde.
2. Dennoch hat das Wort von dem, „der der Väter Missethat an den Kindern bis in's 3. und 4. Glied Heimsucht und an vielen
tausenden,
die ihn lieben und seine Gebote halten, Barmherzigkeit
thut", auch für das äußere Ergehen seine furchtbar ernste, wie auch
seine trostreiche Wahrheit.
Setze überall für die Sünde Christi Liebe:
und nicht alle, aber doch unberechenbar viele Uebel würden verschwin
den, und unermeßliche Fülle ungekannter Freuden würde hereinfluthen. Nur nicht so, als ob Gott Gutthat und Glück,
Missethat und Un
glück willkürlich von außen her verknüpfte, oder als hätten wir, wo
beziehungsweise eins mit dem andern durch rein äußere Umstände zusammenträfe, sofort an Lohn und Strafe Gottes zu denken; sondern Sünde und Frömmigkeit tragen in sich Kräfte des Fluches und
Segens, die durch offenbare und verborgene Fäden viel weiter reichen,
als wir ahnen.
So
allein vermögen wir den Glauben an Gottes
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit mit der Härte zu vereinigen, mit ’) Die Annahme, das; auch die Naturübel mit Einschluß deS leiblichen Todes
erst eine Folge der Sünde seien, wird durch die Thatsache widerlegt, das; (äugst vor Entstehung des Menschen und seiner Sünde ganze Thierarten auSstarben, und also auch das Gesetz des TodeS schon vorher in der "Natur herrschte. Das anS einem Sündenfall in der Engelwelt erklären hieße doch wohl jedem Spiel der Phantasie Thür und Thor öffnen. Was die Schrift anlangt, so ist nach I Mos.
3, 22 der Mensch nicht unsterblich geschaffen, sondern hätte mir durch den Genuß vom Baume des Lebens unsterblich werden können, wobei man dann an eine leib
liche Unsterblichkeit denken möchte.
Worte aber, wie die des Paulus Nüm. 6, 23
nnd 5, 12, der Tod sei der Sünde Sold und erst durch sie in die Welt gekommen, können vom geistigen Tode verstanden werden. Wäre dennoch an den leiblichen zu denken, so hätten wir es hier schwerlich mit beut ewigen Kern der Wahrheit,
sondern mit einer jener Hüllen zu thun, die wir angesichts einer fortgeschrittenen Naturerkenntniß fällen lassen dürfen.
Zusammenhang deö sittlichen Berhulteuo mit Glück unb Unglück.
201
welcher der Fluch nicht mir dem Sünder selbst sich an die Ferse heftet
ein
— die Folge eines Fehltritts oft nein,
mit der
ganzes Leben hindurch! —
er bis in's 3. und 4. Glied noch Unschuldige oder
solche trifft, an denen mehr gesündigt wurde, als ihnen Sünde zu
zurechnen ist.
In Sünde geboren
und
ausgewachsen,
darum
in
Sünde vollendet und uutergegaugen: das ist die Geschichte manches Unseligen — eine schwere Anklage, doch nicht, wie es scheinen könnte,
wider Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit,
sondern wider den
verkehrten Meuscheuwillen, der nicht zufolge göttlicher Willkür, son
dern durch das seiner Sünde innewohnende Verderben auf sich und andre unabsehbares Elend häuft.
Gott setzt nur um derselben Liebe
willen, in der er den Menschen zur Hoheit sittlicher Vollkommenheit aus der Freiheit beruft, vermöge einer unabänderlichen Nothwendig keit mit der Freiheit auch die Möglichkeit der Sünde nnd der von
ihrem
Wesen untrennbaren Folgen — uns zur Warnung,
nicht auch
wir unbedacht bis in's
3. und 4. Glied
Neben den Fluch aber, und nicht minder durch
durch Gutesthnn Segen
zu
damit säen!
die Erfahrung be
währt, stellt er den Segen bis in's tausendste Glied, munterung,
Fluch
uns zur Er
wirken und zu ärnten —
eine herrliche Vorahnung des Neuen Bundes im Alten:
der Segen
so viel größer, als der Fluch, so viel Gott größer, als unser thörich tes Herz (1 Joh. 3, 20), und beide, Fluchandrohnng und Segens-
verheißung,
in seiner Vaterhand Erziehungsmittel,
uns zur
Erfüllung seiner Gebote hinanzuleiten! 3.
Indeß gerade
das bedarf
einer wesentlichen Ergänzung:
Drohung nnd Verheißung, ausschließlich oder auch nur hauptsächlich
auf ein
mehr oder minder äußerlich gedachtes Uebel- oder Wohl
ergehen bezogen, sei es im Diesseits oder auch im Jenseits, wenden sich an die selbstischen Triebe der Furcht vor Strafe und der Hoff
nung auf Lohn und können deshalb für sich allein nie zur wahren
Sittlichkeit, zu der, die aus der Liebe stammt, erziehen (vergl. S. 115). Sie sind wichtige Hülfsmittel dazu, unentbehrlicher, als mancher
glaubt, für uns alle: wie viel Gutes bliebe von uns allen ungethan,
wie viel Sünde ungemieden ohne
die Furcht vor mancherlei Nach
theilen und die Hoffnung auf ebenso
der Unsern Wohlergehen!
viele Vortheile für unser und
Aber wahrhaft sittlichend wirkt Drohung
202
I. Hmiptstück.
und Verheißung,
Schluß der Gebote.
Finch nnd Segen, Furcht und Hoffnung nur in
Verbindung mit einem tief Innerlichen, der im Gewissen gegebenen
Furcht und Hoffnung und — Erfahrung, daß Sünde von Gott trennt, Frömmigkeit mit Gott eint, und daß Gemeinschaft mit ihm das höchste Gut ist.
Aeußere Vergeltung und Furcht und Hoffnung im
Hinblick auf sie sollen dem Gewissen Gehör verschaffen, das in ihm
wurzelnde Gefühl der Gottentfremdung und Gottesnähe, bekräftigen
und so von den äußern Gütern auf das innere Gut und von dem geschriebenen Gesetz auf das im Herzen als höchste Richtschnur unsers
sittlichen Handelns Hinweisen.
So erzieht Gott uns von der äußer
lichen Gerechtigkeit des Alten Bundes zur geistigen des Neuen, ent
sprechend
dem
geschlechts":
in
Gedanken
Lessings
„Erziehung des
Menschen
daß er die Menschheit durch stets wachsende Klarheit
der Offenbarungen von
den
niederen
Religionsstufen, zu
immer
höheren emporführe. 4.
Noch bleibt die Frage: wie vertragen sich mit Drohung und
Verheißung und mit Gottes Barmherzigkeit und Gerechtigkeit die Leiden
der Frommen?
Ewig ungelöste Frage aller Wahrheit
Suchenden aller Zeiten: wer darf sich unterwinden, sie bis an das Ende lösen zu wollen!
Dennoch fällt gerade in diesem Zusammen
hänge ein tröstliches Licht
auf sie:
Neben
der unleugbaren Er
fahrung, daß Sünde und Frömmigkeit nicht selten schon hier auch
im äußeren Ergehen den entsprechenden Lohn empfangen, die ebenso unleugbare, oft so bittere Erfahrung des Gegentheils — gerade das ist
ein
bedeutungsvolles Glied im Erziehungsplan Gottes.
abgesehen hier von all' den Gotteskräften, geweckt und geübt werden:
die
Denn,
durch die Trübsal
diese doppelte Erfahrung, welche Gottes
Verheißung bald zu bestätigen, bald zu Schanden zu machen scheint,
drängt die, welche den Glauben an die letztere nicht aufgeben können,
zu einer tieferen Fassung derselben.
Schon das Buch Hiob sucht sie,
bleibt aber auf halbem Wege davor stehen, weil es doch zuletzt auf die Wiedererstattung des verlorenen Erdenglücks zurückgreift.
Christenthum sucht sie auf zwei Wegen,
die sich ergänzen
Das
müssen:
der eine ist die Vollendung der hier unvollkommenen Ver
geltung im Jenseits; aber er laßt das Sehnen des Herzens in der Gegenwart ungestillt und
soll es ungestillt lassen,
damit der
Das Reiben bed gwiniiteit als Erziehungsmittel. Mensch und
nicht wieder bei
darum auch
einer äußerlich vorgestellten Glückseligkeit
bei einer äußerlichen Gerechtigkeit
Der andere Weg ist
203
stehen bleibe.
einem schon hier
das Suchen nach
erreichbaren Gut, das vom Wandel des Erdenglücks unab
hängig ist; er führt den Menschen auch von dieser Seite her von außen nach innen und oben zur Gemeinschaft mit Gott als dem
höchsten Gut und dem Ziel all' seines Strebens und Handelns und
dadurch von dem Gehorsam um Lohn und Strafe zu dem aus Liebe zu Gott und denen, die sein Bild tragen, d. i. zu der Gerechtigkeit: „Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schrei
ben" (Jer. 31, 33).
Freilich weist auch dieses innere Gut, weil es
hier nie voll verwirklicht wird, auf eine Vollendung droben und
deshalb
uns eben
ein Unterpfand unserer Hoffnung darauf.
ist
Man
könnte daher die Frage aufwcrfen, ob nicht auch so ein selbstisches
Streben nach Glückseligkeit der Antrieb zu unserem sittlichen Handeln bleibe.
Aber ist denn jedes Streben nach Glückseligkeit selbstisch? Ist
nicht vielmehr der Sinn für wahres Glück Voraussetzung der Liebe,
in deren Wesen es liegt, andere zu beglücken? Könnte sie das, wenn sie jedes Streben nach Glückseligkeit verachtete?
ohne Gott,
Nur nicht
für sich,
ohne die Brüder, sondern mit Gott, und in Gott mit
seinen Kindern will sie glücklich sein.
Darum ist das ihr Seligkeit
und Gerechtigkeit, Erfüllung des Gesetzes und der Verheißung Gottes zugleich, daß sie durch selbstloses Aufgehen in Gott und den Mit
menschen verwirklichen helfe — das „Du, Vater, in mir, und ich in dir, auf daß auch sie in uns eins seien" (Joh. 17, 21).
Bedeutung des Gesetzes.
„Das Gesetz (Gal. 3, 24):
Gesetzes
und
Menschheit
ist
unser Zuchtmeister
gewesen
in diesem Worte spricht Paulus
zugleich
der Weltgeschichte als
durch das Gesetz
auf Christum
auf Christum"
die Bedeutung des
einer aus.
Erziehung
Das
der
darf nach
allem Vorigen nicht so verstanden werden, als wäre das Gesetz nur
204
1. Hcmptstück.
Bedentlin^ des Gesetzes.
dazu da, uns fühlen zu lassen,
daß wir es nicht erfüllen können,
damit wir nach der Gnade greisen.
So einseitig gefaßt, führt der
Satz zur Unterschätzung thatkräftiger Sittlichkeit.
Vielmehr: das
geschriebene und das natürliche Gesetz im Herzen bändigt zunächst die
Leidenschaften des noch unerzogenen rohen Menschen, führt den an Zucht gewöhnten zum tieferen Verständniß seiner Pflichten, weckt in
ihm die sittlichen Ideale und das Verlangen nach Einheit mit Gott und läßt ihn dann freilich auch sein Unvermögen empfinden,
das
recht verstandene Gesetz aus eigener Kraft zu erfüllen und die Kluft
zwischen sich und Gott zu überbrücken.
Ja, allerdings lehrt es ihn,
aus seiner Schwachheit und seinem Unfrieden heraus die Hand nach
dem Erlöser anszustrecken, aber nicht, um dann das Gesetz bei Seite
zu lassen und auf todtem Glauben auszuruhen; sondern Luther hat
Recht, wenn er in der Vorrede zu seinem kurzen Katechismuscntwurf von 1820 die Hauptstücke religiöser Unterweisung dahin zu sammenfaßt, daß das Gesetz unsere Krankheit anzeige, und
der
Glaube und das Vaterunser, wo die Arznei zu finden, und wie sie zu holen sei,
aber doch dazu, daß der Mensch genese und das
Gesetz erfüllen lerne.
Ausgehört hat durch die vergebende Liebe die
verdammende Kraft des Gesetzes und das Stückwerk todter Satzungen, aber dafür wirkt in uns das eine lebendige Gesetz: der, der uns mächtig
macht, Christus, der Anfänger und Vollender unseres Glaubens und darum auch des Gesetzes zugleich Ende, Vollender und Ziel (Phil. 4,13;
Ebr. 12, 2; 10, 1; Röm. 10, 4; Matth. 5, 17; Phil. 3, 12).
Das Meile HanMnck.
Das Apostolische Glaubensbekenntniß oder das Apostolische Symbol (symbolum apostolicum). I.
Der Ausdruck Symbol kommt im kirchlichen Gebrauch in
zweifacher Bedeutung vor: 1. Sinnbild; 2. Bekenntniß. — Ursprüng lich irgend ein Zeichen,
daran sich Gastfreunde u. s. w. erkannten,
z. B. das Bruchstück eines Ringes, zu welchem der andere die Er gänzung bewahrte, sodann ein militärischer Kunstausdruck im Sinne von Parole, ist es später auf die Christen als die Krieger Christi
und auf die christlichen Bekenntnisse als das, woran sich diese Krieger untereinander erkennen, übertragen. „Symbole und Symbolische Bücher" einer Kirche sind also nicht Sinnbilder oder sinnbildlich auszulegende Bücher, sondern Bckenntnißschriften, in denen diese Kirche ihren Glauben ausgesprochen, die in ihr anerkannte Lehre
niedergelegt hat.
Nach der alten Ueberlieferung soll das Apostolische Glaubens bekenntniß von den Aposteln verfaßt sein. Die Tradition lautet: als die Apostel im Begriff gewesen wären, nach dem Gebote Christi
in alle Welt zu gehen und allen Volkern zu predigen, da hätten sie, um Einheit in ihre Verkündigung zu bringen, gemeinsam dieses Bekenntniß zusammengesetzt: und zwar so, daß jeder von ihnen seinen „Beitrag" („Symbole“) dazu gegeben, also Petrus zuerst gesprochen
habe:
Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, Schöpfer Him
mels und der Erden, und dann Johannes oder, wer sonst fort gefahren habe:
und an Jesum Christum, Gottes eingcbornen Sohn
2. Hauptstttck. Apostolisches GlmibcnSbekenntniß.
206
u. s. to., bis in dieser Weise das ganze „Symbolen“ fertig geworden sei.
Es liegt auf der Hand, wie wenig würdig des in den Aposteln
daß sie, um einig zu blei
waltenden Geistes sowohl die Annahme:
ben, eines solchen Haltes bedurft hätten, als auch die Weise ist, in
der
zu Stande gebracht haben sollen.
sie ihn
Die Wahrheit ist:
das Apostolische Glaubensbekenntniß, darin unter allen Bekenntnissen wohl das einzige, ist von niemandem, weder von den Aposteln noch sonst wem gemacht,
sondern hat sich ganz allmählich im kirchlichen
Gebrauche gebildet durch Erweiterung des ihm zu Grunde liegenden, an
die Taufformel sich anschließenden Taufbekenntnisses, dem man
je nach Bedürfniß in verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten hinzufügte, was zur Abwehr verderblicher Irrthümer, die sich in die
Kirche eindrängen wollten, nöthig war.
Mit seinen Anfängen bis
an die apostolische Zeit reichend, hat es seine jetzige Gestalt im An fang
vierten Jahrhunderts empfangen (erst um diese Zeit ist
des
der Satz
von der „Höllenfahrt Christi"
ausgenommen worden); und selbst von
gedauert,
Jahrhunderte
ehe
es
als
der letzte in dasselbe
da ab hat es noch mehrere
allerorts
in
gleichmäßigen
Ge
brauch kam. — Bedenkt man das,
gerungen.
ein
so ergeben sich
mehrere sehr wichtige Fol
1) Da die christliche Kirche so viele Jahrhunderte ohne
und eine
in allen Stücken gleiches Bekenntniß bestanden hat,
gewesen ist,
bedarf
sie
und
das Heidenthum und Judenthum besiegt hat:
so
auch heute einer solchen gleichförmigen Bekenntnißformel
weder zu ihrem Bestehen
noch zu ihrer Blüthe:
sondern der eine
christliche Glaube wird sich in mannigfachen Bekenntnissen aussprechen können.
2) Haben in dem alten Bekenntniß die Mehrzahl der Sätze,
die wir jetzt in dem Apostolicum haben,
sind
erst nach
ursprünglich
und nach ausgenommen worden:
gefehlt und
so kann es keine
Verleugnung noch Versündigung am Christenthume sein, wenn einer oder mehrere dieser Sätze ausgelassen und das Bekenntniß
kürzer
gefaßt wird: wie das bekanntlich in Luthers Taufbüchlein geschehen
ist. — Dazu kommt: 3) Das Apostolische Glaubensbekenntniß besteht
aus Sätzen, die insgesammt der Schrift entnommen sind,
und
die
offenbar in ihm in keinem andern Sinne genommen werden wollen
und sollen, als den sie in dem Zusammenhänge der h. Schrift haben.
Entstehung.
Andere Glnnbenöbekenntnisse (allgeineine n. besondre).
daß jeder das Recht hat, jeden Satz des Bekennt
Daraus folgt,
wie er ihn nach der Schrift glaubt auslegen
nisses so auSzulcgen,
aber niemand berechtigt ist, sein Verständniß des
daß
zu müssen;
207
Apostolieums einem andern aufzudrängen.
Das Apostolische Glaubensbekenntniß ist das älteste und
II.
erste unter den „allgemeinen" oder ökumenischen, d. h. denje nigen Bekenntnissen, welche nach der Voraussetzung auf dem „ganzen
Erdenrund,
so weit Christen
Athanasianische Bekenntniß
von denselben
wohnen" (oikumene),
außer ihm gehören
bekannt werden;
zu
noch
Nicäische und
das Das
denselben.
das
erstere ist auf der
Synode zu Nicäa (325) tut Streite gegen die Irrlehre des Artus,
eines Alexandrinischen Presbyters, zu Stande gekommen, und ent hält
eine genauere Bestimmung
der Lehre svon der Person Christi,
laut welcher derselbe „vom Vater vor der ganzen Welt geboren",
und „mit beut Vater in einerlei Wesen ist". Bekenntniß,
das
Das Athanasianische
seinen Namen von dem gleichzeitigen Gegner des
Anus, dem nachmaligen Bischöfe von Alexandria Athanasius, fuhrt, aber erst
enthält eine ausführliche,
lange nach ihm entstanden ist,
nur dem Theologen verständliche Auseinandersetzung der Lehren von der Dreieinigkeit
und
von den beiden Naturen in Christo.
weit hinter dem Aposto-
Bekenntnisse stehen an kirchlichem Werthe lictiui zurück;
und hätte namentlich das
Beide
letztere, wie
schon Calvin
bemerkt, niemals den Gemeinden auferlegt werden sollen. — III.
Seitdem
hat
der Bekenntnißdrang
in
Kirche nicht
stille gestanden; tut Gegentheil hat
Zeiten,
ihr Noth schien,
was
christlichen
in immer neuen mehr oder minder
Bekenntnissen ausgesprochen.
ausgeführten
der
dieselbe zu allen
Namentlich
haben
die
verschiedenen Kirchenparteien ihre Auffassung des christlichen Glaubens tut
Gegensatze
zu
einander in
mannigfachen
„Sonderbekennt-
nissen" d. h. in Bekenntnissen, die nur von einer Kirche anerkannt werden, ausgesprochen.
Solcher Sonderbekenntnisse hat die lutherische Kirche fünf, unter denen der lutherische Katechismus, eigentlich zwei, ein größerer
und
ein
kleiner, beide von Luther in Folge der 1527 —1529 aus
seine Veranlassung verfaßt und
in
Chursachsen abgehaltenen Kirchenvisitation
nächst seiner Bibelübersetzung das einflußreichste Buch
2. Hauptstück. Apostolisches Glaubenobekeimimß.
208
im deutschen Volke und einer seiner größten Schätze, — so wie die Angsburgische
Confession
augustana
(confessio
dem
Reichstag
übergeben
Augsburg
zu
die bekanntesten und wichtigsten sind.
oder
kurzweg
und
verlesen,
öffentlich
Die Augsburgische Confession
versöhnendem Sinne ausdrücklich
ist von Melanchthon in
die
den Evangelischen Ständen
„Augustana“), am 25. Juni 1530 von
in der
Absicht, die Vereinigung mit den Gegnern so viel nur irgend mög
weshalb auch Luther,
lich zu erleichtern,
verfaßt:
billigte, bemerkte,
daß er „nicht so leise treten könne".
in
ihre Ergänzung in einem
dieser Beziehung
verfaßten Buche,
3) den
1537 von Luther
auf Befehl des
gesetzt, um
Concil festzustellen,
hervorgehoben,
Sie findet
dritten von Luther
Schmalkaldischen
Artikeln,
Churfürsten von Sachsen auf Aussicht genommene
damals in
für das
allgemeine
„in welchen Stücken man schlechterdings
Ist in
weichen könne".
sogenannten
der sie übrigens
der
Augsburgischen Confession
nicht
besonders
daß und worin man mit der alten Kirche einig sei,
so findet hier der Unterschied von den Gegnern seinen Ausdruck. —
Von hohem Werth ist 4) die Apologie der Augsburgischen Confession, welche Melanchthon zur Rechtfertigung derselben gegen die von den
Päpstlichen
verfaßte
„Confutatio“
gesetzt und nachmalen
eines Eremplares
noch
auf
dem Reichstage auf
weiter ausgearbeitet hatte, als
dieses Machwerkes,
man endlich
dessen Aushändigung an die
Evangelischen verweigert worden war, habhaft werden konnte.
gegen ist 5) die im Jahre 1577 mula concordiae,
auch
Da
abgefaßte „Eintrachtsformel" (for-
das „Bergische Buch"), durch welche man
den gleich nach Luthers Tode in der lutherischen Kirche ausgebroche nen maßlosen Streitigkeiten ein Ende zu setzen versuchte, von Anfang
an nur von
einem Theile der lutherischen Kirche,
will
sagen der
lutherischen Stände angenommen und ihren Predigern aufgezwungen worden.
Anderes protestirten
dagegen,
während
noch andere')
’) ES ist für den mit dem gegenwärtigen Stande der kirchlichen Dinge Be kannten interessant, daß darunter Pommern, Holstein, Anhalt, Hessen Preußen, außerdem mehrere Städte: Speier, Worms, Magdeburg, Nürnberg n. s. w. waren. 2) Der Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, Churbraudeuburg und Churpsalz.
209
Andre Glaubensbekenntnisse (allgemeine u. besondre).
Entstehung.
später ihre Zustimmung zurücknahmen, ja Friedrich II. von Däne mark sogar ihren Besitz und Verkauf bei schwerer Strafe verbot.
Zahlreicher sind
die Bekenntnisse der
reformirten
Kirche:
sofern hier fast in jedem Lande eine und selbst mehrere Confessionen
aufgestellt worden sind, ohne daß man sich deshalb gegen einander abschließen oder gar spalten wollte.
Für Deutschland kommen ins
besondere in Betracht: 1) der Heidelberger Katechismus vom Jahre 1563, der in einzelnen Gegenden auch unseres preußischen Vaterlandes
im Gebrauch ist, indeß
bei manchen Vorzügen im einzelnen dem
lutherischen Katechismus im ganzen namentlich
an Volksthümlich-
2) Das Märkische Glaubensbekenntniß oder die con-
keit nachsteht.
fessio Sigismund! (die marchica),
d. h. das Bekenntniß,
welches
der Churfürst von Brandenburg Johann Sigismund 1614 bei sei
nem Uebertritte zur reformirten Confession ablegte, um seine darüber auf's äußerste aufgebrachten') und um ihren lutherischen Glauben
besorgten Unterthanen zu beruhigen.
Das Bekenntniß ist ausgezeich
net durch seine maßvolle, überall das Praktische hervorhebende Be
handlung der streitigen Punkte,
so wie durch die entschiedene Ab
lehnung des Gedankens, seinen Glauben irgend wem heimlich oder öffentlich aufdringen zu wollen.
Der Churfürst behauptet sein Recht,
zu glauben, und bekennt seinen Glauben, ohne damit andere in ihrem Glauben beeinträchtigen oder verurtheilen zu wollens. ]) In Berlin kam es darüber zur Rebellion, in welcher der reformirte Hof prediger, um vor dem aufgereizten Volke sein Leben zu retten, über die Dächer flüchten mußte.
Die lutherischen Theologen verfehlten nicht,
dem „neuen Jero-
beam" die schrecklichsten Strafgerichte Gottes anzukündigen.
2) Der Schluß dieses trefflichen, der Gemeinde so gut wie unbekannten, auch nicht so leicht zugänglichen Bekenntnisses lautet: „Schließlichen bekennen Se. Churf. Gn. sich zu der reformirten Evangelischen Kirchen in diesen und andern
Religionspunkten, als welche sich auf Gottes Wort allein fundiren und alle mensch
liche Tradition,
so viel möglich, abgeschaffet haben.
Und obwohl Se. Churf.
Gn. zwar in ihrem Herzes! und Gewissen genugsam gesichert, daß solches Bekennt niß Gottes Wort allerdings gemäß und aufrichtig sei, auch nichts Lieberes erleben
und wünschen möchten, denn daß Gott der Herr ans lauter Gnade und Barm
herzigkeit derselben getreue Unterthanen mit dem Lichte der unfehlbaren Wahrheit beseligen und erleuchten wolle, jedoch, weit der Glaube nicht jedermanns Ding ist,
2 Thessal. 3, 2, lassen,
sondern
ein Werk und
Geschenk Gottes, und
nieinand
zuge
über die Gewissen zu herrschen oder, wie der Apostel Paulus redet (2 Kor.
Eltester, Materialien. 2. Auflage.
14
210
2. Hauptstück.
Die unirte Kirche,
Apostolisches Glaubensbekeimtniß.
der
wir angehören,
erkennt alle diese
Schriften als solche an, in denen evangelische Lehre enthalten, und
die Grundsätze der Reformation und der reformatorischen Kirche mit mehrerer oder minderer Klarheit ausgesprochen seien, ohne sich an eine derselben ausschließlich zu binden.
Dabei hält sie unver-
rückt an dem in diesen Schriften selbst wieder und wieder ausge sprochenen Grundsätze fest:
daß „alle Glaubenssachen einzig und allein auf das Wort
Gottes müssen gegründet sein, und Menschenschriften nicht als sie mit dem Worte
Gottes
übereinstimmen,
sollen und können angenommen werden."
(Confess. Sigis-
weiter,
mundi, III.) und dem anderen: daß das Verständniß der Schrift ein Werk der fortschreitenden
Schriftauslegung und frei sei,
und es
eine untrügliche
Schriftauslegung nicht gebe. —
Die römische Kirche hat ihre Lehre im Gegensatz gegen die evangelische Kirche in den Beschlüssen und Dekreten der Synode zu Trient (Concilium Tridentinum 1545—1563) und in dem catechismus Romanus niedergelegt.
Aus diesen und nicht aus den Ausführungen
I, 24), ein Herr sein zu wollen über den Glauben, welches allein beut Herzens kundiger zustehet, — als wollen Se. Churs. Gn. auch zu diesem Bekenntnis; keinen Unterthanen öffentlich oder heimlich wider seinen Willen zwingen, sondern den Curs und Lauf der Wahrheit Gott allen: befehlen, weil es nicht an Nennen und Lailfen, sondern an Gottes seinem Erbarrnen gelegen; verhoffen aber gänzlich, begehren auch in Gnaden und befehlen hiermit ernstlich, daß Unterthanen und andere, so entweder die streitige Religionssache nicht verstehen oder noch zur Zeit nicht genug sam darin informiret sein, des Lästerns, Schmähens, Diffamirens wider die Orthodoxos und Reformatos, die man aus lauterm Haß und Neid für Cal vin isch mit vollem Munde ausrufen thut, gleichwie vor Zeiten Tertullianus in Apologetico von den Christen geschrieben: oditur in innocuis innocuum nomen (man haßt an den Unschuldigen den unschuldigen Namen), sich gänzlich enthalten; mit den Schwachgläubigen, so sie vermeinen, stark zu sein, Geduld tragen nach der Vermahnung des Apostels Pauli (Röm. 14, 1) uud, was sie selbst nicht ge lesen, noch bis anhero genugsam verstanden, nicht bald verketzern oder verdannnen; sondern in der Schrift mit Fleiß forschen, das Urtheil heimgeben dem, der da recht richtet, welcher auch wird an's Licht bringen, was im Finstern verborgen ist, und den Rath der Herzen offenbaren; alsdann wird einem jeglichen von Gott Löb widerfahren rc. 1 Korinther 4, 5." —
Was heißt: „Ich glaube" ?
211
der einzelnen katholischen Schriftsteller, welche, um Protestanten zu
gewinnen, den Unterschied von der evangelischen Lehre und die gegen sie geschleuderten Bannsprüchc öfter wohl abschwächen und verdunkeln, ist zu sehen, was römische Kirchenlchre ist. —
Der Erste Artikel. I.
Ich glaube.
Das Wort Glaube hat in der deutschen Sprache viele sehr weit
von
einander abliegende Bedeutungen, die sorgfältig unterschieden
werden müssen, wenn nicht die äußerste Verwirrung entstehen soll. 1) Das Fürwahrhalten oder der historische Glaube: „ich glaube
es" oder „ich glaube, daß —".
Der Name rührt davon her, daß
der Gegenstand dieses Führwahrhaltens überwiegend Geschichte, Hi storie, gleichviel, ob heilige oder profane, ist. sonstige
Mittheilung
Meinung,
oder Ueberlieferung
Ansicht Objekt des
historischen Glaubens sein. — Es
kann nicht stark genug betont werden,
nicht
der Heilsglaube sei,
unserem
Doch kann auch jede
einer Thatsache, Lehre,
von
daß dieses Fürwahrhalten
welchem in der Schrift und
Glaubensbekenntnisse die Rede ist.
in
Und wenn einer alle
Geschichten und Lehren der Schrift Buchstabe für Buchstabe glaubt,
und dazu noch alles, was die Kirche lehrt, annimmt und daran so fest hält, daß er sich — wie man sagt — darauf todtschlagen läßt, ja darum todtschlägt, so ist er deshalb noch kein Christ oder über
haupt ein frommer Mensch, geschweige wird er selig; sondern kann dabei noch
der unwürdigste,
jedes
wahren Glaubens
entbehrende
Mensch sein, nach dem Worte der Schrift: „die Teufel glauben auch und zittern" (Jak. 2, 19).
2) Der moralische Glaube oder das
Vertrauen: „ich glaube dir".
Wenn niemand
an Gott glauben
kann, ohne daß er von dem Dasein Gottes überzeugt ist und irgend
welche Vorstellungen von ihm hat (Ebr. 11, 6) *), so vermag sich nie
mand Gott zu ergeben, ohne sich Gutes von ihm zu versehen, ihm
9 „Denn, wer zn Gott kommen will, der muß glauben, daß er sei nnd denen, die ihn suchen, ein Vergelter sein werde."
2. Hairptstück.
212 zu trauen.
Apostolisches Glaubensbekenntniß.
Das Vertrauen ist also ein wesentliches Stück der Fröm
migkeit: wie es auch in der Erklärung zum ersten Gebote heißt: wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen! Aber
darum macht es nicht die Frömmigkeit aus, noch entscheidet es über sie; vielmehr kann mit dem größten Vertrauen noch die größte Gott losigkeit verbunden sein: wie das Beispiel jener Banditen beweist,
die, wenn sie auf Raub ausziehen, in die Kirche gehen und eine
Messe hören, und nun fest daraus vertrauen, ihr Vorhaben werde ihnen gelingen; oder jener andern, die sich auf den Bund verlassen,
den sie mit dem Teufel gemacht (vergl. 1 Kor. 13, 2)').
3) Der
religiöse oder fromme Glaube: „ich glaube an Gott" oder, wie es auch heißt: „ich glaube in Gott", d. h. „ich glaube mich in Gott hinein": ist die ungetheilte Hingebung des ganzen Menschen an Gott, an Christus oder, in wem und worin uns sonst Gott erscheint.
„Ich
glaube an Gott" heißt nicht bloß: ich bin überzeugt, ich halte für wahr, daß es einen Gott giebt, und daß er ein solcher, solcher ist;
auch nicht bloß: ich verlasse mich auf ihn: sondern es heißt: ich lebe und webe in Gott (Apostelgesch. 17, 28); meine Seele verlangt nach ihm (Ps. 42, 2); er ist meine Wonne, mein Trost in allem
Leide');
auf ihn werfe ich alle meine Sorgen (1 Petri 5, 6. 7);
ihm unterwerfe ich
alle meine Wünsche (Matth. 26, 39).
Er ist
mein Vater, ich fühle mich und gehorche ihm als sein Kind (Matth.
6,9:
„Unser Vater" —; Römer 8, 14. — 1 Samuel 3, 10). —
Eben so heißt: „an I. Christum glauben"
nicht bloß als wahr
annehmen, daß I. Christus gelebt hat und der Sohn Gottes gewesen ist und dies und das gethan und gelehrt hat; auch nicht bloß, sich
auf ihn oder, wie man es auch sonst ausdrückt, auf sein Verdienst verlassen — es giebt ein sehr unchristliches und unreligiöses sich
Verlaffen auf Christum —: sondern Herz und Sinn dem Einflüsse
Christi zur Heiligung und Beseligung hingeben, sich in die Fülle
der Gnade und Wahrheit, die in ihm war, sehnend und liebend ver
senken, sein Wort, sein Thun, ihn, in uns aufnehmen und zu unserm ') „Und wenn ich Glauben hätte, daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts." 8) Ps. 73,26: „Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachten, bist du doch meines Herzens Trost und mein Theil."
Was heißt: „Ich glaube"?
213
Eigenthum machen, oder, wie er es bezeichnend ausdrückt, ihn essen
(Joh. 6, 53—57) und in solcher Weise in gläubiger Nachfolge so mit ihm zusammenwachsen, daß er in uns und wir in ihm sind
(Joh. 17, 21—23, vergl. Römer 6, 3—8), und wir mit dem Apostel sprechen können: „So lebe nun nicht ich, sondern Christus lebt in
mir; denn, was ich lebe im Fleische, d. h. was von meinem alten Menschen und dessen Dichten und Trachten noch übrig ist, das lebe
ich in dem Glauben (der immer erneuten Hingebung) an den Sohn
Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben" (Galat. 2, 20). — Endlich ist auch „an den h. Geist glauben" etwas
anderes und mehreres als:
die Geschichte von der Ausgießung des
h. Geistes wiffen; desgleichen die Definitionen und Begriffsbestim
mungen kennen und annehmen, die man über ihn aufgestellt hat, und die sich von Geschlecht zu Geschlecht oft ganz unverstanden fort
pflanzen: es ist: seinen Hauch spüren, sein Zeugniß in uns ver
nehmen, von seiner Kraft bewegt und getrieben werden (Röm. 8,
14—16). der
Wenn es möglich ist und leider oft genug vorkommt, daß
historische Glaube, das festeste Fürwahrhalten,
die korrekteste
Vorstellung ohne jeden Einfluß auf Herz und Gesinnung bleiben;
wenn das sich Verlassen auf Gott, auf Gnade, auf Christus unter Umständen sogar eine entsittlichende Einwirkung ausüben kann: so ist dagegen der fromme Glaube immer mit dem Leben verbunden,
und Grund und Quelle seiner stets wachsenden Reinigung und Hei ligung.
Denn, wie Luther sagt, ist er nichts anderes, als das rechte
wahrhafte Leben in Gott selbst (2. 2797), oder, wie Jesaias (11, 3)
es ausdrückt: „das Riechen (d. i. das Athmen) in der Furcht des Herrn", ein nie rastendes „kräftig und geschäftig Ding", Hingebung, Gesinnung, Sache des Herzens und Gewissens und darum nicht nur
weit über den historischen Glauben, über alle Glaubensmeinungen
und Glaubensvorstellungen erhaben, sondern auch wesentlich von ihnen, die so oft nur Sache des Kopfes sind, verschieden: so daß er
nie und in keiner Weise nach ihnen gemessen werden kann. — II. was
Diesen Unterschied muß man recht festhaltcn, wenn man,
die Schrift über den Glauben sagt,
insbesondere die Aus
führungen des Apostels Paulus und die auf beides gegründete Lehre unserer Kirche:
2. Hauptstück.
214
Apostolisches Glaubensbekenntnis;.
„daß der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben
und nicht durch die Werke;" während die römische Kirche „Glauben und Werke" fordert,
verstehen will. — Bekanntlich macht die Schrift den Glauben zur
Bedingung des Heils und der Seligkeit.
„Glaube an den Herrn
Jesum, so wirst du und dein Haus selig" (Apostg. 16, 31).
Das
wäre schlechthin unbegreiflich, wenn sie darunter nur das Fürwahr halten, die Annahme gewisser, ob auch noch so richtiger Vorstellungen
über Gott und Christum verstände; es leuchtet aber sofort ein, sobald man mit ihr an die Hinwendung zu Christo und die dadurch be
dingte und unauflöslich damit verbundene Herzens- und Lebensstellung
denkt. — Die gemeinsame Lehre der Schrift erhält bei Paulus ihre schärfere Ausprägung und eigenthümliche Richtung durch den Gegen satz gegen die pharisäische Partei in der ersten Kirche, die zwar eben
falls Christum angenommen hatte und in Ehrlichkeit an ihn glaubte, trotzdem aber den Glauben an Christnm — das Christenthum — für sich allein nicht für genügend zum Heile erachtete, sondern neben
demselben „Beschneidung" d. h. Verpflichtung zur Beobachtung des jüdischen Gesetzes forderte; und letztere insbesondere auch den sich
zum Christenthum bekehrenden Heiden, Griechen und Römern, auf
erlegen wollte. Da kommt es dem Apostel darauf an, zu zeigen: 1) Daß, welche Stellung auch das „Gesetz" habe (und es habe allerdings eine große; es sei der „Zuchtmeister" auf Christum ge
wesen: Galat. 3, 24), es doch nicht im Stande gewesen sei, gerecht zu machen; daß vielmehr auch die Juden trotz des Gesetzes vor dem
Gesetze als Sünder erfunden würden, die gleich den Heiden der Gnade und Vergebung der Sünde, welche Gott in Christo darbiete,
bedürften und nur durch den Glauben an diesen gerecht und selig werden könnten.
Wie denn sie selbst, so viele von ihnen gläubig
geworden, bezeugen müßten, daß sie erst im Glauben Frieden ge
sunden. *) *) Römer c. 2 und 3; besonders 3, 23. 24.
„Demi hierin, (d. h. in diesem
Stücke) ist kein Unterschied; sie sind (Silbe und Grieche) allzumal Sünder, und
ermangeln des Ruhmes, den sie an Gott haben sollen: und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Chr. Sesum geschehen ist.
Ferner: Galat. 2, 15. 16. „Wiewohl wir von Natur Suden sind, und nicht Sünder
Rechtfertigung durch den Glauben.
215
2) Wie der Mensch erst in Christo oder, was dasselbe ist, in dem Glauben an ihn zu einem rechten und gottwohlgefälligen wird
und zum Frieden gelangt, so thut es das „Christenthum" auch ganz, ohne daß zu demselben noch ein anderes hinzuzutreten brauchte. „Ist einer in Christo, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen: siehe, alles ist neu geworden" (2 Kor. 5, 17).
Was er auch vorher
gewesen, in der Hingebung an Christum ist er in Verbindung mit der Lebensquelle gesetzt, aus welcher ihm alles zufließt, dessen er zum Heile bedarf, und hat den Lebenskeim in sich ausgenommen, aus
welchem sich alles entwickelt, was er soll. Darum solle man nicht den Gläubigen aus den Heiden außer dem Glauben noch das Gesetz,
das schon die Juden nicht habe gerecht machen können, mit seinen
nur für das jüdische Volk bestimmten, meist rein äußerlichen Satzun gen auflegen, sondern sie der ihrer Eigenthümlichkeit entsprechenden Entwicklung des Glaubens überlassen. Andernfalls zerstöre man
das Werk Christi.
Denn in dem Maße, in welchem man den Heiden
diese Satzungen aufdränge, leite man sie an, auf dieselben Gewicht
zu legen, sie als die Hauptsache anzusehen, sich aus ihrer Erfüllung
ein Verdienst zu machen, und darüber das zu vergessen, worauf es
ankomme, die rechte Stellung des Herzens zu Gott, die Hingebung und das Vertrauen auf Gnade.
Darum, damit nicht Christus ver
geblich geglaubt werde, darum halten wir daran, „daß der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben, ohne des Gesetzes Werke" (Nöm. 3, 28),') d. h. ohne daß aus den Heiden, so sind doch — weil wir wissen, daß ein Mensch aus des Ge setzes Werken nicht gerecht wird, sondern durch den Glauben an I. Christinn.—
auch wir an Christum I. gläubig geworden, auf daß wir gerechtfertigt würden aus Glauben an Christum und nicht aus des Gesetzes Werken." — Endlich Nö-
mer 7, 7 f., wo der Apostel
aus
eigenster
Erfahrung
den vernichtenden Kampf
schildert, welchen der eifrige Jude, der seinen Frieden in der Beobachtung des Gesetzes suchte, zu kämpfen hatte, und zugleich mittelbar auf schlechthin allgemein
gültige Weise ausführt, daß kein Gesetz im Stande sei, den Menschen gerecht zu machen; weil, je reiner und je geistiger es sei, um so mehr heraustrete: „Das Gesetz ist wohl heilig, gerecht und gut; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde
verkauft" v. 12—14.
J) So überseht bekanntlich Luther, der Sache nach richtig, obwohl dem Buch staben nach durch die Hinzufügung des von dem Sinne geforderten Wortes
„allein" abweichend.
Es ist das eine, und zwar wohl die hauptsächlichste unter
216
2. Hauptstück.
Apostolisches Glaubensbekenntnis;.
er neben dem Glauben noch die Satzungen, das Judenthum,
aus sich zu nehmen brauchte. Aehnlich war es in der mittelalterlichen Kirche zur Zeit der Refor mation.
Auch da war kein Christenthum anerkannt, als in der Un
terwerfung unter die kirchliche Satzung; auch da wurden die Men schen wieder angewiesen, im Gehorsam gegen den Priester die Selig keit durch Werke, „Werke des Gesetzes" zu verdienen.
Luther her bekannt, bis zu welchem Grade
der
Es ist von
Verzweiflung an
ihrem Heile ernste Menschen durch diese Lehre getrieben wurden,
während die oberflächlichen und leichtsinnigen sich in falsche Sicher heit wiegten, sich mit allerhand Äußerlichkeiten und Nichtsnutzig keiten und schließlich mit — dem Ablasse abfanden: bis Luther das
Joch dieser Satzung brach und die Menschen zur wahren Sittlichkeit, zur Freiheit und zum Frieden zurückführte durch die erneute Ver
kündigung des apostolischen Satzes, daß der Mensch gerecht werde
durch Glauben, den Glauben allein ohne des Gesetzes Werke.
Man
kann die Bedeutung dieses Satzes für jene Zeit kurz dahin zusammen fassen: daß der Mensch damit von aller priesterlichen Vermittlung auf sich, von allem äußerlichen Wesen auf das Innere, von sich und seinem Thun ganz auf die Gnade des barmherzigen Gottes gewiesen
worden sei. — Man hat römischerseits der Lehre Luthers und der evangelischen Kirche trotz der wiederholten Verwahrung beider schuld
gegeben, daß sie die Werke verwerfe.
Das ist nicht wahr.
Die Lehre
von der „Gerechtigkeit allein aus dem Glauben" fordert wohl noch
mehr, als Werke: die unbedingte Hingebung des ganzen Menschen an Gott, und dazu die Demuth, die sich selbst nicht mit dieser Hin gebung, geschweige mit dem Wenigen und Unvollkommenen, was sie gethan hat, den Werken, etwas weiß (Lucas 17, 10).
Die evan
gelische Lehre verwirft nur, wie den todten Glauben, so die todten Werke, und dazu den Hochmuth auf sie, das „Verdienst der Werke". — Man hält ihr vor, nach unserer Lehre werde der Mensch selig, er möge
thun, was er wolle: wenn er nur glaube! Lästerung.
Das ist Unverstand oder
Wenn einer glaubt, so thut er nicht, was er will, sondern,
was ihn Gott heißt, und wozu ihn Glaube, Liebe, Dankbarkeit den „Verfälschungen", welche bekanntlich die römische Kirche der lutherischen Bibel
übersetzung Schuld giebt.
Rechtfertigung durch den Glauben.
217
Glaube und Werke.
treiben. — Man glaubt Wunder was gesagt zu haben, wenn man höhnt: demnach könne jeder Spitzbube selig werden, wenn er nur
glaubt.
Das ist wahr; nur in einem andern Sinn, als Dumm
heit und Bosheit es meinen: und wir mögen Gott danken, daß es
wahr ist.
Denn wo nicht auch der allereleudeste Mensch, der Schächer
am Kreuze, noch Gnade finden könnte, wer bürgt uns dafür, daß wir sie finden?
So kommt es allein auf das: „wenn einer nur
glaubt" an: daß mit diesem scheinbar Unbedeutendsten und Gering
sten das Größte und Allumfassendste gemeint, und — wo es sich
vollzieht — geschehen ist, was überhaupt geschehen kann, daß der Mensch sich von der Sünde zu Gott bekehrt, „von ganzem Herzen,
ganzer Seele, ganzem Gemüth und aus allen seinen Kräften";
nicht bloß äußerlich mit dem Munde und etlichen sogenannten guten Werken. III.
Bei alle dem könnte man fragen, ob nicht wegen dieses
Mißverständnisses, welches die evangelische Lehre doch nicht bloß bei
Böswilligen, sondern auch bei minder Unterrichteten gefunden hat und noch findet — ob es darum nicht zweckmäßiger sei, statt des in unsern Tagen nicht ohne weiteres verständlichen Ausdrucks unserer Kirche den leichteren und faßlicheren der römischen Kirche, der ja
im Grunde dasselbe meine, anzunehmen. neinen.
Das ist entschieden zu ver
Denn nicht allein, daß sich damit gleich wieder einerseits
der Hochmuth auf Werke, andererseits das Verzagen am Heil ein schleichen würden, welche erfahrungsmäßig überall eintreten, wo der Mensch statt allein auf Gott und die göttliche Gnade auf seine Werke
gewiesen wird:
so wird dadurch auch
überhaupt verdunkelt
und
das Verständniß der Sache
der Begriff
des
Glaubens
verdorben.
Denn was ist denn das für ein Glaube, neben dem man die Werke
erst noch besonders fordern und ausdrücklich erwähnen muß?
Der
fromme Glaube kann es nicht sein: denn in dessen Natur liegt das Werke Wirken eben so von selbst, wie es in dem Flusse liegt, daß er fließt, in dem Regen, daß er näßt, in der Tugend, daß sie taugt. So kann es nur der historische Glaube, das Fürwahrhalten, oder
der moralische Glaube d. t. das oft eben so unreligiöse wie unmo ralische Vertrauen sein, von denen beiden man allerdings die Werke
trennen kann.
Und was sind denn das für Werke,
die zu
dem
218
2. Hauptstück. Apostolisches Glaubensbekenntnis;.
Glauben d. i. der Hingebung des Herzens noch erst hinzukommen müssen, offenbar, weil sie nicht schon in ihr liegen? Die natürlichen und nothwendigen Aeußerungen des auf Gott gerichteten Herzens
können es nicht sein:
sondern entweder willkürlich erdachte und ge
botene Satzungen, oder auch ein allerdings durch die Sache gefor
dertes, aber von dem Zusammenhang mit dem Herzen gelöstes Thun,
der äußerliche Werkekram.
Da haben wir also eine Formel, welche
der verkommensten Praxis in der römischen, leider auch in manchen Kreisen der evangelischen Kirche entspricht.
Glaube und Werke,
knechtische Annahme dessen, was die Kirche glaubt, dazu pünktliche Ausübung dessen, was die Kirche empfiehlt: Fasten, Beten, Almosen geben namentlich an Geistliche und Klöster, Peterspfennige — äußere und innere Mission, Stundenhalten und, was dergleichen mehr ist: und dort ist der „Heilige", hier der „Gläubige" fertig. Da haben wir allen Grund an der evangelischen Fassung der Lehre festzuhalten. —
Wir sind dazu um so mehr aufgefordert, je häufiger auch sonst
die Verwechslung, mindestens die Vermischung des frommen Glaubens mit dem historischen Glauben, dem Fürwahrhalten von Thatsachen, der Annahme von Glaubenslehren, Glaubensmeinungen, Glaubensvor
stellungen trotz aller Verwahrungen dagegen immer wiederkehrt; und je größer andererseits die Verwirrung und der Schaden sind, welche diese Verwechslung anrichtet. Wie viele giebt's, die nur aus diesem Grunde zum lieblosen Verurtheilen anderer als Ungläubiger geführt werden! Wie viele andere martern sich und werden, weil sie trotz aller Qual nicht zu der für unentbehrlich gehaltenen Gläubigkeit gelangen
können, an ihrer Seligkeit irre! Da gilt es zwiefach zu „halten, daß der Mensch gerecht werde allein durch den Glauben ohne des Gesetzes Werke", d. h. ohne die Annahme irgend einer vorgeschrie
benen Lehre, das Hinzukommen der kirchlichen Rechtgläubigkeit: und
in diesem Glauben sich zu der freudigen Gewißheit zu erheben, daß, wenn der Mensch „glaubt", da ihm der Barmherzige ebenso gewiß auch seine Irrthümer und falschen Vorstellungen — wenn sie falsch sind — vergeben wird, wie er ihm seine Sünde nicht mehr anrechnen will.
„Der Glaube wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet" (Römer 4, 3). Zum Schluß sei noch Folgendes bemerkt in Beziehung auf den vermeintlichen Widerspruch in dieser Hinsicht zwischen Paulus und
Rechtfertigung durch den Glauben.
Glaube eine feste Zuversicht.
219
Jakobus (2, 14—26), auf welchen sich die römische Kirche beruft
zum Beweise, daß sie recht lehre.
Aber man lese nur Jak. 2, 14,
wie es dem ginne gemäß ist: „Was hilft's, l. Br., so jemand sagt, er habe den Glauben, und hat doch die Werke nicht? Kanu auch der Glaube selig machen?"
Nein, der kann es nicht! einfach darum
nicht, weil es kein Glaube ist, sondern jenes „todte" Fürwahrhalten, welches „auch die Teufel haben und zittern" (v. 17. 19). Die Sache ist die: Paulus und Jakobus fordern beide Herzensfrömmig
keit.
Nur die Richtung ist verschieden, in welcher sie diese Forderung Jakobus streitet gegen das sich Steifen auf die Erkennt
ausführen.
niß, die „Gläubigkeit", die sich Glauben nennt; Paulus gegen die falsche Gesetzlichkeit, den Werkekram: daher die verschiedene Darstel-
lnngsweise.
IV.
Neben den bisher zur Sprache gekommenen drei Bedeu
tungen des Wortes Glaube finden wir in der Umgangssprache noch einen Gebrauch desselben, der mit jenen nicht nur nichts gemein hat, sondern sogar im Widersprüche mit ihnen steht: Glaube gleich
Vermuthung.
Es versteht sich von selbst, daß auch, wo wir nur
sagen: ich glaube dir, oder: ich glaube das, wir damit mehr, als eine Vermuthung, nämlich: eine feste Zuversicht ausdrücken wollen.
Geschweige wollen wir, wo wir sprechen „ich glaube an Gott, an Christum", nicht sagen: ich halte es für möglich, es kann sein, daß ein Gott ist; aber ebenso gut ist auch das Gegentheil möglich: ich habe darüber keine Gewißheit.
Vielmehr gilt hier im höchsten Sinne:
„Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hoffet, und nicht Zweifeln an dem, das man nicht sieht" (Ebr. 11, 1). — Es fragt sich nur, wie in aller Welt dasselbe Wort, welches die höchste Zuversicht, die festeste Gewißheit, auf welche man wie ans Felsen baut, ausdrückt, dazu komme, zur Bezeichnung des geraden
Gegentheils, der größten Ungewißheit, verwendet zu werden.
Das
hängt mit dem Sinnlichen in uns zusammen und mit dem Ueber-
gewichte, welches dasselbe hie und da gewinnt.
Der Glaube nämlich
in allen jenen drei Bedeutungen, wie weit sie auseinander liegen, hat doch das gemein, daß er nicht'auf einem sinnlich Greifbaren, sondern
auf einem Uebersinnlichen, Geistigen beruht.
historische Glaube ist ja auf Vertrauen begründet.
Selbst der Da kann es
220
2. Hmlptstück.
Apostolisches Glaubensbekenntniß.
nicht fehlen, daß für alle diejenigen, welchen das Sinnenfällige und Handfeste, wo nicht als das allein Feste, so doch als das Festere, jedenfalls Reellere
erscheint,
das gejammte Gebiet des Glaubens,
als welches man eben nicht mit Händen greifen, nicht leiblich ver
werthen, nicht essen und trinken kann, den Charakter zunächst der
minderen Gewißheit, weiterhin des Mangels an Gewißheit dessen annimmt, was allerdings Wünschenswerth, beziehungsweise zu fürchten
wäre, wenn es so wäre; in Hinsicht aus welches man jedoch zu keiner
Sicherheit gelangen könne, ob es so ist. — Das führt auf eine
weitere Betrachtung.
„ich glaube", so wollen wir also ausd ck en,
wir
der Sache
Aber dasselbe sagen wir doch auch, wo wir sprechen:
gewiß sind.
„ich
Wenn wir sagen:
daß
weiß".
Ist beides dasselbe?
Offenbar nicht.
Denn ob es
gleich Fälle giebt, in denen wir beide Ausdrücke nahezu in derselben
Bedeutung brauchen — wo es nämlich nur daraus ankommt, überhaupt unser Gewißsein zu betonen, gleichviel, woher dasselbe stammt1): so
weiß doch
jeder, daß das bei weitem in den meisten Fällen sich
nicht so verhält.
Da haben wir also ein zweifaches Gewißsein: das
des Glaubens und das des Wissens.
Welches ist das Gewissere?
Die meisten werden geneigt sein, dem Wissen in dieser Beziehung den Vorzug zu geben und den Glauben für das minder Gewisse zu halten: wie sich das auch in dem gang und gäben Worte aus
drückt: Dies weiß ich, jenes dagegen kann man nur glauben.
Das
ist eine höchst verhängnißvolle Redensart, die schon manchen über
haupt an dem Glauben irre gemacht und ihn dahin gebracht hat, zumal, wo ein Konflikt — ein wirklicher oder auch nur ein schein barer — zwischen seinem Glauben und seinem Wissen eintrat, den
Glauben zurückzustellen.
Darüber muß man bis zu einem gewissen
Grade klar werden. —
Das Verhältniß zwischen Glauben und Wissen, Religion und Wissenschaft ist ein noch nicht zu allseitiger Befriedigung ausgetra’) Z. B. „ich glaube dir" und „ich weiß", daß du die Wahrheit sagst. Ich glaube, daß Christus mich erlöset hgt, und — ich weiß, daß mein Erlöser lebt.
„Wir wissen, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen" (Röm. 3,28). „Wir wissen, so unser irdisch Haus dieser Hütte abgebrochen wird, daß wir einen Bau haben, von Gott gebaut rc." (2 Kor. 5, 1).
Glaube und Wissen.
221
genes Problem, und zwar eins der höchsten, welches das menschliche Denken zu lösen hat.
Es versteht sich von selbst, daß wir dasselbe
nicht hier werden ausmachen wollen.
Aber Folgendes läßt sich auch
für das schlichtere Verständniß seststellen:
1) Glaube und Wissen haben gleiche Gewißheit. Was ich glaube,
das ist mir damit gewiß: ist es das nicht, so glaube ich nicht; son dern vermuthe und zweifle.
— (Ebr. 11, 1; Jakob. 1, 6.) — An
dererseits ist aber auch die Gewißheit des Wissens nicht geringer,
als die des Glaubens. 2) Man sagt nicht bloß: das kann ich nur glauben, sondern man muß auch anerkennen, daß es viele Gegenstände giebt, die man nur wissen kann.
Z. B. ein mathematischer, überhaupt ein wissen
schaftlicher Satz.
Ja zu dessen Verständniß wird kein Glaube, auch
nicht der frommste, sondern nur die Wissenschaft führen.
Ist darum
die Mathematik ein ungewisses Gebiet? 3) Glaube und Wissen hangen mit einander innig zusammen.
All unser Wissen geht zuletzt auf eine unmittelbare Gewißheit, auf Glauben, zurück und führt in höchster Potenz wieder zu einer solchen,
dem Schauen. Vollends alles Wissen von Religion setzt religiöse Erfahrung voraus. — Der religiöse Glaube, wenn er irgend leben dig ist, treibt zum Nachdenken über sich und über Gott, will von Gott wissen, ist
stets von Wissen begleitet.
Namentlich hat das
Christenthum Religionswissenschaft erzeugt.
4) Glaube und Wissen sind zwei verschiedene Funktionen, die
mit und aufeinander wirken, sich gegenseitig controliren und ergän zen, dabei aber nie eine die andere ersetzen können. — Der Glaube erfaßt die Welt, sofern sie von Gott abhängig ist, von ihm erfüllt, bewegt und regiert wird, Gott in der Welt: das Wissen faßt die Welt in ihrer Erscheinung, erkennt die in ihr wirkenden Kräfte und Gesetze. — Der Glaube ergreift Gott mit dem Gemüthe, naht ihm
in Andacht,7giebt sich ihm hin: das Wissen denkt ihn und sucht ihn zu begreifen. — Der Glaube wurzelt im Gewissen und ist wesent
lich ein Akt des Willens, Zuwendung: das Wissen liegt auf der er kennenden Seite des menschlichen Geistes. — Darum vermögeu sie sich gegenseitig anzuregen, zu läutern, zu berichtigen; sind aber schlechterdings außer Stande,
eins für das andere einzutreten und
2. Hauptstück. Apostolisches Glaubensbekenntnis;.
222
sich zu ersetzen.
Eine Vergleichung wird das am besten klar machen.
Zwar trifft sie, wie jede Vergleichung, nicht ganz zu: indeß dürfte
sie dazu dienen, die Sache anschaulich zu machen.
Glaube und Wissen
verhalten sich ähnlich, wie Sehen und Hören, Auge und Ohr, in
ihrer beiderseitigen Unentbehrlichkeit und ihren gegenseitigen Bezügen und Ergänzungen, andererseits aber auch in ihrer Besonderheit und relativen Selbstherrlichkeit.
Beide erfaffen
die Außenwelt, jedoch
jedes von einer anderen Seite: und zwar so,
daß diejenige Seite,
die sich dem einen von ihnen erschließt, nur von diesem und nicht
auch von dem andern erfaßt wird.
Das Auge, welches sieht, hört
nicht: und wieder das Ohr sieht nicht. oder der andere dieser Sinne fehlt,
Wem deshalb
der eine
dem ist damit das Gebiet,
welches eben nur mittelst seiner aufgefaßt werden kann, verschlossen.
Kein Blindgeborener wird je eine Vorstellung von Licht und Farbe, kein Taubgeborener die Vorstellung des Tones erlangen, und wenn jener das feinste Gehör, dieser das schärfste Auge besäße und dazu
alle die Hülfsmittel anwendete, welche die Kunst hier oder dort ihm darbietet.
Ebenso ist klar, daß jeder Sinn nur auf seinem Gebiete
kompetent ist, und
daß auch, wo beide beisammen sind, und der
Mensch mittelst ihrer Zusammenwirkung den Gegenstand vollständiger, als es bei einseitiger Betrachtung der Fall ist, erfaßt, dennoch jeder
Sinn nur über seine Seite zu urtheilen vermag, in diese aber auch keinen Einspruch leidet, sondern er allein entscheidet. Dieses Ver hältniß übersieht man so oft in Beziehung auf die geistigen Funk tionen.
Es ist eine bekannte Geschichte, und wird von den „Natur
wissenschaftlern" unserer Tage häufig als Bravour erzählt, wie ein nam
hafter Naturforscher') erklärt habe: er habe nun aller Himmel Himmel durchforscht und überall Gesetz und Ordnung, nirgends aber Gott gefun den ! Ganz recht: der Mann hatte nach Gott statt mit dem Gewissen, mit
dem allein er zu finden ist, mit dem Fernrohre geforscht. Ja durch die Nichtbeachtung dieser einfachen Wahrheit werden vielfach selbst solche an ihrem Glauben irre,
die wohl Glauben haben, sich nach
Gott sehnen, ohne ihn nicht leben können: die aber meinen, dem jenigen, was sie im Glauben in sich tragen, nicht eher trauen und ') Laplcice.
Glaube und Wissen.
223
es für wahr annehmen zu dürfen, als bis ihnen das int Glauben Gewisse „bewiesen", das Dasein, Walten, Regieren Gottes, wie ein Satz der Mathematik, vordemonstrirt sein werde. Ist das nicht die selbe Thorheit, als wenn einer seinem Gesichtseindrucke, der ihm sagt: das ist roth, das ist blau, nicht glauben will, als bis ihm die Rothe oder Bläue in Musik gesetzt, auf dem Klavier vorgespielt wird. Oder, um ein geistigeres Beispiel zu wählen, als wenn jemand verlangte, daß ihm die Schönheit eines Gedichts, eines Kunstwerks in eine algebraische Formel gebracht, oder, daß sie ihm noch „begreif licher" mit der Waage vorgewogen werde? Aber Gott, Seele, Glaube werden geleugnet und für Einbildungen, wenn es hoch kommt, für „Vermuthungen" erklärt, weil man sie nicht mit der Lupe und dem Sezirmesser aufzufinden vermag. 5) Daraus ergiebt sich von selbst, was wir zu thun haben, wenn Glaube und Wissen in Konflikt gerathen. Für die meisten in unseren Tagen versteht es sich von selbst, daß in solchen Fällen der Glaube dem Wissen zu weichen habe. Als wenn nur der Glaube fehlgreifen könnte, die Wissenschaft, „die Bildung" unserer „Gebil deten" dagegen unfehlbar wäre. Es hat ja unzweifelhaft vielen Aberglauben gegeben und giebt ihn noch, welcher vor der fortschrei tenden Welt- und Gotteserkenntniß theils schon gewichen ist, theils noch wird zu weichen haben. Andererseits giebt es aber auch keine Wahrheit, welche nicht von der „Wissenschaft" schon bestritten, keinen noch so widersinnigen Irrthum, der nicht in irgendwelchem „philo sophischen" Systeme schon behauptet worden wäre! Da werden wir also in jedem solchen Falle zu prüfen, und, je nachdem die Prüfung ausfällt, zu entscheiden oder (denn auch das kann vorkommen, und wird gerade für den Menschen, der seinen Glauben, wie sein Denken, gleichmäßig im Gewissen trägt, in vielen Fällen das allein Mögliche sein) den Streit als einen zur Zeit noch nicht auszumachenden zu erkennen und seine Lösung künftigen Zeiten vorzubehalten haben. Kein Verständiger zweifelt, daß Galilei seiner Zeit Recht hatte, als er einem sich mißverstehenden und übergreifenden Glauben gegenüber bei seinem Wissen beharrte: „Und sie bewegt sich doch." Kein geistig gesund orgauisirter Mensch wird anstehen, aus seinem Glauben heraus jede Wissenschaft einfach für eine Narrheit zu erklären, die ihm be-
2. Hauptstück. Apostolisches Glaubensbekeiiiitmjz.
224
weisen will, es sei kein Gott.
Dagegen z. B. über das Alter der Welt
und des menschlichen Geschlechts und über ähnliche Fragen, sei es
aus seinem Glauben, sei es aus dem dermaligen Stande des Wissens zu entscheiden, wird jeder Besonnene Anstand nehmen. V. sondern
Warum heißt es nicht bloß in dem Glaubensbekenntnisse, auch
Erklärung:
in der lutherischen
„ich
glaube — daß
mich Gott geschaffen — Jesus mich erlöset hat — auf daß ich in
seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene" u. s, w.?
Ist unser
Glaube nicht etwas Gemeinsames? hat er keine Allgemeingültigkeit? ist er ein bloß Subjectives?
Der Glaube macht ebenso auf All
gemeingültigkeit, wie auf Gemeinsamkeit, Anspruch.
Es ist unmög
lich, zu glauben, was man nicht als ein für alle, und für immer Gül
tiges ansicht.
Ebensowenig begnügt sich der Glaube, ein einsamer zu
sein, sondern theilt sich mit, sucht Gemeinschaft und freut sich und stärkt sich an derselben.
(„Wir glauben all' an einen Gott" (Lied 51).
— „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über" (Matth. 12, 34). —
„Ich glaube,
darum rede ich" (2 Kor. 4, 13). — „Herz und Herz
vereint zusammen" (Lied 674). — „Unser Vater im Himmel.") — Wenn also hier stets in der Einzahl geredet wird, so geschieht es,
um
uns
einzuprägen:
daß
der Glaube in
persönlicher sein müsse; einmal,
sofern
doppelter Hinsicht
ein
jeder selbst glauben,
so
dann aber auch, sofern jeder für sich glauben, d. h. die Wahrheit, von deren Gültigkeit er i n sich überzeugt ist, als eine auch für ihn gültige anerkennen und auf sich beziehen muß.
Das erstere ist klar,
und braucht Evangelischen nicht anseinandcrgefetzt zu werden.
wissen:
Wir
„der Gerechte wird seines Glaubens leben" (Röm. 1, 17).
Aber das andere ist ebenso wichtig.
Was hilft es einem Menschen,
wenn er zwar glaubt, daß Gott die Welt geschaffen hat und für sie
und alles in ihr väterlich sorgt;
aber sich
hält er für von Gott
verlassen? Oder, daß Christus für alle gestorben ist, allen, auch den ärgsten Sündern Heil bereitet hat;
daß
solches auch ihm gelte?
dabei aber fortwährend zweifelt,
Oder,
daß Christen verpflichtet sind,
Christo zu dienen und sein Wort in allen Stücken zur Richtschnur ihres Handelns zu machen; nur er, meint er, brauche das nicht? —
Dieser Charakter
des Glaubens,
kraft dessen
er einerseits
ein ge
meinsamer ist und auf Allgemeingültigkeit Anspruch macht, anderer-
Glaube ein subjektives und doch allgemeingültiges.
Gott, der Vater.
225
feite nur als der persönliche Werth hat, wird recht zur Anschaulich
keit gebracht durch die bekannten Gleichnisse des Herrn: vom großen Abendmahl (Luk. 14, 16f.) und vom hochzeitlichen Mahle (Matth. 22, lf.).
Wie ist da alles bloß
„Subjective",
Absonderung Streifende ausgeschlossen! sames, von dem Wirthe bereitetes,
an Willkür und
Das Mahl ist ein gemein
alles bei demselben für alle be
stimmt: andererseits findet niemand Sättigung, als, wer kommt und
ißt. — Auch in dem Glaubensbekenntniß und der Erklärung Luther's
finden wir dieses Verhältniß angedeutet; in der Erklärung zum zweiten Artikel:
„Christus hat mich erlöset,
unter ihm lebe und ihm diene;"
auf daß ich in seinem Reiche
sowie in dem dritten Artikel: ich
glaube „eine heilige allgemeine christliche Kirche" sammt dem, was Luther dazu sagt:
„in welcher Christenheit der h. Geist mir alle
Sünden vergiebt"
u. s. w.
„Ich"
und
„Reich"
gehen überhaupt
immer mit und neben einander als Complemente durch die Heilsver kündigung. Es giebt für den einzelnen kein Ziel, als das Reich Christi; kein Heil als in demselben. Aber es giebt auch kein Reich
Gottes oder Christi, als welches „inwendig in uns ist" (Luk. 17, 21); kein Haus Gottes,
Christo aus
als welches sich aus dem Grund- und Ecksteine
„lebendigen Steinen" baut (1 Kor. 3,11 f.;
1 Petri
2, 5). — Die Persönlichkeit ist überall das durchschlagende: der per
sönliche Gott, der Vater der Liebe, kein blindes Fatum, kein starres
Gesetz;
der persönliche Heiland,
giebt, kein System;
der sich selbst für uns in den Tod
der persönliche Glaube: darauf baut sich das
Reich; darin beruht das Heil. —
Ich glaube an Gott. Der Gegenstand des Glaubens ist also Gott; und nur Gott kann dieser Gegenstand sein. „Ich bin der Herr, dein Gott: du sollst keine andern Götter haben neben mir." — „Das ist das ewige Leben, daß sie dich, daß du allein wahrer Gott bist, und, den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen" (Joh. 17, 3). — Wenn in
dem Glaubensbekenntnisse auch I. Christus und der h. Geist als Gegenstände des Glaubens, und zwar desselben Glaubens, wie an
Gott, den Vater, genannt werden, so liegt darin von vorn herein,
daß „Gott in Christo" war (2 Kor. 5,19), also daß,
sieht,
sieht den Vater" (Joh. 14, 9): so wie,
Eltester, Materialien. 2. Auflage.
„wer ihn
daß der h. Geist der 15
2. Hauptstück.
226
Geist Gottes ist. — Es soll ausgeführt,
nur
sondern
Erster Artikel.
das an dieser Stelle nicht weiter
vorweg
darauf
aufmerksam
gemacht
werden. —
Gott wird hier schlechtweg der Vater genannt.
Anderwärts
heißt er auch unser oder der himmlische Vater, endlich „Gott und
der Vater unseres Herrn I. Christi": letzteres, sofern er erst in
Christo int höchsten Sinne sich als Vater offenbart hat, die Menschen erst in diesem zu Kindern Gottes geworden
sind.
Es bezeichnet
Gott als den Urheber unseres Daseins, zugleich als die höchste Weis
heit und Liebe.
Es ist mit einem Worte der Inbegriff aller Voll
kommenheit, der höchste Laut der menschlichen Sprache, in den wir
alles, was wir an Ehrfurcht, Liebe, Vertrauen, Dankbarkeit gegen Gott empfinden, hineinlegen. Bei alle dem ist es eine bildliche Bezeichnung.
keine andere, als eine solche.
Wir mögen es
Aber wir haben
ansteüen, wie wir
wollen, wir vermögen von Gott und göttlichen Dingen immer nur
in menschlicher d. i. bildlicher, sinnlich gefärbter, unvollkommener Weise zu reden, und theilen auch unsere geistigsten Ausdrücke noch
diesen Charakter.
Sie sind nur, je abstracter sie sind, um so kälter.
Kurz: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort"
(1 Kor. 13, 12), und „Unser Wissen ist Stückwerk, und unser Weis sagen ist Stückwerk; wenn aber das Vollkommene kommen wird, wird
das Stückwerk aufhören" (v. 9 u. 10). Diese Erkenntniß soll uns demüthig machen, ohne uns zu entmuthigen. — Mit welcher Vermessenheit spricht der Mensch,
der
Staub, von Gott und göttlichen Dingen! Mit welcher Zuversicht urtheilt er, der sich selbst in seinen letzten Gründen nicht begreift, über Gottes Wesen und Walten; erklärt für unmöglich, was er nicht
faßt, stellt diktatorisch als ewige göttliche Wahrheit auf, was er in
Worte gefaßt hat; wo doch unser höchstes Rühmen kaum an den Saum des Gewandes der Herrlichkeit Gottes rührt.
(Man vergleiche
beispielsweise das Athanasianische Symbolum.) — Andererseits ist in dem Stückwerk Wahrheit.
von Gott in Bildern:
Gottes.
Das Kind
Es ist wahr, wir denken und reden
aber wir sind auch Bilder,
begreift den Vater nicht,
seine Liebe und versteht seinen Willen.
wir sind Kinder
aber es empfindet
Und wiederum dringt des
Gott, der Vater.
227
Gottes Allmacht.
Kindes Lallen an das Herz des Vaters.
Wir dürfen Gott im Ver
trauen nahen. — Weiter soll diese Einsicht uns friedfertig machen.
Wie heiß
entbrennt der Kampf um die Erkenntniß Gottes, und wie oft sind es nur die beiderseits unvollkommenen Ausdrücke, über welche man streitet! In meiner Jugend hörte ich einst zwei Kinder mit großem Eifer streiten: „Pexa", nein — „Kepa": sie meinten Krebse! Wenn wir einst in den Himmel kommen, werden wir über vieles lächeln,
was uns hienieden ungeheuer klug gebäucht hat, und uns über die unkindliche Weise schämen, mit der wir uns darüber haben erbittern lassen. „Da ich ein Kind war, redete ich, wie ein Kind, und war
klug, wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge.
Da ich aber ein
Mann ward, that ich ab, was kindisch war. — Jetzt erkenne ich es stückweise, dann aber werde ich es erkennen, gleichwie ich erkannt
bin.
Nun aber bleibet Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei;
aber
die Liebe ist die größeste unter ihnen" (1 Kor. 13, 11—13). Von den Eigenschaften, welche wir Gott beizulegen pflegen, wird in dem apostolischen Glaubensbekenntniß nur die Eigenschaft der
Allmacht hervorgehoben.
Das hängt mit der Entstehungs
weise des Apostolicums zusammen, daß es nämlich nicht systematisch ausgearbeitet wurde, sondern sich durch gelegentliche Zusätze bildete, je nachdem dieser oder jener Irrthum abzuweisen war. So ist auch
die Bestimmung der Allmacht in dasselbe gekommen durch den Gegen satz gegen die Irrlehre der sogenannten Gnostiker, nach welcher die
Welt nicht von dem höchsten Gotte, dem Vatergotte, sondern von einem untergeordneten, beschränkten, wo nicht bösen Wesen, dem
Demiurgos,
geschaffen sein sollte. — Andererseits empfindet über
haupt der Mensch in dem Gefühl seiner Ohnmacht das Bedürfniß,
sich vorzugsweise auf die Macht Gottes zu stützen: wie es denn
auch im Gebete des Herrn heißt: „Dein ist die Kraft". seitige Hervorhebung
Diese ein
der Allmacht Gottes ist nicht ohne alles Be
denken: sofern letztere dadurch leicht den Charakter der Willkür ge
winnt; eine Auffassung, die sich selbst in die wissenschaftliche Be
arbeitung
der Glaubenslehre zu deren Schaden eingedrängt hat,
vollends in der populären Vorstellung fast die gewöhnliche ist. „Gott kann alles, was er will. Freilich will er vieles nicht; aber wenn 15*
2. Hauptstück. Erster Artikel.
228
er es wollte, so würde er das auch können."
Damit hängt dann
weiter die höchst bedenkliche Ansicht über das Gute zusammen: als
ob das Gute nicht in sich selbst, sondern nur daruyl gut sei, weil
es Gott wolle.
das gut. Guten!
Wenn er ein anderes wollte und geböte,
so wäre
Die absolute Despotie und Auflösung des Begriffs des
Gegen diese verkehrte, die kindliche Ergebung in den in sich
unveränderlich guten und weisen Willen Gottes störende Vorstellung ist festzuhalten, daß es allerdings für Gott keine Hindernisse außer
ihm giebt, die sein allmächtiger Wille nicht zu überwinden vermöchte,
daß dagegen in seinem eigenen Wesen Schranken gesetzt sind, die frei lich nichts anderes sind, als seine uneingeschränkte Vollkommenheit.
Gott kann vieles nicht.
trügen,
Er kann nichts Unsittliches:
sich selbst widersprechen.
als lügen,
Er kann nichts Widersinniges:
Geschehenes ungeschehen, aus Gestern Heute machen.
Unmöglich ist
ihm alles, was den Charakter der Unvollkommenheit und Schwäche an sich trägt: Leiden, Bedürftigsein, Schlafen: aber dieses Nicht können ist nicht Schwäche, sondern Stärke, die Stärke seines schlecht hin Gott- und Gut-Seins.
Bei den Menschen sieht man das auch
alsbald ein, daß es nicht Ohnmacht, sondern Macht, Macht
des
Guten und Stärke des Charakters sei, wenn einer vieles schlechter dings nicht mehr vermag: als ungerecht sein, seine Pflicht vergessen, grausam sein u. s. s.; und daß der tiefer stehe, dem dergleichen noch möglich ist.
Aber bei Gott trägt man Bedenken, Schranken anzu
erkennen, und glaubt, ihn zu verkürzen, wenn man nicht seine un bedingte Allmacht, selbst auf Kosten seiner Güte und Gerechtigkeit festhält. Da ist auf das stärkste zu betonen, daß seine Allmacht die Macht seiner heiligen Liebe ist, die den Nathschluß dieser Liebe allen Hindernissen zum Trotze durchsetzt, und alles überwindet —
aber freilich auch alles ausschließt, was dieser heiligen Liebe wider
streitet.
Nach
den bekannten Strophen des köstlichen Liedes (573)
„Befiehl du deine Wege":
„Weg hast du allerwegen,
an Mitteln
fehlt dir's nicht, dein Thun ist lauter Segen, dein Gang ist lauter Licht;" — „und ob gleich alle Teufel hier wollten widerstehn, so wird
doch ohne Zweifel Gott nicht zurücke gehn.
Was er sich vorgenom
men, und was er haben will, das muß doch endlich kommen zu sei
nem Zweck und Ziel." — Das endlich ist auch der Sinn der Ant-
Die Schöpfung.
229
wort des Erlösers auf die bängliche Frage seiner Jünger „wer
denn selig werden könne":
„Bei den Menschen ist es unmöglich,
aber nicht bei Gott: denn alle Dinge sind möglich bei Gott" (Mark.
10, 27).
Wenn Buchstabier oder Spötter hier an dem „alle Dinge"
haften, und letztere sich wohl daraus eine Waffe bereiten, einfache und unbefestigte Gemüther mit Fragen zu ängstigen, wie wir vor her etliche angedeutet haben, so ist einfach zu erwidern, daß Absur
ditäten keine „Dinge", sondern Undinge seien, und, daß Gott un
möglich einfallen könne, was eben nur einem Narren oder Frevler durch den Kopf laufe.
Von der Schöpfung. „Schöpfer Himmels und der Erde."
Um den Inhalt und
die Tragweite dieser Bezeichnung recht zu fassen, thut man am besten, sich etliche andere von den Ausdrücken
zu vergegenwärtigen,
welche mau sonst die Urheberschaft zu bezeichnen Pflegt. auf der Hand,
durch
Es liegt
daß man ebenso gut, wie man sagt, Gott habe die
Welt geschaffen, auch sagen kann und ost genug sagt, Gott habe die
Welt gemacht: weil dieses Wort die Urheberschaft von etwas nur ganz allgemein bezeichnet, ohne etwas Näheres über die Weise, Mittel
u. s. w. auszudrücken. Dagegen spricht man nie: Gott habe die Welt verfertigt oder hervorgebracht oder erzeugt. Warum? weil in dem Verfertigen der Begriff des Fertigmacheus ciues schon Vorhandenen,
nur noch nicht Fertigen, des Formens, Bildens, Wirkens an einem
Stoffe und aus demselben liegt: das Hervorbringen aber — abge sehen davon, daß es dem Wortliste gemäß ebenfalls auf ein schon Vorhandenes, auf das Herausstellen und aus der Tiefe Hervorholen eines Keimes deutet — die Nebenbedeutung
des Unbewußten, be
ziehungsweise Unwillkürlichen und Ungewollten hat: wie man d/nn diese Bezeichnung meist nur von der Natur braucht, und von dem
Menschen höchstens sagt: er bringe solche Töne hervor; weil endlich „zeugen" das Urhebersein von etwas Gleichartigem bezeichnet.
Fassen
wir das zusammen, so wird also das Schaffen als ein reiner Akt
des göttlichen Willens, und die Welt als das Werk dieses Willens bezeichnet mit Ausschluß jeder außerhalb Gott liegenden Ursache,
Anlage, Stoffs, so wie jedes unwillkürlichen Hervorbringens.
Das
2. Hauptstück.
230
Erster Artikel.
ist auch der Sinn, in welchem die Schrift die Welt durch Gottes Wort geschaffen sein läßt; wenn sie an den Anfang aller Dinge das große Wort stellt: „Gott sprach, und es ward", und im Briefe au
die Ebräer sagt (11, 3): „durch
den Glauben merken wir, daß die
Welt durch Gottes Wort bereitet') ist, also, daß das, was man sieht, nicht aus Erscheinendem geworden ist." Denn das gebietende Wort ist der Ausdruck des Willens.
Durch dieses große Wort ist auf entscheidende Weise die Gränze
zwischen dem monotheistischen Offenbarungsglauben und dem Heidenthum gesteckt.
Dem Heidenthum ist der strenge Schöpfungsbegriff
fremd: es weiß ebenso wenig von einem allmächtigen Schöpfer, als
es die Welt als das Werk Gottes von Gott scharf unterscheidet. Seine Götter sind nicht Weltschöpfer, sondern Weltbildner, welche die Welt aus einem unabhängig
von ihnen vorhandenen Stoffe
(Chaos, Materie) formen und niemals ganz mit dessen ungefügigen und widerstrebenden Kräften fertig werden. Oder die Welt entsteht
durch
einen Prozeß, in welchem entweder durch Entwickelung
von
unten her als höchste Entfaltung der in der Welt wirkenden Kräfte
schließlich Götter erscheinen (Venus wird aus dem Meere geboren): oder umgekehrt die Welt durch allmähliches Herabsinken Gottes in die Materie aus Gott hervorquillt (emanirt), also Gott sich zur
Welt entwickelt.
Selbst, wo das Heidenthum sich zu dem Gedanken
der Einheit Gottes emporschwingt, kommt es nicht aus dieser Ver mischung Gottes und der Welt, des Sittlichen und Natürlichen hin aus: auch hier wird die Welt nicht als das Werk, sondern als der Leib der Gottheit gefaßt, in welchem die Gottheit als die das All
belebende Seele waltet. — Der monotheistische Schöpsungsbegriff bedingt eine ihm ent sprechende Stellung zur Schöpfung. Er schließt gleicherweise die Weltvergötterung und Welttrunkenheit aus, die dem Heidenthum
eigen sind; wie er andererseits gegen Weltverachtung und gegen die trübe und düstere Weltanschauung schützen soll, in der sich wunder barer Weise auch manche Christen gefallen.
In der Schrift heißt
') Luther überseht: „fertig ist" — „aus Nichts geworden ist".
Die Schöpfung.
231
es, nachdem berichtet ist, wie Gott seine Schöpfung vollendet: „Und
Gott sah an alles,
was er gemacht hatte; und siehe,
Und der Dichter sagt:
gut" (1 Mose 1, 31).
es
war sehr
„Die Welt ist voll
kommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual". Ist jenes Schriftwort allerdings nur von der ursprünglichen Schöpfung,
wie sie unentweiht von Sünde aus Gottes Schöpferhand hervorging, gesagt: im
wesentlichen gilt es noch jetzt.
Welche Störungen
die
Verirrung der Kreatur auch in der Schöpfung hervorgebracht habe und noch hervorbringe: dafür ist doch Gott Gottes genug, daß ihm
niemand sein Werk so herahbringe,
daß uns nichts übrig bleibt,
als fortwährend über demselben zu stöhnen.
„Die Himmel erzählen
die Ehre Gottes, und die Feste verkündet seiner Hände Werk" (Ps.lO, 2).
Und abermals:
hast
„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel;
du
sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll deiner Güter"
(Ps. 104, 24). — Wie
diese trübselige Weise,
Schöpfungsglauben endlich auch
so widerstreitet dem
das unzufriedene und tadelsüchtigc
Wesen, welchem wir Gottes Welt gegenüber so viele anheimgefallen
sehen.
Bedenken denn diese Menschen gar nicht, daß jeder ihrer un
bedachten oder ernstlich gemeinten Aussetzungen an der Welt schließ lich Gott, der die Welt gemacht hat, zur Last fällt; und daß, so oft sie an Gottes Werke kritteln und meistern: „wozu ist das, und wozu jenes",
sie damit immer Gott,
sei es des Unbedachts,
daß er es
nicht besser überlegt habe, sei es der Unmacht, daß er es nicht besser
vermocht, wo nicht gar
der Ungüte und des bösen Willens zeihen,
und sich die Stellung geben,
wo sie die Welt geschaffen hätten,
sie
hätten es wollen besser machen? Wenn trotzdem so viele dieser Ver
sündigung sich schuldig machen, woran liegt es, als, daß ihnen, un
geachtet haben,
sie die richtige Vorstellung von
in
der Schöpfung der Welt
der Welt nicht der Schöpfer lebendig in Schauern der
Andacht, in Anbetung und Dankbarkeit weckenden Zügen seiner un
endlichen Weisheit und Güte entgegentritt; oder, daß sie zwar den historischen Glauben
haben,
der fromme Glaube ihnen
fehlt? — Wo dieser Glaube ist, auf;
aber noch
da hört das Kritteln und Tadeln
da stellt sich jene heitre Zuversicht,
jene Freude an Gott ein:
„Was Gott thut, das ist wohlgethan;" da wird es nicht schwer, selbst gegenüber noch nicht Begriffenem, sei es in dem Werke, sei es in der
2. Hauptstück. Erster Artikel.
232
Führung Gottes, zu vertrauen: Einst werde ich auch das verstehen
(Joh. 13,7. 1 Korinth. 13, 12).
Gehen wir näher auf die Gründe ein, aus welchen den Menschen die Herrlichkeit Gottes in seinen Werken verhüllt bleibt, so sind es
vornehmlich drei: 1) die überschießende Sinnlichkeit, welche nur das für gut hält, was behagt.
Viele Menschen sind in dieser Beziehung
noch ganz, wie die Kinder, welche mit allem, was man ihnen reicht,
sofort nach dem Munde fahren und, wenn es unangenehm schmeckt, es
mit Geberden des Abscheus wegwerfen.
Ja freilich, in diesem
Sinne ist die Welt nicht „gut"; im Gegentheil ist vieles sehr Herbe,
sehr Schwere und Unangenehme darin, was uns bedrängt und unsere
äußerste Kraft in Anspruch nimmt, um darüber Herr zu werden. Aber dafür weckt es auch unsere Kraft. keinerlei Anstrengung zu
machen,
In einer Welt, in der wir
mit keinerlei Widerwärtigkeit zu
kämpfen hätten, in der alles uns von selbst zufiele, würden wir uns eben so wenig entwickeln, als in einer solchen, die jeden Widerstand
erdrückte.
Gerade in dieser Mischung des Widrigen, das unsere
Gegenwirkung herausfordert und des Freundlichen, das uns zur
Einwirkung einladet, des Unangenehmen und des Angenehmen, der Nothwendigkeit des Kampfes und der Möglichkeit und Süßigkeit des
Sieges besteht die Vollkommenheit der Welt und ihre Angemessen
heit für den Menschen. — 2) Der Egoismus, mit dem wir alles in der Welt ausschließlich auf uns und unsern Nutzen beziehen. Es ist wahrhaft komisch, wenn es nicht so traurig wäre, mit welcher
Unbefangenheit wir Menschen uns zum alleinigen Mittelpunkte der
gesammten Welt machen und ohne weiteres voraussetzen, daß sie
und alles in ihr lediglich für uns da sei und gar keinen andern
Zweck haben könne, als uns zu dienen.
Das ist der andere Probir-
stein, daran wir die Güte der Welt messen, und dann natürlich uns höchlich erzürnen, wenn wir finden, daß die Welt doch nicht ganz einem Gasthause gleiche, in dem wir nur zu befehlen haben, und auf
jeden unserer Winke flugs der Auswärter herbeieilt und uns dar bietet, ob es uns beliebe, zuzulangen.
Die Welt hat wohl einen
höheren Zweck, als den Menschen: Gott, die Ehre Gottes, die
Offenbarung seiner Herrlichkeit; wie es heißt: „die Himmel erzählen die Ehre Gottes", und: — „denn von ihm und durch ihn und zu
Die Schöpfung.
233
ihm') sind alle Dinge" (Röm. 11, 36). — Weiter ist die Welt und alles in ihr für sich selbst unh dann erst auch für den Menschen da. Das ist die Größe Gottes und die Ueberschwänglichkeit seiner Liebe,
daß er jeglichem, das er in's Leben gerufen,
ein Recht verliehen
hat, für sich zu sein und sich in sich des Grades von Wohlsein zu
freuen, dessen es seiner Natur nach
fähig ist.
Der Seraph vor
Gottes Thron und der Wurm im Staube — Gott schuf sie: sie sind; wer hat ein Recht, zu fragen, wozu elende: Zu unserm Nutzen!
sie seien? — Vollends das
Schon bei Menschenwerken, je höher sie
sind, mißachtet man es mit Recht, wenn jemand fragt, wozu Wissenschaft und Kunst, Schiller's Lied von der Glocke, Raphael's
Madonna nützen?
Sie sprechen aus, was des Forschers, des Dich
ters Geist bewegt; sie treten vor uns, um auch in unserer Brust Geist, Menschengeist, heilige Begeisterung für alles Edle und Hohe
und Schöne zu wecken. und Kunst?
Ja, was reden wir erst von Wissenschaft
Sehe man doch nur überhaupt den Menschen an, ob
er einen Augenblick existiren könne,
ohne in jedem Augenblicke zu
thun, wobei er nicht erst fragt, wozu es nütze, wobei er es überhaupt auf keinen Zweck außer ihm absieht, sondern lediglich der innern Nöthigung folgt, sich und das, was in ihm lebt, auszudrücken und darzustcllen!
Er wird, indem er spricht, von irgend etwas lebhafter
bewegt, und er erhebt die Stimme, bewegt die Hand: ist der andere
taub, will er etwas fassen? er schlägt in Andacht sein Auge empor:
will er schärfer sehen? er strömt seine Empfindung in Lied und Ge sang aus: will er Geld verdienen? Und Gott will man wehren, daß er die Fülle und die Tiefe und den Reichthum feiner Gottes gedanken in tausend und übermal tausend Gestalten, von denen wir den weitern Zweck nicht abzusehen vermögen, darstelle; ihm, dem „Baumeister der Welt" (Ebr. 11, 10), „der aller Schöne Meister ist" (Weisheit Sal. 13, 3), vorschreiben, daß er gleich einem Hand
langer in unserm Taglohn bei allem, was er thut, nur an — unsern — Nutzen denke.
Darum sollen wir, wollen wir anders die Dinge
der Welt erkennen, bei ihrer Betrachtung auch nicht immer nur
fragen, wozu sie uns nützen, als vielmehr, was sie uns sagen! Dann *) Nicht „in ihm"
(Luther).
2. Hailptstück.
234
Erster Artikel.
geht uns die Herrlichkeit des Herrn in seiner Schöpfung -und auch die Herrlichkeit der Kreatur auf.
Während bei jener Frage alles
stumm bleibt, und wir in dem blühenden Baume vor uns nur Holz und Frucht und Dung sehen: erhält bei dieser alles Stimme und Rede: „Mich, ruft der Baum in seiner Pracht, mich, ruft die Saat,
hat Gott gemacht; bringt unserm Schöpfer Ehre!" (Lied 84. „Wenn ich, o Schöpfer, deine Macht".) Wie viel anders und wie viel öfter
würde die Welt, diese „Offenbarung des unsichtbaren Wesens Gottes
d. i. seiner ewigen Kraft und Gottheit" (Römer 1, 19. 20), uns antworten,
wenn
wir sie erst richtig zu
fragen
verständen! —
3) Die rechte Erkenntniß der Welt und Gottes in der Welt wird endlich aufgehalten durch das Einzelne klammern,
die Kurzsichtigkeit, mit der wir uns an andererseits, wo wir darüber hinaus ein
Größeres zu erfassen bestrebt waren, bei unserm Urtheile übersehen,
daß wir auch hier schließlich nur einen Bruchtheil überblicken. — Wer, dem ein Bestandtheil irgend eines größer» künstlich zusammen gesetzten Werkes vorgelegt wird, ohne daß er eine Anschauung von
dem Ganzen hat, vermag die Bedeutung dieses wunderlich gestalteten schiefen eckigen Dinges, den Werth dieser, alles, was zwischen sie geräth,
zermalmenden Räder zu verstehen?
Aber in Gottes Welt
glaubt man das Einzelne erfassen zu können, losgerissen von dem Zusammenhänge, in welchem es steht, das Getriebe der Welt zu verstehen, wenn man einen Theil des Räderwerkes überschaut?
Beispiel statt vieler:
Ein
Was ist auffallender und selbst für den from
men, zur Anbetung Gottes geneigten Betrachter der Natur befrem
dender, als der Anblick der vielen zerstörenden Kräfte sowohl in der
unorganischen als in der organischen Natur, besonders in der Thier welt? Diese Stürme und Erdbeben, diese an allem nagenden, alles zersetzenden Gewalten, der gesammte Prozeß der Verwitterung und
Verwesung, die wilde Wuth und scheinbare Grausamkeit derjenigen Thiere, die sich von andern nähren — welche tiefeinschneidende, ver letzende Wirkung üben sie auf unser Gemüth!
Und doch müssen
wir bei weiterer Umschau erkennen, daß auch diese zerstörenden Kräfte wesentlich erhaltende seien, die zum Bestände und der Schön heit des Ganzen beitragen: theils, indem sie Krankhaftes und Todtes wegschaffen und dadurch neuem und gesundem Leben Raum machen,
Die Erhaltung.
235
theils, indem sie gerade dadurch, daß sie das Leben der Individuen
vernichten,
die fernere Existenz der Gattungen ermöglichen.
Was
sollte aus den Millionen und abermal Millionen pflanzenfressender
-Thiere werden, wie sie in unabsehbaren Herden die Steppen Amerika's und Afrika's durchziehen, wenn nicht Gott jene großen Räuber unter
sie gesetzt, welche die überschießende, zuletzt geradezu vernichtende Vermehrung animalischen Lebens in Schranken halten, bis der Mensch erscheint und mit seiner wachsenden Herrschaft über die Natur in höherem Sinne ihre Ausgabe, das rechte Maß und Gleichgewicht in
der animalischen Welt zu erhalten, übernimmt;
und sie dann auch
in dem Maße, als sie entbehrlich werden, vor dem Menschen ver
schwinden?
Während die zahllosen Geschlechter kleinerer Räuber,
oder vielmehr Jäger und Todtengräber, .von den kleineren Vierfüßlern
herab bis zu den Insekten, deren Wirksamkeit niemals auch durch keine noch so eindringende menschliche Thätigkeit ersetzt werden kann,
sich nicht nur neben dem Menschen unausrottbar erhalten, sondern ihre Existenz auch mehr und mehr in dem Maße,
als wir in den
Haushalt der Natur eindringen, als eine Wohlthat betrachtet, und viele dieser einst verfolgten Thierarten jetzt sogar mit Sorgfalt ge
hegt werden.
So hat sich unsere Stellung zu diesen Geschöpfen ge
ändert, und ist unser einstmaliger Tadel und Verwunderung in Be
wunderung und Lob übergegangen, seit wir nur ein weniges in den Zusammenhang der Dinge geblickt haben: wie werden wir nicht
erst, wenn wir alles überschauen, Gott preisen:
deine Werke so groß und viel.
„Herr, wie sind
Du hast sie alle weislich geordnet,
und die Erde ist voll deiner Güter" (Ps. 104, 24). — Von der Erhaltung der Welt.
Man unterscheidet in der Lehre von der Schöpfung näher die Schöpfung im engeren Sinn oder das erste Schassen, und das fort
gehende Schaffen oder die Erhaltung und Regierung der Welt, die Vorsehung Gottes.
Allerdings tritt mit dem Momente des Schaffens
selbst ein Unterschied ein: sofern durch dasselbe etwas neben Gott entsteht, was, obschon es ganz in seiner Hand ist und unverändert
von ihm abhängig bleibt, doch so gewiß ist, als es geschaffen ist. Oder mit andern Worten: die Welt ist mehr, als nur ein Schein,
236
2. Hauptstück.
Erster Artikel.
wie man sie wohl aufgesaßt hat; vielmehr als Ausdruck der gött
lichen Allmacht wird und muß
sie Macht haben und Macht sein,
natürlich aus Gott und durch ihn und zu ihm (Röm. 11, 36), aber darum nicht weniger Macht; die auch ihrerseits aus der von Gott
in sie gelegten Kraft Wirkungen ausübt; ja, die als Produkt des
schöpferischen Willens von vorn herein die Tendenz und Richtung
auf Erzeugung kreatürlichen Willens in sich tragen, und die Spuren davon schon aus ihren untersten Stufen in dem Leben zeigen wird,
welches sie beseelt und über den bloßen Mechanismus erhebt.
Oder:
die Welt ist auch keine Maschine, sondern selbst in ihren ersten An fängen beseelte, von dem Geiste Gottes durchdrungene Welt. — Auf diese belebte Welt wirkt nun Gott ein; theils, indem er
das in ihr bereits vorhandene Leben durch fortwährende Einwirkung lebendig erhält und zur Thätigkeit anregt; theils, indem er auf Grund
des aus solcher Thätigkeit Gewordenen durch neue Schöpfungsakte neue und höhere Stufen des Lebens hervorruft.
Wie dies in groß
artigster Weise in dem Schöpfungsberichte der Bibel anschaulich ge macht wird: in dem Schweben des Schöpfergeistes Gottes über seiner
von ihm geschaffenen Welt, der annoch unausgestalteten Tiefe, und in der Weise, wie nun durch das wiederholte Sprechen Gottes das
ursprünglich Wüste und Leere sich
allgemach gestaltet, und immer
neue, höhere Ordnungen über den alten hervorgerufen werden; bis endlich mit der Schöpfung des Menschen der gesammte Schöpfungs
prozeß zu einem vorläufigen Abschluß kommt.
Zu beachten ist dabei
namentlich noch, wie v. 9. 11.20.24 die Bildung des Meeres, weiter die Entstehung der Vegetation und der Thierwelt als Produkt
der — von Gott angeregten — Bewegung hier des Wassers dort der Erde dargestellt wird: „es sammle fich das Wasser — und es geschah also;" „es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut", und
„die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut" u. s. w.: eine Andeutung der wichtigen Wahrheit, daß von dem Momente des ersten Schaffens an, durch welches überhaupt eine Welt außer Gott gesetzt ward, diese Welt fortan bei jedem weitern Schaffen selbstthätig — natür
lich in der Bethätigung des von Gott in sie gesetzten Lebens — mitwirkt: so daß alles, was geschieht, stets das Produkt zweier
Faktoren ist: einerseits der von Gott in die Welt gelegten und fort
Die Erhaltung.
237
und fort angeregten Kräfte der bereits vorhandenen Lebensstufe,
andererseits — namentlich, so weit Neues und Höheres in's Dasein treten soll — der neuschaffenden Thätigkeit Gottes, des erneuten Einschlagens seines Schöpferwillens in das Vorhandene, welches ohne
solches erneute Schaffen eben nur das Bisherige erzeugen könnte.
So „bringt die Erde hervor", und kann nicht eher hervorbringen „Gras, Kräuter" u. s. w., als, bis der Schöpfungsprozeß bis zu dem
Punkte gediehen ist, daß sich das Trockne von dem Wasser geschieden hat:
ans der andern Seite:
„Gott sprach, es lasse die Erde auf
So hat der Mensch die Erde und alles, was auf
gehen — —."
ihr ist, zu seiner Voraussetzung; er ist der Gipfelpunkt der gesammten Entwicklung derselben, ja in gewissem Sinne „Staub vom Staube genommen", Produkt der Erde: und dennoch: „Gott sprach", „Gott schuf den Menschen"; oder mit andern Worten: der Mensch ist bei alle dem kein Sohn des Staubes, keine Potenzirung nur des klügsten
Thieres.
Durch das Gesagte wird zweierlei klar geworden sein. Das erste: daß wir in der That ein Recht und eine Nöthigung haben, Schaffen und Erhalten zu unterscheiden:
verschiedenes ist,
sofern es allerdings ein
die Welt wirken, daß sie sei; und auf sie und in
ihr und unter ihrer Mitwirkung die weitere Gestalt der Welt aus wirken.
Sodann: daß man in vollem Sinne von einer Entwicklung
der Welt reden dürfe, und doch zugleich ihre schlechthinige Abhängig
keit von Gott und sein fortwährendes Schaffen behaupten könne und müsse. — Es sei gestattet, obschon es kaum nöthig scheint, zur Ver anschaulichung des letzteren noch ein Bild heranzuziehen, zu dessen
Anwendung, so seltsam es manchem erscheinen könnte, uns ein ver
wandtes edelstes Bild des Erlösers berechtigt.
Es ist bekannt, wie
er sein Wirken und Sorgen um sein Volk mit dem Lockrufe der Gluckhenne vergleicht, die ihre Küchlein unter ihre Flügel sammelt (Matth. 23,37). Was hindert uns, das auf das Brüten des
Schöpfergeistes Gottes über der von ihm in's Sein gerufenen Welt anznwenden?
Wie das Ei des Vogels in relativer Selbständigkeit
ist, und Leben in ihm ist und sich unter der Brutwärme des mütter
lichen Thieres von Stufe zu Stufe entwickelt; und wie ohne dieses der Einwirkung der brütenden Mutter entgegenkommende Leben des
2. Hauptstück.
238
Erster Artikel.
Embryo nie ein neues selbstständiges Leben entstände: und wie wieder
andererseits alles, das
embryonische Leben und jede Stufe seiner
Entfaltung bis zu dem Punkte, da das Küchlein das Ei durchbricht,
durch und durch von der Mutter ist und ohne sie und die von ihr ausstrahlende Lebenswärme weder sein noch vielmehr sofort untergehen würde:
sich weiter entwickeln,
so ist die Welt und wirkt und
ist nichts und wirkt nichts, geschweige bringt sie ein Neues und
Höheres hervor ohne den Geist Gottes, der „brütend" über der Tiefe
schwebt, und macht, daß das, was aus ihm ist, lebendig bleibe und
sich rege und wirke, was es wirken, werde, was es werden soll (Ps. 104, 27—30). Schließlich stellen wir noch die erhaltende Thätigkeit Gottes mit der entsprechenden menschlichen Thätigkeit zusammen, um der
zwischen beiden stattfindenden Unterschiede inne zu werden, deren Uebersehen nicht wenige Mißverständnisse hervorruft. zuerst
Da tritt uns
die wesentlich andere Bedeutung und der — daß wir so
sagen — viel größere Raum entgegen, welchen das göttliche Er
halten gegenüber dem göttlichen Schaffen einnimmt, als solches bei dem Erhalten der Menschen im Verhältniß zu ihrem Schaffen der
Fall ist.
Während bei uns das Erhalten lediglich ein zeitweiliges,
nur da, wo es gerade Noth thut, sich bethätigendes ist, und sowohl, was die Kraft als auch, was die Zeit betrifft, welche es in An spruch nimmt, gegen das Hervorbringen ganz zurücktritt: ist dagegen Gottes Erhalten ein ununterbrochenes, das nie einen Augenblick
aussetzen darf: — sein fortgehendes
Ausdrucke der
Schaffen oder — nach
dem
angeführten Psalmstelle — „Athmen" in der Welt.
Dadurch entsteht auf den ersten Anblick der Schein, als ob sein Schaffen, welches eine derartige Fortsetzung fordere, ein minder
kräftiges, desgleichen seine Werke, die seiner keinen Augenblick ent
behren können, von denen er niemals auch nur einen Augenblick die Hand abziehen darf, während wir die unsrigen, sobald sie einmal fertig sind, ruhig sich selbst überlassen können, verhältnißmäßig minder
vollkommen seien, als beides bei uns der Fall ist.
In der That
beruht es aber darauf, daß wir eben nicht schaffen, sondern nur ver fertigen.
Unsere Werke bestehen ohne uns und bleiben nach uns,
weil sie ihren Bestandtheilen nach schon vor uns waren. — Wich-
Die Erhaltung.
239
tiger ist das zweite: Unser Erhalten ist ein Wirken von außen her;
während Gott die Welt und jegliches in ihr von innen her durch die in die Welt und in jegliches gelegten Kräfte versorgt und er hält. Er hat nicht nöthig, die „jungen Raben, die ihn anrufen"
(Ps. 147, 9), wie wir es thun, zu ätzen;
er versorgt sie
den Instinkt, welchen er in die alten gelegt hat.
durch
Ihm ziemet nicht,
noch thut er's, der auf ihn wartenden Kreatur ihr Brod vom Himmel herabzuwerfen und ihr die Speise, wie wir unseren Kindern vorzulegen:
„Er feuchtet die Berge von oben her und machet das
Land voll Früchte,
die er schafft.
Er läßt Gras wachsen für das
Vieh und Saat zu Nutz den Menschen, daß er Brod aus der Erde
bringe; und daß der Wein erfreue des Menschen Herz, und seine Gestalt schön werde vom Oel, und das Brod des Menschen Herz
stärke (Ps. 104, 10 u. f.)."
Deshalb ist auch nichts unverständiger
und im Grunde unfrommer, als wenn man, wo Gott alles giebt, die Gaben, welche die Natur, und die, welche Gott spendet, unter
scheidet, und für jene minder danken zu müssen meint, als für diese;
andererseits dem Wahne Raum giebt,
als, wenn man etwas von
Gott ohne die von Gott gesetzten Kräfte und Mittel zu erlangen
vermöge.
Mit Recht sagt in ersterer Beziehung Luther: „Ich glaube,
daß mich Gott geschaffen hat, mir Augen und Ohren, Vernunft
und alle Sinne gegeben hat und noch erhält:
dazu Kleider und
Schuh, Essen und Trinken, Haus und Hof u. s. w. u. s. w.": obwohl
bei allem diesen kreatürliche und wohl auch unsere eigene Thätig
keit mitwirkend ist. — Was aber das andere betrifft, nun so ist klar,
daß auch „die Vögel unter dem Himmel, die nicht säen und
nicht ärnten und nicht in die Scheune sammeln, und die unser himmlischer Vater doch ernährt, desgleichen die Lilien auf dem Felde, die nicht nähen und nicht spinnen und dennoch herrlicher ge kleidet sind, als Salomo in aller seiner Pracht," daß diese darum
nicht müßig sind, sondern die Kräfte, die ihnen verliehen sind, brauchen und brauchen müssen, wenn sie nicht umkommen wollen:
und daß es darum ein falsches Vertrauen, ja eine Beleidigung Gottes ist, wenn einer meint, Gott solle ihn versorgen, ohne daß er seinerseits von den Gaben, Gelegenheiten, Mitteln, die ihm ver liehen sind,
„Augen und Ohren, Vernunft und allen Sinnen" Ge-
2. HcilPtstück.
240
brauch macht. 6, 26).
Erster Artikel.
„Seid ihr denn nicht viel mehr,
denn sie?" Matth.
Freilich! aber eben darum, weil wir mehr sind, sollen und
müssen wir auch mehr thun; müssen arbeiten und beten, müssen
säen und stritten, nähen und spinnen, und dürfen nimmer nur, wie die Vögel, umherflattern, wenn wir nicht in unserer Thorheit unter
gehen sollen.
Von der Vorsehung. Gott waltet in seiner Welt mit bewußtem Willen. Darin liegt,
daß er sie regiert, sie und alles in ihr zu dem von ihm gesetzten Ziele leitet.
Es giebt keinen Zufall, so wenig, als blinde Nothwen
digkeit in der Welt herrscht, sondern „lauter väterliche, göttliche Güte und Barmherzigkeit."
Diese Leitung der Welt zu dem von Gott
vorgesteckten Ziel ist die Vorsehung Gottes.
selben ist unter denen,
Ueber das Dasein der
welche einen lebendigen Gott glauben,
Streit; nur über ihre Erstreckung herrscht manchesmal Zweifel.
ist zu lehren,
kein
Es
daß sich Gottes Vorsehung schlechthin über alles in
der Schöpfung erstrecke: über das Große und Ganze, wie über das Einzelne und Kleine; über das freie Thun der Menschen, wie über die Kräfte und Mächte der Natnr; über das Böse endlich, wie über das Gute (Lied 664. „Sei Lob und Ehr' dem höchsten Gut"). 1) Kauft man nicht zween Sperlinge um einen Pfennig? doch fällt derselben keiner aus die Erde ohne euren Vater.
Nun aber
sind auch eure Haare. auf dem Haupte alle gezählt" (Matth. 10,
29—31).
Das däucht manchem zu viel behauptet.
„Gott erhalte
und regiere wohl das Ganze; dagegen um das Einzelne bekümmere
er sich nicht, sondern das entwickle sich, wie es durch den Zusammen hang des Ganzen bedingt sei.
Desgleichen sei wohl kaum anzu
nehmen, daß der Allmächtige Gott, der Himmel und Erde regiere,
sich in dieser Weise auf jedes Kleine und Kleinste einlassen werde:
wo es schon dem Menschen zum Tadel gereiche, wenn er sich, statt
immer nur das Bedeutende und Entscheidende vor Augen zu behal
ten, in Kleinigkeiten verliere; z. B. wer Heere zu führen habe, Knöpfe zähle. — Besteht indeß nicht das Ganze aus Einzelnem, und wirkt dieses nicht eben so auf jenes, wie es von ihm beeinflußt wird?
Hat nicht schon oft eine einzelne That eines einzelnen Menschen die
Die Vorsehung.
241
Geschicke eines ganzen Volkes, ja eines Welttheils auf Jahrhunderte bestimmt; und doch soll Gottes Vorsehung um diesen Menschen, um
diese That, weil sie einzelne sind,
sich nicht bekümmern,
von ihnen nicht eher Notiz nehmen, als,
jedenfalls
bis sie in das Ganze ein
gegangen sind, und da Heil oder Unheil angerichtet haben? Sodann:
was ist denn das Ganze?
Der Mensch
der ist ein
ist es nicht:
Einzelner! Ist es nun das Volk? die Menschheit? der Erdball? das Sonnensystem? Wo bleibt da Gottes Vorsehung? wo fängt sie an,
und wo hört sie auf? — Weiter:
Mühe gemacht, als das andere. es wird eine Maus geboren;
was ist groß?
Und wichtig?
Gott schuf
den
eine nicht mehr
das
und hat ihm
Seraph und schuf den Wurm:
Berge kreisen, und
und wieder aus dem scheinbar Unbe
deutenden und ganz unbeachtet Gebliebenen gehen Bewegungen her
Alle diese Einwendungen gehen
welche die Welt erschüttern.
vor,
doch schließlich nur daraus hervor,
von Gott
daß,
während man bemüht ist
alles Unwürdige fern zu halten,
man in der That ihn
und sein Wirken viel zu sehr in Aehnlichkeit mit uns und der uns
Wir verlieren den
anhaftenden Beschränktheit und Schwäche denkt.
Ueberblick über das
Ganze, wenn wir uns
lassen; wir dürfen
zählen.
auf Einzelheiten ein
wenn wir Heere kommandiren, Knöpfe
nicht,
Warum? weil wir zählen, weil wir
dem Vöglein,
das
wir schützen wollen, auf Schritt und Tritt nach gehen, es womög lich im Käfig bewahren müssen!
Gott aber ist
der Schöpfer der
Welt!
2) Gottes Vorsehung erstreckt sich der Menschen,
über die freien Thätigkeiten
wie über die Kräfte der Natur.
Gott lenket
die
Herzen der Menschen, wie Wasserbäche (Sprüche 21,1. Ps. 33,15): natürlich jedes in der einem jeden entsprechenden Weise;
die Dinge
der Natur durch die Kräfte und Gesetze der Natur, den Rath und
wie sie dem
Willen der freien Geschöpfe durch Mittel und Wege,
Wesen
und
des Willens
der Freiheit entsprechen.
Das wird
am
leichtesten in Verbindung mit dem dritten erkannt. 3) Gottes Vorsehung erstreckt sich auf das Böse, wie auf das
Gute,
oder Gott lenkt auch das Böse.
Wir sagen ausdrücklich:
er
lenkt es; nicht: er will oder macht oder thut es; ja nicht einmal: er leidet oder duldet es. ältester, Materialien.
Denn anch
2. Auflage.
das ist nicht wahr,
16
sofern Gott
242
2. Hauptstück.
Erster Artikel.
vielmehr dem Bösen fort und fort entgegen wirft, um dasselbe aus der Welt und aus dem Herzen herauszuschaffen.
Gott will und sucht und schafft immer nur das
mindesten Theil').
Gute"). Welt
Aber
auch
sittlich Gutes
weil er das will,
eben,
Möglichkeit des
die
Gott versucht auch
hat überhaupt mit dem Bosen nie auch nur den
nicht zum Bosen,
hat er müssen in seiner
Denn Gutes,
Bösen zulassen.
ist nicht ohne Freiheit,
ohne die Möglichkeit des Fehlgreifens
kreatürliche Freiheit nicht der Verirrung denkbar.
und
Wenn Gott nicht bloß Kräfte, Potenzen, sondern Personen, Men die seinen Willen in Freiheit und Selbstbestimmung
schen wollte,
ausführen sollten, so durfte er ihnen
das Vermögen,
auch gegen ihn und seinen Willen zu bestimmen, ist
Das
die Möglichkeit des Bösen,
und schaffen
welche Gott
als er freie Wesen
mußte,
schuf,
sich in
sich
nicht abschneiden.
geschaffen hat
die Wirklichkeit
des Bösen liegt ausschließlich in dem von ihrem Ziele abirrenden Willen der Kreatnr3). — Er thut alles, was mit der Freiheit der Kreatur
Gott lenkt.
verträglich ist, um das Böse zu verhindern.
droht:
Er lockt, mahnt, warnt,
wenn dann freilich der Mensch nicht hören will,
ihn seine Wege gehen.
aus den Augen, noch aus der Hand. Liebe und Geduld
„Niemand sage, wenn er versucht wird,
daß er von
Denn Gott kann nicht vom Bösen versucht werden, er selbst
Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner
aber versuchet niemand).
eignen Lust
er wendet jedes Mittel
Denn Gott ist nicht ein Versucher znm Bösen, er versuchet
Gott versucht werde.
niemand (wörtlich:
läßt er
Er geht ihm mit unendlicher
auf seinen Wegen nach;
’) Jakob. 1, 13-15.
so
da läßt er den Sünder weder
Doch auch
gereizet und
gelocket wird.
Danach, wenn die Lust empfangen hat,
gebiert sie die Sünde; die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert sie den Tod."
2) Jakob. 1, 16—18.
„Irret nicht, liebe Brüder.
Alle gute Gabe und alle
vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei weichein
ist keine Veränderung noch Wechsel
des Lichts und der Finsterniß.
Er hat uns
gezeugt nach seinem Willen durch das Wort der Wahrheit, daß wir Erstlinge wären
seiner Kreaturen." 3) Sirach 15, 14—17.
„Gott hat den Menschen von Anfang geschaffen und
ihm die Wahl gegeben.
Willst du, so halte die Gebote und thue, was ihm gefällt,
in rechten: Vertrauen.
Er hat dir Feuer und Wasser vorgestellet; greife, zu welchem
du willst.
Der Mensch hat vor sich Leben und Tod;
ihm gegeben werden."
welches er will, das wird
243
Die Vorsehung.
der Milde,
wie der Strenge,
um ihn zur Umkehr zu bringen.
an,
Bekehrt er sich, so nimmt er ihn in Gnaden an, und vergiebt dem
Reuigen seine Schuld.
Bereute
und vergebene
Sünde ist nicht
mehr').
Verstockt er dagegen sein Herz, so saßt ihn, ehe er es sich
versieht,
Gottes strafende Hand; und trifft ihn,
wenn
nicht schon
hier, so droben das Gericht").
Gott lenkt: wie den Thäter, so auch seine That; daß schließ lich aus
dieser nur dasjenige herauskommen kann, was Gott will;
und insbesondere die unter den Thaten
der Bösen Leidenden als, was Gottes
etwas anderem betroffen werden,
von
Rath über sie beschlossen hat, und was zu ihrem Frieden dient.
Mensch denkt, aber Gott lenkt."
der Vorsatz,
Nur
es
„Der
der Gedanke
gehört dem Menschen an;
bis zu dem Augenblicke der Ausführung
ob
nie
heiliger
daß sie gelingt,
und
ist
nicht
mehr ganz sein; geschweige hat er die Folgen in seiner Hand.
Will
schon diese, Gott,
zu ihr kommt,
so muß noch in dem Augenblick, wo der Pfeil vom Bogen
schnellt, die Sehne zerreißen; muß ein Stäubchen,
das
dem Wan
derer in's Auge kommt, muß der Rus eines Vogels, muß ein plötz
lich austretender Gedanke Veranlassung werden, daß chen der
zielt,
Mörder
wendet,
sich
unschädlich an ihm vorbeigeht').
und
„Aus
tiefer Noth
ruf' ich
Sünde viel, bei Gott ist viel mehr Gnade. wie groß auch sei der Schade.
Er ist
erlösen wird von allen Sünden.
der,
tödtliche
auf wel Geschoß
Vollends ordnet Gott die Folgen
welches aus ihr hervor-
der That, bestimmt das Maß der Uebel,
J) Lied 388.
das
dir." — „Ob bei uns ist der
zu
Sein' Macht zu helfen hat kein Ziel,
allein der gute Hirt, der einst sein Volk
Auren!"
2) Ps. 37, besonders 9. 10. 14. 15. 35. 36.
„Es ist noch ein Kleines, so ist
der Gottlose nimmer; und wenn du nach seiner Stätte sehen wirst, wird er weg sein. — Die Gottlosen ziehen das Schwert und
spannen ihren Bogen, daß sie
fällen den Elenden und Armen und schlachten die Frommen.
Aber ihr Schwert
wird in ihr Herz gehen, und ihr Bogen zerbrechen."
Galat. 6, 7. 8.
„Irret euch
Mensch säet, das wird er ärnten. das Verderben ärnten.
nicht,
Gott läßt sich nicht spotten.
Was der
Wer auf sein Fleisch säet, der wird vom Fleische
Wer aber auf den Geist säet, der wird vom Geiste das
ewige Leben ärnten."
3) Röm. 14, 7. 8.
selber.
„Unser
keiner lebt ihm selber,
unser keiner stirbt ihm
Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn:
darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn."
2. Hauptstück.
244
Erster Artikel.
gehen soll, und »ertheilt dieselben, nachdem es ihm gefällt.
Darum
ist es auch für den von einem Leiden Betroffenen — was das Leiden
Nachlässigkeit,
angeht — ganz gleich, ob dasselbe durch Bosheit,
überhaupt durch Thätigkeit von Menschen,
oder durch
erkennbare oder nicht erkennbare Ursache,
durch Kräfte der Natur,
sonst welche
der ihn verletzte, von
herbeigeführt ist; ob beispielsweise der Stein,
Menschenhand geschleudert oder von dem Fuße des flüchtenden Wildes
oder vom Sturmwind losgerissen ward.
Das eine, wie das andere,
hat er als ein von Gott zu seiner Prüfung, Läuterung, Besserung,
kurz zu seinem Heile Geschicktes anzusehen, und sich in beiden Fällen durchaus mit derselben demüthigen Unterwerfung und derselben Freu
digkeit in Gottes Rath und Willen zu fügen;
wie
er ja auch bei
den frohen Ereignissen seines Lebens, z. B. bei Rettung aus Gefahr,
in seinem Danke gegen Gott keinen Unterschied
selbe durch menschliche Vermittlung
oder unmittelbarer
gänge in der Natur zu Theil geworden ist. ist der,
daß uns
macht, ob ihm die durch Vor
Der einzige Unterschied
in den bezeichneten Fällen
die Aufgabe entsteht,
neben dem sonstigen Schmerze die Bitterkeit zu überwinden, die sich
unser so leicht bemächtigt,
wo wir
durch
menschliche Verfehlung
leiden, und in dem Umstande, daß wir der Gegenstand einer solchen
geworden sind, nichts
anderes zu sehen, als die Aufforderung, daß
gerade wir dem an uns sich offenbarenden Unrechte entgegenhandeln
und
cs durch verdoppelte Kräfte des Guten überwinden
sollen').
Thun wir das, dann haben wir, abgesehen von dem sonstigen Segen,
in welchen Gott menschliche Uebelthat zu verwandeln
nie unter
läßt, hierin allein schon selige Erfahrung und herrlichste Erfüllung
des Wortes,
welches der von seinen Brüdern verkaufte Joseph da
nach zu diesen Brüdern sprach:
„Ihr gedachtet, es böse mit mir zu
machen; Gott aber gedachte, es gut zu machen" (1 Mos. 50, 20). Gott siegt!
Schon vorher gedachte» wir des Sieges,
göttliche Gnade über die Sünde in
welchen
dem sich bekehrenden Sünder
’) Ps. 37, 1. 7. 8. „Sei stille dem Herrn und warte auf ihn. Erzürne dich nicht über den, dem sein Mnthwille glücklich fortgeht. Stehe ab vom Zorn und laß den Grimm; erzürne dich nicht, daß dn auch Uebles thust." Romer 12, 21. „Laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem."
cf. v. 17- 20.
Der Mensch nach GotteS Bilde.
Die Kreaturen.
gewinnt.
Aber
die sich
auch
versteckende Sünde,
245
das
Böse vermag sich nirgends auf die Dauer sestzusetzen,
beharrliche
arbeitet viel
mehr fort und fort an seiner Zerstörung und wird, wenn die Ziele
denen
erreicht sind,
es
widerstrebend
Das ist die Größe unseres Gottes,
dient,
daß
auch
schließlich vernichtet! das Böse nur dazu
wird, theils, um sich
dient nnd nur dazu heraus- und zugelassen
selbst untereinander aufzureiben, theils, um ihm gegenüber die Kräfte des Guten zu sammeln,
Triumph
über
zu
steigern
dadurch — neben
und
das Böse — einen höheren Grad
dem
der Vollkommen
heit hervorzurufen, als ohne den Widerstreit des Bösen möglich ge
wesen ’).
Wie dies im höchsten Sinne und in einer die letzten Ziele
des Weltlaufs vorbereitenden und
vorbezeichnenden Weise in dem
Tode unsers Erlösers geschehen ist, in welchem Gott recht eigentlich die Sünde durch Sünde vernichtet hat'), freilich nur,
weil dieser
gesteigertsten Sünde seine, wie des Erlösers, gesteigertste Liebe, die Fülle der Gnade und Wahrheit entgegentrat').
Von den Kreaturen, insbesondere dem Menschen.
und
„Schöpfer Himmels
der Erde",
Unsichtbaren, des gesummten Universums.
des Sichtbaren und des Es kommen hier nur der
Mensch und außer ihm diejenigen höheren Vernunftwesen in Betracht, auf deren Dasein eben so unser Nachdenken,
wie
ihre Erwähnung
in der h. Schrift deutet. — ’) „Ich bin ein Theil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft"
(Mephistopheles in Goethe's Faust).
2) „Einer
aber unter ihnen, Kaiphas, der desselbigen Jahres Hoherpriester
war, sprach zu ihnen: Ihr wisset nichts, bedenkt auch nichts: es ist uns besser, ein denn, daß das ganze Volk verderbe.
Mensch sterbe für das Volk,
redete er nicht von'sich selbst;
war, weissagte
er:
Volk allein, sondern,
Solches aber
sondern, weil er desselbigen Jahres Hoherpriester
denn Jesus sollte sterben für das Volk; und nicht für das
daß er die Kinder Gottes, die zerstreut waren, zusammen
brächte" (Joh. 11, 49 f.).
3) 1 Petri 2, 22—24. trug
in
seinem
Munde
ward, nicht drohete,
„Welcher keine Sünde gethan hat, ist auch kein Be erfunden.
da er litt:
Welcher nicht wieder schalt, da er gescholten
er stellte eS aber dem heim, der da recht richtet.
Welcher unsere Sünden selbst geopfert hat an seinem Leibe auf dem Holze;
auf
daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben: durch welches Wunden ihr seid heil geworden."
Der Mensch, dem
Erster Artikel.
2. Hauptstück.
246
die Krone der sichtbaren Schöpfung,
Ebenbilde Gottes geschaffen (1 Mos. 1, 27).
prägt sich bereits an seinem Leibe aus.
ist nach
Dieses Ebenbild
Die aufrechte Gestalt, der
nach oben gerichtete Blick, der Ausdruck der Besonnenheit und des
Willens zeichnen ihn weit über alle Kreatur aus, die sich in ahnungs voller Scheu vor
der Herrlichkeit des Menschen beugt.
wo auf diesem Antlitz der Friede Gottes thront,
Vollends,
aus diesem Auge
Liebe und Erbarmen blickt, die gesammte Erscheinung Durcharbei
tung des Geistes zeigt:
da mögen wir sagen,
Gottes sichtbar entgegentritt.
auch
das Bild der Trägheit,
daß uns
das Bild
Ebenso oft freilich begegnet uns
—
der sinnlichen Lust,
des Hochmuthes,
des Neides, mit einem Worte der Sünde, die sich nicht minder mit unverkennbaren Zügen in die Leiblichkeit des Menschen eingräbt und
ost in einer solchen Weise eingegraben hat, Bild Gottes noch zu erkennen.
daß es schwer ist,
unserer äußern Erscheinung vermittelte es, eindringender Blick oft schon
das
Diese Ausprägung des Geistigen in bei
daß
des Erlösers tief
dem ersten Begegnen') erkannte,
was in dem Menschen war; andererseits läßt sie uns völliger ver stehen, was Joh. 1,14 von dem Heilande gesagt ist:
seine Herrlichkeit,
„wir sahen
eine Herrlichkeit als des Eingebornen von dem
Vater voller Gnade und Wahrheit". — So vermögen auch
wir die
Menschen, mit denen wir zu thun haben, zu durchblicken, und würden
selten getäuscht werden, wenn unser Urtheil nicht so vielfach, sei es durch zu großes Gewicht legen auf sinnliche Schönheit, sei es durch
geschmeichelte Eitelkeit
und Voreingenommenheit
freundlich zu uns thun, verdorben würde. auch
für
die,
welche
Aber ebenso werden
wir trotz aller Verhüllung von reineren Menschen
stets durch
schaut"). mit der Sama-
1) Z. B. mit Petrus (Joh. I, 42); mit riterin am Brunnen (4, 17). — Vergl. 2, 25.
2) Es ist eine sehr gewöhnliche Rede: Man könne es einem Menschen „nicht
an der Nase"
ansehen, wes Geistes Kind er sei.
an vielem andern.
Man kann es doch, und noch
Ich glaube, wenn mancher Mann und manche Frau wüßte,
wie häßlich sie durch das werden, was sie in der Seele nähren, sie würden schon aus Eitelkeit — besser werden? — nein (das hieße den Teufel mit dem Teufel
austreiben), aber achtsamer sein auf sich: und es ginge ihnen vielleicht eher das
Verständniß von der ganzen Widrigkeit der Sünde auf. —
Das Ebenbild Gottes, welches durch die Leiblichkeit des Men schen durchscheint, hat als ein wesentlich Geistiges seinen Sitz in dem Geiste des Menschen, in der Vernunft und dem Gewissen d. i. in der Fähigkeit, Gott zu erkennen und zu lieben; oder, wie man auch sagen kann: in dem freien Willen. 1) Von Freiheit, freiem Willen ist schon mehrmals die Rede gewesen: es ist Zeit, daß wir uns darüber näher verständigen. Frei heit ist zunächst nicht Ungebundenheit, wie es dem unverständigen, besonders dem jugendlichen Menschen meist vorkommt: sonst wäre auch das Thier (ivie wir es freilich oft fälschlich nennen) frei, wenn es nicht am Halfter oder in der Umhegung gehalten ist. Wir aber wissen, daß die Thiere auch in dieser „Freiheit" oder richtiger Wildniß die Fesseln ihrer Naturtriebe tragen. So ist auch mancher Mensch, den keine Kette hält, kein Band bindet, ein Sklawe seiner Leidenschaft, ein Knecht der Sünde: während sich an dem rechten Menschen das Wort des Dichters erfüllt: „Der Mensch ist frei ge boren, ist frei, und wär' er in Ketten geboren." — Freier Wille, Freiheit ist zum andern nicht Willkür. Sie ist es so wenig, daß höchste Freiheit sogar eins ist mit höchster Nothwendigkeit. So bei Gott. Aber auch bei den Menschen haben wir bereits früher darauf hingewiesen, daß, wer noch Unrecht thun, heucheln, lügen oder trügen könne, d. i. wem es noch möglich sei, sich so von seinem innersten Wesen und seiner höchsten Bestimmung ableiten zu lasten, ja, wer zwischen Gutem und Bösem noch schwanke: — daß ein solcher der Schwächere, der von widerstrebenden Kräften noch Gebundene, in der tiefern Bedeutung des Wortes Unfreie sei. — Der freie Wille ist vielmehr das Vermögen des Menschen, sich selbst zu bestimmen. Dieses Vermögen setzt Selbstbewußtsein und Gottesbewußtsein^ Ver nunft und Gewissen voraus; und schließt in seiner Höhe Selbstbe herrschung und Selbstverleugnung in sich. Der Mensch trägt die selben natürlichen Triebe in sich, wie das Thier; aber er weiß von ihnen, vermag sie zu regeln und zu beherrschen. Er hat, wie jedes Einzelwesen, den Drang, sich zu behaupten und zur Geltung zu bringen: aber die Liebe zu seinen Mitmenschen, zum Guten, zu Gott befähigt ihn, sich zu verleugnen und aufzuopfern. Damit ist ihm die Möglichkeit gegeben, über sich hinauszukommen, sich weiter
2. Hauptstück. Erster Artikel.
248 zu entwickeln.
Alle Wesen unter ihm sind, wie sie sind:
schen hat Gott gemacht,
werden soll.
den Men
daß er in eignen Thaten werde, was er
Alle andern Wesen bleiben, wie sie sind: die Spinnen
spinnen heute nicht anders, als sie im Anfänge
gesponnen,
die
Bienen bereiten den Honig in derselben Weise, wie sie ihn im Pa radiese bereitet haben, die Bäume blühen und tragen Früchte, „wie
es ihre Art ist" (1 Mos. 1, 12); kurz: alles verharrt auf dem ihm zugewiesenen Standpunkt und wird nicht anders, wo nicht etwa der
Mensch Thiere und Pflanzen, die in seiner Hand sind, zu andern macht, indem er ihren Wohnort und ihre Nahrung ändert, oder auch
einzelne ihrer Triebe einseitig entwickelt und dadurch über das ur sprüngliche Maß steigert.
Nur er selbst bleibt nicht aus der Stufe,
auf welcher er angefangen hat.
Wie ist trotz alles Aufenthaltes
und aller scheinbaren und wirklichen Rückschritte im Einzelnen die Menschheit im Ganzen vorwärts gekommen und schreitet noch immer
vor in Erkenntniß und Beherrschung der Welt, in Gotteserkeuntniß, Zucht, Ordnung, Sitte! wicklung
für
das
Wer vermag die Gränze dieser Ent
Geschlecht,
wie
für den
einzelnen
Menschen
abzusehen?
2) Das Ebenbild Gottes im Menschen ist kein von vorn herein
fertiges,
ist es auch nie gewesen: sondern ist eine Anlage, welche
sich — und zwar wie bereits gesagt und betont ist — durch eigene That des Menschen entwickeln soll. Wenn der Mensch immer das Rechte thäte und gethan hätte, so würde sich diese als Möglichkeit, als Fähigkeit gegebene Anlage nur mit dem ihm zukommenden In halte erfüllen, das Bild Gottes sich zur Aehnlichkeit mit Gott in vollkommener Weisheit und Heiligkeit entfalten.
Aber so ungestört
und ungehemmt geht diese Entwicklung nirgends vor sich; vielmehr ist dieselbe, soweit wir die Menschheit überblicken,
den Erlöser ausgenommen, durch Sünde gehemmt,
in allen, einzig
der freie Wille
in der vorher angedeuteten tiefen Bedeutung des Wortes gebrochen,
und das Bild Gottes,
obwohl nie vertilgt, verdunkelt und häufig
bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
Unser frommes Bewußtsein sagt
uns, daß diese Entartung der Menschheit, die sich mehr noch, als in einzelnen Uebertretungen, in dem allgemeinen Hauge, zu sündigen,
Von dem niemand frei ist, zeigt, — daß diese nicht das ursprüng-
Der Mensch nach Gottes Bilde.
249
Sündenfall.
lich von Gott Gewollte und uranfänglich Gewesene sei: sondern, daß sie irgendwie und irgendwo einmal in der Menschheit,
durch deren eigene Schuld begonnen haben müsse.
und zwar
Dieses von uns
mit Denknothwendigkeit vorauszusetzende erste Hervortreten der Sünde ist, was wir den Sünden fall nennen.
3) Es ist schlechthin unmöglich, die Darstellung, welche die h.
Schrift von dem ersten in die Erscheinung Treten der Sünde giebt,
in buchstäblichem Sinne als Geschichte aufzufassen. enthält diese Darstellung die Wahrheit.
Dessenungeachtet
Die Sünde hat ihren Ur
sprung in der Lust des Menschen; aber diese Lust hat in dem Men
schen
nicht eher
überwältigende Kraft gewonnen, bevor nicht sein
Verhältniß zu Gott gestört, der Zweifel an Gottes Güte und Wahr haftigkeit in feiner Seele aufgekommen
Damit stimmt auch die Ausführung
des Apostels Paulus überein,
der Röm. 1,19f. die furchtbare Gewalt, Heidenthum,
aus
der Gottes
andererseits
aber auch daraus hinweist,
derum
welche die Sünde in dem
dem Undanke gegen Gott ableitet;
überhaupt in der Welt,
vergessenheit und
war (1 Mos. 3, 1. 4. 6).
gewonnen,
wie durch die sittliche Verwüstung wie
das Gottesbewußtsein
und
die
Gotteserkenntniß verdunkelt
und entstellt, und nun in fortgehender Wechselwirkung
der Sünde
und des Irrthums, des Lasters und des Aberglaubens die Stufe der Verderbniß erreicht worden sei,
deren Bild
er seiner Zeit vorhält.
— Das wird endlich durch unsere eigene Erfahrung bestätigt.
Noch
heute wird, so lange das Bewußtsein Gottes, seines Willens, seines Schutzes in uns mächtig ist, keine böse Lust — wenn dieselbe über haupt in
könnte,
solche
dem ungehemmten Verkehr
uns überwältigen, erweisen,
mit Gott in uns auftauchen
vielmehr jede Versuchung
die wir tragen
können
sich als eine
(1 Kor. 10,13).
Noch
heute ist darum jede Entschuldigung, mit was es auch sei, Verfüh rung durch Menschen, teuflische Anfechtung, Noth, Sinnenreiz u. s. w., ebenso
zurückzuweisen,
als es in jener uralten heiligen Darstellung
geschieht, und den sich hinter dergleichen Entschuldigungen Flüchtenden
zum Bewußtsein zu bringen, daß sie in Sünde gefallen, nicht, weil die „Versuchung" zu groß, sondern, weil ihr Glaube zu klein gewesen sei').
5, 4.
*) Jak. I, 13; 4, 7. „Widerstehet dem Teufel, so fliehet er von euch." 1 Joh. „Unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat."
2. Hariptstück.
250
Erster Artikel.
4) Es ist noch einmal nachdrücklich zu betonen,
daß,
wie ver
wüstet auch das Bild Gottes in einem Menschen, beziehungsweise in
der Menschheit sei,
die Spuren
unvertilgbar find').
Gott,
desselben,
der alles erhält,
die Anlage als solche,
was er geschaffen hat,
erhält vor allem sein eigenes Bild in dem Menschen.
Und Christus
wendet sich mit seiner Wirksamkeit nicht nur überall an den Willen
der Menschen, sondern schreibt auch, wo ihm sein Werk nicht gelingt, solches ausdrücklich dem Nichtwollen der Menschen zu"). Von den Engeln.
1) Die Annahme höher begabter Vernunftwesen, als der Mensch
ist, entspricht ebenso unserm Gemüthe, wie unserm Nachdenken. Möglichkeit ihres Daseins unsern
uns bereits
ist
durch
Die
den Glauben an
eigenen dereinstigen höheren Zustand verbürgt;
die Wahr
scheinlichkeit desselben drängt sich uns in steigendem Maße mit un
serer wachsenden Erkenntniß des Universums als einer Unendlichkeit von Welten auf.
des Wortes
Niemand vermag
des Erlösers
diese Welten zu schauen,
zu gedenken:
ohne
„In meines Vaters Hause
sind viele Wohnungen" (Joh. 14, 2).
2) In der heil. Schrift treten
sonifikationen
von Naturkräften
die Engel zum Theil als Per
und Naturerscheinungen,
oder be
sonderer göttlicher Fügungen und des göttlichen Schutzes auf. bei weitem größeren Theil sind
gedacht.
sie dagegen
Zum
als wirkliche Personen
Schwierigkeiten entstehen nur durch das, was über Engel
erscheinungen berichtet wiro.
Wie sind dieselben zu fassen?
2, 13.19 ist von einem Engel,
sei, Luk. 24, 23 von
Matth.
der Joseph im Traume erschienen
einem „Gesichte
der Engel"
die Rede.
Sind
auch die übrigen Engelerscheinungen in ähnlicher Weise zu denken?
— Wenn man diese Frage richtig beantworten will, so hat man sich
zu hüten,
daß man sie nicht so schief stellt,
*) Matth. 12, 20.
wie cs
in der Regel
„Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen, und den
glimmenden Docht wird er nicht auslöschen, bis daß er ausführe das Gericht zum Siege."
2) Matth. 23, 37. „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder ver sammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel. Und ihr habt nicht gewollt."
Von den Engeln.
251
geschieht: ob die betreffenden Erscheinungen „Visionen" oder wirkliche gewesen seien?
Es ist fürwahr für unsere Zeit, in welcher man so
viel vom Geiste spricht und den Geist so hoch stellt,
eine arge Ge
wie es in dieser Weise geschieht,
dankenlosigkeit, wenn man,
dem,
was lediglich in der Seele des Menschen vorgeht, das Sinnenfällige
als das Wirkliche
entgegensetzt.
Als wenn
dann nicht auch eine
Speise, welche den Magen füllt, wirklicher oder, wie man sich auch ausdrückt, „reeller" wäre, als die Wahrheit, welche die Seele nährt oder ein Sieg in einer Schlägerei,
richten, wirklicher, als in
das Buch
des Lebens
wo nicht
verzeichnet ist.
der
Nicht minder wird der
wenn man meint, das im Menschen-Geiste
Standpunkt verrückt,
Vorgehende,
von der kaum Polizeiakten be
der rein geistige Sieg über uns selbst,
geistig Geschaute darum für weniger göttlich —
das
gar für eine bloße menschliche Einbildung — halten zu
müssen, als die äußere Erscheinung, die den Charakter der göttlichen Offenbarung in höherem Grade an sich trage:
innerlich Erlebte uns in
oder, wo man das
auch nur für minder gewiß hält,
sinnenfälliger Aeußerlichkeit
entgegentritt.
als
das,
Das
was
Gesicht,
welches Petrus Apostelgesch. 10 sah, entbehrte jeder äußern Gegen
ständlichkeit
und war
barung von der
doch
größten
während andrerseits nach
Offenbarung,
Wichtigkeit und
und zwar eine Offen
den weitesten
Folgen:
der Schrift „Satan sich zu einem Engel
des Lichts verstellen" kann (2 Kor. 11, 14).
Und was die Sicher
heit anbelangt, nun so wissen wir, daß die Sinne eben so gut täuschen
können,
wie ein Traum,
andererseits das geistig Geschaute häufig
eine Kraft und eine Klarheit hat, wie sie keine äußere Erscheinung
größer geben kann.
Von dem allen hat man also abzusehen und die
Frage einfach so zu stellen: Sind die Engelerscheinungen, von denen die Schrift berichtet,
als
etwas
in dem Menschen oder als etwas
außer ihm Vorgehendes zu betrachten? Da werden Verschiedene ver
schieden urtheilen; und auch diejenigen,
welche sich für eine äußere
Gegenständlichkeit dieser Erscheinungen entscheiden, die Wahl haben,
ob sie das Sichtbarwerden dieser sonst nicht wahrnehmbaren Wesen auf eine Erhöhung der menschlichen Wahrnehmungskraft, also mehr in Analogie mit dem
rein geistigen Schauen, oder sinnenfälliger
auf ein zeitweiliges Annehmen einer dichteren Leiblichkeit von Seiten
2. Hauptstück.
252
Erster Artitel.
jener (wie die sonst nicht sichtbare elektrische Kraft sich zu dem elektri
schen Funken verdichtet) zurückführen wollen. — diesem Lehrstück a) vor dem Vorwitze,
3) Zu warnen ist bei
der weiteres über Natur,
Gestalt, Zahl, Ordnungen der Engel,
„des er nie keins gesehen hat" (Kolosser 2, 18), festsetzen will; b) vor
dem Kleinglauben, als könne uns Gott nicht auch ohne Engel helfen. „Weg hat er allerwegen, an Mitteln fehlt's ihm nicht;" Meinung,
als ob in dem Engelglauben,
c) vor der
im einzelnen in der An
nahme, daß ein bestimmtes Ereigniß, eine Erscheinung u. s. w. durch
Engel vermittelt sei, ein höherer Grad von Frömmigkeit liege.
Nicht
das ist fromm,. daß etwas auf Engel, fondern, daß es auf Gott zurückgeführt, und Gott auch dafür gedankt wird. Fromme sieht in allem, was geschieht,
Der wahrhaft
Gottes Schickung, Gottes
Gabe — erinnere man sich doch nur an Luther's Erklärung zum 1. Artikel! — während mancher Engelgläubige geneigt ist, dies nur
ausnahmsweise zu thun, und selbst in solchen Ausnahmefällen sich nicht einmal immer zu Gott erhebt, sondern bei dem Vermittelnden, dem Engel oder dem „Heiligen"
stecken bleibt ’).
d) Endlich, an
dem, was uns mit Recht gewiß ist, sollen wir uns durch keine Engel
erscheinung irre machen, noch zu etwas treiben lassen, was gegen
Gottes klares Wort und gegen unser Gewissen ist2).
Vom Teufel. 1) Die Erörterung dieses Lehrstücks giftet,
ist von vorn herein ver
wird wenigstens in hohem Grade erschwert durch den Um
stand, daß man die Lehre vom Teufel thörichterweise zum Stichworte, ') Joh. 5, 4 wird in
kräftige Bewegung
einer später in den Text gekommenen Glosse die heil
des Wassers
eines Engels abgeleitet.
im Teiche Bethesda
von
dem Herniedersteigen
Wir sind nicht geneigt, neben den mancherlei Heilquellen,
die wir kennen, intermittirende, Sprudel u. s. w. noch eine besondere Art „Engel quellen" anzuerkennen.
Sehen wir
darum in
derartigen
Erscheinungen
minder
den „Finger Gottes", der „Brunnen quellen lägt in den Gründen, daß die Wasser
zwischen den Bergen hinfließen" (Ps. 104, 10), und danken wir, wenn wir durch
den Gebrauch
der Gottesgabe gesund
geworden
sind,
minder Gott,
als jener
Glossator?
2) „Aber, so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde Evangelium predigen anders, denn das wir euch gepredigt habe», der sei verflucht." Gal- 1, 8.
hie der Bildung dort des Glaubens, gemacht hat. „Es gehört zur Bildung, das Dasein des Teufels zu bestreiten; und ein Dummkopf ist, wer noch an ihn glaubt!" Und wieder, ein „spezifisch Gläubiger muß vor allem an dieses Lehrstück glauben; thut er das nicht, so ist er ein Ungläubiger, der auch nicht an Gott und an Christus glauben kann!" Da ist vor allem an die Thatsache zu erinnern, daß es ungeheuer bornirte Bestreiter der Lehre vom Teufel, andererseits, daß es Teufelsanbeter giebt. 2) Um die Erörterung möglichst unverworren zu führen, wollen wir die Gesichtspunkte sondern, und die Sache zuerst rein von unserm vernünftigen Nachdenken aus, und dann erst vom Standpunkte der Schrift betrachten. Folgt man dem ersteren, so zeigt sich alsbald, daß die Sache disputabel ist, d. h. eine solche, über welche gleich verständige Menschen eine verschiedene Ansicht haben können, sofern sie sich weder mit Denknothwendigkeit beweisen, noch auch als eine dem Denken schlecht hin widerstreitende und unvernünftige nachweisen läßt. a) Man hat das Dasein des Teufels zu beweisen gesucht durch das Dasein der Sünde, durch die in der Welt vorhandenen Uebel, die sich beiderseits nicht ohne satanische Einwirkung sollen erklären lassen; endlich durch Berufung auf besondere Anfechtungen, sa Er scheinungen des Teufels. Was das erste anlangt: so sei einmal der Ursprung der Sünde durch die Verführung des Teufels erklärt! Wer erklärt nun jedoch den Ursprung des Teufels? — Die Uebel vom Teufel ableiten statt, wie es Christen geziemt, von der Weisheit und Liebe Gottes, widerstrebt dem Glauben an die göttliche Vor sehung, und führt folgerichtig zu der trostlosen und wahnsinnigen Lehre der alten Gnostiker, daß die Welt überhaupt nicht von dem Vatergotte, sondern von einem beschränkten, beziehungsweise bös willigen Wesen geschaffen sei. — Endlich die Anfechtungen und Er scheinungen deS Satans betreffend, so wird niemand das Vorkommen schwerster, auf den ersten Anblick in hohem Grade befremdender und den, welchen sie treffen, außerordentlich quälender Gemüths anfechtungen leugnen, desgleichen kein Verständiger die innere Wahr heit so mancher Erscheinungen des Teufels, die nicht alle nur erdichtet sind, sondern häufiger, als man denkt, auf inneren Erlebnissen be-
254
2. Hauptstück.
ruhen, bestreiten.
Erster Artikel.
Aber eben so wird auch jeder Kundige die einen,
wie die andern, auf leibliche und geistige Störungen, kurz auf inner menschliche Ursachen zurückzuführen wissen'). b) Läßt sich das Dasein des Teufels nicht beweisen, so wider
streitet auf der andern Seite dasselbe, d. h. die Annahme höher ge arteter Vernunftwesen, die gleich dem Menschen mit Sünde behaftet sind,
und eines hervorragenden unter ihnen,
nünftigen Denken.
mit Nichten dem ver
Unvernünftig ist nur der leibliche Satan der
Volkssage mit Pferdefuß und Schweif.
Aber welcher ernste Mensch
hat je einen solchen, und nicht vielmehr nur einen persönlichen Teufel behauptet.
Unvernünftig ist ferner die Annahme sowohl eines ur
sprünglich bösen als auch eines schlechthin oder absolut bösen Wesens:
denn das wäre der böse Gott gegenüber dem guten.
Die Lehre vom
Teufel behauptet dagegen das Dasein ursprünglich guter, in die
Sünde gefallener Engel, die gleich den Menschen nur um des Restes des Guten willen, das in ihnen ist, von Gott erhalten werden und
existiren. — Dem Denken würde endlich auch die Vorstellung eines
solchen satanischen Reiches widersprechen, welches ganz, wie das Reich Gottes, Einheit und Ordnung hätte: denn das hieße behaupten, daß
das Böse eben solche constitutive Kraft und Stand und Wesen hätte, wie das Gute. — Diese Auswüchse und Mißverständnisse beseitigt, hat die Lehre von dem Dasein höher gearteter, sündiger Wesen Undenkbarkeit nur für
die, welche entweder den Ursprung der Sünde
nicht — wie wir — in der Verirrung des kreatürlichen Willens,
sondern ausschließlich in der Sinnlichkeit, speziell in dem Leibe der Menschen suchen; oder, welche sich diese höher
von vorn herein fertige vorstellen.
gearteten Wesen als
Das sind sie indeß ebenso wenig,
als der Mensch fertig ist; vielmehr ebenso als auf Entwicklung und zwar aus Entwicklung
durch
eigne That angelegte und darum in
ihren Werdethaten der Verirrung ausgesetzte zu denken, wie solches
*) Die neuere Wissenschaft weist mit Evidenz die Gesetze nach,
kraft deren
unter gewissen Umständen das nur innerlich Geschaute, Gehörte u. s. w. mit einer
solchen Kraft und Deutlichkeit in dem Gesichts-, Gehör- und Tastorgane erscheint, daß es denselben Eindruck macht,
als ob die Sinne von außen angeregt wären,
und für den in einem solchen Zustande Begriffenen die Unterscheidung, ob er ein Gegenständliches oder ein nur Vorgestelltes schaue, wegfällt.
Vom Teufel.
bei dem Menschen der Fall ist.
255
Dies einmal zugestanden, liegt kein
Widerspruch darin, ist es vielmehr Denknothwendigkeit, daß derartige
Wesen, je höher sie gestanden haben, um so tiefer fallen. — 3) Ueber die Lehre vom Teufel würde nicht so erbittert gestritten
werden, insbesondere die Leugnung derselben schwerlich jemals als Unglaube angesehen worden sein, wenn nicht seiner in der h. Schrift gedacht wäre.
Auch die am eifrigsten für den Teufel streiten, eifern
ja um ihn nicht sowohl seinetwegen
als vielmehr um der Schrift
willen, deren Autorität ihnen untergraben, und damit der feste Grund für allen Glauben ihnen weggenommen scheint, wo eine in ihr so
wiederholt und so klar vorgetragene Lehre geleugnet werde.
Denen
ist zu Gemüthe zu führen zuerst: daß, welchen Werth die h. Schrift auch habe, dennoch unser Glaube sowohl an Gott als an Christum
noch aus etwas anderm stamme und sich auf etwas anderes gründe, als auf die Schrift.
Abraham hat ohne Schrift an Gott geglaubt,
„und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden" (1 Mos. 15,6. Röm. 4,3),
desgleichen
hat
die
gesammte
erste Christenheit
Christum geglaubt ohne die Schrift neuen Testamentes.
daß sie selbst in
der
ganzen
an
Sodann:
andern Punkten, z. B. in Beziehung auf die von
ersten Kirche getheilte,
alleiniger Ausnahme
des
alle Schriften der Apostel mit
Evangeliums und
der Briefe Johannis
durchziehende, und mit noch ganz anderer Inbrunst festgehaltene Vor stellung von der leiblichen Wiederkunft Christi
noch
bei Lebzeiten
seiner Apostel, von dem Buchstaben der Schrift abweichen, und damit
den Beweis
geben,
daß man das thun und dabei doch nicht bloß
mit ganzer Seele an Gott und an Christum glauben, sondern auch
an der Schrift hangen und sie ehren könne.
die kirchliche Lehre vom Teufel in
Endlich: daß mit Nichten
der h. Schrift als Lehre oder
überhaupt so klar und deutlich ausgesprochen ist, daß niemand diese Lehre bestreiten könne,
ohne sich mit der Bibel in unauflösbaren
Widerspruch zu sehen. a) Die Vorstellung vom Teufel ist in der Schrift durchaus
nicht überall dieselbe und einheitlich geschlossene. weiß
überhaupt uichts vom Teufel.
Später
Die älteste Schrift erscheint
der Satan
unter den Söhnen Gottes (im Hiob) — und wird ihm 1 Chronik.
22, 1 dasselbe zugeschriebcn,
was 2 Samuelis 24 aus
den Zorn
Erster Artikel.
2. Hauptstück.
256
Gottes zurückgesührt wird. überhaupt erst,
Erst
im N. Testamente,
namentlich im Munde Jesu,
in welchem
des Teufels häufiger
erwähnt wird (ein Umstand, der von den Spöttern über diese Lehre in ernste Erwägung
gezogen
werden sollte),
in welcher
diejenige Ausprägung erhalten,
der Christenheit eingegangen ist.
Und
hat die Vorstellung
sie in
doch
das Bewußtsein
ist offenbar auch hier
der Satan, der in Judas fuhr, als er den Bissen genommen, wesentlich anderes,
als
die Teufel, welche
ein
die Besessenen plagen;
der Satans-Engel, der dem Paulus in's Fleisch gegeben, daß er sich nicht überhebe (2 Kor. 12, 7. 8. 9), ein anderes, als der Bösewicht,
vor welchem er Eph. 6 warnt; ein anderes endlich
die Vorstellung
des Satans, in Jesu Munde und die Darstellung desselben in der Offenbarung Johannis. b) Obschon nicht zu streiten sein dürfte,
daß die Art, wie die
h. Schrift von dem Teufel redet, die Auffassung desselben als eines, persönlichen Wesens in hohem Grade begünstigt: so tritt er doch an andern Stellen wieder so sehr nur als Personifikation aus, oder wird wenigstens von der Vorstellung ein so freier Gebrauch gemacht, daß
man diejenigen nicht
der wissentlichen Verdrehung
der h. Schrift
zeihen kann, welche behaupten, daß er überhaupt auch in der Bibel nichts als
der Träger
der Idee des Bösen,
geistige Natur und furchtbare Gewalt
der Ausdruck für die
der Sünde sei.
Wir führen
nur Matth. 4, 1s. — Luk. 10,18 — Joh. 8, 37—44 — Eph. 6, 10f.
— 1 Petr. 5, 8 an, die unbedingt nicht buchstäblich genommen wer
den können: während andere Stellen, welche allerdings eine wörtlichere Auslegung zu fordern scheinen, doch auch eine bildliche Auffassung min
destens zulassen,
jedenfalls
auch
bei einer freieren Behandlung
Analogie mit den oben angeführten Stellen würdigen Sinn
geben.
Die
Sünde
d. i. nicht an der Leiblichkeit haftend,
nicht
in
noch einen tiefen und
„Fleisch
und
Blut",
am wenigsten eine liebens
würdige Schwäche, sondern eine furchtbare seelenverderbende geistige
Macht,
die sich nicht bloß auf das Innere des Menschen und den
Menschen selbst beschränkt, sondern weit über den Menschen hinaus
in die Mächte, Gewalten, Ordnungen des Lebens sich eingenistet hat
und zu einer weltbeherrschenden Macht geworden ist;
ja, die ihren
Schatten nicht bloß auf die Erde wirft, sondern überall dahin,
wo
Vom Teufel.
257
fehlende Kreatur sich wider Gott und sein Reich auflehnt:
fürwahr,
das ist ein jo ernster und zugleich sittlich fruchtbarer Sinn, daß ich nicht wüßte, was dem noch durch das Haften an der Vorstellung
eines persönlichen Teufels hinzugefügt werden könnte. c) Wie dem aber auch sei, jedenfalls steht fest: daß weder die Apostel noch auch der Herr, so oft auch er, ja er vor allem sich dieser Vorstellung bedient, eine ausdrückliche Lehre vom Teufel auf
gestellt,
am wenigsten dieselbe als einen Theil der Heilsverkündi
des Glaubens
gung, den persönlichen Satan als einen Gegenstand
behandelt haben. Sie sagen nirgends, wenn einer selig werden wolle,
so müsse er an den Teufel glauben! Kirche,
Das thut nicht einmal die
obschon sie allerdings früh genug eine Lehre vom Teufel
ausgebildet hat: sondern sie fordert den Glauben an den Vater, den Sohn und den h. Geist und tauft auf den Namen von Vater,
Sohn und h. Geisi: von dem Teufel dagegen sagt sie weder bei
der Taufe noch bei der Einsegnung ein Wort! d) Die Vorstellung vom Teufel, dem persönlichen oder unper
sönlichen, ist gar keine unmittelbar religiöse Frage.
Sie gehört
zunächst unserer Weltanschauung an, und geht erst von da auch in unser religiöses Nachdenken über. den Glauben.
Sie entscheidet auch nichts über
Die Pharisäer glaubten
den Teufel ganz fest, und
waren ungläubig an Christum: während man doch heute nicht allen, die den persönlichen Teufel bestreiten, den christlichen Glauben ab
sprechen wird.
Vollends
die Teufelsanbeter
sind
eben Teufels
anbeter. — Sie dient auch nicht immer und nicht unbedingt zu einer würdigern Auffassung der Lehre. Schließt sie auf der einen Seite die Oberflächlichkeit in der Behandlung der Sünde aus, so
hat sie andererseits dem furchtbarsten Aberglauben und den nichts nutzigsten Entschuldigungen für die Sünde Raum gegeben.
etwas, worüber Christen nicht zanken sollten.
Sie ist
Denn am Ende aller
Enden ist es für unser Heil, für unsern Seelenfrieden, für unsere
Sittlichkeit ganz gleichgültig, ob es einen persönlichen Teufel giebt oder nicht.
Giebt es einen: so kann er dem Frommen nichts an
haben, noch wird er ihn schrecken.
„Und wenn in Worms so viel
Teufel wären, als Ziegel auf beit Dächern, so wollte ich doch hinein." „Ein' feste Burg
ist unser Gott." — Und wieder giebt es keinen
Elte st er, Materialien. 2. Auflage.
17
258
2. Hauptstück.
persönlichen Teufel,
verderben.
Zweiter Artikel.
so ist die Sünde Teufels genug,
die Leute zu
Unzähligmal mehrere, als nach der Volkssage der Teufel
geholt und ihnen den Hals umgedreht hat, holt heute noch alle Tage die Sünde und stürzt sie in zeitliches und ewiges Verderben. Darum ist es bei weitem gescheuter, gegen die Macht des Bösen zu kämpfen,
„Zuletzt", sagt der
als über das Dasein des Teufels zu disputiren.
Apostel, — „zuletzt, meine Brüder, seid stark in dem Herrn und
in der Macht seiner Stärke": Das ist es doch, worauf es schließlich
allein ankommt. e) Entschieden verwerflich und
noch widerwärtiger,
als selbst
das fanatische Verdammen ob dieser Lehre, ist das wohlfeile, oft so lieblose Höhnen und Witzeln über die,
welche noch an dieser Vor
Sind sie Redliche, so trage man sie mit Geduld;
stellung haften.
verbergen sie Unlauteres und Unsittliches hinter dieser Lehre, wollen
sie sich namentlich damit entschuldigen, so züchtige man sie, wie sie es verdienen.
Nur eins thue man nicht, man witzle nicht!
Sache ist viel zu ernst,
Die
und die Geschichte dieser Vorstellung zeigt
viel zu entsetzliche Seiten, als daß man einen Spaß daraus machen dürste.
Christus
hat wohl über Irrende geweint und über Frevler
das Wehe gerufen und
die Geißel
geschwungen,
aber nimmer hat
er, sei es über diese, sei es über jene, gescherzt.
Der zweite Artikel. Der zweite Artikel handelt von Jesu Christo; und zwar zuerst von dem, was Jesus Christus ist, oder von seiner Person,
von dem, was er gethan hat, oder von seinem Werke. sagt man auch wohl Verdienst oder Amt,
sodann
Statt Werk
und spricht
dann von
einem dreifachen Amte Christi: dem prophetischen, dem hohenpriesterlichen und dem königlichen Amte, oder von der Lehrthätigkeit,
versöhnenden und
diese
der regierenden Thätigkeit Christi.
Unterscheidung
nichts Wesentliches
zur
der
Doch bringt
Verdeutlichung
des
Gegenstandes hinzu, und können wir ohne Nachtheil der einfacheren
Weise des Katechismus folgen. — Die Erklärung zerfällt gleichfalls
Allgemeiner Ueberblick des zweiten Artikels und seiner Erklärung,
in zwei
stere
noch bestimmter gesonderte Abschnitte:
die Lehre von
der Person Jesu
„Christus",
„unser Herr"
von welchen der er
näher bestimmt; sich indeß
des Ausdrucks „Gottes einge-
eigentlich nur auf die Erläuterung borner Sohn" einläßt, während
259
er die andern Aussagen „Jesus",
u. s. w.
einfach wiederholt. — Zu be
achten ist, daß, was in dieser Erläuterung dem Sinne nach die Hauptsache ist, stylistisch in den Hintergrund tritt, sofern nämlich der die Hauptaussage
enthaltende Satz
nur lautet:
Jesus Christus--------- sei mein Herr":
„ich glaube,
daß
in welchem Satz dann die
dogmatischen Bestimmungen „wahrhaftiger Gott--------- " und „wahr
haftiger Mensch — —",
als
appositionsweise eingefügt sind.
am Schluffe
das
diesen Glauben Begründende,
Dem entspricht auch die Weise, wie
der ganzen Erklärung als Zweck und Ziel des
ge
summten Wirkens Jesu angegeben wird: „auf daß ich sein eigen sei
und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene u. s. w."
Ich
glaube nicht, daß Luther diese Zurückstellung der dogmatischen Be stimmungen gegen das praktische Verhalten zu Christo gerade so be stimmt beabsichtigt hat: aber es ist neben anderm im Katechismus
(z. B. dem ganze« Zuge im 5. Hauptstücke) ein merkwürdiges Zeichen,
in welchem Maße der Geist des praktischen Christenthums in ihm
gewirkt und ihn,
ohne daß er es wußte, über die Schranken des
Dogma erhoben und ihn häufig ein Mehreres und Geistigeres hat sagen lassen,
als er sich selber klar bewußt war.
Dieser Charakter
praktischer Frömmigkeit, in aller Kraft unmittelbaren ebenso einfäl
tigen wie festen Glaubens ausgesprochen — ich möchte ihn fast einen
prophetischen (im altbiblischen Sinn des Wortes) gegenüber dem theologischen und
dogmatisirenden Geiste der Erzeugnisse anderer,
ja selbst anderer Schriften Luther's selber nennen — er ist es, wel cher dem kleinen Katechismus Luther's den Vorrang giebt vor allen
den andern,
selbst vor den ihn an Angemessenheit der Anordnung
und Schärfe der Begriffsbestimmung weit überragenden Heidelberger und Genfer Katechismen.
Der zweite Theil der Erklärung, der von
dem „Werke" Christi handelt, spricht, ohne sich in das einzelne des
Lebens, Leidens, Sterbens u. s. w. Jesu einzulassen, sich statt dessen über die Bedeutung seines gesammten Wirkens für unser Heil aus, daß er mis, dadurch „erlöset,
erworben und gewonnen" habe:
17*
und
2. Hauptstück.
260
Zweiter Artikel.
setzt diese Bedeutung nach vier Gesichtspunkten auseinander, 1) wen
Christus erlöset habe: „mich verlornen und verdammten Menschen;"
„von allen Sünden,
2) wovon er uns erlöset hat:
der Gewalt
des Teufels;"
3) wodurch
er
das
vom Tode und
gethan:
„nicht
mit Gold oder Silber, sondern mit seinem heiligen theuern Blute und seinem unschuldigen Leiden und Sterben;"
endlich 4) wozu
oder zu welchem Zweck und Ende er das vollbracht:
„auf daß ich
sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene
u. s. to." bis zum Schlüsse der Erklärung.
Gehen wir nach diesem Ueberblick an das einzelne,
so treffen
wir zuerst auf den
Namen des Herrn. Derselbe ist, wie die meisten jüdischen Namen, ein bezeichnender:
„Helfer," „Retter."
Er wurde bekanntlich
nach Matth. 1, 21 dem
Herrn auf Befehl des Engels beigelegt; er ist indeß auch sonst kein ungewöhnlicher in seinem Volke.
Wir nennen Jesus Nave d. i.
den Sohn Runs (Sirach 46, 1); ferner Jesus mit dem Beinamen
Justus, den Gefährten des
Apostels Paulus (Kol. 4, 11); endlich
den Verfasser des bekannten
Buches Jesus
ist nicht eigentlich Name, Würde des Herrn:
Sirach. — Christus
sondern Bezeichnung
doch ist es,
der eigenthümlichen
wie noch heute Bezeichnungen des
Amtes, des Geschäftes, der Würde eines Menschen zur Bezeichnung
seiner Person
dienen müssen,
frühzeitig Personen-Name geworden:
Jesus Christus oder Christus Jesus
Im übrigen setzte man, näher bezeichnen wollte,
oder auch Christus
allein. —
wenn man die Persönlichkeit des Herrn
nach
jüdischer Sitte den
Vaters, oder seiner Vaterstadt, oder beide hinzu:
Namen seines
Jesus von Naza
reth (Luk. 24, 19; Joh. 19, 19; Apostelgesch. 6, 14), Josephs Sohn von Nazareth (Joh. 1, 45).
oder
Jesus
Name und Würde des Herrn (Jesus der Christ — des Menschen Sohn).
261
Die Würde des Herrn. 1) Christus, buchstäblich der „Gesalbte" (Messias),
bezeichnet
den durch die Propheten verheißenen großen Propheten, König der Gerechtigkeit, Retter Israels, „den Davidssohn," dessen Ankunft zu
das jüdische Volk unter dem wachsenden Drucke der
Jesu Zeiten
Römerherrschaft mit fieberhafter Aufregung
Jesus
erwartete.
hat
sich als dieser „Christus" oder „Messias" bekannt: vor seinen Jün gern (Matth. 16,13 f.), vor dem Volke (Matth. 21, lf.), vor seinen
Richtern im Angesichte des Todes (Matth. 26, 63 f.; Joh. 18, 33 f.;
vergl. 19, 19).
Doch hat er das nicht eher gethan, als, bis er durch
seine Wirksamkeit den sichern Grund zu
dem rechten Verständnisse
gleichzeitig
die Verhältnisse
seines Messiasthums gelegt,
und
dahin entwickelt hatten,
von seinem offenen Heraustreten mit
daß
diesem Bekenntniß kein Mißbrauch
Volks,
kein Herabziehen
dahin hat
er sich vielmehr ebenso
Rufe im Volke,
entzogen.
zur politischen Aufregung
in's „Fleischliche"
sich
des
zu fürchten war: bis
dem hie und da auftauchenden
übelwollenden Drängen (Joh. 10, 24),
wie einem
Daß er sich nichtsdestoweniger von dem Beginn seines
öffentlichen Auftretens seiner messianischen Bestimmung im höchsten
Sinne bewußt war, zeigt der Ausdruck des „Menschen Sohn", dessen
er sich von Anfang an, so
oft er von sich selbst sprach,
mit Vor
liebe bedient hat, der dasselbe und wohl noch ein Höheres, als der
gewöhnliche „Christus", aussagt, und sich von demselben nur dadurch
unterschied, daß er das Bewußtsein Jesu reiner ausdrückte, und ihn durch seine änigmatische Form vor rohen Mißverständnissen politischen Verdächtigungen schützte.
und
Aus welcher einzelnen Schrift
stelle Jesus diese Bezeichnung hergenommen hat, durch welche er die Messiashoffnungen seines Volkes eben so bejahte, wie er sie über die
und von
nationalen Schranken erhob
den
sinnlichen Auswüchsen
reinigte, ist nicht bis zur Uebereinstimmung ausgemacht.
lich
denkt man
Thiere,
ein geflügelter Löwe,
gräuliches Thier werden,
an Daniel c. 7, woselbst dem Seher
und
ein Bär,
Gewöhn
zuerst
vier
ein Parder und ein ganz
als Bilder von vier Weltreichen, die zertrümmert
darauf auch
„das Reich
(v. 18) unter dem Bilde eines erscheint,
der Heiligen des Höchsten"
„der in
Himmels, wie eines Menschen Sohn, kommt" und
den Wolken „vor
des
den Alten
2. Hauptstück.
262
gebracht wird" (v. 13).
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
Nach der Weise, wie der Erlöser mehrfach
auf diese Stelle anspielt, kann nicht bezweifelt werden, gekannt habe, ja,
daß sie ihm bei
daß
er sie
der Wahl des Ausdrucks auch
vorgeschwebt haben möge: wie denn die Beschäftigung mit den Weis sagungen des Daniel in jener Zeit der Drangsal und der Sehnsucht
überhaupt eine häufige war.
Dagegen ist insofern nicht wahrschein
lich, daß sie ihm die erste und einzige Veranlassung zur Anwendung
jenes Namens auf sich gegeben habe, als der Daniel'sche „Einer, wie
eines Menschensohn," keine Persönlichkeit, sondern gleich den voran gehenden Thierbildern nur ein Reich, das Reich der „Heiligen" oder des „heiligen Volkes
des Höchsten"
(v. 27) bezeichnet. — Darum
haben andere an Ps. 8, 5f. gedacht.
In der Erkenntniß der Größe
und Herrlichkeit des Menschen sei
dem Heilande
das Messiasbe
wußtsein aufgegangen, habe sich andererseits das Messiasthum zum Bewußtsein des wahren Menschenthums entwickelt.
Am wahrschein
lichsten ist die Bezeichnung des Menschen Sohn von Jesus aus der
Verheißung
1 Mos. 3, 15') abgeleitet und selbstschöpferisch ausge
prägt, nicht dem Daniel nur nachgesprochen; auf jeden Fall ist der Inhalt dieser Verheißung, welche er ja kennen, und mit welcher er sich nach
seiner Weise
des Schriftverständnisses
auseinandergesetzt
haben mußte, mit in diese Bezeichnung hineingenommen. der Sinn derselben
folgender:
„der Weibessame,
d. i.
des menschlischen Geschlechts (des Menschen Sohn),
Dann ist
der Sproß
der nicht erst
dem David, der bereits im Paradiese den Ureltern verheißen ist, und der auch nicht nur Davids Reich in Davids Volk, der vielmehr
Gottes Reich in
der Menschheit aufrichten soll;
der Netter nicht
sowohl von äußerem Joche als von der Last der Sünde, welcher der Sünde den Kopf zertreten, dafür aber auch freilich ihren Fersenstich
erfahren wird." — So hatte der Herr sich von Anfang
an
erfaßt,
und mit diesem rein geistigen und allgemein menschheitlichen Inhalt
hatte er
die
messianischen Vorstellungen
Volkes durchdrungen lange zuvor,
und Hoffnungen
seines
ehe ihm auf seine Frage: wer
sagen die Leute, daß des Menschen Sohn sei, die glaubensfreudige ’) „Ich will Feindschaft setzen zwischen dir nnd dein Weibe und zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Derselbe soll dir den Kopf zertreten; und du wirst ihn in die Ferse stechen."
Würde des Herrn (Jesus der Christ — des Menschen Sohn).
263
Antwort entgegen kam: „du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes;" und er aus diesem Bewußtsein heraus sie annahm (Matth. 16, 13 s.).
2) Der Glaube,
daß Jesus
von Nazareth der Messias,
„der
Christus" sei, war lange Zeit der einzige Artikel, durch welchen sich die christliche Gemeinde,
„die Gläubigen"
von ihren ungläubigen
Volksgenossen unterschieden (Apostelgesch. 2, 36; 1 Joh. 5, 1).
Und
Jesus selbst hat diesen Glauben an sein Messiasthum für den festen Grund erklärt,
auf welchen er seine Gemeinde bauen werde,
und
verheißen, daß er ihm die Schlüssel des Himmelreiches geben wolle
(Matth. 16,13 f.
Mark. 8, 27 f.
Luk. 9, 18 f.).
So muß ja wohl
dieser Glaube das Wesentliche des Christenthums ausmachen.
Aller
dings bezieht man gewöhnlich das Lob und die Verheißungen, welche Christus Matth. 16, 13f. dem Petrus
— des lebendigen Gottes Sohn".
ertheilt,
auf das:
„du bist
Die Vergleichung mit den Pa
rallelstellen zeigt indeß, daß der Kern des Petrinischen Bekenntnisses in der That das: „du bist der Christus", oder, wie Lukas es aus
drückt: „du bist der Christ Gottes", gewesen sei: sonst hätten ja die beiden Evangelisten das
andere nicht auslasfen können.
Daß Pe
trus darum das letztere nicht auch gesagt haben könne, so gut, wie Joh. 6, 69,
folgt daraus nicht.
Nur hier ist es nicht die Haupt
sache, sondern die ist, was auch Markus und Lukas angeben;
auch die Vergleichung mit dem Bekenntniß der „Leute" zeigt.
wie Wie
hoch nämlich diese von dem Herrn hielten, „er sei ein ganz außer
ordentlicher Mann, ein Prophet, der größte aller, der Prophet, der
dem Messias unmittelbar vorangehen solle:"
darin waren sie doch
alle einig, daß er selbst nicht der Messias sei. kommt, wird es doch noch anders kommen."
„Wenn der Messias
Fragt man aber, was
sie denn an Jesus vermißten, und wovon sie meinten, daß es an
ders kommen müsse: so treffen wir auf
alle jene äußerlichen und
selbstsüchtigen Erwartungen von Macht, Herrschaft, sinnlichem Wohl ergehen, welche der Herr in seiner Antwort an den Petrus mit dem
Worte „Fleisch und Blnt" bezeichnet. noch kein Glaube war,
über Jesus
das
Diesem Glauben, der eben
der vielmehr mitten in seinen Lobsprüchen
Bekenntniß
der Unzufriedenheit, mindestens
des
Nichtbefriedigtseins durch ihn vor sich her trug; der kein Hehl machte,
2. Hnuptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.
264
daß er nur vorläufig an Jesus halte, wann aber der „Rechte" käme, ihn verlassen werde:
diesem Glauben der Leute gegenüber spricht
nun Petrus den seinigen aus: „Nein, nicht ein Vorläufer, sondern
du bist es selbst,
aus den unsere Väter gehofft,
und
in
dem wir,
trotzdem du nicht hast, „wo du dein Haupt niederlegst", alles ge
funden haben, was unsere Seele bedarf, und unser sehnendes Herz
begehrt.
„Herr, wohin sollen wir gehen? du hast Worte des ewigen
Lebens" (Joh. 6, 68).
„Und
ob mir gleich Leib und Seele ver
schmachten, so bleibst du doch meines Herzens Trost und mein Theil"
(Ps. 76, 26).
Diese Stellung
des Herzens zu Jesu,
man au
daß
ihm genug habe und bei ihm ausharre und keines andern Menschen oder Dinges zu seinem Frieden bedürfe: Wortlaut des
Bekenntnisses sind noch
diese Stellung,
das
heute
nicht der
wesentliche
im
Christenthume, dasjenige, worauf es vor allem und allein ankommt.
3) Bekanntlich begründet
den Anspruch
des Papstes
auf diese Stelle die römische Kirche
auf den Primat über die Kirche.
Gedankengang ist dieser: Christus hat ßungen gegeben.
dem
Petrus
Der
diese Verhei
Petrus ist der erste Bischof von Rom
gewesen.
Der Papst ist sein Nachfolger und Erbe seiner Verheißung.
Also
ist der „Stuhl Petri" der Fels, auf welchem die Kirche ruht, und
der Papst der Inhaber der Schlüsselgewalt, kraft deren er als Stell vertreter Christi der Kirche vorsteht, und nicht bloß sie, sondern auch
den Himmel auf- und
zuschließt. —
Abgesehen
davon,
daß
die
„Schlüssel des Himmelreichs,, doch wohl noch etwas anderes bedeu
ten,
als
der Papst darunter versteht:
nicht dem Petrus für seine Person,
so sind
diese Verheißungen
sondern dem Glauben,
den er
aussprach, gegeben (cf. v. 23): so ist Petrus niemals Bischof von Rom, und wahrscheinlich nicht einmal in Rom gewesen, also auch
der Papst nicht sein Nachfolger: so
ist drittens der Papst,
wenn er Nachfolger Petri wäre, darum
noch
selbst
nicht Erbe Petri; so
würde endlich, auch dies noch zugestanden, auszumachen sein, worin er Erbe sei: ob, wie er meint, in Beziehung auf die dem Petrus zu Theil gewordene Verheißung, oder, wie ein großer Theil der Kirche
meint, in Beziehung auf die über denselben Petrus ausgesprochene Drohung: „Weiche von mir, Versucher; du bist mir ärgerlich, denn du meinest nicht, was göttlich, sondern, was menschlich ist" (v. 23. 24).
265
Petri Bekenntniß und der Primat des Papstes.
Die Wahrheit ist,
daß jeder die „Schlüsselgewalt"
hat,
Namen und Auftrage der Kirche die Kirche verwaltet,
in
die Kirche aufnimmt,
Anordnungen
in
der im
lehrt,
der Kirche
trifft;
tauft, daß
aber nur derjenige das auf eine Gott und dem Herrn wohlgefällige Weise und mit Wirkungen, die über das Aeußere und Zeitliche hin ausreichen, thun werde, welcher und so weit er den Glauben hat,
aus dem heraus Petrus sprach.
Denn nur, wer den Frieden Christi
in sich trägt, vermag denselben zu zeigen und mitzutheilen, vermag den „Himmel" aufzuschließen. Die Anmaßung
des Papstthums haben wir nicht leicht schla
gender zurückgewiesen und zugleich die Weise, in welcher Petrus für
feine Person das Schlüsselamt in der Kirche geübt hat, nicht glück licher dargestellt gefunden,
als
in einer Dichtung, mit welcher der
verst. Direktor des grauen Klosters Dr. Ribbeck das 300jährige Ge
dächtniß der Einführung der Reformation in der Mark Branden burg bei der Reformationsfeier des Gymnasiums am 1. November
1839 begrüßte (Schulblatt der Provinz Brandenburg 1839 S. 386). Wir lassen dieselbe folgen: „Du bist Petrus; und auf diesem Felsen will ich sie erhöhn, Meine Kirche, und unbezwungen von der Hölle soll sie stehn. Dir des Himmels Schlüssel geb' ich; was auf Erden hier dein Wort Löst und bindet, soll gelöst sein und gebunden sein auch dort." So erscholl's zu Simon Zona jenem Jüngerwort zum Lohn:
„Herr, wir glauben, du bist Christus, des lebend'gen Gottes Sohn." lind es baute Christ die Kirche, und er legte ihren Grund Durch die Predigt, die am Pfingsttag scholl aus Simon Petrus Mund. Und die heiligen Schlüssel glänzten hell in des Apostels Hand, Da er in des Heiden Hause kund that, was sein Geist erkannt:
„Nun erfahr' ich in der Wahrheit, daß vor Gott die Völker gleich; Daß nicht dir allein sich öffnet, Israel, das Himmelreich; Daß in allem Volk, wer gottesfürchtig war und recht gethan, Den zum Heil in Jesu Christo nimmt der Vater willig an. Und so schritt von Volk zu Volke bald der Kirche Siegeslauf,
Und es thaten weit die Thore sich des neuen Himmels auf. Bis zu Herkuls Säulen strahlte in der Welt der Gnadenschem, Strahlte, Vaterland, geliebtes, dir auch in das Herz hinein. Dieser Marken Söhne nahten sich der Taufe heil'gem Bad,
Und des Kreuzes Siegesschimuler glänzte über Albrechts Stadt.
Doch, wie einst in Babels Ebene üppig sich das Volk erhob, Himmelhohen Thurm zu bauen, Felsen kühn auf Reffen schob,
266
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
Menschen, kräftig sich verinessend, was der Herr allein vermag, Bis die Sprachen Gott verwirrte und des Stolzes Bau zerbrach: So auch, siegesüppig, thürinten, dieser Kirche Dienst versahn, Nicht mehr Diener, eigne Ehren, eigne Satzung himmelan. Throne überthronend, bauten sie St. Peters Stuhl empor; Weil ja diesen Fels zmn Felsen seiner Kirche Christ erkor!
Aber nicht St. Peters Stuhle gab der Herr das Schlüsselamt, Sondern dem St. Petrus-Glauben, der des Jüngers Mund entflammt.
Drmn auch, wie dem Babelsthurme, zürnte Gott dem stolzen Thron, Und der Sprache Wirrung wieder ward des Uebermuthes Lohn. Denn, wer Gottesdienst begehrte, dem ward Menschendienst gezeigt, Schmachtenden statt des Brots der Wahrheit eitlen Wahnes Spott gereicht; Edlen Geistern, Freiheit suchend, gab die Antwort: Glaubenszwang, Sünd'gen Herzen, heilsbedürftig, bot man Heil für — Goldesklaug. Doch den schnöden Klang vernehmend, endlich zürnt' ein deutscher Mann, Und sein Zürnen blies zum heil'gen Feuer Gottes Odem an. Da ward's hell, da sah'n Unzähl'ge, von des Wahnes Fesseln tret, Daß noch weit vom Peters Stuhle bis ztun Himmel Gottes sei; Daß auf heil'gem Sih nur einer thront und seinem Volk gebeut, Jesus Christus, heut und gestern, und derselb' in Ewigkeit;
Daß ein Heil nur sei, der Glaub' an Gottes Sohn als einz'gen Hort, Eins nur Leben, Weg und Wahrheit, Christi heil'ges Bibelwort; Daß der Opfer unverstandnes Prunken nimmer bringt Gewinnst, Daß Gebet in Geist und Wahrheit nur der rechte Gottesdienst. Sv erklang's aus dir, du theure Wittenberg, um unsre Stadt, Die der König fromtn mit deines Helden Bild geschmücket hat: Er, der (jeiit sich vor'm Altare vor dem Herrn der Herrn gebeugt, Dankend, daß auch seinen: Ahnen Christus jenes Heil gezeigt. Denn umsonst nicht sogst von Mutterlippett du mit Jugendlust, Zweiter Joachitn, der Wahrheit reinen Strom in Deine Brust.
Heute vor 300 Jahren thatst auch du, was Gott gebot, Und empfingst nach Christi Satzung des Altares Wein und Brod. Und dann katn, Berlin, dein Morgen, wo der erste Preisgesang Deines evangel'schen Volkes durch des Teutpels Hallen klang. Und dir, Land, geliebtes, tagt' es, und von Ort zu Ort von hier Flog der evangel'schen Wahrheit himmlisch leuchtendes Panier. Evangelisch, Christi Worten treu, o bleib' es Volk und Land, Uttd mit Früchten solcher Treue segne dich des Ew'gett Hand. Hier auch sei sie festgegründet, Gottes unsichtbare Stadt; Unser auch der Petrusglaube, dem der Herr verheißen hat: Du bist Petrus und auf diesem Felsen will ich sie erhöhn, Meine Kirch', und unbezwungen von der Hölle soll sie stehn.
Jesus Gottes eingeborner Sohn.
267
Gottes etngeborner Sohn.
Jesus ist „des Menschen Sohn": d. i. der Mensch, auf den hin die Menschheit sich
entwickelt, in
dem sie gipfelt, das Haupt und
der Menschheit, von dem aus in sie eingeht, was
der Mittelpunkt
die erste Christenheit in dem Bekenntniß „du bist der
Petrus und
Christus" aussprachen, und was wir noch immer in demselben, aber auch in tausend andern so oder anders gestalteten Bekenntnissen aus drücken:
die Erfüllung aller Verheißung,
schichte, wie in der Menschen Brust,
welche Gott in der Ge
angelegt,
die Stillung aller
Sehnsucht, die Lösung aller Zweifel, der Friede Gottes in dem Ge das alles ist Zesus für die Menschheit und jeden
müth:
einzelnen
nur, und kann es nur sein, sofern er zugleich der „Sohn Gottes" ist, d. h. zu Gott in demjenigen Verhältnisse steht, welches diese Be
zeichnung aussagt. Was ist das für ein Verhältniß?
Es giebt viele Christen, welche jedes Nachdenken und Forschen hierüber als etwas, was von Zweifel zeuge oder zu ihm hinführe, verwerfen, und verlangen, daß man ohne weiteres Grübeln stark und
fest bei
dem
damit gut.
stehen bleibe: „Christus
ist der Sohn Gottes", und
Diese vergessen, daß auch diejenige Vorstellung,
welche
sie mit dieser Bezeichnung verbinden (und irgend eine Vorstellung
werden sie doch haben), zwar nicht aus ihrem, dafür aber aus dem
Nachdenken anderer stammt, von denen sie dieselbe überkommen und angenommen haben.
Die Frage: was heißt
das:
„Jesus ist der
Sohn Gottes?" (die ja auch der Katechismus aufwirft) ist gar nicht
zu umgehen; aus folgenden Gründen: 1) Der Ausdruck „Sohn Gottes" ist ein bildlicher,
der, wenn man ihn nicht im übertragenen und
geistigen Sinne fassen wollte, uns in das reine Heidenthum zurück
führen würde.
2) Der Ausdruck wird auch nicht ausschließlich von
Jesu,
außer ihm auch von andern und zwar a) von allen
sondern
Menschen'), b) von dem jüdischen Volkes, insbesondere seinen Fürsten und Königen') gebraucht.
Eben
darum gilt es festzustellen, in
Bergt, bas ganze neue Testament. 2) Hosea 11, 1. „Da Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, ans Aegypten." Jeremia 31, 20. „Ist nicht Ephraim mein thenrer Sohn und mein trautes Kind?" 3) 2 Samuel. 7, 14. „Ich will fein („des Samen Davids" v. 12) Vater sein,
268
2. Hauptstttck.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
welchem Sinne er denn mit diesem Namen genannt werde.
sus selbst
vergleicht sich
mit andern,
3) Je
die auch Söhne Gottes, ja
Götter in der Schrift genannt worden seien, und leitet daher seine
Berechtigung ab, viel mehr sich Gottes Sohn zu nennen.
Joh. 10,
30—36'). Daraus ergiebt sich von selbst, daß die Frage: „Was heißt das?"
in keiner Weise eine Frage des Zweifels ist. nicht so,
denn
sie will
ja nicht untersuchen:
Sie lautet auch gar ob Jesus der Sohn
Gottes sei — das bildet vielmehr die Grundlage aller Untersuchung
und wird bei allen Beantwortungen vorausgesetzt: sondern sie sucht nur festzustellen, in welchem Sinne er vor andern — der „Ein
geborene vom Vater" — sei?
Die dessenungeachtet an dieser Frage
Anstoß nehmen und diese Untersuchung verwehren — weit entfernt, daß sie besonderen Glauben verrathen — bekunden nur ihre Unfähig
keit,
die einfachsten Dinge zu
unterscheiden, oder ihre Gewisfens
tyrannei, welche keine andere Antwort zulasfen will, als, welche sie
festgesetzt haben.
Dies voraus, betrachten wir nun die verschiedenen Auslegungen, welche der Ausdruck „Sohn Gottes" gefunden hat; indem wir von derjenigen Auslegung, welche das Mindeste aussagt, allmählich bis
zu
der fortschreiten,
welche das Höchste von Jesu zu setzen scheint.
Es ist das auch im ganzen die Reihenfolge, welche die geschichtliche Entwicklung dieses Lehrstückes genommen hat. und er soll mein Sohn sein."
Ps. 2, 6f.
„Aber ich habe meinen König eingesetzt
auf meinen heiligen Berg Zion. — Du bist
mein Sohn,
heute habe ich dich
gezeugt." *) Jesus hatte von sich gesagt: „Ich und der Vater sind eins."
Dieser-
halb der Gotteslästerung angeklagt, beruft er sich nun auf den Ausspruch Ps. 82,6. „Ich habe
gesagt: Ihr seid Götter."
So er diejenigen Götter nennt, an welche
das Wort gerichtet ist (die Empfänger der Offenbarung), und die Schrift kann doch
nicht gebrochen werden: sprechet ihr denn von dem, welchen der Vater geheiligt und
in die Welt gesandt hat (von dem Träger der Offenbarung): du lästerst Gott, weil
ich sage „ich bin Gottes Sohn"?
Zu bemerken ist die Weise, in welcher der
Herr den letztern Ausdruck dem im Anfang gebrauchten: „ich und der Vater sind
eins" vollkommen gleichstellt:
seine authentische Erklärung,
denn er setzt ihn an seine Stelle. was
Wir haben darin
er unter dem Ausdruck „Sohn" und „Sohn
Gottes" verstanden habe: nämlich das völlige „Eins sein mit dem Vater": welches
selbstverständlich
an
dieser Stelle nur von der Einheit des Geistes und der Ge
sinnung gemeint sein kann.
Jesus Gottes Sohu: Deutungen: Jesus der vollkommenste Mensch.
1) „Jesus
ist Gottes
Sohn"
heißt:
269
„Jesus steht unter allen
Menschen Gott am nächsten, er ist der beste, vollkommenste, tugend hafteste Mensch, indeß genau genommen auch nur ein Mensch, wie
wir." — In dieser Antwort ist zuerst richtig,
daß Jesus Christus
Mensch, voller, ganzer, wahrhaftiger oder, wie es das Volk ausdrückt, gewesen sei.
„richtiger" Mensch
Desgleichen ist Wahrheit, daß er
der beste, vollkommenste Mensch gewesen, der Gott so nahe gestanden hat, wie kein anderer.
Unrichtig ist dagegen, daß er nur der beste,
im übrigen aber ein Mensch, wie wir, d. h. ein sündiger Mensch gewesen sein soll. Jesus war voller, ganzer Mensch.
Erscheinung,
Das bezeugt seine gesammte
seine menschliche Geburt, seine Hülfsbedürftigkeit als
Kind, sein „Zunehmen an Alter und Weisheit", seine menschlichen
Bedürfnisse, seine Kämpfe (nicht bloß in Gethsemane),
Leben durchziehenden Versuchungen
ganzes
(Luk. 4, 13;
seine sein
22, 28;')
Ebr. 4, 15)’), sein Leiden, sein Tod. — Und diese volle Menschheit war zur Vollbringung seines Werkes daß Gott in ihm war (2 Kor. 5, 19):
an uns
ebenso nöthig, wie,
„Denn er nimmt nirgends
die Engel an sich, sondern den Samen Abrahams nimmt er an sich.
Darum mußte er allerdings seinen Brüdern gleich werden, auf daß er barmherzig würde und ein treuer Hoherprtester vor Gott, zu ver söhnen die Sünde des Volks.
versucht ist,
kann
er helfen
Denn darinnen er gelitten hat und denen,
die versucht werden" (Ebr. 2,
16—18. cf. 4, 15). — Ja, es läßt sich aus der Geschichte nachweisen und entspricht auch vollkommen der Natur der Sache, daß die Ver kennung
oder Verkürzung
des Menschlichen in Jesu die christliche
Wahrheit sogar noch mehr entstellt und den heiligenden Einfluß des Evangeliums gebrochen hat, als dies bei der Verkürzung des Gött
lichen in ihm geschehen ist.
Denn bei dieser bleibt doch — bei einer
nur einigermaßen würdigen Auffassung Jesu — immer das mensch-
„Und da der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang."--------- „Ihr
aber seid
es, die ihr beharret habt in meinen Anfech
tungen bei mir." 2) „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte Mitleid haben
mit unsrer Schwachheit; sondern, der versucht ist allenthalben, gleichwie wir, doch ohne Sünde."
270
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
lich hohe Vorbild mit seiner läuternden, tröstenden und erhebenden Kraft; wo dagegen das Menschliche in ihm verkürzt oder in bloßen
Schein aufgelöst wird,
da verwandelt sich bei aller Hervorhebung
des Göttlichen die Erscheinung Jesu in ein trügerisches Phantom,
eine unheimliche Spukgestalt,
an der sich niemand trösten,
erheben,
halten kann, weil sie selbst jedes Haltes auf Erden entbehrt. —
Darum hat nicht bloß schon der erste Brief Johannis (4, 3) ’) die Leugnung der vollen Menschheit Jesu für widerchristlich erklärt,
sondern auch die Kirche hat dieselbe von je an entschieden verworfen,
und das „wahrhaftiger Mensch, von der Jungfrau Maria geboren",
sowohl gegen
die
leugneten, und
sogenannten
lehrten:
„Doketen", welche
dasselbe
ganz
„das göttliche Wesen Christus" habe nur
zum Schein (en dokesei) menschliche Gestalt angenommen, mensch liche Bedürfnisse gezeigt, gelitten u. s. w., als auch gegen diejenigen vertheidigt, welche (um der Einheit der Persönlichkeit Jesu willen)
ihm zwar einen vollen menschlichen Leib, nicht aber auch eine wahr haft menschliche Seele zugestehen wollten, vielmehr behaupteten: Stelle der vernünftigen Menschenseele habe bei ihm
Vernunft (der Logos) eingenommen.
die
die göttliche
Beiden gegenüber bejaht die
Lehre der Kirche bis auf den heutigen Tag
die Vollständigkeit
der menschlichen, aus einem wahrhaft menschlichen Leibe und einer vernünftigen Menschenseele bestehenden Natur Jesu mit solcher Energie,
daß sie ihm eben nicht bloß zwei „Naturen", die göttliche und die menschliche,
sondern um der Wahrheit dieser Naturen willen auch
zwei Willen zugeschrieben hat und noch zuschreibt. Trotz dieser starken Betonung in abstracto hat die überlieferte
Kirchenlehre es bis jetzt noch niemals in concreto zur Anschauung
und Darstellung,
Jesu gebracht. Bestimmtheit, anlagen,
ja nur zur Anerkennung der vollen Menschheit
Es ist ihr entgangen, daß zu einer solchen vor allem
ein bestimmter Mensch, mit
bestimmten
Natur
bestimmten Charakterzügen, in bestimmten Verhältnissen
lebend u. s. w. gehöre. . Statt dessen hat sie sich meist mit der all gemeinen Abstraktion „Mensch" begnügt; und Jesum weit mehr als ') „Ein jeglicher Geist, der da nicht bekennet, daß Jesus Christus ist in das
Fleisch gekomineu, der ist nicht von Gott.
Und das ist der Geist des Widerchrists,
von welchem ihr gehört habt, daß er kommen werbe und ist schon jetzt in der Welt."
Jesus Gottes Sohu: Deutuugeu: Jesus der vollkommenste Mensch.
271
einen über den menschlichen Verhältnissen und durch dieselben hin
durch schreitenden,
als
den i n
dieselben eingegangenen betrachtet.
Sodann hat sie trotz ihrer starken Behauptung einer vernünftigen
Menschenseele in Jesu in der That das Menschliche in ihm doch nur in Beziehung auf das Leibliche in seiner ganzen Wirklichkeit, hin
sichtlich des Seelischen dagegen nur in unzureichendem Maße aner
kannt; indem sie z. B. seine Leiden, so grell sie dieselben ausgemalt,
nie als ihm wirklich an die Seele gehende, seinen Willen auf die
Probe stellende, seine Versuchungen nicht als reelle, ihm Kampf und Ueberwindung kostende angesehen, sondern das eine, wie das andere,
stets mehr nur als etwas betrachtet, was nur an ihn gekommen ist und ihn, so zu sagen, nur, wie die Wogen des Meeres einen Felsen, anspült,
denn als etwas,
was ihn innerlich ergriffen und wirklich
angefaßt hätte. — Noch weniger hat sie es zur Anerkenntniß der auch bei ihm stattgefundenen wahrhaft menschlichen, geistigen und
sittlichen Entwicklung gebracht, trotzdem dieselbe nicht minder zur
wahren Menschheit gehört, wie das leibliche Wachsen, ja trotzdem, die
Schrift unverkennbare Spuren derselben enthält (Luk. 2, 41—52)'),
und sie namentlich in Beziehung auf sein sittliches Werden ausdrück lich und unter Bezugnahme auf seine göttliche Sohnschaft behauptet?). Endlich hat sie die „wahrhafte Menschheit" vollends
macht durch
die Weise, wie sie, ungeachtet
unmöglich ge
der von ihr gelehrten
Untrennbarkeit der beiden Naturen in Christo, im einzelnen das Thun des Herrn hier auf die eine dort auf die andere vertheilt und be
hauptet, das habe er als Mensch, dieses dagegen als Sohn Gottes
gesagt oder gethan und nur als solcher thun und sagen können. liegt auf der Hand,
Es
daß ein so zerissenes und durchlöchertes Leben
kein wahres Menschenleben ist, sondern, mit starker Anstreisung an
den in thesi verworfenen Doketismus,
die Erscheinung eines gött-
■) Der 12 jährige im Tempel.
-) Ebr. 5, 7—9. „Und er hot in den Tagen seines Fleisches Gebet und Flehen mit starkem Geschrei und Thränen geopfert zu dem, der ihm konnte von dem Tode aushelfen, und ist auch erhört, darum, daß er Gott in Ehren hatte. Und wiewohl er Gottes Sohn war, hat er doch an dem, daö er litte, Gehorsam
gelernt, und da er ist vollendet, ist er geworden allen, die ihm gehorsam sind, eine Ursach zur ewigen Seligkeit."
Zweiter Artikel.
2. Hauptstück.
272
Person des Erlösers.
lichen Wesens in nur lose umgelegter menschlicher Umhüllung, welches
diese Umhüllung bei jeder Gelegenheit durchbricht').
Ist in allen diesen Beziehungen mit der Menschheit Jesu in viel höherm Maße Ernst zu machen, als es bisher geschehen ist, so
geschieht andrerseits der Sache nicht ihr Recht, und wird nicht allein unser religiöses Bewußtsein verletzt, sondern auch die Geschichte ver kannt,
wenn man den Herrn darum, weil er als wahrer Mensch
aufgefaßt werden soll, nicht anders, denn als einen gewöhnlichen
Menschen
auffassen zu können meint.
Der,
von welchem
seine
Jünger rühmen, wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingebornen voller Gnade und Wahrheit; dessen überwältigende Erscheinung kaum 20 Jahre nach seinem Tode in der frischen Er
innerung seiner Wirksamkeit der Apostel Paulus nicht
anders
zu
erklären weiß, als daß er in ihm den von oben gekommenen himm lischen Menschen, den andern Adam, sieht; der, welcher in dem kur
zen Zeitraum einer einjährigen, höchstens dreijährigen Wirksamkeit seine Züge in die Weltgeschichte eingegraben, eine neue Menschheit
geschaffen hat:
der,
„ein Mensch, wie wir",
Mensch, wie allenfalls ich auch?
ein Alle-Tags-
Nicht einmal dadurch ist den
Thatsachen genug geschehen, wenn man ihn nun als einen außer
ordentlichen, als einen jener seltenen beschreibt, deren Erscheinen
die Bahnen der Menschheit bezeichnet:
Sein Selbst- und Gottes
bewußtsein, sein Wandel, seine Wunder, seine Auferstehung kenn zeichnen ihn als den, der selbst noch mehr, als der erste von allen,
welcher der schlechthin
einzige war.
Vollends wird sein Bild
') „Kraft der hypostatischen Vereinigung und gegenseitigen Mittheilung der beiden Naturen hat er alle seine Wunder gethan und seine göttliche Majestät ganz nach seinem freien Willen, wann und so wie es ihm gut schien, nicht bloß nach seiner Auferstehung und Himmelfahrt, sondern auch in dem Stande der Er
niedrigung geoffenbart." — Und durch diese Mittheilung der Naturen „hat die menschliche Natur jene Erhöhung über alle Kreaturen nach der Auferstehung, welche nichts anderes ist, als, daß Christus die Gestalt des Knechtes gänzlich ab
legte, und nach der angenommenen menschlichen Natur zur vollen Besitznahme und Gebrauch der göttlichen Majestät erhöht ist. Diese Majestät hat er bereits bei seiner Empfängniß im Schoße der Mutter gehabt, aber, wie der Apostel sagt, sich
derselben entäußert und sie, wie Luther lehrt, int Stande der Erniedrigung geheim gehalten und sich derselben, nicht immer, sondern, so oft es ihm gut schien,
bedient."
Eintrachtsformel.
273
Jesus Gottes Sohn: Deutungen: Jesus der vollkounueiiste Mensch.
verzerrt und
den
man ihn als einen
Mag
beglaubigtsten Thatsachen Hohn gesprochen,
„sündigen Menschen, wie wir",
wo
hinstellt.
immerhin die Folgerichtigkeit der „wahren Menschheit" dazu
führen, auch in ihm die Möglichkeit, ja selbst, wie etliche thun, den
— nur nie von einer Zustimmung des Willens befruchteten — Keim der Sünde anzunehmen: ein Sünder, wie wir, ist er nie gewesen! „Wer kann ihn einer Sünde zeihen?"
(Joh. 8, 46.)
Wer vermag
das einfache und doch so mächtige Zeugniß zu widerlegen: „Welcher
keine Sünde gethan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde er funden.
Welcher nicht wieder schalt,
da er gescholten ward,
nicht
drohete, da er litt; er stellte es aber dem heim, der da recht richtet" (1 Petri 2, 22f.).
— Und daß er sich, auch keiner
verborgenen
Sünde bewußt gewesen ist, und auch in seinen Versuchungen (Luk. 22, 28) wohl in allem Ernst gekämpft, aber nie gesündigt habe, nie gewichen sei,
nie nachgegeben oder einen Rückschritt gethan habe,
sondern vielmehr durch sie unversehrt fort und fort zu immer größerer
Vollendung
geschritten
sei
(Ebr. 4, 15 u. 5, 7—9):
das beweist,
wie selbst Männer, die zu den entschiedensten Gegnern der „Göttlich
keit" Jesu gehören, anerkennen'), die ruhige, nie von einem Anflug
von Reue berührte Heiterkeit seiner Seele, das der Umstand, daß er — der demüthigste und sanftmüthigste aller Menschenkinder (Matth. 11, 28 f.) wohl andere zur Buße gerufen und um Vergebung bitten
gelehrt, selbst aber für sich nie um Vergebung gebetet hat.
Diesen,
ebenso Demüthigen, wie Hohen, der bei dem entschiedenen Bewußtsein, daß nur Gott gut sei, der Mensch es immer nur werde"), sich den
noch allen als den Führer und Versöhner mit Gott anbot, und zu dem Vater betete:
„Ich preise dich, Vater und Herr Himmels und der Erden, daß du solches den Weisen und Klugen verborgen hast und hast es
den Unmündigen geoffenbart. Ja, Vater, denn es ist also wohl gefällig gewesen vor Dir. meinem Vater.
') D. Straus;. -') Matth. 19, 17. einige Gatt." (£' lt e ft e v, 'Materialien.
Alle Dinge sind mir übergeben von
Und niemand kennt den Sohn, denn nur der
„Was nennst dn nach gut? 2. Auslage.
Niemand ist gut, denn der
2. Hmiptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.
274
Vater; und niemand kennt den Vater, denn nur der Sohu, und wem es der Sohn will offenbaren.
Kommet her zu mir alle,
die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Neh
met auf euch mein Joch, und lernet von mir: denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen" (Matth. 11, 25—29).
Diesen
zu
einem Sünder machen,
„wie wir",
und diesen selben
Sünder, „wie wir", der, wenn er ein solcher gewesen wäre, sich auf
das maßloseste überhoben und sich und uns über sich selber getäuscht hätte, in demselben Augenblicke für den „Besten", „Reinsten", „Voll
kommensten" erklären, und das Christenthum mit seinen die Welt
erlösenden und erneuernden Kräften von diesem „Schwärmer" ab leiten: das heißt fürwahr alle Geschichte und alles Denken auf
den
Kops stellen. Fasten wir das Gesagte zusammen:
so haben wir allerdings
daran, daß Jesus Mensch war, nicht nur festzuhalten, sondern es
noch viel schärfer und folgerichtiger, als bisher, nach allen Richtun
gen auszubilden. genügt,
Dagegen haben wir auch erkannt,
ihn nur für „einen Menschen, wie wir",
daß es nicht
auch nicht nur
für den besten und vollkommensten zu erklären, sondern, daß wir in
ihm den einen ganz vollkommenen, den Menschen haben, der allein dem Gedanken Gottes entspricht.
einer
Das führt von selbst zu
andern und höhern Deutung des Ausdrucks „Sohn Gottes". 2) „Jesus ist größte."
ein Prophet;
und
unter allen Propheten
Diese Antwort isi korrekter, als die erste.
der
Wir sagen aus
drücklich korrekter, nicht frommer: weil die Frömmigkeit sich keines
wegs nach der größeren oder geringeren Richtigkeit der Vorstellung richtet.
Mit der korrektesten Vorstellung von Christus kann große
Gleichgültigkeit und wieder mit höchst unvollkommenen Vorstellungen
herzliche Anhänglichkeit und Treue gegen ihn verbunden sein. Der Vorzug der Antwort:
frühere:
„Jesus ist ein Prophet" gegen die
er ist „ein Mensch, wie wir", ist ein zwiefacher.
Zuerst
erhebt sich dieselbe über die Alltäglichkeit, die Tyrannei des Gemeinen, welche nichts anerkennt,
nichts zulassen will, als, was alle Tage
und an einem jeden geschieht.
Sodann beruht.sie auf einer leben
digem und würdigern Vorstellung von dem Verhältnisse Gottes zur
Jesus Gottes Sohn: Delltunqen: Jesus der größte Prophet.
275
Welt und zum Menschen: kraft deren Gott die Welt nicht bloß ein
mal vor Zeiten geschaffen hat,
und nun zusieht, wie sich dieselbe
aus den ein für allemal in sie gelegten Kräften entwickelt und nie ein Anderes und Höheres erzeugt, als, was diese in sich selbst ver
laufende Entwicklung hergiebt: sondern kraft deren die göttliche Wirk
samkeit in allem Geschehen unsichtbar neben der kreatürlichen Thä tigkeit einhergeht und macht, daß nicht nur das Vorhandene sich zu dem Ziele, das ihm gesetzt ist, entwickle, sondern, daß auch zu dem Vorhandenen Neues und Höheres in die Welt eintrete und sich da selbst auswirke. erhebt und
Kraft deren auch der Mensch sich nicht nur zu Gott
den von Anfang
an in ihn gelegten Gottesgedanken
mehr und mehr aus sich herausarbeitet,
sondern auch Gott dem
Menschen entgegen und nahe und darum auch dem einen näher, als dem andern, kommt und sich ihm
auf besondere Weise mittheilt;
kraft deren er mit einem Worte sich, wie überhaupt Menschen, wie
er sie braucht, Werkzeuge seines Willens, jeden an seinem Ort und zu der von Gott vorhergesehenen Zeit bereitet, so insbesondere „Pro pheten",
Verkündiger seines Willens, Enthüller seiner Wahrheit,
Träger höherer Offenbarung schaffen kann und geschaffen hat: Gottgesendete, die in die Menschheit bringen, was die „gesunde Vernunft",
der „natürliche Verstand", die „gemeinsame Arbeit des menschlichen Denkens" bis dahin weder gefunden hatte, noch auch ohne die er
neute Berührung der Gemüther von Gott — zunächst der Hervor ragenden, sodann der von denselben angeregten Massen würde
haben finden, und,
jemals
wenn gefunden — würde haben fassen
können. — Diese Erkenntniß der Gottesnähe, die Anerkennung der
Möglichkeit lebendiger und darum auch eigenthümlicher Einwirkung Gottes auf Menschen und Welt, mit einem Worte fortgehender Lebens
mittheilung und Offenbarung Gottes: Das ist der Vorzug dieser Auf
fassung,
vermöge deren nun auch Jesus besser verstanden
werden
kann, als bei jener ersten. Jesus Christus war ein Prophet, „ein auserwähltes Rüstzeug
Gottes".
Als solchen,
als den Propheten von Nazareth, hat ihn
seiner Zeit nicht nur das Volk in freudiger Zustimmung begrüßt, sondern auch seine Jünger haben gemeint, ihn richtig zu bezeichnen,
wenn sie ihn mit diesem Namen nannten (Luk, 24, 19). 18*
276
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
Aber Jesus war nicht nur ein Prophet!
Wir vermögen uns
die Höhe wie die Schranken des Prophetenthums nicht deutlicher zu machen, als an der Vergleichung, welche Ebr. 1, 1—3 zwischen
I. Christus und den Propheten anstellt: „Nachdem Gott vor Zeiten
manchmal und auf mancherlei Weise geredet hat zu den Vätern
durch die Propheten, hat er am letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn, welchen er gesetzt hat zum Erben über alles, durch welchen er auch die Welt gemacht hat.
Welcher, sinte
mal er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem mächtigen Wort und hat gemacht die Reinigung unserer Sünden durch sich selbst, hat
er sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe."
Hier wird zunächst die Offenbarung, welche Gott den Vätern durch die Propheten hat zu Theil werden lassen, als eine nicht stetig
verlaufende, ununterbrochene, zu allen Zeiten gleichmäßige, sondern
als eine in mannigfachen Unterbrechungen auftretende bezeichnet. Manchmal traten Propheten auf, oft mehrere mit einem Male,
dann kamen wieder andere Zeiten, in denen die prophetische Stimme ganz schwieg.
Dasselbe, was hier von der Reihe der Propheten
ausgesagt wird, daß nicht einer den andern in ununterbrochener
Folge ausgenommen habe, — ganz dasselbe muß doch auch von der Weise gesagt werden, wie sich Gott den einzelnen Propheten und durch sie kund that. Auch ihre Offenbarungen bilden keine stetige
Reihe, sondern manchmal redete Gott durch sie: da standen sie hoch über allen andern Menschen, Dolmetscher des Willens Gottes, Deuter seiner Führungen, Verkündiger seiner Wahrheit, Männer des
Geistes und der Kraft, die Gottes Befehle ausführten: dann aber kamen wieder andere Augenblicke, Tage, ganze Zeiträume, da redete Gott nicht durch sie, sondern sie redeten und thaten gleich andern Menschen, was vielleicht — Gott nicht gefiel.
Den Beleg dafi'ir
bildet namentlich eine Episode aus dem Leben eines der gewaltigsten
unter diesen Männern, der eben deshalb von je als der Repräsen tant des Prophetenthums betrachtet wurde,
des Elias, wenn wir
dieselbe ganz so, wie sie die heilige Ueberlieferung giebt (1 Könige,
Kap. 18. 19), auf uns wirken lassen. Auf dem Karmel hat Elias, der Mann Gottes, den götzendienerischen Hof, das schwankende Volk
Jesus Gottes Sohn: Deutungen: Jesus der größte Prophet.
„Ihr opfert euerm Gott, und ich
zum Gottesgerichte aufgerufen.
werde meinem opfern. Gott."
277
Wesfen Gott mit Feuer antwortet,
der ist
Und es rüsten die Priester des Baal ihr Opfer, und um
tanzen es, und zerreißen ihren Leib mit Pfriemen, Baal zur Ant wort zu bewegen. Aber die Sonne geht zur Rüste, und Baal schweigt.
Da erhebt Elias zu Jehovah seine Stimme: „Herr Gott Abrahams, Isaaks und Israels, laß heut kund werden, daß du Gott in Israel
bist, und ich dein Knecht, und daß ich solches alles nach deinem
Worte gethan habe."
Und niederzuckt der Blitz und frißt das Opfer,
und frißt den Altar und verzehrt das Wasser in der Grube, die
um den Altar gemacht war.
Gott hatte auf Eliä Flehen geant
wortet. — Doch vom Berge herab wälzt sich das Volk; zum Bache
hin, der drunten rauscht, reißt es die Priester des Baal und schlachtet
sie, 450 Mann — aus Eliä Gebot.
War das auch Gottes Befehl?
Unser Herr Jesus hat es verneint.
Als einst Samariter ihm die
Gastfreundschaft weigerten, und seine Jünger, über diesen Frevel ge reizt, ihn fragten: ob sie nicht bitten sollten, daß Fener vom Himmel auf diese Gottlosen falle und sie verzehre, wie Elias gethan: da
bedrohte er sie: „wisset ihr nicht, welches Geistes Kinder ihr seid?
Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten!" (Luk. 9, 51—56.) — Ja, schon der alte Bund hat es verneint, an derselben Stelle, wo er jenes
berichtet.
Denn was zeigt doch der weitere Verlauf der Erzählung?
Elias, trotz des anfänglichen Erfolges im Volk, hat vor der durch
seine That auf's äußerste gereizten götzendienerischen Königin flüch
ten müssen.
Weit, weit ab im Süden Juda in einer Höhle sitzt er,
der gebeugte, mit Gott und mit sich hadernde Mann. geeifert um den Herrn Zebaoth;
„Ich habe
denn die Kinder Israels haben
deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Pro
pheten mit dem Schwerte erwürgt; und ich bin allein übrig ge
blieben: und sie stehen danach,
daß sie mir das Leben nehmen."
Und Gott sprach: „Geh heraus, denn ich will mit dir reden."
Und
der Herr ging vorüber, ein großer starker Wind, der die Berge zer
brach und die Felsen zerriß, vor ihm her: und der Herr war nicht
in dem Winde.
Und nach dem Winde ein Erdbeben: und der Herr
war nicht i» dem Erdbeben.
Und Nach dem Erdbeben ein Fener:
278
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers,
und der Herr war auch nicht in dem Fener.
Und nach dem Feuer
ein stilles, sanftes Sausen: und der Herr redete mit Elias.— Das
selbe , was uns hier auf das anschaulichste cntgegentritt, sehen wir an einem andern großen Propheten,
dem andern Elias,
dem der
Herr das Zeugniß giebt, daß er wohl noch mehr, denn ein Prophet,
gewesen sei.
An dem Jordan sieht er den Himmel sich öffnen und
den Geist Gottes auf Jesum herabkommen und über ihm bleiben, lind zeugt: „Dieser ist's, von dem ich euch gesagt habe, daß er nach mir kommen werde": „Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt." Nachher im Gefängniß wird selbst dieser Gewaltige und Feste, wenn auch nicht an der Person, so an der Weise Jesu irre und richtet an
ihn, sei es die zagende, sei es die spornende Frage:
„Bist du, der
da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?"') „Manch mal hat Gott zu den Propheten und durch sie geredet,
manchmal
auch nicht!"3)
Wie nun aber das Leben keines Propheten stetig von Offen
barung durchdrungen war, so war weiter auch kein Offenbarungs moment nur von ihr und von ihr ganz erfüllt; kein einzelner Mann
und kein einzelner Moment war der volle,
adäquate Ausdruck der
vollkommen reine und
göttlichen Kundgebung:
sondern,
wie
die
Schrift sagt, auf mancherlei Weise redete Gott durch sie: in dem einen so, in dem andern anders, schwächer, stärker,
auch in allen zusammen nicht vollkommen.
wendigkeit aus jenem ersten,
in keinem und
Das folgt mit Noth
sofern ja stets die der Offenbarung
entbehrenden, geistesleeren Momente auf die geisterfüllten ein- und in ihnen nachwirken mußten.
Aber es wird auch durch den Augen
schein, wie durch Aussprüche des Herrn, bestätigt: Luk. 10, 23. 24; Matth. 11,11; cf. 2 Kor. 4, 7; 1 Kor. 13, 9. 11.12; 1 Kor. 7,10. 12.
Dessen sind sich die Propheten anch bewußt.
’) Jvh. 1, 29—34.
Matth. 11, 2—11.
Sie selbst stellen
„Neuerdings hat man streiten wollen
daß Johannes jenials eine Erkenntniß gehabt und ein Zeugniß abgelegt haben „könne" (?), wie der Berichterstatter ihm zuschreibt. Aber die Worte Jesu, „Selig ist, der sich nicht au mir ärgert", bekunden unwiderleglich, daß Johannes am Jordan von Jesu Eindrücke empfangen habe, denen gegenüber seine Frage eine unberechtigte nnd ein Nückschritt war!" 2) Vergl. noch 2 Sani. 7, 2 s.
Jesus Gottes Sohn: Deutungen: Jesus der größte Prophet. •
279
die Offenbarungen, die ihnen zu Theil werden, als einzelne dar, die an und über sie kommen, also auch wieder gehen: „das Wort Gottes geschah zu mir", ähnlich.
„die Hand des Herrn kam über mich",
und dem
Gleicherweise sind sie sich ihrer Berufung zum Propheten
amte als einer einzelnen, in einem bestimmten Momente erfolgenden,
äußerlichen bewußt.
„Des Jahres, da der König Usia starb", be-
richtet Jesaias, „sah ich den Herrn sitzen auf hohem und erhabenem Stuhle" u. s. w. (Jes. 6, 1f.).
„Dies sind die Geschichten Jeremias",
heißt es bei diesem, — „zu
welchem das Wort des Herrn geschah
zur Zeit Josias — im dreizehnten Jahre seines Königreichs" u. s. f.
„Im
dreißigsten Jahre am
ich war unter
fünften Tage des vierten Monats, da
den Gefangenen
am Wasser Chebar, that sich der
Himmel auf, und Gott zeigte mir Gesichte" — und: „Es begab sich
im sechsten Jahre am
fünften Tage des sechsten Monats, da saß
ich in meinem Hause — daselbst fiel die Hand des Herrn auf mich": berichtet unter noch genauerer Zeitangabe Ezechiel (1, 1 und 8, 1).
ähnlich
Und
die andern. — Ja noch mehr: die Träger dieser ein
zelnen, kommenden
schließlich
und gehenden Offenbarungen fühlen
den Inhalt derselben, fühlen Gott und das Göttliche als etwas ihrem Wesen Fremdes.
„Wehe mir",
spricht z. B. Jesaias,
als er
die
Offenbarung empfängt, „wehe mir, ich vergehe, denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volke von unreinen Lippen.
Denn
ich habe den König, den Herrn Zebaoth, gesehen mit meinen Augen"
(Jes. 6, 5).
Aehnlich betet David: „verwirf mich nicht von deinem
Angesicht, und nimm
deinen heiligen Geist
nicht von mir" (Ps.
51, 13). Ist das
bei Jesu
auch so? Es ist die übereinstimmende An
schauung der evangelischen Berichte, es ist der Eindruck, den er auf
uns macht, es ist sein eignes Bewußtsein: daß er den Geist Gottes bleibend in sich getragen habe.
Nirgends unterscheidet et, und auch
wir unterscheiden nicht, was er aus. Gott,
und, was er aus sich
redet: sondern alles redet und thut er aus dem Bewußtsein derselben Geistes- und
Gottesfülle').
*) Joh. 14, 10. selber.
Ebenso
wenig weiß er von
einer in
„Die Worte, die ich zu euch rede, die rede ich uicht von mir
Der Vater aber, der in mir wohnet, derselbige thut die Werke."
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.
280
einem einzelnen Momente erfolgten Berufung oder Sendung: obschon
allerdings auch er sich als einen von Gott Gesandten darstellt (Joh. 17, 3):
aber seine Sendung ist das
Geistes, der in ihm wohnt.
gleichmäßige Bewußtsein des
Nicht einmal von einer Steigerung, von
Zwar dem Wechsel
einem Mehr oder Minder ist bei ihm die Rede.
der Stimmung ist er unterworfen, wie jeder Mensch; ebenso ist die
Energie des Lebens, näher des Willens und des Bewußtseins, nicht immer die
wir ihn doch der Ruhe bedürftig,
gleiche (sehen
Schlafe hingegeben):
macht
Geiste Gottes
dem
auf das Erfülltsein vom
in Beziehung
nur
das keinen Unterschied.
Dies bleibt dasselbe
und tritt in gleicher Weise heraus, wo die höchste Kraftanstrengung von ihm gefordert wird,
und,
wo er sich im Gespräche mit seinen
Jüngern ergeht. — Am wenigsten finden wir bei ihm Trübung und
Verdunklung des Gottesbewußtseins und der Gottesoffenbarung: son dern hell und klar, wie die Sonne am wolkenlosen Himmel, spiegelt
er die Wahrheit ab. — Diese Stetigkeit und diese fleckenlose Rein
heit der Offenbarung sind es, welche ihn wesentlich und nicht bloß
dem Grade nach von den Propheten,
auch den leuchtendsten, unter
scheiden: so gewiß die Unterschiede von rein und befleckt, stetig und unterbrochen
qualitative
auch da noch
bleiben,
und
nicht bloß quantitative sind, und es
wo man sich die Unterbrechungen und Trü
bungen ans ein geringstes zurückgeführt denkt. — Das bedingt end
lich auch,
daß er nicht bloß der letzte der Reihe nach, sondern der
abschließende Prophet ist, nach welchem wir keines mehr zu warten
haben:
was
nicht der Fall sein würde,
bungen und Unterbrechungen,
und
wenn auch bei ihm Trü auch noch so seltene und
wenn
geringe, stattgefunden hätten. — Fassen wir das abermals zusammen: so leuchtet entsprechend dem, was
wir
bei
Betrachtung
der
ersten
Antwort
gefunden
haben,
wiederum ein, es genügt nicht, daß wir sagen, Jesus war ei« Pro
phet;
auch nicht,
daß
wir ihn für den ersten und größten unter
allen erklären: er ist vielmehr „der Prophet" d. i. der eine („Ein-
geborne"), schlechthin vollkommene Dolmetscher Gottes, der in Wort und That
die göttliche Wahrheit voll und in vollendeter Reinheit
verkündet, „der Erbe über oUe§"').
') Bergt. Matth. 11,27. - Joh. 16, 14. 15.
„Derselbige (der Geist der
281
Jesus das Person gewordene Wort.
3) Damit sind wir wesentlich schon bei dem dritten angelangt.
Was
sich in
andere in einzelnen Strahlen eingesenkt nnd einzelne
Lebensmomente erfüllt hat, das hat sich diesem Menschen') in seiner ganzen Fülle mitgetheilt, und dieses Leben
in einer Weise durch
drungen, daß es aus jedem Momente voll und ganz wiederstrahlt. Das Wort, welches von Anfang bei Gott und das Licht der Menschen
war, das in die Finsterniß scheint, und die Finsternisse haben es nicht
begriffen (Joh. 1, 4. 5): dies Wort ist in Jesn „Fleisch" d. i. Mensch
geworden.
So ist nun dieses „Fleisch",
liche Erscheinung
d. h.
ist die Person gewordene Offenbarung.
die gesammte
Oder:
dieses Menschen „Wort".
Jesus
zeit
Christus
Andere vor ihm und nach
ihm lehren die Wahrheit, zeigen den Weg, verkünden das Leben mehr
oder minder lauter: Er „ist der Weg, die Wahrheit und das Leben:
niemand kommt zum Vater,
und
durch ihn" (Joh. 14,6).
denn
Auch andere verkünden hohe und heilsame Wahrheit, und ermahnen und zeigen in mächtigen Worten das Ziel:
nicht an
ihr Wort.
Leben Wort.
Bei Christus ist
selbst reichen
aber sie
das Wort Leben, und das
Er lehrt nicht bloß den Vater, er offenbart ihn; er
ist „das Ebenbild seines Wesens und der Abglanz seiner Herrlichkeit", so weit sich eben Gott in einem menschlichen Dasein darstellen und
mittheilen kann. — Und er ist das immer und in jedem Augenblicke. Ob er rede oder schweige, handle oder leide, wache oder schlafe: — noch in seinem Schlafen im Schiffe (Matth. 8, 24) stellt er die Höhe
seines Gottvertranens,
den
Gottesfrieden
Thätigkeit nicht gefordert ist, schlafen kann. ist sein Tod
Tod.
dar,
der
da, wo seine
Vollends, da er stirbt,
der Sieg der Liebe und des Lebens über Sünde und
Kurz: „In ihm ist die ganze. Fülle der Gottheit leibhaftig
erschienen" (Kol. 2, 9; cf. 1 Joh. 1, 1—3): „Wer ihn sieht, sieht den Vater" (Joh. 14, 9). — 4) Es ist unmöglich diese „Herrlichkeit" zu scheu,
Wahrhcit) wird wich verklären.
euch verkündigen.
„eine Herr-
Denn von dein Meinen wird er es nehmen nnd
„Alles, was der Vater hat, ist mein:
Darum habe ich gesagt:
Er wird es von dem Meinen nehmen nnd euch verkündigen." ') 1 ant. 2, äs.
„Denn
es
ist ein Gott nnd
ein Mittler zwischen Gott
nnd den Menschen, nämlich der Mensch Christns Jcsns, der sich selbst gegeben hat
snr alle zur Erlösung."
lichkeit als des (Singebornen vom Vater voller Gnade nnd Wahr heit" (Joh. 1, 14), ohne daß der zu tieferm Nachdenken angelegte Mensch ans die Frage käme, wie ist solche Erfüllung eines mensch lichen Daseins mit einem solchen Inhalte möglich. Schon in dem Neuen Testamente treffen wir ans Versuche, diese Frage zu beant worten. Paulus, der wahrscheinlich Jesnm noch persönlich gekannt'), jedenfalls von ihm gehört hatte, obschon er während feines Lebens nicht an ihn glaubte; der dann nach feiner Bekehrung (Apostelgesch. 9) gemäß seiner, genauster Erforschung und Durchdenkuug zugewandten, Richtung nicht umhin gekonnt hat, sich die eingehende Kenntniß der Worte und Thaten Jesn zu verschaffen, die er gelegentlich ver räth^), Panlus weiß sich dieses überwältigende Leben nicht anders zu erklären, als, daß er, von einem Begriffe Gebrauch machend, welchen ihm seine jüdische Theologie an die Hand gab, in ihm die Erscheinung des präexistirenden himmlischen Menschen, des andern Adams sieht (1 Korinth. 15, 47; Philipp. 2, 5f.; 2 Korinth. 8,9; 1 Korinth. 10, 4; Kolosser 1, 15—17). — Das Evangelium Jo hannis wendet aus Jesum einen andern Begriff an, welcher in der alexandrinisch-jüdischen Schule zur Zeit Jesu besonders von dem frommen und gelehrten Philo ausgebildet war: den Begriff des in einer gewissen Selbstständigkeit in Gott existireuden Schöpferwortes Gottes, der Vermittelung zwischen dem Geiste und der materialen Welt, des Inbegriffs der Idealwelt, des Bildes, des eingebornen oder erstgebornen Sohnes Gottes und gemisseruiaßen andern Gottes, *) 2 Kor. 5, 16. „Und ob wir auch Jesum gekannt haben »ach dem Fleische, so kennen wir ihn doch jetzt nicht mehr." — Diese Bekanntschaft würde dann in die Zeit seines Aufenthaltes in Jerusalem fallen, da er den Unterricht des Gamaliel genoß (Apostg. 22, 3). 3) Es ist von äußerster Wichtigkeit zu beachten, wie Paulus, ivo ihn gerade die Gelegenheit darauf führt, ungesucht genaue Bekanntschaft mit Worten Jesu
über allerspeziellste Verhältnisse zeigt: ein Beweis, wie sorgfältig er sich danach erkundigt haben muß. Wir führe« an: seine Mittheilung über daS Abendmahl 1 Kor. 11, über die Lehre Jesu von Ehe nnd Ehescheidung (1 Kor. 7, 10. 12, be sonders 25: „über die Jungfrauen habe ich kein Gebot des Herrn": also auch danach hat er gefragt), über das Recht der Verkündiger des Evangeliums auf
Lebensunterhalt (1 Kor. 9, 14), über die letzte» Dinge: (1 Theffal. 4, 15); — das sonst nirgends erwähnte Wort Jesn: „Geben ist seliger, denn nehmen" (Apostelg.
20, 35).
Geschichtliche Entwicklung der Lehre von Jesu als Gott, dem Sohn.
283
„Im Anfang war der Logos'), und der Logos war bei
des Logos.
Gott, und Gott war der Logos." — „Und der Logos wurde Mensch
mib wohnte unter uns" u. s. f. Joh. 1, 1—14.
Was hier schon in
allgemeinem Umrisse vorliegt, das hat die folgende Zeit weiter aus zuführen und in mehrhnndertjähriger ernster Gedanken-Arbeit das
Verhältniß des Göttlichen in Christo, oder, wie man sich ausdrückte,
„Gottes, des Sohnes", zn „Gott, dem Vater", näher zu bestimmen gesucht').
schied
Eine Anzahl christlicher Denker ließ, indem sie den Unter
zwischen Gott und dem göttlichen Logos ganz aufhob,
Vater selbst vom Himmel kommen
und
in Jesu wohnen.
den
Man
fragte mit Recht: war denn der Himmel gottentleert? Wo war Gott,
da Christus am Kreuze hing? — Ein späterer Kirchenlehrer (Sabeüius) sah in dem Göttlichen, was Jesum erfüllte, einen von Gott ausgehenden,
mit dem Tode Jesu wieder in ihn zurückkehrenden
Strahl der Gottheit;
ähnlich in dem h. Geiste eine sich von Gott
aus zu Gott bewegende Kraft. heit,
„Die Einheit habe sich zur Zwei
danach zur Dreiheit erweitert oder ausgestreckt,
ziehe sich wieder zur Einheit zusammen."
die Dreiheit
(Das Bild ist von dem sich
ausstreckenden und wieder herangezogenen Arme hergenommen.) Aber
damit war die bleibende Persönlichkeit und Fortexistenz des geschicht lichen Christus gefährdet, die selbstverständlich mit der Rückkehr des
göttlichen Strahles erlöschen zu müssen schien.
Um diese Persönlich-
’) Wir sönnen nicht übersehen „der Wort"; und wenn wir es konnten, so würden mir damit auch »och nicht den Sinn des ursprünglichen Ausdrucks, der ein viel mehreres bezeichnet, als, was wir unter „dem Worte" verstehen, erschöpfen. Ich habe, wo es darauf ankaui, das Unübersehbare dem schlichteren Verständnis; nahe zn bringen, dem Bedürfnis; am meisten zu entsprechen und zugleich dem ge schichtlich gegebenen Sinne am nächsten zu kommen gemeint, wenn ich auslegte: „Im Anfang war die Offenbarung", mit der Hinweisung darauf, daß darunter nicht nur das nach außen heraustretende Offeubarioerdeu Gottes, sondern auch das demselben zu Grunde liegende innergöttliche Sieben, das Quitten der Offenbarung in Gott (wissenschaftlich ausgedrückt das „Prinzip" der Offenbarung) zu ver stehen sei. 2) Mau achte genau auf beit Unterschied: der biblische Ausdruck, wie der des Apostolischen Glanbensbekenutnisses, „der Sohu Gottes", bezeichnet den geschicht lichen Christus: der mm auftretende, jenen beide» fremde, „Gott/ der Sohn" oder kurzweg „der Sohu", bezeichnet dagegen das göttliche Wese», das in dem geschichtliche» Christus erschienen ist.
284
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
feit zu retten, schrieb im geraden Gegensatze dazu Arins im vierten Jahrhundert dem
in Christo
erschienenen „Sohne"
„Hypostase"
d. i. selbstständige Existenz in Gott zu, leugnete aber um der Ein
heit Gottes willen
die Gleichheit dieser göttlichen Hypostase (des
„Sohnes") mit Gott, und lehrte, „der Sohn" sei ein Geschöpf Gottes
und geringer, als Gott:
ansdehnte.
was seine Schule dann auf den h. Geist
Das war begrifflich ein Rückschritt in's Heidenthum;
denn es war nicht mehr und nicht minder,
als die Annahme von
einem obersten Gott und zweien Untergöttern,
der Ansatz zu einer
ganzen Mythologie. Nicht minder wurde das christliche Interesse dadurch
verletzt, daß die Offenbarung in Christo nicht die Offenbarung Gottes selbst,
sondern nur eines untergeordneten Wesens schien.
So trat
denn endlich Athanasius mit seiner sowohl dem Sabellius wie dem Arius entgegengesetzten Lehre auf, kraft welcher er ebenso die eigne Hypostase als auch die Wesensgleichheit mit dem Vater behauptete.
des göttlichen Sohnes
Und diese Lehre ist sodann, freilich erst
nach heftigen Kämpfen und nicht ohne Einmischung äußerer Gewalt
und Mitwirkung fremdartiger Motive, zur Kirchenlehre geworden').
Ueberblicken wir diese Entwicklung,
wer wollte nicht die ange
strengte Gedankenarbeit anerkennen, mit welcher Jahrhunderte hin
durch die hervorragendsten Männer um die richtige Erkenntniß in diesen Punkten
gerungen
haben, wer die innere Nöthigung ver
kennen, welche in dieser Entwicklung obwaltete; so wie, daß in der
That jeder dieser Lehrer auf jeder Stufe in dem, was er verneinte,
Recht hatte,
und Unrichtiges und Unzureichendes nur in dem zu
finden ist, was er dagegen behauptete? Sabellius hatte Recht, daß
unmöglich der Vater den Himmel könne leer gelassen haben, um so
*) Die Bestimmungen der Synoden zu Nieaea (32j) und Constantinvpel (381), durch welche die Athanasianische Lehre Anerkennung erhielt, lauten: „Wir glauben an einen Herrn I. Christum, den eingebornen Sohn Gottes, vom Vater vor aller Zeit geboren, Licht von Licht, wahrhaftiger Gott düiii wahrhaftigen Gott, geboren, nicht geschaffen, mit dem Vater gleichen Wesens (homöüsios), durch welchen
alles wurde, welcher rc." Die unterstrichenen Wörter enthalten die eigentlichen Streitpunkte, namentlich das letzte bildet das Stichwort. — Ihre schärfste Aus
prägung hat die Lehre bekanntlich in dein sogenannten Athanasianischen Glanbensbekenntniß gefunden, welches seine Entstehung jedoch erst dem sechsten, lmcT) andern
Forschern dem achten Jahrhundert verdankt.
285
Geschichtliche Entwicklung der Lehre von Jesn als Gott, dein Sohn.
und so viele Jahre in Jesu zu wohnen; Arius: daß das Göttliche in Jesu nicht ein
vorübergehendes,
Jesus
selbst
schwindende Erscheinung gewesen sei; Athanasius:
nicht
eine ver
daß
der Sohn
und der Geist nicht als Gottheiten zweiten Ranges, die Offenbarung
in Christo nicht als eine nicht das Wesen Gottes abspiegelnde dürfe
angesehen werden.
ihnen bei: ruhen?
In alle dem haben sie Recht, und wir stimmen
können wir nun aber auch in ihren Bejahungen aus
In den früheren entschieden nicht!
letzten, in der des Athanasius?
Aber vielleicht in der
Wahrscheinlich ist solches schon um
des bereits erwähnten Umstandes willen nicht, daß die Anerkennung
derselben nicht durch gegenseitige Verständigung zu Stande gekommen ist,
sondern durch Anwendung von Gewalt und Austreibung
der
Widersprechenden aus ihren Aemtern und aus der Kirche; und daß der Widerspruch, der damit natürlich nicht zum Schweigen gebracht
war, schließlich nur aufhörte, theils, weil in der nun einbrechenden Barbarei überhaupt kein Raum mehr für dergleichen Gedankenarbeit
war, theils, weil sich das Interesse andern Gegenständen zuwandte. Wahrscheinlich ist es auch darum nicht, weil diese ganze Verhand
lung eigentlich eine griechische, wesentlich von der griechischen Kirche
geführte und nur im Gebiete griechischer Sprache und Bildung ganz
verständliche war.
Schon die Römer folgten derselben nur in zweiter
Reihe, wie denn schon sie für den bei weitem entscheidendsten Aus
druck „Hypostase"
keinen
entsprechenden hatten.
Denn das dafür
gesetzte persona bezeichnet viel etwas Derberes und, daß ich so sage,
Massiveres.
Vollends
ist
unser
deutsches
„Person"
bei
unserer
scharfen Ausprägung des Begriffes der Persönlichkeit, schärfer, als sie je einer der Alten gehabt,
etwas anderes, als der viel flüchtigere,
viel verschwimmendere Ausdruck „Hopostase". — Sehen wir vollends
die Lehre selbst an, wie sie ohne weitere Entwicklung, ja im wesent lichen ohne lebendige Diskussion stumm und unbeweglich und darum
unserm jetzigen Denken fremd, im Laufe so vieler Jahrhunderte auf
uns gekommen ist: „Ein persönlicher Gott; in demselben aber drei Personen, die in demselben Sinne Person sein sollen, wie Gott; und von diesen drei Personen die zweite als göttliche Natur sich mit einer mensch
lichen Natur abermals zu einer Person verbindend, welche Per-
286
2. Hniiptstück.
Zweiter Artikel.
Person des Erlösers.
son ist gerade, wie die drei Personen und der persönliche Gott,
und nun mit dieser von ihr angenommenen menschlichen Natur zur Rechten des persönlichen Gottes sitzt und mit ihm eine Per
son ist": so
ist
das etwas, was vielleicht mancher sich
ehrlich
bemüht zu
glauben, wovon aber niemand wird behaupten können, daß es unser Denken befriedige. — zeigt sich die Lehre von Christo nach beiden Seiten als
So
eine noch nicht fertige, ob wir seine Menschheit, oder ob wir seine
Gottheit in das Auge fassen. Sollen wir deshalb mit unserm Glau
ben an ihn warten, bis sie fertig sein wird? Das haben wir ebenso wenig nöthig,
als unser Heil von diesem Fertigwerden abhängt.
Christus ist kein System, das bis zu einem gewissen Grade vollendet sein muß,
ehe man es annehmen und sich davon befriedigt fühlen
kann. Er ist eine lebendige geschichtliche Persönlichkeit, die als solche,
abgesehen von jenen Geheimnissen, Glauben in Anspruch nimmt und — wirkt.
Allerdings wird man diese Persönlichkeit, je inniger man
an ihr hängt, auch zu verstehen suchen.
Aber man wird auch der
Bedingungen wie der Schranken dieses Verständnisses sich bewußt
bleiben müssen. ihn versenken:
Wer Jesum verstehen will, der muß sich liebend in derohne versteht man überhaupt niemanden.
„Fides
praecedit intellectum„das Glauben geht dem Begreifen voran!" Andererseits darf man sich nicht wundern,
daß, wo wir bei jedem
Großen und Ursprünglichen auf nicht zu Erkennendes und Unerklärtes
stoßen,
dies in viel höherem Maße bei diesem schlechthin einzigen
Menschen^ der Fall ist. Er selbst spricht: „Niemand kennt den Sohn,
denn nur der Vater, und niemand kennt den Vater, Sohn und, wem es der Sohn will offenbaren."
auf sich nimmt und
lernet von ihm,
denn nur der
Doch: wer „sein Joch
der wird Ruhe finden für
seine Seele" (Matth. 11, 27 f.). — Am wenigsten darf man
das
Heil von der Erkenntniß jenes metaphysischen über die zeitliche Er scheinung Jesu hinausliegenden Verhältnisses und vorzeitlichen Ur sprunges Jesu in Gott abhängig machen, wie es das athanasianische Symbolum thut').
Das ist, so auffallend es klingen mag, unrefor-
’) „Wer will selig werden, der nrntz vor allein den rechten christlichen Glau ben haben. Wer denselben nicht ganz und nicht rein hält, der wird ohne Zweifel
Das Heil nicht abliängiq matorisch');
doii
metaphysischen Vorstellungen über Jesus.
das widerspricht der Schrift.
gefordert, Brod vom Himmel zu geben, dem Volke Manna zu essen gegeben habe.
287
Joh. 6 wird Jesus auf wie Moses in der Wüste Er erwidert darauf: er
habe ihnen keine andere Speise zu bieten, als sich, und zwar sich in
seiner zeitlichen Erscheinung (in seinem Fleisch), für das Leben der Welt hinzugeben.
die er bereit sei,
Wer dieses Fleisch esse, d. i.
sich ihn in dieser seiner Erscheinung zu eigen mache, und sein Blut trinke — will sagen die göttlichen Lebens- und Liebeskräfte in sich aufnehme, die in dieser Erscheinung, namentlich aber in seiner Dahin
gabe in den Tod der Menschheit entgegen kommen, ewige
Leben,
und
er werde ihn
(v. 30. 31—48. 51. 54).
stellung zwischen v. 54 und 57.
auferwecken
der habe das
am jüngsten
Tage
Namentlich beachte man die völlige Gleich
„wer mich
isset"
und
„wer mein Fleisch isset"
Heißt das nicht klar und deutlich:
was
fordert ihr
„Himmlisches", Aufschlüsse über innergöttliche Geheimnisse, die nie
mand ergründen kann: haltet euch an die Offenbarung „im Fleisch",
die euch gegeben ist und euch beseligen kann?
Ist das nicht die
dringendste Aufforderung, nicht — das Nachdenken aufzugeben,
das
hat schon Paulus und Johannes nicht gethan, aber das Leben, die
Geschichte, die That höher zu achten, als alle Spekulationen,
und
mit und von allem unserm Denken schließlich immer wieder bei „Jesu
ewiglich dertöten gehen. Dies aber ist der rechte christliche Glaube, das; wir einen einigen Gott in drei Personen und drei Personen in einiger Gottheit ehren." — Nun folgt in schärfster dogmatischer Ausprägung die Lehre, sowohl von der Tri nität in Gott, als auch von beit beiden Naturen in Christo. Und das ganze schließt wieder: „Das ist der rechte christliche Glaube: wer denselben nicht fest und treulich glaubt, der kann nicht selig werden." ') Der erste Versuch einer evangelische» Glaubenslehre, in welcher sich der ursprüngliche Wille und die eigentliche Richtnng der Reformation viel energischer aussprach, als in spätern Erzeugnissen, selbst der Augsburgischen Konfession, Melanchthvus hochberühmte loci theologiei enthalten über die Dogmen von der Tri nität, der Menschwerdung, der Schöpfung kein Wort. „Bei diesen verweilen hieße Erklärung des Unerklärbaren, woran die Scholastik (die Schulthevlogie des Mittelalters) sich müde gearbeitet habe; und würde wieder in die alte Grübelei zurückführen. Nicht, daß er über jenes Unbegreifliche genaue Auskunft giebt, macht den Christer,; sondern zu missen, was Sünde, Gesetz, Gnade sei: denn darin wird Christus erkannt. — Christum erkennen heißt seine Wohlthaten erkennen, nicht über die beiden Naturen und die Art der Menschwerdung mit scholastischer Vielwisserei spekuliren." (cf. Gaß: Geschichte der Protest. Dogmatik 1, 25.)
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.
288
Christo, dem Gekreuzigten" (1 Korinth. 2,2), dem menschgewordenen Worte, einzukehren und in seiner Anschauung Ruhe zu finden für
unsere müde gewordenen Seelen?
Der nächstfolgende Ausdruck, den Luther bereits in die Erklä
rung des vorangehenden ausgenommen hat, empfangen vom hei ligen Geiste, erhält für das schlichtere Verständniß seine Erklärung durch den Gegensatz, in welchen dies: „welcher vom h. Geist empfan
ist" zu dem:
gen
„welcher den h. Geist empfangen hat"
tritt.
Letzteres ist die Lehre der Ebioniten, nach welcher Jesus bis zu seiner
Taufe ein sündiger Mensch gewesen, und erst in
dieser den Geist
Gottes empfangen habe und zum Christus geworden sei.
Nun ist
ja nach allem, was die Evangelien über die Taufe Jesu berichten, nicht zu zweifeln, daß dieselbe von größerer Bedeutung gewesen sei, als
man ihr gewöhnlich zuschreibt.
Es ist nicht unwahrscheinlich,
daß sie nicht bloß dazu gedient hat, ihn dem Johannes zu offen baren; sondern, daß auch in ihm selbst die Gedanken der Sohnschaft Gottes und des Berufes, Retter und Heiland feines Volkes zu fein,
welche schon seine Jugend leise durchtönten (Luk. 2, 49),
welche er
danach mit steigender Klarheit in sich umhertrug, — daß ich so sage — zum Durchbruch gekommen seien; daß er hier das Zeichen, den
Wink Gottes, auf den er harrte, gesehen habe, Handelns für ihn gekommen sei,
habe.
daß die Zeit des
und den Entschluß dazu gefaßt
Das entspricht eben so den Gesetzen menschlicher Entwicklung,
unter welche er auch gethan war:
des Lebens Jesu und Geiste Gottes verträgt.
als es sich mit der
der stetigen Durchdringung
Stetigkeit
desselben vom
Wogegen die ebionitische Auffassung dieses
Leben zerreißt und in eine sündige und eine sündlose Hälfte spaltet: eine Trennung,
welche doch unmöglich ohne Einfluß auch auf die
letztere hätte sein können.
Je weniger wir bei Jesus
von einem
solchen Einfluß und von der Nachwirkung vorangegangener geistes leerer Jahre auf sein späteres Leben spüren, ja bei ihm niemals auch
nur die leiseste Erinnerung an eine solche Vergangenheit wahrnehmen, um so entschiedener werden wir bei voller Anerkennung der für
Nebernatürliche Geburt Jesu.
289
ihn Epoche machenden Bedeutung seiner Taufe der mechanischen Auf
fassung des Ebionitismus entgegen treten: sesthalten:
vielmehr mit der Kirche
daß Jesus durch ursprüngliche Ausrüstung von Gott be
reits bei seinem in's Leben Treten alles das im Keime in sich ge tragen habe, was er danach im Gehorsam gegen Gott in freier sitt
licher Bethätigung zur Völligkeit entwickelt und herausgestellt: oder, daß er als der „Sohn Gottes" in die Welt gekommen und geboren,
und nicht erst bei seiner Taufe dazu gemacht worden sei. Daß eine derartige Ausrüstung eine
entsprechende Einwirkung
der, bei allem irdischen Geschehen unschaubar neben der kreatürlichen
Vermittlung einhergehenden, göttlichen Ursächlichkeit auch bei dem leiblichen Entstehen des Erlösers in sich schließe, versteht sich von
selbst, und wird schließlich nur von einem Gedankenlosen oder von einem solchen, der überhaupt Gottes lebendige Einwirkung aus die Welt leugnet, in Abrede gestellt werden.
Wer dagegen diese fort
währende Einwirkung Gottes anerkennt, der wird sich nicht weigern, das in das Leben Treten des Herrn in jeder Beziehung,
dieser als eine Wirkung schöpferischer Gotteskräfte, Schöpfung anzuschauen.
Dagegen hat die Form,
auch in
als eine neue
welche diese Er
kenntniß in den Anfängen der Evangelien des Matthäus uud des Lukas und danach in der Kirchenlehre angenommen hat:
die Ent
stehung des Herrn nicht, wie bei uns allen, von einem Elternpaare,
sondern von einer jungfräulichen Mutter: Bedenken
erregt;
mehr und mehr gerechte
und weigern sich nachgerade die ernstesten
und
frommsten Denker, das, was die Schrift hierüber enthält, als Ge
schichte anzuerkennen.
Die Gründe, welche sie anführen, sind fol
gende: 1) Weder der Herr noch einer der Apostel berufen sich jemals
auf diese Art seiner Entstehung, trotzdem der oft wiederkehrende Vor wurf: „Ist dieser nicht des Zimmermanns Sohn?" wohl dazu Ver
anlassung gegeben hätte.
2) Wir finden überhaupt von dieser Kind
heitsgeschichte Jesu in der gesammten andern h. Schrift keine Spur.
3) Die Auffassung,
nach welcher Joseph nur der Pflegevater Jesn
gewesen wäre, widerspricht den eignen Voraussetzungen der Evange listen, welche beide, besonders Matthäus, die Abkunft Jesu von David
mittelst des Joseph nachzuweisen bemüht sind. des Joseph leistet nicht, Eltester. ÖLUerralkn.
4) Die Ausschließung
was sie nach der orthodoxen Lehre leisten
2. Auflage.
19
290
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Person deS Erlösers.
Es soll durch dieselbe der Zusammenhang mit der sündigen
soll.
Menschheit aufgehoben, den.
und die Sündlosigkeit Jesu begründet wer
Aber der Zusammenhang mit der sündigen Menschheit bleibt,
so lange er auch nur eine menschliche Mutter hatte.
Darum bleibt
für diejenigen, welche auf diese Weise die Sündlosigkeit Jesu deduciren wollen, nichts übrig, als entweder mit dem neuesten römischen
Dogma die sündlose Empsängniß schon der Maria zu behaupten (was
folgerichtig auf die Behauptung einer sündlosen Reihe in der Mensch heit bis auf Adam hinführen und schließlich die Erscheinung des Herrn überhaupt
unnöthig
machen würde);
oder mit den
alten
Gnostikern die Wirklichkeit, wie des Lebens, so auch der Empsängniß
und Geburt Jesu zu leugnen und die Maria nur als den Kanal anzusehen, durch welchen der Erlöser zum Scheine durchgegangen sei.
5) Die Ausschließung des Joseph ist nicht nöthig.
Hat Gottes Ein
wirkung vermocht, die Uebertragung der Sünde auf Jesum von der Maria her zu verhindern, so wird sie auch im Stande gewesen sein,
dasselbe zu wirken, wo wir die Entstehung Jesu von einem Eltern paar annehmen. — Aus alle dem ergiebt sich die Folgerung, daß wir die betreffenden Erzählungen der h. Schrift nicht in buchstäb lichem Sinne als Geschichte (dem stehen neben alle diesem noch die
nicht aufzulösenden Widersprüche entgegen, welche zwischen den beiden
evangelischen Berichten in Beziehung auf diese Kindheitsgeschichten obwalten, so wie die Durchsetzung derselben mit offenbar poetischen, besonders lyrischen Elementen):
sondern als Einkleidung christlicher
Gedanken in Form der Geschichte anzusehen, insbesondere das „Ge boren von der Jungfrau Maria" als eine derbere Ausprägung des Glaubens
an- die
hier
eingetretene schöpferische Thätigkeit Gottes
anzusehen haben'). *) Es versteht
sich von selbst, doch soll es noch ausdrücklich gesagt werden,
daß ich in dem Jugendunterrichte aus naheliegenden Gründen
auf dies Kapitel
niemals eingegangen bin; sondern mich mit demjenigen begnügt habe, was sich in
der oben angegebenen Weise ließ.
Im übrigen habe
ich,
im Gegensatz zu dem Ebiouitismus deutlich machen
dem Grundsätze getreu,
Gegensätze nicht verschweigen dürfe,
daß man der Jugend die
auf welche sie im Leben mit Nothwendigkeit
treffen muß, ja, die vielleicht schon im Augenblicke mit schneidender Schärfe an sie
herantreten, „gelegentlich" mitgetheilt, schnitte der h. Schrift,
daß es viele Christen gäbe,
welche die Ab
auf welche diese Ausdrücke Hinweisen, nicht buchstäblich,
291
Uebernatürliche Geburt Jesu.
Man würde sehr Unrecht thun, wenn
man diese Ansicht be
schuldigte, daß sie
die schöpferische Einwirkung Gottes bei der Ge
burt Jesu leugne.
Dieselbe wird von diesen Männern ebenso gut
und ebenso stark behauptet,
als von denen,
welche die Geburt von
einer Jungfrau festhalten: nur in andrer Weise.
ein Attentat
darin
wäre
man doch
gegen die Schrift.
Ebenso wenig liegt
Zu einem solchen Vorwurf
höchstens von einem Standpunkte aus berechtigt,
welcher jeden Buchstaben der h. Schrift als einen unmittelbar vom
heiligen Geiste eingegebenen ansieht,
schichte Erzählte ohne weiteres
dazu jedes in Form von Ge
für Geschichte
nimmt.
Unmöglich
kann der Unrecht thun, welcher die Schrift nimmt, wie sie sich selbst giebt. sich
Und es ist eben die Frage, ob nicht diese Kindheitsgeschichten
schon durch ihre eigene Beschaffenheit,
znsammenhange
vollends im Gesammt-
der h. Schrift nur als Einkleidungen urchristlicher
Wahrheiten in Form von Geschichte geben.
So bleibt als das, was
uns gegen die Annahme jener, im übrigen ebenso der Frömmigkeit,
entsprechenden Auffassung einnimmt
wie dem vernünftigen Denken,
nur der Schmerz übrig, mit dem wir uns scheinen von Erzählungen
trennen zu müssen, die schon unser Kinderherz in Bewegung gesetzt,
unsere Kinderjahre wäre,
erhellt haben.
Aber selbst, wenn das der Fall
und nicht vielmehr die in diesen Erzählungen ausgeprägte
unveräußerliche Wahrheit immer bliebe, und auch die Form nimmer ihren wonnigen, wunderbar fesselnden Einfluß auf empfängliche Ge
müther
verlieren würde: so ist Folgendes zu bedenken:
Zwei von
unsern Evangelien, das des Markus und das des Johannes, haben ja diese Erzählungen auch nicht:
ja, das
des erstem geht sogar so
weit, daß es ausdrücklich „das Evangelium von Jesus Christus, dem Sohne Gottes", erst mit dem Auftreten des Täufers Johannes „an
fangen" läßt.
„Dies
ist der Anfang des Evangeliums von Jesu
Christo" rc. (Mark. 1, 1). wir auch
die andern
Das
haben.
hat auf uns keinen Einfluß,
weil
Bedenkt man aber, daß dies nicht
sondern als poetische Einkleidung der Wahrheit auffaßten: und daß das nicht etwa Ungläubige seien u. s. w.
Nur in solcher Weise scheint es mir möglich, das Heran
wachsende Geschlecht vor schiveren Zweifeln, Mißtrauen oder Fanatismus zu be wahren, und es zu dem Glauben zu erziehen, der im Stande ist, Gegensätze, ohne irre zu werden, zu ertragen.
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Person des Erlösers.
292
immer der Fall gewesen, im Gegentheil geraume Zeit vergangen ist,
bevor sämmtliche vier Evangelien gleichmäßig durch die ganze Kirche verbreitet waren, und daß bis dahin zahllose Christen, die nur eins
der beiden über diesen Punkt schweigsamen Evangelienbücher besaßen, von diesen Erzählungen überhaupt nichts wußten: so wird auch der
ängstliche Christ mindestens das zugestehen, daß von ihrer Kenntniß oder Nichtkenntniß, also
von einer solchen oder andern Auf
auch
fassung derselben unmöglich das Christenthum abhangen könne; und
daß man keinen Grund habe,
sei es- an dem Heile,
Christlichkeit derer zu zweifeln,
sei es an der
welche in dieser Beziehung andrer
Meinung sind. — Damit stimmt denn auch, worauf wir schon früher hingewiesen haben, die Stellung überein, welche Luther in seiner Erklärung diesen
beiden Aussagen „empfangen vom h. Geiste" und „geboren von der Jungfrau Maria" giebt,
daß er sie nämlich nicht in den Hauptsatz,
soudern in den unsern Glauben begründenden Nebensatz gestellt hat:
„Ich glaube,
daß I. Christus
(— wahrhaftiger Gott,
vom Vater
in Ewigkeit geboren, und auch wahrhaftiger Mensch, von der Jung
frau Maria geboren —) sei mein Herr."
Das ist, um es wieder
und wieder hervorzuheben, der Stern und Kern des Evangeliums, worauf zuletzt alles ankommt, daß jemand Jesum als „seinen Herrn" anerkennt und „ihm dient",
natürlich
nicht bloß mit dem Munde
und äußerlichen Geberden (wovor Matth. 7, 21 hinlänglich warnt),
sondern in der That und in der Wahrheit, turgie sagt: „all sein Vertrauen
daß er, wie unsere Li
und seine Hoffnung auf ihn setzet
und sein Leben nach seinem Worte bessert."
Thut jemand das, so
ist die Weise, wie er zum Glauben gekommen ist und denselben sich
gedanklich
vermittelt,
nicht gleichgültig: aber
Wie der Apostel Paulus sagt: Jesum verfluchet,
daß
niemand
der durch den Geist Gottes redet; und niemand
kann Jesum einen Herrn heißen ohne
12, 3).
er ist ein Christ.
„ich thue euch kund, durch
den h. Geist" (1 Kor.
Wem es aber an dieser Hingebung und an diesem Gehorsam
fehlet: dem hilft auch die korrekteste Lehre nicht.
293
Wunder Jesu.
Wir
gehen jetzt zu dem Werke Jesu oder zu dem, was Jesus
gethan hat, über, wie solches in der zweiten Hälfte des Glaubens
bekenntnisses in einer Anzahl einzelner Züge, in Luther's Erklärung
dagegen in seiner Gesammtbedeutung
angegeben wird.
Hier muß
uns sofort der Umstand auffallen, daß von dem ganzen so unendlich reichen Leben des Herrn,
auszuschreiben alle Bücher der
welches
Welt nicht hinreichen würden, wie der Schluß des Evangeliums Jo hannis sagt, so gut wie gar nichts erwähnt, sondern von seiner Ge
burt sogleich
auf sein Leiden und Sterben übergegangen und nur
von diesem mit einer verhältnißmäßigen Ausführlichkeit, ja mit einer gewissen Häufung geredet wird.
uns
nur erinnern,
daß
Das erklärt sich jedoch, so wie wir
das Apostolische Glaubensbekenntniß nicht
eine einheitliche Conception, sondern
durch
gelegentlich
durch
den
Gegensatz gegen gewisse, die Kirche bedrohende Irrlehren entstanden
ist.
Nun
werden
die Reden und Thaten Jesu nicht leicht von je
mandem in Abrede gestellt, wohl aber leugneten die bereits mehrfach erwähnten Doketen die Wirklichkeit der Leiden und des Todes Jesu:
daher
der Eifer der Kirche,
gleich
als könne hier nicht genug ge
schehen, diese in immer neuen Wendungen zu bekennen: daher wahr
scheinlich auch der sonst gar nicht zu erklärende Umstand, daß, wäh
rend
in dem Glaubensbekenntnisse sonst,
außer der Mutter Jesu,
kein Name, auch keiner der Apostel genannt ist, der ungläubige Land-
Pfleger Pontius Pilatus aufgesührt wird: was, wenn man es nicht
einem reinen Zufall zuschreiben will, sich kaum anders erklären läßt,
als, daß man auch in dieser Weise die Realität und Geschichtlichkeit
des Leidens und des Todes Jesu hat constatiren wollen. — Auch wir gehen nicht in Jesu ein:
nicht,
die Details des Lebens und Lehrens
weil wir dieselben von keiner oder von einer ge
ringeren Wichtigkeit, als sein Leiden und Sterben hielten, — wie
dies eine gewisse Richtung in der Kirche allerdings thut —, sondern,
weil hier nicht der Ort dazu ist.
Dazu ist einerseits der vorberei
tende Unterricht in der Schule, aus welchem jeder die Kenntniß des
Lebens des Herrn in seinen Grundzügen bereits mitbringt, anderer seits die private Beschäftigung
mit der Bibel und die Theilnahme
an dem öffentlichen Gottesdienste, welche allein in dieser Beziehung
diejenige eingehende Bekanntschaft geben können, die dem evangelischen
2. Hauptstück.
294
Thaten
Werk des Erlösers.
Wir halten für nothwendig, hier nur eine Reihe
Christen geziemt.
von
Zweiter Artikel.
des Erlösers hervorzuheben,
dermalen wieder
welche
ebenso der Gegenstand lebhafter Besprechung geworden sind, wie sie
seiner Zeit die allgemeine Aufmerksamkeit auf Jesum gerichtet haben. Nur,
Denn,
daß das Verhältniß sich umgekehrt zu haben scheint.
während damals die
Wunder Jesu in vielen Fällen den Glauben an ihn, sei
unleugbar dazu dienten,
es vorzubereiten, sei es zu befestigen, steht jetzt die Sache thatsäch lich so, daß ein großer Theil unserer Zeitgenossen
durch
dieselben
vom Glauben eher abgehalten wird; und selbst von den Glaubenden noch
freudiger glauben wurden, wenn
manche
Anstöße für ihr Denken stießen.
sie nicht auf diese
Da ist es ja wohl unerläßlich, daß
wir uns über diesen Gegenstand verständigen.
Wer billig denkt, muß anerkennen, daß der Widerspruch, welchen unsere Zeit
gegen „Wunder"
erhebt, keineswegs
nur oder über
wiegend von Unfrömmigkeit ausgeht oder sich auch nur bei ober
flächlichem Denken findet.
es
selben treiben;
sind
bringen suchen, und,
Es sind religiöse Interessen, die zu dem
ernsteste Männer, die ihn zur Geltung zu
so weit ihr Einspruch gegen den bisherigen
Wunder begriff gerichtet ist,
Was
verstand
Theil noch Thaten sein,
man nämlich
dazu auch vollkommen berechtigt sind. ehedem, und was versteht man zum
heute unter Wunder?
Wunder sollen Ereignisse
welche, unbedingt— schlechthin— unter
oder
allen Um
ständen alle natürlichen Ordnungen übersteigen, den Naturzusammen hang durchbrechen, die Naturgesetze verletzen oder, um es kürzer aus
zudrücken, absolut übernatürlich, ja widernatürlich sind.
Gegen einen
solchen Wunderbegriff wird mit Recht Einspruch erhoben, sowohl im Interesse einer würdigen Vorstellung von Gott, als im Interesse der Geschichtlichkeit und
wahren Menschheit Jesu Christi.
Eine geläu
terte Gottesidee kann unmöglich zugeben, daß neben der geordneten
Thätigkeit Gottes, welche eben sein gesammtes Thun umfaßt, noch eine ungeordnete Thätigkeit einherlause, welche jene durchbricht und ihr Resultat — d. i. eben so wenig kann
geleugnet
die Naturordnung — vernichtet.
werden,
Eben
daß, was schlechthin über- und
295
Wunder Jesu.
außermenschlich ist, und für welches die menschliche Natur auch in ihrer höchsten Potenzirung ein für allemal keinen Raum hat, daß
das auch nicht in ein menschliches Dasein eintreten könne, ohne dieses
Dasein zu sprengen und zu einem bloßen Scheindasein zu machen. Wunder einer göttlichen, alles Menschliche schlechthin überschreiten den Allmacht, zu welcher der Erlöser die Fähigkeit in sich getragen Haden soll, und zu denen er in jedem Augenblicke hätte greifen
können, und die, wenn sie nicht geschehen, nur darum unterblieben,
weil er auf sie
verzichtete — Wunder dieser Art würden nicht nur
— man möge sagen und sich drehen, wie man wolle — Jesum zu
jenem doketischen Scheinmenschen machen, welchen die Kirche stets verworfen hat,
abgraben').
sondern
auch alle Wurzeln der Sittlichkeit in ihm
Da kommt es auf zweierlei an: nachzuweisen, daß Gott
auch in dem Wunder ein Gott der Ordnung sei, oder, daß die Wunder nicht außerhalb, sondern innerhalb des geordneten Thuns
Gottes liegen; sodann zu zeigen oder — wenn das der Natur der Sache nach nicht in allen Fällen möglich ist — festzuhalten, daß
selbst das wunderbarste in dem Leben des Erlösers noch in den Gränzen der menschlichen Natur überhaupt liege, kurz gesagt, menschen
möglich, wo nicht, auch nicht wirklich sei. Natürlich wird man dabei nicht bei der alltäglichen Menschheit stehen zu bleiben haben:
auch die Wunderwerke des Genius, die Werke der Wissenschaft und Kunst kommen ja nicht alle Tage vor.
Selbst nicht einmal das
wird gefordert werden dürfen, daß sich mindestens etliches Aehnliche
aufweisen lasse: auch nur ein Einmaliges, wenn es sonst gehörig beglaubigt ist, darf deshalb, weil es ein Einziges ist, nicht ge leugnet werden, sondern wird in Aussicht künftiger Erkenntniß vor
läufig als Faktum hingenommen werden müssen, und in dem Maße mit Freudigkeit an- und ausgenommen werden, in welchem sich auch nur Analoges in der Menschheit aufweisen läßt. —
Bevor wir auf diese auch für uns unerläßliche Nachweisung eingehen, schicken wir noch Folgendes voraus:
Die heilige Schrift
selbst, so viele Wundererzählungen in ihr vorkommen, kennt doch
]) Siehe die Auseinandersetzung über „Gottes eingebornen Sohn" 1) Jesus
wahrhaftiger Mensch: die Anführung aus der Concordienformel. S. 272.
2. Hauptstück.
296
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
den gespannten Wunderbegriff unserer Tage,
kennt die Frage,
der wir nicht mehr aus dem Wege gehen können, nicht. von dem,
Sie hat
was wir Naturwissenschaft nennen, keine Ahnung, weiß
nichts von „Naturgesetzen" und „Natnrzusammenhang",
trägt des
halb auch kein Arg, in jedem, was über das gewöhnliche Geschehen hinausgeht, ein Eingreifen Gottes zu erblicken; ist überhaupt geneigt,
alles Geschehen mit Bei-Seite-Setzung der Mittelursachen unmittel
bar auf Gott zurückzuführen.
Dem entsprechen auch die in ihr vor
kommenden Bezeichnungen für das, was wir Wunder nennen.
Das
Neue Testament hat das dieser Bezeichnung am nächsten kommende Wort teras, gleich portentum, prodigium, welches überhaupt nur
16 mal in
ihm vorkommt,
nur ein einziges Mal
selbstständig in
einer Citation aus dem Joel „ich will terata geben im Himmel und Zeichen auf Erden" (Apostelgesch. 2, 19), sonst immer nur in Ver
bindung mit „Kräften" (Krastthaten, dynameis, was Luther konstant „Thaten" und nur einmal, Matth. 13, 58, „Zeichen", und noch ein
anderes Mal, 1 Kor. 12, 10 u. 29, mit „Wunder" und „Wunder
oder mit „Zeichen",
thäter"
übersetzt),
gleich:
„Kraftthaten und Wunder und Zeichen."
oder auch
mit beiden zu An bei weitem
den meisten Stellen ist dagegen nur von „Zeichen", „Kräften" oder von einem von beiden dieser Beziehung
die Rede.
Das zeigt deutlich,
der vorwaltende Begriff ist.
Was
welches in
wir Wunder
nennen, sind der h. Schrift Enthüllung höherer, mehr als gewöhn
licher Kraft („Krastthaten"), Zeichen der Nähe, der Einwirkung, des Wohlgefallens Gottes, kurzweg „Offenbarungsthaten".
ist
das Gebiet bezeichnet,
pflegt zu sagen:
welchem
„das Wunder sei des Glaubens
Das Richtige daran ist,
Damit
das Wunder angehört.
Man
liebstes Kind."
daß „Wunder" ein religiöser Begriff ist,
der nur für den Religiösen da ist, und über den nur die Religion
und die Religionswissenschaft zu entscheiden haben. eine Gränzüberschreitung,
schichtswissenschaft darüber entscheiden wollen,
und ob dieses oder dieses ein Wunder sei. wissenschaft festzustellen? derselben.
Es ist lediglich
wenn, sei es die Natur-, sei es die Ge
ob es Wunder gebe,
Was hat die Geschichts
Die Thatsachen und den Zusammenhang
„Dieser Mensch ist ein solcher, solcher gewesen;
diese
Begebenheit hat sich so zugetragen; und beide sind in solcher Weise
297
Wunder Jesu.
in allein Vorhergehenden begründet, und haben auf solche Art auf ihre
Oder:
Gegenwart und Nachwelt eingewirkt."
Mannes
die Thatsache lassen
noch
„weder die Art des
genau feststellen."
sich
Oder
„dieser Mensch, diese Begebenheit sind so außerordentliche
endlich:
Erscheinungen, und überschreiten so sehr alles sonstige Maß und alle Berechnung:
daß wir darauf verzichten müssen, sie und ihre Ein
wirkung aus dem bisherigen geschichtlichen Zusammenhänge zu er
klären."
Zu solchem Urtheil ist die Geschichtswissenschaft vollkommen Wenn sie dagegen darüber hinaus entscheiden will: „dieser
berechtigt.
Mann ist ein Gesandter, diese Begebenheit eine That Gottes, oder sie
sind es nicht": so hat sie ihre Kompetenz überschritten, sofern sie nicht
ein historisches, sondern ein religiöses Urtheil abgegeben hat. gleichen hat ohne Zweifel die Naturwissenschaft sestzustellen,
Des zuerst:
„Ist die Erscheinung, die Thatsache, über welche ich — die Wissen schaft der Natur — urtheilen soll, hinlänglich, methodisch (natürlich
in
der
für
Sodann:
diese
mir bisher
von
Erscheinung
eignenden
Methode) festgestellt?"
„Stimmt sie mit meinen sonstigen Erfahrungen und den gefundenen
und
allgemein anerkannten
Gesetzen
Hierüber hat diese Wissenschaft unbedingt und
überein oder nicht?"
nur sie zu entscheiden: und keine andere Wissenschaft hat ihr drein zu reden. nicht
Wenn sie aber deshalb, weil sie diese Uebereinstimmung
findet,
schehen,
das als
oder
das
geschehen Nachgewiesene für nicht ge
ihr Erklärbare
offen Liegende darum für
nicht
und
aus
in seinen Mittelursachen
Gott
geschehen
dekretiren
wollte: so würde sie in dem ersten Falle gegen ihre eigene Methode, in
dem
anderen gegen
ihre Kompetenz
verstoßen. — Wiederum
haben die Religion, die Religionswissenschaft sich auf ihr Bekenntniß
zu beschränken:
„ich erkenne hierin Gottes Hand,
hieran den Ge
sandten Gottes"; und sich vor jedem Urtheil zu hüten, das, weil es
in fremdes Gebiet greift,
sie sofort mit anderen Wissenschaften in
unheilvolle Verwicklung bringen würde.
ist Gottes Finger,
Sie darf nicht sagen: „hier
also muß jede Mittelursache ausgeschlossen sein,
kann keines Menschen noch sonst welche Thätigkeit hier mitgewirkt haben."
Wenn sie so spricht,
urtheilt sie
nicht bloß über etwas,
worüber ihr kein Urtheil zusteht: sondern sie versteht auch sich selbst nicht.
Die in sich
selbst verständigte Frömmigkeit muß vielmehr
298 sagen:
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
„ob so vorbereitet oder nicht, ob unter solcher Mitwirknng
oder nicht, das alles erklärt mir noch nicht den Mann, noch die That, oder macht mich in meinem Urtheil, „hier wirke Gottes Finger,
hier sei Gottes Sohn", irre.
Im Gegentheil, ich sehe gerade in
dieser Vorbereitung, gerade in dem Hinzutreten solcher Mitwirkungen
den Plan, die Macht, die Leitung Gottes, die alles auf die von ihr
bestimmte Zeit hinlenkt, alle Kräfte, alle Mittel, alle Ereignisse sich und dem von ihr Auserwählten dienstbar macht."
Freilich ist das
nicht die Sprache der Frömmigkeit, der Religion zu jeder Zeit ge
wesen: im Gegentheil haben rohere, sittlich und intellektuell minder durchgebildete Zeiten Gottes Thun mehr in dem Außerordentlichen,
Auffallenden, in seinen Mittelursachen nicht Erkannten, als in der
Ordnung und Uebereinstimmung alles im All, und in seiner Dienst barkeit unter dem alles organisch durchwaltenden Gotteswillen gesucht. Das ist indeß nicht die Schuld der Religion, sondern der mit ihr
nicht gleichen Schritt haltenden
sonstigen Bildung:
diese Zeiten
kannten, wie bereits erwähnt, nicht den Naturzusammenhang; darum
vermochten sie auch nicht Gott in ihm zu erkennen. Wir aber ver mögen es; darum sollen wir es auch nicht für einen Raub an der Frömmigkeit halten, sondern vielmehr für einen Gewinn für dieselbe,
wenn uns dieser Naturzusammenhang dargelegt wird. — Ebenso darf nach der Seite der Geschichtswissenschaft hin die Religion nicht sagen:
ich glaube es,
darum ist es geschehen und so geschehen: sondern
muß sich gefallen lassen und es ganz in der Ordnung finden: wenn die Geschichtswissenschaft entgegnet:
„halt an! ist es gelchehen, so
fällt es meiner Untersuchung anheim:
Geschichtswissenschaft. wer ist Bürge?
denn dafür bin ich eben die
Also: wann ist es geschehen? Und wo? Und
War, der es berichtet,
dabei?
Und ist er oder
— falls er aus anderer Munde berichtet — sind seine Gewährs männer urtheilsfähige und zuverlässige Zeugen?"
und wie sonst
noch die Fragen lauten, welche die hierüber competente Wissenschaft zu stellen hat.
Vor allen Uebergriffen und Vor- und Aburtheilen
hieran hat sich die Religion und die Religionswissenschaft auf das
sorgfältigste zu hüten: und sich dem gegenüber zu begnügen, zu
nächst ihre Wahrnehmungen auszusprechen, die ihr niemand bestreiten kann noch auch in dieselben
dreinreden darf —: ich erkenne hier
Wunder Jesu.
Gottes Offenbarung:
und
dann weiter
Offenbarung wissenschaftlich
299 den
nur
Begriff dieser
daß er mit unserem
so zu gestalten,
sonstigen vernünftigen Denken übereinstimmt und Denkgesetzen in Widerspruch steht,
weder mit den
noch all unser Wissen auf den
Kopf stellt. — Gehen wir nach diesen Vorerinnerungen an die Lösung unserer Aufgabe, so fragen wir zuerst: Giebt cs ein Uebernatürliches? Wir
werden diese Frage unbedingt bejahen: es giebt einen Gott! Vermag
sich dieses Uebernatürliche im Natürlichen zu offenbaren?
müssen wir behaupten:
wir wüßten sonst nichts
Auch das
von Gott!
Aber
giebt es nun auch eine solche Offenbarung des Uebernatürlichen im
Natürlichen, welche die natürlichen Ordnungen übersteigt, den natür lichen Verlauf verändert,
den Naturzusammenhang durchbricht,
die
Naturgesetze aufhebt? So werden wir auch dies mit alleiniger Aus nahme der Durchbrechung des Naturzusammenhanges — weil auch
das Außerordentlichste, ja das schlechthin Einzige, niemals ein abso
lut Neues Worten:
ist — beziehungsweise bejahen:
oder mit andern
wir werden zwar nicht absolute Wunder, welche auch wir
nicht zugeben,
wohl aber relative Wunder,
die aber nichtsdesto
weniger Wunder sind, behaupten.
Wir verstehen nutet Natur den Inbegriff alles Geschaffenen. Aber wir verstehen darunter auch — und das ist sogar der gewöhn lichere Sprachgebrauch — nur
einen Theil
des
Geschaffenen,
bewußtlose Natur im Gegensatze zur bewußten oder
Da haben wir 2 Stufen,
die
dem Geiste.
deren jede sich nach den ihr eignenden
Gesetzen bewegt, die Natur im engeren Sinne nach den sogenannten
Naturgesetzen
der Schwere, der Attractionskraft u. s. w.: der Geist
nach den Gesetzen des Denkens, den stttlichen Gesetzen u. s. w.
Nie
mand zweifelt, daß der Geist die höhere Stufe ist, daß er über der
Natur im engern Sinne steht und ihre Ordnungen überragt:
daß
mit andern Worten er und seine Thätigkeiten und Werke — obwohl
natürlich im weitern Sinne des Wortes, d. h. kreatürlich, und sich in den Ordnungen der Gesammtschöpfung bewegend — doch, sofern
wir sie der bewußtlosen Natur gegenüberstellen, übernatürlich sind. Kein Treibhaus erzeugt Gedanken, kein noch so titanisches Ringen
der Elemente Entschlüsse,
keine Sonne trotz der Gluth der Farben,
2. Hauptstück.
300
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
des Meeres von Licht Gemälde. — Niemand bestreitet, daß die be
wußte Natur, der Geist, und kraft seiner der Mensch auf die bewußt lose,
allerdings auch
diese
auf jenen
einwirkt.
unsern Zweck bei dem ersteren stehen bleiben.
Wir dürfen
für
Was finden wir? der
Menschengeist, der Mensch verändert die Natur.
Er lichtet Wälder,
er trocknet Sümpfe aus, er lockt Quellen aus der Tiefe hervor, er läßt Gärten entstehen, wo Wüsten waren: er mehrt den Regen, mil
Er durchbricht Gebirge, ändert
dert die Kälte, ändert das Klima.
der Ströme Lauf, wandelt der Thiere und der Pflanzen Art.
Dinge,
Lauter
welche die fich selbst überlassene Natur nimmer vermöchte,
welche für fie Wunder sind, über welche sie sich, wenn sie es könnte,
in hohem Grade wundern würde:
wir aber wundern uns nicht! —
Noch mehr: der Menschengeist hebt auch, wie er die Thätigkeit der
Natur überschreitet, so innerhalb gewisser Gränzen und bis zu einem gewissen Grade,
und,
indem er eine Kraft gegen die andere oder
auch gegen sie selbst kehrt, — Naturgesetze auf.
mehr den Naturgesetzen,
Was widerspricht
als daß Eisen läuft oder schwimmt:
aber bringen es sogar dahin, daß es trägt, daß es zieht.
wir
In seinen
Lokomotiven, in seinen Eisenschiffen hat der Mensch die Trägheit des Eisens überwunden. —
Das alles tritt noch deutlicher hervor, wenn wir die Wirksam keit des Menschengeistes
aus den Menschen selbst betrachten.
Der
Wille bewegt den Leib; er giebt der Schwäche Kraft; er überwindet die Krankheit; er verzögert den Tod.
von
dem wunderbaren Einfluß,
Zahllose Beispiele liegen vor
welchen die Energie des Willens,
überhaupt die Bewegung des Geistes auf den gesammten Organis
mus des Menschen ausgeübt haben.
Der seit seiner Jugend stumme
Sohn des Krösus sieht in dem Gewühle der Schlacht das Schwert
des Feindes über des Vaters Haupt und ruft: „Schone den König!" Kindesliebe, Kindesangst hatten das Band der Zunge gelöst! Jenem
Senner,
der
schwebend, lockert, und
am
halbdurchschnittenen Seile
sehen muß,
wie sich
er zuletzt nur
wenigen Minuten das Haar
noch
über
dem
Abgrund
dasselbe von Minute zu Minute an
ergraut.
einem Faden hängt,
So hat auch
ist in
sonst höchste
Angst, Schmerz, Freude, Muth hie belebend, dort tödtend gewirkt; hat überhaupt Erscheinungen hervorgerufen, die alles sonstige Maß
301
Wunder Jesu.
überschreiten, den mit Sicherheit zu erwartenden Verlauf vollständig durchbrechen und Wirkungen hervorbringen,
die niemand Anstand
nimmt, :rotz ihrer Natürlichkeit, als im höchsten Grade wunderbar,
als Wurder des Geistes zu bezeichnen.
Und diese Einwirkungen
beschränkn: sich nicht bloß auf diejenigen, in welchen die Bewegung des
Gertes ursprünglich vorgeht,
sondern sie pflanzen
sich von
ihnen ars auch auf andere über, und wirken „Wunder" an und
in ihnen
Die Krieger erliegen den Entbehrungen, den Beschwer
den, da fällt auf sie des Feldherrn Blick; und sie empfinden nicht Hunger, nicht Ermüdung, sie schlagen den Feind.
Der Glaubens
starke naht dem Verzagten, Luther betet über den zum Tode er krankten Melanchthon, und der Sterbende wird gesund! — Der Strom der Geschichte fließt Jahrhunderte in dem gewohnten Bett: da tritt ein einiger Mann auf und ändert mit einem Schlage den
gesammtcn geschichtlichen Verlauf! — Wo solches alles nicht bloß möglich, sondern wirklich ist, wo solche den gewöhnlichen Verlauf,
das durchschnittliche Niveau überragende „Wunder des Geistes und der Geschichte"
vor unseren Augen geschehen, wo uns — freilich
nicht alle Tage, aber oft genug, um nicht übersehen zu werden —
Ereignisse, Thaten, Menschen begegnen, die, obwohl sie nicht das überhaupt mögliche Maß der Menschennatur überschreiten, auf einer Höhe stehen, zu welcher wir mit Staunen und Bewunderung empor schauen — was ist da Widersprechendes darin, noch eine Stufe
weiter zu gehen, und zu diesen Wundern des Menschengeistes und
über
denselben
Wunder
des
heiligen
Geistes
Gottes,
„Offenbarungsthaten Gottes" anzunehmen, die sich zu jenen gerade ebenso verhalten, wie die Potenzirung des menschlichen Geistes zu
seinem alltäglichen Wirken, oder Natur?
wie
der menschliche Geist
Nein, sagt man: dieser Schluß ist nicht zuzulafsen.
zur
Denn er
ist nicht bloß, wie er aussieht, ein Schluß von dem Geringeren auf
das Größere (einen solchen Schluß könnte man gutheißen) —: er ist ein Uebergang in ein anderes Gebiet.
Denn in allen jenen
Fällen handelt es sich immer nur um eine innerkreatürliche Wirk
samkeit; es sind verschiedene Stufen, die auf einander einwirken, aber es sind Stufen,
Potenzen einer und derselben Natur,
die,
2. Hauptstück.
302
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
mögen sie auch im Einzelnen den Naturverlauf ändern, die Resul
tate modifiziren, die Hähern Stufen mit ihrem Thun die niedern durchbrechen , sich doch insgesammt in dem Zusammenhänge kreatür
licher Ursachen und Wirkungen und innerhalb der natürlichen Ord Hier aber tritt mit einem Male eine
nungen überhaupt halten.
außer- und übernatürliche Ursächlichkeit, Gott, aus, die von außen
in diesen Zusammenhang hineingreift und Thaten thut und Erschei nungen hervorruft, die eben nicht mehr, wie jene, ein Wirken von Natur auf Natur, sondern ein Wirken von Gott auf Natur sind.
Und das ist ein wesentlich anderes.
Freilich ist das ein anderes!
Und hätte ich das gleich bedacht, so hätte ich mir wohl diese ganze Denn wie könnte denn auch ich ein solches
Abhandlung gespart.
Treiben und Stoßen der Welt von außen und plumpes Eingreifen in den wohlgefügten Organismus der Natur, ein derartiges Anhalten
eines Theiles ihrer Räder, und dagegen Verstärkung der Kraft und der Schnelligkeit der andern, wie es etwa ein Werkmeister mit seiner
Maschine thut — wie könnte ich dergleichen Absurditäten lehren? Aber ich hatte es eben nicht bedacht, oder vielmehr mich überhaupt noch nicht zu dieser neusten Höhe der Erkenntniß erhoben, daß Gott
sich so äußerlich zur Natur und Naturordnung verhalte, daß er nicht anders als durch Eingreifen von außen auf sie zu wirken ver möge.
Ich hatte bisher auf dem Standpunkte gestanden, daß Gott
wohl von der Natur unterschieden, aber darum ebenso wenig von
ihr fern als räumlich in ihr befaßt sei; daß ihm auch die Welt, sein Werk, und die Weltordnung — sein geordnetes Thun in der Welt
— nicht so äußerlich gegenüberstehen, wie es mit dem Menschen in Beziehung auf menschliche Werke und menschliche Ordnungen der Fall ist: daß er auch nicht stoß- und ruckweise auf die Welt ein wirke, sondern (wie das früher des weiteren auseinandergesetzt ist)
in der Welt und mittelst derselben — organisch — auf sie ein
wirke: daß nichts Kreatürliches oder Natürliches geschieht, was nicht auf
diese
welchem hinter
übernatürliche,
nicht ihnen
neben diese
schöpferische Thätigkeit
allen
nie
Mittelursachen
aussetzende
und
Wirksamkeit
zurückgeht, in
ihnen
Gottes
bei
und
einher-
und einschreitet. Kurz ich hatte mit dem Psalmisten (Ps. 104) das Wirken Gottes in der Welt als sein „Athmen" in der
Wunder Jesu.
303
Welt') gefaßt und demgemäß mir auch
das Wunder nur als ein
potenzirtes „Athemholen" gedacht! Im Ernste.
Ich weiß nicht, wie
man einen lebendigen Gott und ein innerliches Verhältniß desselben zur Welt, wie man eine Vorsehung, eine Offenbarung, wie man Träger höherer Offenbarung annehmen und lehren kann, ohne mit
dieser Offenbarung auch Offeubarungsthateu zu statuiren, „Kräfte" und Kraftthaten (dynameis), die eben so über der sonstigen Menschen
kraft und ihren Wirkungen stehen, wie diese Männer über der sonstigen
Menschheit, und dabei ebenso mit den Gesetzen und Ordnungen der Gesammthaushaltung Gottes übereinstimmen, wie die Wir
kungen der Menschenkraft noch in ihren auffälligsten Erscheinungen mit der Naturordnung Gottes. sind
Was
uns
also
Wunder?
Wunder,
insbesondere
die
Wunder Christi, sind uns Ereignisse und Thaten, die nicht aus der
bloß natürlichen, auch nicht aus der bloß sittlichen Weltordnung,
wohl aber aus der Gesammthaushaltung Gottes begriffen werden
können.
Uebernatürlich, sofern man bei den untern Stufen des
Haushaltes
Gottes
stehen
bleibt:
natürlich,
sofern
man
das
Ganze, dem diese Stufen dienen, und um deswillen sie da sind, in's Auge faßt. Wunder für uns, die wir zu ihnen, die wir aus dem Stückwerk zu dem Vollkommenen emporschauen; Werke für den
Gott, der sie thut, wie für den Menschen, der sie verrichtet, und in ihnen nur die Kräfte verwerthet, hat.
welche Gott in ihm angelegt
Unsere Kräfte übersteigend, und dennoch
„menschen
möglich", sofern die menschliche Natur darauf angelegt ist, solche Kräfte in sich aufzunehmen und ihnen Raum zu geben, wie die
„Natur" darauf angelegt ist, die Kraft des Menschengeistes in sich
eingeheu zu lassen"). Wir müssen es natürlich einem jeden überlassen, ob ihm diese
]) v. 30. „Du lässest aus deinen Odem, so werden sie geschaffen, und verneuerst die Gestalt der Erde." 2) Ich habe diese Fassung des Wunderbegriffes aus „A. Schweizers: Leitfaden
zum Unterricht in der christlichen Glaubenslehre für reifere Katechumenen" vor mehr, denn 20 Jahren, gewonnen; und in ebenso langer Wirksamkeit die Erfahrung
gemacht, daß es mir mittelst derselben möglich gewesen ist, die Sache selbst jüngeren Schülern nahe zu bringen.
304
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
Ausführungen genügen, oder ob er andere genügendere sucht.
es
können
niemandem wehren,
auch
Wir
derselben die
wenn er trotz
Wunder, insbesondere auch die Wunder Christi, leugnet: sei es nun, daß er die Thatsachen in Abrede stelle; oder sei es, daß er die nicht
zu bezweifelnden Wunderwerke Christi, insbesondere seine Heilungen
„natürlich",
aus Anwendung medizinischer Mittel, erhitzter Einbil
dungskraft und Aehnlichem erkläre; oder,
daß er gar (ähnlich, wie
schon die Pharisäer thaten, als sie Jesum beschuldigten, daß er die
Teufel durch den Obersten der Teufel austreibe) Jesum der wissent lichen Täuschung anklage.
Er wird das
eine mit
der Geschichts
wissenschaft, das andere mit seinem Verstände, das letzte mit seinem
Nur eins fordere er nicht,
Gewissen auszumachen haben.
fordere
niemand: daß man ihm, dem jedes Organ für dieses Gebiet abgeht, oder der, sich selbst mißverstehend, für dieses Gebiet Belege fordert, welche demselben nicht eignen,
Wunder beweise.
das Wunder, beziehungsweise die
Wir können nichts, als die Finger auf die Ge
schichte legen: „das ist der Mann, das ist seine That. Nun siehe zu,
wie es aus dich wirkt." daß war,
dem vermögen wir,
Wer dann nicht sieht:
der Mann ein Prophet, seine That eine „Kraftthat" Gottes als wir ihm die
in anderer Weise ebenso wenig zu zeigen,
Offenbarung Gottes, als wir ihm Gott zeigen können.
Zum Schluffe noch eins: Wir haben uns nach Kräften bemüht, die Denkbarkeit des Wunders
nachzuweisen.
Es versteht sich von
selbst, daß wir nicht gemeint sind, damit auch über die Wirklichkeit,
d. h. das Geschehensein auch nur eines einzigen Wunders, auch nicht der Wunder des Herrn, entschieden zu haben. mehrere
den Thatbestand,
die
Hierüber, über die
oder mindere Beglaubigung der Thatsachen,
hat vielmehr,
geschichtliche Untersuchung
nach
im
diese Untersuchung zu verkürzen,
vorzuschreiben;
dem schon früher Gesagten,
einzelnen
einzelne Faktum sich genau anzusehen.
so wie über
einzutreten und jedes
Und sind wir nicht gewillt,
oder ihr nur bejahende Resultate
fordern vielmehr für die heilige Geschichte die An
wendung ganz derselben Methode, welche überhaupt bei geschichtlichen
Untersuchungen angewendet werden muß, und dieselbe Achtung vor den Resultaten suchung,
gewissenhafter,
welche überall
streng methodisch
den Ergebnissen
geführter
Unter
der Geschichtswissenschaft
Wunder Jesu.
305
Nicht, daß wir diese Ergebnisse für absolute halten, wie
zukommt.
etliche thun, welche die Behauptungen vermeintlicher Wissenschaft so blind an- und nachbeten, wie es je mit der Ueberlieferung des Buchstabens geschehen ist: Zweifel wird ja gestattet, Revision auch der scheinbar sichersten Resultate immer wieder nöthig sein. Nur, daß
niemand ein Sacrilegium darin sehe,
wenn die historische Unter
suchung bei voller Anerkennung des eigenthümlichen religiösen Cha der h. Schrift das eine oder andere Faktum in ihr für
rakters
minder beglaubigt,
oder auch für nicht hinreichend deutlich erzählt
wenn sie im Einzelnen Mißverständnisfe nachweist,
erklärt;
Ein
mischung sagenhafter Züge wahrscheinlich macht, und was dem Aehn-
liches
überall in der Geschichte vorkommt,
ohne daß
dadurch der
feste Boden des Ganzen erschüttert wird. — Fragt man,
was bei
solcher Zulassung der Untersuchung zur Ermittelung des Thatbestan des mit jenem Nachweise der Möglichkeit gewonnen sei, und was
es Helse, daß Wunder sollen denkbar sein, wenn es jedem freisteht, sie im Einzelnen
anzufechten:
wieder
so ist zunächst
den Forde
rungen strenger Wissenschaft gegenüber nicht von einem Freistehen,
d. h.
von
einem
willkürlichen Belieben
die Rede.
Sodann aber
bleibt der große Gewinn, daß derjenige Forscher, der jene Denkbarkeit erkennt und anerkennt,
forschen wird,
wo er sonst aus dem
Vorurtheil heraus, daß dergleichen gar nicht möglich sei, apodiktisch absprach; und daß derjenige Glaubende, welcher bisher ohne Wun
der
und
trotz
derselben
geglaubt hat,
die Freudigkeit
gewinnt,
fortan an Jesum Christum mit seinen Wundern zu glauben.
Wer
die Beschaffenheit der Berichte über Jesum kennt, der weiß, was das
bedeutet.
Gelitten unter Pontius Pilatus.
Es ist zunächst daran zu erinnern, daß der Name des Pontius Pilatus wahrscheinlich
in das Glaubensbekenntniß
gekommen
ist,
um die von den gnostischen Sekten bestrittene Wirklichkeit und Ge
schichtlichkeit Jesu nachdrücklich zu bezeichnen. (ältester, Materialien. 2. Auflage.
Und in der That ist 20
2. Hauptstück.
306
er ganz dazu geeignet,
Werk des Erlösers.
Zweiter Artikel.
uns in die geschichtliche Lage einzuführen.
Wir brauchen ihn nur auszusprechen,
und das jüdische Volk steht
vor uns in seiner politischen Erniedrigung, seinem religiösen Fana
tismus, seinem sittlichen Verfall.
Ebenso stellt sich uns die Heiden
welt dar: das Weltreich, das durch Unterwerfung aller Staaten des Mittelmeeres die Schranken gebrochen, welche ehedem die Nationen
von einander trennten, und dem Christenthum buchstäblich die Wege
gebaut hatte, auf denen dasselbe seinen Triumphzug in die Welt halten konnte; der sittlich-religiöse Zustand: die allgemeine Verderbniß,
der Untergang aller Rechtschaffenheit'), die Auflockerung alles
Glaubens (was ist „Wahrheit?"), das haltungslose Schwanken zwischen
Aberglauben
wüstem
und
völligem
Unglauben
(Matth. 27, 19.
Johann. 19, 8), kraft dessen das Heidenthum der Erlösung eben so bedürftig,
aber auch eben so nach ihr verlangend war,
wie
das
Judenthum! — Von der Bedeutung der Leiden Jesu wird näher zu
reden sein, wenn wir den 2. Theil der Erklärung Luther's besprechen. Hier sei nur Folgendes bemerkt: 1) Es ist durchaus ungerechtfertigt, wenn man das Leiden des
Herrn auf sein letztes Leiden von seiner Gefangenschaft an beschränkt
oder auch nur vorzugsweise daran denkt.
Es ist das geradezu eine
Schwäche: die Unfähigkeit, Seelenschmerz zu verstehen; das sinnliche Wesen, welches die Höhe des Leidens nur an den leiblichen Qualen
mißt.
Christi Leiden hat eher begonnen.
Und ist ein anderes ge
wesen, obwohl er allerdings auch an seinem Leibe Schweres erduldet
hat: der tiefe Schmerz über die Sünde: das Mitgefühl, mit welchem
er das leibliche und geistige Elend
seines Volkes,
weiter der ge-
sammten Menschheit, „die Sünde der Welt", auf sich genommen und getragen,
und in diesem Sinne das Prophetenwort erfüllt hat —
denn im buchstäblichen und leiblichen trifft es ja nicht zu—: „Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen —
die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt worden" (Jes. 53,4.5). Dieses Leiden ist nicht nur ein viel größeres, als alle äußere Entbehrung, Schmach, Kreuz und Tod, sondern es ist auch ein solches, welches in dieser
*) „Virtus non rara, sed nulla.“
Seneca. — Röm. 1, 18-32.
Leiden und Tod Jesu.
Tiefe und diesem Umfange
tragen konnte.
307
nur Jesus getragen hat, und nur er
Denn um dieses Mitgefühl und diesen Schmerz in
dem Maße zu empfinden, wie es bei ihm der Fall war,
dazu ge
hörte eben die Reinheit der Seele, wie die Fülle der Liebe, die nur ihm eigen waren; wie andererseits dieses Leiden wieder für seine Liebe den Sporn bildete,
daß fie sich in der Weise bethätigte, wie
Nur bei einer solchen Betrachtungsweise ist end
sie es gethan hat.
lich auch das letzte gesteigerte Leiden in seinem ganzen Umfange und
seiner göttlichen Erhabenheit zu verstehen. — Besondere Belege für
diese Betrachtungsweise der Leiden Jesu zu geben, ist eigentlich bei dem Tone der Wehmuth und des Schmerzes, welcher sein gesammtes
Leben durchzieht, nicht nöthig. Matth. 9, 36:
Sucht man indeß welche, so mag an
„Und, da er das Volk sah, jammerte ihn desselben:
denn sie waren verschmachtet und zerstreut,
wie Schafe,
die keinen
Hirten haben;" an seinen schmerzlichen Ausruf: „O du ungläubige und verkehrte Art, wie lange soll ich bei euch sein, wie lange soll ich euch
dulden"
(Matth. 17, 17; cf. 20),
an seine Noth mit seinen
Jüngern (Joh. 13, 1. 2. 12 f.; cf. Luk. 22, 24),
mit den Pharisäern,
an seine Kämpfe
an sein „Wehe" über die galiläischen Städte
(Matth. 11, 21. 23), an seine Thränen über Jerusalem (Luk. 19, 41; Matth. 23, 37) erinnert werden. —
2) Auch das letzte Leiden des Herrn ist mit nichten als etwas, was nur über ihn gekommen, was er nur erduldet hätte, anzusehen. Es
ist
vielmehr
eine That;
seinen Tod gegangen.
Jesus ist mit freier Entschließung in
An dieser Erkenntniß darf man sich dadurch
nicht irre machen lassen, daß das Leiden Christi in der Schrift durch
gängig als eine göttliche Nothwendigkeit bezeichnet (Luk. 24, 26), oder daß darauf hingewiesen wird: dies sei geschehen, „damit die
Schrift erfüllet werde".
Diese Nothwendigkeit war in keiner Weise
ein äußerer Zwang, sondern die innere Nothwendigkeit der Sache,
welche die Freiheit des Menschen voraussetzt, ja fordert. einmal nicht anders,
als daß der Gerechte statt
Es geht
des Ungerechten
und durch denselben leide: daß er an seiner Stelle die Unwürdigkeit, das Elend, die Verdammniß des Zustandes empfinde, sich jener befindet,
wie man
im
in welchem
ohne davon bewegt zu werden, daß er sich —
gewöhnlichen Leben sagt — in die Seele des andern
20*
2. Hauptstück.
308
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
hinein schäme, und für alles das noch den Widerspruch, den Haß, die Verfolgung des Sünders, „den Fersenstich der Sünde" erfahre.
Das ist immer so gewesen
und
wird
auch so bleiben.
Es ist ein
Gesetz der sittlichen Weltordnung, begründet in der Natur einerseits
der Gerechtigkeit und der Liebe, andererseits der Ungerechtigkeit und der Sünde.
Demgemäß haben die Propheten vor Christo Leid um
ihr Volk getragen, und' dafür seinen Undank geärntet und Noth und Verfolgung
erlitten.
Demgemäß ist der geistige Kern des Volkes
(das in dem 2. Theile des Jesaias unter dem Namen des „Knechtes
auftretende „geistige Israel") immer
Gottes"
„Sündenbock" (3 Mos. 16) des
Volk Israel nannte.
der Lastträger und
großen Haufens gewesen,
Demgemäß sagt Paulus von
der sich
den Aposteln:
„daß sie ein Fluch der Welt, ein Fegopfer aller Leute" sein müßten (1 Kor. 4, 13), und von sich: „daß er an seinem Leibe erstatte, was noch mangele an Trübsalen in Christo für seinen Leib, nämlich seine
Gemeinde" (Kol. 1, 24). Ja, so ist es allgemeines Gesetz im Reiche Gottes „daß wir durch viel Trübsal in dasselbe eingehen" (Apostg.
14, 22), und daß „wir nicht anders zur Herrlichkeit Christi erhoben
werden, als daß wir mit ihm leiden" (Röm. 8, 17. — Matth. 10, 38, vergl. auch Röm. 6, 3f.).
Wie hätte er, „der Herzog unserer Selig
keit" (Ebr. 2, 10s.), fein Werk anders, als mittelst Leiden, vollenden können?
Das erkannte er auch in dem Maße, als er sich und sein
Werk erfaßte und Hand an dasselbe legte; das trat ihm entgegen in
der Weise, wie er sich von seinem Volke, namentlich von den Führern und Leitern desselben ausgenommen sah; darauf hin fand er sich in
dem Schicksale und
der Stimme
„in allen Schriften,
die von ihm gesagt waren", gewiesen und in
seinem Entschlüsse,
leeren, bestärkt.
den Kelch
der Männer Gottes vor ihm —
des Leidens bis
auf den Boden zu
Dies — die Hinweisung auf dieses allgemeine Gesetz
des Reiches Gottes, das sich auch an ihm, und an ihm im höchsten Grade erfüllen werde und erfüllen müsse, und die dadurch bedingte
Bereitschaft und der Entschluß, zu leiden — das war die Bedeutung, welches
das „Geschriebensein
von
diesen Leiden" für Jesum hatte,
Im übrigen hat dasselbe niemals einen Einfluß auf sein Thun aus geübt,
daß er sich
dasselbe nach dem
etwa gefragt: „steht es auch geschrieben", oder „Geschriebenen"
eingerichtet hätte, und,
wenn
Leiden und Tod Jesu.
309
anders geschrieben gewesen wäre, auch anders gehandelt haben würde;
sondern, unbekümmert um den Buchstaben der Schrift, hat er jeder zeit gehandelt, „wie es ihm sein Vater zeigte," und wie er es als
So hat er, ungeachtet
vor Gott recht und als seine Pflicht erkannte.
doch „die Schriften" immer dieselben blieben, kein Bedenken getra
sich
gen,
den
zu entziehen (Matth.
ihm drohenden Nachstellungen
15, 21; cf. Mark. 7, 24. — Joh. 7, 1; 8, 59), solange er es, ohne
eine Pflicht zu verletzen oder seine Thätigkeit zu unterbrechen, konnte. Und erst,
als „seine Stunde" gekommen war (Joh. 7, 30; Matth.
26, 39; Joh. 7,6), — was er jedenfalls nicht aus „den Schriften",
sondern aus besonnener Ueberlegung und Erfassung der Verhältnisse erkannte; als er wahrnahm, daß die Lage der Dinge zu dieser Ent scheidung dränge, und daß er derselben nicht ausweichen könne, ohne
sich selbst und seinem Berufe untreu zu werden, — da erst hat er, ohne zu zögern („stracks"), sein Angesicht gen Jerusalem gewendet (Luk. 9, 51), und ist in den Tod
gegangen,
welchen
er als einen
unvermeidlichen erkannte. — 3) Das Leiden des Herrn, durch und durch eine sittliche That,
hat auch zu seiner eignen Vollendung gedient.
Dies nament
lich ist ein Gesichtspunkt, der vielen ganz neu, ja befremdlich sein wird.
Dennoch ist er schon in der Schrift bestimmt ausgesprochen
(Ebr. 5, 8.
„Wiewohl er Gottes Sohn war,
der Sache.
„Gehorsam" ist ja nicht bloß
Wunsch, ein Vorsatz:
Jesus Christus,
Geneigtheit,
ein
und diese muß, wie
Zugleich ist es auch etwas überaus unser Herr und Meister,
nicht bloß
sondern auch unser Mitschüler in der Schule des
unser Mitbruder,
Lebens und Leidens, und zu leiden:
eine
sondern eine Fertigkeit;
jede Fertigkeit, gelernt werden.
Tröstliches.
hat er doch an dem,
Aber es liegt auch in der Natur
das er litte, Gehorsam gelernt").
an dessen Lernen wir lernen sollen,
zu leben
an dem wir uns trösten können (v. 7), wenn uns
dieses Lernen nicht so ganz leicht
wird, und wir finden,
daß wir
trotz alles Eifers immer noch nicht ausgelernt haben. — Gekreuzigt.
Es liegt auf der Hand,
daß
die äußere Art und Weise des
Todes Jesu von keiner Bedeutung für sein Erlösungswerk sein kann.
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers.
310
Denn diese hing ja nicht von ihm selbst, sondern von den äußeren Umständen ab;
daß nicht der hohe Rath, sondern Pilatus es war,
welcher die Todesstrafe an ihm aussühren ließ, andererseits, daß er
ein „Ausländer" war. und Tod
gehabt,
so
Hätte der hohe Rath noch Gewalt über Leben
wäre Jesus gesteinigt worden;
wäre er ein
römischer Bürger gewesen, wie Paulus, so hätte ihn, wie diesen, die
Strafe
des Beiles
getroffen.
In dem einen,
wie in dem andern
Falle wäre an der innern Bedeutung seines Todes nichts geändert worben.
Nichtsdestoweniger finden wir schon in der Schrift Werth
darauf gelegt, daß Christus gekreuzigt sei (Joh. 12, 32. 33); und stimmt damit trotz jener völlig eigene Empfindung überein.
berechtigten Reflexion
Worin liegt das?
auch unsere
In zweierlei.
Daß
die Kreuzesstrafe, so qualvoll sie war, dem Geiste Klarheit ließ; und
zugleich durch die Langsamkeit des Todes Raum für Aussprache ge
währte.
Wir
verdanken
dieser Form der Strafe die sieben Worte
am Kreuze, welche die Kirche von je an als ein theuerstes Ver-
mächtniß verehrt hat.
Sodann aber hängt es damit zusammen, daß
der Eindruck, welchen der Anblick, beziehungsweise die lebendige Ver
gegenwärtigung des am Kreuze sterbenden Erlösers macht, frei von dem Abstoßenden und Widerwärtigen ist, welches andern Todesarten
beiwohnt, • die uns einen verstümmelten oder entstellten Leichnam oder auch, wie die Steinigung, wegung zeigen.
wilden Tumult und leidenschaftliche Be
Ueber dem Kreuze lagert Stille und Friede;
das
Widerwärtige, die Rohheit, der Haß, die Wuth der Menschen unter
dem Kreuze reichen, daß ich so sage, nur bis an seinen Fuß. hebt sich die Gestalt des Heilandes ab,
Klar
mit ihren am Kreuze aus
gebreiteten Armen noch in seinem Tode ein Abbild der Liebe
und
des Erbarmens, mit welcher er die Welt umfaßte und für sie starb. Das hat die Christenheit gefühlt und darum von je an auch in der
äußeren Weise seines Sterbens das Walten der Vorsehung verehrt, welche Großes und Kleines, das Bedeutungsvolle und das scheinbar
Bedeutungslose zu demselben Zwecke lenkt.
Gestorben, Begraben, Niedergefahren zur Hölle. Diese drei Aussagen
besagen wesentlich
dasselbe.
Denn auch
die letzte hat ursprünglich keine andere Bedeutung gehabt, als die
311
Höllenfahrt Jesu.
Wirklichkeit des Todes Jesu zu bekunden: daß er nicht zum Schein ge storben sei, sondern dasselbe erfahren habe, wie wir, und seine Seele
sich von seinem Leibe getrennt habe und in den Hades (ad inferos) gestiegen sei.
Nicht lange indeß,
und es entstand die Frage, was
denn die Seele Jesu bei den Todten gemacht habe, da man sich nicht vorstellen konnte, daß sie daselbst müßig geblieben sei; und bildete sich hieraus das besonders im Mittelalter in grotesken Zügen aus
geprägte Dogma
von einer „Höllenfahrt Christi", sei es, um „die
Väter" zu erwecken, den Todten das Evangelium zu verkünden, die Verdammten zu erlösen: sei es, um Gericht in der Hölle zu halten,
den Teufel zu besiegen, den Triumph über die Hölle zu feiern. —
Die aus der Reformation entstandenen Kirchen haben den Satz verschieden gedeutet.
In der reformirten Kirche gilt die Höllenfahrt
theils, wie ursprünglich, nur als Bezeichnung des Todes, theils als für
Bild
die dem
Tode
ungeheure
Todesangst.
„Warum wird hinzugefügt: Niedergefahren zur Hölle?"
„Damit ich
vorangegangene
in höchsten Schmerzen und Anfechtungen mich des getroste, daß mein
Herr Jes. Chr. durch
die
unsagbaren
Seelenängste,
Schrecken, in welche er sowohl vorher, vor allem aber, am Kreuze hing,
Qualen
gestürzt worden ist,
der Hölle befreit hat"
Qualen und
während er
mich von den Aengsten und
(Heidelberger Katech. Fr. 44). —
Die lutherische Kirche hält dagegen an der thatsächlichen Auffassung fest:
Christus ist „als Gott und Mensch" zur Unterwelt
und hat den Satan besiegt. cordienformel Art. 9).
Weise.
gestiegen
Die Weise sei nicht zu erklären (Con
Luther selbst deutet es in freier sinnbildlicher
Seine Worte, in denen er nach seiner Art frisch und fröhlich
mit den herkömmlichen Vorstellungen umspringt und unbekümmert
um das Geschick des Buchstabens den Kern aus der Schale heraus schält, sind zu bezeichnend,
als daß wir sie nicht, zumal sie wenig
bekannt sind, hersetzen sollten:
„Wie es aber zugegangen, daß der
Mensch da im Grabe gelegen und doch zur Hölle gefahren ist, da
sprich,
das weiß ich nicht,
reden können. Bild fassen:
werde es auch nicht erdenken und aus
Aber grob kann ich es dir wohl malen und in ein Er nahm die Fahne als ein sieghafter Held,
und lief
damit wider der Höllen Thor, und stieß es auf und rumorte unter
den Teufeln, daß hier einer zum Fenster, dort der andere zum Loch
Werk des Erlösers.
Zweiter Artikel.
312
2. Hauptstück.
herausfiel.
Kommt dann ein unzeitiger Klügling mit seiner hoch
verständigen Vernunft, hohnlächelt und spricht:
Ei, was giebeft du
für? Meinst du, daß die Hölle ein hölzernes Thor hat? so sprich du:
lieber Meister Klügel, das weiß ich sowohl als du; ich könnte auch, so es wohl oder nütze wäre, so scharf davon reden, als du; ich weiß
daß kein Zimmermann
sehr wohl,
Denn die Hölle ist gewesen, men ist.
der Höllen Thor gemacht hat.
ehe ein Zimmermann auf Erden kom Riegel u. s. w., wie Schlösser
Sie hat nicht Holz, Eisen,
und Häuser
auf Erden haben.
Das Thor ist nicht hölzern und
eisern, und die Fahne, damit Christus nicht tüchern.
das Thor
aufgestoßen,
ist
Ich wollte auch wohl solche Bilder und Figuren fein
erklären und auslegen, was Fahne, Thor, Riegel u. s. w. bedeute,
Aber ich wiü's nicht thun, sondern
und dürfte keines Klügels dazu.
bei den einfältigen klaren Worten und den kindischen Bildern bleiben,
die nur diesen Artikel fein malen.
Denn mit den hohen Gedanken
wollte mich
der Teufel gern aus der Bahn
und scharfen Fragen
bringen und
von dem klaren Wort und einfältigen Verstand auf
Menschen-Klugheit führen.
Darum ist es bester, ich bleibe hier ein
Kind, welches ihm dieses Bild fasset und denket, Christus sei an die
Hölle hinangelaufen, wie man sonst an ein Thor läuft.
Solch Bild
kann mir nicht schaden, noch mich verführen; sondern dienet und hilft
mir wohl dazu, daß ich diesen Artikel desto stärker fasse und behalte;
und bleibt doch
der Verstand
rein und unversehrt,
Teufel und Hölle überwunden hat,
Gott gebe,
daß Christus
Fahne, Stab sei hölzern oder eisern oder gar keine gewest. wir doch sonst alle Dinge,
Thore,
die Pforten,
Müssen
die wir nicht kennen und wissen,
durch
Bilder fassen, ob sie gleich nicht so eben zutreffen, oder in Wahrheit also sein,
S. 233.
wie es
die Bilder ausmalen" (Leipziger Ausgabe XVI.
Vergl. Ausg. von Walch, Halle, 1744, Th. X. S. 1354 f.).
Fassen wir das alles zusammen,
so ist
der Kern dieser von
Luther mit solchem Humor behandelten Vorstellungen über die Höllen fahrt Christi:
reichende
die über das Grab,
Erlöser-Thätigkeit Christi.
sein und unser Grab, hinaus
Seine Wirksamkeit
auf die Zeit seines irdischen Daseins beschlossen, auch in jenem Leben fort.
ist nicht
er setzt dieselbe
Und ebenso wenig ist sie auf diejenigen
beschränkt, welche ihn hienieden kennen gelernt haben und an ihn
313
Höllenfahrt Jesu.
gläubig geworden sind: er holt, um mit Luther zu reden, die Leute
aus
noch
Alle die Millionen,
der Hölle heraus.
gelebt haben und gestorben sind,
die vor Christo
ohne ihn gesehen zu haben,
„Väter", die auf ihn gehofft'), wie die „Völker", die,
die
ohne es zu
wissen, nach ihm geseuszt habens, sie sollen ihn auch sehen; es soll
ihnen das Evangelium verkündet werden.
gleicherweise denen,
sondern
welche noch
sofern sie geboren werden und sterben,
Und nicht ihnen allein,
heute vor Christo leben,
ohne ihn kennen lernen zu
können: Heiden und Juden und Muhamedaner; aber auch Christen,
denen zwar von ihm gesagt worden ist, aber auf eine solche Weise, daß man schon anders woher recht fest und innig an ihn glauben
wenn man nicht durch eine solche entstellende
gelernt haben muß,
Predigt vielmehr von ihm weggescheucht werden soll.
wird
nach
Allen diesen
in einem andern Dasein Gelegenheit
dieser Zeitlichkeit
gegeben werden, Christum, der auch für sie gestorben ist, kennen zu lernen, wie er ist:
damit sie sich entscheiden und dann, je nachdem
sie sich entschieden haben, ihr Urtheil empfangen gleich uns.
Was wir in solcher Weise an den ursprünglich in einem andern Sinne gemeinten Satz von der „Höllenfahrt" anknüpfen, ist eine so
tröstliche Wahrheit, rauben lassen.
daß sich niemand dieselbe so leicht wird wollen
Es fragt sich nur,
ob
wir ein Recht haben,
sie
hinein zu legen, ob wir überhaupt für sie Grund der Schrift haben.
Darauf ist zu erwidern, daß selbst, wenn wir nicht im Stande wären, einzelne Aussprüche der h. Schrift für sie anzuführen, wir dennoch
an ihr festhalten und sie lehren müßten, weil sie derartig in dem
Gesammtinhalt der Schrift gegründet und mit dem Wesen des Christen-
') Luk. 10, 23. sage euch:
„Selig
sind
die Augen, die sehen,
das ihr sehet, denn ich
Viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben
es nicht gesehen; und hören, das ihr höret, und haben es nicht gehört."
2) Apostg. 17, 22. 23.
„Ihr Männer von Athen, ich sehe, daß ihr in jeder
Hinsicht gar andächtig seid.
Denn, da ich hindurchging, und eure Gottesdienste be
trachtete, sand ich auch
Gott."
13. 14.
einen Altar,
darauf war geschrieben:
„Was ihr nun unwissend verehrt, das
„Dem unbekannten
verkündige ich euch." — Luk. 10,
„Wehe dir, Chorazin! Wehe dir, Bethsaida! Denn wären die Thaten zu
Tyrus und Sidon geschehen, die bei euch geschehen sind, sie hätten längst in Sack und Asche gesessen,
und Buße gethan.
Doch es wird Tyrus und Sidon erträg
licher gehen im Gericht, denn euch." cf. Matth. 12, 41. 42.
314
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
thums verwachsen ist, daß das christliche Nachdenken immer wieder auf sie kommen würde, und daß keine mit sich verständigte christliche
Frömmigkeit sie entbehren könnte.
Mögen sittlich rohere Zeiten sich
bei der ewigen Verdammniß der Heiden und Juden beruhigen, ja, sich derselben wohl gar erfreuen können, mögen religiös-indifferente die Frage umgehen, dadurch, daß sie jeden Unterschied der Reli
gionen schließlich für gleichgültig erklären und nach dem bekannten „Christen, Juden, Hottentott, wir glauben all' an einen Gott" die Behauptung aufstellen, wenn einer nur, seinem Glauben oder Aber glauben getreu, rechtschaffen lebe (also unter Umständen treulich Un
zucht treibe, Menschen opfere und fresse), so werde er selig: wir, die
wir — mit jedem vernünftigen Menschen — Seligkeit nur in der
Wahrheit und Gerechtigkeit, nicht aber im Wahne und in der Sünde für möglich halten, andererseits als Christen noch daran festhalten,
daß Christus allein „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, und daß niemand zum Vater kommt,
denn durch ihn" (Joh. 14, 6; cf.
17, 3; Apostelg. 4,12) —: wir können nicht anders, als aus diesem
schriftmäßigen christlichen Glauben heraus auch das glauben, daß Veranstaltungen müssen getroffen sein, um diejenigen, welche in dieser
Zeitlichkeit diesen Weg und diese Wahrheit nicht gefunden haben, nicht haben finden können, irgendwie und irgendwann in einem andern Dasein auf diesen Weg zur Wahrheit zu führen. Und dürfte schwerlich eine andere Weise gefunden werden, durch welche
gleichmäßig
die Forderungen eines Glaubens, der nicht mit sich
markten läßt und einer Liebe, die — ächt christlich — nicht im Stande ist, ihre Augen gegen das Loos ihrer Mittmenschen zu verschließen,
befriedigt, ja, bei der überhaupt noch der christliche Glaube:
an
einen gütigen und gerechten Gott, den „Vater" seiner Menschenkin der, aufrecht erhalten werden könnte. — Aber es fehlt auch nicht
an einzelnen Beweisstellen.
Zuerst die sofort entscheidende:
„Gott
will, daß allen Menschen geholfen werde, und zur Erkenntniß der Wahrheit kommen. Denn es ist nur ein Gott und ein Mittler
zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, daß solches zu seiner Zeit gepredigt würde" (1 Tim. 2, 4—6). Sodann: „denn dazu ist Christus gestorben und auferstanden, daß er über Todte
Höllenfahrt Jesu.
315
und Lebendige Herr fei" (Römer 14, 9). Näher: „denn dazu ist auch den Todten das Evangelium verkündet worden, damit sie auf Men
schenweise dem Fleische nach gerichtet werden, auf Gottes Weise aber lebendig seien dem Geiste nach" (1 Petri 4, 6). Endlich: „denn auch Christus ist einmal um unsrer Sünde willen gestorben, ein Gerechter für die Ungerechten, auf daß er uns Gott zuführte'), getödtet nach
dem Fleisch, aber lebendig gemacht nach dem Geiste; in welchem er auch
hinging und den Geistern im Gefängniß predigte,
ungehorsam waren,
die einst
als Gottes Langmuth harrte in den Tagen
Noah's, da man die Arche zurüstete, in welcher wenige, das ist acht Seelen, behalten wurden durch das Wasser" u. s. w. (1 Petri 3, 18f.).
Bedenken könnte nur die Zeit erregen, in welche diese „die Geister im Gefängniß" erlösende That gesetzt wird, die drei Tage, während auf den sie
welcher der Herr im Grabe lag; so wie der Kreis,
beschränkt zu werden scheint, nämlich auf die Verdammten vor Noah und
zu Noah's Zeit:
den spätern aber gelte sie nicht.
Aber das
erstere ist ein reines Mißverständniß, zu welchem weder diese noch
irgend eine andere Stelle der h. Schrift die mindeste Veranlassung giebt, welches vielmehr seinen Grund lediglich in der Stellung hat, den dieser Satz in dem apostolischen Glaubensbekenntniß einnimmt
und seiner ursprünglichen Bedeutung nach (daß nämlich die Seele Jesu bei seinem Tode sich gleich der unseren von seinem Leibe ge
trennt habe und in die Unterwelt gegangen sei) auch allein einneh men konnte.
Hätte man von Anfang an mit der „Höllenfahrt"
Jesu den Sinn verbunden, den man später dem Tenor der Schrift
und den Forderungen des Glaubens gemäß mit ihr verknüpfte, so würde dieselbe ohne Zweifel auch eine andere Stelle gefunden haben, nach der Auferstehung, etwa bei oder nach dem „Sitzen zur Rechten
Gottes":
wie denn auch
die Petrusstelle,
wenn man sie pressen
will („gelitten", „getödtet", „lebendig gemacht", „hingegangen zu den
Geistern im Gefängniß"), diese Reihenfolge angiebt.
In der That
aber giebt sie gar nichts über die Zeit an. — Ebenso ist die Beschrän
kung der erlösenden Thätigkeit Christi auf die in der Sündfluth Um gekommenen und die vor ihnen ein bloßer Schein.
') Luther mißverständlich: „auf daß er uns Gott opferte.
Im Gegentheil
316
2. Hauptstück.
Zweiter Artikel. Werk des Erlösers.
werden diese nur als das leuchtendste Beispiel angeführt, daß selbst für die schon Gerichteten, die ihr Urtheil in der Sündfluth schon
empfangen haben, noch Gnade und Vergebung in Christo bereitet ist: während für die nach jenem Gerichte Gebornen, in der noch lau
fenden Weltzeit Lebenden, als für solche, welche nach allgemein bibli schen Anschauungen dem Gerichte erst noch entgegensetzen, deren Sache also noch schwebt, sich das von selbst versteht. Daß dies in der That
der Gedanke der Stelle ist, beweisen die folgenden Worte — „in den Tagen Noah, da die Arche zubereitet war, in welcher wenige,
das ist 8 Seelen, gerettet wurden durch's Wasser, welches auch uns
im Gegenbilde nun rettet als Taufe,
reinigkeit am Fleisch, sondern u. s. w."
nicht das Abthun der Un
Das heißt, das Wasser der ist ein Bild der
Sündfluth „deutet" auf das Wasser der Taufe,
selben; nur geht es bei beiden umgekehrt zu: das Wasser der Sünd fluth war das Mittel des Gerichts, aus dem nur wenige entrannen;
das
Waffer
der
Taufe
ist das
Mittel,
alle
selig
zu
machen
(v. 20f.). -
Schließlich ist noch auf den Mißbrauch aufmerksam zu machen, den diejenigen mit diesem Lehrstück treiben würden, welche meinen,
weil noch in einem andern Leben Besserung und Vergebung möglich ist,
darum ihre Bekehrung ungestraft bis auf dieses aufschieben zu
dürfen.
Sie vergessen, daß auch droben Buße und Vergebung sich
in keiner andern Weise vollziehen,
als hienieden;
daß sie also in
keiner Art um die Kämpfe und Entschlüsse, denen sie hier aus dem Wege gehen wollen, herumkommen;
daß sie sich dieselben vielmehr
erschweren, sofern jeder Schritt weiter in die Sünde hinein, leichtfertige Aufschub schwieriger und
die Umkehr und
damit auch
schließlich unmöglich macht.
jeder
die Vergebung
Vollends gegen den
Frevel, der mit der Wahrheit, die er anerkennen muß,
muthwillig
Spott treibt, greift jenes furchtbar ernste Wort des Erlösers Platz: „Alle Sünde und Lästerung wird den Menschen vergeben, aber die
Lästerung wider den Geist wird den Menschen nicht vergeben.
Und,
wer, etwas redet wider des Menschen Sohn, dem wird es vergeben; aber wer etwas redet wider den h. Geist,
dem wird es nicht ver
geben weder in dieser noch in jener Welt" (Matth. 12, 31. 32). — Nicht minder würden diejenigen, welche um der in jenem Leben
Auferstehung Jesu.
317
möglichen Rettung willen es unterließen, denen, die noch im „Dunkel
und Schatten des Todes sitzen", das „Licht der Welt", I. Christum, schon hienieden nach Möglichkeit zu verkünden, — sie würden bewei
sen,
daß es ihnen gleich sehr an Glauben,
wie an Liebe,
fehlt.
Denn der Glaube muß reden von dem, was und an wen er glaubt (2 Kor. 4,13).
Die Liebe aber kann es nicht tragen, Mitmenschen,
denen sie helfen kann,
geistig verkommen zu sehen, weil ja Aus
sicht da sei, daß ihnen droben werde geholfen werden (1 Joh. 3,17).
Am dritten Tage auferstanden von den Todten.
Ueber die Auferstehung des Herrn ist neuerdings so viel ver handelt worden, und von diesen Verhandlungen so viel in die Ge meinde gedrungen, daß es nöthig ist, auf diesen Gegenstand näher,
als es sonst geschehen würde, einzugehen.
Daß unser Herr Jesus Christus sich seinen Jüngern in mehr
fachen Erscheinungen „lebendig erwiesen hat" (Apostelg. 1, 3);
und
daß diese für ihre Person überzeugt gewesen sind, in diesen Erschei
nungen ihn selbst, den leibhaftig von dem Tode Auferstandenen, vor sich zu sehen: so wie,
daß sie erst durch diesen Glauben an seine
Auferstehung diejenigen geworden sind, als welche sie sich von da ab
zeigen, und den Muth und die Kraft gewonnen haben, den Gekreu zigten unter dem Widerspruch, der Verfolgung, dem Hohne der Welt
aller Welt zu verkünden (2 Kor. 11, 24 f.):
dies ist eine Thatsache,
welche so sicher bezeugt ist, wie nur eine geschichtliche Thatsache be zeugt werden kann; sicherer, als viele andere, an denen wir nichts
destoweniger mit Recht als an unumstößlichen festhalten.
Für diese Thatsache treten noch außer den Evangelien ein:
1) Die gesammte Verkündigung der Apostel, welche ohne Aus nahme auf dem Glauben an die Auferstehung Jesu ruht und die selbe zu ihrem Hauptgegenstande hat. 2) Das Zeugniß
Augenzeuge ist,
des Apostels Paulus,
der zwar selbst kein
sich aber aus Augenzeugen beruft, und der eine
ganze Reihe von Erscheinungen des Auferstandenen mittheilt, theils vor einzelnen besonders namhaft gemachten, theils vor allen Aposteln, theils endlich vor einer sehr großen Anzahl von Jüngern, von denen
viele, als er sein Zeugniß schrieb, noch lebten (1 Kor. 15, 1 f.).
2. Hauptstück.
318
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
Daß Paulus nicht sämmtliche uns bekannte Erscheinungen an führt, sondern mehrere z. B. vor Maria Magdalena (Joh. 20, llf.),
den Frauen,
die am Grabe gewesen waren (Matth. 28, 8f.), den
Emmahuntischen Jüngern (Luk. 24, 13f.) übergeht, hat wohl darin seinen Grund,
daß es ihm nicht auf geschichtliche Vollständigkeit,
auf Beweise für die Auferstehung Jesu ankam.
sondern
führt er nur solche Erscheinungen an,
Darum
die theils durch die Namen,
theils durch die große Menge der Augenzeugen vorzugsweise durch
schlugen. 3) Durch denselben Apostel wird
die überaus wichtige That
sache bezeugt," daß Jesus am dritten Tage auferstanden, daß er begraben ist.
chen,
desglei
Durch beides wird von vorn herein
jeder Gedanke an eine nur mythische Auffassung der Auferstehung ausgeschlossen:
sofern zur Entstehung eines solchen Mythus jeden
falls eine längere Zeit gehört haben würde, derselbe auch sofort durch
die Hinweisung aus den Leichnam im Grabe hätte widerlegt werden müssen.
Der „dritte Tag" wird übrigens außer von dem Apostel durch
die sehr frühe Einführung
der Sonntagsseier, von der schon
das
Neue Testament — wenn auch nicht ganz sichere — Spuren zeigt'),
bezeugt. — Solchen Zeugnissen gegenüber würde der Zweifel an der Auf wenn sich nicht mit ihnen Umstände
erstehung Jesu unbegreiflich,
verbänden, welche zwar die Leugnung der Thatsache nicht rechtfertigen,
wohl aher zum ernsten Nachdenken über ihre eigentliche Beschaffen heit auffordern.
Es ist Pflicht, auch hierauf aufmerksam zu machen,
um die Billigkeit gegen diejenigen zu bewahren, welche von der her kömmlichen Ansicht abweichen.
Solche Umstände sind:
die Erscheinungen
1) die Schwierigkeit, ja Unmöglichkeit,
des Auserstandenen in eine Reihe zu bringen.
2) Der Widerspruch, welcher darin zu liegen scheint, daß der Bericht
beim Matthaus die Erscheinungen Jesu von vorn herein nach Ga*) 1 Kor. 16, 2.
„Die Korinthier sollen an jeglichem ersten Wochentage (nicht
wie Luther übersetzt: an einem jeglichen Sabbathe) für Jerusalein etwas zurück
legen."
Apostg. 20, 7.
„Auf den ersten Wochentag (Lnther unrichtig: auf einen
Sabbath), da wir zusammenkamen, das Brod zu brechen."--------
Auferstehung Jesu.
319
liläa werveist, der beim Lukas sie in Jerusalem setzt, und nur Jo
hannes; siwohl von Galiläischen als auch von Jerusalemitischen Erscheinumgm des Auferstandenen weiß. (Markus kommt insofern nicht
in Bebraht, als die betreffenden Berichte von Mark. 16, 9 an ein späterer Nachtrag sind.)
nach
3) Die Abweichungen in den Berichten,
denen das eine Mal der Leib Christi aus Fleisch und Blut
bestehem, Speise zu sich nehmen, sich befühlen lassen soll, das andere Mal wieter Jesus so geisterhaft erscheint, daß es schwer ist, an Leib
lichkeit zr denken.
4) Endlich der Umstand, daß der Apostel Paulus
die ihm zu Theil gewordene Erscheinung Jesu mehrere Jahre nach
der Himmelfahrt (Apostelg. 9) in eine Reihe und als vollkommen gleichartiz mit den Erscheinungen
des Auferstandenen
am dritten
Tage mach seinem Tode und den folgenden setzt: was von selbst auf
den Gedenken bringt, daß auch die letzteren nur geistiger Natur ge wesen fetzn. Gehen wir nun an die Darstellung der hauptsächlichsten An sichten fiter die Auferstehung Jesu,
zu welchen die dargelegte Be
schaffenheit der Berichte Anlaß gegeben hat:
so sei — weil sie ja
doch hie und da noch herumschleicht und namentlich Halbgebildete
sich öfter mit dieser allerneuesten Entdeckung, die sie in irgend einer
obskuren Schrift gemacht haben, etwas wissen — so sei im Vorbei
gehen zunächst der alten jüdischen Fabel gedacht,
wonach die Auf
erstehung Jesu auf einem Betrug der Apostel beruhen soll (Matth. 27 , 62s.).
Man weiß in der That nicht, was man bei dieser An
sicht mehr bewundern soll,
die Niedrigkeit der Gesinnung oder die
Verwahrlosung des Denkens, welches eine Erscheinung, wie die des Christenthums, auf solche Ursprünge zurückzuführen, solches Verfahren mit der Sache, dem Charakter, den Schicksalen der Apostel zusam-
menzureimen vermag.
2) Von ernsten und frommen Männern ward ehedem — und
wird
mitunter noch jetzt — die Auferstehung Jesu als eine durch
das Zusammentreffen mancher nicht mehr hinlänglich klar zu machen
den Umstände unter Gottes besonderer Fügung bewirkte Wieder
belebung aus dem Zustande des Scheintodes
aufgesaßt.
Indem
sie sich darauf berufen, daß doch der Tod nicht eher mit Sicherheit als eingetreten
angenommen werden dürfe, als bis die Verwesung
2. Hauptstück.
320
begonnen habe,
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
welche nach dem eignen Zeugnisse der Schrift bei
dem Erlöser nicht stattgefunden habe (Apostg. 2, 25—32); indem sie weiter an einzelne Beispiele erinnern,
daß Gekreuzigte, rechtzeitig
vom Kreuze abgenommen, durch menschliche Pflege wieder hergestellt worden seien'),
meinen sie annehmen zu dürfen, daß auch bei dem
Erlöser ein ähnliches stattgefuuden habe;
daß durch die Kühle der
Gruft und den Duft der Spezereien das schlummernde Leben geweckt
und danach durch die liebevolle Pflege der Seinen wieder zur Völligkeit gebracht worden sei. — Es wäre Unrecht, dieser Auffassung vor-
zuwersen, daß sie, sei es über den Tod, sei es über die Auferstehung des Herrn,
unwürdig
denke.
Auch
bei ihr bleibt stehen, daß der
Herr erwartet hat, zu sterben, und, soweit es an ihm war, — den Tod auch ausgekostet hat.
eine nur durch
Desgleichen wird die Auferstehung als
besondere göttliche Fügung mögliche, für die
Entstehung der christlichen Kirche und das geschichtliche Christenthum unentbehrliche Thatsache anerkannt.
Auch nach dieser Auffassung
ruht die Kirche Christi auf dem geöffneten Grabe ihres Herrn. — Aber die Auffassung ist sonst unmöglich.
Denn: a) ein Gekreuzigter
ist nicht innerhalb 3 Tage durch Anwendung bloß ärztlicher Mittel in dem Maße herznstellen, daß er, wie ein Gesunder, umherwandelt
und mehrfache Reisen unternimmt: es sei denn, daß man ein Wunder statuirt, wodurch aber die ganze Ansicht überflüssig würde,
b) „Ein
halbtodt aus dem Grabe Hervorgekrochener, siech Umherschleichender,
der ärztlichen Pflege,
des Verbandes, der Stärkung und Schonung
Bedürftiger und am Ende doch den Leiden Unterliegender konnte un möglich
auf
Grab machen,
die Jünger den Eindruck des Sieges über Tod und
der ihrem spätern Auftreten zu Grunde lag" (Worte
Straußens in seinem „Leben Jesu für's Volk"),
c) Ueber das alles
würde auf den Erlöser ein eigenthümliches, mit seinem Charakter unvereinbares Licht fallen, daß er gegen seine Jünger über die Weise
seiner Wiederbelebung so völlig geschwiegen und nicht das Geringste ]) Der jüdische Geschichtsschreiber Josephus berichtet, daß er zur Zeit des jüdischen Krieges, im Gefolge des römischen Befehlshabers reitend, in mehreren am Wege Gekreuzigten ehemalige Kriegsgefährten erkannt und dieselben sich los gebeten habe: daß es ihm aber trotz aller Sorgfalt nur bei einem unter den dreien
gelungen sei, ihn am Leben zu erhalten.
Auferstehung Jesu.
321
um sie aus der Täuschung, in der sie sich hinsichtlich
gethan hätte,
der Natur derselben befunden, zu reißen. —
die Auferstehung Jesu in
3) Wird
dieser Weise ganz leiblich
gefaßt, so legen sie andere ganz geistig aus; indem sie sämmtliche Erscheinungen Jesu für,
jeder Körperlichkeit
oder „Gesichte" erklären.
entbehrende, Visionen
findet hier ein großer Unterschied
Doch
die einen diese Gesichte lediglich als Erzeugnisse
statt, je nachdem
menschlicher Reflexion,
erhitzter Phantasie,
eines krankhaft erregten
Nervensystems d. i. als Hallucinationen ansehen, die andern da
gegen
darin
gottgewirkte Schauungen und
Offenbarungen Gottes
und Jesu Christi d. i. Visionen im religiösen Sinne des Wortes sehen, denen zwar keine grobsinnliche Wirklichkeit, dagegen Realität im höhern Sinne des Wortes und Wahrheit zukommt. Die erstere Ansicht hat man wieder in zweifacher Weise zu be a) Die „Gesichte" sind das Produkt geistiger Arbeit
gründen gesucht,
und
verständiger
Reflexion.
Die Jünger haben sich in der Stille
wieder
auf ihren Glauben besonnen und im
Galiläa's allgemach Studium der
Schrift den ihnen
anfänglich
unlöslich
scheinenden
Widerspruch zwischen demselben und dem letzten Geschicke des Herrn lösen gelernt.
Sie haben diese Lösung nur in dem mehr und mehr
daß Jesus nicht
zur Ueberzeugung werdenden Gedanken gefunden,
im Grabe geblieben sein könne,
aus welchen Reflexionen sich daß er auferstanden
daß er auferstanden sein müsse,
die weitere Ueberzeugung entwickelte,
sei und schließlich
erst einzelne, dann immer
mehrere zu der Ueberzeugung gekommen seien, daß der Auserstandene ihnen erschienen sei, und sie ihn gesehen hätten.
lichen Strauß,
b) Kürzer geht die
So im wesent
andere Auffassung zu Werke:
Die sämmtlichen Erscheinungsgeschichten seien auf die Hallucination
zurückzuführen,
welche die nervös-exaltirte Maria Magdalena ant
zweiten Morgen am offenen Grabe gehabt habe.
Von ihr habe sich
das visionäre Erlebniß bei der erregten Stimmung der Jünger wie
elektrisch sortgepflanzt und zuletzt selbst ganze 'Versammlungen, wie
jene von „500 Brüdern", auf einmal mit sich fortgerissen.
Das ist
die Ansicht von Ronan, die übrigens auch Strauß sich offen zu halten scheint, wo er sagt: Eltester, Materialien.
„Des Markus Ausdruck, 2. Auflage.
er erschien zuerst der
21
2. Hauptstück.
322
Maria Magdalena,
aus
Werk des Erlösers.
Zweiter Artikel.
der er sieben Teufel
ausgetrieben hatte
(Mark. 16, 9), giebt viel zu denken." —
Beide Erklärungsweisen theilen zunächst mit einander, daß sie mit den Berichten nicht fertig zu werden vermögen, ohne noch allerlei
die einem wesentlich
Zuthaten,
Hülse zu nehmen.
andern Standpunkt angehören, zu
Ein „Unbekannter" gesellt sich
zu den Emma
huntischen Jüngern und setzt ihnen in begeisterter Rede auseinander, was bis dahin auch den vertrautesten Jüngern
gekommen war.
„Es ist der Herr."
nicht in den Sinn
Ein „Unbekannter", im Morgen
nebel am User stehend, ertheilt den Jüngern Rath, wo sie das Netz
„Es ist abermals der Herr" (Strauß). — Weiter
auswerfen sollten.
haben sie miteinander gemein,
daß hie und dort „ein bisher uner
hörter Glaube aus der gänzlichen Hoffnungslosigkeit, eine unermeß
liche
Wirkung
aus
der nichtigsten Ursache,
die Umgestaltung der
Weltgeschichte aus einer zufälligen Selbsttäuschung abgeleitet wird"').
Das macht sie zur Unmöglichkeit trotz Renan's Deklamation: „pouvoir divin de l’amour! moments sacres, oü la passion d’une hallucinee donne au monde un dieu resuscite!“
Im besondern scheitert Strauß' Hypothese an dem „dritten Tage",
wie an
dem leeren Grab.
stritten.
Jesus
ist nicht
Beides wird daher von ihm auch be
begraben,
sondern mit den andern Ge
kreuzigten gleich auf der Richtstätte eingescharrt worden: unmöglich war,
erstehung
auftraten,
dritte Tag
so daß es
als die Jünger mit der Verkündigung seiner Auf
seinen Leichnam
aufzuweisen.
nur eine sprüchwörtliche Redensart,
Ebenso ist der
kein geschichtliches
Datum! — Renan hat seine Erfindung bereits selbst moralisch ver
nichtet durch die Weise, wie er in seinen „Aposteln" die Hallucination der Maria Magdalena sich auf die Jünger fortpflanzen läßt. Apostel sind versammelt;
durch's Gemach; und
ein Fenster öffnet sich;
Die
ein Zugwind geht
eine Thür knarrt: alsbald ruft einer: „der Herr!"
alle sind überzeugt,
das gesprochen habe!
daß sie ihn gesehen, und daß er das und
Aber auch, abgesehen
davon, scheitert seine
Ansicht an dem Charakter der Apostel, wie der apostolischen Kirche.
Die Jünger Jesu waren keine Schwärmer, keine Kamisarden:
*) Hase: Leben Jesu, über Renan'ö Hypothese.
son-
Auferstehung Jesu.
dern nüchterne,
besonnene Männer
323 wenn das
mit einem trocknen,
Wort gestattet ist, hausbacknen Verstände.
Sie verhielten sich auch
noch zu der ersten Nachricht von der Auferstehung nüchtern prüfend
(vergl. insbesondere Joh. 20, 3—8).
Es ist nicht zu begreifen, wie
sie mit einem Male zu Visionärs sollen geworden sein;
umgekehrt
ist nicht einzusehen, „wie aus einer solchen nervös-exaltirten, wochen
lang in Visionen schwelgenden Jüngerschaft plötzlich wieder jene erste Christengemeinde soll hervorgegangen sein, welche die Geschichte kennt,
jene ernste,
lehrende und leidende,
in aller Begeisterung nüchterne,
organisirende und werkthätige Gemeinschaft,
als
welche wir jene
Jüngerschaft, nachdem der Visionstaumel sechs Wochen
gedauert,
nach der siebenten Woche auftreten sehen"'). 4) Himmelweit
von
dieser
in
jeder
unhaltbaren
Beziehung
Hallucinations-Hypothese ist unterschieden die Visionstheorie im bibli
schen Sinne des Wortes: die Annahme gottgewirkter „Schauungen"
und „Offenbarungen" Gottes und I. Christi.
Sie ist denkbar; hat
auch Anlehnung an die Schrift, sofern in der That die Apostel, ins
besondre Paulus auch sonst „Gesichte" (Apostg. 10. 11) und „Offen
barungen" des Herrn sie nicht Stand,
Grab!),
Dennoch hält
gehabt haben (2 Kor. 12, 1).
den Berichten nicht gerecht (— das
a) Sie wird
b) Sie löst nicht die Widersprüche, die in der verschiedenen
Angabe der Lokalität, in der Reihenfolge, in der Farbe der einzelnen Erzählungen liegen,
c) Es ist bei dem subjektiven Charakter, welchen
Visionen haben, nicht einzusehen, wie mehrere, ja viele dasselbe ge-
gesehen und vernommen haben sollen,
d) Visionen wären von den
Aposteln nicht für reale Erscheinungen des Auferstandenen gehalten
und
damit verwechselt worden.
Waren sie doch mit Visionen ver
traut und wußten sie — obwohl des göttlichen Ursprungs derselben
bewußt — bestimmt von dem sinnnensällig Erlebten zu unterschei den^).
e) Daß
die Jünger „Gesichte" des Herrn gesehen,
Thomas und, so
viele sonst
anfangs
an der Auferstehung
würde
Jesu
*) Beischlag „die Auferstehung Christi", nach Keim: „der geschichtliche Christus".
2) Apostg. 10, 17.
„Als Petrus sich bei sich selbst bekümmerte, was das Ge
sicht wäre, das er gesehen hatte, da" — u. s. w.
2 Kor. 12, 2.
„Ich weiß einen
Menschen in Christo — ist er im Leibe gewesen, so weiß ich es nicht; ist er außer dein Leibe gewesen, so weiß ich es auch nicht.
Gott weiß eö." k;
zweifelten, nie bezweifelt haben, f) Die geschichtliche Grundlage für die Visionstheorie ist die Erscheinung des Auferstandenen, welche Paulus gehabt (Apostg. 9), und welche man nur als eine Vision auffasfen zu können meint, und sich um so mehr berechtigt hält, von ihr aus auch auf die übrigen Erscheinungen Jesu zu schließen, als Paulus ja ausdrücklich — wie bereits erwähnt — sein Erlebniß mit denen der Urapostel in eine Reihe stellt. Man übersieht dabei nur zweierlei: Zuerst: wenn für Paulus die Möglichkeit vorlag, diese für ihn Epoche machende Erscheinung (die er von seinen sonstigen „Ge sichten und Offenbarungen des Herrn" so bestimmt — wir wissen nicht, warum? — unterscheidet) für eine persönliche Erscheinung Jesn Christi zu halten: so brachte ihm die christliche Gemeinde bereits den Auferstehungsgedanken und die Berichte von dem Auferstandenen entgegen. Er war mit dem Gedanken vertraut, obschon er die That sache bekämpfte. Für die Urapostel dagegen war dieser Gedanke etwas schlechthin Unerhörtes und Neues! Zum andern: daraus, daß Paulus sein Erlebniß mit dem der Urapostel in eine Reihe stellt, folgt noch nicht, daß sie wirklich gleichartig waren und von der Ur kirche als solche angesehen worden sind. Wenigstens dürfte sich, wenn letzteres allgemein der Fall gewesen wäre, seine notorische Zurück stellung gegen die übrigen Apostel, ja die völlige Leugnung seiner apostolischen Würde Seitens einer zahlreichen Partei, wenn nicht bei der Mehrzahl der Jerusalemitischen Gemeinde ungeachtet seiner außer ordentlichen Wirksamkeit — kaum erklären lassen. 5) Diese Schwierigkeiten haben endlich dahin geführt, die Visionstheorie noch bis zur Annahme objektiver (magischer) Ein wirkungen der abgeschiedenen Seele Christi aus dem Hades heraus auf die Seelen der Apostel zu steigern. Abgesehen von den Ein wendungen, welche man auch gegen diese Ansicht aus dem Frühern her (4, a. b. c.) erheben müßte, so unterscheidet sie sich — was das Wunderbare betrifft — von der Annahme einer wirklchen Auferstehung doch nur durch das Wunderliche und Gespensterhafte, das ihr anhaftet, und das sie ohne Zweifel den meisten minder glaubhaft machen wird, als jene. Ueberblicken wir das Gesagte, so haften diesen sämmtlichen Er klärungen der Auferstehungsthatsache nicht mindere, eher wohl noch
Auferstehung und Himmelfahrt Jesu.
325
größere Schwierigkeiten an, als welchen wir bei der einfachen An nahme dieser Thatsache begegnen,
und zwar der neuerdings so be
liebten Visionstheorie die meisten.
Allerdings „treten die Berichte
über
die
einzelnen Momente
des
Wiedersehens Jesu und
Jünger in schwankenden Ueberlieferungen auf,
seiner
aber es sind diese
Schwankungen keine andern, als die in der Besonderheit des Gegen standes und in der Harmlosigkeit einer Geschichtsschreibung liegen, die neben die letzte der Erzählungen des Lukas-Evangeliums ohne
weitere
Vermittlung
die
erste
der
Apostelgeschichte
Die
stellt".
sonstigen Schwierigkeiten lösen sich bei dem Glauben an eine wirk liche Auferstehung sogar leichter, als bei jeder andern. auch
die in
Nachrichten,
Und wenn
den ersten Kapiteln der Apostelgeschichte enthaltenen wie dies
neuerdings behauptet wird,
nicht in jeder
Beziehung streng historisch wären, „so bleibt unter allen Umständen
unleugbar
die frühe Gründung
der Gemeinde in Jerusalem
dem Glauben an den Auferstandenen,
mit
der hier — wenn kein Be
trug dazwischen trat — an seinem Leichnam zu Schanden gewor
den
wäre.
Sonach
ruht
die Wahrheit
schütterlich auf dem Zeugnisse,
der
Auferstehung
uner
ja auf dem Dasein der apostolischen
Kirche')." —
Anfgefahren gen Himmel. Gegen die Himmelfahrt mag nicht geltend gemacht werden, daß
es unmöglich sei, daß ein irdischer Körper die Erde verlasse und sich zum Himmel erhebe.
Dieser Einwand würde
treffen, welche mit einigen
doch nur diejenigen
reformirten Bekenntnißschriften lehren,
daß Christus mit Fleisch und Knochen und allem,
was sonst zur
Vollständigkeit des menschlichen Leibes gehöre, zum Himmel gefahren sei und jetzt zur Rechten Gottes sitze: nicht aber diejenigen, welche ihm, im Anschluß an 1 Kor. 15, 50. 51—56, nach seiner Auferstehung einen verklärten oder sich
mehr und
mehr verklärenden Leib zu
schreiben. — Ebenso wenig schlägt der Einwand durch, daß es eine ’) Hase „Leben Jesu", dessen hieher gehörige Abschnitte zur Orientirung über den Gegenstand besonders geeignet sind. — Beachtenswerthes gegen die Visions
theorie neben
manchem Nicht-Haltbaren bringt auch Beischlag in feinem kleinen
Vortrag: „die Auferstehung Jesu und ihre neuste Bestreitung."
2. Hauptstück.
326
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
kindische, durch unsere jetzige Weltkenntniß beseitigte Vorstellung sei,
sich das Oben als Himmel zu denken.
Die Thatsache eines außer
ordentlichen Scheidens einmal zugegeben,
wohin sollte denn Jesus
gehen, um den Eindruck hervorzubringen, den sein Scheiden beab Sollte er in die Erde versinken? oder sich seitwärts im
sichtigte?
Nebel verlieren? Dazu kommt, daß ein feierliches Scheiden, welches
sich bestimmt als letzten Abschied ankündigte, durchaus nöthig war,
um die Jünger von unruhigem Harren und stetem Umschauen nach ferneren Erscheinungen des Anferstandenen, so wie von dem Haften
au den Oertlichkeiten,
an denen sie ihn bisher gesehen hatten, zu
Und für diesen Zweck war wohl kaum etwas anderes so
befreien.
geeignet, als eben die Himmelfahrt. — Schwierigkeiten macht allein der Umstand, daß gegenüber den andern Thatsachen aus dem Leben des Erlösers die Himmelfahrt verhältnißmäßig außerordentlich schwach
bezeugt ist.
Genau genommen, weiß keines der Evangelien — jeden
falls keins etwas Näheres — von ihr.
Von dem ersten und vierten
Evangelium liegt das auf der Hand.
Der Nachtrag zum zweiten
(Mark. 16, 9f.) deutet sie allerdings an, trag.
ist aber ein Nach
In dem Evangelium des Lukas endlich fehlen (24,51.52) in
mehreren ältern Handschriften die betreffenden Worte „und fuhr gen
Himmel, sie aber beteten ihn an", und es heißt allein „und es ge schah, da er sie segnete, schied er von ihnen.
Und sie kehrten wieder
gen Jerusalem" u. s. w. — So bleibt sicher allein die Apostelgeschichte, die sie erwähnt: jedenfalls ist diese die einzige, welche sie ausführlich
erzählt.
Doch geschieht dies auch hier in einer Weise, daß man er
kennt, die bestimmte Kunde von einer Himmelfahrt, vom Oelberge
aus, 40 Tage nach der Auferstehung, sei etwas, was Lukas erst nach
der Vollendung
des Evangeliums erkundet hat.
Daß diese
nachträglich gewonnene Kunde darum nicht doch eine geschichtlich begründete sein könne, soll immer auffällig bleiben,
nicht gesagt werden.
Doch wird
es
daß auch die übrigen Neu-Testamentlichen
Schriften, obwohl sie alle das Sein Christi im Himmel voraus
setzen,
doch von seiner leiblichen Himmelfahrt nichts wissen;
stens,
daß Joh. 6, 62
scheinen.
und
1 Tim. 3, 16 auf sie
zu
höch deuten
Darum darf man auch denen nicht christliche Berechtigung
absprechen, welche die leibliche Himmelfahrt nicht sowohl für eine
Himmelfahrt Jesu. „Sitzet zur Rechten Gottes.
327
geschichtliche Thatsache als für eine durch das Bedürfniß nach einem
angemessenen Abschluß herbeigeführte, den damaligen Vorstellungen entsprechende achten.
mythische Auffassung
seines Heimgangs zum Vater
Das Wesentliche ist, daß wir Christum im Himmel wissen;
und daß er in denselben nicht durch ein nochmaliges Sterben, son dern auf eine seiner Auferstehung entsprechende Weise eingegangen ist.
Und
ist etwas,
das
(Röm. 6, 9. 10).
was
allerdings
Paulus
auch
bezeugt
„Im übrigen hat auch die evangelische Geschichte
ihre Mysterien."
Sitzet zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters.
Es bedarf keiner weitern Auseinandersetzung,
dies eine
daß
bildliche Bezeichnung der Herrlichkeit ist, in welche der Heiland ein
gegangen ist.
Es fragt sich nur,
welcher Herrlichkeit?
Da haben
wir uns des Winkes zu erinnern, welcher nach Apostg. 1, 11 den
Aposteln
bei der Himmelfahrt
des Herrn gegeben wurde,
als sie
dem auffahrenden Meister nachschauten: „Ihr Männer von Galiläa,
was stehet ihr und sehet gen Himmel" u. s. w., „daß sie von vergeblichen Forschungen,
d. h. doch wohl,
wohin der Herr gegangen,
und wo und in welchem Zustande er sich befinde, und Aehnlichem abstehen sollten, weil hier für menschliche Erkenntniß nichts mehr zu
ergründen sei."
Ein Wink,
der uns
spruche Kol. 3, 3. 4 entgegentritt:
noch positiver in dem Aus
„Euer Leben ist mit Christo
verborgen in Gott; wenn aber Christus euer Leben sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch mit ihm offenbar werden in der Herr lichkeit." — Indeß hat die Sache doch eine Seite,
von der sie an
uns herantritt und Gegenstand unserer Erkenntniß wird:
das ist
das Verhältniß, in welchem der Erlöser nach seiner Himmelfahrt
zn uns steht.
Nach dieser Seite bezeichnet das Sitzen zur Rechten
Gottes zweierlei:
Einmal seinen Triumph über die Welt und seine
steigende Verklärung: sodann die andere Weise seiner Wirksamkeit. Auf jenes deuten Aussprüche,
wird es geschehen,
wie Matth. 26, 64:
„Von nun an
daß ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen
zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels,"
d. h. gerade von jetzt ab, wo die Bosheit triumphirt, ich scheinbar
unterliege,
werdet, ihr meinen Sieg sehen in
der neuen, höhern
2. Hanptstück.
328
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
Ordnung der Dinge, welche heranzieht, in den Gotteskräfteu, welche in die Welt einbrechen.
So wie jener Phil. 2, 9f.:
„Darum hat
ihn auch Gott erhöht, und ihm einen Namen gegeben, der über alle
Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen aller derer Kniee, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind;
und alle
Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei zur Ehre Gottes, des Vaters."
ist:
Vergleiche noch was Joh. 16,13—15 gesagt
„Der Geist der Wahrheit wird mich verklären;
Meinen wird er es nehmen und euch verkündigen.
Vater hat, das ist mein. dem Meinen
denn von dem
Alles, was der
Darum habe ich gesagt, er wird es von
nehmen und euch verkündigen." — Das zweite,
die
veränderte Weise seiner Wirksamkeit, ist ausgedrückt in zwei Sprüchen: Matth. 28, 20: „ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende;"
und Matth. 18, 20: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versam melt sind,
da bin ich mitten unter ihnen."
Das ließ sich für die
Zeit seines Wandels auf Erden nicht sagen.
Denn so lange war
er, wie jeder andere, an Zeit und Ort gebunden.
Wenn er in Ka-
pernaum war, war er nicht in Bethsaida, wenn in Jerusalem, nicht
in Galiläa: und, die seiner begehrten, mußten sich entweder aufmachen
und ihn suchen, oder ausharren, bis er wieder zu ihnen kam (vergl. Joh. 11, 3. 17. 21). Und wie er damals nicht immer bei den Seinen so war auch seine Einwirkung auf sie nicht eine gleichmäßige
war,
und gleiche, sondern eine stärkere auf die, denen er persönlich nahe
eine schwächere dagegen bei denjenigen, unter denen er nur
war,
vorübergehend erschien, oder zu welchen gar nur die Kunde von ihm
drang.
Aus dieser Beschränktheit seines menschlichen Wirkens ist er
jetzt in die Weise der Wirksamkeit des „Allmächtigen Vaters"
ge
treten, welche ebenso wenig an eine bestimmte Zeit als an einen be stimmten Ort gebunden, auch nicht an dem einen Orte stärker oder
schwächer, als an dem andern, ist: jetzt nach seinem Worte alle Zeit bei uns,
und mitten unter uns,
wo auch nur zwei in seinem
Namen beisammen sind. —
Es ist
eine Verkennung dieses „Sitzens zur Rechten Gottes",
1) wenn in der christlichen Kirche doch wieder Werth aus Zeiten und Orte gelegt worden
ist,
und
noch
gelegt wird:
wenn man
dem Gebete zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten größere Kraft
329
„Sitzet zur Rechten Gottes".
zuschreibt; wenn man durch Wallfahrten, sei es nach dem gelobten
Lande, sei es sonst wohin, Heil für die Seele zu gewinnen sucht. Es versteht sich ja von selbst, daß ein jeder Ort, an dem ein guter und großer Mensch gewandelt hat, unsere Theilnahme erregt und in
dem Maße Werth für uns erhält, in welchem der Mensch dem
Schauplatze seiner einstigen Wirksamkeit sein Bild ausgeprägt hat, oder in welchem die Kenntniß der Oertlichkeit zum Verständniß des
Menschen und seines Wirkens dient.
Man denke nur an
das In
teresse, welches Luther's Häuslichkeit in Wittenberg oder sein Zimmer auf der Wartburg uns einslößt; an die Wohnstätten unserer großen
Denker, Dichter, Helden, Fürsten.
Wenn aber diese Theilnahme in
Empfindeiei übergeht (und es giebt auch unter den Evangelischen nicht viele Besucher des h. Landes, die dort nicht pflichtmäßig „em
pfunden" hätten), da ist das eine Krankheit; vollends, wo sie zur religiösen Verehrung wird, ist es eine Entstellung der christlichen
Frömmigkeit, welche bis zur völligen Umkehrung des Heilsweges gehen kann.
In den Himmel Christi wird man immer nur durch
Sinnesänderung, nicht durch Ortsveränderung kommen'). — Wunderbarer Weise taucht jetzt auch in der evangelischen Kirche
vielfach eine Werthschätzung des Ortes auf, die für einen nüchternen evangelischen Menschen unbegreiflich ist: in der Heiligkeit, welche man
')
„Mit Pilgerstab und Muschelhute
Nach Osten zog ich weit hinaus. Die Botschaft bring' ich euch, die gute, Don meiner Pilgerschaft nach Hans: O zieht nicht aus mit Hut und Stabe Nach Gottes Wieg' und Gottes Grabe! Kehrt in euch ein und findet da
Sein Bethlehem und Golgatha. O Herz, was hilft es, daß du knieest An seiner Wieg' im fremden Land? Was hilft es, daß du staunend siehest
Das Grab, aus dem er längst erstand? Daß er in dir geboren werde, Und daß du sterbest dieser Erde,
Und lebest ihm: nur dieses ja Ist Bethlehem und Golgatha!
(Rückert.)
2. Hauptstück.
330
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
dem Altare vor der Kanzel zuschreibt, daß gewisse Gebete nur von
dem Altare aus sollen gehalten werden können, daß es eine Enthei ligung des Altares sei, wenn er sich unter der Kanzel befindet, diese sich
unmittelbar hinter ihm über ihn erhebt und was dergleichen
Das hat in der römischen Kirche Sinn, welche in und
mehr ist.
auf ihren Altären Reliquien aufbewahrt, in der Hostie den leibhaf
tigen Herrgott sieht.
In der evangelischen Kirche dagegen hat der
gleichen keinen Ort.
Da stellt man den „Tisch
des Herrn",
welchem die Gemeinde das Abendmahl des Herrn feiert,
an
in die
Gemeinde, den Ort dagegen, von wo gepredigt wird, dahin, von wo
aus das Wort am besten verstanden wird. — 2) Unter
dem „Sitzen zur Rechten Gottes" wird von etlichen
noch die Herrschaft
über die ganze Welt verstanden.
Christus, seit seiner
Erhöhung zum Vater, wie dieser,
hin allmächtig und allgegenwärtig,
Jesus schlecht
theile mit dem Vater — oder
führe auch statt seiner — die Regierung
der Welt. — Das hat
zunächst für die christliche Frömmigkeit kein Interesse.
Der kann
es nicht sowohl darauf ankommen, daß Christus überall — auf dem
Sirius oder sonst welchem entlegenen Sterne, gegenwärtig ist.
als daß er bei uns
Sodann geht es weit über die Schrift hinaus, die
ja ausdrücklich daran erinnert, daß „er nirgends die Engel an sich nehme,
sondern den Samen Abrahams nehme er an, weshalb er
auch seinen Brüdern in allen Dingen hätte gleich werden müssen"
(Ebr. 2, 16);
auch nach
andererseits ihm
seinem „Eingang
Heiligthum" ausschließlich „Pflege der zukünftigen Güter"
in's d. i.
der geistigen Güter der „Erlösung", nicht aber die Mittheilung
sonst welcher Güter und Gaben zuschreibt (Ebr. 9,11. 12); endlich von ihm sagt,
„daß er (oder sein Geist) uns bei Gott vertrete"
(Röm. 8, 34; cf. v. 26), und daß wir an ihm „einen Fürsprecher
bei Gott"
haben (1 Joh. 2, 1).
Kurz,
die h. Schrift stellt
Herrn niemals als den allmächtigen Herrn der Welt, stets nur als den Herrn und
das Haupt seiner Gemeinde dar,
von welchem diese alles empfange,
geistigen Gaben bedürfe.
scheint,
den
sondern
was sie zu ihrem Heile
an
Wo ein mehreres ausgesagt zu werden
liegt es allein darin, daß der historische Christus, geboren,
gelitten, gestorben,
und der göttliche Logos,
der in ihm erschienen
„Sitzet zur Rechten Gottes".
331
nicht immer streng auseinander gehalten werden,
ist,
was bei der
nicht wissenschaftlichen Beschaffenheit der h. Schrift leicht geschehen konnte. — Es ist hierauf um so mehr aufmerksam zu machen,
als
durch jene Vorstellung von dem Antheile des erhöhten Jesus an der Regierung
der Welt die Vorstellung des
allmächtigen Vaters auf
bedenkliche Weise alterirt, ja, in dem Bewußtsein mancher stark zu rückgedrängt und, so zu sagen, aufgezehrt ist.
Es giebt in der That
Christen, welche alles, was geschieht, Großes und Kleines, Leibliches und Geistiges, Vorgänge im Reiche der Gnade,
wie Ereignisse im
Reiche der Natur, so ausschließlich auf „den Herrn" zurückführen und sich in allem diesem immer nur oder doch am liebsten an den „lieben Heiland" wenden,
daß für den Vater kaum noch etwas zu
thun übrig bleibt, jedenfalls der Gedanke
der Vorsehung u. s. w.
Gottes von dem Gedanken an den weltregierenden Heiland auf eine
höchst bedenkliche Weise überwuchert und in den Hintergrund gedrängt
wird.
Daß ein solches Zurücktreten und Verblassen des Gedankens
Gottes vor dem Bilde dessen, der eben dazu in die Welt gekommen ist, uns den Vater zu offenbaren, nicht in seinem Sinne und nicht
der „Friede mit Gott und der Zugang zu dieser Gnade" ist, die wir im Glauben haben,
das steht so sehr aus jedem Blatte der Schrift
zu lesen, daß es unnöthig ist, besondere Belege anzuführen.
Zum
Ueberflusfe wollen wir jedoch an Joh. 16, 26. 27: „Ich sage euch nicht,
daß ich den Vater für euch bitten will.
Denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, darum, daß ihr mich liebet und glaubet, daß ich von Gott ausgegangen bin;"
und an Joh. 17, 3:
„Das aber ist das ewige Leben,
wahrer Gott bist, und,
daß sie dich,
daß du allein
den du gesandt hast, Jesum Christum,
erkennen:"
so wie an das „Unser Vater" erinnern. — Am allerwenigsten liegt in dieser Weise eine besondere Christlichkeit; eher eine Schwäche, die sich mit ihren Gedanken nicht über die sinnliche Erscheinung Jesu
zu erheben, und auch Gott nicht anders, als verwachsen mit dieser
und in sie gewissermaßen verschwimmend, zu denken vermag.
2. Hauptstück.
332 Von
dannen
Lebendigen
und
Zweiter Artikel.
Werk deS Erlösers.
wiederkommen
er
wird
zu
richten
die
die Todten.
Eins der schwierigsten Stücke im Glaubensbekenntniß
wegen
des scheinbar unlöslichen Widerspruches, in welchen es uns mit dem
Glauben der gesummten apostolischen Zeit, ja mit den Verheißungen des Herrn zu bringen scheint.
Es ist nämlich nicht zu streiten, und
fast jede Seite der apostolischen Briefe liefert die Belege dazu, daß
die Apostel und mit ihnen die ganze apostolische Kirche die baldige
leibliche Wiederkunft Christi zum Gericht über die Welt,
wie zur
Errettung und Beseligung seiner Frommen, erwartet haben. Nament
lich der Apostel Paulus drückt sich so aus, daß man erkennt, er habe gehofft,
diese Wiederkunft für seine Person noch zu erleben').
Es
ist auch diese Erwartung nicht eine nur so daneben einhergehende;
sondern sie bildet ein
Hoffnung jener Zeit,
wesentliches Stück
des Glaubens und der
die ihr mit voller Inbrunst hingegeben war
und aus ihr die kräftigsten Beweggründe ihres Glaubens und ihres Handelns nahm.
das
Man kann sogar ohne Uebertreibung sagen,
christliche Bewußtsein
daß
dieser Zeit wesentlich in diesen beiden
Sätzen gipfelte, und daß dieselben den eigentlichen Inhalt des christ lichen Glaubens ausmachten:
„Jesus ist der Christus" — und „er
kommt bald." — Endlich ist diese Erwartung keine willkürliche, son dern gründet sich auf ganz bestimmte Worte und Verheißungen des Herrn,
der in der That von seinem Wiederkommen noch zu diesem
Geschlechte,
wie von dem Gerichte, welches über das jüdische Volk,
weiter über die Welt hineinbrechen werde, gesprochen und beides mit einander in Beziehung gesetzt hat.
Matth. 16, 28:
„Wahrlich, ich
’) 1 Thessal. 4, 15.' „Denn das sage» wir euch als ein Wort des Herrn, daß wir, die wir leben und übrig bleiben in der Zukunft des Herrn, werden denen nicht zu vor kommen, die da schlafen." 1 Kor. 15, 51 f. „Siehe, ich sage euch ein Geheim niß: wir werden nicht alle entschlafen, wir werden aber alle verwandelt werden. — Denn es wird die Posaune erschallen, und die Todten werden auferstehen un verweslich; und wir werden verwandelt werden." — Joh. 21, 22. 23. — 1 Joh.
2, 18; 1 Kor. 7, 29 („die Zeit ist kurz");
10, 11;
1 Thessal. 5, 23; 1 Petri 4, 7
(„es ist nahe gekommen das Eude aller Dinge"). Jak. 5, 8. „Seid ihr auch ge duldig und stärket eure Herzen; denn die Zukunft des Henn ist nahe." Ebr. 10, 25—37.
„Denn noch übereine kleine Weile, so wird er kommen, der da kommen
soll, und wird nicht verziehen."
sage euch, es stehen etliche hier, die nicht schmecken werden den Tod, bis daß sie des Menschen Sohn kommen sehen in seinem Reich." (cf. Luk. 9, 27.------ „bis daß sie das Reich Gottes sehen." Mark. 9, 1:------------ „kommen sehen in Kraft"). Matth. 26, 64: „Von nun an wird es geschehen, daß ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Him mels." Matth. 24, 34: „Dies Geschlecht wird nicht vergehen, bis daß dieses alles geschehe." Daher geschah es, daß bereits gegen das Ende der apostolischen Zeit, als ein Apostel nach dem andern zur Ruhe gegangen und allgemach dieses ganze erste Christengeschlecht ausgestorben war, ohne daß sich diese so bestimmt gehegte Erwartung erfüllt hatte — daß bereits damals Zweifel, ja selbst Spott über dieselbe sich zu regen anfing: „Wo ist die Verheißung seiner Zukunft? Denn, nachdem die Väter entschlafen sind, bleibt es alles, wie es von Anfang der Kreatur gewesen ist!" (2 Petri 3, 4f.). — Vollends scheinen wir mit diesen Verheißungen und Erwartungen gar nichts mehr an fangen zu können. Wo bleiben aber dann die Apostel? wo bleibt der Herr? — Die Schwierigkeit löst sich, ohne daß wir uns gegen Unleug bares zu verblenden nöthig haben, wenn wir Folgendes in's Auge fassen: 1) Die Wiederkunft Christi ist kein einzelnes Faktum, son dern ein Prozeß, der sich in einer Reihe von Fakten erfüllt. Christus ist schon wiedergekommen und kommt fort und fort wieder zu jedem Geschlechte, und wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch in Zukunft noch oft wiederkommen, bis die Vollendung da ist. 2) Die Weis sagungen über die Wiederkunft des Herrn und, was damit zu sammenhängt, auch seine eignen, sind, wie alle Weissagungen, in Bilder gefaßt, welche die Zukunft eben so wieder verhüllen, wie sie dieselbe offenbaren; d. h. die wohl sagen, daß etwas und zwar ein solches kommen werde, jedoch die Anschauung des künftigen, vollends eine begriffliche Fassung desselben nicht gewähren. Sie ähneln, um des Herrn eigne Vergleichung zu brauchen (Matth. 24, 32), den schwellenden Knospen, welche wohl künden, daß der Sommer nahe ist, aber nicht, wie er sich gestalten werde: der Blumenhülle, welche die Pracht, die in ihr ist, rathen läßt, sie aber bis zu dem Augen-
2. Hauptstück.
334
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers,
blicke, wo die Blume erscheint, verbirgt.
3) Die Apostel, vor die
„Knospen", d. h. vor Weissagungen gestellt, die noch der Erfüllung harrten, waren außer Stand, Bild und Erfüllung, die Deckblätter
der Blume und die Blume selbst, wie wir es vermögen, zu unter scheiden. Sie faßten bildlich und konnten nicht anders fassen, was wir, durch die Erfahrung belehrt, geistig zu verstehen gelernt haben.
Ebenso fiel ihnen noch der Zeit nach nahe zusammen, was für uns, die wir auf Geschehenes zurückblicken,
trennt ist.
durch weite Zeiträume ge
Das ist durch ihre geschichtliche Stellung bedingt. —
Selbst in derjenigen Gestalt, in welcher uns die Weissagungen
Jesu Matth. 24, Mark. 13, Luk. 21 überliefert sind, ist deutlich ein Früheres und Späteres, Weissagungen, die sich auf die Zerstörung
Jerusalems beziehen, und Weissagungen, welche aus ein Nachfolgen
des gehen, unterschieden, obschon es im einzelnen untereinanderge
mischt ist.
Es liegen bestimmte Anzeichen vor, daß dasselbe ursprüng
lich, in dem Munde des Erlösers, noch entschiedener auseinander gehalten gewesen sei.
Wir wenigstens werden nie glauben, daß der
Herr Matth. 24, 34 und Matth. 24, 36 so unmittelbar hinter einander und von einem und
habe').
demselben Gegenstände
gesprochen
Desgleichen haben wir Matth. 17,10 einen Fingerzeig, daß
sich Jesus des nicht buchstäblichen Gehaltes seiner Weissagungen bewußt wat*2). Die Frage der Jünger Matth. 24, 3 zeigt uns, wie sie dazu gekommen sind, das ursprünglich weiter Auseinanderliegende
einander näher zu rücken
und es theilweise zu vermischen.
Herr hatte doch nur von der Zerstörung des Tempels
Der
gesprochen:
J) Erst die feierliche Versicherung v. 34, daß noch das jetzt lebende Geschlecht die Erfüllung sehen werde, also Bestimmung der Zeit: und dann in einem und
demselben Athem die Ablehnung, die Zeit bestimmen zu wollen: „von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch nicht die Engel im Himmel (auch der Sohn nicht, Mark. 13, 32), sondern allein der Vater." Das wird doch niemand meinen, daß der Erlöser habe sagen wollen: das ist die Zeit, nur allerdiugs auf die Minute kann ich sie euch nicht angeben! 2) Was sagen denn die Schriftgelehrten, Elias müsse zuvor kommen? Jesus antwortete: „Elias soll ja zuvor kommen und alles zurecht bringen. Doch ich
sage euch, es ist Elias schon gekommen, und sie haben ihn nicht gekannt, sondern haben an ihm gethan, was sie wollten!" — Da verstanden die Jünger, daß er von Johannes, dem Täufer, zu ihnen geredet hatte!
Wiederkunft Jesu.
335
Jüngstes Gericht.
„wahrlich ich sage euch, es wird kein Stein auf dem andern bleiben,
der
nicht zerbrochen werde."
sofort:
„Sage uns,
wird das Zeichen sein Offenbar,
deiner Zukunft und
der Welt Ende?"
das eine nicht ohne das andere zu denken
weil sie sich
vermochten!
Sie aber in ihrer Frage verbinden
wann wird das geschehen — und — welches
Es ist nur natürlich, daß diejenigen, welche in dieser
und daß sie und die ganze
Weise fragten, demgemäß auch gehört,
erste Zeit dabei beharrt haben, in dem zunächst Bevorstehenden, dem
Untergange Jerusalems, den Anfang auch der letzten Katastrophe zu sehen und auch deren Eintreten noch, „ehe dieses Geschlecht vergangen
sein werde", zu erwarten Das war die Schranke in ihrer Erkenntniß, ihr Irrthum.
Haben
sie
dagegen geirrt,
beides mit einander verbanden? in der That der Anfang
Menschensohne in
wenn man will,
wenn sie überhaupt
Der Untergang Jerusalems war
der Gerichte, welche fortan von dem
der Menschheit ausgehen sollten,
seines triumphirenden Wiedereinzuges
in die Welt!
Strafgericht über das jüdische Volk dafür,
der Beginn Es war das
daß es seinen Messias
verworfen und sich an falsche Messiaffe gehängt hatte; es war die Entfesselung des Reiches dieses Messias,
das von nun an „in den
Wolken des Himmels" „in Kraft kam."
Mit diesem Gerichte ward
die Schale abgestreift, welche bis dahin noch dem Christenthum von seinem jüdischen Ursprünge her angeklebt hatte;
„von nun an" er
faßte es sich als Christenthum,- und seine Engel mit hellen Posaunen
„sammelten seine Auserwählten an allen Enden der Erde", während „die Sonne des Judenthums ihren Schein verlor, und sein Stern erblich." — Und so hat sich die Weissagung noch oft erfüllt, und ist
Christus wiederholt
wiedergekommen:
im
Grunde zu jedem
Ge
schlechte; greifbar jedoch „in den Wolken des Himmels" „mit großer
Macht und Majestät" in den Epoche machenden Erscheinungen, den
!) Zu beachte» ist, daß nur das Evangelium des Matthäus (24, 29) hat: „Alsbald nach der Trübsal derselben Zeit (nämlich nach der Zerstörung Jerusa lems) werden Sonne und Mond den Schein verlieren" rc.: das nach der Zer störung Jerusalems geschriebene Evangelium des Lukas dagegen bereits einen größer» Abstand kennt: „Nnd Jerusalem wird zertrete» werde» vo» den Heiden, bis daß
der Heiden Zeit erfüllt wird."
Luk. 21,24.
336
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers.
Wendepunkten der Menschheit,
in denen eine Welt untergeht, auf
daß eine neue und bessere entstehe; wie zum Beispiel in ven Um wälzungen der Völkerwanderung, die wir ja allgemein als den Un tergang der alten Welt bezeichnen, oder in der Reformation. Bleiben
wir nur bei dieser stehen,
so ist das Zusammentreffen dessen, was
mit dem geistigen Gehalt der Weissagungen Jesu,
damals geschah,
mit dem, was sowohl er, wie nach ihm Paulus'), daß ich so sage, als das Gesetz,
die Ordnung seiner Zukunft ausgestellt haben, gar
nicht zu verkennen.
hatte überhand
waren aufgetreten
Wundern,
„Die Liebe war erkaltet; die Ungerechtigkeit
genommen; falsche Propheten und falsche Messiasse
„„mit lügenhaften Kräften"" und Zeichen und
„„daß in den Irrthum,
würden auch die Auserwählten."" offenbar werden zu wollen,
wo es möglich wäre,
verführt
Ja, selbst der „Antichrist schien
der Mensch der Sünde und das Kind
des Verderbens, das sich überhebt über alles, das Gott und Gottes dienst heißt, also, daß er sich in den Tempel Gottes setzt und giebt vor, er sei Gott."
Siehe:
da erschien der, „welcher den Boshaften
mit dem Geiste seines Mundes schlägt und ein Ende macht durch die
Erscheinung seiner Zukunft."
Christus kam wieder, in Erschütterungen,
so gewaltig, daß „den Leuten bange ward", und „auch der Himmel
Kräfte sich zu bewegen schienen" (man denke nur an den Geister kampf, an Bildersturm und Bauernkrieg), — und richtete die neue Zeit,
„den neuen Himmel und die neue Erde" auf. — Dies und
mehreres vermögen wir, weil es bereits Geschichte ist, sauber aus einander zu halten und zu deuten,
wann und wie es geschehen ist:
derjenigen „Zukunft" unsers Herrn Jesu Christi dagegen, welche erst noch Geschichte werden soll, stehen wir im wesentlichen nicht anders, als die Apostel, gegenüber.
Das allerdings haben wir voraus, daß
wir, von der Vergangenheit belehrt, nicht mehr ein so nahes Herein brechen der letzten Entscheidung erwarten, vielmehr geneigt sind, auch
für das,
was vor uns ist, eine längere, vielleicht unendlich lange
Entwicklung, nehmen,
mehrfache Krisen bis zur letzten entscheidenden anzu
wie wir
das in
der Vergangenheit sehen: im übrigen
') 2Thessal. 2; Matth. 24 (besonders v. 12 und 24); Luk. 21,25; Offenb. Loh. 21, 1.
Wiederkunft Jesu.
Jüngstes Gericht.
vermögen wir uns von dem, was kommt,
337
ebenso wenig eine Vor
stellung zu machen, wie sie: außer daß wir sesthalten, festhalten müssen, wenn wir nicht verkommen sollen, aber nach allem, was wir
geglaubt und
erkannt haben,
auch
festhalten können und
dürfen: daß, was auch geschehe, und „ob Himmel und Erde ver gehe",
in allem doch nur er kommt, um in größerer Herrlichkeit
sein Reich aufzurichten.
Und das ist doch das Wesentliche und die
eigentliche Kraft in den Vorstellungen auch der apostolischen Zeit, worin sie mustergültig ist, und was wir von ihr lernen sollen; wäh rend, was in diesen Vorstellungen hinfällig geworden ist, theils die nothwendige Schranke ihrer geschichtlichen Stellung — ihres Stehens
vor aller Erfüllung bildet, theils, zu demjenigen gehört, wovon der Herr sagt:
jetzt
„ich habe euch noch vieles zu sagen, ihr aber könnt es
nicht tragen.
Wenn aber jener,
der
Geist
der Wahrheit
kommen wird, der wird euch in die ganze Wahrheit leiten" — euch
und jeden und jede Zeit so weit, als ihr und jeder und jede Zeit es zur Erfüllung ihres Christen berufes bedürfen (Joh. 16, 12. 13). —
Mit der letzten Erscheinung unsers Herrn, von der wir natür lich noch weniger, als von jeder vorangehenden, sagen können, welche sie sein werde, vielmehr alles noch mehr „Knospe", Bilder, die wir nicht vorwitzig zerzupfen dürfen, sein lassen müssen — mit dieser soll nach den Andeutungen der Schrift verbunden sein: zuerst die
Auferstehung der
Todten, sodann
die Verklärung der Lebenden,
darauf das allgemeine Gericht und endlich der Untergang oder viel mehr
die Erneuerung und Verklärung der Welt.
Sehen wir uns
noch diese Weissagungen — ich wiederhole: Weissagungen — an, so weit es an diesen Punkt gehört, d. h. so weit sie mit der Lehre von der Wiederkunft des Herrn in Verbindung stehen. Weiteres über sie werden wir an einem anderen Orte vorzubringen haben. 1) In der Urkirche erwartete man vielfach eine doppelte Auferstehung; eine erste ausschließlich der Frommen zur Theil
nahme an dem Reiche, welches der Herr hier auf Erden aufrichten sollte, dem sogenannten tausendjährigen Reiche, über welches man
sich theilweise die allerabenteuerlichsten und kraßsinnliche Vorstellungen machte.
Nach Ablauf dieser Zeit sollte dann noch einmal der Satan
losgelassen werden, und erst mit dessen abermaliger Besiegung und ($ (fester, 9)interialien. 2. Auflage 22
2. Hauptstück.
338
Zweiter Artikel.
Werk des Erlösers.
endgültiger Feffelung die allgemeine Auferstehung auch der Ungläu bigen und Gottlosen zum
scheidung erfolgen.
allgemeinen Gericht und die letzte Ent
Im Neuen Testamente finden wir diese „chilia-
stischen" *) Vorstellungen in
der Offenbarung Johannis vertreten.
Zum Theil hingen mit ihnen
wohl auch
die Befürchtungen der
Christen zu Thessalonich zusammen, gegen welche 1 Thessal. 4, 13 f.
Schwerlich meinten diese Christen,
gerichtet ist.
daß ihre Todten
überhaupt nicht auferstehen würden (denn in diesem Falle würde die Argumentation des Apostels doch wohl eine andere gewesen sein):
sondern sie besorgten, daß das erst in der letzten Auferstehung aller geschehen, und somit,
„die da schlafen in Christo", um den Genuß
des dieser Auferstehung vorangehenden 1000jährigen Reiches Christi
kommen würden.
Diese Befürchtungen räumt der Apostel hinweg,
indem er es zuerst als ein Wort des Herrn bezeichnet,
daß die
Todten in Christo in keiner Weise gegen die Lebenden zu kurz kom
men würden.
„Denn das sagen wir euch als ein Wort des Herrn,
daß wir, die wir leben und übrig bleiben in der Zukunft des Herrn,
werden denen nicht zuvor kommen, der Herr,
die da schlafen,
denn er selbst,
wird mit einem Feldgeschrei und Stimme des Erzengels
und Posaune Gottes hernieder kommen vom Himmel, und die Todten in Christo werden auferstehen zuerst; sodann wir, die wir leben Dann aber scheint der Apostel über
und übrig bleiben" u. s. w.
haupt diesen Vorstellungen von einem irdischen Reiche den Boden
entziehen zu wollen, indem er ausspricht:
daß die wiedererweckten
Todten und die Lebenden, beide, würden „hingerückt werden in den Wolken,
dem Herrn entgegen in der Luft, und würden also bei
dem Herrn sein allezeit."
Damit allerdings
ist der „Chiliasmus"
mit einem Schlage beseitigt, und eine wesentlich andere Vorstellung
eingeleitet. — 2) Während bei der Wiederkunft des Herrn die Todten gleich
in dem neuen Leibe auserstehen, sollen die, welche dann noch leben, diesen neuen Leib durch eine Verwandlung, wesliche das Unverwesliche,
und
„in welcher dies Ver
dies Sterbliche
das Unsterbliche
anziehen wird", „plötzlich" „in einem Augenblick" empfangen (1 Kor. 15, 51 f.).
Derselbe Gedanke liegt der schönen,
*) Chilia — 1000, nämlich Jahre.
überaus tröstlichen
Vergl. Offenb. Joh. 20, 3.
Wiederkunft Jesu.
Stelle 2 Kor. 5, 1f.
wunden ausspricht:
in welcher der Apostel unum
zu Grunde,
daß,
339
Jüngstes Gericht.
obwohl er wisse,
daß uns die Ablegung
des alten Leibes in keiner Weise verkürze, sofern wir auch so den neuen Leib,
„den Bau, von Gott gebaut",
empfangen würden, er
dennoch — „dieweil wir in der Hütte, d. h. des alten Leibes gewohnt, sind" — lieber möchte nicht erst entkleidet,
sondern
gleich über-
kleidet werden, auf daß das Sterbliche würde verschlungen von dem Leben;
d. h. also,
werden möchte.
daß er lieber nicht sterben,
sondern verwandelt
Eine Aufrichtigkeit und Nüchternheit,
die recht be
achtet zu werden verdient gegenüber der unwahren, im entscheidenden
Augenblicke stets umschlagenden Exaltation, als müßte Sterben für einen Christen ein Kinderspiel sein.
Der Tod ist immer ein ernstes,
und Sterben — wenn es einer nur wirklich auskostet — stets ein schweres Ding.
3) In dem Ausdrucke „jüngstes Gericht" liegt bereits, Reihe von Gerichten sei.
daß
sondern nur das letzte in einer
dasselbe nicht das einzige Gericht,
Der Unterschied von diesen ist,
a) das allgemeine und b) das entscheidende sein soll.
daß es
Die früheren
Gerichte ergingen und ergehen über Einzelne, einzelne Völker, einzelne Erscheinungen: in diesem sollen alle und alles gerichtet werden. Ebenso
waren die vorangehenden Gerichte nicht entscheidend, sofern keines In die Urgemeinde z. B. sind
derselben reinab und völlig schied. nicht nur Fromme
eingegangen,
sondern
auch Heuchler; während
mancher aufrichtige Israelit, dieweil er nichts von ihr erfuhr oder sie auch verkannte, ihr fern geblieben ist'). — Auch der Reformation sind nicht
alle nur
aus lautern Gründen
beigetreten, und
nicht alle
Gegner haben ihr aus Bosheit widerstanden: es hat auch im katho lischen Lager Fromme und Rechtschaffene gegeben und giebt es noch.
— Und, wie mit den Personen, so ist es auch mit den Grundsätzen, Einrichtungen, dem Leben.
Keine neue Erscheinung schneidet selbst
bei dem entschiedensten Bruche so ab, daß nicht aus der älteren Er
scheinung verunreinigende Elemente in die neue Gestaltung eingingen, entwicklungsfähige Elemente in jener zurückblieben. — So hat sich in die christliche Kirche frühzeitig Falsch-Jüdisches und Heidnisches, ’) Apostg. 5. 13, 24 f. u. 47 f.
Anamas und Sapphira.
cf. Die Gleichnisse des Herrn: Matth.
340
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.
in die evangelische Falsch-Katholisches eingeschlichen, während um
gekehrt die römische Kirche heute noch manches Pflegt, was in der evangelischen Kirche noch
nicht die volle Würdigung gefunden hat.
Da soll endlich eine Sonderung kommen,
die in das Neue nichts
Unlauteres mit hinüdernehmen, in dem zu Verwerfenden nichts Ent wicklungsfähiges zurücklassen wird,
die, weil sie glatt und rein —
vollständig — scheidet, darum auch entscheidend sein kann. —
Von der Weise, wie dieses letzte Gericht vor sich gehen wird, haben wir selbstverständlich keine Vorstellung, und will uns auch die h. Schrift keine geben.
Dagegen lassen sich die hierauf bezüglichen
Weissagungen sehr bestimmt über den Maßstab aus, nach welchem entschieden werden soll.
Es ist nach
Matth. 25, 1—3. 14—30.
31—36 Wachsamkeit in der Pflege des geistlichen Lebens, Treue
in der Verwendung der von Gott empfangenen Güter nnd Gaben, barmherzige Liebe.
Von dem, worauf man ehedem und leider auch
jetzt wieder so unmäßigen Werth legt: Zustimmung zu einem be stimmten Lehrsystem, Unterwerfung unter eine kirchliche Autorität,
ist, wie überall in der Schrift, so auch in diesen Weissagungen des Herrn über das jüngste Gericht keine Spur. 4) Es ist ein Mißverständniß, wenn man meint, daß die Schrift
einen Untergang
der Welt lehre.
Sie lehrt vielmehr eine Er
neuerung und Verklärung derselben, „einen neuen Himmel und eine neue Erde"; die sich aus dem alten Weltzustande allerdings nicht
ohne schwere Kämpfe hindurch arbeiten werden.
Untergang
könnte
das doch nur derjenige nennen und sich davor fürchten, der es für
Untergang hielte,
wenn die Blume die Hülle durchbricht, oder das
Küchlein die Schale sprengt, um in eine höhere Daseinsstufe zu
treten.
Dem sehen wir mit Freuden, ja mit Wonne zu.
Aber vor
dem „Untergange der Welt" haben mehrere, als es eingestehen, eine
mehr als kindische Furcht. Luther's Erklärung zum zweiten Artikel. Zweite Hälfte.
Wir gehen jetzt zu dem zweiten Abschnitt der Erklärung Luther's
über.
Da wir denselben gleich im Anfänge analysirt haben, so
können wir sofort mit dem Einzelnen beginnen.
Also 1) wen hat Christus erlöst?
„Mich verdammten und
verlornen Menschen." Es wird zunächst noch einmal auf die Wen dung, er hat mich erlöst, aufmerksam gemacht. Durch dieselbe soll, wie wir früher auseinandergesetzt haben, eingeschärft werden, daß es nicht genüge, daß wir glauben, daß Jesus andere erlöst habe, sondern, daß jeder seines persönlichen Heiles gewiß werden müsse. Sodann: „mich verlornen und verdammten Menschen": nämlich, der ich ohne ihn verloren und verdammt sein würde, ja, mich selbst verdammen müßte, der ich aber durch ihn wiedergefunden und von aller Verdammniß erlöst, mit Gott versöhnt und ein Kind Gottes bin'). So gewiß auch der begnadigte Christ nicht vergessen darf, daß er, was er an Frieden hat, nicht sich, sondern eben der Gnade Gottes in Christo verdankt; so gewiß er demüthig und — auf daß er wache — seiner Sünde eingedenk bleiben soll2): so wenig ent spricht es dem Geiste des Christenthums, daß der seines Erlösers gewisse Christ von nichts, als von seiner Sünde, seinem Elende, seiner Verdammniß, in möglichst greller Weise rede: wie das etliche thun, und in solches arme Sünderbewußtsein und stete Sünder bekenntniß wohl gar den Gipfel der Frömmigkeit setzen. Gegenüber dieser bald gewohnheitsmäßigen, bald forcirten, von ächtem und tiefem Gefühle der Sünde himmelweit verschiedenen Weise greift vollkommen Platz, was in einem uralten Buche, welches die erste Kirche geraume Zeit gleich den apostolischen Schriften im Gottesdienste gebrauchte, *) Röm. 8, 1. „So ist nun nichts Verdammliches an denen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische wandeln, sondern nach deut Geiste." v. 34.
„Wer will verdammen?
Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr der auch
auferwecket ist, welcher ist zur Rechten Gottes und vertritt uns" (cf. 31—39). v. 15. 16. „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, daß ihr euch abermals fürchten müsset, sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch welchen wir rufen: „Abba, lieber Vater." Derselbige Geist giebt Zeugniß unserm Geiste, daß wir Gottes Kinder sind." — DaS schöne Lied von Novalis Nr. 556: „Was wär' ich ohne dich gewesen, und ohne dich, was würd' ich sein? Ich
sonnte nie von Angst genesen, in weiter Welt stand' ich allein. Nichts müßt' ich sicher, was ich liebte; die Zukunft wär' ein dunkles Grab; und wenn mein Herz sich tief betrübte, wer senkte Trost auf mich herab?
Hast du dich aber kund gegeben, ist ein Gemüth erst dein gewiß: wie schnell verzehrt dein Licht und Leben dann jede öde Finsterniß! Mit dir bin ich auf's Neu
geboren, die Welt ist mir verklärt durch dich; das Paradies, das mir verloren, blüht herrlich wieder auf für mich." u. s. w.
") //Führe uns nicht in Versuchung."
342
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.
dem
sogenannten „Hirten des Hermas",
Engel,
der ihn unterweiset,
diesem Hermas von dem
gesagt wird.
Da nämlich derselbe, so
oft er eine neue Botschaft empfängt, sich regelmäßig zuerst zu Boden wirft und seine Sünden aufsagt, so erhält er die Weisung, er möchte doch endlich mit diesem „Bekennen" aufhören und dafür lieber „hin
sichtlich der Besserung fragen" (vgl. noch 1 Kor. 15,10; 2 Kor. 11,21f.).
a) „Von allen Sün
2) Wovon hat mich Christus erlöst? den."
Hier hat man sich vorweg vor dem Mißverständnisse zu hüten,
als solle mit dem Satze behauptet werden, daß
wir durch die in
Christo geschehene Erlösung die Sünde schon völlig los seien.
Dies
wie der Schrift widersprechen.
„So
würde ebenso der Erfahrung,
wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.
So wir aber unsere Sünde bekennen,
so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünde vergiebt und reinigt uns von
aller Untugend" (1 Joh. 1, 8. 9).
Danach
ist auch der
Ausspruch desselben Apostels Kap. 3, 9 zu verstehen: „Wer aus Gott geboren ist, der thut nicht Sünde,
denn sein Same bleibt bei ihm,
und kann nicht sündigen: denn er ist aus Gott geboren."
Hier hat
mau die beiden Ausdrücke „Sünde haben" und „Sünde thun" scharf zu fassen: dann ergiebt sich sofort der Sinn: „Essei unmöglich, daß
ein Wiedergeborner,
ein Christ,
und mit Wohlgefallen hingeben,
sich noch der Sünde selbstthätig
muthwillig sündigen
könne.
Vor
solchem Sünde-Thun bewahre ihn das Leben, welches von Gott in ihm „angesamt" sei; obwohl auch ihm noch immer Sünde anhafte. Mit andern Worten:
ein Christ könne wohl in Sünde fallen und
Schwachheitssünden begehen: aus Bosheit zu sündigen.
aber er vermöge nicht mit Lust und
Wer in diesem Sinne noch zu sündigen
vermöge, „der sei vom Teufel" (v. 8). Wenn der Satz,
daß „Christus uns von allen Sünden erlöset
hat", jenes nicht heißen kann,
was heißt er dann?
demselben zweierlei ausgesagt, 1) daß Christus
uns
Es wird mit vollständige
Vergebung für alle unsere Sünden erworben, und 2) daß er die Macht der Sünde über uns gebrochen, und uns ein Leben mit getheilt hat, welches sich mehr und mehr zur Vollkommenheit gestaltet.
Der erstere Satz ist in ihm selbst klar.
Er erhält indeß sein
volles Acht durch den Gegensatz gegen die Lehre der römischen Kirche,
Wovon hat mich Christas erlöst? a) „von allen Sünden."
gegen welche er gerichtet ist.
343
Nach dieser Lehre hat uns nämlich
Christus durch sein „einmaliges Opfer am Kreuz" unmittelbar und er selbst nur von der Erbsünde, nicht aber auch von den täglichen
Sünden erlöst: diese bedürften vielmehr zu ihrer Tilgung eines ander
weitigen, jenes erste ergänzenden Opfers.
Dieses, das einmalige
Opfer Christi ergänzende und vollendende Opfer sei die Meffe, „die tägliche unblutige Wiederholung des einmaligen blutigen Opfers
Christi am Kreuze", welche die Kirche auf Befehl des Herrn durch die Hand ihrer dazu geweihten Priester allerorten täglich vollziehe.
— Ebenso hat uns Christus auch nicht ganz erlöst, sofern er uns nur von den ewigen Strafen der Sünde befreit hat, während die jeder
Sünde anhaftenden, von den natürlichen Folgen der Sünden noch
unterschiedenen zeitlichen Strafen nach, wie vor, sei es hienieden, sei es nach diesem Leben im Fegfeuer von uns gebüßt werden müssen; es sei denn,
daß die Kirche aus dem ihr anvertrauten Schatze des
überschießenden Verdienstes Christi und der Heiligen Ablaß, oder,
wie man um des bösen Klanges willen lieber sagt, Nachlaß ertheilt. —
Dagegen lehrt die evangelische Kirche: Christus hat den Seinen volle Vergebung für alle ihre Sünden,
„nicht bloß für die Erb
sünde" erworben und theilt sie ihnen mit, ohne daß „sein Verdienst" einer Ergänzung, die Aneignung desselben einer Vermittlung durch
irgend welches Thun der Kirche und ihrer geweihten oder unge-
weihten Priester bedürfte.
Was zu geschehen hat, ist allein dies, daß
die „ewige Erlösung", welche er durch sein „einmaliges Opfer am Kreuze" (1 Petri 3,18) erfunden (Ebr. 9, 11. 12. 24—28)'), fort ]) „Christus aber ist gekommen, daß er sei ein Hoherpriester der zukünftigen Güter, durch eine größere und vollkommnere Hütte, die nicht mit der Hand ge
macht ist, das ist, die nicht also gebaut ist; auch nicht durch der Böcke und der Kälber Blut, sondern er ist durch sein eigen Blut einmal in das Heilige eingegangen und hat eine ewige Erlösung erfunden." — „Denn Christus ist nicht eingegangen in das Heilige, so mit Händen gemacht ist (welches ist ein Gegenbild des wahr haftigen), sondern in den Himmel selbst, um zu erscheinen vor dem Angesichte Gottes für uns. Auch nicht, daß er sich oftmals opfere, gleichwie der Hohepriester gehet alle Jahr in das Heilige mit fremdem Blut (sonst hätte er müssen oft leiden von Anfang der Welt her); nun aber am Ende der Welt ist er einmal erschienen, durch sein eigen Opfer die Sünde aufzuheben". — Vergl. noch Ebr. 10, 11. „Und ein jeglicher Priester stehet täglich im Gottesdienste und bringt oft dieselben Opfer dar, welche nimmermehr Sünden hinwegnehmen können; dieser aber —" u. s. w.
344
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung,
und fort verkündet und geglaubt werde: im übrigen thut es Christus, andererseits der Glaube „allein". — Desgleichen thut er es ganz.
Wie er selbst,
ohne jede priesterliche Ergänzung oder Vermittlung,
Vergebung für alle unsere Sünde hat und ertheilt,: so vergiebt er auch vollständig, lichen Strafen, wenn
nicht allein die ewigen, sondern auch die zeit es außer den natürlichen Folgen der Sünde
und den bürgerlichen von der Obrigkeit verhängten Strafen (die ja
auch nach römischer Lehre nicht weggenommen werden) noch der gleichen giebt.
Denn „Gott — sagt die Schrift (Jak. 1, 5) — giebt
einfältig und rückt es niemandem aus."
So vergiebt er auch ein
fältig, und nicht nach Art der Menschen, die wohl „vergeben, aber nicht vergessen", und darum bei jeder Gelegenheit Vergangenes wie der aufmutzen; oder die auch wohl Vergebung in Aussicht stellen, ja
bei sich schon ertheilt haben,
es nichtsdestoweniger aber für geboten
und weise halten, das bereuende und sich bessernde, innerlich schon zu Gnaden angenommene Kind, werde", gehörig abzustrasen.
damit
„alle Gerechtigkeit erfüllt
Gottes Vergebung nimmt so sehr mit
der Sünde auch jeden Gedanken an Strafe weg, daß selbst die na türlichen Folgen der Sünde, Nachtheil an Ehre^ Vermögen, Gesund heit, die allerdings nicht mit einem Male getilgt werden können und
häufig sogar zeitlebens bleiben, von dem begnadigten, mit Gottes
Frieden erfüllten Gemüthe fortan nicht mehr als Strafen d. i. als Aeußerungen des göttlichen Unwillens, sondern, wie unvermeidliche Uebel und von Gottes Weisheit und Liebe verhängte Zuchtmittel,
empfunden und mit derselben Geduld und Freudigkeit getragen wer den, wie alles andere, was Gott verhängt. Aber Christus hat nicht bloß Vergebung für unsere Sünde ge bracht, er hat auch schon die Macht der Sünde über uns ge brochen.
Durch den Glauben sind wir mit ihm in eine Verbindung
getreten, in welcher die Lust der Sünde im Keime ertödtet ist und mehr und mehr erlischt, aus welcher andererseits Freude und Kraft zum Guten in uns übergeht und uns von Stufe zu Stufe der Hei
ligkeit näher führt.
Freilich sind dadurch die Nachwirkungen der
Sünde noch nicht aufgehoben.
Die Macht der Gewöhnung,
die
Schwäche u. s. w. (so wir sagen, wir haben keine Sünde rc. 1 Joh.
1, 8. 9) bleiben zu bekämpfen: ja es kann, „wo wir nicht beten und
345
Wovon Hot mich Christus erlöst? a) „von allen Sünden".
wachen", aus dem dunklen Urgründe der Seele selbst neue, bis dahin verborgene Lust zum Vorschein kommen.
Bei alle dem ist der Zu
sammenhang und die erdrückende Macht der Sünde bereits gebrochen:
der „Leib der Sünde", wie der Apostel sich ausdrückt (Röm. 6, 3—6), ist getödtet, „es zuckt wohl noch in den Gliedern", aber die Genesung
ist im Gange und kommt, falls wir nicht untreu werden, zu Stande.
„Der Same Gottes bleibt bei uns" (1 Joh. 3, 9).
„Wir sind selig
(und auch heilig) in der Hoffnung (unserm Willen und Verlangen
nach) und warten allein aus unsers Leibes Erlösung" (Römer 8, 23. 24).
Es ist noch hinzuzufügen, daß, was wir in dem Vorstehenden
als ein Zwiefaches dargestellt haben, innerlich zusammenhängt, und nicht von einander getrennt werden darf.
Vergeben kann immer
nur die Sünde werden, welche schon irgendwie im Verschwinden begriffen ist; wie andererseits Muth und Kraft zur Tödtung der Sünde stets nur da vorhanden sein wird, wo auf Vergebung gehofft
und an sie geglaubt wird.
Diese innere Zusammengehörigkeit der
beiden Seiten ist die Wahrheit einer Behauptung, welche bereits zur Zeit der Reformation aufgestellt, aber auch schon damals nachdrück
lich bekämpft worden ist: daß unsere Gerechtigkeit nicht sowohl eine
uns um Christi willen „angerechnete", als vielmehr eine von Christo uns „eingeflößte" (infusa) sei. Unrichtig und die Gemüther ver wirrend ist der Satz nur, sofern das Vertrauen von dem, was wer den soll, andererseits von dem, was Gott und Christus thut, aus dasjenige abgelenkt wird, was in uns schon geworden ist.
Denn
dieses ist ja auch in dem Vollkommensten niemals so, daß er sich
darauf steifen dürfte, und nicht vielmehr von allen seinen Vortreff lichkeiten hinweg sich immer wieder an die Gnade, welche „die Sünde nicht zurechnet", wenden müßte: wie Paulus diese christliche „Voll kommenheit" beschreibt Philipp. 3, 12—15: Nicht,
daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen
sei, ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. — Ich vergesse,
was dahinten ist, und strecke mich nach dem, was vorne ist,
und jage nach-dem vorgesteckten Ziele, dem Kleinode, welches vorhält
die himmlische Berufung in Christo Jesu.
Wie viele
346
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers »ach Luthers Erklärung,
nun
unser vollkommen
sind,
die lasset uns
also
gesinnt
sein-------- "
und noch klarer Gal. 2, 20: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir; denn,
was ich jetzt lebe im Fleische, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich ge
geben hat." Im
übrigen ist es richtig,
daß es keine „Rechtfertigung vor
Gott" giebt, welche nicht in der mit ihr verbundenen und aus ihr
folgenden „Heiligung" sich bewähren müßte. b) Vom Tode.
Auch dies ist cum grano salis zu verstehen.
Der leibliche Tod,
das Sterben, kann damit nicht gemeint sein, da wir alle noch immer demselben unterworfen sind.
Ebenso wenig der geistige Tod, da
das auf das Todtsein in „Sünde" hinauskommen,
also mit dem
Frühern zusammenfallen würde. — Es sind zunächst die Schrecken des Todes, die darauf gegründete Furcht und Angst vor ihm gemeint;
wie wir ja singen:
„Jesus lebt, mit ihm auch ich; Tod, wo sind
nun deine Schrecken?"
Die Schrecken des Todes sind zwiefache:
1) die Sünde und das dem Sünder drohende Gericht'). Von diesem
Schrecken hat uns Christus befreit durch die volle Vergebung, welche
er
dem
bereuenden und bußfertigen Sünder zugesagt und aus
gesprochen hat.
seine Ehre.
„Jesus lebt! wer nun verzagt, raubt dem Mittler
Gnade hat er zugesagt, daß der Sünder sich bekehre!
Gott verstößt in Christo nicht; das ist meine Zuversicht!"
2) Die
Dunkelheit, die über dem Dasein nach dem Tode liegt, verstärkt
durch den Eindruck der mit dem Tode verbundenen Verwesung. Ueber dieses Schrecken erhebt uns das Bewußtsein, im Glauben an Christum ein Leben zu haben, das nicht stirbt2); die feste, auf seliger
Erfahrung beruhende Gewißheit, daß uns nichts von ihm und seiner *) 1 Kor. 15, 56.
„Aber der Stachel des Todes ist die Sünde; die Kraft
aber der Sünde ist das Gesetz." Joh. 11, 25. 26. „Ich bin die Auferstehung und das Leben. mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.
an mich, der wird nimmermehr sterben."
Wer an
Und, wer da lebet und glaubet
347
Erlösung b) „vorn Tode", c) „von der Gewalt des Teufels".
Liebe trennen sönne1),
der Blick auf den Auferstandenen und Ver
klärten, dessen Bild, Unterpfand und Abbild unserer eignen Verklä
rung, sich in unserer Sterbestunde vor unsern Augen und über unsern Gräbern erhebt und alle Schauer des Todes überwindet. klärt mich in sein Licht, das ist meine Zuversicht."
„Er ver
Lied 232, und 775:
„Jesus meine Zuversicht." — Durch beides zusammen hat der Erlöser nach dem schönen Aus
druck unserer Begräbnißliturgie „unsern Tod umgewandelt,
uns nicht schade". in das Leben."
daß er
„Jesus lebt, nun ist der Tod mir der Eingang
Aber wie hell und leuchtend das vor uns steht und
von dem Christen alle Furcht vor dem Tode fortnimmt, so bleibt darum nicht minder wahr,
daß die Pforte,
die zu diesem Leben
führt, nach, wie vor, eine dunkle ist, und daß Muth und Glauben
dazu gehört, um sie in christlicher Fassung zu durchschreitens. Dar über sollen wir uns keine Illusionen machen;
es uns vielmehr,
so
lange der Tod noch ferne ist, in den Stunden leiblicher Kraft und
geistiger Erhebung anders,
damit wir nicht,
nüchtern vorhalten,
als wir vermuthen, erscheint,
wenn er
in den Momenten leiblicher
und geistiger Mattigkeit von der nicht so vorgestellten Wirklichkeit
erdrückt werden').
Dies ist derjenige Sinn des Satzes
„erlöset vom Tode",
wel
cher jedem Frommen sofort zugänglich ist und von uns tausendfach
im Leben und an Sterbebetten erfahren werden kann.
Noch einen
') Nöm. 8, 38. 39. „Denn ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch Fürsteuthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch keine andere Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn." — „Lässet auch ein Haupt
sein Glied, welches es nicht nach sich zieht?" (Lied 775). — Joh. 10, 27—30.
2) Ps. 23, 4.
„Ob ich schon wanderte im finstern Thäte, fürchte ich kein Un
Denn du bist bei mir; dein Stecken und Stab trösten mich." 3) Es ist gewiß etwas Schönes um einen sanften Tod: doch wird derselbe auch dem Christen keineswegs immer zu Theil. Auch sehr fromme Menschen glück.
müssen mitunter den Todeskampf und die Todesangst auf’S äußerste durchkämpfen, ohne daß darum ihr Tod ein minder seliger wäre. Matth. 27, 46. „Mein Gott,
mein Gott, warum hast du mich verlassen?" — „Wenn mir am ällerbängsten wird um das Herze sein"-------- n. s. w. (Lied 191: „O Haupt voll Blut und Wun
den" v. 9. —). erliegen,
Das hängt gar sehr von der Art der Krankheit ab, der wir
348
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers »ach Luthers Erklärung.
weitern Zusammenhang zwischen dem Werke des Erlösers, lich
seiner Auferstehung und unserem künftigen Leben,
Christus nicht bloß Trost in unser Sterben gebracht hat,
auch
als
der
anzusehen ist,
nament
kraft dessen sondern
eigentliche Begründer unserer Auferstehung
deutet der Apostel Paulus
1 Kor. 15, 20—22 an:
„Nun aber ist Christus auferstanden von den Todten und Erstling geworden unter denen, die da schlafen. Sintemal durch einen Menschen
der Tod, und durch einen Menschen die Auferstehung der Todten kommt. Denn, gleichwie sie in Adam alle sterben, also werden sie in Christo
alle lebendig gemacht werden." — Hierüber werden wir jedoch erst
dann reden können, wenn wir bei Erläuterung des dritten Artikels
uns darüber werden verständigt haben, was es bedeute, daß, was
hier Christo zugeschrieben ist,
das Lebendigmachen und Auferwecken
zum Leben, uns dort als eine Wirkung des h. Geistes entgegentritt. c) „Von der Gewalt des Teufels."
Wir haben,
wo wir die Lehre vom Teufel behandelten,
mit
allem Nachdruck auszuführen gesucht, daß es für unser religiöses Leben
ganz gleichgültig sei, oder nicht.
ob jemand einen persönlichen Teufel glaube
Das scheint durch diesen Satz widerlegt zu werden, so
fern es aussieht, als ob derjenige, welcher überhaupt an keinen Teufel glaubt, auch nicht für die Erlösung von der Gewalt desselben danken
könne; also jedenfalls minder dankbar sein müsse, einen Teufel glaubt.
als der, welcher
Doch auch das ist Schein! Auch, wer das Da
sein des persönlichen Teufels bestreitet, wird „die Gewalt des Teufels anerkennen müssen":
die objektive Macht des Bösen in der Welt,
welche sich von der Sünde in uns eben so unterscheidet, wie die er starrende Macht des Frostes,
der über der Erde lagert, und den,
bis Gottes neue Sonne kommt, keine Mittel brechen,
von der Em
pfindung des Frierens, gegen welche wir uns durch wärmere Woh
nung und dichtere Kleidung schützen; oder, wie „die Seuche, die im Finstern schleicht" und tausende wegrafft, von der Krankheit, an der nur einzelne leiden.
So ist allerdings außer und neben der Macht,
welche die Sünde in den Einzelnen und über sie ausübt, eine größere Gewalt der Sünde in der Welt, so hat sich dieselbe von den Menschen aus in alle Mächte des Lebens, die gesammte Anschauungsweise, die
Wodurch hat uns Christus erlöst?
349
Sitten, die Einrichtungen, die Gesetze, in alle Verhältnisse und Ord nungen eingenistet, und in ihnen ein von den einzelnen Persönlich keiten unabhängiges und selbstständiges Dasein gewonnen; so umgiebt
uns ihr Einfluß, wie der Gifthauch des Sumpfes, gegen den man sich vergebens abzusperren versucht, und unter dem auch die Gesun
desten leiden; so bleibt sie eine Macht,
die uns auf allen Wegen,
hindernd und unsere besten Bestrebungen vereitelnd, dazu uns selbst stets von neuem versuchend, entgegentritt, auch, wo wir bereits per
sönlich „von allen Sünden erlöst" sind; so bedürfen wir zu dieser Erlösung von allen unsern Sünden auch noch der Errettung von dieser Macht der Sünde diese tu Christo gefunden.
in
der Welt;
so haben wir aber auch
Christus hat die Gewalt des Bösen im
Leben gebrochen; und zerstreut und vernichtet es in fortschreitendem siegreichem Kampfe.
Ein neues Leben, Lieben, Streben, Hoffen ist
mjt ihm nicht bloß in die Herzen der Einzelnen, sondern in die Welt
gekommen und gleichfalls zu einer Weltmacht emporgewachsen, mäch tiger, als die Macht des Bösen war und ist.
Es ist. Frühling ge
worden auf Erden, ob auch noch Nachfröste kommen;
der Herr hat
ein Reich, wenn ihm auch noch widerstanden wird; es giebt gegen über den verwirrenden Mächten
der Welt,
dem bösen Geiste der
Menschen und der Zeit einen heiligen Geist des Herrn; es giebt ein Wort der Wahrheit,
eine heilige Gemeinschaft des Glaubens, der
Liebe und der Hoffnung, zu denen wir flüchten können und Kräfte
des ewigen Lebens empfangen, durch welche wir überwinden! Christus hat uns erlöst nicht bloß von allen Sünden, sondern auch von der Gewalt des Teufels:
wie er selbst diesen Sieg über das Böse, das
bis dahin die Welt beherrscht hatte, ausdrückt in dem Worte:
„Ich
sah wohl den Satan vom Himmel fallen, wie einen Blitz" (Luk. 10,18). 3) Wodurch hat uns Christus erlöst?
„Nicht mit
Gold
oder Silber,
sondern
mit seinem heiligen,
theuern Blute und mit seinem unschuldigen Leiden und Sterben." Der Ausdruck ist hergenommen aus 1 Petri 1,18.19.
„Und wisset, daß
ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Golde erlöset seid von euerm
eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem theuern Blut
Christi,
als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes." — Und
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung,
350
wir mögen uns freuen, daß gerade dieser Ausspruch seine Stelle in unserm Katechismus gefunden hat; weil er vor allem andern geeignet
ist, über die zu verhandelnde Frage, in Beziehung auf welche so viele Licht zu verbreiten und Frieden in die Ge
Verwirrung herrscht,
müther zu bringen. das zeigt zunächst die Höhe
„Nicht mit Silber oder Gold":
des Preises, welchen Christus für unsere Erlösung gezahlt hat; näm lich,
daß er ein Köstlicheres gegeben habe, als, was sonst für das
Kostbarste gilt: sich selbst. — „Nicht mit vergänglichem Silber oder
Gold": Preises,
das lenkt weiter
unsere Aufmerksamkeit auf die Art des
und bringt uns zum Bewußtsein, daß und warum dieses
Vergängliche, Aeußerliche, Stoffliche für das, worauf es hier an komme,
d. i. für die Erlösung
„von unserm eitlen Wandel nach
väterlicher Weise" nicht ausreichend war.
den
„„heiliges""
Blut
als
Das mahnt uns endlich, „sein kostbares
den er gegeben,
„nicht vergänglichen" Preis,
des unschuldigen
und
unbefleckten
Lammes" nicht, wie „vergängliches Silber oder Gold", d. i. als etwas
Aeußerliches, Stoffliches, Geistloses zu behandeln.
Wollte Gott, daß
diese so nahe liegende Mahnung gehört worden wäre,
daß sie noch
heute gehört würde! Als man zuerst begann,
dem Geheimniß der Erlösung nachzu
sinnen, wie dasselbe wohl zusammenhinge:
da stellte man sich vor,
Christus habe sein Blut dem Teufel als Lösegeld gegeben: um uns
von diesem loszukaufen: sei es nun, daß man den Teufel als den Kerkermeister ansah, welcher die Menschen zu verwahren habe, oder
daß man meinte,
derselbe habe durch
Anrecht auf uns erlangt,
unsere Sünde ein gewiffes
für welches er entschädigt werden müsse.
— Später ward diese Vorstellung
der Erlösung
vom Teufel
ab
gelöst durch die andere einer Erlösung von dem Zorne Gottes. Gottes
Zorn über die Sünde muß versöhnt werden und wird versöhnt durch
das Blut Christi.
In dem einen, wie in dem andern Falle wird
die Erlösung als ein ganz äußerlicher Handel vorgestellt, in welchem
das
Blut Christi,
das
ebenso
äußerliche Lösegeld abgiebt.
welchem Maße dies der Fall war,
Frage,
In
sieht man am besten aus einer
welche im Mittelalter die beiden großen Mönchsorden der
Dominikaner und der Franziskaner in die heftigste Bewegung setzte:
Wodurch hat uns Christus erlöst?
351
ob das Blut Christi den Zorn Gottes versöhne mittelst des in ihm selbst liegenden Werthes (ex insito valore), oder nur, weil es Gott
gefallen habe, es für ausreichend gelten zu lassen (ex acceptilatione): so wie aus der fernern Frage,
wieviel von diesem kost
baren Blute zur Stillung des göttlichen Zornes und Befriedigung seiner Gerechtigkeit erforderlich
gewesen sei?
Ein Tropfen habe dazu ausgereicht.
Die Antwort war:
Was Christus mehr Blut ver
gossen habe, sei ein überschießendes Verdienst und bilde zusammen mit den überschießenden guten Werken der Heiligen (d. h. mit den jenigen Werken, welche dieselben über das zur Erwerbung der Selig
keit nöthige Maß hinaus verrichtet hätten) nun
die Schatzkammer
aus welcher heraus die Kirche,
der guten Werke,
Papst den Mangel an guten Werken decke, und den Ablaß ertheile!
insbesondere der
der sich an uns finde,
Wer sieht nicht, daß in dieser Weise das
Blut Christi ganz, wie „Gold oder Silber", behandelt worden ist;
wer erkennt nicht, wie hier der eigentliche Grund zu dem scheußlichen
Kram liegt, in dem man schließlich Vergebung der Sünden rein für Geld verkaufte?
Nimmer wäre dieses Gräulichste möglich gewesen,
wenn man nicht zuvor das Blut Christi schon, wie Geld, behandelt
hätte. — Ungewarnt durch diese Abenteuerlichkeiten ist es übrigens neuerdings auch in der evangelischen Kirche einigen besonders Gläu bigen eingefallen, von einer besondern „gottmenschlichen Beschaffenheit
des Blutes Christi, in welcher der Werth desselben bestehen solle, zu
sprechen.
Das heißt in der That noch über das Mittelalter hinaus
die „Heiligkeit" und „Kostbarkeit" des Blutes Christi in den Stoff, die Masse setzen. Nicht viel weniger äußerlich und materiell ist es, wenn man
nach einer gleichfalls im Mittelalter aufgebrachten Theorie die Kraft
der Erlösung in die Menge der Leiden Christi setzt.
gang ist folgender:
Der Gedanken
„Die Menschen sind unter Gottes Zorn.
Nach
seiner Liebe möchte er ihnen vergeben; nach seiner Gerechtigkeit kann er es nicht, bevor nicht dieser durch die Sünde der Menschen belei digten Gerechtigkeit
genug
geschehen.
durch
ein
entsprechendes Maß
Kein Mensch kann
von
diese Genugthuung
Strafen leisten,
weder für sich noch weniger für andere, denn jeder ist Sünder, und
die Menge der Sünden unendlich.
Da ist Gott Mensch geworden,
352
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.
und hat als
solcher
durch
die unendlichen Leiden,
welche er
an
unserer Statt auf sich genommen, die Genugthuung für unsere un
endlichen Sünden geleistet."
Die Erlösung ein reines Rechenexempel!
Die Kraft des erlösenden Leidens Christi — wie — die
Menge
dieses Leidens!
Als wenn
schon angedeutet
nicht Petrus warnte,
„nicht mit vergänglichem Silber oder Golde", bei denen
es aller
dings, wie auf den Stoff, so auch auf die Zahl der Stücke an kommt! als wenn nicht Christus selbst schon diese Theorie und alles,
was
an
sie streift,
zunichte gemacht hätte,
dadurch,
daß er kein
Bedenken getragen hat, sein Leiden, so weit er es sittlicherweise ver
mochte — zu lindern'),
und damit jedenfalls
die Menge seiner
Leiden gemindert, diese selbst zu „endlichen" gemacht hat!! Allen diesen Theorien gegenüber,
welche das Geistige in das
Materielle, das Dynamische in das Mechanische ziehen, vollends das
Sittliche,
welches Bibel und Katechismus so stark betonen — (das
des
„heilige Blut"
„unschuldigen und unbefleckten Lammes";
„unschuldige Leiden und Sterben") in
der Wurzel vernichten,
das
es
wenigstens nur nebenbei in Rechnung bringen: alle dem gegenüber
ist auf Grund nicht nur dieses einzelnen Ausspruches, sondern der ge-
sammten h. Schrift zu behaupten, was freilich auf den ersten Anblick manchen befremden wird, was darum aber nicht minder wahr ist: das
Blut Christi hat es überhaupt nicht gethan; sondern, was uns „von unserm eitlen Wandel nach väterlicher Weise erlöset hat", das ist die That Christi, die That des Blutvergießens gewesen!
That gegen
That, Kraft heiliger, verzeihender und erbarmender Liebe gegenüber der Ohnmacht, der Verzweiflung, dem Trotze der Menschen: die haben
— „nicht den Zorn Gottes versöhnt" (das brauchten sie nicht; denn
„also hat Gott die Welt geliebt, daß er den eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben,
nicht verloren werden, sondern
das ewige Leben haben" (Joh. 3, 16), — wohl aber haben sie die
Scheidewand,
die uns von Gott trennte,
die Furcht vor feinem
Zorne, den Widerstand gegen das Heilige und den Heiligen, ja die
’) Joh. 19, 28. Qualen am Kreuz. Mark. 15, 23).
„Mich dürstet." (Der Durst gehört mit zu den größten Vergl. damit die Ablehnuug des betäubenden Trankes
Wodurch hat uns Christus erlöst?
Feindschaft ’) wider ihn weggenommen;
353
die haben nicht in jenem
juristischen und kalkulatorischen Sinne der göttlichen Gerechtigkeit,
die einer solchen „Satisfaction“ nicht bedurfte, genug gethan; wohl aber haben sie Genügendes vollbracht, der Menschheit zu helfen, indem sie eine solche Fülle göttlicher Lebens- und Liebeskräfte der
Welt offenbart und in sie eingesenkt haben,
That und höchsten Offenbarung
daß an dieser einen
der Gnade und Wahrheit Gottes
fort und fort aller Menschen Geschlechter sich ausrichten und gesun
den.
Das und nur das ist auch die Meinung der h. Schrift.
So
oft dieselbe von Kreuz, Blut, Wunden spricht, oder in kühner Gegen überstellung sagt: „durch dessen Wunden ihr seid heil geworden": so thut sie das nur, um diese That, die Liebe, den Gehorsam bis zum
Tode, ja bis zum Tode am Kreuze (Phil. 2,8) uns anschaulich zu
machen!
Denn Tod heißt eben nur Tod, ohne über die Art und
Weise desselben etwas auszudrücken; jene Ausdrücke dagegen „malen gleich als ob er unter uns gekreuzigt
uns Christum vor Augen, wäre" Christi.
(Gal. 3, 1).
— Ebenso verhält
es
sich
mit
Auch hier kommt es nicht sowohl auf das,
dem Leiden
was Christus
litt, als vielmehr auf das, wie er litt, und was er in sein Leiden hineinlegte, also vielmehr auf sein Thun, als auf sein äußeres Er
dulden an;
auch hier hat die Größe und die Menge des Leidens
keine andere Bedeutung, nung,
als daß an ihm die Reinheit der Gesin
die durch nichts zu überwindende Liebe und Geduld,
Gottvertrauen und
seine Ergebung
in
Gott zu Tage kam,
sein
und
Christus sich unter dem Leiden im höchsten Sinne als der offen barte,
„welcher keine Sünde gethan hat,
ist auch kein Betrug in
seinem Munde gewesen; welcher nicht wieder schalt, da er gescholten
ward; nicht brauete, da er litt: er stellte es aber dem anheim, der da recht richtet" (1 Petri 2, 22. 23).
Die dem gegenüber auf das
Aeußerliche als solches, sei es das Blut, sei es die Zahl der Leiden, Gewicht legen, die mißbrauchen den Buchstaben der Schrift. —
’) Röm. 5, 10. — „Da wir noch Feinde waren." — Kol. 1, 21 (Ephes. 2, 12); Jak. 4, 4. — 2 Kor. 5, 19: „Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber."
Elte st er, Materialien. 2. Auflage.
354
2. Hailptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung.
Auch der Tod Christi hat es nicht für sich
allein,
losgelöst
von dem Leben, dessen Spitze und Vollendung er ist, gethan.
Das
liegt schon darin, daß dieser Tod nur dadurch sittlichen Werth hat,
daß er kein bloßes Verhängniß, sondern eine That war.
Denn eine
solche steht niemals isolirt von dem sonstigen Sein und Thun da.
So ist auch der Tod Christi oder, besser gesagt, seine Hingebung in
den Tod nur die höchste Offenbarung und der Gipfelpunkt der Liebe Christi zu Gott und den Menschen,
erfüllt.
welche sein gesammtes Leben
„Niemand hat eine größere Liebe, als
Wie er selbst sagt:
daß er sein Leben lasse für seine Freunde" (Joh. 15, 13); und, wie der Apostel spricht:
„Daran haben wir erkannt die Liebe,
daß er
sein Leben für uns gelassen hat" (1 Joh. 3,16). — Das folgt aber
auch daraus, daß überhaupt dem Tode ein solches Leben voranging.
Wozu war das nöthig, und warum hat Gott Jesum nicht schon als Kind sterben lassen, als ihm Herodes nachstellte; warum hat danach
er selbst, „bis seine Zeit gekommen war", sein Leben geschont, wenn
er, um uns zu erlösen, eben nur zu sterben brauchte? Sagt man, ein solcher frühzeitiger Tod des Herrn ohne seine Lehrthätigkeit u. s. w. hätte darum nicht genügt,
weil niemand die Bedeutung desselben daß also
verstanden haben würde: so hat man damit eingeräumt, der bloße Tod nicht ausreiche,
kommen müsse.
sondern noch
etwas anderes dazu
Andererseits bedenkt man nicht,
daß ja der liebe
Gott diese Bedeutung uns anderweitig hätte mittheilen und offen
baren können; und daß
diese seine Offenbarung und Belehrung
über den Werth und die Kraft des Todes Christi jedenfalls eben so
viel,
wo nicht mehreren, Glauben verdienen und Heil hätte wirken
müssen,
als
alle die Lehren,
wie wir meinen,
welche man danach in
Gott hat eben nicht eine Lehre vom Leiden Sohnes in die Welt gesandt,
Aber
und Sterben seines
so wenig als eine Theorie der Er
lösung, sondern er hat Christum in die Welt gesandt, gelehrt,
der Kirche,
ohne Offenbarung darüber aufgestellt hat.
der gelebt,
gelitten hat, gestorben und auserstanden ist, zum Beweise,
daß alles dieses zu unserer Erlösung nothwendig war, diejenigen
und daß
die Wahrheit verkennen und einseitig verfahren,
welche
den Tod des Herrn, sei es ausschließlich, sei es auch nur vorzugs
weise, betonen.
Wozu hat uns Christus erlöst?
355
Fragen wir nach dem allen, wodurch uns Christus erlöst hat? so werden wir nunmehr keine andere Antwort haben, als die: durch seine gesammte, allerdings in seiner Hingebung in den Tod gipfelnde,
Erscheinung.
Irgend wer hat gesagt: „Gewöhnliche Menschen zahlen
durch das, was sie leisten, höher geartete durch das, was sie sind." Er hat uns erlöst durch
Das gilt im höchsten Maße von Christo.
das, was er war: natürlich, daß dieses sein Sein nun auch in Wort und That, in Leben und Sterben heraustrat und sich offenbarte: denn derohne wäre es eben kein wahres Sein gewesen.
Aber wir
haben kein Recht, irgend eine dieser Offenbarungen in Wort, in That, in Leiden, in Sterben weder von den andern noch von ihrem innersten
Lebensgrunde zu trennen; werden vielmehr mit allem unsern Forschen
nach dem wie? und wodurch? des Erlösungswerkes schließlich immer wieder bei dem ankommen und uns dabei beruhigen müssen: „Gott war in Christo, und versöhnte die Welt mit ihm selber, und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu; und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung" (2 Kor. 5, 19f.) und bei dem andern:
„das Wort ward Fleisch, und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater voller Gnade und Wahrheit." — Und — „Von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade" (Zoh. 1,14.16).
4) Wozu hat uns Christus erlöst? Wie die Erklärung der Aussagen über die Person Christi schließ lich darauf hinauskommt, daß Jesus Christus „unser Herr" sei:
so gipfelt die Erörterung über das Werk Christi in dem Ausspruche, das alles habe er gethan, „auf daß ich sein eigen sei und in
seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene in ewiger Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit" u. s. f.
Also das Ziel der gesammten Wirk
samkeit Christi ist die Beseligung der Menschen, und zur Verwirk
lichung dieses Zieles nur nöthig, daß, gleichwie Christus sich für
uns gegeben hat, also nun auch wir uns ihm ergeben, sein eigen
werden, mit ihm zusammenwachsen, ihm in unverbrüchlicher Treue dienen. Oder mit andern Worten: „der Christus für uns muß ein Christus in uns werden" (Galat. 2, 20).
Wo diese Bedingung nicht
23*
356
2. Hauptstück. Zweiter Artikel. Werk des Erlösers nach Luthers Erklärung,
erfüllt wird, da gehen wir trotz alles dessen, was Jesus Christus
für uns gethan hat, verloren!
Diese Seligkeit, wie auch
das Verhältniß zu Christo, durch
welches sie begründet wird, obwohl sie beide tief innerliche persön liche, wo das nicht, überhaupt nicht sind, sind nicht vereinzelte, son dern etwas Gemeinsames, auf Gemeinsamkeit Beruhendes, Gemeinschaft
— das „Reich Gottes"
Begründendes.
Schon,
da Christus auf
Erden wandelte, ist er allerdings auch den Einzelnen nachgegangen, und hat namentlich in manchen Fällen neben seiner in das Große und Weite gehenden Wirksamkeit sich ächt seelsorgerlich um die ein zelne Seele bemühtl); 2 3 trotzdem hat er niemals nur Einzelne ge
winnen und als solche, ohne daß sie sich untereinander berührten, in
trauriger Jsolirung stehen lassen wollen: sondern, die er gewonnen und erworben, die hat er immer auch für einander gewinnen, und
in dem Glauben an ihn vereinigen gewollt; und hat diese Einheit und Gemeinschaft der Seinen, wie als sein oberstes Gebots und letztes Gebets, so auch als das höchste Gut, als dasjenige ausgex) Lied 511. („Wohl dem, der sich mit Ernst bemühet.") v. 3. Was hilft's, daß Christus ist geboren
Und uns die Kindschaft wiederbringt? Dem bleibt das Himmelreich verloren, Der nicht hinein durch Buße dringt: Daß Gottes Geist ihn neu gebiert, Und er ein göttlich Leben führt. v. 7.
Was hilft uns Christi Tod und Sterben, Wenn wir uns selbst nicht sterben ab?
Du liebst dein Leben zum Verderben, Legst du die Lust nicht in sein Grab! Umsonst gab Christus sich dahin, Stirbt nicht in dir der alte Sinn u. s. f.
*) Seine Jünger. — Die Samariterin am Brunnen Joh. 4. — Zachäus, Luk. 19, 2 f. 2) „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch unter einander liebet, wie ich
euch geliebet habe" (Joh. 13, 34). 3) „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden; auf daß sie alle eins seien, gleich wie du, Vater, in mir, und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien; auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt" (Joh. 17, 20f.).
Vom heiligen Geist (Dreieinigkeit).
357
sprochen, worin die einzelne Seele Befriedigung findet'). — So ent steht und entwickelt sich einerseits auch jetzt die persönliche Frömmig keit nur in der frommen Gemeinschaft, in dem Verkehre mit denen, welche den Glauben an Christum in sich tragen; so führt andererseits
persönliche Frömmigkeit zur Gemeinschaft mit denen,
diesem Glauben durchdrungen sind, und
welche von
ist jedes Jsolirtbleiben,
vollends Abschließung und Trennung, Zeichen einer matten oder einer krankhaften Frömmigkeit, so giebt es keine andere Weise, den Glau ben an Christum zu beweisen, als die freudige Wirksamkeit für sein
Reich, oder, wie er es ausdrückt, die Arbeit in seinem Weinberge, die allerdings ein Mehreres, als die Thätigkeit in einem kirchlichen
Amte, nämlich jede Wirksamkeit für Ausbreitung der Wahrheit, der Gerechtigkeit, des Friedens Christi in Haus, in Volk, in allen Ord
nungen und Verhältnissen, aus allen Gebieten des Lebens umfaßt; so leuchtet endlich ein, daß, wie jede Freude, jede Wonne, jede Regung durch Gemeinsamkeit gesteigert wird, so auch die „Freude in dem Herrn", die Seligkeit, nur da voll und ganz sein werde, wo Bewußt sein der Gemeinschaft ist. —
Damit haben wir den Uebergang zur Erörterung des dritten Artikels gefunden, der von dem Leben Christi in uns und der darauf beruhenden Gemeinschaft, oder von dem heiligen Geiste und von der Kirche handelt.
Der dritte Artikel. Während die beiden ersten Artikel des Apostolischen Glaubens bekenntnisses augenscheinlich jeder nur von einem Gegenstände han
deln, macht der dritte Artikel zuerst den Eindruck einer Zusammenwürfelung der verschiedenartigsten Dinge.
Dieser Schein schwindet,
und tritt auch hier die Zusammengehörigkeit alsbald hervor, so wie
man nur einen Blick in die Erklärung Luther's wirft: sofern sich
nunmehr die Kirche oder die Gemeinde der Heiligen als der Kreis oder die Behausung darstellt, innerhalb welcher der h. Geist wirkt, >) Vergl. sämmtliche Parabeln vom „Reiche Gottes": besonders
großen Abendmahle".
die „vom
358
2. Hauptstück.
Dritter Artikel.
das andere dagegen, was noch übrig ist,
als Gabe oder Wirkung
desselben auftritt. —
Diese Beziehung zwischen den einzelnen Bestandtheilen des dritten Artikels ist sorgfältig zu beachten, weil man allein von ihr aus zu einer befriedigenden Anschauung sowohl des h. Geistes als auch der
christlichen Kirche zu gelangen vermag. gehen,
Es wird niemandem ent
daß tausende und abermal tausende, die in der Kirche find,
und denen man das Wehen und die Wirkung des h. Geistes wohl
anmerkt, wenn sie gefragt werden, was denn dieser Geist sei,
ent
weder gar keine oder solche Antwort haben, die wohl Worte enthält, aber denen bei ihnen selbst jeder irgend wie faßbare Begriff fehlt. Und eben so ungenügend
und
dürftig find ihre Vorstellungen von
der Kirche, ihrem Wesen und ihrer Bedeutung.
Das ist die Folge
davon, daß man sich gewöhnt hat, die Lehre von dem h. Geiste und
die Lehre von
der Kirche,
Geist und Kirche gesondert und unab
hängig von einander zu behandeln,
und namentlich in Beziehung
auf den h. Geist immer die Frage so stellt, was derselbe in sich und
bei Gott sei; statt mit der h. Schrift und unserem Glaubensbekennt
nisse davon auszugehen und
sich vor allem daran zu halten, wie
dieser Geist sich offenbart habe, und was und wie er in dem Herzen der Einzelnen, wie in der von ihm in's Leben gerufenen und durch
walteten Gemeinde wirke. messenen, Stellung
Bei solcher ungehörigen, wo nicht ver
der Frage war und ist es kein Wunder, wenn
eine genügende, vollends eine das schlichte Verständniß befriedigende Antwort ausblieb. — Vom heiligem Geiste.
1) Folgt man diesen Andeutungen, so stellt sich nach der Schrift
und dem Glaubensbekenntnisse der heilige Geist uns dar:
als der
selbe göttliche Geist oder dasselbe göttliche Leben, welches ursprüng lich und in seiner ganzen Fülle in Jesu Christo war;
und sich von
ihm aus auf seine gesammten Jünger ergossen hat und fort und fort ergießt;
und sie mit ihm als dem Haupte und unter einander zu
einer unauflöslichen Gemeinschaft, seinem geistlichen Leibe oder der christlichen Kirche,
verbindet.
— Für die Schriftmäßigkeit dieser
Gesammtbeschreibung ist wohl kaum nöthig,
einzelne Stellen anzu-
Boin heiligen Geist (Dreieinigkeit).
sofern das gesammte Neue Testament dafür eintritt.
führen:
im
mag
359
besondern
auf die
Doch
Reden Jesu beim Johannes 13—17,
desgleichen aus die Briefe Pauli hingewiesen werden.
Zergliedern wir diese Beschreibung, so wird wohl niemand be
streiten, daß das göttliche Leben oder der göttliche Lebensgeist, welcher
durch Christum der Menschheit mitgetheilt und ihr eingepflanzt ist, in Christo
und in seiner ganzen Reinheit und Fülle
ursprünglich
Desgleichen steht fest,
war.
daß
dieses Leben und zwar seinem
Wesen nach dasselbe, wie es in ihm war (Joh. 15, 1—5), oder sein
Geist,
sich nach dem Maße der Gaben Christi nicht nur über die
Apostel, sondern über seine gesammten Jünger ergossen hat (Apostg. 1, 15; 2, 1—4; 8, 15f.;
10, 44-47; 19, 6); und nach der Ver
heißung (Apostg. 2, 17 f. u. 38. 39) auf alle seine Gläubigen ergießen
soll; so daß, wer diesen Geist nicht hat, Christo überhaupt nicht an gehört (Röm. 8, 9).
Endlich, daß dieser sein Geist alle seine Gläu
bigen sowohl mit ihm als dem Haupte (Ephes. 4, 15. 16), wie auch
unter einander (Joh. 17, 21—23) zu einer unauflöslichen Gemein schaft verbinden will (1 Kor. 12, 13); und die als diese vom Geiste
Christi geborne und diesen seinen Geist in sich tragende „Gemeinde
der Heiligen" die Behausung des Geistes Gottes (Ephes. 2, 19—22; 1 Kor. 3, 11. 16. 17;
1 Petri 2,5)
und
der
geistliche Leib Jesu
Christi ist (Ephes. 4, 15. 16; 1 Kor. 12, 4f.).
2) Man hört in der Christenheit nicht sogar selten die Klage: „wenn wir doch in der Zeit,
gelebt hätten,
da der Heiland
auf Erden wandelte,
ihn selbst hätten sehen und hören und aus seinem
eignen Munde die gnadenreichen Verheißungen
können, von denen wir jetzt nur lesen."
hätten empfangen
Nichts ist ungerechtfertigter,
als dieses Zagen! Die Erscheinung Christi ist kein vorübergehendes
Meteor, das nur einmal am Horizonte der Menschheit erschienen ist,
und, nachdem es verschwunden, nur in der Erinnerung einen mehr
und
mehr erblassenden Schimmer zurückgelasfen hat.
Quelle des Lichts
und
des Lebens,
Sie ist eine
aus der fort und fort immer
helleres Licht und reicheres Leben sich in die Menschheit ergießt; ein
ihr eingesenkter Strom des Lebens, der in das ewige Leben fließt (Joh.
4, 14).
Wir sind mit Nichten schlechter daran,
als die Apostel zu
der Zeit, da sie den Herrn leiblich hatten, als irgend einer, der zu
2. Hauptstück.
360
Dritter Artikel.
Er selbst spricht: „Ich will euch nicht Waisen
seinen Füßen gesessen.
ich komme zu euch" (Joh. 14, 18).
lassen:
Er hat sein Wort ge
er ist „bei uns alle Tage bis an der Welt Ende" (Matth.
halten: 28, 20).
Er ist bei uns in dem Worte, welches uns seine zeitliche
Erscheinung schildert und uns an-der Hand seiner Apostel vor ihn bringt, daß wir ihn hören und sehen, wie sie ihn geschaut.
in uns
Er wohnt
durch seinen h. Geist, von dem er sagt, daß „er und der
Vater in ihm zu uns kommen und Wohnung bei uns machen wollen"
(Joh. 14, 23);, der seine Stelle vertreten (Joh. 14, 26; 16, 7.14.15), ja, der erst uns in die ganze Wahrheit führen und ihn in uns ver
klären werde (v. 13).
Die Jünger haben die Erfüllung dieser Ver
heißung im Glauben erfahren, und, weil sie dieselbe erfahren, unge der
achtet
Energie,
ja der
glühenden Sehnsucht,
künftigen herrlichern Erscheinung
Jesu
mit der sie der
entgegensahen,
niemals be
dauernd auf die Zeit ihres leiblichen Zusammenseins mit ihm zurück
geblickt: im Gegentheil, Paulus hat es ausgesprochen: „ob er auch Christum gekannt hätte nach dem Fleisch, so kenne er ihn jetzt nicht
mehr also" (2 Kor. 5, 16).
heißungen des Herrn,
Troste,
Es zeigt wenig Vertrauen auf die Ver
und wenig Erfahrung von der Kraft, dem
dem Frieden des h. Geistes, wenn man das,
was wir an
dem h. Geiste Jesu Christi haben, für ein Minderes und nicht viel mehr für ganz dasselbe, als,
was
wo
nicht ein Höheres hält (Joh. 14, 12),
die Vorzeit an der leiblichen Erscheinung Jesu,
die erst
durch den Geist Jesu verklärt werden mußte, besaß. — 3) In
dem Athanasianischen Glaubensbekenntnisse findet sich
neben andern Bestimmungen über die drei Personen in der gött lichen Dreieinigkeit des Vaters, des Sohnes und des h. Geistes auch
die: „unter diesen Personen sei keine die erste, keine die letzte, keine die größeste, keine die kleinste: sondern alle drei Personen seien mit einander gleich ewig, gleich groß."
Es ist da auf das Verhältniß
in Gott übertragen, was zunächst von unserm Verhältniß zu Gott
und der Stufenfolge seiner Offenbarung, weiter von dieser Offen barung selbst gilt. Wir glauben nach dem Apostolicum an Gott',
den Vater, den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, und an Jesum Christum, Gottes eingebornen Sohn, und an den heiligen
Geist: und sind das doch nicht drei Glauben, sondern ist ein einiger
Vom heiligen Geist (Dreieinigkeit).
361
Glaube, gleich stark, gleich groß, gleich fest, ob uns das Walten und
der Wille Gottes in seiner Schöpfung, in Natur und Geschichte, entgegentritt, oder ob wir „seine Klarheit in dem Angesichte („in der
Person") Jesu
Christi schauen"
unserm Herzen
das Wehen seines Geistes verspüren,
Geiste Zeugniß giebt,
(2 Kor. 4, 6),
oder endlich
in
der „unserm
daß wir Gottes Kinder sind" (Röm. 8,16).
Und gehen diese drei Richtungen des Glaubens oder, wenn man den Ausdruck gestatten will,
einander her,
diese
drei Glauben
nicht nur so neben
sondern sie durchdringen einander,
und sind nur in
dieser gegenseitigen Durchdringung voller — christlicher — Glaube. Die durch die Betrachtung der Welt geweckte Frömmigkeit bereitet den
Glauben an Christum vor, und gipfelt in ihr, oder „der Vater zieht zum Sohne" (Joh. 6, 44); der Glaube an Christum lehrt die Welt
und Gott in ihr verstehen. — Die Hingebung an Christum ist die Bedingung für das Empfangen seines Geistes (Joh. 14, 23);
der
Geist verkläret Christum. — Das wäre nicht möglich, wenn nicht der
Gegenstand, das Objekt, das sich je unserm Glauben darbietet, der artig wäre, daß ein solcher Eindruck entstehen müßte; wenn es nicht
ein und dasselbe göttliche Wesen,
der ewige Vater der Liebe wäre,
der uns in der Schöpfung, Erhaltung und Regierung der Welt, in
der
geschichtlichen Erscheinung
unsers Herrn Jesu Christi und in
dem in der erlöseten Menschheit waltenden Lebensgeiste, dem Geiste der Heiligung, gleich stark, gleich mächtig entgegentritt und uns von
Stufe zu Stufe an sich zieht.
Das ist der „dreieinige" Glaube, der
in jedem Christenherzen lebt, möge es sich desselben in dieser Weise
bewußvsein oder nicht; das ist die „Dreieinigkeit", welche das apo
stolische Glaubensbekenntniß, gleichfalls, ohne das Wort zu nennen, klar und bestimmt lehrt.
Aber über diese naheliegende („sie ist nicht
fern von uns" — Röm. 10, 6—8), jedem christlichen Verstände zu gängliche Dreieinigkeit der göttlichen Offenbarung hinaus hat das Denken auch das dieser Offenbarung Gottes immerhin zu Grunde
liegende,
überweltliche,
innergöttliche Verhältniß in
dem Wesen
Gottes selbst zu ergründen gesucht, und hat auch darüber eine Lehre
ausgestellt mit einer Schärfe und Sicherheit, die jedenfalls das Maß
menschlicher Erkenntniß überschreitet.
Denn
„wer hat des Herrn
Sinn erkannt oder wer ist sein Rathgebcr gewesen?" (Röm. 11,34f.)
2. Hauptstück.
362
Dritter Artikel.
Und an diese Lehre hat man dann das Heil gebunden und ausge
sprochen, „wer diesen Glauben nicht rein und nicht ganz halte, könne nicht selig werden."
Dem gegenüber ist an das zu erinnern, was
bereits bei der Lehre von der Person I. Christi ausgeführt ist, daß
unser Herr und Heiland, Johannes im 6., nicht gesagt hat: wer sich über die Geheimnisse der Dreieinigkeit den Kopf zerbreche, solle selig
werden; sondern, „wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben,
Tage." der
und ich werde ihn auferwecken am jüngsten
Desgleichen ist nicht der ein Kind Gottes und ein Christ,
für den h. Geist als die dritte Person in der Gottheit eifert
und verdammt; sondern, wer das Zeugniß des Geistes vernimmt und demselben als der Stimme Gottes vertraut und folgt.
Wem
aber „dieser Glaube" fehlt, wer zweifelt, ob das Walten und die
Führung und der Zuspruch des Geistes auch heute Gottes seien, oder wer sie für mindere und nicht zureichende hält: nun über seine Selig keit soll man ja nicht absprechen;
aber das wird man doch sagen
müssen, daß einem solchen noch entweder der Herzensfriede oder Ein sicht und Klarheit abgehen. —
Von der Wirksamkeit
des
h. Geistes nach der Erklä
rung Luther's. —
Die Erklärung Luther's stellt in drei Sätzen dar, der h. Geist an
dem
Einzelnen wirke; sodann,
zuerst, wie
was
derselbe
Geist in derselben Weise („gleichwie") dasselbe, nämlich Be
rufen, Erleuchten, Heiligen und im Glauben Erhalten, auch an der
gesammten Kirche (der „ganzen Christenheit
auf Erden") schaffe;
endlich das Verhältniß der ersten Wirksamkeit zur zweiten:
daß
nämlich der h. Geist seine Thätigkeit an den Einzelnen ausübe und
seine Gaben ertheile innerhalb
der Gemeinschaft der Gläubigen,
„der ganzen Christenheit auf Erden" („in welcher Christenheit er mir" u. s. f.),
durch welche Bestimmung letztere also als der Ort
und die Stätte oder auch als der „Leib" des Geistes bezeichnet wird. 1) Der erste Satz sagt im wesentlichen aus,
a) daß niemand sich selbst zu einem Christen machen, oder das
Christenthum aus sich erzeugen könne: sondern jeder wird ein Christ durch die allem Thun des Menschen vorangehende (berufende), dann
Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.
363
dem dadurch geweckten Streben des Menschen entgegenkommende, es begleitende und vollendende Wirksamkeit des h. Geistes Gottes oder,
was dasselbe aussagt,
durch die Gnade Gottes in Christo („er
leuchtet", „geheiligt" und „im Glauben erhalten"). Das ist so klar,
und trägt jeder lebendige Christ das Bewußtsein davon so entschie den in sich, daß es kaum noch einer Berufung auf besondere Schrift stellen, wie Joh, 15, 16; 1 Kor. 4, 7;
1 Joh. 4, 19 bedarf.
Die
gegentheilige Aufstellung würde zu der Behauptung führen, daß die Sendung Christi überflüssig gewesen wäre; oder sie würde so viele Christusse annehmen müssen, als Menschen ohne ihn zu dem Leben
gelangen, welches erfahrnngsmäßig von ihm ausgeht. — Anderer seits versteht es sich eben so von selbst und folgt abermals ohne be sondre Belege heiliger Schrift (die übrigens auf jedem Blatte der
selben zu
lesen sind) aus der Natur des h. Geistes als solchen,
daß seine Wirksamkeit auf den menschlichen Geist Empfänglichkeit des letzteren für dieselbe, weiter Mitwirkung des Menschen voraus
setzt, sofern ja der h. Geist niemals mechanisch wirken,
als hei
liger Geist aber unmöglich die Bedingung der Heiligung, sittliche
Entschließung und eigne Anstrengung, aufheben kann. dem Sinn auf „Gnade" warten, daß sie trotz bes
Die also in
„Rufes"
des
Geistes nicht „vom Schlafe aufstehen" (Röm. 13,11) und an ihrem
Heile schaffen wollen (Phil. 2,12): die spotten der Gnade und fallen, ungeachtet auch ihre Berufung von Seiten Gottes eine durchaus ernstlich gemeinte gewesen war, unter das Wort: „Jerusalem, Jeru
salem! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, aber ihr habt nicht gewollt!" —
b) Wie niemand sich selbst, so kann auch keiner einen andern zu einem Christen machen.
Was wir thun können und
allerdings
auch thun sollen, ist: Lehren durch Wort und Beispiel, ermahnen, tragen, dulden, lieben: daß aber und wie dieses unser Thun wirkt,
das ist des Geistes. Wie Paulus schreibt: „ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, Gott, aber hat das Gedeihe» gegeben" (1 Kor. 3, 6. 7).
Es ist das um so mehr festzuhalten, als nicht nur die
Mittlerschaft („Vaterschaft"), welche die römische Kirche sich und
ihren Priestern in Sachen des Glaubens beilegt,
dicht an dieses
364
2. HaiHtstück.
Dritter Artikel.
„zum Christen Machen" streift und praktisch auf dasselbe hinaus
kommt; sondern es auch in der evangelischen Kirche nicht selten den
Predigern, Lehrern u. f. w. zum Vorwurf gemacht wird, wenn die Leute sich nicht bessern, „sich nicht erbauen". — Nichts ist un
billiger, als dies; nichts leistet so sehr einerseits der Indolenz, an
dererseits priesterlicher Ueberhebung Vorschub.
Geist beruft u. s. w.",
oder:
Darum:
„der heil.
„Christus ist der Anfänger und
Vollender unsers Glaubens" (Ebr. 12, 2); andererseits ist es von
Anfang bis zu Ende der eigne Glaube, nicht der eines andern, der
es thut.
Und beide Sätze sind
nur verschiedene Seiten derselben
biblischen Wahrheit. 2) Dasselbe, was von dem Einzelnen gilt, gilt auch von der
Kirche. a) Auch die Kirche ist weder von selbst entstanden, noch ist sie von Menschen gemacht, sondern sie ist eine Schöpfung des h. Geistes.
Die Apostel haben sich nicht hingesetzt und gesagt:
„wir wollen die
christliche Kirche stiften": sondern Gott hat seinen Geist über die
Apostel ausgegossen: und die Kirche war da. Und zwar war es ein Akt, der die Einzelnen mit diesem Geiste erfüllte und zu Glie dern der Kirche machte, und der die „Gemeinde der Heiligen"
d. i. die Kirche in's Leben rief, indem er alle unter einander zur Einheit verband. In diesem Sinne ist die Kirche eine göttliche
Stiftung. Um aber hierbei nicht irre zu gehen, muß man sorg fältig darauf achten, was in diesem Schöpfungsakte der Kirche in's Leben gerufen ward und in die Erscheinung trat.
Nichts von alle
demjenigen, ohne welches sich dermalen unzählige die Kirche kaum
zu denken vermögen:
Gebäude, Talare, Bekenntnisse, Katechismen,
Gesangbücher, Agenden, auch keine Pfarrer und Superintendenten, d. i. Aemter und Behörden und, was dergleichen mehr ist. Nichts von alle diesem, geschweige Papstthum und Lutherthum, ist vom
Himmel gefallen; und war an dem Ursprünge der Kirche da.
Sondern, was da war, das war die vom Geist, erfüllte und durch den Geist verbundene Schar von Jüngern Christi, die
Gemeinschaft der Gläubigen: welche nun im Laufe der Zeit aus dem Geiste, der sie erfüllte, dem „Geiste der Kraft, der Liebe
und der Zucht" (2 Tim. 1, 7), je nachdem das
Bedürfniß sich
Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.
365
herausstellte (Apostg. Kap. 6; 11; 13), diejenigen Aemter, Ordnungen und Einrichtungen erzeugte, welche zu ihrem Gedeihen nöthig waren.
Denn, wie die christliche Kirche, nach der in ihr wirkenden Kraft, eine Schöpfung des h. Geistes Gottes ist, so ist sie in ihrer jedes
maligen Erscheinung durch und durch das Produkt geschichtlicher Entwicklung, und menschlicher, allerdings geistdurchwirkter, aber bei
alle dem menschlich bedingter und deshalb auch nicht sündenfreier und unfehlbarer Thätigkeit.
Dies ist der Sinn und die Bedeutung
der aus der Neformatiou stammenden Unterscheidung der sichtbaren
und unsichtbaren Kirche, damals einer der schlagendsten Waffen der Reformation; und richtig verstanden noch heute ein unveräußer licher Grundsatz der evangelischen Kirche.
Ist immerhin der Aus
druck schief, sofern es nicht zwei Kirchen, eine sichtbare und eine un sichtbare, sondern nur eine Kirche giebt, die ihr Wesen im Unsicht
baren hat, mit ihrer Erscheinung in die Sichtbarkeit fällt: so hat doch die Sache ihre Richtigkeit; und bildet die Anerkennung, daß das unsichtbare Wesen der Kirche niemals ganz in die sichtbare Er
scheinung aufgeht, umgekehrt jede sichtbare Erscheinung sich immer
wieder an dem unsichtbaren Wesen zu messen und aus demselben zu bessern und zu erneuen hat —: nach, wie vor, den Grundunterschied zwischen katholischem und protestantischem Wesen, und ist das, was
unsere Kirche zur evangelischen macht.
b) Wie die Kirche nicht von Menschen gemacht,
sondern vom
Geiste in's Leben gerufen ist, so ist auch ihre Erhaltung, Förderung, Reinigung und Einigung nicht ein Werk menschlicher Willkür, son dern des göttlichen Geistes, der sie hervorgebracht hat.
Ebenso wenig
läßt sich in der Kirche irgend etwas Kirchliches, was diesen Namen verdient, durch menschliche Kunst und Anstrengung machen. Wohl mag man Kirchen bauen, Bekenntnisie aufstellen, Gottesdienste anordnen, Konventikel stiften, und hat dergleichen und anderes mehr in heiligem
und unheiligem Eifer reichlich gethan.
Aber, wo nicht Gottes Geist
und Odem dahinter war, ist durch deren keines die Kirche gefördert
worden, und mehr, als Schein oder Clique, entstanden.
Frühling,
auch Frühling der Kirche läßt sich durch kein Einheizen machen: sondern, wenn Gottes Winde wehen, grünet die Saat, und blühet Baum und Strauch.
Andererseits versteht es sich von selbst, daß
2. Hauptstück.
366
Dritter Artikel.
jeder seine Schuldigkeit thue, damit, wenn der Frühling kommt, der
selbe den Acker bestellt finde. 3) Christus und Christenthum sind geschichtliche Erscheinungen, mit denen man nicht anders, als auf geschichtliche Weise, in Berüh
rung kommen kann.
Man kann von ihnen nichts vernehmen,
ge
schweige ihre Kraft erfahren, als innerhalb des Kreises, in welchem sich eine Kunde von ihnen vorfindet, und bis zu welchem ihre Wir
kungen reichen.
„Wie sollen sie anrufen, an
Wie Paulus schreibt:
den sie nicht glauben? Wie sollen sie aber glauben, von dem sie nichts
gehört haben?
Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?--------- So
kommt also der Glaube aus der Predigt; die Predigt aber aus dem
Worte Gottes" (Röm. 10, 14. 17).
Daraus folgt:
a) Man wird Christ nur durch irgendwelche, irgendwie vermittelte Berührung mit der Christenheit, innerhalb des Kreises, in welchem der Geist Christi seine „berufende, erleuchtende, heiligende" Wirksam
keit ausübt, nicht im Heidenthum oder Judenthum oder Muhamedanismus durch die Berührung mit einem derselben.
b) Wie christlicher Glaube nur in Berührung mit christlichem Glauben entstehen und sich verbreiten kann,
so vermag er sich auch
nur in der Gemeinschaft mit solchem in voller Lebendigkeit zu erhalten
und weiter zu entfalten.
Es ist eine bekannte Thatsache, daß Kin
der bis zu einem gewissen Alter, wenn sie durch irgendwelchen Zu
fall aus der menschlichen Gesellschaft entfernt wurden, einem thierischen Dasein entwickelten;
Menschen,
die durch Krankheit oder sonst wie das Gehör verloren,
die Sprache vollständig,
und selbst Erwachsene,
welche viele Jahre
von allem Verkehr mit Menschen ausgeschlossen waren, zu
einem gewissen Grade wieder verlernt haben.
in denen,
sich nur zu
daß andere mitten unter den
So würde auch
welche sich andauernd von jeder religiösen,
der christlichen Gemeinschaft absondern,
Glaube wieder verschwinden,
dieselbe bis insbesondere
auch der bereits erwachte
wenn es möglich wäre,
sich inmitten
der Christenheit von dem Einflüsse des Christenthums jemals ganz
abzusperren.
Aber auch die,
welche in keine Kirche kommen, leben
und athmen in der Lebenslust,
mit welcher das Christenthum alle
Verhältnisse durchdrungen hat: in tausend und aber tausend Kanälen kommt, sie mögen wollen oder nicht wollen, die Kunde und der Ein-
367
Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.
fluß des Evangeliums zu ihnen. Damit soll weder ihre Absonderung
entschuldigt, noch behauptet werden, daß ihnen dieselbe nicht schade: sondern es soll nur verständlich gemacht werden, wie so viele gänz
lich unkirchliche Menschen noch Christen, oft sogar recht gute Christen
Christenthum und Christenheit gehen eben weit über
sein können.
die gottesdienstlichen Versammlungen und über den kirchlichen Orga nismus hinaus. —
Hieraus ergiebt sich, was von dem bekannten Satze der römi schen Kirche zu halten sei,
„außer der Kirche sei kein Heil",
und daß „niemand Gott zum Vater haben könne, die Kirche zur Mutter habe".
der nicht
Derselbe hat nur insofern Wahr
heit, als man erstens unter Kirche weder die römische Kirche noch den kirch
lichen Organismus, sondern die Gesammtheit der Wirkungen des Geistes Christi, „die ganze Christenheit auf Erden" versteht, und den
Satz: „Wo die Kirche ist, da ist der Geist" durch den andern nicht
minder wahren und nicht weniger nothwendigen:
„Wo der Geist
ist, da ist die Kirche", ergänzt; als man zweitens unter „Heil" nur den vollen und vollbewußten
Heilsbesitz begreift, welcher dem Menschen in Christo zu Theil ge
worden ist, und in dessen Besitz allerdings niemand, als in Verbin dung mit ihm, gelangen kann. Denn Heil überhaupt, Sehnsucht
nach demselben, die, wo sie redlich ist, niemals und nirgends ganz unbefriedigt bleibt, Besitz von irgend welchen Heilsgütern, kurzum Morgenröthe des Christenthums:
die ist allerdings auch vor dem
Christenthume und außerhalb desselben.
Wie die christliche Kirche
in Beziehung auf die Frommen des A. Bundes dies immer,
die
alte Kirche und Luther in einzelnen seiner Aeußerungen, noch be stimmter aber Zwingli solches auch in Beziehung auf edlere Heiden
anerkannt haben. Die Behauptung, welche außerchristlichen Frommen alles Gute und Göttliche abspricht — wo aber Gutes und Gött liches
ist,
da
sind
auch Heilsgüter — ist
lediglich
Folge
der
Knechtschaft unter einem falschen System oder der Angst, Christus und das Christenthum könnte ihren Werth verlieren, wenn man
zugestände, daß auch in den andern Religionen noch Spuren und Weissagung der Wahrheit sei. Als wenn die Sonne aufhören würde,
368
2. Hauptstuck.
Dritter Artikel.
Sonne zu sein, weil man anerkennt,
daß auch die Sterne Glanz
haben.
Endlich darf die Behauptung,
daß außer der Kirche kein Heil
sei, nicht über die Gegenwart und das Diesseits ausgedehnt, nicht zu einem Urtheile über das zukünftige Leben gemacht werden.
sind desselben
Die des Heils in Christo noch nicht theilhaftig sind,
jetzt noch nicht theilhaftig, wohl aber können und sollen auch sie seiner — und wenn auch erst in dem zukünftigen Leben - theil haftig werden; nach dem Worte:
geholfen werde,
„Gott will, daß allen Menschen
und alle zur Erkenntniß
„Denn es ist ein Gott und
der Wahrheit kommen.
ein Mittler zwischen Gott und den
Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung, daß solches (jedem) zu seiner Zeit ge predigt würde" (1 Tim. 2, 4—6).
„Denn
dazu ist Christus auch
gestorben und auferstanden und wieder lebendig
geworden, daß er
über Todte und Lebendige Herr sei" (Röm. 14, 9).
Die den Herrn
hier nicht gefunden haben, denen er hier nicht verkündigt ist: denen
wird er droben erscheinen;
nach dem tiefsinnigen Wort des Petrus-
Briefes, welches die Kirche von je an, wenn auch in verschiedenem
Umfange und mit mehrerer oder minderer Entschiedenheit und Klar
heit, auf die Möglichkeit einer „Bekehrung" und Erlösung noch in dem anderen Leben bezogen hat:
1 Petri 3, 19 f.; 4, 6 (vergl. den
Abschnitt von der Höllenfahrt). —
Bereits vorher ist angedeutet,
in welcher Weise
die römische
Kirche Gotte als dem Vater die Kirche als Mutter gegenüber und zur Seite stellt; und auch sonst ist in ihr die Bezeichnung der Kirche als der h. Mutter Kirche gang und gäbe. Diese Bezeichnung, welche mitunter auch von überfrommen Protestanten nachgeahmt wird, ist
unbedingt zu verwerfen, sofern sich an dieselbe mehr oder weniger
der verderbliche Wahn knüpft, daß die Kirche den Menschen zu einem Christen und selig mache: während es nach evangelischer Lehre allein der Geist Gottes ist,
der in der Kirche (in dem oben angedeuteten
Sinne) „mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebt" u. s. w.
Einen irgendwie ertragbaren Sinn könnte diese Be
nennung nur haben, wenn sie — was aber nicht der Fall ist — stets nur in dem Sinne gebraucht würde,
in welchem man umgekehrt
Wirksamkeit des heiligen Geistes nach Luthers Erklärung.
369
einzelne besonders wirksame Glieder der Kirche als „Väter der Kirche"
bezeichnet. 4) Damit ist
bereits
auf
diejenige Ergänzung hingedeutet,
welcher die Ausführung Luther's über die Wirksamkeit des h. Geistes, um der Sache gerecht zu werden,
wenn man sie nur genau ansieht,
noch bedarf; die sie aber auch, aus sich selbst erzeugt.
Ist es
nämlich mit dem „gleichwie" ernst gemeint (und das ist der Fall): so liegt darin,
daß, wie die Kirche die Stätte und das Mittel ist,
„in welcher" und durch welche der h. Geist ans die Einzelnen wirkt, so wieder die Einzelnen und jeder Einzelne die Organe bilden, durch
welche
derselbe Geist die Kirche fördert.
Nach dem Worte Pauli:
„Lasset uns rechtschaffen sein in der Liebe und wachsen an dem, der
das Haupt ist, Christus, aus welchem der ganze Leib zusammengefügt ist, und ein Glied am andern hanget durch alle Gelenke, dadurch eins
dem
andern Handreichung thut nach
Gliedes in seiner Maße und macht,
dem Werke eines jeglichen
daß der Leib wächst zu seiner
selbst Besserung; und das alles in der Liebe" (Ephes. 4, 15. 16). —
Es ist dies abermals ein wesentlicher Unterschied zwischen der römi
schen und der evangelischen Kirche,
sofern jene eigentlich nur eine
Wirksamkeit der Kirche auf die Einzelnen (des Leibes auf die Glie der) zugesteht, diese dagegen die Wechselwirkung beider auf einander
lehrt, und,
unbeschadet der Anhänglichkeit und Achtung,
welche sie
ebenfalls von ihren Gliedern gegen die Kirche fordert *), jedes Glied, auch das geringste, je nach dem „Maße seiner Gabe" zu derjenigen
erbauenden, fördernden, reinigenden Einwirkung auf das Ganze be
rechtigt, welche ihre Begründer, die Reformatoren, in so hervorragen der Weise ausgeübt haben.
Je mehr es neuerdings auch in der
evangelischen Kirche zur „Kirchlichkeit"
gerechnet werden will,
die
einzelnen Christen, wie die einzelnen Gemeinden, ächt römisch nur als ein „Objekt"
für die Thätigkeit der „Kirche",
„als Pflanz
stätten" christlicher Frömmigkeit zu betrachten, und Gehorsam und
Unterwerfung unter die Kirche zu fordern: um so entschiedener ist daraus hinzuweisen,
derlehre ist,
daß es schon ein Stück evangelischer Kin
daß „der h. Geist mich durch
’) Matth. 18, 15-18. Elte st er, Materialien. 2. Auflage.
das
Evangelium
2. Hauptstück.
370
Dritter Artikel.
berufen, mit seinen Gaben erleuchtet und im rechten Glauben ge heiligt und erhalten hat, gleichwie er die ganze Christenheit auf
Erden sammelt, erleuchtet, heiligt und bei I. Christo erhält im rechteil einigen Glauben."
„Wo der Geist ist, da ist die Kirche," und
wenn es nur zwei oder drei sind, die in seiner Kraft zusammenstehen (Matth. 18, 20).
Ja, in dem Ablaßhandel und zu Worms reprä-
sentirte der einige Luther, obschon ein armer Bettelmönch und eines
der niedrigsten Organe der Hierarchie, der ganzen „Kirche" gegen
über die Kirche; und die ganze „Kirche" hätte die Pflicht gehabt,
ihn, den einigen, zu „hören", wie er seinerseits nie aufgehört hat,
der Kirche, d. i. „der ganzen Christenheit auf Erden" die ihr ge bührende Ehre zu geben. —
Von der Kirche. Die christliche Kirche, die „Gemeinde der Gläubigen", wird in der h. Schrift am häufigsten und bezeichnendsten mit einem Leibe
verglichen, ja sie wird geradezu der Leib Christi genannt. — Der Ausdruck: „Leib Christi", „Leib des Herrn", kommt in der h. Schrift in mehrfacher Bedeutung vor.
Einmal in buchstäblicher
Bedeutung bezeichnet er den natürlichen Leib Jesu; sodann in über
tragener Bedeutung die Gemeinde des Herrn als den geistlichen Leib I. Christi, endlich in besonderer Beziehung die das Abendmahl des
Herrn feiernde Gemeinde oder auch die Feier des Abendmahls selbst,
sofern durch diese Feier die Gemeinde im hervorragendsten Sinne mit
Christo und unter einander vereinigt und zu „einem Geiste und einem Leibe" wird (1 Kor. 10,17; Ephes. 4, 4). — Wir halten uns hier nur an die zweite Bedeutung, wie sie uns
in der bereits angeführten Stelle, Ephes. 4, 15. 16, entgegentritt,
an die zunächst wir unsere weiteren Erörterungen anknüpfen. 1) Verfolgt man die Vergleichung, so ist Christus also das Haupt; der Geist Christi ist das den gesammten Leib beseelende Leben; die einzelnen Christen sind die Glieder; die Gelenke dagegen
die Ordnungen, Einrichtungen und Aemter, welche die Einzelnen unter einander zu einem Ganzen verbinden, und durch welche es mög
lich wird, daß das Leben Christi im Leibe Christi, d. i. in seiner Ge
meinde ungehemmt cireulirt, und jedes Glied jedem andern und dem
Die christliche Kirche.
Ihr Wesen.
371
Ganzen je mit seiner Gabe dient; und wieder der ganze Leib jedem
Gliede diejenige Pflege und Stärkung zu Theil werden läßt, welcher es bedarf.
Solche Gelenke sind z. B.
der Katechumenen-Unterricht.
Wie
der
öffentliche Gottesdienst,
wäre es möglich
ohne dahin
einschlagende Einrichtungen die Jugend regelmäßig im Christenthume
zu unterweisen; den Trost, die Ermahnung, die Auslegung des gött lichen Wortes sicher und ausreichend an die Gemeinde zu bringen? Dahin gehören ferner die Einrichtungen zur Leitung der Gemeinde; die Kranken- und Armenpflege,
die Sorge für die Verlaffenen oder
im Glauben Zurückgebliebenen; sammt den entsprechenden Aemtern: dem Predigtamte, dem Amte der Kirchenältesten, der Helfer und,
was
dergleichen
mehr
ist.
Weiter diejenigen Institutionen und
Aemter, durch welche wieder die einzelnen Gemeinden unter einander verbunden und zu größeren und immer größeren Kirchenkreisen als
Kreis-, Provinzial-, Landesgemeinden vereint werden:
die verschie
denen Behörden und Synoden in ihren mannigfaltigen Abstufungen.
Endlich sind zu den „Gelenken" der Kirche noch die freien Vereine (Bibelgesellschaft, Missionsgesellschaften, Gustav-Adolf-Verein u. a. m.) zu
zählen,
welche den
amtlichen Organen der Kirche helfend und
ergänzend zur Seite gehen, indem sie theils solche Thätigkeiten über nehmen, für welche jene nicht die ausreichenden Kräfte, Mittel, auch wohl kein Verständniß haben; theils die nicht im kirchlichen Amte stehenden Glieder der Kirche zu der ihnen geziemenden weitern Wirk
samkeit für die Kirche anregen und in Stand setzen. 2) Es ist ein überaus
ständniß zugängliches
Bild
faßliches,
auch dem schlichtesten Ver
des kirchl.
uns in dieser Vergleichung entgegentritt.
Organismus, welches
Aber dieselbe Vergleichung
giebt auch eine vortreffliche Unterlage zur Bestimmung des Begriffs der Kirche, und zu einer jedermann einleuchtenden Darstellung der
Gegensätze, welche in dieser Beziehung zwischen der evangelischen und der römischen Kirche und sonst noch stattfinden. — Nach
wesentlich
der Lehre
der römischen Kirche nämlich
und Institutionen, beziehungsweise Personen.
ist die Kirche
der Inbegriff der die Kirche zusammenhaltenden Aemter der diese Aemter
bekleidenden
Was man sonst Kirche nennt und zu ihr zählt, die Ge
meinde und deren Glieder, kommen gegenüber dieser regierenden —
24*
2. Hauptstück.
372
der eigentlichen — Kirche,
Dritter Artikel.
der Kirche im engern Sinne, der Hier
archie nur insofern in Betracht, als sie Gegenstände der Thätigkeit
der letztern („Pflanzstätten christlicher Gesinnung") sind,
und
der
„Hierarchie", dem „Klerus" zu gehorchen und sie zu ernähren haben.
Sie sind die „Laien", „das Volk, das von dem Gesetze nichts weiß"
(Joh. 7, 49). — Nach
dieser Anschauung sind
die Gelenke des
Leibes der Leib. — Dieser Ansicht schroff entgegengesetzt ist die andere, nach welcher
die Kirche die Summe der Einzelnen ist, sei es aller oder der meisten oder
auch nur etlicher.
Denn auch das kommt vor, daß, wie auf
der Gaffe oder in einem Club
irgendwelche zusammenlaufen und
dekretiren, „das preußische Volk oder Deutschland beschließt u. s. w.;"
so auch in der Kirche irgendwelche viele oder wenige, „Kirchliche", und
sogar sehr
denen kein Mensch Auftrag gegeben, zusammentreten
„wir sind die Kirche."
erklären:
man den Leib zerhackt, und darauf, sei
Das ist gerade so, als ob
es einen Theil der Glied
maßen oder auch alle, auf einen Haufen wirft und spricht: „Das ist
der Leib."
In der
römischen Kirche das Gerippe,
hier
der
Haufen, die Masse. — Und nicht viel besser ist der Kirchenbegriff, der in der richtigen Erkenntniß, immer irgendwelche Verbindung
daß
zu jeder Gemeinschaft doch
und Organe gehören,
die Kirche
allerdings als „Gesellschaft" mit gewissen Ordnungen und Einrich
tungen auffaßt; aber als eine, die sich rein willkürlich gebildet und ebenso verfaßt hat.
Die Anschauung von der Kirche, wie etwa einer
Aktiengesellschaft. —Dem allem gegenüber steht die evangelische Begriffsbestimmung der Kirche als der „Gemeinschaft des h. Geistes in den Herzen
der Gläubigen"
d. i. der aus dem Geiste Christi
getonten und von ihm durchwalteten Gemeinde mit ihren
dem
selben Geiste entsprungenen Ordnungen und Einrichtungen, oder
des „geistlichen Leibes I. Christi." —
Von den Eigenschaften der Kirche.
I. Einheit. — Es ist nur ein Christus, also auch nur eine Christenheit. Und zwar soll dieselbe nicht nur eine über die ganze Welt zerstreute, nur
Die christliche Kirche.
Ihre Einheit.
373
hie und da zufällig verknüpfte Schaar, sondern „ein Geist und ein Leid", eine organisch verbundene Gemeinde sein, vgl. Ephes. 4, 4f. —
Joh. 10, 16: „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus
diesem Stalle.
Und dieselbigen muß ich herführen, und sie werden
meine Stimme hören, und wird eine Heerde und ein Hirte werden."
— Joh. 17, 20—23:-------- „auf daß sie alle eins seien, gleichwie du, Vater, in mir, und ich in dir, daß auch sie in uns eins seien,
auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt.-------- " Das wird in irgendwelcher Weise auch überall anerkannt.
Zu
nächst die römische Kirche will Einheit der Kirche: aber sie will die Einheit auf Kosten jedes selbstständigen, eigenthümlichen Lebens und auf dem Wege der Gewalt.
Darum hat sie auch nie dieselbe er
reicht, noch wird sie jemals wahre Einheit erreichen.
sie
Sondern, was
durchgesetzt hat, ist Einförmigkeit innerhalb des von ihr be
zwungenen Gebiets; in Folge dessen geistlicher, auch wohl leiblicher
Tod, beziehungsweise Absprengung alles dessen, was lebenskräftig
genug war, sich ihrem Zwange zu entziehen. Die Reformation hat ursprünglich gleichfalls die eine heilige
allgemeine christliche Kirche ernstlich gewollt, und ist sehr gegen ihren Willen durch die Schuld der römischen Hierarchie in die Spaltung hineingedrängt. Später freilich hat sie kraft der in ihr nachwirkenden römischen Grundsätze gleichfalls weitere Spaltungen erzeugt; vollends ist die aus ihr geborne Kirche durch ihre wachsende Abhängigkeit vom Staate in einer Weise zerrissen worden, daß ihre äußere Erschei
nung nicht mehr den Anblick eines Leibes, sondern nur von zerrissenen
Gliedmaßen (disjecta
membra poetae) gewährte.
Namentlich in
Deutschland entstanden so viele „Kirchen", deren keine sich um die andere
bekümmerte, als es Staaten gab: und deren waren einst über drei hundert und sind noch jetzt — viele.
Diese trostlose Entwicklung, dazu
die offenbare Unmöglichkeit, unter den dermaligen Verhältnissen auf
dem bis jetzt befolgten Wege Einheit der evangelischen Kirche zu erreichen, hat manche evangelische Theologen ehedem und noch jetzt bewogen, Einheit überhaupt nur für eine Eigenschaft der „unsicht
baren Kirche", für ein Ideal zu erklären, das sich in der sichtbaren Kirche nie verwirklichen lasse.
Offenbar ein Akt der Verzweiflung,
dem nicht bloß der christliche Glaube,
sondern auch — die Logik
2. Hauptstück.
374 widerspricht.
Kirche,
Ist nämlich
Dritter Artikel.
Einheit ein Attribut der unsichtbaren
oder — besser ausgedrückt— gehört
sie zum
Wesen
Kirche, so ist sie auch nicht eine „platonische Träumerei",
der
noch soll
sie dafür gehalten werden, so wenig als die „unsichtbare Kirche" eine
solche ist1):
sondern sie ist und soll erkannt werden als eine der
Kirche von dem Herrn der Kirche gestellte Aufgabe und ein Ziel, nach dessen Verwirklichung jedes lebendige Glied der Kirche unablässig
zu trachten und dafür zu wirken hat. Wie denn auch die Geschichte zeigt, daß von je an den die Kirche spaltenden Tendenzen einigende (unirende) zur Seite gegangen, und daß es nicht „Idealisten" und Schwärmer oder Indifferente und Ungläubige,
sondern Besonnenste
und Gläubigste und Praktischste, wie Paulus, gewesen sind, die gegen die Zerreißung der Kirche angekämpft und jede Spaltung für fleisch
lich (Sünde) erklärt haben (1 Kor. 1, 12; 3, 4).
Die unter uns eingeführte „Union" das
ist zunächst — wie sie
geschichtlich gar nicht anders konnte — als Vereinigung der
lutherischen und resormirten Kirche zu einer evangelischen Kirche
aufgetreten.
Aber in der in ihr liegenden Rückkehr zu den ursprüng
lichen Prinzipien der Reformation trägt sie bei folgerichtiger Durch führung derselben den Keim und die Kraft und die Grundsätze in
sich,
aus
denen die „eine h. allgemeine Kirche Christi"
geboren
werden wird, und auch allein geboren werden kann. —
Die der Union zu Grunde liegenden, mit steigender Klarheit in das Bewußtsein getretenen Gedanken lassen sich am besten zusam
menfassen in dem Satze der „Einheit in der Mannigfaltigkeit", wie
denselben schon Paulus 1 Kor. 12 ausgesprochen hat.
Wie der Leib
nicht bloß viele, sondern auch vielerlei Glieder hat und ist doch ein
Leib, also auch Christus.
Und, wie gerade in der Mannigfaltigkeit
der Glieder, die wir am menschlichen Leibe vor allen andern Leibern finden,
die Schönheit und die Kraft des Menschenleibes und seine
Angemessenheit zum Organ des menschlichen Geistes liegt: so ist auch in
der Kirche die größtmögliche Mannigfaltigkeit der Gaben und
eine weitgehende Verschiedenheit der Glieder bei gleicher Unterord nung unter den Geist, weit entfernt, die Einheit zu stören, vielmehr
’) Melanchthon in der Apologie der Augsburger Confession.
Die christliche Kirche.
Ihre Einheit.
375
die Bedingung für die allseitige Entfaltung des Geistes und für das
Gedeihen des Leibes Christi.
wo bliebe das Gehör?"
„Denn, wo der ganze Leib Auge wäre,
Und „so alle Glieder ein Glied wären, wo
bliebe der Leib?"
Legen wir uns den Inhalt dieses Grundgedankens sowohl nega tiv als auch positiv auseinander.
1) Die Einheit der Kirche soll nicht auf dem Wege der Einer-
leiheit verwirklicht werden.
In der ganzen Kirche einerlei Lehre,
Verfassung, Form des Gottesdienstes herab bis auf Form und Farbe und Schnitt der Gewänder und die eine gottesdienstliche Sprache:
das ist der römische Weg,
der die Kirche aus
einer Gemeinschaft
des Glaubens zu einer Gesetzes- und Zwangs-Anstalt gemacht
hat;
in der alles,
was von dieser einerlei Satzung abweicht, ent
weder getödtet oder zur Heuchelei genöthigt, wo nicht, aus der Kirche ausgetrieben wird.
Die reformatorische Kirche hat anerkannt, daß
zur Einheit der Kirche keineswegs nöthig sei,
daß überall in der
Kirche dieselben Ceremonien, Ordnungen und Einrichtungen bestän
den, und hat von Anfang an in allen diesen Beziehungen die weit gehendste Mannigfaltigkeit zugelassen.
Nur für die Lehre hat sie,
weil doch in der Kirche ein Glaube sein müsse (Ephes. 4, 5),
in
verhängnißvoller, aus der alten Kirche überkommener Verwechslung
von Glaube und Lehre,
gleich jener abermals Gleichheit gefordert
und durch diese Forderung der einerlei reinen Lehre nicht bloß die
bedauerliche Spaltung zwischen der resormirten und der lutherischen Kirche herbeigeführt, sondern überhaupt in sich den Geist der Aus schließlichkeit und Gesetzlichkeit ausgenommen, welcher die päpstliche
Kirche kennzeichnet. — In der Union endlich — welche weder ein Aufgehen des Lutherischen in das Reformirte, noch dieses in jenes, noch endlich ein aus beiden ausgezogenes und abgeschwächtes drittes
„Einerlei"
hat sein wollen — in
der Union
ist anerkannt,
daß
Differenzen in der Lehre (so weit dieselben nur nicht den Boden des
Evangeliums verlassen oder verleugnen) ebenso wenig die Einheit
der Kirche
hebung
und des Glaubens stören, und einen Grund für Auf
der kirchlichen Gemeinschaft abgeben,
als dies — unter
gleicher Voraussetzung — bei Differenzen der Verfassung, des Kultus und der Sitte der Fall ist:
daß überhaupt für die Darstellung
2. Hauptstück.
376
Dritter Artikel.
des Glaubens in der Lehre durchaus dasselbe Gesetz der Mannigfaltigkeit gilt, welches für die ganze Kirche und alles
in ihr, wodurch christlicher Glaube dargestellt und mitgetheilt wird,
seine Anwendung findet.
So besteht denn in der unirten Kirche
schon jetzt nicht bloß lutherische oder reformirte oder sonst eine aus schließliche Lehre, sondern lutherische und reformirte Lehre und, was
zwischen beiden liegt, in gleicher kirchlicher Berechtigung; und ist damit folgerichtig anerkannt überhaupt alles, was sich als auf dem Grunde des Evangeliums stehend nachweisen kann (1 Kor. 3, 11 f.).
Dadurch ist endlich das Fundament zu der — evangelisch-katho lischen — Kirche gelegt, welche, weil sie alle Weisen und alle
Stufen christlichen Glaubens und christlicher Frömmigkeit
in sich berechtigt, darum auch fähig ist, alle Christen in kirch licher Gemeinschaft zu vereinigen. —
2) Die Einheit der Kirche soll auch nicht gesucht werden auf
dem Wege einer von einem sichtbaren Mittelpunkte aus durch ein sichtbares Regiment (gleichviel ob Papst oder Consistorium oder
Synode) regierten Universalkirche.
Schon das Wort des Herrn:
„ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle" zielt auf eine Mehrheit von Hürden (Ställen), über die sich die eine
Herde des einen Hirten vertheilen werde.
Desgleichen deutet die
Vergleichung der Kirche mit dem menschlichen Leibe, wie auf Man
nigfaltigkeit, so auch auf Gruppirung, und Auseinandertreten der Glieder.
gruppenweises Zusammen-
Aber, auch abgesehen von dem
Bilde, leuchtet ein, daß die Kirche in dem Maße, als sie wächst, — zwar nicht — wie es jetzt der Fall ist — in verschiedene, geschweige
einander feindliche, Kirchenparteien zerfallen, wohl aber in eine
mehr oder minder große Anzahl selbstständiger Kirchenkreise (Na tional-, Landes-, auch ,,Confessions"-Kirchen) sich werde gliedern
müssen. Betrachten wir irgend welchen größeren Ort in der evangelischen
Christenheit, so finden wir die eine Stadt-Gemeinde überall in eine
Mehrzahl von
Gemeinden
(Parochien
oder
Sprengel)
vertheilt.
Jeder sieht die Nothwendigkeit und den Segen davon ein: sofern ja kein Gotteshaus gefunden werden würde, groß genug, um die eine ungetheilte Gemeinde zu fassen, und, wenn man ein solches Herstellen
Die christliche Kirche.
377
Ihre Einheit.
wollte, keine menschliche Stimme im Stande wäre, sich den Versam
melten verständlich zu machen.
Aber, auch abgesehen davon, fordert
die sonstige Versorgung der Gemeinde mit Gotteswort,
der Unter
richt ihrer Jugend, die Seelsorge, die Krankenpflege u. s. f. die Thei lung der Menge in kleinere übersehbare Haufen — ähnlich, wie der Herr, als er das Volk speiste,
dasselbe sich lagern ließ in
„Schichten je hundert und hundert, und fünfzig und fünfzig" — weil
nur bei einer solchen Gruppirung die, .welche das Brot austheilten,
im Stande waren, zu jedem zu gelangen; und weil auch heute nur so die Sicherheit gegeben ist, daß niemand bei der „Speisung" über
setzen werde. Ganz dieselbe Nöthigung findet im größeren Maßstabe statt bei dem ganze Länder und Völker erfüllenden Christenvolke.
Auch hier
muß, soll die Leitung der Kirche denselben wirklich nahe und ihre
Versorgung eine allen Bedürfnissen entgegenkommende sein, noth
wendig Sonderung „je nach Schichten" eintreten.
Und zwar wird
auch hier das Motiv der Abgränzung einerseits die Möglichkeit, sich
verständlich zu machen, die Sprache, andererseits die mehrere oder
mindere Leichtigkeit des Verkehrs
geben.
Nach jenem Gesetze
entstehen die Nationalkirchen; sofern ja der Deutsche den Deutschen,
der Franzose den Franzosen, der Engländer den Engländer ganz anders und besser verstehen und sich ihm verständlich machen wird, als es bei den verschiedenen Nationen untereinander der Fall ist:
ja, sofern es bei der Jncommensurabilität der Sprachen Deutsches, Französisches, Englisches u. s. w. giebt, und zwar nicht bloß Worte, sondern auch Empfindungen, Anschauungen und tief eingreifendste
Bedürfnisse,
„übersetzen"
welche sich
schlechterdings
in
keine andere Sprache
und darum auch von keiner nicht vaterländischen Kir
chenleitung befriedigen lasten. Die örtliche Nähe dagegen und das
Interesse rascher und ungehemmter einheitlicher Leitung erzeugt nicht
bloß, sondern fordert, wie „Kreis- und Provinzial-Kirchen", an denen
noch niemand Anstoß genommen hat, so auch Landeskirchen.
So
gewiß die Kirche kein Staatsinstitut ist, und so sehr auch die evan gelische Kirche dies von sich weiß, so kann doch dieselbe, ohne ihre Grundsätze zu verleugnen, nie Selbstständigkeit vom Staate, ge
schweige Herrschaft über denselben, sondern nur Selbstständigkeit im
Dritter Artikel.
2. Hauptstück.
378
Staate in Anspruch nehmen;
oder: sie wird wissen,
daß sie nach
ihrer irdischen Erscheinung nie etwas anderes sein kann,
als eine
Gesellschaft im Staate, welche ihre Angelegenheiten allerdings selbst
ständig, aber innerhalb der allgemeinen Staatsordnung zu ordnen, insbesondere ihre Güter, Einkünfte, Berechtigungen (deren keines vom
Himmel gefallen ist) nach den im Staate dafür geltenden Gesetzen zu verwalten hat. — Dadurch ist die Gliederung nach Ländern, sind
Landeskirchen gerechtfertigt. — Unkirchlich ist allein die Vermischung der Kirche mit dem Staate, so wie die Abhängigkeit von ihm; des gleichen,
wenn die politischen Schlagbäume auch die Kirchen gegen
einander absperren. Sehen wir diese Gliederungen wesentlich durch Nebeneinander
wohnen (par-oikia Parochie) entstehen, so bilden sich andere durch innere Anziehung, ähnlich, wie sich im Kleinen fast in jeder bedeu
tenden Stadt, unabhängig von dem Parochial-Verbande, Gemeinden rein durch innere Verwandtschaft zu bilden und um hervorragende Geistliche zu sammeln pflegen. Nichts anderes, als solche durch innere
Verwandtschaft, insbesondere durch gemeinsame Anziehung von be
deutenden das
geschichtlichen Persönlichkeiten bestimmte Kreise, nur in
Große übersetzt, sind
die
„Confessionskirchen":
wie die
lutherische, welche sich auch viel weniger um Luther's Lehre, als um seine gewaltige Gesammterscheinung gesammelt hat; die reformirte;
die Methodisten, die Brüdergemeinde u. s. w.; gegen welche deshalb
(so lange die brüderliche Liebe ungestört bleibt) ebenso wenig etwas zu sagen ist,
die vielmehr eben so natürlich und von gesteigertem
religiösen Leben zeugend, wie dasselbe fördernd sind', wie das bei jenen Gemeinden im Kleinen stattfindet,
so lange sich letztere vom
Cliquenwesen frei halten. — Nicht das hat die Kirche gespalten und
wird sie schädigen, daß sich der Deutsche vom Deutschen, der lutherisch
Gerichtete von dem Lutherischen, der Reformirte vom Reformirten u.s. w.
angezogen fühlt und sich näher an ihn anschließt: in der Ordnung und soll so sein.
ist das,
das ist vielmehr
Sondern Sünde und Spaltung
daß sich der Bruder vom Bruder reißt;
und je nach der
Temperatur der Zeit entweder fanatisch haßt oder vornehm bemit leidet jeden, der kein „Lutheraner" rc. ist. — 3) Andererseits hat sich die kirchliche Einheit auch nicht mit
Die christliche Kirche.
Ihre Einheit.
379
Aufrechterhaltung des äußern Friedens, daß sich die Christen
nicht „untereinander beißen und fressen" (Gal. 5, 15),
oder „Toleranz"
dung"
zu begnügen.
mit „Dul
Bloße „Toleranz",
wenn
nicht mehr geleistet und gefordert werden soll, ist sogar etwas Ent würdigendes
und (was
einst ein vielbewunderter Wortführer der
streng kirchlichen Partei von
unternommen hat)
überhaupt zu beweisen
der Toleranz
dem Evangelio Widerstreitendes.
etwas
dings nicht aus dem von ihm geltend gemachten Grunde,
Aller daß sie
dem Christenthum etwas vergebe und zu viel gewähre; sondern, weil sie unterchristlichen Motiven entstammt und
Abgesehen
davon,
wenig leistet.
zu
verabscheuenswürdige pharisäische Hoch
welcher
muth, andererseits, welche religiöse Gleichgültigkeit, beziehungsweise, wie
Mattherzigkeit
viel
und Charakterschwäche sich
„Duldung" verbergen kann:
hinter
dieser
was ist es doch für ein Miserables,
wenn man von den Christen nichts weiter verlangt, als daß Brüder in Christo sich nicht wegen abweichender Ansichten die Köpfe ein
schlagen, aus dem Lande jagen oder als Ketzer verbrennen. Freilich hat die Christenheit Jahrhunderte gebraucht,
um auch
nur dieses
einzusehen; und, ginge es nach gewissen Leuten, und hätten dieselben als sie Lust haben,
so viele Macht,
man
würde es noch heute nicht —
denke nur an Tyrol — an Verfolgungen fehlen.
und mehr von ihm zu fordern, mitleidige Duldung. zu geben hat,
Trotzdem
der Christ hat dem Christen mehr zu gewähren
bleibt es dabei:
als vornehm herablassende oder
Was er in Anspruch zu nehmen, und was er
ist brüderliche Anerkennung.
der Gemeinde ist in Deutschland
In den Gliedern
die Geneigtheit zu solcher Aner
kennung nicht bloß bei Evangelischen, sondern auch bei Katholischen in weiten Kreisen bereits vorhanden, und damit Großes und Herr
liches vorbereitet. gegenseitig
Doch erst,
wenn die Kirchen
dieselbe entgegen tragen,
als solche sich
wird auch bei uns die erste
Stufe kirchlicher Einheit erstiegen sein. 4) Ein zweites, was unerläßlich zur Einheit der Kirche gehört, ist,
was wir das allgemeine kirchliche Bürgerrecht nennen
möchten (Ephes. 2, 19):
daß jeder Christ,
welcher Besonderheit er
auch angehöre, in jeder christlichen Gemeinde als ein „Hausgenosse
Gottes"
ausgenommen und
nicht bloß
aus Gnaden und als ein
380
2. Hauptstück.
Dritter Artikel.
Christ zweiter Klasse, sondern von Rechts wegen und als ein Bruder zu allen kirchlichen Handlungen zugelaffen werde, an denen er seiner
seits mit christlichem Gewissen Theil nehmen kann. — Natürlich daß er sich dabei in die in der Gemeinde bestehenden Ordnungen zu fügen hat, und nicht verlangen darf,
daß seinetwegen geändert
werde, was den religiösen Bedürfnissen jener entspricht.
noch viel,
Es fehlt
daß dieser Grundsatz selbst in der evangelischen Kirche
die ihm gebührende Würdigung finde: aber das traurigste Zeichen
der Zeit und ein unwiderleglicher Beweis des wiedererwachenden Fanatismus ist doch, daß, während bereits 1630 — zur Zeit des
dreißigjährigen Krieges — die reformirte Synode zu Charenton beschloß, Lutheraner unbeschadet ihres Lutherthums zum Abendmahl zuzulassen, neuerdings bairische, mecklenburgische, hannoversche, ja
selbst preußische Lutheraner in der unirten Landeskirche es für fromm halten, Reformirte und Unirte vom „lutherischen" Abendmahle,
das somit nicht mehr das Abendmahl „des Herrn" sein soll, aus zuschließen. 5) Endlich gehört zur Einheit der Kirche nothwendig irgend
welche gliedliche Verbindung der verschiedenen Kirchen unter einan der (Eph. 4, 15. 16), durch welche Geist und Gaben derselben nicht
bloß — wie das jetzt selbst innerhalb der evangelischen Kirche fast ausschließlich der Fall ist — auf dem Wege der Litteratur oder durch gelegentliche Besuche Einzelner oder wohl gar nur durch gegenseitige
Bestreitung einander zugeführt werden, sondern durch welche ein geord neter Zusammenhang und dem entsprechende regelmäßige Einwirkung
aller Kirchen auf jede und jeder auf alle ermöglicht wird.
Hierfür
ist bis auf allerkümmerlichste Anfänge in neuerer Zeit (das Zusam
menwirken der englischen Episcopal- und der preußischen Landes kirche bei Aufrichtung und Besetzung des evangelischen Bisthums zu
Jerusalem — die Eisenacher Konferenz) seitens der Kirchen noch gar nichts gethan; nur einzelne freie Vereine, Missionsgesellschaften, Bibelgesellschaft,
Gustav-Adolf-Verein, von denen namentlich
der
letztere Außerordentliches zur Einigung zunächst der Deutschen, weiter
aber auch der Evangelischen in Frankreich, Schweiz, Holland, Ungarn,
Türkei, ja bis über das mittelländische Meer und den Ocean hinaus gewirkt hat: nur diese stehen als Propheten einer bessern Zeit, wie
Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).
als Mahnung
381
an das, was schon jetzt auch von den Kirchen ge
schehen sollte und könnte, da. — Denn alles dieses (unter 3. 4. 5)
Ausgeführte ist ja möglich, sobald sich dieselben nur sämmtlich von
dem sündigen Hochmuth und der Lieblosigkeit und der Faulheit zu Christo bekehren. —
II.
Heiligkeit der Kirche.
1) Gegen
das Prädikat der Heiligkeit
findet bei uns Evan
gelischen allgemein große Voreingenommenheit statt, weil wir dabei von der römischen Kirche her sofort, sei es an den heiligen „Klerus", sei es an die „unfehlbare" Kirche, sei es an beides, denken.
Aber
beides sind doch nur Entstellungen, welche sich an die Wahrheit an gehängt haben. —
a) Was das erstere,
die besondere Heiligkeit des Klerus,
be
trifft, so brauchen wir eigentlich nur zu erinnern, daß wir ja nicht sprechen:
„Ich glaube heilige Mönche, Nonnen,
Priester,
Papst",
sondern; „ich glaube eine heilige allgemeine christliche Kirche"; und
innerhalb
derselben mit der Schrift das
allgemeine Priester-
thum aller Christen behaupten (1 Petri 2, 9).
Dessenungeachtet ist
es nöthig, noch weiter auf die Sache einzugehen, weil sich trotz des
tiefgewurzelten Abscheus gegen „heiliges Priesterthum" und des noch größeren gegen „Pfaffenthum"' auch unter uns noch unbewußt ein starker Ueberrest der römischen Anschauung erhalten hat,
daß wir es wollen,
der, ohne
selbst ohne besondere Verschuldung der so Ge
scholtenen, immer wieder jenes Pfaffenthum, das wir hassen, erzeugt und auch sonst die Gesundheit des kirchlichen Lebens und die Sitt
lichkeit gefährdet.
Es zeigt sich
dieser katholische Sauerteig theils
schon in der — gang und gäben meist ganz unbefangen gebrauchten
— Bezeichnung der Prediger als der „Geistlichen"; als wenn nicht alle Christen den Geist Christi haben müßten, hat,
„der ist nicht sein" (Röm. 8, 9):
und wer ihn nicht
theils aber und noch mehr
tritt er hervor in der Rede, die man alle Tage selbst von ganz Ver ständigen und sonst Grundevangelischen hören kann: „dies und das,
was sich doch für jeden andern ehrlichen Christen, insbesondere auch für die so Urtheilenden schicken soll,
schicke sich für einen Prediger
nicht." — Das ist eine grundverderbliche Rede,
welche von vorn
2. Hauptstück.
382
Dritter Artikel.
herein die Amtsträger der Kirche, insbesondere die Verkündiger des göttlichen Wortes in eine schiefe und absonderliche Stellung drängt,
ihnen wider Willen eine höhere Würde und größere Heiligkeit aus-
nöthigt, und, da schließlich doch niemand heiliger sein kann,
als
jeder Christ sein soll, selbst Redliche öfter verleitet, ihre besondere
„geistliche" Würde eben in allerhand Absonderlichkeiten des Betra gens, der Kleidung, selbst des Tonfalls und, was dergleichen noch
mehr ist,
zu suchen.
Da ist aus das Schärfste zu betonen, daß,
was sich für den „Geistlichen" nicht ziemt, sich für keinen ernsten und gesetzten Christen schicke; und wieder, daß, was sich für einen
solchen schicke und
bei ihm nicht die Mannes- und Christenwürde
beeinträchtige — daß das sich auch mit der Amtswürde vertragen
werde.
Nur, daß der Amtsträger als der zur Wirksamkeit in wei
terem Kreise Berufene im verstärkten Maße die Pflicht hat (die übrigens jedem in seinem Kreise gleichfalls obliegt) die Schwachen zu tragen und niemandem muthwillig Aergerniß zu geben; und sich
überall zu fragen:
nicht bloß,
was erlaubt ist, und wozu er ein
Recht hat, sondern, was erbaut, und was frommt (1 Kor. 10, 23. 24. 32; Röm. 14, 1 f.; 15, 1. 2).
—
Mit
soll von dem Geistlichen nicht mehr fordern,
einem
Worte:
man
als daß er sich ge
wissenhaft bemühe, in allen Stücken und in jeder Beziehung ein
rechter
Mann und Christ zu sein. 'Andererseits, was man
von
dem Geistlichen als von dem, der für alle Vorbild und Muster sein
das sollen alle je nach der Weise, welche durch Alter,
soll, heischt:
Geschlecht und Lebensstellung bedingt ist, an ihrem Theile auch thun.
Das,
nicht raisonniren, ist das „allgemeine Priesterthum"
(1 Petri 2, 9). b) Daß die „Unfehlbarkeit" der Kirche, keinen Grund und
Boden der Schrift unter sich habe, braucht für einen Evangelischen nicht erst bewiesen zu werden. — Aber sie ist auch in sich selbst ein Widersinn. sind
und
Wo (auch nach römischer Lehre) alle Einzelnen Sünder des Ruhmes
ermangeln,
den
sie an Gott haben sollten
(Röm. 3,23f.); wo selbst die „Säulen der Kirche", die hohen Apostel, bekennen, „daß sie's noch nicht ergriffen hätten oder schon vollkommen
wären", und „sich selbst verführen würden, wenn sie sagten, sie haben
keine Sünde"
(Philipp. 3, 12s.;
1 Joh. 1,8;
1 Tim. 1, 15. 16):
Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).
383
da giebt es doch nichts allem gesunden Denken Widersprechenderes, als behaupten,
daß
dessenungeachtet die Gemeinschaft aller dieser
insgesammt Sündigen und Unvollkommenen nicht sündig und fehl bar, sondern sündlos, heilig und unfehlbar sei.
Das ist doch gerade,
als wenn einer sagte, er habe zwar vom Scheitel bis zur Sohle nicht
ein gesundes Glied, sondern alles sei krank und thue ihm weh, trotz
dem aber sei sein Leib kerngesund. — Das ist auch der Grund der Verlegenheit,
in welche die römische Kirche stets geräth, so wie sie
angeben soll, wo eigentlich in ihr der Sitz, und wer der Träger und
dieser von ihr in Anspruch genommenen Unfehlbarkeit
das Organ
sei.
In der Regel wird der Papst dafür angesehen.
schismatische,
nicht bloß
andere sind
sondern auch
Aber es hat
ketzerische Päpste
gegeben;
abgesetzt worden; des lästerlichen Privatlebens
einer
ganzen Reihe von Päpsten gar nicht zu gedenken. — Desgleichen
haben
die Concilien,
auch
sogenannte ökumenische, vielfach geirrt,
und eins dem andern widersprochen. — Das Uebelste aber ist, daß die römische
Besserung
Kirche
durch
diesen
Anspruch
an
ernstlichen
jeder
ihrer selbst gehindert wird, und genöthigt ist, nicht nur
für die Gegenwart das Bedürfniß derselben zu leugnen, sondern auch für die Vergangenheit jedes Unrecht,
Missethat zu beschönigen
und,
das
sie begangen,
wie einen ewigen Fluch,
hundert zu Jahrhundert mit sich herumzuschleppen.
und jede
von Jahr
So bleibt sie, so
lange sie unfehlbar sein will, wie sie ist; bis sie mit diesem Dogma — oder im Laufe der Zeiten — in ihr selbst bricht. —
Um so wichtiger ist es, in der evangelischen Kirche es als einen schlechthin unveräußerlichen Satz festzuhalten:
daß es
in dem ge
lammten Gebiete der Kirche, wie keinen Menschen, so auch kein Amt noch irgend eine Stelle gebe,
die nicht sehlbar wären.;
und denen
darum nicht in geziemender Weise, und zwar von einem jeden Gliede
der Kirche, welches den Fehl erkannt zu haben glaubt, widersprochen werden dürfe; ohne daß die betreffende Person oder Stelle ein Recht
hätte, in einem derartigen Widersprüche eine Durchbrechung der kirch lichen Ordnung zu sehen, oder sich selbst in ihrer Würde verletzt zu
fühlen.
Und daß, wo irgend eine Person oder Stelle in der evan
gelischen Kirche sich praktisch die Stellung giebt (denn theoretisch wird es keine wagen), daß sie immer Recht haben müsse, und dem-
2. Hauptstück.
384
Dritter Artikel.
gemäß jeden, auch den bescheidensten Widerspruch gegen sie als ein
Attentat gegen das „Amt" oder gegen das „Kirchenregiment" an daß da die evangelischen Grundsätze verlassen, und das
sehen will:
„Papstthum" in feiner schlimmsten Gestalt hergestellt ist.
2) Um das Prädikat der Heiligkeit zu verstehen, muß man sich
erinnern,
daß dasselbe in der h. Schrift zunächst den einzelnen
Gläubigen beigelegt wird! Wie ist es da gemeint? „Heilig" bezeich net an erster Stelle das von dem gewöhnlichen Gebrauche Ausgeson
derte, das Gottesdienstliche. übertragen,
stellt es
In diesem Sinne auf die „Gläubigen"
die Christen als die von der Welt Ausgeson
derten, „Auserwählten", zu Gott in besondere Beziehung Gestellten
(„Heilige und Geliebte Gottes") dar.
„Heilig" ist sodann, was der
Sünde entnommen,
vollkommen ist.
sittlich rein und
In diesem
Sinne ist streng genommen nur einer heilig: Gott, der da spricht:
„ich bin heilig, ihr sollt auch heilig sein;" und der, welchen er uns zur Heiligung gesandt hat, werden Heilige genannt:
I. Christus.
Aber auch die Christen
„Ihr seid das auserwählte Geschlecht,
das Königliche Priesterthum,
das heilige Volk," weil sie in dem
Glauben an Christum ein Leben empfangen haben, welches über die sündige Welt hinausliegt, welches die Welt nicht kennt noch zu geben
vermag.
„Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch;
nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt" (Joh. 14, 27). — Um ein auch in der Schrift nicht ungewöhnliches Bild zu brauchen: ein Christ gleicht einem Baume (Matth. 7,17s.), welchen der Herr des Wein
bergs (Mark. 12, 1) aus der Wildniß ausgehoben („auserwählt") und in den Weinberg gepflanzt und auf ihn durch Wort und Sa krament
Christum
„gepfropft"
hat.
Welcher Baum
nun
dieses
„Edelreis" „annimmt", der ist von demselben Augenblicke an nicht
etwa schon ein vollkommner, ja nicht einmal ein fruchttragender Baum, sondern im Gegentheil ein schwaches, dünnes, oft wohl gar
ein schiefes und krummes Bäumchen, das noch viel Pflege braucht,
das beschnitten und gebunden und gerichtet werden muß: aber es ist
„ächt" und ein Baum „des Wohlgefallens": weil es mit dem Edel reise, mit dem
es verwachsen ist,
Trieb angenommen hat,
seiner Zeit.
edlen Saft und Kraft und den
aus dem es die rechten Früchte bringt zu
So ist der Christ „heilig", well er in der Hingebung
Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).
385
an Christum das Leben Christi in sich ausgenommen hat, aus dem heraus und in das hinein er täglich mehr und mehr wächst'). In
demselben Sinne („gleichwie") ist die Kirche heilig.
ist es ihrem Ursprünge nach,
Sie
sofern sie nicht das Produkt natür
licher menschlicher Entwicklung, Wissens oder Könnens, sondern von
dem h. Geiste „berufen" u. s. w., eine Schöpfung des Geistes Christi ist. — Sie ist es aber auch wegen des Waltens dieses Geistes in
ihr
als dem
Sitze und
der Trägerin des
in Christo der
Menschheit eingesenkten Lebens, das sich nun von ihr aus in die Welt
ergießt
und
dieselbe nach
allen Verhältnissen mehr
und
allen Richtungen hin und in
durchdringt und
mehr
Sauerteige durchsäuert (Matth. 13, 33).
vollkommen wäre.
gleich
dem
Nicht, daß sie darum schon
Im Gegentheil, auch sie „trägt diesen Schatz in
irdischen Gefäßen" (2 Kor. 4, 7), und „ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" (1 Joh. 3, 2); ja, häufig ist sogar die „Welt" in sie eingedrungen
Andererseits
und hat das ihr eigenthümliche Leben verdunkelt.
jedoch ist sie selbst in ihren dunkelsten Zeiten niemals
ganz von dem Geiste Christi verlassen gewesen, sondern hat in dem
Worte und Sakramente des Herrn,
wie in dem geweckteren Leben
einzelner geförderter Christen immer noch die Quelle und die Mittel
und die treibenden Kräfte bewahrt,
durch welche sie danach wieder
zu reinerem Leben erweckt worden ist, und unaufhaltsam dem Ziele
der Heiligkeit zuschreitet, zu dem sie berufen ist (Ephes. 5, 27). — 3) Auch die Bedingung,
um dies Ziel zu erreichen, ist die
selbe für die Kirche, wie für den Einzelnen.
Wo Paulus den be
kannten Ausspruch thut: „Nicht, daß ich es schon ergriffen hätte, oder schon vollkommen wäre, ich jage ihm aber nach, ob ich es auch er
greifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin" — da
') Man vergleiche von hier aus, was über „die Gerechtigkeit allein aus dem Glauben" gesagt ist. Wenn einer nur glaubt! Wenn ein Bäumchen nur annimmt! Aber was liegt in diesem „nur" nicht alles? Nicht weniger, als vollständige Umwandlung aus der wunderbaren Kraft, die Gott in das Edel reis gelegt hat. — An sonstige Vergleichungspunkte, daß der zu veredelnde Stamm mit dem Pfropfreise verwandt sein, desgleichen, daß er im Safte stehen und
Triebkraft haben muß, wollen wir nur nebenbei erinnern. aber sie machen anschaulich, worauf es ankommt. — tzltester, ^Materialien. 2. Auflage.
Sie beweisen nichts,
25
2. Hauptstück.
386 fügt er hinzu:
Dritter Artikel.
„wie viele unser vollkommen sind,
die lasset uns
also gesinnt sein" (Phil. 3, 12—15). Da hat er also als die eigent
liche christliche Vollkommenheit das erklärt,
daß der Christ in dem
Bewußtsein, noch nicht vollkommen zu sein, unablässig nach Voll kommenheit „sich strecke".
Dasselbe führt Luther in seiner Erklärung
der Taufe aus: was bedeutet solches Wasfertaufen? „Daß der alte Adam durch tägliche Reue und Buße in uns ersäufet werde und
täglich herauskomme ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe."
Darauf hat endlich schon Christus
gedeutet, als er die Fußwaschung vollzog und dabei sprach: „auch,
wer gewaschen sei, bedürfe,
daß er sich die Füße wasche," und —
„werde ich dich nicht waschen, hast du kein Theil mit mir" (Joh. 13, 1f.).
Die Heiligkeit des Christen besteht in seiner Bußfertig
keit; d. h. nicht darin, daß er einmal, oder auch, daß er ab und zu Buße thut, als vielmehr in der Bereitwilligkeit, mit der er sich täg
lich und immer wieder und mit allem, was in ihm ist, in die rei nigende Fluth des Wortes eintaucht und sich die „Füße waschen läßt".
So beruht auch die Heiligkeit der Kirche wesentlich auf stetiger Reformation.
Richt auf einer einmaligen, oder einer stoßweise ab
und zu wiederkehrenden, oder theilweisen: sondern darin, daß der Grundsatz der Reformation in sie ausgenommen, und sie bereit und
so organisirt ist, daß an ihr jederzeit „Fußwaschung" vorgenom
men werden könne.
Es ist ein großer Irrthum, wenn man nur die
Reinigung und Erneuerung
Reformation hält.
der Kirche im XVI. Jahrhundert für
Reformation, die Nothwendigkeit, der Trieb, der
Ruf nach ihr, nur nicht die Bereitwilligkeit, sich dieselbe gefallen zu lassen —: ist so alt, wie die Kirche. Im XVI. Jahrhundert endlich brach dieser Trieb sich Bahn: die evangelische Kirche wurde geboren. Aber es wäre ein arges Mißverständniß, wenn man mit dieser ein maligen „Reformation" die Reformation für abgemacht hielte (auch, „wer gewaschen ist, bedarf, daß er die Füße wasche" —), oder, wenn
man zwar die Nothwendigkeit fortwährender Reinigung zugestehen, aber dieselbe begränzen und von vorn herein auf gewisse einzelne
Seiten oder Punkte beschränken wollte. wenn der Christ erklärte:
Das wäre gerade, als
diese und diese und diese Seite meines
Lebens bin ich bereit, an Gottes Wort prüfen zu lassen und, wenn
Heiligkeit der Kirche (nicht Unfehlbarkeit).
387
ich bei solcher Prüfung Unvollkommnes finde, davon abzulassen.
die andern dagegen soll mir niemand,
An
auch nicht das Wort Gottes
rühren; denn da weiß ich, daß ich vollkommen bin.
So ist auch die
Reformation des XVI. Jahrhunderts nicht verfahren.
Sie hat der
Prüfung an Gottes Wort keinerlei Gränzen gesteckt; sie hat vielmehr unbedenklich und unverzagt ihre bessernde Hand an alles gelegt, was
sie als der Besserung daß
bedürftig erkannte; und ausdrücklich erklärt,
sie auch die drei alten ökumenischen Glaubensbekenntnisse, die
sie unverändert stehen ließ, nur darum anerkenne, weil sie dieselben mit dem Worte Gottes in der Schrift übereinstimmend finde.
„Daraus folgt,
heiten,
daß weder das Alterthum, noch die Gewohn
noch die Menge, noch die Weisheit der Menschen,
noch
die Urtheile, noch die Befehle, noch die Edikte, noch die Beschlüsse, noch die Kirchenversammlungen, noch die Erscheinungen, noch die
Wunder dieser h. Schrift entgegengesetzt werden dürfen, vielmehr alles nach ihr geprüft, geordnet und gebessert werden muß.
In
Folge dessen nehmen wir auch die drei Symbola, das Apostolische, Mcänische und
Athanasianische an, weil sie mit
dem
Worte
Gottes übereinstimmend (Confessio Gallicana). In gleicher Weise hat sie auch ihr eigenes Bekenntniß erneuter Prü
fung an dem Worte Gottes
unterstellt,
und sich erboten,
dasselbe,
wo sie aus Gottes Wort des Bessern belehrt würde, zu bessern:
„Zuletzt wollen wir dieses unser Bekenntniß dem Urtheile heiliger
biblischer Schrift unterwerfen und nns erboten haben, wenn wir
aus der genannten h. Schrift eines Bessern berichtet werden, daß wir jeder Zeit Gott und seinem heiligen Worte mit großer Dank sagung gehorchen wollen" (Baseler Bekenntniß 1532).
So ist unsere Kirche entstanden, die „evangelische":
weil sie
sich allein auf das Evangelium gründet, in allen Stücken dem Evan gelia gehorcht,
nichts, als das Evangelium, will.
Nur, wenn sie
diesen Grundsätzen treu bleibt, wird sie bleiben, was sie ist, und wie
sie sich nennt; nur unter der Bedingung stetiger Besserung ihrer selbst wird sie vor den gewaltsamen Erschütterungen und der Noth
wendigkeit, mit der bisherigen Entwickelung
zu
brechen, bewahrt
bleiben, die sich früher oder später unausbleiblich einstellen, wo der
25*
2. Hauptstück.
388
Dritter Artikel.
Trieb nach Reformation zurückgedrängt
wird,
oder wo nur theil-
oder ruckweise reformirt werden soll. — III.
Die Allgemeinheit.
1) Das Prädikat der Allgemeinheit bezeichnet die Bestimmung
der Kirche, die allgemeine zu werden, das gesammte menschliche Ge schlecht in sich aufzunehmen.
Diese Bestimmung ist dermalen schon
ebenso wenig verwirklicht, als die Kirche bereits die eine und reine, sittlich voükommne ist.
Wir „glauben" die eine heilige allgemeine
christliche Kirche; aber dieser Glaube, welcher wesentlich mit unserm
Glauben an Christum, als den Erlöser der Welt,
das Haupt der
Menschheit, zusammenhängt, bürgt uns, daß die Bestimmung einst
werde verwirklicht werden.
Christus ist nicht bloß für ein Volk, eine
Zeit,, eine Bildungsstufe, sondern schlechthin für alle gekommen: darin liegt, daß auch alle zu ihm kommen, alle in seine Gemeinde eingehen sollen. Oder: das Christenthum ist nicht bloß eine Religion, wie die andern, sondern die Vollendung der Religion: daraus ergiebt
sich, daß es, wie den Drang, so auch
die Fähigkeit besitze,
alle
Menschen und alles Menschliche in sich aufzunehmen, wie von ihnen ausgenommen zu werden.
Bestritten kann das auch nur von denen
werden, die entweder das Christenthum nicht für die vollendete Re
ligion halten, oder überhaupt Religion nicht als etwas dem Menschen
Wesentliches ansehen. 2) Das Ziel der Allgemeinheit, welchem die Kirche zustrebt, wird erreicht theils durch die an den Gränzen des Christenthums
sich mehr von selbst vollziehende, theils durch die ausdrücklich beab
sichtigte und mit eigens hierauf gerichteter Anstrengung vor sich gehende Ausbreitung des
Christenthums:
letztere die Missions
thätigkeit der Kirche im engern Sinne. — Auch diese ist im Grunde so alt, wie das Christenthum.
Schon die Apostel „gingen hin in
alle Welt und lehrten alle Völker"; vollends ward Paulus ganz, wie
unsere Missionare, von der Gemeinde zu Antiochia zu Missions zwecken ausgesandt (Apostg. 13, 1f.). — Auch zu unsern Vätern ist
das Christenthum auf dem Wege der Mission gekommen.
Ucberhaupt
hat Missionsdrang und Missionsthätigkeit eigentlich niemals in der Kirche aufgehört: ob
sie gleich sich nicht immer auf gleicher Höhe
Allgemeinheit der Kirche.
389
gehalten haben; entweder, weil das Leben in der Kirche überhaupt matter war, oder auch, gaben zu lösen hatte.
weil die Kirche augenblicklich andere Auf
So hatte z. B. die reformatorische Kirche noch
so viel mit ihrer eignen Befestigung und Ordnung zu thun, daß sie
unmöglich an Ausdehnung ihrer Wirksamkeit unter den Heiden denken konnte. Kaum aber war sie einigermaßen zur Ruhe gekommen, als auch in ihr die missionirende Thätigkeit wieder erwachte. Gegen wärtig giebt es wohl kaum eine kirchliche Denomination, in welcher
nicht Gesellschaften und Anstalten zur Verbreitung des Christenthums unter Heiden, Muhamedanern und Juden beständen. 3) Wie die Mission darauf beruht,
daß Christus der Erlöser
der Welt ist, so kann und wird sie nur in dem Maße zum Ziele
führen, in welchem immer lauterer und reiner Christus allein verkündet, andererseits Christus in allen Gestalten bereitwillig anerkannt wird.
Denn nur e r, nicht die Systeme, welche über ihn
und neben ihm gebaut sind,
geschweige die Entstellungen und Ver
dunklungen vermögen die Menschheit zu beseligen: andererseits, wo e r nur von einem menschlichen Gemüthe lebendig ausgenommen ist, da theilt er diesem Gemüthe, diesem Volke seinen Frieden mit und" gießt seine Fülle aus, welche Gestalt er auch in ihnen angenommen hat. — Das war der Fehler der eifrigen, aber engherzigen Partei
in der apostolischen Kirche, welche dem Apostel Paulus so viel zu
schaffen machte, daß sie den Heiden nicht Christum allein, sondern allerdings Christum, aber daneben noch das ganze „Gesetz" brachte,
und von den Bekehrten nicht bloß Glauben d. i. christliche Gesinnung und Gesittung, sondern auch Beschneidung, mit einem Worte JudenChristenthum forderte. Und das war der Grund, warum Paulus,
obschon er ihre persönliche Berechtigung anerkannte, ihren Forderungen so unnachgiebig widerstand.
Hätten sie Recht behalten, nimmer wäre
das Christenthum zu seinem Rechte gekommen, nimmer die Religion „der Völker" geworden; sondern wäre eine jüdische Sekte geblieben,
als welche es Inden und Heiden anfänglich erschien; und als solche verkommen, wie denn in der That diese judenchristlichen Nazarener, Ebioniten u. s. w. sämmtlich verschollen hat man aber meist bei Ausbreitung
und begeht ihn noch heute.
sind. — Denselben Fehler
des Christenthums begangen
Selten hat man sich begnügt, den Hei-
2. Hauptstück.
390
Dritter Artikel.
den nur das Christenthum zu bringen, sondern man hat sich bemüht, sie in eine bestimmte Form desselben einzuzwängen, sie vor allem zu
römischen, aber auch zu lutherischen, anglikanischen, methodistischen
u. s. w. Christen zu machen.
Es liegt auf der Hand, daß in dieser
Weise das Ziel der Allgemeinheit der Kirche gewiß nicht erreicht
werden wird.
Abgesehen von dem Gräuel, daß noch heute römische
Priester mit List und Gewalt in schon ganz christianisirte Länder sich
eindrängen und die Bekehrten mit Hülfe französischer Kanonen um
bekehren, und auch evangelische Missionen sich gegenseitig die Neu bekehrten abjagen (Matth. 23, 15): so leuchtet ein,
daß selbst bei
redlichem Verfahren das einseitige Geltendmachen einer Weise alle
diejenigen von dem Christenthume sernhalten, beziehungsweise inner halb desselben in die Spaltung treiben müsse, welche für diese Weise
einmal nicht geartet sind, und sie nach ihrem Entwicklungsgänge niemals auch nur werden verstehen.
Man denke nur Hottentotten
und lutherische Lehre von der Allgegenwart des Leibes Christi, über
haupt die Streitfragen der lutherischen und reformirten Theologie! Allerdings vermag niemand Christum anders zu predigen, als er ihn
erkannt hat, und soll es auch nicht.
Aber was jeder soll, ist: in
heiliger Ehrfurcht vor Christo, in welcher Gestalt derselbe auch er
scheine, erstens sich niemals in eines andern Wirkungskreis eindrängen (Röm. 15, 20. 21; 2 Kor. 10, 14—16): sodann auch in seinem eignen Wirkungskreise niemandem sein Christenthum aufdrängen: sondern
allerdings „reden, wie er glaubt," danach aber abwarten, welche Ge stalt das von ihm verkündete Evangelium in den Herzen und in dem Leben seiner Hörer annimmt, und Gott für jede preisen, möge sie
auch von der feinigen noch so sehr abweichen.
Mit einem Worte:
es sollen bei der Mission dieselben Grundsätze verwirklicht werden, welche die Reformation (Besinnung auf das Wesen des Christenthums) und die Union (Einheit in der Mannigfaltigkeit) kennzeichnen. — 4) Das Prädikat der Allgemeinheit hat noch nach einer andern Seite hin seine Bedeutung.
Die eine heilige allgemeine christliche
Kirche will nämlich nicht bloß die Christen aller Orten, sondern auch
aller Zeiten von den Ursprüngen der Kirche an bis zu ihrer Voll endung umfassen.
Es ist ein Strom des Lebens, der sich von der
ersten Erscheinung des Herrn bis zu seiner Wiederkunft mit immer
Sekte und Kirche.
Allgemeinheit der Kirche.
die Menschheit
breiteren Ufern durch
auf Erden",
summte Christenheit
391
Und erst diese „ge
ergießt.
in der die ganze Herrlichkeit des
Herrn entfaltet, und die Fülle aller Gaben des Geistes, die „ganze
Wahrheit" erschienen sein wird, erst sie ist die Kirche Christi, der die Verheißungen gelten: der „Leib" oder, wie sie mit einem andern
Bilde genannt wird, die „Braut des Herrn". was
Alles, was wir oder
sich selbst sonst Kirche nennt, sei es in der Richtung neben
einander,
sei es in der nach einander,
anderes sein wollen,
als
ist nur und darf nie etwas
eine Welle in diesem Strome, ein mehr
oder minder bedeutendes Glied in der Entwickelung dieses Leibes.
Es ist ebenso unkirchlich, wie es ungeschichtlich ist, wenn man irgend eine Zeit,
und
wäre
es
die apostolische
oder die reformatorische,
vollends die unsrige, als wären sie schon das Ganze oder repräsen-
tirten dasselbe, aus diesem Zusammenhänge herausreißt; es ist der
Anfang und der Ansatz zu allem Sektirerischen, wenn man sich gegen irgend eine Zeit oder irgend eine Entwickelung der Kirche vor oder
neben uns abschließt; cs ist die äußerste Anmaßung, wenn ein Theil sich dem Ganzen gleichstellen, eine Kirche sich für die Kirche Christi
ausgeben will; wie solches die römische Kirche von je an gethan hat, aber auch die evangelische
in einzelnen ihrer Denominationen dazu
mehr oder minder starken Ansatz zeigt.
5) Von hier aus läßt sich auch erst der Begriff der Sekte im Unterschiede von Kirche feststcllen.
Regel gefaßt wird,
„Kirche" ist nicht, wie es in der
immer nur die größere,
kleinste Gemeinschaft.
Sekte die kleinere und
Die Zahl trägt zur Kirchlichkeit gar nichts
bei: „wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind, da bin
ich mitten unter euch." erkennung.
Ebenso wenig thut es die staatliche An
Der Staat mag die Sache so ansehen; und demgemäß
die religiösen Gemeinschaften, welche in ihm bestehen, klassifiziren;
die von ihm anerkannten „Kirchen" begünstigen und mit Vorrechten die nicht anerkannten „Sekten" dagegen dulden oder ver
versehen, folgen:
für die religiöse Betrachtung der Sache kann das keinen
Ausschlag geben.
Christus spricht: „Du bist Petrus und auf diesen
Felsen d. i. auf den
Glauben
in
dir lebenden und von dir ausgesprochenen
— nicht aber auf Anerkennung
oder Nichtaner
kennung des Herodes oder Pilatus oder sonst eines von denen,
2. Hauptstück.
392 welche
Gewalt haben,
16, 13 f.; 20, 25f.).
entscheiden. — Was ist
neben
dem
ich
will
Am
Dritter Artikel.
meine Gemeinde bauen"
(Matth.
allerwenigsten aber wird Anmaßung
eine religiöse Gemeinschaft zur Kirche macht,
sich von selbst verstehenden christlichen Gehalte das
Festhalten an dem Zusammenhänge, wie wir ihn dargestellt haben. Was „die Gemeinschaft der Heiligen" sucht, das Walten des Geistes Christi in der „ganzen Christenheit auf Erden" anerkennt, und bereit
ist, in herzlicher Liebe Bruderhand zu reichen und Bruderdienste zu leisten und zu empfangen, das ist Kirche.
wo dieselben nur angenommen werden,
Sekte dagegen ist alles, was sich gegen das Christ
liche außer ihm engherzig, wo nicht gar feindselig, ab- und dasselbe von sich ausschließt.
Es liegt auf der Hand, in welchem Grade nach
diesem Maßstabe alle jetzt bestehenden Kirchen und kirchlichen Par
teien noch an Sektenhaftigkeit kranken; wie aber unter allen diejenige Kirche,
die sich am meisten ihrer Kirchlichkeit rühmt und sich „die
Kirche" nennt,
die römische,
grundsätzlichen. Verwerfung Princip
des
in ihrer starren Ausschließlichkeit und
alles dessen,
was nicht römisch ist, das
Sektirerischen am stärksten an
sich
trägt,
und
am
wenigsten geeignet ist, die „katholische", wie sie sich nennt, d. i. eben die „allgemeine" Kirche Christi zu werden.
Von der Vergebung der Sünde. Unter den Stücken,
welche „der heilige Geist in der Christen
heit mir und allen Gläubigen verleiht", wird zuerst die Vergebung der Sünde genannt. — Derselben
ist im Katechismus
bereits in
einem andern Zusammenhänge in der Erklärung zum II. Artikel ge dacht („erlöst, erworben und gewonnen von allen Sünden" u. s. w.);
und auch wir haben daselbst ansführlich von ihr gehandelt. An dieser Stelle dürfte nur noch hervorzuheben sein,
Geiste zugeschrieben wird, ist.
daß hier dem heiligen
was dort von dem Herrn Christo gesagt
Dies ist in der That bedentungsvoll. 1) was wir gleich Anfangs
als
Darin liegt nämlich:
das Wesen des trinitarischen
Glaubens hervorgehoben haben, daß wir, die wir Jesum „nur" im
Geiste besitzen,
darum nicht ein Haar breit schlechter daran seien,
Vergebung der Sünde.
393
als diejenigen, die ihn iin Fleische geschaut haben.
Denn in diesem
Geiste ist eben er bei uns, und giebt und wirkt dasselbe und zwar seinem eignen Wort in einem größern Umfange und Maße,
nach
was er den ©einigen gab, als er noch leiblich unter ihnen weilte. Darum können und sollen wir diesem Geiste mit demselben Glauben uns hingeben nnd fest darauf vertrauen,
daß,
was Christi Geist
uns sagt und in Wort und Sakrament der Vergebung unserer Sün
den uns vergewissert, das ebenso gewiß sei, unsere Sünde von uns nimmt,
und eben so sicher alle
als wenn der Herr Christus heute
noch leiblich zu uns träte und spräche: „mein Sohn, deine Sünden
sind dir vergeben".
Es wäre denn, daß er unwahr wäre in seinen
das er seinen
Verheißungen und das Wort nicht gehalten hätte,
Jüngern gegeben, daß er ihnen den „Tröster" senden wolle, der sie an seiner Statt in die ganze Wahrheit führen und ihn verklären
werde (Joh. 16, 13 f.).
Nur ist nicht einzusehen,
was einer,
der
solches meinte und diesen Verheißungen Jesu nicht traute, dann noch an ihm hätte selbst, wo er ihn im Fleische zu schauen vermöchte?
Wer trotz dieser Verheißungen Christi zweifelt,
daß Christi Geist
Macht habe, „täglich alle Sünde reichlich zu vergeben",
der würde
wohl noch vielmehr an seiner zeitlichen Erscheinung, dem „Menschen"
Jesus gezweifelt und mit den Pharisäern gesprochen haben: „Wer ist
der, daß
er
Gotteslästerung
redet;
wer kann
Sünden vergeben,
denn allein Gott?" (Luk. 5, 21).
2) Zum anderen liegt darin,
daß die Vergebung
der Sünde
eine geistig vermittelte, nicht eine mechanische — die man einem nur so ansprechen könne — noch eine willkürliche ist.
Sie war bei
Jesu bedingt einerseits durch die aufrichtige Reue und den hingeben
den Glauben an ihn, die er sah (Luk. 5, 20), andererseits durch „die Kraft, die von ihm ausging, zu helfen jedermann" (ebend. v. 17). —
Sie ist
noch heute an dieselben Bedingungen geknüpft.
Wer. sich
Jesu nicht hingiebt, wer sich von ihm nicht von der Sünde „helfen" lassen will, dem wird heute die Vergebung der Sünde ebenso wenig zu Theil, als der Herr sie damals einem solchen würde zugesprochen
haben.
3) Ebenso beruht die Gewißheit der Vergebung lediglich auf dem Zeugniß des Geistes in uns.
Namentlich um diese handelt es
394 sich.
2. Hauptstück.
Dritter Artikel.
Es wird weniger in Zweifel gezogen, daß noch heute vollkräf
tige Vergebung möglich sei;
als vielmehr,
wie man gewiß werden
möge, daß „ich", „ich" derselben wirklich theilhaft sei.
Die Sehn
sucht nach dieser Gewißheit hat schon manchen in die römische Kirche getrieben, die ihren Priestern bekanntlich auf Grund von Joh. 20, 23
die M acht zuschreibt,
die Vergebung
Christi Statt („richterlich") in
theilen;
an Gottes und
der Sünde
durchaus zweifelloser Weise zu er
andere hat sie bewogen, in der evangelischen Kirche wieder
allerhand katholisirende Absolutionsformeln einzuführen.
Aber zuerst
ist in der Stelle Joh. 20 doch nur von den Aposteln,
in wciterm
Umfange von Jüngern Christi, in keiner Weise von römischen Prie
stern die Rede.
Sodann ist selbst den Aposteln die Verheißung nur
bedingungsweise ertheilt.
„Nehmer hin den h. Geist:
was ihr in
diesem Geiste vergebet, das ist vergeben; was nicht, nicht." Gerade,
wie einst (Matth. 16,13f.) dem Petrus, da er im Namen aller seinen Glauben an I. als den Christus bekannte, — bedingungsweise —
verheißen war:
„du bist Petrus, und auf diesen Glauben will ich
meine Gemeinde bauen (vergl. Apostgsch. 2, 14f.), und soll, was du in diesem Glauben lösest, auch im Himmel gelöset, was du in ihm
bindest, auch droben gebunden sein"
fvergl. Apostgsch. 10 (des. v. 47.
48) und 11, und — Gal. 2,11—18:], dagegen demselben Petrus, da
er leidensscheu den Weg des Herrn kreuzen will,
gegen kommt:
„Weiche von mir, Satanas,
denn du meinst nicht,
(Matth. 16, 21 f.).
—
was göttlich,
sondern, was menschlich ist"
Endlich vermag
doch
Christ sich der Absolution seines Priesters als er eben an ihn und an sie glaubt.
wahr eine absonderliche Seelenstellung, Worte zu
die Drohung ent
du bist mir ärgerlich, auch
der katholische
nur insofern zu trösten,
Da ist
es doch aber für-
dem Priester und
seinem
glauben, was man dem Worte und Geiste Christi nicht
glauben kann oder nicht glauben will. — Schließlich bleibt es dabei,
daß ein jeder der Vergebung seiner Sünde, wie überhaupt des Heils, bei sich selbst gewiß werden
muß; was auf eine sichere und nicht
täuschende Weise nur mittelst „des
Geistes
geschieht,
der
unserm
Geiste Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind" (Röm. 8, 16). Vermag einer die Gewißheit, nach der er sich sehnt, in dieser Weise
nicht sofort zu erlangen, weil sein Gewissen lauter schreit, als Gottes
Die letzte» Dinge (Vollendung der Kirche).
395
Geist und Gottes Wort: so hat er die Hülfe nicht im Aberglauben, sondern im Glauben zu suchen, inbetji er die Mittel benutzt, welche
uns dazu gegeben sind,
barer
an
daß sie die Stimme des Geistes vernehm
uns bringen und unsern schwachen Glauben stärken: in
anhaltendem, herzlichem Gebet, in fortgesetztem Umgänge mit Gottes
Wort, im Gebrauch des Sakramentes, namentlich aber auch in dem brüderlichen Verkehr und
dem rückhaltslosen
Ausschütten
unserer
Herzensbedrängnisse gegen diejenigen, denen Gott ein christlich Herz für uns gegeben hat.
Es brauchen das nicht immer solche zu sein,
die unbedingt über uns stehen.
Genug, wenn sie in dem Augen
blicke, da es gilt, die Stärkeren sind und die Freudigkeit des Geistes haben, die uns fehlt: so mögen sie uns wohl in unsern Anfechtungen
ausrichten, obschon wir sonst die geistig Begabteren und Hervor
ragenderen sind. Trost,
Man denke nur an Luther und Bugenhagen.
Der
den wir in solcher christlichen Gemeinschaft und in dem Zu
spruch des Bruders finden, läßt uns erfahren,
daß Christus noch
heute kräftig in seiner Gemeinde waltet und uns gewährt, was wir
bedürfen: andererseits läßt er uns aber auch recht verstehen, was in den Worten des Katechismus liegt:
„in welcher Christenheit er —
der h. Geist — mir täglich alle meine Sünde reichlich vergiebt" u. s. w.
Von den letzten Dingen. In der Erklärung Luther's werden Auferstehung des Fleisches
und ewiges Leben ebenso, wie die Vergebung der Sünden, als Früchte
des heiligen Geistes dargestellt. ausgedrückt ist,
Das ist festzuhalten, sofern dadurch
daß auch diese nicht ein durch bloßes Machtgebot
mechanisch Gewirktes, sondern geistig vermittelt sind: daß Entwicke lung stattfindet.
Für gewöhnlich werden sie unter der angegebenen
Ueberschrift behandelt; und folgen auch wir diesem Gebrauch, da er Gelegenheit bietet, hier noch einmal, als an ihrem eigentlichen Orte, der Vollendung der Kirche zu gedenken, deren die lutherische Er klärung nicht Erwähnung thut. — Das Wesentliche über dieselbe ist
bereits bei der Lehre von der Wiederkunft Christi vorgekommen, ugh
ist hier nur noch Folgendes hinzuzufügen,
2. Hauptstück.
396
Dritter Artikel.
1) Die h. Schrift setzt überall einen organischen Zusammenhang zwischen Leib und Seele, Geist und Natur, Mensch und Erde, end lich zwischen dem einzelnen Menschen und dem menschlichen Geschlechte. Demgemäß kann sie, und mit ihr ein jeder, der auf demselben Stand
punkte steht, gar nicht umhin, ebenso die Vollendung der Kirche oder des Reiches Gottes auf Erden, wie die Vollendung des Einzelnen, als eine geistig-leibliche zu denken; und mit Paulus (Röm. 8,18f.;
1 Thessal. 4, 17) und Petrus (2 Petri 3, 1s.) und den Ahnungen des
schon
Alten Testamentes (1 Mos. 3,17. 18; Jes. 11, 6f.) -
entsprechend der Erneuerung und Verklärung des menschlichen Leibes als der Bedingung für ein höheres Dasein des Einzelnen — auch
auf Erneuerung .und Verklärung
der kosmischen Unterlage des ge-
sammten Geschlechts („auf einen neuen Himmel und eine neue Erde")
zu hoffens. 2) Diese Erneuerung wird vorgestellt als erfolgend durch das
Einschlagen eines neuen Schöpfungsaktes Gottes als des Geistes in
die für diesen Akt reifgewordene, mehr und mehr geistgetränkte Ent wickelung,
durch
welches Einschlagen das inzwischen gewordene hie
und
da zerstreute Gute gesammelt und zu neuem höhern Organis
mus
gestaltet („auferweckt"),
noch nicht überwundene,
in der Natur,
das
in
der bisherigen Entwickelung
noch durch dieselbe zu überwindende, Böse
wie in der Menschenwelt,
ausgeschieden („gerichtet")
werden soll.
3) Dieser Anschauung kommt auch unser sonstiges Denken ent gegen.
Einmal durch die Erwägung,
endung
des
Reiches Gottes
daß,
wenn überhaupt Voll
gedacht werden soll,
diese nicht wohl
anders, als durch einen irgend wie einmal eintretenden Abschluß und
Abbruch der bisherigen mit Sünde behafteten Entwickelung, gedacht werden könne: weil ohne einen solchen Abbruch (ohne Durchbrechung „des Leibes dieses Todes" Röm. 7, 24) im Einzelnen, wie in dem
Gesammtorganismus,
Sünde aufhören stellung
solle.
nicht eiuzusehen ist, wie die Nachwirkung der — Andererseits erhält die altbiblische Vor
einen starken Halt in den Nachweisungen der Wissenschaft
hinsichtlich
der bisherigen Entwickelung
der Erde
durch mehrfache
*) Vergl. den Aufsatz in der Protest. Kirchenzeitung 1858 Nr. 46: „die seufzende
Kreatur".
Die letzte» Dinge (Auferstehung des Fleisches). Katastrophen zu immer
höheren Gestalten,
bis sie endlich zur Er
scheinung des menschlichen Geschlechtes auf ihr reif war.
demnach
dagegen
gesagt
daß
werden,
Kinder Gottes" (Röm. 8, 19) nur
,397
Was kann
auch die „Offenbarung der
nach
und aus einer ähnlichen
Katastrophe werde hervorgehen können? 4) Es ist zu erinnern, daß alles, was über diese Zukunft uns
gesagt ist, prophetischer Natur ist und gleich allem Prophetischen erst
dann wird ganz verstanden werden können, wenn es wird seine Er füllung
gefunden
haben.
Desgleichen, daß auch wir über die über
diese Zeitlichkeit hinaus liegenden Dinge nur in unzutreffenden Bil
dern und Gleichnissen zu
machen,
uns
den Vorwitz
reden
vor Phantastereien dämpfen,
daß
vermögen.
zu hüten:
Das soll uns nüchtern andererseits aber auch
er nicht über diese Andeutungen
der
Schrift abspricht, weil er sie nicht, wie das Alltägliche, versteht. — II. Auferstehung des Fleisches.
1) Dieselbe Warnung ist in verstärktem Maße zu erheben in Be treff der Vorstellungen, welche sich die Menschen über das zukünftige
Leben
der Einzelnen
welche
handgreiflich bewiesen haben will, was sich allein dem Ge
müthe und Gewissen,
machen.
Neben
einer kahlen Verständigkeit,
aber da auch mit unverleugbarer Gewalt er
weist, ist nichts so sehr geeignet die christliche Freudigkeit rücksichtlich
des zukünftigen Lebens zu gefährden,
als
die Ueberschwänglichkeit
und die Phantasiegebilde, in welchen viele in dieser Beziehung ihren Weit entfernt, daß solche Phantasien wirklich trösten,
Trost suchen.
verderben sie mir den Geschmack an dem, was der Seele in der That
Halt und Frieden zu gewähren vermag, und machen, wenn sie — was ja selten ausbleibt — vor dem besonnenen Denken zerfließen,
leicht
auch
an
der ewigen Wahrheit irre.
Gegenüber diesen Ver
suchen, sich ein Bild zu machen von dem, was jenseit dieses Lebens
liegt, und mit dem Morgen umzugehen, als wäre es das Heute, hat sich der Christ einfach auf das ebenso demüthige, wie glaubensstarke,
Wort zurückzuziehen:
„Meine Lieben,
wir sind nun Gottes Kinder,
und ist noch nicht erschienen, was wir sein werden.
Wir wissen aber,
wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden: denn wir
werden ihn sehen, wie er ist" (1 Joh. 3, 2).
398
Dritter Artikel.
2. Hauptstück.
Speziell die Lehre von der Auferstehung angehend, haben wir
uns vor zwei Abwegen zu hüten: Meinung,
einmal vor der weit verbreiteten
als wäre der Inhalt dieser Lehre bereits durch die Vor
stellung von der Unsterblichkeit der Seele erschöpft; andererseits vor grobsinnlichen Auffassung derselben, als sei in der
der rohen und
damit die Auferweckung und Wiederannahme von Haut und
That
Haaren u. s. w., kurzum von Fleisch gemeint. Unsterblichkeit der Seele, so wenig der Glaube an sie —
wie öfter von einer stark sein wollenden Gläubigkeit geschieht —
gering zu schätzen, vielmehr als Keim und Grundlage des Vollkomm-
neren zu achten
und,
wo er sich findet,
als ein Hohes anzusehen
ist —: Unsterblichkeit der Seele ist zunächst ein rein negativer Be
als, daß die Seele nicht stirbt; im
nichts aussagt,
der eben
griff,
übrigen aber alle berechtigten, aus tiefstem Bedürfniß des Glaubens
und der Liebe stammende, Fragen ohne befriedigende Antwort läßt: ja,
der geeignet ist durch seinen Mangel an jeder weitern Bestim
mung beängstigende Fragen hervorzurufen.
Denn unwillkürlich und
immer wieder schließt sich an diese bloß negative Fassung die Vor
eines gegen das
stellung
irdische Leben zurückstehenden, der Fülle
desselben ermangelnden, mehr oder weniger leeren und schattenhaften Daseins an;
wie uns das in den Mythen der Griechen über den
Hades und noch
den „Scheol",
mehr in den traurigen Gedanken der Ebräer über
„in
Merkwürdig und
dem
Gott lobt",
keiner
so recht entgegentritt.
als Ahnung höherer Wahrheit zu beachten ist in
der griechischen Säge der Zug,
daß,
als Odysseus zur Unterwelt
niedersteigt, die Geister der Verstorbenen („die Schatten") erst von
als sie von
dem
Blute des von Odysseus geschlachteten Opferthieres getrunken;
frei
da ab Gedächtniß und Sprache lich, um
wiedererlangen,
auch dann noch zu klagen,
daß selbst ein Achilleus lieber
der Hörige des geringsten Mannes auf Erden, als in der Unterwelt König über alle Schatten sein wolle. der Grieche von
der Ahnung
Ein Zeichen, wie tief schon
durchdrungen war,
daß Fülle und
Kräftigkeit des jenseitigen Lebens nur in neuer Berührung mit dem Leiblichen, in erneuter Leiblichkeit möglich ist.
Dieser Ahnung und Sehnsucht des geängsteten Menschenherzens bringt
die christliche Lehre. von
der Auferstehung volle und ganze
Befriedigung; nur muß sie nicht so in das Grobsinnlichc herab gezogen und entstellt werden, wie es freilich schon früh in der christ lichen Kirche geschehen ist und zu den abenteuerlichsten Vorstellungen und Fragen geführt hat, z. B. ob wir in dem künftigen Leben auch die ausgefallenen Zähne, abgeschnittenen Nägel und Haare u. s. w. wiederbekommen sollen; ja, wie es im Anschluß an die entschieden unrichtige Uebersetzung von Hiob 19, 25—27') selbst in dem sonst so köstlichen und trostreichen Liede „Jesus meine Zuversicht" aus gesprochen wird (v. 5): „Dann wird eben diese Haut mich umgeben, wie ich glaube: Gott wird werden angeschaut dann von mir in die sem Leibe, und in diesem Fleisch werd' ich Jesum sehen ewiglich." Zum Glück ist diese Lehrauffassung nachweisbar eben so unbib lisch, wie sie unvernünftig und untröstlich ist. — In der That widerspricht sie allem vernünftigen Denken. Schon bei dieses Leibes Leben ist das Fleisch in einem beständigen Fluß, streng ge nommen nicht einen Augenblick dasselbe, sondern in einem fort währenden Angebildet- und Ausgeschieden-Werden begriffen. Vollends geht es nach unserm Tode in den allgemeinen Naturprozeß und kraft desselben in immer andere und neue Leiber der Pflanzen, Thiere und auch Menschen über. Die Stoffe, welche während unseres gesammten Lebens, wie im Momente unseres Todes, die Bestandtheile unseres Körpers bilden, sind vordem Bestandtheile von tausend und aber tausend Leibern anderer gewesen und werden es wieder sein: so daß bei dieser Lehrauffassung die Frage, wessen sie in der Auf erstehung der Todten sein werden, noch viel näher liegt, als die der selben Vorstellung entstammende und ihr gegenüber vollkommen be rechtigte Frage der Sadduzäer: „Wessen unter den sieben Brüdern, die nach dem Mosaischen Gesetz einer nach dem andern dasselbe Weib gehabt, dieses Weib nun in der zukünftigen Welt sein werde?" (Matth. 22, 23—30.) Unser Herr entzieht bekanntlich dieser un') Die Stelle heißt (nach de Wette): „Aber ich weiß, daß mein Netter lebt, und zuletzt wird er auf der Erde stehen. Und wenn nach meiner Haut dieses da zerstört ist, auch ohne Fleisch werd' ich Gott schauen:" Was Bunsen erklärt: „Wenn Hiob's Krankheit auf's Aeußerste gestiegen sein werde, so daß er einem
bloßen Gerippe gleicht, also noch vor seinem Tode werde er Gott zu seinem Heile schauen."
widerleglich scheinenden Frage Grund und Boden, indem er die widersinnige Voraussetzung verneint, die ihr zu Grunde lag: als ob das zukünftige Leben nichts, als Fortsetzung und Abklatsch des irdi schen Daseins, sein werde. „Ihr irrt, und wisset die Schrift nicht noch die Kraft Gottes. In der Auferstehung werden sic weder freien noch sich freien lassen, sondern sie sind gleich als die Engel Gottes im Himmel." — Ist schon damit die Identität des zukünftigen Leibes mit diesem fleischlichen Leibe geleugnet: so ist vollends die Lehre des Apostels Paulus von der Auferstehung 1 Kor. 15, 35—57 ein einiger Protest dagegen. Paulus ist so davon durch drungen, daß Fleisch und Blut (und wohl verstanden kann das hier nicht etwa, wie man es deuten möchte, als „Sünde" oder „Hingebung an die Sinnlichkeit", sondern dem Zusammenhänge nach eben nur als Bezeichnung der irdischen Leiblichkeit aufgefaßt werden) — daß diese das Himmelreich nicht erben können: daß er lehrt, daß selbst diejenigen, welche die Erscheinung Christi noch in diesem Leibe er leben würden, nicht anders und nicht eher in die Herrlichkeit ein gehen könnten, als bis sie verwandelt wären (v. 51): ein Gedanke, den er im 2. Korintherbriefe (5, l f.) wiederholt, da, wo er diese Verwandlung des Leibes bei Leben desselben, im Gegensatz gegen das im Sterben stattfindende Ablegen des alten „Kleides" d. i. eben des „Fleisches", unter dem Bilde eines „Ueberziehens" des neuen Kleides über das alte Kleid darstellt. — Dem darf endlich auch nicht das Apostolische Glaubensbekenntniß entgegengehalten werden. Wenn das letztere wirklich der hier auseinandergesctzten Lehre des Herrn, wie des Apostels, in der Schrift widerspräche, so wäre das nur ein Zeichen, daß es abgeändert werden müßte. Denn das Be kenntniß hat sich nach der Schrift, nicht aber diese nach jenem zu richten. Aber es widerspricht nicht! „Fleisch" heißt bekanntlich nicht bloß Fleisch, sondern auch „Mensch", und zwar bezeichnet es den Menschen in der Totalität seines Daseins, nach seiner ganzen vollen Persönlichkeit (Zoh. 1,14; Apostelg. 2, 17 und an vielen Orten). Endlich heißt es, wie schon vorher angedeutet ist: Sünde. Hier ist es offenbar in der zweiten Bedeutung gleich „Mensch" genommen; und ist von jedem der Schrift, wie des kirchlichen Sprachgebrauchs Kundigen zu erwarten, daß er es so und nicht anders nehme. Beleg
401
Die letzten Dinge (Auferstehung des Fleisches).
dazu bilden die beiden andern allgemeinen Glaubensbekenntnisse, das
Nicänische, welches in derselben Zeit entstand, in welcher das Aposto
lische zum Abschluß kam, wie das spätere Athanasianische.
Während
nämlich in jenem der Satz lautet: „ich warte auf die Auferstehung
der Todten", heißt es in diesem:
„Und zu seiner Zukunft müssen
alle Menschen auferstehen mit ihren eignen Seibern." *) —
Was Schrift und Christenthum lehren, ist mit einem Worte: persönliche Fortdauer des Menschen, und zu dem Ende Wieder
bekleidung der Seele nicht mit diesem Fleische — was kann einem wohl an diesem liegen, ja wie untröstlich ist der Gedanke daran für
jeden, der im eigentlichen Sinne die Last „des Leibes dieses Todes" getragen hat — sondern überhaupt nur mit einer neuen Leiblichkeit; oder nach dem Ausdrucke des Apostels, „daß wir auch, wo wir ent kleidet würden,
darum
Damit
5, 3).
sind,
nicht bloß erfunden werden sollen" (2 Kor.
ohne dem Fürwitze Raum zu geben, alle die
Fragen beantwortet, welche
die Lehre von
der Unsterblichkeit der
Seele übrig ließ: ob eine Erinnerung an das Diesseits stattfinden
ob ein gegenseitiges Wiedererkennen möglich sei, und dem
werde,
ähnliche.
In
der Behauptung der vollen Persönlichkeit sind sie in
sich selbst bejaht.
Kommt indeß
diese Lehre nicht ebenfalls
hinaus? In keiner Weise.
auf „das Fleisch"
Zwischen Fleisch und Leib ist ein Unter
schied, wie zwischen Stoff und Kleid, Kalk und Haus (2 Kor. 5, lf.).
Es giebt leinene, wollene, Es
aber auch seidene und brokatne Kleider.
giebt Häuser von Erde und
So giebt es
auch Leiber
andere von Marmor oder Eisen.
nicht nur von Fleisch („Ihr wisset die
Schrift nicht, noch die Kraft Gottes".
Matth. 22,29), sondern auch
von Licht und Luft und Aether und Sonnenstrahlen.
Die Meinung
ist: Die Seele hat sich hienieden ihren Leib aus den Stoffen ge-
*) So sagt auch Luther im großen Katechismus (Bodemann:
„Evangelisches
Cvncordienbuch" 313): „Daß aber hie stehet „Auferstehung des Fleisches", ist nicht
wohl deutsch geredet. weiter,
Denn, wo wir Deutschen Fleisch hören,
denn in die Scharren („non ulterius cogitamus,
denken wir nicht
quam de macello").
Auf recht Deutsch aber würden wir also reden: „Auferstehung des Leibes oder des
Leichnams."
Doch
liegt nicht große Macht daran, so man nur die Worte recht
versteht."
Eltester, Materialien. 2. Auslage.
26
2. Hauptstück.
402 woben,
Dritter Artikel.
welche ihr diese Erde darbietet und sich damit das Organ
geschaffen, dessen sie zu eigener Vollkraft, wie zum Wirken hienieden bedarf.
Sie hat
demselben
ihr Gepräge eingebildet
und
in der
groben irdischen Leiblichkeit den Keim künftiger „geistiger" Leiblichkeit
erzeugt, in analoger Weise, wie die Raupe, sich
nimmt,
indem sie Nahrung zu
in sich schon den Leib des Schmetterlings vorbereitet.
Einst wird der Herr diesen Keim beleben.
Von seinem Weckeruf
angeregt wird die Menschenseele das in ihr Schlummernde entfalten und sich, sei es aus den Stoffen, welche ihr die verklärte Erde dar
bietet, aus dieser, sei es sonst wie und wo („in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen", Joh. 14, 2) die neue Leiblichkeit anbilden,
deren auch das künftige Leben zu seiner Vollkräftigkeit bedarf. 2) Keinem
der Schrift Kundigen kann
der Widerspruch ent
gehen, der in den Aussprüchen derselben über das zukünftige Leben stattfindet, daß nämlich einerseits das ewige Leben als ein unmittel bar nach
dem Tode beginnendes,
ja eigentlich als schon hienieden
begonnenes und nie sterbendes dargestellt wird, andererseits die Auf erstehung erst mit der allgemeinen Auferstehung und dem allgemeinen
Gerichte erfolgen soll.
Namentlich in den Reden und Verheißungen
des Herrn tritt fast überall das erstere hervor:
„Ich bin die Auf
erstehung und das Leben; wer an mich glaubt,
wird leben,
gleich stürbe" (Joh. 11, 25);
desgleichen in
ob er
der Parabel von dem
reichen Manne und dem armen Lazarus, die beide unmittelbar nach
dem Tode, der eine in die Seligkeit, der andere in die Verdammniß,
eingehen.
Nicht minder in der tröstlichen Verheißung an den Mit-
gekrenzigten:
Paradiese
„Wahrlich, ich sage
dir,
sein" (Luk. 23, 43); ja,
heute wirst du mit mir im
eigentlich schon in dem Schrift
beweise für die Auferstehung: „Habt ihr nicht gelesen von der Todten Auferstehung, das euch gesagt ist von Gott, der da spricht:
der Gott Abrahams und
der Gott Isaaks und
Gott ist aber nicht ein Gott
(Matth. 22, 31f.). sprüchen des Herrn,
der Todten,
Andererseits fehlt es
ich bin
der Gott Jakobs?
sondern der Lebendigen"
aber auch nicht an Aus
die auf die letzte Auferstehung Hinweisen:
zwar in unmittelbarer Verbindung
mit solchen,
Leben als ein schon seiendes darstellen.
und
welche das ewige
Z. B. „Das ist der Wille
des, der mich gesandt hat, daß, wer den Sohn sieht und glaubt an
Die letzten Dinge (Auferstehung des Fleisches).
ihn,
habe das ewige Leben,
jüngsten Tage" Vollends
werde ihn
und ich
403
auferwecken am
(Ev. Zoh. 6, 40; Bergt 5, 28. 29; Luk. 14, 14).
ist es Vorstellung
der Apostel,
daß die Vollendung des
Einzelnen erst gleichzeitig mit der allgemeinen, bis dahin aber ein
„Schlafen" der Verstorbenen stattfinde. — Dieser Widerspruch oder, wenn man lieber will,
diese Verschiedenheit der Lehrdarstellung hat
an und für sich etwas Beunruhigendes; noch mehr aber ist der Ge danke an den — Jahrtausende währenden — Seelenschlas für viele
außerordentlich quälend.
Bei
der prophetischen Natur dieser Lehr
stücke werden wir natürlich darauf verzichten müssen, vollem begrifflichen Abschluß zu bringen.
die Sache zu
Aber so weit dürsten wir
wohl gelangen, daß wir die endliche Lösung ahnen; jedenfalls über
das Entsetzen wegen des Seelenschlafes hinauskommen. — Wie alles, was wir über den Zustand nach dem Tode und das ewige Leben zu
sagen und auch vorzustellen vermögen, ist auch der Schlaf natürlich Aber bleiben wir selbst bei diesem, was ist an dem
nur ein Bild.
selben Schreckliches? Schrecklich ist nur — unter Umständen — das
Träumen;
Schlaf an sich,
tief und fest in Gottes Hut, im Kreise
der Unsrigen ist süß, und däucht auch, so lange wir gesund schlafen, nicht lang.
Gemeint ist wohl dies: Mit dem Tode des Leibes als
desjenigen Organs, mittelst dessen die Seele mit der Außenwelt zu sammenhängt, tritt für dieselbe ein Zustand verminderter Thätigkeit nach außen ein.
Darum
jedoch ist derselbe weder ein Zustand der
Unthätigkeit, noch ein unfruchtbarer und für ihre fernere Entwicklung verlorener').
Die Thätigkeit der Seele
in verstärktem Grade nach innen. der Außenwelt,
der sie erzogen,
richtet sich nur und zwar
Losgelöst von dem Verkehr mit aber auch zerstreut und zer
splittert hat, ist sie fortan mit sich und ihrem Gott allein.
seliger Zustand für die,
Ein
„welche in dem Herrn gelebt haben und in
dem Herrn gestorben sind" und
nun im Schoße Gottes nicht bloß
„von ihrer Arbeit ruhen" (Offenb. 14, 13), sondern auch in diesem
Alleinsein mit Gott, dem Ausruhen am Herzen Gottes, von den letzten Resten der — bereits vergebenen,
aber, dieweil sie noch im Leibe
*) Dian denke an den analogen Zustand
der Chrysalide oder „Puppe" d. i.
des Insektes in dein verhüllten Zwischenzustande zwischen Raupe und Schmetterling.
26*
2. HlNlptstück.
404
lebten, nicht
ganz überwundenen,
Dritter Artikel. noch auch zu überwindenden —
Unvollkommenheit genesen und sich so zu sagen gesund schlafen.
Eine
Pein dagegen für die Unbußfertigen und Gottlosen, die in keiner Weise Gott, den sie bisher gemieden, zu entfliehen, noch auch von sich selbst,
der Quelle unaufhörlicher Unruhe („dem Wurme, der nicht stirbt") loszukommen vermögen;
dem Frevler begegnet, herwälzt,
nur in
die,
unendlich
Verdammniß „träumen".
mittelbar
ähnlich
wie es schon hier auf Erden
daß er sich in entsetzensvollen Träumen um
gesteigertem Maße den „Traum" der
So Seligkeit und Unseligkeit,
mit dem Abschlüsse
dieses Lebens,
beide un
ja eigentlich schon in
ihm beginnend: aber freilich die Vollendung beider und zugleich die endliche Entscheidung, sei es für die eine, sei es für die andere, erst
da eintretend, wo mit dem Abschluß dieser gesammten zeitlichen Ent
wicklung überhaupt die Vollendung kommt:
der neue Himmel und
die neue Erde und die neue Menschheit in der Herrlichkeit der Kin
der Gottes.
Bis dahin
aber Frist zur Reue und Möglichkeit der
Bekehrung mitten im Schmerze und mittelst desselben für alle, welche nicht den Funken des Göttlichen in ihnen völlig vernichtet haben!
Doch „wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Rath
geber gewesen" (Röm. 11, 34. — 1 Kor. 13, 9—13).
Die Betrachtung führt uns jetzt zu
dem dritten, vierten und
fünften Hauptstück, in welchen von den sogenannten Gnadenmitteln
gehandelt wird, jedoch nicht vollständig, sofern nämlich das wichtigste, das Wort Gottes, fehlt. nehmen haben;
Wir werden dies jedenfalls mit hinzuzu
müssen jedoch, bevor wir in das einzelne gehen, von
den „Gnadenmitteln" überhaupt reden.
Von den Gna-enmittel». Unter Gnadenmitteln oder Heilsmitteln versteht man diejenigen
Mittel,
deren sich
Gott oder der Geist Gottes bedient, um dem
Menschen die Gnade Gottes in Christo zuzuführen, ihm zum Besitze
des Heils zu verhelfen.
Luther in der Erklärung des dritten Artikels
faßt dieselben zusammen in dem einen Ausdruck „durch das Evan
gelium".
Im einzelnen zählt man zu ihnen: das Wort Gottes
das Gebet und die Sakramente. —
Es ist festzuhalten, daß die Gnadenmittel Mittel sind, daß sie also nicht selbstständig wirken, sondern der heilige Geist wirkt durch sie.
Wie der Katechismus sagt:
„ich glaube, daß der heilige
Geist mich durch das Evangelium berufen" u. s. f.
Und nachher:
„in welcher Christenheit er" — also nicht die Kirche, oder die Gna-
dcnmittel, noch weniger der dieselben verwaltende Priester, sondern „der heilige Geist — mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebt" u. s. w.
Es ist ein schwerer, verhängnißvoller
Irrthum, wenn das übersehen, und an Taufe und Abendmahl, ja
auch an Wort Gottes und Gebet dasjenige geknüpft wird, was immer nur Gott oder dem Geiste Gottes zukommt. —
Damit, daß nicht die Gnadenmittel selbst,
sondern der Geist
Gottes durch sie wirkt, hängt unmittelbar zusammen und folgt daraus mit Nothwendigkeit, daß das bloße Vorhandensein, der Besitz oder
der äußerliche Gebrauch eines
Gnadenmittels niemals nütze, im
Gegentheil durch das falsche Vertrauen, welches man aus dergleichen setzt, nur schade.
Sollen die Gnadenmittel nützen, so muß dem durch
406
Die Gnadenmittel.
sie wirkenden Geiste ein Geistiges, Glaube, nicht
gegenkommen.
Aberglaube ent
Gerade, wie man Lebensmittel essen, trinken, sich
assimiliren muß, wenn sie dem leiblichen Leben Stärkung zuführen sollen.
Brod nur in der Tasche haben oder es in der Hand behal
ten, führt zu nichts.
Ebenso wenig vermag es, einem Todten Leben
zu geben. Endlich ist noch zu beachten, daß, so wenig das Heil in Christo uns jemals ohne irgend welche Mittel zugeführt wird, ebenso wenig
es immer aller dieser Mittel bedarf, um Heilswirkung hervorzu rufen; sondern, daß bei der Mehrzahl derselben wohl auch das eine
oder das andere fehlen kann, und das Werk des h. Geistes am Menschen geht darum nicht minder seinen Gang; und vielleicht kräf tiger, als, wo sie alle im Gebrauche sind.
Es gilt in dieser Be
ziehung das Wort: „der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Worte, das aus dem Munde Gottes geht."
wird das nicht gesagt,
Es
um Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit im
Gebrauche der Gnadenmittel hervorzurufen oder zu entschuldigen: —
jeder ist an die gewissenhafte Benutzung der Mittel und Gaben, welche er empfangen hat, gewiesen und wird gerichtet, je nachdem er sich hierin treu oder untreu gezeigt hat: sondern es wird auf
diesen Umstand aufmerksam gemacht lediglich darum, damit wir uns nicht ohne Grund ängstigen um solche, denen hie das Wort Gottes
verkürzt, dort die Sakramente vorenthalten werden, oder die von dem Gebrauche des einen oder andern durch Gewissensbedenken abgehalten werden. — Andererseits soll es zur Erklärung dienen, wie Gottes
Werk sowohl in den Einzelnen als auch in der Gemeinde habe fort gehen können auch in solchen Zeiten, in denen die Predigt des Wortes Gottes selten, und, wo sie vorkam, entstellt, auch die Sakra
mente mit einem Wüste abergläubischer Gebräuche beladen waren. In solchen Zeiten pflanzte sich das Christenthum durch Einrichtungen,
Sitten, Bildwerke und Aehnliches fort; welches wir freilich nicht ge wöhnt sind zum Worte Gottes zu rechnen: wodurch aber nichtsdesto weniger eine — wenn auch
verdunkelte und vielfach entstellte —
Kunde von dem Heile in Christo vermittelt, und eine Wirkung seines
Geistes ermöglicht ward.
Die Gnadeumittel.
I. Das Wort Gottes.
407
Das Wort Gottes. I.
Beim „Worte Gottes" pflegt man gewöhnlich sofort an die
„heilige Schrift" zu denken.
Sieht man indeß die Schrift selbst an,
so ergiebt sich, daß der Ausdruck eine weit umfassendere Bedeutung
hat.
Es wird mit demselben bezeichnet: 1) Die Quelle aller Offenbarung
in Gott selber.
Joh. 1, 1.
Niemand wird so thöricht sein, zu verstehen: „Im Anfang war die Bibel."
2) Das schöpferische Wort Gottes.
1 Mos. 1, lf.
3) Die die gesammte Welt durchdringende, insbesondere in der
Geschichte der Menschheit und
Offenbarung Gottes. 4) Jesus
in
dem Gewissen sich kundgebende
Joh. 1, 5 u. 9—13.
Christus,
das
fleischgewordene Wort.
Joh. 1, 14.
Offenb. 19, 13. 5) Die Predigt von Christo: die vorbereitende und weissagende
der Propheten, die von ihm zeugende der Apostel. 6) Das ausgeschriebene Wort.
7) Die Sammlung
derjenigen Schriften,
in welche die Kunde
des Wortes Gottes niedergelegt ist, und mittelst welcher sie auf uns kommt.
II.
Danach
ist
Gottes in Christo, auch
die Schrift die
Urkunde der Offenbarung
sowohl der vorbereitenden
im Judenthume als
der vollendeten in der Person I. Christi.
Und zwar ist sie
die einzige authentische Urkunde: und darum für uns die Quelle und die Grundlage der christlichen Religion. Wie schlechthin unentbehrlich sie ist,
zeigt
die Entstellung,
welche die Mittheilung von Christo schon in der unmittelbar auf die
Apostel folgenden Zeit in der nicht durch Schrift fixirten mündlichen
Ueberlieferung („Tradition") und von
da ab in immer steigendem
Maße erfahren hat.
Ebenso ist sie aber auch
zureichend,
sofern in ihr alles ent
halten ist und aus ihr selbst ersehen werden kann, Heile uns zu
wissen
nöthig ist.
was zu unserm
Sie bedarf in dieser Beziehung
keiner Ergänzung für angeblich in ihr nicht Mitgetheiltes, Vergessenes
408
Die Gnadenmittel.
oder Verschwiegenes,
1. Das Wort Gottes.
sei es aus anderweitigen resp, geheimen Mit
theilungen Jesu und der Apostel, sei es aus Aufschlüssen, welche der h. Geist dem „Papste" oder der „Kirche" habe zu Theil werden lassen. Sie ist zum Dritten deutlich.
Nicht so, daß ihre Tiefen sich
jedem ohne weiteres erschlössen: im Gegentheil, sie bedarf, um ver standen zu werden, frommen Sinnes und ernster Arbeit, und einer
ganz andern Behandlung, als ihr vielfach unter uns zu Theil wird: daß man nämlich hie und da in sie hineinguckt und dies und das
aus ihr herausreißt.
Sie will nicht bloß flüchtig gelesen, geschweige
durchblättert, sie will im Zusammenhänge betrachtet werden (Apostg. 17, 11).
Ebenso
wenig soll behauptet werden, daß nicht auch bei
einer solchen Behandlung manche Schwierigkeiten
und Dunkelheiten
nicht nur für einige oder auch nur für „das Volk, das vom Gesetz nichts weiß" (Joh. 7,49), sondern
digsten Schriftgelehrten nur,
daß,
was
zum
auch
übrig bleiben. Heile
der
für die der Schrift kun
Sondern behauptet
Seelen
gehört,
von
wird
jedem,
der redlich danach forscht, selbst in ihr gefunden werden könne und immer auch gefunden werde, ohne daß es zu ihrer Auslegung einer
im besondern Sinne mit dem heiligen Geiste ausgerüsteten Priester schaft oder mittlerischen Kirche bedürfte.
Viertens.
Die Auslegung der h. Schrift ist frei.
Mit die
sem Satze ist die evangelische Kirche als solche in's Leben getreten, mit
ihm steht und fällt sie.
Wo immer eine Stelle in der Kirche oder
eine Schrift' oder Sammlung von Schriften aufgestellt würde, deren
Entscheidungen maßgebend sein sollten für Auslegung der h. Schrift:
da wäre die Kirche in
die „babylonische Gefangenschaft"
zurück
gesunken, aus welcher sie Luther errettete, als er „diese Mauer der Canonisten brach, daß der Papst oder die Priester allein das Recht
hätten, die Schrift auszulegen". III. Wie man bei einem Bilde schlechtweg Bild sagt, ohne, sei
es den Rahmen,
in welchen es gefaßt ist, sei es die Holztafel oder
Leinewand, auf der es dargestellt ist, sei es endlich die Staffage, die dabei ist,
ausdrücklich zu unterscheiden:
so
ist auch nichts dagegen
einzuwenden, daß man im gewöhnlichen Leben oder im erbaulichen Sprachgebrauch
die Urkunde
Wort Gottes nennt.
des
göttlichen Wortes
kurzweg das
Nur um des Mißverständnisses willen, das
Wort Gottes und heilige Schrift.
409
sich an diesen Sprachgebrauch knüpft, ist es nöthig, auch den Unter schied zwischen beiden noch bestimmter hervorzuheben. 1) In der Schrift findet sich nicht bloß Gottes Wort, sondern auch das Wort von Menschen, bösen gottlosen Menschen, von Fein den Gottes und des Herrn I. Christi, ja des den Herrn Jesum ver
suchenden Satans.
Alles dieses, obwohl es nicht Gottes Wort ist,
noch auch hinterher von Gott und seinem Geiste mitgetheilt wird, gehört doch zum Worte Gottes; sofern niemand versteht, was Gott
will, und was der Herr Jesus geantwortet hat, wenn wir nicht wissen, was er von den Pharisäern gefragt, und wie er vom Satan ver sucht worden ist.
2) Aehnlich verhält es sich mit den Mittheilungen über Orte, Zeiten, Begebenheiten; den Angaben von Namen, Zahlen, Bergen, Flüssen, Sternen, Thieren und Pflanzen; Siegen und Niederlagen,
deren die h. Schrift voll ist.
Alles dieses bildet den Boden, auf
welchem die Offenbarung einherschreitet, den Aufzug, in welchem sie
der Einschlag ist, den Rahmen und die Staffage, die das Bild ewiger Gottesoffenbarung, das Bild des Erlösers zur bestimmten
Anschauung bringen und einfassen. Aber der Boden, den Christi Fuß betrat, der Staub, den seine
Sohle berührte, ist nicht der Herr; das Gewand, das seinen heiligen
Leib bedeckte, ist nicht er selbst, noch ist es heilig, wie er.
Es ist
ein Unterschied zwischen den Kenntnissen und Kunstfertigkeiten, deren die Bibel erwähnt, und der Wahrheit, die in jenen und
durch sie hindurch fcheint, und mittelst ihrer zur Wahrnehmung ge bracht wird. Es giebt so bald keine tiefere Erniedrigung der Schrift, als, wenn man unternimmt, die Urkunde beseligender Gottesoffen barung gleichzeitig zu einem Handbuch der Stern- und Naturkunde, Geographie und Geschichte, zur statistischen Tabelle oder zu einem
Exerzier- oder sonst welchem Reglement zu machen (Richter 7,16f ).
Nichts von alle diesem ist um seiner selbst willen mitgetheilt, sondern
nur, sofern es zur Veranschaulichung des Waltens und des Willens, der Kundgebung Gottes dient; sofern sich durch alles dieses die Offenbarung Gottes, wie ein rother Faden, hindurchzieht.
Darum
soll auch bei dem religiösen Gebrauche der Schrift niemandes Auf merksamkeit, geschweige sein Glaube an allem diesem haften bleiben.
410
Die Gnadenmittel.
I. Das Wort Gottes.
Propheten und Apostel, „die Lehrer, von Gott gesandt, Gottes Wort
zu verkünden", leiden es nicht, daß man sie, wie Professoren irgend
welcher menschlichen Wissenschaft oder Kunst, wie Schulmeister, be
handelt. 3) Obgleich der Gebrauch auch dieses menschlichen Wissens und Könnens innerhalb der Schrift durchweg ein religiöser und demgemäß alles in ihr von dem Geiste der Frömmigkeit, dem
heiligen Geiste
Gottes, durchweht ist: so sind doch die heiligen Schriftsteller zu dem
Besitze dieser Kenntnisse und Kunstfertigkeiten in keiner andern Weise und durch keine andern Mittel gelangt, als in welcher derselbe überhaupt erreicht werden kann.
Gewiß ist der Gebrauch, welchen
Paulus in seinem apostolischen Berufe von seinem erlernten Hand
werke macht,
in hohem Grade von dem Geiste selbstsuchtsloser Hin
gebung an diesen Beruf, dem heiligen Geiste I. Christi erfüllt: aber
lernen
das Handwerk hat er,
wie jeder andere,
müssen.
Ganz
ebenso verhält es sich mit Lesen und Schreiben, der Kenntniß frem
der Sprachen z. B. der griechischen, der Gewandtheit der Rede, der wissenschaftlichen Schärfe, kurz dem gesammten Apparat des Könnens und Wissens, den wir ganz unabhängig von dem heiligen Geiste in der Menschheit vorfinden,
ja,
von dem wir sehen,
wie sehr häufig
unfromme Leute in dieser Beziehung die allerfrommsten und heilig sten übertreffen.
Es ist ein arger Irrthum und ein der Schrift selbst
zuwiderlaufendes Mißverständniß,
wenn
man auch diesen Apparat
ohne weiteres auf Eingebung des h. Geistes zurücksühreu will.
Was
sagt die Schrift? „Was kein Auge gesehen, und kein Ohr gehört hat,
und in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott bereitet hat
denen, die ihn lieben: das hat Gott uns geoffenbart durch s. Geist" (1 Kor. 2, 8. 9).
Was
aber ein Auge sehen,
Menschenherz ersinnen kann:
ein Ohr hören,
ein
dazu sollen auch, die Gott lieben, ihre
Augen und Ohren gehörig aufmachen und den Verstand ihres Herzens
gründlich brauchen; und werden es auch thun.
Solches mitzutheilen,
leiht sich Gottes Geist nicht her! Oder gränzt es nicht nahezu an Lästerung, wo man behauptete, der h. Geist habe den Aposteln ein
gegeben:
daß
der Flecken Emmahus
60 Feldwege von Jerusalem
entfernt sei, und Aehnliches, was sie von jedem Landbewohner, der zur Stadt kam, erfahren und mit eignen Füßen abschreiten konnten?
411
Wort Gottes und heilige Schrift.
Waren die heiligen Schriftsteller in allem diesem auf ihre Augen und Ohren beziehungsweise auf die ihrer Gewährsmänner gewiesen,
so können wir zwar bei dem Geiste, der sie erfüllte, in ihren Mit
theilungen auch über dergleichen Dinge bis in das Kleinste hinein ihrer größten Gewissenhaftigkeit und Treue uns vergewissert halten:
andererseits jedoch dürfen wir in dieser Beziehnng bei ihnen nichts erwarten, als, was sie in ihrer Zeit und von ihrem individuellen Standpunkte aus, sei es aus eigner Wahrnehmung wissen, sei es von ihren Gewährsmännern erfahren konnten.
Denn, wie der heil.
Geist diese Dinge niemandem eingiebt, so mehrt und erhöht er sie
auch nicht auf eine von den sonstigen Bedingungen unabhängige Weise; und hat darum auch die Apostel in dieser Beziehung nicht
urplötzlich aus eine höhere Stufe,
geschweige auf eine das Niveau
ihrer, ja aller Zeiten schlechthin überschreitende erhoben. nicht,
Wir lesen
daß der Zeltwcber Paulus, da ihn Christus erleuchtete, da
durch Kenntniß der neuen Weberei gewonnen; oder daß Petrus, der die Fische des Galiläischen Meeres gefangen, als der h. Geist über ihn kam, dadurch zum Südseefahrer und Walfischfänger geworden. War auch beiden nicht zugesagt; sondern:
„von nun an sollst du
Menschen fangen"; und: „er soll meinen Namen tragen vor Heiden und Könige und vor die Kinder Israels; und ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muß um meines Namens willen": so lautete die Verheißung (Luk. 5,10; Apostg. 9, lös.). Und genau ebenso steht es abermals mit allem ihrem sonstigen menschlichen Wissen und
Können.
Deshalb ist es denn auch ganz in der Natur der Sache
gegründet, nicht bloß, daß wir in allem solchen mit unsern Kennt nissen vielfach die Kenntnisse der heiligen Männer Gottes überragen;
sondern auch, da sie bei ihren Wahrnehmungen denselben Täuschungen
der Sinne u. s. w. unterworfen waren, wie auch wir, vollends aber in dem, was sie aus andern Quellen her berichten, doch nichts an
deres geben konnten, als, was sie empfangen: daß wir in ihren Mit
theilungen neben dem Charakter ihrer Zeit hie und da auch Unge nauigkeiten, Abweichungen und Widersprüchen in den correspondirenden Berichten begegnen.
4) Auch in Beziehung auf das, worin der h. Geist recht eigent lich sein Werk hat, in Beziehung auf das Religiöse, findet innerhalb
412
Die Gnadenmittel.
1. Das Wort Gottes.
-der h. Schrift ein Unterschied sowohl der Fülle als auch der Rein heit des Geistes statt.
Es ist allerdings ein wahrer Satz, daß der
neue Bund bereits in dem alten verhüllt enthalten,
der alte Bund
in dem neuen nur enthüllt sei (novum testamentum in vetere latet;
vetus testamentum in novo patet). Indeß ist dies doch nur in dem
Sinne wahr, in welchem die zur vollen Pracht entwickelte Blume in dem Stadium niederer Entwicklung in der Knospe schläft.
Eine
Gleichstellung dagegen des A. T. mit dem Neuen widerspricht ebenso jeder
unbefangenen christlichen Wahrnehmung,
wie den ausdrück
lichen Erklärungen des Herrn (Luk. 10, 24; 9, 55. 56) und auch des Insbesondere der letztere bezeichnet durchweg das,
Apostels Paulus.
in Christo offenbar geworden,
was
als ein Geheimniß,
was bis
dahin aller Welt verborgen gewesen sei (Röm. 16, 25; I Kor. 2, 6f.; Ephes. 3, 3f.; Kol. 1, 26); und Gal. 4, 9 warnt er sogar, zu den
„schwachen
und
dürftigen Elementen"
Mit einem Worte:
kehren.
im Judenthume
ein anderer ist Christus,
zurückzu
ein anderer
Elias; ein anderer Paulus, ein anderer David (1 Kor. 15; Ps. 6, 5. 6; 1 Kor. 13, 4—7; Ps. 59, 14—16;
Phil. 3, 12f.;
Ps. 18,
21 f.), ein anderer der Geist des Sohnes Gottes, der sn uns „Abba, lieber Vater", schreit (Röm. 8,15), ein anderer der Geist der Furcht in dem selbst „ein Moses treu war in dem Hause als ein
Gottes,
Knecht" (Hebr.3,5).
ein ähnliches Mehr oder Minder,
Und
Klar hat auch im N. Testamente statt. ein Geist,
Klarer oder weniger
Auch hier gilt es:
aber mancherlei Gaben" (1 Kor. 12, 4);
„es ist
es ist dasselbe
Licht, aber die Jntenfität und Lauterkeit des Lichtes, vor allem aber die Farbenbrechung desselben ist verschieden.
kennen,
Niemand wird ver
daß Matthäus, Johannes, Petrus, Paulus, Jakobus ver
schiedene Schattirungen des Christenthums darstellen; daß in dem
Briefe des Jakobus eine minder energische Durchführung des christ
lichen
Grundgedankens
auftritt,
als
in
den
Sendschreiben
des
Apostels Paulus an die Römer und Galater; daß der Brief Judae nicht einmal mit dem Schreiben an den Philemon zu vergleichen ist, daß endlich
auch in den eignen Schriften des Paulus selbst nicht
überall der gleich hohe Flug des Geistes waltet —: wie eben Gott
einem
jeden,
und
jedem
zu verschiedenen Zeiten
„das Maß des
Wort Gottes und heilige Schrift.
413
(Röm. 12, 3) und dem einen Knechte fünf
Glaubens ausgetheilt"
Pfund, dem andern zwei, dem dritten nur eins gegeben hat (Matth. 25, I4f.).
Es ist nur einer, der den Geist nicht nach dem Maß
empfangen hat (Joh. 3, 34), I. Christus, der Eingeborne vom Vater, der allein das Licht ist, das in die Welt kommen sollte. Alle andern sind „nicht das Licht, sondern, daß sie zeugen von dem Lichte" (Joh. l,8f.). —
5) Dies
alles ist sorgsam
zu beachten zur Befestigung und
Bewahrung unsers Glaubens nach zweien Seiten hin. Zuerst gegen
den Aberglauben derjenigen,
welche für alles
in der Schrift,
als
vorgeblich in gleicher Weise unmittelbar von dem Geiste Gottes ein gegeben,
denselben religiösen Glauben fordern,
doch nur das „kündlich große Geheimniß"
dessen Gegenstand
der Offenbarung Gottes
im Fleisch und der durch diese Offenbarung vollbrachten Erlösung
der Menschheit sein kann.
„Wenn
du ein Christ sein
und selig
werden willst, so mußt du an der Mittheilung des Lukas, daß die
Schatzung zur Zeit der Geburt Christi die allererste war, und daß
sie geschah zu der Zeit,
da Cyrenius Landpfleger in Syrien war,
mit demselben festen und unverbrüchlichen Glauben sesthalten,
mit
dem du glaubst, daß Jesus Christus der Sohn Gottes, dein und der
ganzen Welt Heiland und Erlöser ist." U. s. f. — Es ist das unge
fähr dieselbe Forderung, als wenn man von einem Verschmachtenden, der dem lebenden Quelle nahet,
verlangen wollte,
er müsse, wenn
er leben wolle, nicht bloß das Wasser, sondern auch die Felsen und das Moos trinken,
unter denen das Wasser hervorquillt. — Aber
die Forderung ist nicht bloß ungerechtfertigt, sondern sie ist auch im
hohen Grade verderblich.
Sie erzeugt
die schwersten Anfechtungen
für den Glauben, Anfechtungen, in denen schon Unzählige an der Schrift,
wo nicht am Christenthume,
schädigt die Sittlichkeit.
punkte unmöglich ist,
irre geworden
sind. — Sie
Denn, da es doch auch auf diesem Stand
sich ganz den Widerspruch zu verhehlen,
in
welchem einzelnes in der Schrift mit dem, was für uns denkbar ist, und auch unter einander steht: so wird nun — um den Schein der
Uebereinstimmung hervorzubringen — an dem augenfälligen Sinne der Schrift so lange herumgedeutet, und dem Denken in einer Art Gewalt
angethan,
leiden muß,
daß
darunter
nothwendig
der
und jene innere Unwahrhaftigkeit und
Wahrheitssinn jener Mangel
414
Die Gnadenmittel.
I. Das Wort Gottes.
an einfachem Rechtssinn entsteht,
die wir zu unserm äußersten Be
fremden nicht selten gerade bei solchen wahrnehmen, denen man im übrigen
nicht abstreiten kann, daß sie es mit ihrer Frömmigkeit
ernst nehmen! — Endlich kommt bei diesem Glauben der Christ
trotz aller scheinbaren Festigkeit niemals aus der Angst um seinen Glauben heraus.
Der geringste Widerspruch
erschreckt ihn; jede
Untersuchung, das Denken selbst scheint gefährlich.
Wie aber Angst
und Haß, Furcht und Abneigung Geschwisterkind sind: so setzt sich in solchen Seelen leicht eine Bitterkeit gegen freier Denkende und
eine Abneigung, ja ein Haß gegen alle höhere menschliche Bildung fest, unter denen in der That ihr Christenthum ernstlich Gefahr leidet.—
Die
schrist-
und
naturgemäße Unterscheidung
zwischen
dem
Worte Gottes und der h. Schrift sichert uns aber auch gegen die
Anläufe, welche von Seiten einer falschen Bildung oder, besser aus
gedrückt, von Seiten der jetzt so verbreiteten Halbbildung auf unsern Glauben gemacht werden.
Mit Hohn wird von dieser Seite her
nicht selten auf die „Ungeheuerlichkeiten", den „Widersinn" und die
„Widersprüche"
hingewiesen,
daran die Frage geknüpft:
deren die h.
Schrift voll
sei;
und
„das soll Gottes Wort" sein: so daß
namentlich jüngere Christen und einfachere Gemüther oft in die äußerste Gewissensbedrängniß gerathen.
Nun ist es mit alledem
nicht so schlimm. Bei weitem das meiste davon kommt nicht sowohl
aus Rechnung der Schrist, als auf die Dummheit, die Unwissenheit, im besten Fall die Unfähigkeit dieser sogenannten Gebildeten, sich
aus dem beschränkten Kreise ihres Denkens in Sinn und Geist des Morgenlandes, der Zeiten und der Länder zu versetzen, in denen die h. Schriften entstanden sind; ja, auch nur in den uns am nächsten liegenden Büchern die verschiedenen Stylarten, den lehrhaften, den
rednerischen und den dichterischen,
einigermaßen zu unterscheiden.
Mit einer Naivität und Hausbackenheit ohne Gleichen wird, was in die Ursprünge der Menschheit hineinragt, behandelt, als wenn es sich heute aus dem Markte zutrüge; wird wörtlich verstanden, was
bildlich gemeint, nüchtern buchstäblich, was emphatisch, begrifflich,
was dichterische Anschauung ist; und werden auf solche Weise die Anstöße in die Schrist hineingetragen,
liegen,
die nicht entfernt in ihr
sondern lediglich in dem Unverstände.
Statt aller andern
Wvrt Gottes und heilige Schrift.
415
mit denen man am häufigsten unbewehrten Ge
zwei Beispiele,
müthern entgegentritt.
Was ist innerlich wahrer,
als die Schilde
wie Bileam, der falsche Prophet, mit seinem Gewissen han
rung,
delt, und gegen den wiederholt kundgegebenen Willen Gottes durch zusetzen sucht,
wozu ihn seine selbstische Lust treibt?
Was erweck-
licher, als die Art, wie Gott auch einen solchen zu fassen versteht, und
dem
sich verstockenden Menschen gegenüber zuletzt sogar ein
Thier das Werkzeug seines Willens und den Dolmetscher seiner Bot
Aber das Sprechen der Eselin!
schaft werden läßt?
der Baum in seiner Pracht, mich,
macht,
gebt unserm Gott die Ehre."
„Josuas
gleichen steht bei
schrieben, ist:
„Mich,
ruft
spricht die Saat, hat Gott ge
Versteht Ihr das? — Des
stillstehender Sonne"
ausdrücklich
ge
daß die Erzählung einem alten Heldenliede entnommen
„So steht es ja
(Jos. 10, 13).
geschrieben
im Buche der Rechtschaffenen"
Dessenungeachtet verstehen sie die Geschichte nicht:
so nahe ihnen das Verständniß durch die eigene Erfahrung gelegt
ist, laut welcher noch hente einer,
zu vollenden hat, ruft:
erhört fein Flehen.
der Wichtiges, der Entscheidendes
„Zeit, Zeit, eine Stunde Zeit."
Die Stunde
vollbracht", und „war keine Stunde,
Gott hat zwar nicht
nachher".
größer gemacht! Fällen:
Werk
wie diese, weder vorher noch
die Zeit länger,
aber die Kraft
Und ähnlich verhält es sich in unzähligen andern
der scheinbare Widersinn
auf. — Aber so
Und Gott
„verrinnt nicht, bevor das
gewiß
löst sich in erhebendste Wahrheit
dem auch also ist,
und so entschieden es
betont werden muß: so genügt allerdings auf dem Standpunkte, von welchem wir hier reden, der Nachweis auch nur einer einzigen Ab weichung,
eines
im
ganz
übrigen
Widerspruchs in der h. Schrift (und Leichtigkeit geführt werden können),
dieses Glaubens zu erschüttern.
unerheblichen
Irrthums
oder
dieser Nachweis wird
um das
gesammte
mit
Gebäude
Denn, hat der h. Geist, der nun
einmal alles in der Schrift in gleicher Weise eingegeben haben soll,
in diesem Stücke geirrt,
warum soll er nicht ebenso gut in allem
andern haben irren können?
Irrthum
heiliger Geist
Wo er überhaupt auch nur bei einem
bliebe!
Gegen
diese Folgerung,
gegen
diese Angst und diese Qual hilft nichts, als die Unterscheidung zwischen „Wort Gottes" und „Schrift", die wir zu begründen gesucht, haben.
416
Die Gnadenmittel.
6)
Das
Auseinandergesetzte
1. Das Wort Gottes.
bestätigt,
daß
ein
gründliches,
namentlich ein wissenschaftliches Verständniß der h. Schrift sich nicht bei
oberflächlicher Beschäftigung mit ihr
erschließt.
Die göttliche
Wahrheit, das Wort Gottes in der Schrift, gleicht dem Schatze im
Acker,
nach welchem
Schaufeln aber,
man graben muß,
um ihn zu heben.
die man anzuwenden hat,
ernster religiöser Sinn und eingehendes Studium. die Schrift zu verstehen,
Die
sind „ora et labora“, Es sind, um
außer dem erleuchteten Auge des Geistes
viele Kenntnisse erforderlich, die nicht jeder sich anzueignen vermag: gründliches Verständniß
der alten Sprachen und zwar nicht bloß
derer, in welchen die h. Schriften abgefaßt sind, sondern auch der verwandten Sprachen und Dialekte; Bekanntschaft mit dem Morgen
lande,
seinen Sitten,
Gebräuchen,
seiner Anschauungsweise; Ver
trautheit mit der parallellaufenden Geschichte, den gleichzeitigen und
ältern Religionssystemen und sonstigen Gedankenbildungen und der gleichen mehr.
Das legt insbesondere den nichtgelehrten Mitgliedern
der Gemeinde die Pflicht auf, vor allem sich vor jähem Zufahren in ihrem Urtheil über die Schrift oder einzelne Schriftsteüen,
sodann
aber auch vor dem Absprechen über ihnen neue und sie befremdende
Ergebnisse der gelehrten Schriftforschung, geschweige vor Mißachtung
und Verwerfung der Schriftgelehrsamkeit überhaupt zu hüten.
Bei
Bewahrung der vollen Selbstständigkeit ihres Urtheils namentlich in Sachen des persönlichen Heils werden sie anzuerkennen haben, daß die fortschreitende Erkenntniß der Schrift nur ein Werk der gemein
samen Arbeit sein kann, vor allem derer, welchen Gott in dieser Be ziehung Gaben gegeben hat.
Sie werden diese Arbeit,
so weit sie
können, benutzen; wo sie aber derselben nicht mehr zu folgen ver mögen,
sich zu bescheiden und ihr Urtheil auszusetzen haben.
Das
allgemeine Priesterthum, welches die evangelische Kirche lehrt, und,
so lange sie die evangelische bleibt, aufrecht erhalten wird, ist keine Einladung zur Nichtachtung der theologischen Wissenschaft; die freie
Forschung in der Schrift, zu der sie berechtigt, kein Freibrief weder zu losem, frommen oder unfrommen, Schwadroniren über die Schrift,
noch zu lieblosem Verdammen solcher, von ihr haben, als wir.
die ein anderes Verständniß
Das dritte Hauptstnck. Vom Gebet. I.
Was das Athmen für das leibliche Leben ist, das ist Beten
für die Seele.
Das Gebet ist die eigentliche Lebenslust der Fröm
migkeit. — Ohne Gebet giebt es keine lebendige Frömmigkeit. — Es beschränkt sich dasselbe keineswegs nur auf das Bitten. Ob schon wir stets des göttlichen Beistandes bedürftig sind, so ist doch in
zahllosen Fällen die Seele so sehr von dem Gefühle der erfahrenen Hülfe Gottes erfüllt, daß sie nur danken kann.
Ja, selbst in den
Momenten vorwaltender Empfindung des Bedürfnisses gründet sich der Muth, letzteres vor Gott zu bringen, und die Freudigkeit, auf Erhörung zu hoffen, auf die dankbare Erinnerung an das, was Gott
bisher an uns gethan hat, wie es darum heißt:
„In allen Dingen
lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden" (Phil. 4, 6). In gleicher Weise wird die Betrachtung der Größe und Herr
lichkeit Gottes, die Versenkung in „die Wunder seiner Werke" zum Lobe und zur Anbetung Gottes führen. Indeß auch mit dem „Beten, Loben und Danken" ist der Um
fang des Gebetes noch nicht erschöpft.
Es erweitert sich
dasselbe
überhaupt zu dem Verkehr der Seele mit Gott, in welchem der Mensch mit allem, was ihn bewegt, niederdrückt oder erhebt, vor
Gott tritt; nnd wobei er vielfach nichts anderes bezweckt, als sich eben nur vor Gott anszusprechen. Eltester, Materialien. 2. Auflage.
Gerade, wie ein Kind zu seinem 27
418
Die Gnadeumittel.
Vater oder
zur Mutter eilt,
2. Das Gebet (3. Hauptstück). seine Erlebnisse
zu berichten,
seine
Freude auszujubeln, seine Noth zu klagen, zu hören, was die Eltern
wenn es nur des Vaters oder der Mutter
dazu sagen: zufrieden, Ohr findet,
und in ihrem theilnehmenden Blicke Verständniß und
Mitempfindung für sich wahrnimmt. Es versteht sich von selbst,
daß das Gespräch mit Gott nicht
ein lautes, ja, daß es auch als ein inneres nicht immer in Worte gefaßt zu sein braucht.
Wir beten oft am erhörlichsten, wo uns nur
„der Geist mit unaussprechlichen Seufzern vertritt" (Röm. 8, 26).
Ebenso wenig soll und darf es nach der Weise jüdischer Frömmigkeit an einen, bestimmten Ort oder an eine bestimmte Stunde gebunden
sein. Gott ist uns in dem Kämmerlein eben so nahe, wo nicht näher, tote in dem Tempel; und hört,
was von der Kanzel gebetet wird,
genau so gut, als, was wir von dem Altare sprechen.
immer für uns Zeit,
Er hat auch
wo wir nur für ihn ein volles Herz haben.
Darum darf sich der Christ zu jeder Zeit und aller Orten im Gebete
an Gott wenden, wann und wo immer er den Drang dazu verspürt:
wie geschrieben steht:
„Betet ohne Unterlaß"
(1 Thessal. 5, 17);
dann möglich ist, wenn das Gebet nicht an Ort, Zeit, Worte, ja nicht einmal an das mit Bestimmtheit an Gott Denken was nur
gebunden ist, vielmehr als Beten schon das kräftige Verlangen der
Seele nach Gott, der Gebetsdrang (Ps. 42, 2) anerkannt wird, der in unserer Seele wirkt,
und unbewußt
auch
diejenigen Momente
durchzieht, in denen über dem Bewußtsein der Welt nothwendig das bewußte Denken an Gott zurücktritt.
Aber eben dieser kräftige Drang
wird den Frommen treiben, dem, was in ihm lebt, auch in Worten,
sei es in stillen ober je nach seiner Eigenthümlichkeit lauten Worten, Ausdruck zu verleihen.
Nicht minder wird es ihm — abgesehen von
dem gemeinsamen Gebete im
öffentlichen Gottesdienste, das seiner
Natur nach bestimmte Zeiten und einen bestimmten Ort fordert — Bedürfniß sein,
Stunden zu haben,
in denen er, so zu sagen, mit
seinem Vater im Himmel allein ist und ihm so recht sein Herz aus
schütten kann.
Morgen-, Mittag-, Abend-Gebete widersprechen weder
der Würde und Geistigkeit des Gebetes (Joh. 4, 24), noch der christ lichen Freiheit: im Gegentheil sind sie ebenso der Ausdruck des „Betens ohne Unterlaß", wie sie andererseits dasselbe nähren und wecken. —
419
Das „Unser Vater" (wie? um was? auf welchen Erfolg hin? wir beten sollen).
Als Muster für unser Beten,
II.
das einsame,
wie das ge
meinsame, hat uns der Herr das „Unser Vater" gegeben. Dasselbe will natürlich nicht eine heilskräftige Formel sein, die
man
nur nachzusprechen habe,
um
erhört zu werden.
Die es so
treiben, mißbrauchen das Gebet des Herrn, und plappern, trotzdem
sie
wie die Heiden (Matth. 6, 7). —
die Worte Christi brauchen,
Ebenso
wenig
will es uns wehren,
daß wir nie in einer andern
Weise noch mit andern Worten beten dürften.
Es soll uns vielmehr
nur zum Vorbilde dienen, an welchem wir unsere Gebete prüfen; so
wie
Sporn,
zum
damit wir uns
zu
rechtem
Beten
ermuntern
mögen. Aus diesem Grunde soll und wird der Christ immer wieder zu
ihm zurückkehren.
Insbesondere, „wenn
wir nicht wissen, wie wir
beten sollen, wie sich's gebührt" (Röm. 8, 26), wenn wir uns matt
im Geiste und leer fühlen und
das eigne Wort uns versagt:
da
sollen wir uns dies Gebet vorhalten und uns andächtig in dasselbe
versenken: und
Namentlich
wir werden wissen,
im öffentlichen Gottesdienste gebührt dem Gebete des
Herrn immer seine Stelle; nicht,
oder gar,
verleihen, prägen;
um was wir zu beten haben.
auch
nicht,
um dem Gottesdienste Weihe zu
um ihm erst den christlichen Charakter aufzu um durch das Draufsetzen des U. V. unsern
sonstigen Gebeten Nachdruck zu verleihen: sondern, um den Geist des Gebetes zu wecken, aller Gedanken zu sammeln, aller Wünsche, Hoff nungen, Bitten zu läutern und zu verklären, indem sie mit dem vor betenden Christus sprechen: „U. V. im Himmel" u.s. w. Schon mancher,
wenn er nach eifrigstem Beten und Singen an das Gebet des Herrn
kam, hat da erkannt,
wie unvollkommen sein Gottesdienst gewesen,
um wie Nichtiges, Thörichtes,
Eitles er gebeten; und hat,
da er
fertig zu sein meinte, angehoben, zu beten. — Das „U. V." zeigt uns, wie? um was? und auf welchen Er
folg hin wir beten sollen.
Wie? Unübertrefflich sagt Luther: „wie die lieben Kinder ihren lieben Vater bitten."
Schlichtes und doch so großes Wort, das den innersten
Kern, die Macht, die das Christenthum verleiht (Joh. 1,12), und
seine Seligkeit umfaßt! Fürwahr, wer so zu seinem Gotte steht, der ist 27*
Die Gnadenmittel.
420
ein Christ; möge
2. Das Gebet (3. Hanptstück).
er im übrigen Vorstellungen vom Christenthume
haben, welche er wolle! Was gehört zu solchem kindlichen Bitten? 1.
Freudiges rückhaltloses Vertrauen,
wir
daß
den
Muth
haben, mit allem, was uns bewegt, vor Gott zu kommen (Philipp. 4, 6; 1 Petri 5,7): andererseits ihm aber auch das ganze Herz bis
auf die letzte Falte zu erschließen, ohne ihm weder ein Großes noch
ein Kleines zu verhehlen.
Versteck spielen?
Wird auch ein Kind mit seinem Vater
und, während es sich in scheinbarer Offenheit er
geht, dem Vater gerade
das
verhehlen, woran möglicherweise die
Gedanken des Kindes mehr, als an allem übrigen, haften?
„Aber,
wenn nun das ein solches ist, daß es der Vater nicht sehen darf?" Was du deinem Gotte nicht zeigen darfst — er sieht es ja doch —:
das sollst und darfst du auch nicht in die läuternde und sichtende Kraft
dir leiden.
des Gebetes!
Das- ist eben
Darum: bist du
irgend wie zweifelhaft, ob etwas recht, wohllautend, geziemend sei:
lege es auf diese Wagschale, versuche, ob du mit Gott darüber reden, es von ihm erbitten kannst: und du wirst selten mit deinem Urtheile
fehlgreifen. — 2.
Willigkeit, zu hören, was Gott redet; zu nehmen, was und
wie Gott giebt.
Wenn
du vor Gott trittst, sollst du nicht immer
nur dies oder jenes haben wollen: sondern du sollst vor allem hören
wollen, was er sagt.
Nun spricht er: „aber, mein Sohn, wie magst
du nur so Thörichtes bei dir denken, so Schädliches von mir ver
langen?"
Wirst du trotzen? — Oder er giebt, aber er giebt auf
andere Weise, oder er giebt Minderes, als du erwartest!
Wirft du,
wie die ungezogenen Kinder, deine Hand zurückziehen und sprechen:
das ist nicht genug?
Du weißt, Gott kann nicht anders, als gut
und weise, mit dir verfahren; er wird nicht, „wo seine Kinder Brot
begehren, ihnen einen Stein, wo sie um einen Fisch bitten, eine Schlange bieten" (Luk. 11, 11): du bist mit allem, was dein Vater thut, zufrieden, und dankst ihm für sein weises Versagen nicht min der, wie für sein gnädiges Gewähren.
3.
Bereitschaft, zu thun, was Gott gebietet.
Es ist im Grunde
jedes Gebet eine Unwahrheit, wo nicht ein Hohn, bei welchem nicht der ernste Wille ist, nach unsern Kräften auf dasjenige hin mitzu-
Das „Unser Bater" (rote ? um rocro? auf ivelcheu Erfolg hin? wir beten sollen).
wirken, um welches wir bitten.
421
Ohne diesen Willen ist das Gebet
entweder kein Herzenswunsch, oder es ist das lästerliche Verlangen,
daß Gott unsere Faulheit und Nichtsnutzigkeit unterstütze. 4. Herzliche brüderliche Liebe: ohne Neid, Hader, Haß; Engherzigkeit und Selbstsucht:
ohne
„Unser" Vater! — „unser" täglich
Brot gieb „uns" heute!
Um was? Zuerst ist festzuhalten, daß wir jedenfalls mit Gott über alles bis auf das Kleinste reden dürfen, vorausgesetzt nur, das wir nach dem Ausgeführten entschlossen sind, zu hören, was er uns erwidert, zu thun, was er sagt.
Aber auch das Bitten ist mit nichten, wie
viele meinen, nur auf das Himmlische und Geistige beschränkt: viel mehr lehrt die vierte Bitte, daß wir mit vollem Vertrauen auch um
Leibliches zu Gott flehen können. Freilich scheint letzteres gegen das erstere sehr zu kurz zu kommen.
Sechs Bitten um geistige Güter
und nur eine um leibliche und auch diese nur auf das Nothdürftigste beschränkt.
Aber erwäge man nur, was Luther — und mit Recht
— unter diesem täglichen Brote begreift: „Alles, was zur Leibes
Nahrung und Nothdurft gehört, als Essen und Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut; fromm Gemahl, fromme Kinder, fromm Gesinde, fromme und getreue Oberherrn, gut Regiment,
gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn und desgleichen:" und man erkennt, daß das leibliche
und zeitliche mit nichten zu kärglich bedacht, sondern, daß ihm nur
die gebührende Stellung und Richtung, so wie das rechte Maß, an gewiesen ist.
Daß nämlich 1. die Sorge nm das Zeitliche gegen
das Ewige zurücktrete (darum die Bitte um das tägliche Brot erst
die vierte); daß 2. das Leibliche nur um des Geistigen und Himm
lischen willen begehrt werde (darum der sofortige Uebergang von dieser Bitte wieder zu Bitten um geistige Gaben); daß endlich 3. von unsern Bitten um Irdisches aller Uebermuth (darum nur Brot), alle kleinmüthige Sorge (wir sollen nur um das tägliche Brot für
heute bitten), endlich die Engherzigkeit ausgeschlossen sei, die nur an das eigene Bedürfniß denkt. Der Christ soll beten und wirken, daß jedem Menschen sein bescheidenes Theil gegeben werde, dessen er bedarf,
um die Zwecke, zu denen er da ist, zu erfüllen und „in aller Gott-
Die Gnadenmittel.
422
seligkeit und Ehrbarkeit
ein
2. Das Gebet (3. Hcnlptstück).
ruhiges
und stilles Leben
zu führen"
(1 Tim. 2, 2). — Auf welchen Erfolg hin? Das zeigt der Schluß des Gebetes:
denn „dein ist das Reich
und die Kraft und die Herrlichkeit".
Dein ist das Reich.
unsers Willens
Das höchste Ziel des Gebetes ist Einigung
mit dem göttlichen Willen; zunächst in der Gestalt
unserer Ergebung in diesen
Willen.
bitten sollen, wie sich's gebühret;"
richtes und Schädliches von Herzen gedankt,
gebeten,
„Wir missen nicht,
wie wir
wir haben schon so oft um Thö
über das wir nachher selber Gott
daß er unsere Wünsche nicht erhöret, sondern
„über unser Wissen und Verstehen" (Ephes. 3, 20)
nach
seiner
Weisheit uns gegeben hat, als daß wir Gotte gegenüber auf unsern
Willen bestehen könnten.. Vielmehr werden wir all' unser Wünschen,
Hoffen, Begehren, auch die theuersten und, die uns unbedingt noth wendig scheinen, stets demüthig seinem väterlichen Rath und Willen anheimgeben.
So sprechen wir am Schlüsse: dein ist das Reich; du
weiß'st am besten, was
deinen Kindern frommt;
darum nicht, wie
ich will, sondern, wie du willst: Bin ich doch nichtNegente, Der alles führen soll; Gott sitzt im Negimente Und führet alles wohl!
Zu dieser unbedingten Ergebung erhebt sich der Christ um so freu diger,
je gewisser er ist,
„Kraft" sei,
das
daß bei Gott, wie der Wille, so auch die
durchzusetzen, was er als das Heilsame für seine
Kinder erkannt hat.
Wie hoffnungslos uns die Lage erscheine, wie
wenig wir einen Weg zum Ziele erblicken: „Weg hast du allerwegen, An Mitteln fehlt dir's nicht;"
und: „Was er sich vorgenommen, Und, was er haben will, Das muß doch endlich kommen Zu seinem Zweck und Ziel."
In der Vorwegnahme dieses Triumphes des Willens und Reiches
Gottes, in welchem Triumphe wir einst mit triumphiren werden, in
Das Gebet im Namen Jesu.
423
der dankbaren Erkenntniß dessen, was Gott bereits gethan hat, und der darauf gegründeten Zuversicht auf dasjenige, was er ferner thun wird,
in dem Vollgenusse der geistigen Gaben,
mit denen er uns
gesegnet hat, und gegen welche alle zeitliche und leibliche Noth weit
zurücktritt, schließt der Betende: dein ist die Herrlichkeit. die
Gegenwart noch
Trübsal,
Schwäche, Kämpfe
Mag auch
zeigen:
„unser
Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat" (1 Joh. 5, 4); „wir sind selig in der Hoffnung" (Röm. 8, 24) und „warten allein des Heilandes I. Christi des Herrn,
Leib verklären wird,
welcher auch unsern nichtigen
daß er seinem verklärten Leibe ähnlich werde,
nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig
machen" (Philipp. 3, 20. 21). „Wie wohl ist mir, o Freund der Seele, Wenn ich in deiner Liebe ruh'!
Ich steig' aus dunkler. Schwermuthshöhle, Und eile beiiien Armen zu.
Dann iiniB die bet Iranernt scheiden, Wenn mit der glisse ()ol)er Freuden
Die Viede strahlt ant deiner Brust. Hier ist mein Hiininel schon auf (5rden; Dem ums; ja volle (>/nnge werden, Der in dir sindet Ruh' und Lust."
III.
Eine besondere Verheißung hat der Herr dem „Gebete
in seinem Namen" gegeben: „Wahrlich" — so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er es euch geben.
habt ihr nichts
gebeten
in
meinem Namen;
Bisher
„bittet, so werdet ihr
nehme», daß eure Freude vollkommen sei" (Joh. 16, 23. 24).
Was heißt im Namen Jesu beten? Es ist eine jämmerliche Oberflächlichkeit,
die einfach durch das
Gebet des Herrn, durch Matth. 7, 21, endlich auch durch den richtig
verstandenen Wortlaut unserer Stelle widerlegt wird, wenn man die Erhörung des Gebetes an den Umstand bindet, daß der Name Jesu in ihm vorkomme, oder daß das Gebet an Jesum gerichtet sei.
Ausdruck „in meinem Namen"
bezeichnet ein
Der
ähnliches Verhältniß
des Jüngers zu Christo, wie dasjenige, welches Christus Gott gegen über für sich in Anspruch nimmt, wenn er sagt, daß er im Namen Gottes gekommen
sei (Joh. 5, 43):
das Verhältniß nicht blos des
Gesendetseins von Gott, sondern auch des völligen Dnrchdrungenseins
Die Gnadeiunittel.
424
2. Das Gebet (3. Hauptstück).
der innersten Gemeinschaft mit ihm.
von ihm,
meinschaft Joh. 14, 10 beschreibt:
Wie er diese Ge
„Glaubst du nicht,
daß
ich
im
Vater, und der Vater in mir ist? Die Worte, die ich zu euch rede,
nicht von mir selber;
rede ich
der Vater aber,
der thut die Werke" (vergl. Joh. 17, 21):
Namen Christi, wenn er also
Geiste durchdrungen ist,
der in mir wohnt,
Christ im
so betet der
mit Christo geeint und von seinem
daß er nicht von ihm selber redet, sondern
der Geist Christi, Christus selbst es ist, der die Bitte, welche er aus
spricht, in ihm bewirkt (Galat. 2, 20). Man kann sich, was mit diesem Ausdrucke gemeint ist, annähernd wenn man sich vergegenwärtigt, was
derselbe be
zeichnet, wo er auf andere Verhältnisse angewendet wird.
Allerdings
deutlich machen,
nur annähernd:
sofern keine sonstige Verbindung an Innigkeit und
vollkommner geistiger Durchdringung jemals unserm Verhältniß zu
Christo
gleich kommt. — Wann kann man sagen, daß ein Mensch
im Namen eines andern,
gewissermaßen als sein alter ego handle?
Wenn er a) im Auftrage und mit
Vollmacht des
andern,
b) in
dessen Angelegenheit und endlich c) auch in der Weise handelt, in welcher der andere verfahren würde, wenn er zur Stelle wäre.
Auftrag zum Bitten von Christo haben wir im allgemeinen in seiner Anweisung:
„Bittet, so wird euch gegeben" (Matth. 7, 7);
im einzelnen besitzen wir ihn in dem Maße, als es ein von Christo gewecktes Bedürfniß ist, welches uns zum Bitten treibt: Hunger und
Durst nach Gerechtigkeit, das brennende Verlangen nach Wahrheit, theilnehmende Liebe, christliches Erbarmen u. s. f.
Wo wirklich diese
und nur diese uns drängen, da tragen wir seine Vollmacht in uns.
Je mehr dagegen unser Gebet aus der Anhänglichkeit an der Welt und
uns
selbst
stammt,
um so
weniger wird
er sich
dazu be
kennen. — Die Angelegenheit, um deren willen der Herr, in die Welt ge kommen ist,
und für die er auch uns thätig wissen will, ist das
Reich Gottes, und in demselben das Heil der Seelen. hiefür bitten, werden wir nie fehlbitten.
Wenn wir
Desgleichen nicht,
wenn
wir im einzelnen bitten, sei es für eine Thätigkeit, die wesentlich zum
Reiche Gottes gehört, sei es für eine, welche eine Vorbedingung für dasselbe bildet,
oder um die wesentlichen Unterlagen und nicht zu
Das Gebet im Namen Jesn.
entbehrenden Träger derartiger Thätigkeiten.
425
Nnr wird die Frage
sein, in wiefern solches in einem bestimmten Falle zutreffe.
Es ist
ja unbedingt nothwendig, daß das Reich Gottes gepredigt werde:
aber ist auch das nothwendig, daß du oder ein anderer bestimmter Mensch — heute — hier — predigen,
und daß eure Predigt den
von euch erwarteten und erbetenen Erfolg habe? Es könnte ja sein, daß der Herr wollte, daß ihr schweiget; oder auch, daß der diesmalige
Mißerfolg nöthig wäre, um künftige größere Erfolge vorzubereiten.
— Desgleichen, um für das Reich Gottes thätig zu sein,- braucht der Mensch eine gewisse Summe von Gesundheit, Kraft u. s. w.
Aber
wenn nun Gott beschlossen hat, uns und andere durch Leiden zu
vollenden, weil er weiß, daß das für unser Heil nothwendig ist, und weil er voraussieht,
daß wir durch unser Dulden kräftiger wirken
und mehr schaffen werden,
als durch vorstürmendes Thun?
Je
weniger der Christ über alles derartige, wenn er nicht vermessen sein will, von vorn herein Gewißheit bei sich haben kann: um so mehr hat er die Pflicht, in dem Maße, als seine Bitte in das einzelne
eingeht, daran zu denken, daß Gottes Wege doch wohl andere sein können, als er voraussetzt, und darum seinem Herrn auch in der
demüthigen Weise zu folgen, mit welcher dieser — der Sohn Gottes
— dergleichen Bitten ganz in den Willen und das Ermessen seines himmlischen Vaters stellte. „Ist es möglich, gehe dieser Kelch an mir vorüber, doch nicht, wie ich will, sondern, wie du willst" (Matth. 26, 39). — „Jetzt ist meine Seele betrübt, und was soll
ich sagen?
Vater, hilf mir aus dieser Stunde?
ich in diese Stunde gekommen.
Doch dazu bin
Vater, verkläre deinen Namen!"
(Joh. 12, 27.)
Solches Beten wird immer erhört.
Auch, wo dann der Kelch
nicht vorübergeht, wie er ja an Christo nicht vorüberging, tritt der
„Engel des Herrn zu uns, der uns stärkt" (Luk. 22, 43); tönt auch in uns die Stimme wieder: „ich habe meinen Namen verklärt, und
will ihn übermal verklären" (Joh. 12, 28).
Und diese Erhörung ist
unstreitig eine unvergleichlich höhere, als jede, auch die herrlichste
einzelne Gewährung sein würde oder auch gewesen ist. Das Einzelne, das den Moment erfüllt, geht mehr oder weniger mit dem Momente vorüber.
So groß die Gabe war, so unaussprechlich beglückt wir
Die Gnadenmittel.
426
3. Die Sakramente.
uns durch sie fühlten: der neue Tag bringt neue Bedürfnisse, erzeugt neue Bedrängniß, neue Noth.
Es ist natürlich und kann nicht an
daß in solchem Falle zwar nicht der Dank und die Er
ders sein,
innerung — gewiß nicht — wohl aber das Gefühl der Glückseligkeit
und
der
Befriedignng
gegen
die Empfindung
des
gegenwärtigen
Moments zurücktreten. Ja, nicht blos dies: sondern auch die Gaben
Gottes selbst, soweit sie zeitlich sind, bleiben nicht.
Lazarus, welchen
der Herr durch sein Gebet aus dem Grabe erweckte,
doch wieder
dem Grabe anheimgefallen.
Aeußerliches
und Zeitliches
„die
ist schließlich
Darum kann
auch kein
vollkommene Freude"
gewähren,
welche der Herr als den Erfolg des Gebetes in seinem Namen ver
heißt. Nur, was der Mensch am inwendigen Menschen gewinnt, das bleibt und erzeugt in ihm, möge er nun das Aeußere dazu bekommen
oder nicht, die Freude, welche nicht wieder von uns genommen wird
(Joh. 16, 22; 15, 11). „Ich bin gewiß, .daß weder Tod noch Leben, weder Engel noch
Fürstenthum noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges,
weder Hohes noch Tiefes
noch keine andere Kreatur uns mag
scheiden von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist,
unserm
Herrn" (Nöm. 8,38. 39)').
Von den Sakramenten. I.
Der Begriff des Sakraments
ist erst von den christlichen
Gottesgelehrten aufgestellt worden, um darin gewisse religiöse Hand
lungen zusammenzusassen. — Man versteht darunter: Heilige von Christo selbst eingesetzte Handlungen,
welche ein sichtbares Zeichen
und die Verheißung der Gnade haben. Also zuerst:
und Wein.
Handlungen; nicht Dinge, wie Wasser, oder Brot
Diese gehören wohl zum Sakrament und
dienen ihm,
9 Ueber Erhörmig des Gebetes siehe noch: Protestantische Kirchen-Zeitung, 1865 S. 841, und Worte der Verständigung (Berk. 1870, jetzt bet Ambros. Barth, Leipzig) S- 15!),
Begriff und Zahl in der evangelischen und katholischen Kirche.
aber sie
sind
nicht das Sakrament.
Die Firmung.
427
Sakrament ist vielmehr die
Taufhandlung, die Feier des Abendmahls.
Doch nicht jede religiöse Handlung (Eid, Predigt, Bestattung)
ist darum schon ein Sakrament, sondern nur solche, welche ein von Christo selbst eingesetztes Zeichen (das Eintanchen oder Besprengen mit Wasser; das Brechen, Geben, Essen des Brotes, das Dar
reichen, Trinken des Kelches) und die Verheißung der Gnade haben. („Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden"; „zu meinem Gedächtniß" — „zur
Vergebung der Sünden.") Als solche von dem Herrn selbst eingesetzte Handlungen
II.
erkennt die evangelische Kirche nur die Taufe und das Abendmahl an.
Die römische Kirche dagegen hat jetzt sieben Sakramente (die
Siebenzahl ist erst im zwölften Jahrhundert festgestellt): nämlich außer Taufe und Abendmahl noch Firmung, Buße, Priesterweihe,
Ehe und letzte Oelung. — Doch ist der Unterschied insofern nicht
ganz so groß, wie er aussieht, als einerseits die evangelische Kirche die meisten der von der römischen Kirche für Sakramente gehaltenen
Handlungen gleichfalls hat, auch im übrigen kcineswcges.das Sinn volle ,
unter
Umständen
Abrede stellt, nur,
Erbauliche
der sonstigen
Gebräuche
in
daß sie dieselben nicht als Sakramente gelten
läßt: andererseits auch die römische Kirche unter ihren sieben Sa kramenten doch wieder einen Unterschied der Werthschätzung macht,
und insbesondere Taufe und Abendmahl über die übrigen hervor hebt. —
A.
Die Firmung wird von dem Bischöfe ertheilt, indem er
mit den Worten:
salutis“
den
„signo te signo crucis ct consirmo te chrismate
„Firmling"
mit dem geweihten Oel (Chrisam)
Kreuzesform an der Stirn salbt,
in
und ihm sodann einen leichten
Backenstreich giebt, zum Zeichen, daß er bereit sein solle, fortan die Schmach Christi zu tragen.
Zweck und Bedeutung dieses Sakra
mentes soll Stärkung des Glaubens und Mittheilung des h. Geistes
sein; die Einsetzung desselben auf Apostg. 8, 14 f. beruhen. Die evangelische Kirche findet in diesem einmaligen Vorgänge
keinen göttlichen Befehl und dauernde Einsetzung; vermag überdies nachzuweisen, daß Ausgießung des Geistes „ganz, wie auf die Apostel",
Die Gnademnittel. 3. Die Sakramente.
428
ohne Firmung, ja selbst noch vor Vollziehung der Taufe vorgekom
men, und dann wohl noch diese, keineswegs aber auch die Firmung was
oder,
derselben
(Apostg. 10, 44—48). Handlung,
ähnlich
ausgesehen,
nachgeholt
worden
sei
Sie selbst sieht in ihrer Konfirmation eine
in welcher einerseits
der Confirmand
öffentlich
seinen
Glauben bekennt, andererseits auf solches Bekenntniß die Gemeinde ihn im Namen des Herrn unter ihre vollberechtigten Glieder auf nimmt, und in solcher Weise beiderseits — von Seiten des Confir
manden,
wie von Seiten des Herrn — der Tanfbund,
dem Kinde geschlossen war, besiegelt und bekräftigt wird.
der über Nirgends
zeigt sich übrigens so sehr, wie wenig der Name zur Sache thut, als bei dieser Handlung, welche trotz des fehlenden Namens in der evan
gelischen Kirche unzweifelhaft viel höher gehalten und ernster gehand habt wird, als es in der römischen Kirche mit dem Sakrament der
Firmung geschieht: sofern wir die Konfirmation stets nur nach gründ licher Unterweisung und nicht vor dem vierzehnten Jahre vollziehen,
während dort die Jugend schon nach
dem vollendeten elften Jahre
gefirmt werden kann.
B.
In Bezug auf die Buße haben die Evangelischen anfangs
geschwankt,
ob sie dieselbe nicht auch zu den Sakramenten zählen
sollten; ein neuer Beweis, wie wenig festbegränzt der Begriff Sa
krament, und wie nothwendig es ist, jede dieser Handlungen, auch
Taufe und Abendmahl, für sich zu betrachten. — Abgesehen von dem Namen, war indeß und ist auch geblieben der Unterschied, daß die
evangelische Kirche das Wesen der Buße in Reue und Glauben setzt, die römische Kirche dagegen außer der Reue noch das spezielle Sün-
denbekenntniß vor dem Priester (die Ohrenbeichte) und die Ausfüh
rung der von demselben auferlegten Büßungen und sonstigen guten Werke verlangt').
1. Die Ohrenbeichte hat ihren Namen von der Weise, wie das
Beichtkind dem Beichte sitzenden Priester (Beichtvater) die Beichte in das Ohr ablegt. — Das Wesentliche an ihr ist, daß nach der Satzung
der römischen Kirche jeder katholische Christ gehalten ist, wenigstens
]) Contritio cordis, confessio aris, satisfactio operis. Nach dieser Lehre soll auch schon die bloße adtritio, d. i. der Wunsch, Neue zu haben, statt der wirk lichen Reue genügen. —
Die Ohrenbeichte.
429
einmal im Jahre dem Priester seine Sünden zu bekennen und ein
zeln
aufzuzählen. — Die evangelische Kirche verwirft einstimmig
diese Einrichtung mit dem lebhaftesten Abscheu; weil dieselbe, abge
sehen von der Tyrannei über die Gewissen,
ermöglicht,
welche sie
eine wahre Marter für zarte Gewissen ist (denn wer kann merken,
wie oft er fehlet? Ps. 19, 13); während andrerseits die Mehrzahl der
Beichtenden
durch
sie verleitet wird,
sich mit dem Bekennen
der
alleräußerlichsten und oberflächlichsten Dinge und einer entsprechen
den Erkenntniß der Sünde abzufinden. 2.
In diesem Sinne hat auch die lutherische Kirche anfänglich
die Beichte ganz freigelassen,
und erst später „um des rohen und
ungeschlachten Haufens willen" die Privatbeichte wieder als kirch
liche Ordnung eingeführt.
Nach
dieser Einrichtung soll
niemand
zum Abendmahl zugelassen werden, welchen nicht der Pfarrer vorher „verhört" und absolvirt hat: so jedoch, daß niemand gehalten wäre, seine Sünden aufzuzählen;
sondern jeder nur das beichte,
er Gewissensbeschwerde empfände.
werden soll, vermag,
So wenig
den eine solche Zucht
auf rohe Gemüther auszuüben
noch auch die Handreichung,
haften Gemüthern gegeben ist,
worüber
der Segen verkannt
die in dieser Ordnung zag
die ohne eine derartige Nöthigung
trotz des Bedürfnisses, ihr Herz auszuschütten, niemals dazu gelan
gen:
so überwiegend sind die Bedenken,
welche vom
Standpunkte auch der Privatbeichte entgegen stehen. sprache und unumwundene Darlegung
evangelischen
Eine solche Aus
des Herzenszustandes
setzt,
wenn sie sittlich sein soll, ein persönliches Vertrauen voraus, welches
nicht von Amts wegen gefordert werden kann; am wenigsten in der evangelischen Kirche, deren Diener
Menschen:
nicht „Priester" sind, sondern
Männer, Jünglinge, Greise.
Aber
auch
das innigste
Vertrauen vorausgesetzt, vermag der Mensch, und zwar, je wahrhafter
er ist, und je tiefer er empfindet, um so weniger, sich nicht zu jeder Stunde und auf die bestimmte Minute ausführlich über sich auszu
lassen, sein Herz auszuschütten.
Wie man ja selbst Gott gegenüber
vielfach nur in unaussprechlichen Seufzern zu reden im Stande ist
(Röm. 8, 26). — Die Folge davon ist, daß die Privatbeichte in den meisten Fällen zur bloßen Formalität herabsinkt, in andern dagegen
zu.einem unleidlichen Zwange wird:
der Indiskretion,
so wie der
Die Gnndemmttel.
430
3. Die Sakramente.
Ueberhebung „von Amts wegen", zu der sie Veranlassung giebt, nicht
zu erwähnen.
3.
Aus diesen Gründen hat die unirte evangelische Kirche als
kirchliche Ordnung nur die allgemeine Beichte: in welcher die gesammte Gemeinde — mit dem Prediger — Gotte ihre Sünden in einem gemeinsamen, alle Besonderheiten umfassenden Sünden
bekenntnisse beichtet: mit der Maßgabe, daß solche, welche noch einer besonderen Aussprache auch vor dem Geistlichen begehren, eingeladen
werden, sich an ihn zu wenden, welcher vermöge seines Amtes be
reit sei, ihnen nach Kräften dienen.
mit seinem Rathe und Troste zu
der Freiheit, der Wahrhaf
Hier ist allen Erfordernissen:
tigkeit, der Fürsorge für Geängstete und Angefochtene genügt; hier endlich auch die Vorschrift, Jak. 5, 16: seine Sünde!" verstanden.
„Bekenne einer dem andern
„Einer dem andern!"
Unsere natürlichen
Beichtväter sind unsere Eltern, Gatten, Geschwister, Freunde: und
nur, wenn sie jenes sind, sind alle diese Verhältnisse christlich gehei ligt.
Nur, wo einer so einsam im Leben steht, daß er sonst nieman
den hat, vor dem er
in brüderlichem Vertrauen sein Herz auszu
schütten vermöchte, oder der seine Zweifel u. s. w. lösen kann: da ist
er darauf gewiesen und hat das Recht sich an den Geistlichen als an den erfahrenen Bruder in Christo zu wenden,
und dieser hat
die Pflicht, ihm mit seiner Erfahrung zu dienen!
Mit der Beichte ist noch die Absolution oder Lossprechung ver bunden.
Der römische Priester ertheilt dieselbe als „Richter" über
die Sünde an Gottes Statt: so, daß, wen er losspricht, der ist von
seiner Sünde los;
wem er dagegen die Absolution verweigert, über
dem bleibt die Schuld. — Die
evangelische Kirche bescheidet sich
selbstverständlich, „die Gnade Gottes und die Vergebung der Sünden
— Bußfertigen — zu
gung, vorausgesetzt,
verkünden".
Doch ist diese Verkündi
daß die Bedingung erfüllt wird, unter Oer sie
nach dem Gebote und der Verheißung des Herrn geschieht, nicht minder,
sondern wohl
in einem höheren Grade kräftig,
Ueberhebung. — In der lutherischen Kirche
und auch neuerdings wieder,
als jene
hat man ab und zu,
um die Zuversicht der Empfangenden
zu mehren, volltönendere Formeln der Lossprechung gewählt,
als:
„Im Namen und anstatt des Herrn Jesu spreche ich dir Vergebung
Priesterweihe. Ehe. Letzte Oelung. deiner Sünde zu", und Aehnliches.
431
Aber die großen Worte thun es
nicht: sondern Glaube und Geist, als die allein die rechte Zuversicht
schaffen. soll:
Wo es aber wirklich der Spruch des Geistlichen thun
da ist man ganz wieder vom evangelischen Glauben in den
Aberglauben gesunken, vergl. S. 393 u. f. —
C.
Das Sakrament der Priesterweihe. Da die römische Kirche
in dem Abendmahle nicht blos eine Kommunion, sondern auch ein Opfer sieht, welches sie täglich Gott darzubringen hat: so bedarf sie
auch dazu eines mit besonderen Kräften ausgerüsteten Priesterstan
des. — Sie gewinnt denselben durch ihre „von den Aposteln her in ununterbrochener Succession der Bischöfe sich fortpflanzende
Weihe", welche in 7 Graden (4 niederen und 3 höheren, Subdiakonat,
dem
dem Diakonat und dem Presbyteriat) aufsteigend in
dem Sakrament der Priesterweihe gipfelt.
Der katholische Priester
erhält durch dieselbe „eine zwiefache Gewalt:
1. über den wahren
und eigentlichen Leib Christi, um nämlich Brot und Wein in Fleisch und Blut Christi zu verwandeln.
2. über den geistlichen
Leib Christi, oder über die Gläubigen der katholischen Kirche, um dieselben von ihren Sünden loszusprechen." — Die Weihe drückt
dem Geweihten einen unzerstörbaren Charakter höherer Heilig keit auf, so daß auch der unwürdigste Priester die Macht hat und ungeachtet aller sittlichen Verirrungen behält,
gleich. dem sittlich
reinsten die Wandlung zu vollziehen und an Gottes Statt von Sün
den loszusprechen. Zu bemerken ist noch,
daß die weiteren Weihen zum Bischof
u. s. w. kein besonderes Sakrament sind, sondern als „die Fülle und der Höhepunkt des Sakraments der Priesterweihe" angesehen werden.
Sodann: daß die „Kleriker" vom Subdiakonus Leben (dem Coelibat) verpflichtet sind. —
an zum ehelosen
Die evangelische Kirche kennt weder Priester noch einen beson
deren geistlichen Stand (eierns), und darum auch keine Priester
weihe. Sie begnügt sich, zu ihren Aemtern, in Sonderheit dem Predigtamte in feierlicher Weise durch Gebet und Handauflegung ab zuordnen (zu ordiniren); behält sich überdies vor,
jedes derselben,
wo die Bedingungen einer gesegneten Amtsführung aufhören, wieder.
zurückzunehmen. — Wegen dieser fehlenden „Weihe" will die römische
Die ©nabenmittel.
432
3. Die Sakramente.
Kirche die „Diener am Worte" der evangelischen Kirche nicht für
voll anerkennen, verweigert ihnen den Namen der „Pfarrer" und weiß nur von lutherischen u. s. w. „Prädicanten" zu reden.
Aber
die Geschichte hat langst entschieden, wo die größere Würde und Weihe des Geistes sei; und das evangelische Volk hält seine evange
lischen „Prediger", die ihrem Amte wohl vorstehen, sehr hoch.
Mit
um so größerer Abneigung und unverhohlener Mißachtung blickt es dagegen auf die,
welche den Mangel an innerer Würdigkeit durch
äußere Salbung ersetzen möchten, oder als lutherische u. s. w. Pfarrherrn hierarchische Gelüste entwickeln. —
D. Die Ehe ist gewiß von Gott eingesetzt und von Christo ge
heiligt. Sie ist jedoch keine einzelne Handlung, sondern eine das ganze Leben umfassende Verbindung zweier Menschen, zu deren vollgültigem (sakramentalem) Abschluß gerade nach römischer Lehre
nicht einmal die priesterliche Einsegnung nöthig ist. —
E. Das Wesentliche bei der letzten Oelung ist, daß der Priester
dem Kranken, nachdem er ihm Beichte gehört und das Abendmahl (die ,,Wegzehrung") gereicht hat, beide Augen, die Ohren, die Nase, die Lippen, die Hande, die Füße, als äußere Werkzeuge der Sünde,
mit dem geweihten Oele in Kreuzesform salbt und dazu spricht:
„durch diese heilige Oelung vergebe dir der allmächtige Gott, was du immer durch das Gesicht, durch das Gehör, den Geruch, den Ge
schmack und die Rede, durch das Gefühl, durch den Gang gesündigt hast, im Namen des Vaters, des Sohnes und des h. Geistes.
Amen!" — Die Kraft dieses Sakramentes, dessen Stiftung durch Christus Mark. 6,13 „angedeutet," und welches später durch den
Apostel Jakobus (5, 14. 15) den Gläubigen „anempfohlen" und „bekannt gemacht" worden sein soll, besteht nach der römischen Lehre darin, daß es
die dem Kranken selbst unbekannten und ver
gessenen Sünden austilgt, die Ueberbleibsel und die Strafen der Sünde verringert oder ganz auslöscht, die Seele stärkt, und die Gesundheit
des Leibes — sofern es dem Heile des Kranken ersprießlich ist, — wieder bewirkt. —
Die evangelische Kirche erkennt den Ernst an, mit welchem die römische Kirche ihre Sterbenden auf den Tod vorbereitet (sie selbst
giebt bekanntlich ihren Kranken das Abendmahl), leugnet auch nicht
Wirksamkeit und Bedeutung der Sakramente.
433
das Sinnvolle und Erweckliche des einen oder anderen jener römischen Gebräuche; aber sie bestreitet deren Einsetzung von Christus und
die ihnen zugeschriebene Kraft; findet endlich auch die Berufung auf Jak. 5, 14. 15 durchweg als auf einem Mißverständniß und unrich tiger Uebersetzung beruhend.
Oel war schon im Alterthum eine
Arznei; und Salben mit Oel wurde namentlich in der ersten Christen heit häufig angewendet als Mittel jener wunderkräftigen Heilungen, von deren Vorkommen die heilige Schrift erzählt (1 Kor. 12, 9).
Der Rath des Apostels geht also dahin, daß, wo jemand erkranke,
er Hülfe suche sowohl für den Leib, wie Zuspruch für die Seele, bei denen, welchen Gott in dieser Beziehung Gaben gegeben.
„Er
rufe zu fich die Aeltesten d. h. entweder die Vorsteher oder die Greise, die Erfahrenen der Gemeinde (beides kommt in diesem Falle aus
dasselbe hinaus) u. s. w., nicht aber, wie die römische Kirche über setzt: „die Priester der Kirche". — III.
Noch wichtiger, als die verschiedene Zahl der Sakramente,
ist der Unterschied, welcher zwischen den beiden Kirchen in Beziehung
auf die Wirksamkeit der Sakramente stattfindet.
Nach römischer Lehre
„enthalten" die Sakramente die Gnade, und „bewirken" deshalb
auch mit Nothwendigkeit das Heil, sobald sie nur richtig (rite) voll zogen werden: unabhängig von dem subjektiven Zustande des Em pfängers. Oder die Sakramente wirken „ex opere operato“. —
Andererseits sind sie zum Heile unbedingt nothwendig, so daß nie mand ohne Sakrament durch den bloßen Glauben selig wird. —
Die evangelische Kirche sieht in den Sakramenten nur Mittel des Heils, welche dem Empfänglichen die Gnade „mittheilen" und zuführen.
Ohne den Glauben des Empfängers wirkt das Sa
krament nichts; während, wo das Sakrament nicht erlangt werden
kann, auch schon der bloße Glaube zur Seligkeit genügt.
„Denn
nicht die Abwesenheit, sondern die Verachtung des Sakramentes schadet." — Von allem diesem kann die evangelische Kirche nicht das
Mindeste nachlassen.
Eher könnte sie sich entschließen, noch eine oder
die andere Handlung als Sakrament anzuerkennen, wie sie nach dem Früheren hinsichtlich der Buße in dieser Beziehung anfänglich ge schwankt hat, als daß sie jemals die magische d. h. die von dem Glau
ben des Empfängers gelöste Wirksamkeit der Sakramente zugestände. Eitester. Materialieu. 2. Auftage. 28
Die Gnademmttel.
434 IV.
3. Die Sakramente.
Bedeutung und Wichtigkeit der Sakramente. — Die Sa
kramente sind sinnbildliche Handlungen, welche einen inneren Vor gang auf sinnensällige Weise darstellen, und dadurch den Glauben
kräftig anregen, stärken und des Heiles gewiß machen. — Sie sehen
das „Wort Gottes" voraus, und werden von demselben gewisser maßen getragen: sofern ohne die Predigt des Wortes Gottes niemand
weder den Vorgang, den sie abbilden, noch die Verheißung, die an
sie geknüpft und welche der eigentliche Gegenstand des Glaubens ist, nur verstehen würde *). — Sie theilen auch kein anderes und höheres Heil mit, als welches durch das Wort zugeführt wird,
sondern bieten dasselbe Heil nur
auf eine andere Weise bar8). — Aus diesem Grunde vermag der Herr auch ohne sie durch das
bloße Wort selig zu machen'). — Deshalb wird auch kein Evan gelischer die Quäker für Nichtchristen und für des Heils verlustig
erachten, welche bekanntlich weder Waflertaufe noch äußere Feier des Abendmahls haben, weil sie meinen, Christus habe in diesen Hand lungen nur den in ihnen abgebildeten inneren Vorgang darstellen
und mit besonderem Nachdruck einschärfen wollen; die äußere Wieder holung dagegen habe er eben so wenig,
wie bei der Fußwaschung,
geboten (Joh. 13, 14). — Aber eben so wenig wird auch ein der
Schrift und des menschlichen Herzens kundiger Evangelischer sich
durch ihr Beispiel verleiten lassen, die äußere Wiederholung zu unter lassen, und die Sakramente für gleichgültig oder überflüssig zu halten. 0 Matth. 28, 19. 20.
„Gehet hin in alle Welt und lehret (wörtlich über
seht: „machet zu Jüngern." Dem Sinne nach kommt es auf dasselbe hinaus.) alle Völker und taufet sie — und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen
habe." 2) Christus spricht (Matth. 9, lf.):
„deine Sünden sind dir vergeben."
Er
gebietet desgleichen seinen Aposteln (Luk. 24, 47), „in seinem Namen Buße und Vergebung unter allen Völkern zu predigen". „Wo aber Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit" (Luther im fünften Hauptstück). 3) Luther's Rath: so .jemand das Sakrament nicht nach der Einsetzung Christi
erlangen könne, sich desselben lieber zu enthalten. Sein Trost: wenn der Priester einem das Abendmahl verweigere, sich des nicht zu sorgen. Mit einem solchen werde der Herr das Abendmahl geistlich halten. — In der alten Kirche galt die Btuttaufe (der Märtyrertod) für einen vollen Ersatz der Wassertaufe, so außer ordentlichen Werth man auch auf letztere legte.
435
Wirksamkeit und Bedeutung der Sakramente.
Es ist ja richtig, daß ein Vater seinen Sohn segnen, und der Sohn an den Segen des Vaters glauben kann, ohne daß ihn der Vater gerade
an
das Herz drückt oder die Hand auf sein Haupt legt.
Aber es
ist ebenso unbestreitbar in der untheilbaren Natur des Menschen be gründet, daß der Vater die Fülle seiner Liebe auch in dieser Weise
ausdrücke, und der Sohn ob derselben doppelt froh werde.
hört es
wesentlich
Verständniß
So ge
zur Vöüigkeit der Liebe Christi und zu seinem
der menschlichen Natur,
daß
er seine Liebe auch in
diesen Zeichen, gewissermaßen seinem Händedruck und Kuß, dargestellt
wie es zur Vöüigkeit unserer Liebe zu ihm gehört,
hat;
daß uns
nach solcher Besiegelung und Bekräftigung seiner Liebe verlange. —
Kurz:
Unbedingt nothwendig zum Heile sind die Sakramente aller
dings nicht, aber sie tragen ein Außerordentliches zur Belebung und
Kräftigung unserer christlichen Frömmigkeit bei; oder, wenn man den Ausdruck gestatten will:
die Sakramente machen zwar nicht selig,
aber sie machen fröhlich — in dem Herrn.
V.
Die Wirksamkeit und
Sakramente läßt sich
in
außerordentliche Bedeutsamkeit der
anderer Weise auch so zur Anschauung
bringen. — Festzuhalten ist,
daß diese Wirksamkeit
durchaus auf
der Wirksamkeit des Wortes beruht; selbstverständlich nicht des ge druckten,
der Bibel,
die etwa auf dem Tische liegt;
auch nicht der
einzelnen Rede oder Predigt, die bei Verwaltung des Sakramentes gerade gehalten wird;
wirkenden Spruches.
am allerwenigsten irgend welchen zauberhaft
Sondern
des „Wortes,
das im Anfang war
und Fleisch geworden ist und der Christenheit gepredigt wird". Ohne dieses Wort sind die Sakramente leere Zeichen: mit ihm
und durch dasselbe werden sie Sakramente, Mittel, das auszuwirken, was sie bezeichnen.
Dem Brennspiegel gleich, der ohne Sonnenlicht
Spiegel ist; in dem aber und durch welchen, wenn die Sonne scheint, die Sonnenstrahlen sich concentriren unh zünden.
Entzündbares da ist.
Freilich nur, wo
Denn Felsen zündet auch der kräftigste Brenn
spiegel nicht an. — Die entsprechende Concentrirung der an sich kräftigen Wirkung des
Wortes zu verstärkter Wirksamkeit im Sakrament beruht nun darauf:
1.
Daß das Wort im Sakrament an jeden besonders ge
richtet wird: „Dir gilt's."
Die Gnadenmittel.
436 2.
Daß in
3. Die Sakramente.
dem Sakramente der ganze Mensch nach seiner
leiblichen und geistigen Seite angefaßt wird. 3.
Daß, wie bereits oben angedeutet wurde, das Zeichen der
Ersatz für die leibliche Berührung, Händedruck, Gruß und Kuß, und,
weil nun auch diese Wirksamkeit hinzutritt, das Sakrament gewisser maßen die Fortsetzung der persönlichen Wirksamkeit Christi ist.
Ins
besondere das Abendmahl ist in diesem Sinne „Leib des Herrn". 4.
Daß solcher Wirksamkeit des „Wortes" im Sakramente ge
genüber auch der das Sakrament Empfangende sich energischer, als
es der Regel nach sonst geschieht, zusammenfaßt und in seinem Be wußtsein, wie in seinem Willen, als „Glied am Leibe Christi", als
Christ erfaßt.
Das ist die große Bedeutung der ihrer Idee nach
nur einmal zu vollziehenden Taufe, beziehungsweise der Konfirmation: daß ähnlich, wie der Mensch, indem er zum ersten Mal „Ich" sagt,
damit zu einer höheren Stufe des Bewußtseins
Person wird,
also in geistlicher Beziehung
Kreatur in „Christo", indem
emporsteigt und
der Mensch,
die neue
sie mit ihrem „ich glaube" aus sich
heraus in die Gemeinde tritt, sich als christliche Persönlichkeit
ergreift und als solche auch von den andern erkannt und anerkannt wird.
Allerdings ist dieses „Person werden in Christo" nicht unbe
dingt an Taufe und Konfirmation gebunden.
Es werden diese Hand
lungen leider oft genug vollzogen, ohne daß sie „zünden".
Anderer
seits kann der Herr (— „Weg' hat er allerwegen" —) es sehr wohl in anderer Weise und
durch andere Führungen bewirken, daß ein
Mensch auch, ohne getauft und confirmirt zu sein, mit voller Klar heit und Stärke des Bewußtseins spricht: „Ich bin ein Christ", und:
„ich will mich als solchen erweisen." Mißverständnisse sein,
ohne Taufe,
die
Trotzdem könnten es nur
einen solchen abhielten, dasjenige, was
beziehungsweise Einsegnung in ihm entstanden,
durch
dieselben nachher zu versiegeln und vor der Gemeinde zu bekräftigen. — Das Nähere wird sich bei der Besprechung der einzelnen Hand
lungen der Taufe und des Abendmahls ergeben. —
Das vierte Hauptstück. Von der Taufe. I.
Auf die Frage:
techismus:
„was ist die Taufe?"
antwortet
„die Taufe ist nicht allein schlecht Wasser,
der Ka
sondern das
Wasser, in Gottes Gebot gefastet und mit Gottes Wort verbunden." Darin liegt zweierlei: Zuerst, daß die Taufe keine menschliche
Erfindung, sondern eine göttliche Einsetzung sei;
all' den Segen in
sich
und darum auch
tragen könne, den Gott in sie gelegt habe.
Zum andern: daß sie, um diese göttliche und himmlische Wirkung zu entfalten, ihrer Einsetzung gemäß mit „dem Worte Gottes verbunden"
sein müsse.
In beider Beziehung wird hingewiesen auf die Stelle
Matth. 28, 19. 20, in welcher ebenso der Befehl Christi:
hin in alle Welt und lehret alle Völker und des Vaters,
„Gehet
taufet sie im Namen
des Sohnes und des heiligen Geistes" berichtet wird,
als auch das „Wort Gottes" angegeben ist, in welchem alle Hei
den unterrichtet werden, und
das solcher Gestalt immer mit dem
Taufen „verbunden" sein und bleiben soll: nämlich das Evangelium
von Christo, dessen Gesammtinhalt der Herr in
dem kurzen Aus
drucke: im Namen des Vaters u. s. f. zusammenfaßt. — Dieses Sachverhältniß wird vielfach übersehen.
Uralt schon ist
die Meinung, daß dazu, daß eine Taufe Taufe sei, es genüge, wenn bei der übrigens richtig und mit der Absicht, zu taufen, vollzogenen
Handlung eben nur die Worte gesprochen werden.
In
„Im Namen
des Vaters" u. f. w.
diesem Sinne „taufen", wie erzählt wird,
Die Gnadenmittel.
438
3. Die Sakramente.
A. Die Taufe (4. Hauptstück).
hie und da römische Missionare ohne irgend welchen Unterricht Kin der und Erwachsene, indem sie dieselben, die häufig zu ganz andern Zwecken, z. B., um geheilt zu werden, zu ihnen kommen, verstohlener
Weise, Arznei,
der Seligkeit theilhaftig
„in nomine Dei
dazu sprechen:
mit Wasser benetzen und
patris, filii et Spiritus sancti“.
und
das eben sei die begehrte
unter dem Vorgeben,
oder auch
Und meinen sie dadurch zu Christen
gemacht
zu haben!
Aehnlich wissen
auch Evangelische vielfach von keiner andern Kraft der Taufe, als, welche in diesen heiligen Lauten liegt.
Aber aus dem Katechismus
selbst ist klar, daß „mit und bei dem Wasser" nicht bloße „Laute", nicht einmal nur „Worte", d. h. einzelne „Sprüche",
sondern „das
Wort" d. h. die gesammte Heilswahrheit oder das Evangelium von
Christo sein muß; in welchem Worte der zu Taufende entweder schon unterwiesen ist,
oder
das ihm
mindestens mit der Taufe zugleich
entgegenkommt und auf eine solche Weise an ihn gebracht wird, daß
auch er an den Herrn Christum
glauben,
auch begreifen und ver
stehen kann, auf welchen Vater und welchen Sohn und welchen Geist er getaufet und in den Bund seiner Gnade ausgenommen sei oder ausgenommen werde.
Ohne
diese Unterweisung, „dieses Lehren"
das — „mit
im Christenthum,
dem Wasser verbunden" oder „mit
und bei dem Wasser ist" und als eine Macht des Herrn hinter der Taufe,
auch hinter der Taufe der Kinder steht, ist bei derselben
überhaupt kein Wort, geschweige Wort Gottes, sondern eitel leerer Schall; und ist darum auch „das Wasser schlecht Waffer und keine
Taufe":
sondern eine bloße Ceremonie und
gräulicher Mißbrauch,
welcher höchstens noch durch den äußeren Pomp und den feierlichen
Ernst,
der immerhin auch
bei
solchem Taufen sein kann, einigen
Eindruck, nur keinen Heilseindruck, hervorzubringen vermag. —
Was bürgt denn nun dafür, Taufe sei, und
daß dieses „Wort" hinter einer
diese dadurch aus dem „Taufen mit Wasser"
zu
einer Taufe „mit Feuer und heiligem Geiste" werde? (Matth. 3, 11.) Was hat gemacht,
sich
als
daß unsere, eure Taufe eine rechte war und
solche kräftig erwiesen hat?
Antwort:
die christliche Ge
meinde, „die gesammte Christenheit auf Erden", so mit und bei und hinter eurer Taufe war und ist; in deren Wirkungskreis ihr gleich bei eurer Geburt eingetreten seid, die euch aber in der Taufe aus-
439
Bedeutung der Taufe im allgemeinen.
drücklich ihre Hand entgegenreichle, und mit derselben die Unterwei sung, die „Zucht und Vermahnung im Herrn", begann, die, in dem durch Schule und Prediger-Unterricht euch bis
Hause anfangend,
hierher begleitet hat, und nicht eher beendet werden wird, als bis
ihr „alles gelehret seid, was der Herr seinen Jüngern befohlen hat" (Matth. 28, 20). Das ist die Wahrheit derjenigen Auffassung, welche die Be
deutung und Kraft der Taufe vornehmlich darin setzt, daß dieselbe
das Zeichen des Eintritts und der Aufnahme in die christliche Ge meinde sei.
Die Taufe Christi ist wohl mehr: Entgegenbringung,
Siegel und Unterpfand der göttlichen Gnade.
Gottes Handschlag
vom Himmel her, daß er will unser Vater sein, und wir sollen seine
Kinder heißen; die Hand, die uns Christus entgegenstreckt, und die uns ergreift,
um diese Verheißungen zu verwirklichen.
Aber sie ist
und wirkt alles dieses doch nur, sofern sie jenes erstere auch ist.
Der Herr wirkt in seiner Gemeinde. meinem Namen beisammen sind,
„Wo
zwei oder
drei
in
da bin ich mitten unter euch"
(Matth. 18, 20). Die Taufe ist die Thür, durch welche man zur Kirche eingeht.
Bei einer Thür kommt alles daraus an, wer und was hinter der Thür ist.
Auf dem Theater seht ihr auch Häuser, prächtig zu schauen, mit goldenen Portalen und prunkenden Inschriften.
Aber wenn man ein
tritt, so ist hinter der Pforte dasselbe, was vor ihr war — Bretter! — Die Taufe ist nur dann kein Schauspiel, wenn hinter ihr nicht
wieder nur „Welt", sondern eine Christengemeinde, — ein „HauS Gottes" — und wenn auch nur von zwei oder dreien, ist.
Dann
aber ist hinter ihr auch der Herr, und sie führt zu ihm. — Danach ist auch die Frage nach der kirchlichen Gültigkeit der
Taufe zu beantworten.
In der Regel wird dieselbe danach entschie
den, ob außer den sonstigen, schon früher angedeuteten, Erforder
nissen: nämlich der Absicht, zu taufen, und dem Taufen mit Wasser,
die herkömmliche,
angeblich von dem Herrn selbst befohlene, Tauf
formel: im Namen des Vaters u. s. w. gebraucht worden ist.
Und
allerdings muß darauf gehalten werden, daß der bei der Taufe zur Anwendung kommende Spruch, das ist eben die „Formel", die Taufe
440
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
A. Die Taufe (4. Hauptstück).
klar und bestimmt als Taufe und zwar als Taufe Christi bezeichne.
Ein Taufen auf den Namen Friedrichs des Großen,
wie
es im
vorigen Jahrhundert vorgekommen sein soll, ist nicht bloß eine Läste rung, sondern auch eine Albernheit.
zu nennen,
Eben so wenig wäre es Taufe
wenn einer etwa auf den Namen der Freiheit und der
Gleichheit und der Brüderlichkeit oder der allgemeinen Menschenliebe
und dem Aehnliches taufen wollte.
Weiter ist ja auch, wo wir der
oben gedachten herkömmlichen Formel begegnen, begründet,
daß eine Gemeinde,
die Vermuthung
welche sich derselben bedient,
den
Willen habe, an Christi Wort zu halten und dasselbe zu lehren.
Dessenungeachtet wird man doch nicht ausschließlich nach der Weise,
wie getauft wird, entscheiden dürfen, sondern wird sich die Gemeinde
selbst anzusehen haben.
Taufe gültig,
Ist diese eine christliche, dann ist auch ihre
auch wenn dieselbe nicht mit der jetzt allgemein ge
bräuchlichen Formel,
sondern, wie die älteste Christenheit,
„auf den Namen Christi"
taufte (Apostg. 10, 48),
einer dasselbe besagenden Formel bediente.
einfach
oder sich sonst
Denn in der That
sind ja mehrere Formeln denkbar, wie beim heiligen Abendmahl
wirklich mehrere vorkommen '),
obschon niemand ohne Noth an der
gebräuchlichen uralten wird ändern wollen.
Wo wir dagegen eine
Gemeinde nicht als christliche anzuerkennen vermöchten,
da würden
wir auch nicht deren Taufe anerkennen können, und wenn sie der nnsrigen bis auf den Buchstaben gliche. — Was der Katechismus in Frage 3 von der Wirkung der Taufe
sagt, ist nicht genau geredet.
Es wird darin der Taufe zugeschrie
ben, was einerseits nur Christo oder dem Geiste Christi, als dem bewirkenden, andererseits dem Glauben, als dem empfangenden und ergreifenden,
zukommt.
Wie es denn auch in der Erklärung des
zweiten Artikels ausdrücklich heißt: „ich glaube, daß Christus mich erlöset hat,
erworben und gewonnen von allen Sünden, vom Tode
’) Die unirte: I. Christus spricht: „Nehmet hin und esset, das ist mein Leib u. s. f." Die lutherische: „Nimm hin und iß, das ist der wahre Leib ii. s. w."
Die reformirte: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Der Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi?" (1 Kor. 10, 16.) Die uralte, tief ergreifende. Geistlicher: „Leib des Herrn!" Communicant: „Amen!" Geistlicher: „Blut des Herrn!" Communj-
cant: „Amen!"
441
Bedeutung der Taufe im allgemeinen.
und der Gewalt des Teufels"; und im dritten: „ich glaube, daß der
heilige Geist mir und allen Gläubigen täglich alle Sünden reichlich vergiebt" u. s. f.; — wie endlich an unserer Stelle selbst
auf den
Glauben hingewiesen, vollends in dem dazu als Beleg angeführten
Worte Christi der ganze Nachdruck aus den Glauben gelegt, insbe
sondere das „Verdammtwerden"
nicht an
das Nichtgetauftwerden,
sondern lediglich an das Nichtglauben geknüpft ist.
Luther hat hier
eben nur der Kürze wegen also geredet, um anzudeuten,
daß die
Taufe kein leeres wirkungsloses Zeichen fei, sondern allerdings eine Kraft habe, was nach dem vorher Auseinandergesetzten, so wie nach dem,
was bei den Sakramenten ausgeführt worden ist,
niemand
in Zweifel ziehen wird.
auch wohl
Scharf ausgedrückt müßte es
heißen, die Taufe bilde das Heil in Christo ab, bringe es wirksam entgegen (helfe es auswirken)') und mache desselben gewiß.
Alles
dieses natürlich unter der Voraussetzung, daß sie eine Taufe in dem
oben ausgeführten Sinne sei, andererseits,
daß solchem Taufen in
dem Empfänger Empfänglichkeit d. i. Glaube entgegenkomme.
Wie
das der folgende Abschnitt (Frage 5), der nach dem allem nun wohl
keiner weitern Erörterung mehr bedarf,
so vortrefflich
hervorhebt:
„Wasser thut es freilich nicht, sondern das Wort Gottes, so mit und
bei dem Wasser ist, und der Glaube, so solchem Worte Gottes im
Wasser trauet.
Denn ohne das Wort Gottes ist's gar keine Taufe,
sondern schlecht Wasser (und ohne Glauben
wirkt es
nicht als
Taufe): aber mit dem Worte Gottes ist es (dem Gläubigen) Taufe d. i. ein gnadenreiches Wasser des Lebens und ein Bad der neuen Geburt im heiligen Geist, wie St. Paulus sagt zu Titus u. s. f."
In dem letzten Abschnitte (Frage 6 und 7) wird dem Nachden kenden auffallen,
daß in
solches Wassertaufen?"
dem ersten Satze:
denn
die Taufe dargestellt wird als Hindeutung
auf etwas, was noch geschehen soll, nämlich,
in uns
„Was bedeutet
durch tägliche Reue und Buße soll
sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten,
„daß der alte Adam ersäufet werden und und wiederum täglich
herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtig keit und Reinigkeit vor Gott ewig lebe":
während in dem zweiten
Vergl. das bei den Sakramenten unter V. Gesagte.
442
® naben mittel.
3. Die Sakramente. A. Die Taufe (l.Hauptstück).
mit Berufung auf Röm. 6 gesagt wird, daß Mehr, als das bereits geschehen sei:
nämlich, „wir sind sammt Christo durch die Taufe
begraben in den Tod":
zugesetzt wird:
wozu freilich am Schluß auch wieder hin
„also sollen auch wir in einem neuen Leben wan
deln." —
Um dies zu verstehen, muß man sich zuerst daran erinnern, daß, was St. Paulus an die Römer schreibt, von solchen gesagt ist, welche als Erwachsene und
unter Umständen getauft worden waren,
unter denen nicht leicht jemand in die christliche Gemeinde eintrat ohne ein lebhaftes Verlangen nach dem Heil und ohne die Erfah rung, daß es hier zu finden sei.
Sodann, daß der Apostel ja nicht
von der Taufe als abgerissener Handlung redet,
sondern von dem
damit verbundenen Eintritt in die Kirche, also auch in die Gemein
schaft und den Genuß der dieselben erfüllenden Kräfte des Geistes Christi und Christi selbst. Von solchen durch den Glauben in wesent
licher Lebensgemeinschaft mit Christo Stehenden konnte allerdings
gesagt werden beides: sowohl, daß sie ihrem inwendigen Menschen nach bereits mit Christo gekreuzigt, gestorben und begraben und neue geworden seien: als auch, daß sie, was an ihrem Herzen bewirkt sei,
im Leben bewähren und das neugewonnene Leben
„im Geiste des
Gemüthes" befestigen und kräftigen müßten dadurch,
daß sie nun
auch die „Gliedmaßen der Sünde" d. i. das äußere Leben mit der nachwirkenden Kraft früherer Gewohnheit und der Macht der Ver
hältnisse umgestalteten,
und jede von daher neu auftauchende Lust
der Sünde ertödteten, indem sie dieselben wieder und wieder in die
reinigende Fluth des Wortes und Geistes Christi eintauchten und gewissermaßen ersäuften. — Aber dasselbe kann nicht nur,
muß noch heute gesagt werden.
sondern
Jeder lebendig Glaubende ist in
seinem inwendigen Menschen der Lust der Sünde abgestorben, ein neuer Mensch (2 Kor. 5, 17), oder er glaubt eben nicht, ist noch kein Christ. — Und ist
diese
durch den Geist Christi in uns bewirkte
Erneuerung des inwendigen Menschen die wesentliche Bedingung für jede Besserung auch im Einzelnen und Aeußern.
Oder anders aus
gedrückt, alles, was wir thun, wurzelt in dem, was Gott an uns zuvorgethan, wie der Apostel schreibt:
„Lasset uns ihn lieben, denn
er hat uns zuvor geliebt" (1 Joh. 4, 19), und wie der Herr spricht:
Bedeutung der Taufe im allgemeinen.
443
Die Kindertaufe.
„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und gesetzt,
daß
übermal:
ihr hingeht und Frucht bringt" (Joh. 15, 16).
Und
Gleichwie der Rebe
„Bleibet in mir, und ich in euch.
kann keine Frucht bringen von ihm selber, er bleibe denn am Wein also auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir. — Denn ohne
stock,
mich könnt ihr nichts thun" (Joh. 15, 4.5).' Das ist das, was die
evangelische Kirche meint, wenn sie lehrt, alle christliche „Heiligung" setze unsere „Rechtfertigung" in Christo voraus,
und könne wieder
und wieder nur von dieser ausgehen (Matth. 7, 17fg.). — Anderer seits muß der Glaube und die Rechtfertigung,
daß sie sind,
er
weisen in demjenigen, was und wie sie wirken, wie Paulus an die Galater (5, 25) sagt:
„So wir im Geiste leben, so lasset uns
auch im Geiste wandeln!" — Beides wird in der Taufe dargestellt: sowohl, was Gott in Christo zuvorgethan und noch thut, als auch,
was wir in Gott thun müssen, auf daß sein Werk in uns vollendet
werde. II.
Je mehr in solcher Weise bei
der Taufe der Glaube
betont wird, um so mehr entsteht die Frage, wie man die Kinder
taufe rechtfertigen wolle.
Frage nicht einzulassen.
Die römische Kirche braucht sich auf diese Sie lehrt,
daß die Sakramente ex opere
operato d. i. unangesehen die subjektive Beschaffenheit der Empfänger
wirken; für sie versteht sich
die Kindertaufe von selbst.
Um so
weniger darf die evangelische Kirche die Frage abweisen.
Und in
der That ist dieselbe in ihr, und zwar nicht bloß von schwärmerischen
Sekten (den Wiedertäufern in Münster — den Mennoniten), sondern auch
von
den besonnensten und nüchternsten Gliedern großer und
angesehener Gemeinden, die sonst in allen Stücken mit der evangel. Kirche übereinstimmen (den Baptisten) aufgeworfen und gegen sie entschieden worden. — Als in keiner Weise durchgreifend wider die Gegner der Kinder
taufe muß zunächst der Versuch bezeichnet werden, dieselbe aus der Schrift zu beweisen.
Denn obschon mehrfach in letzterer die Notiz
vorkommt, daß dieser oder jener mit seinem ganzen Hause getauft
z. B. Stephanus (1 Kor. 1, 16),
der Kerkermeister zu
Philippi (Apostelgesch. 16, 33), so fehlt doch
jeder Nachweis, daß
worden sei,
zu diesem „Hause" oder, wie es auch heißt, zu „allen den Seinen,"
444
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
unmündige Kinder gehört haben.
A. Die Taufe (4. Hauptstück).
Wahrscheinlich ist vielmehr, daß
mit diesem Ausdrucke nach dem damaligen Sprachgebrauch neben den sonstigen Hausgenoffen die Dienerschaft bezeichnet sei. — Jeden
falls finden wir in der Geschichte Spuren von Kindertaufe nicht vor dem Ende des zweiten Jahrhunderts; und auch da hat es noch ge
raume Zeit, mehr, als ein Jahrhundert gebraucht, ehe sie sich gegen ihre anfängliche Bestreitung und gegen die Neigung, die Taufe aufzuschieben, durchgesetzt hat.
Ebenso ist es nur von der Verlegen
heit eingegeben, wenn selbst Luther bald von einem besondern „Kinder
glauben" bald von einer Stellvertretung für den mangelnden Glauben der Unmündigen durch den Glauben der Erwachsenen und Mündigen
geredet hat.
Denn das höbe, wo man damit Ernst macht, den
„rechtfertigenden Glauben"
auf,
den die evangelische Kirche lehrt,
und untergrübe das Fundament der Sittlichkeit in ihr. — So bleibt
in der That für den Standpunkt, der einerseits alles das, was
in
der Schrift von der Taufe gesagt und über sie verheißen ist, lediglich
auf die einzelne, äußere, abgerissene Taufhandlung bezieht,
andererseits die Taufe der Kinder für die ganze volle Taufe hält, nichts übrig, als entweder die evangelische Lehre vom Glauben als un entbehrliches Erforderniß bei der Taufe dranzugeben d. h. katholisch
zu werden: oder aber die evangelische Grundlehre festzuhalten, dann aber mit den Baptisten ausschließlich Erwachsene, die ihren Glauben bekennen, zu taufen.
Mögen indeß auch Einzelne auf diesem Stand
punkte stehen, die evangelische Kirche im Ganzen hat ihn tut Grunde
nie getheilt, und wenn doch, so hat sie ihn längst, zuerst instinkt
mäßig, darauf mit wachsendem Bewußtsein verlassen. Die flüchtigste Umschau genügt, um zu zeigen, daß die gesammte
deutsche evangelische Kirche — wie auch die Theorie sei — in der
Praxis die Kindertaufe für sich allein nicht für die volle Taufe
hält, sondern sie erst, nachdem die Konfirmation dazugekommen, der selben gleichstellt.
Das beweist der Umstand, daß sie die Konfirmation
nur bei denen Eintreten läßt,
welche als Kinder getauft worden
find, bei solchen dagegen, welche die christliche Taufe als Erwachsene empfangen haben, nicht an sie denkt.
Daß sie zweitens die als
Kinder getauften, nachdem sie erwachsen sind, auch wenn sie alle
übrigen Bedingungen erfüllen, dennoch nicht ohne Konfirmation
445
Die Kindertaufe.
weder zum Abendmahle noch zur Pathenschaft und zur Trauung
zuläßt.
Dazu kommt drittens, daß sie die Confirmation entschieden
mit einer viel größeren Feierlichkeit und unter viel tiefer in Has Leben der Einzelnen, wie der Gemeinde, eingreifender Bewegung vollzieht, als solches bei der Taufe der Kinder der Fall ist.
Darum
hat sich die deutsche evangelische Kirche auch gar nicht über Kinder
taufe zu verantworten; und kann in dieser Beziehung
den Vor
haltungen der Baptisten: „entweder mit Glauben, dann baptistisch;
oder ohne Glauben, dann katholisch", getrost erwidern: „wir taufen gar nicht ohne Glauben, taufen auch nicht Kinder," sondern wir
fangen nur die Taufe bei den Kindern an, um sie an den Erwachse
nen, welche ihren Glauben bekennen, zu vollenden.
Worüber sich die
evangelische Kirche gegen Baptisten, wie gegen römische und ihre eigene Buchstabenorthodoxie, zu verantworten hat, ist vielmehr nur das, daß
sie die unzweifelhaft als eine Handlung eingesetzte Taufe in dieser Weise in zwei der Zeit nach weit auseinanderliegende Handlungen
zerlegt hat. Was unser Herr von seinen Worten sagt:
„die Worte, die ich
rede, sind Geist und Leben" (Joh. 6, 63), Paulus aber ganz allge mein ausspricht: „der Buchstabe tobtet, aber der Geist macht lebendig" (2 Kor. 3, 6), das gilt auch von den Einrichtungen des Herrn.
Nicht Taufe, nicht Abendmahl ist von ihm als tödtender Buchstabe
eingesetzt: sondern beide sind Vermächtnisse des Herrn an seine Kirche,
welche sie in seiner Freiheit (Joh. 8, 31. 32) zu verwalten hat; nur, daß jede Abweichung von der ursprünglichen Form dem Geiste des Herrn, dem Geiste der Wahrheit und der Liebe, entspreche: einer
seits dasjenige treu wiedergebe, was der Herr in seine ursprüng liche Einsetzung gelegt hat, andererseits das Bedürfniß des Glaubens erfülle und ein angemessener und wahrhafter Ausdruck des That sächlichen sei.
In diesem Sinne hat die Kirche auch sonst bei der
Taufe Veränderungen vorgenommen, und unbedenklich die Form
der Untertauchung verlassen und dafür die Besprengung eingeführt. In dieser Freiheit hat sie zuerst das Abendmahl von dem Liebes
mahle, beziehungsweise dem Passahmahle, mit denen es ursprünglich
verbunden war, gelöst; daraus die letztgenannten Mahle, als nicht
mehr dem Sinne des Herrn entsprechend, ganz abgeschafft.
Aus der-
446
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
A. Die Taufe (4. Hauptstück).
selben Auffassung hat sie für das Abendmahl je nach
den verschie
denen Zeiten, Orten und Ländern mannigfaltige, oft sehr von ein ander abweichende Formen entwickelt: ich erinnere nur an die bereits
angegebenen verschiedenen Spendeformeln, so wie an die merklichen Abweichungen bei welche knien
der Austheilung:
an je einen, je zwei
u. s. f-,
oder stehen; oder an je 12, welche zu Tische sitzen;
den Prediger; oder, nachdem dieser nur die Einsetzungsworte
durch
gesprochen, durch den, beziehungsweise durch die Diakonen; in die Hand, in den Mund oder auch beim Kelche von Hand
zu Hand.
Trotzdem hält, die evangelische Kirche wenigstens, das Abendmahl
in jeder dieser Formen für ein rechtes Abendmahl, so lange dabei
nur „der Tod des Herrn verkündet" (I Kor. 11, 26), das Brot als Sinnbild des für uns in
den Tod gegebenen Leibes Jesu darge
und der Kelch als Unterpfand des in dem
reicht,
schlossenen neuen Bundes ausgetheilt wird.
Blute Jesu ge
So kommt es also auch
bei der Handhabung der Taufe nur darauf an, ob dieselbe die an
gegebenen Bedingungen erfüllt, d. i. ob sie dem Sinne I. Christi bei der Einsetzung
entspricht, zum andern, ob
sie dem Bedürfnisse
des Glaubens entgegenkommt und der Sachlage gemäß ist. ist in hohem Maße der Fall.
Beides
— Ich beginne mit dem letztern. —
Ihr seid Christen; schwache, unmündige Anfänger im Christenthume:
aber Christen.
Wann seid ihr es geworden?
Ihr werdet
euch, soviel ihr auch nachdenkt, nicht auf eine Zeit besinnen können,
in der ihr Heiden oder Juden gewesen wäret.
So weit eure Er
innerung reicht, habt ihr bereits von dem Heilande I. Christo gehört (denkt nur an die Weihnachtsfeier und den Weihnachtsbaum);
als
ihr beten lerntet, habt ihr das „Unser Vater" gebetet; seid von Kind
an angeweht und
ergriffen gewesen von
lieber Vater!" ruft (Röm. 8, 14. 15).
dem Geiste, der „Abba,
Das ist bei denen,
unter'Nichtchristen geboren werden, nicht der Fall.
welche
Wohl ist in
ihnen dieselbe Fähigkeit, von Christo ergriffen zu werden, und der
Drang, der jeder Menschenseele von Natur innewohnt, nach Christo hin.
Wohl ist in euch der Anlage nach dieselbe sündige Natur, ver
möge deren ihr, wie sie, und
sie, wie ihr, nur
durch Buße und
Glauben und durch die neue Geburt im heiligen Geiste Christen und „Kinder Gottes" werden könnt.
Dennoch ist ein Unterschied, wie
Die Kindertaufe.
447
zwischen zweien, übrigens ganz gleichen, Pflanzenkeimen; von denen
der eine in Dunkelheit und
erstarrenden Winterfrost gethan, der
andere dem Lichte und der belebenden Wärme des Frühlings ausge setzt wird.
Jener bleibt ohnmächtig, wo er nicht verdirbt: dieser treibt
von dem Moment an, wo ihn die Wärme und das Sonnenlicht berührt.
So seid auch ihr von euerm ersten Athemzuge an — fern von der Macht und Nacht der Finsterniß — unter das Helle Licht des Evan
geliums gethan, welches den schlummernden Keim des Christenthums
in euch weckte:
also, daß in keinem von euch sich erst das Mensch
liche für sich, abgesondert von dem Christlichen, geschweige das Heid
nische oder Jüdische entwickelte, und dann
erst zu dem also Ent
wickelten der Einfluß des Ehristenthums dazu gekommen wäre und
es hätte überwinden und wegschaffen müssen:
sondern alles, was
in euch entstand, entstand und bildete sich von vorn herein unter dem
erleuchtenden,
reinigenden,
Christenthums.
heiligenden Eindrücke Christi und
des
Gilt da nicht von euch, was wir Apostelgesch. 10,
44—48 lesen, daß, wo euch „durch Gott solche Gnade gegeben,"
niemand berechtigt sei, euch das Siegel und Zeichen derselben vor zuenthalten? daß es vielmehr nichts, als Gehorsam gegen Gott und die Anerkennung seiner gnadenvollen Führung, ist, wenn die Kirche
euch, die ihr — ihr möget nun getauft sein oder nicht — in der Kirche seid, und auf welche Christus in der Gemeinde immer schon
seine Hand gelegt und euch an sich genommen hat, die Weihe der
Kirche ertheilt? (Mark. 10,13—16.)
Weil aber doch die Zugehörig
keit zur Kirche durchaus Sache der eignen freien Entschließung sein
muß, auch das Christliche sich wickelt;
vielmehr
nicht mit Naturnothwendigkeit ent
die Erfahrung lehrt, daß auch solche,
die von
Christo erfaßt und berufen sind, sich ihm widersetzen und von ihm
losreißen können: so taufen wir euch zwar der Form nach ganz so,
wie wir Erwachsene taufen; sehen aber eure Taufe nicht eher für vollendet und für die volle Taufe Christi an, als
bis ihr nach
empfangenem vorbereitendem Unterricht eingesegnet seid, d. h. bis ihr selber feierlich und öffentlich erklärt habt, daß ihr die Hand des
Herrn, die euch ergriffen hat, auch eurerseits ergreifen und festhalten und
treue Glieder seiner Gemeinde sein und bleiben wollt.
Nun erst werdet
ihr zum Abendmahl zugelassen, und euch auch alle sonstigen Rechte und
448
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
A. Die Taufe (4. Hauptstück).
Pflichten der Gemeindeglieder zugeeignet, in dem Maße, als ihr solche
nach eurem Alter und nach eurer Stellung auszuüben vermögt. — Dieses der jetzigen Sachlage durchaus entsprechende Verfahren
wäre in der ersten Zeit des Christenthums schlechthin unmöglich ge wesen, weil es unwahr gewesen sein würde.
Denn in jenen Zeiten
war die Kirche noch nicht, was sie jetzt ist, eine große, das gesammte
Leben der Völker beeinflussende und mit dem in ihr waltenden Geiste Christi durchziehende Gemeinde, um es kurz zu sagen: „Volkskirche".
Sondern einzeln, Mann für Mann, mußten ihre Glieder erst ge sammelt werden aus solchen, die bis dahin die einen dem Heiden-
thume, die andern dem Judenthume angehört hatten; und von denen
man auch, nachdem es hie und da bald größere bald kleinere Christen
gemeinden und in ihnen auch vereinzelte christliche Hauswesen gab,
nicht sagen konnte, daß die innerhalb solcher Gemeinden Geborenen und von christlichen Eltern Stammenden schon gleich mit ihrer Geburt in das Helle Licht des Evangeliums versetzt, sondern höchstens, daß sie in den Kampf des Lichts mit der Finsterniß d. i. in den Streit
eines noch übermächtigen Heidenthums mit dem erst allmählich sich zur weltbeherrschenden Macht emporringenden Christenthume hinein Sofern nämlich auch bei diesen bald nur der eine
geboren seien.
Theil, hier der Vater dort die Mutter, Christ war, bei andern zwar die Eltern der Kirche angehörten, dagegen die Dienerschaft noch im
Heidenthume verharrte, allen aber, auch den am meisten Begünstigten,
außer dem Hause noch das ungebrochene Heidenthum begegnete: die heidnische Schule, die heidnische Sitte, das
heidnische Volksleben,
das heidnische Recht, die heidnische Litteratur: alles das, was jetzt,
von dem Christenthume durchzogen, der Predigt, ebenso viel hülfreiche Mächte zur Seite steht, nisse bereitete.
ebenso
der Kirche
als
als es sonst Hinder
Unter diesen Umständen wäre die Kindertaufe damals
eine Lüge und ein Gottversuchen gewesen, als sie jetzt das
Bekenntniß und
der Dank für die Gnade ist, die Gott der Herr
seiner Christenheit gegeben.
Diese völlig veränderte Stellung
Kirche übersehen die Baptisten.
der
Sie ziehen nicht in Betracht: daß
der Herr nicht bloß im Himmel, sondern auch in seiner Gemeinde ist, und daß er sich die Völker unterthänig gemacht hat.
Während
andererseits die römische und griechische Kirche und, so viele sonst
Kindertaufe.
Nothtaufe.
Pathen.
449
die Kindertaufe als solche für die volle Taufe halten, vergessen, daß die Taufe unter allen Umständen der „Bund eines guten Gewissens
mit Gott" sein und bleiben wolle (1 Petri 3, 21).
Ob unsere Einrichtung nun auch der Absicht Jesu bei der Ein
Was wollte der Herr?
setzung der Taufe gemäß ist? liche Handlung einsetzen,
Eine feier
welche das Zeichen der Zugehörigkeit zu
ihm wäre, die ebenso darstellte, was die Menschen bei ihm und in seiner Gemeinde zu erwarten hätten, als sie das unumwundene Be
kenntniß zu ihm und dieser Gemeinde forderte.
Ist dies in unserer
Weise nur im mindesten verdunkelt, oder nicht vielmehr im höchsten Maße ausgedrückt? III.
Hinsichtlich der Nothtaufe ist dem unchristlichen Wahne
cntgegenzutreten, als ob Kinder, die ohne Taufe sterben, verdammt würden. Vielmehr ist zu lehren, daß von solchen, zumal wo sie durch
ihre Geburt innerhalb der christlichen Kirche noch eine nähere Ver heißung auf Christum empfangen haben, das Wort des Herrn gelte:
„Mein Vater, der sie mir gegeben, ist größer, denn alle;
und nie
mand kann sie aus meines Vaters Hand reißen" (Joh. 10,29). Aber
eben dieses drückt auch die Nothtaufe aus, und ist darum als eine löbliche und in hohem Grade erweckliche und tröstliche Einrichtung-zu
empfehlen.
Soll und kann sie auch nicht die Kinder selig machen —
dafür wird Gott auch ohne Taufe seine Wege haben — so vermag sie die Herzen der Eltern „fröhlich zu machen",
daß sie mit christ
licher Freudigkeit sich in den Willen Gottes, wie er es auch füge, ergeben.
Erhält dann der Herr die Kinder am Leben,
so werden
die Eltern darin den zwiefachen Sporn finden, dieselben in der Zucht
und Vermahnung des Herrn zu erziehen. IV. Pathen sind Repräsentanten der christlichen Gemeinde.
So
versteht es sich von selbst, daß nur solche, die in voller Mitgliedschaft der Gemeinde stehen, zu diesem Ehrenamte zugelassen werden können. Dazu sind sie Bürgen für die christliche Erziehung
und sollen bei derselben hülfreich sein.
der Täuflinge
Es wird von ihnen erwartet
und gefordert, daß sie den Eltern, die sie in christlichem Vertrauen zu diesem Liebesdienst berufen,
in der Erziehung
der Kinder mit
Rath und That zur Seite stehen, vorkommenden Falls an den Ver
waisten Elternstelle vertreten. Elle st er, Materialien. 2. Auflage.
Darum soll man nur solche Pathen-
29
450
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
A. Die Taufe (4. Hauptstück).
stellen annehmen, bei denen man die Pflichten, welche die Pathenschast auferlegt, erfüllen kann.
Gevatterschaften, die einem nur der
Bettelei oder der Ehre wegen angetragen werden, wie solcher Miß brauch namentlich eben eingesegneten jungen Christen gegenüber im
Schwange ist, bei denen man übrigens nicht im entferntesten daran
denkt noch daran denken kann, ihnen die Verpflichtungen und Rechte von Pathen einzuräumen, — die soll man unbedingt ablehnen.
Die
Taufe Christi ist nicht dazu da, zum Gelderwerb gemacht zu werden, noch auch, daß man mittelst ihrer einem „jungen Herrn" oder dem
„Fräulein" eine Höflichkeit erweist.
Das fünfte Hauptstück. Vom heiligen Abendmahl. I.
Das Aeußerliche.
1.
Es ist bekannt, daß das h. Abendmahl (h. Nachtmahl, die
h. Communion, der Tisch des Herrn)') von dem Heilande in der
Nacht, da er verrathen ward, im Anschlüsse an das Passahmahl ein gesetzt, und von der ältesten Kirche in Verbindung mit einem voran
gehenden Bruder- (Liebes-) Mahle (Agape) gefeiert worden ist.
Die
bei dieser Verbindung frühzeitig hervortretenden Uebelstände, welche schon Paulus in seiner Gemeinde zu Korinth zu rügen hatte (IKor. 11), bewirkten,
daß man zuerst das Abendmahl von dem Brudermahl
trennte und beide als besondere Feier beging; sodann die Bruder
mahle, die sich bei immer weiterer Ausdehnung der Gemeinden immer
weniger in angemessener Weise begehen ließen, überdies ihren Zweck (Ueberbrückung und Ausgleichung
der
zwischen
den
verschiedenen
Schichten der Gesellschaft und den verschiedenen Nationalitäten herr schenden Kluft) erfüllt hatten,
nach und nach ganz einschlafen ließ.
Nur in der Brüdergemeinde ist eine wohlgemeinte, aber matte Nach bildung versucht. Dem Wesen nach, sind sie in die christliche Gesellig keit übergegangen. l) Nur der Name „Sakrament des Altars" ist unangemessen und wird besser vermieden; da wir Evangelischen keinen Priester (außer dem einigen Hohenpriester
I. Christus) und keine Opfer (außer seiner Dahingebung in den Tod) und
Altäre kennen.
keine
452
3. Die Scikwlneitte.
Gnadenmittel.
B. Dns h. Abendmahl (5. Hauptstück).
Diese ursprüngliche Stellung und Verbindung des Abendmahles mit einer vorangehenden immerhin feierlichen,
Mahlzeit
läßt erkennen,
jedenfalls wirklichen
der römischen
wie unberechtigt die von
Kirche aufgestellte, auch in der evangelischen noch hie und da nach wirkende Satzung ist,
daß, wer zur h. Communion gehen wolle,
desselben Tages
der Mitternachtsstunde an keinerlei
von
nicht Speise und
Nahrung,
daß eine volle Sättigung
dürfe. — Es ist unser aller Erfahrung, nicht nur den Leib,
irdische
nicht Trank zu sich genommen haben
sondern auch den Geist müde macht; anderer
seits, daß geistige Anspannung und Gemüthsbewegung, die ein ge wisses Maß überschreitet, das Begehren nach Speise und Trank ab
stumpft,
so daß cs uns bei angestrengter Arbeit und lebhafter Ge
müthsbewegung sogar unmöglich wird,
das Mindeste zu genießen.
Daraus folgt, daß, wer bei so anfassenden Gelegenheiten, wie Ein segnung, Abendmahl u. s. w. — ich sage gar nicht übermäßig essen
und trinken wollte, tigen vermöchte:
sondern sich auch nur so recht behaglich zu sät
daß der jedenfalls einen noch sehr stumpfen,
nicht gegen das Wichtige,
was vor ihm ist, in sträflicher Weise
gleichgültigen Sinn offenbaren würde.
selbe Erfahrung,
wo
Desgleichen ergiebt aber die
daß das Sichkasteien und Abhungern
auch nicht
frisch macht, im Gegentheil zu Schwachheiten Leibes und der Seele
führt, die, wenn sie auch niemals den Segen der h. Handlung weg nehmen, doch ebenfalls nicht zur Förderung der Andacht, der eignen
wie der Andacht der Gemeinde, dienen.
Was folgt daraus?
Daß,
wie der Katechismus sagt, Fasten und sich leiblich Bereiten eine feine äußerliche Zucht ist, aus der aber kein Gebot gemacht werden darf;
sondern, die jedermann so zu üben hat, wie er weiß, daß er dabei
geistig
der
am
andere
Der eine
frischesten bleibt.
irgend welche Nahrung zu sich zu nehmen:
fahrung an die Hand giebt. unser Essen
enthält
sich
der Speise;
dagegen wird sich pflichtmäßig sogar zwingen müssen,
jemandem
Aergerniß bereiteten,
wie es jedem seine Er
Nur, wenn wir sähen,
Sorge
um das Heil
daß wir durch
unserer Seele oder
da müßten wir um der Liebe willen uns ent
halten, und es in Gottes Namen auf eine Leibesschwachheit ankommen
lassen. — 2) Der Herr Jesus hat das h. Abendmahl nicht abgesondert
Das Aeußerliche mit Beziehung auf die Einsetzung.
453
mit den einzelnen Aposteln, sondern gleichzeitig mit der gesammten
Jüngerschar begangen, als ein Mahl, durch welches sie ebenso unter
einander, wie mit ihm, verbunden werden sollten. setzungsworte:
(Vergl. die Ein
„Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blute."
Ferner: Joh. 13, 34:
„Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch
unter einander liebet, gleichwie ich euch geliebt habe."
1 Kor. 10,
16. 17: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft
Denn ein Brot ist es:
des Leibes Christi?
Leib,
so sind wir viele ein
dieweil wir alle eines Brotes theilhaftig sind.")
Daraus
folgt: das Abendmahl soll in und mit der Gemeinde begangen wer
den.
Jede willkürliche Absonderung,
jede Privatcommunion
„für
den Herrn Senator" verstößt gegen den Sinn und die ursprüngliche Bestimmung der h. Handlung. man bemüht sein,
Selbst bei Krankencommunionen soll
die Gemeinde herzustellen und diese ergreifendste
Gelegenheit benutzen,
den Kranken und seine Umgebung nicht bloß
mit Gott, sondern auch unter einander zu versöhnen und ihnen das Gebot Christi sJoh. 13, 34, dazu Joh. 13,1:
„wie er geliebt hatte
die Seinen, so liebte er sie bis an das 6nbe"] einzuschärfen.
3) Der Herr hat angeschlossen an die Gebräuche des Pasiah
mahles sein Abendmahl in zwei Gestalten') eingesetzt.
Aber er hat
jeder dieser Gestalten eine eigenthümliche Bedeutung ausgeprägt: sofern
das gebrochene und gegebene Brot mehr seine Hingebung in den Tod,
der Kelch dagegen mehr die Wirkung dieses Todes, nämlich den durch die Vergießung des Blutes Christi geschlossenen neuen Bund der Gnade
und Vergebung der Sünden ausdrückt.
Deshalb ist es eine wesent
liche Verkürzung der Bedeutsamkeit des Abendmahls, wenn die römische Kirche das Abendmahl nur unter einer Gestalt begeht.
verwerflich wird diese Verkürzung dadurch,
Unbedingt
daß sie als Mittel prie
sterlicher Ueberhebung und Anmaßung dient. — Am unangemessensten
und die Bedeutsamkeit der ursprünglichen Einsetzung am meisten ver dunkelnd, ja für unser Gefühl geradezu abstoßend ist die Weise der griechischen Kirche,
die bekanntlich das Brot in den Wein gebrockt
löffelweise darreicht.
4) Abgesehen davon, daß das der Einsetzung des Abendmahls
y) Sub utraque: daher „Ultraquist", wie von dem Kelche (calixj: „Kalixtiner.
454
Gnademnittel.
3. Die Sakrarnente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück).
vorangehende Passahmahl schon an sich eine religiöse, durch fromme
Gespräche und Psalmengesang
geweihte Feier war,
diese Feier noch besonders vorbereitet,
hat der Herr
theils durch seine bei dieser
Gelegenheit gehaltenen Reden (Joh. 13—17), theils durch eine dem
Abendmahle vorangehende sinnbildliche Handlung, die Fußwaschnng (Joh. 13, 1f.),
durch welche er seinen hadernden und sich gegen
seitig „die Köpfe waschenden" Aposteln (Luk. 22, 24—27) an seinem Beispiele zeigte, in welcher Weise seine Jünger sich gegenseitig die
Wahrheit andienen sollen (Luk. v. 27; Joh. v. 13 und 14; Gal.
6,1.2). Demgemäß ist auch in der evangelischen Kirche eine auf die
Feier des Abendmahls vorbereitende kirchliche Handlung (die sogenannte Der Christ hat die Pflicht,
Vorbereitung oder Beichte) geordnet.
solche, neben seiner sonstigen Vorbereitung und „Prüfung seiner selbst" (1 Kor. 11, 28), welche durch jene öffentliche Handlung nicht ersetzt,
sondern nur ergänzt und weiter angeregt werden soll, gewissenhaft zu benutzen.
Ein willkürliches Wegbleiben von derselben würde sitt
liche Gleichgültigkeit und Geringschätzung des h. Abendmahls oder hochmüthige Nichtachtung der Gemeinde oder beides verrathen.
Da
gegen ist Nichttheilnahme an der kirchlichen Vorbereitung kein Hin
derniß der Theilnahme am Abendmahle, wenn dieselbe durch unab wendbare Nöthigung veranlaßt worden; oder auch, wenn erst während
des Gottesdienstes selbst der Drang nach dem Abendmahle entstan
den ist.
In diesem Falle hat der Herr selbst mit dem,
welchen er
in solcher Weise „besonders vom Volke genommen" (Mark. 7, 33), Vorbereitung gehalten. (Vergl. „den Geist dämpfet nicht"; 1 Theff.
5, 19.
„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid;
ich will euch erquicken"; Matth. 11,28.
„Wer zu mir kommt, den
werde ich nicht hinausstoßen"; Joh. 6, 37.) II.
Die Lehre.
Die Lehre
der
evangelischen Kirche vom
Abendmahl läßt sich nicht verstehen ohne Kenntniß
A.
der katholischen Lehre.
Dieselbe läßt sich auf zwei Haupt
punkte zurückführen, an welche sich dann noch zwei, beziehungsweise ein Punkt, im ganzen 3 Punkte anschließen.
1) Die Transsubstantiatio. Nach der Lehre der römischen Kirche findet in dem Augenblicke, in welchem der Priester die Einsetzungs worte spricht, die (dauernde) Verwandlung der Substanz des Brotes
455
Die Lehre — katholische und evangelische (lutherische u. reformirte).
und Weines in die Substanz
des Fleisches und Blutes I. Christi
statt: so jedoch, daß sämmtliche in die Sinne fallenden Eigenschaften (die accidentia) des Brotes und Weines, Form, Farbe, Geruch,
Geschmack, Gewicht u. s. w., durchaus unverändert bleiben.
Auf der
Patene ist nun nicht mehr Brot, sondern Leib Christi, in dem Kelche
nicht mehr Wein, sondern Blut Christi; bleiben auch solche, gleich
viel, von wem sie genossen, oder, ob sie überhaupt genossen oder auf bewahrt, ja vergraben oder verschüttet werden.
Dieses Ungeheure,
kraft dessen der Sohn Gottes durch den Spruch geweihter Priester täglich auf tausend und abermal tausend Altäre der Kirche herab gezogen wird, und sich selbst zu dem von der Kirche darzubringenden Opfer hingiebt, feiert die römische Kirche in dem 1264 eingesetzten
Frohn-(Herrn-)Leichnamsfest. Mit dieser Lehre hängt auf das engste zusammen
lb) die Anbetung der Hostie, die in katholischen Ländern ab und zu auch von Evangelischen gefordert worden ist und gefordert wird; wie z. B. in der vor etlichen 20 Jahren in Bayern befohlenen
Kniebeugung auch der protestantischen Soldaten vor dem „sanctissimum“.
Derartiges kann kein Evangelischer ohne Verletzung seines
Gewissens mitmachen.
gelischer weigern,
Andrerseits wird sich kein verständiger Evan
das Heiligthum seiner katholischen Mitchristen,
beziehungsweise die dasselbe tragenden Persönlichkeiten durch die ge wöhnlichen „militärischen Honneurs" und sonstigen Gruß zu ehren.
Vollends wird er sich hüten,
den Eifer einer katholischen Bevölke
rung durch verletzende Neugierde oder gar durch muthwillige Ver
spottung zu reizen.
Wer darüber Züchtigung zu erfahren hätte,
würde nur erduldet haben, was er durch sein eignes Betragen ver
schuldet hat. —
lc) Die Entziehung des Kelches ist, nachdem lange zuvor die Laien aus abergläubischer Scheu,
dem Blute Christi zu verschütten,
geblieben waren,
nämlich aus Furcht,
etwas von
freiwillig von dem Kelche weg
erst später zur kirchlichen Satzung erhoben;
und
darauf durch die Behauptung, es sei der Genuß des Kelches über flüssig, sofern im Leibe Christi von selbst ja auch das Blut Christi
mitenthalten sei (die Lehre von worden.
der Concomitanz),
gerechtfertigt
Uebrigens wird unter Umständen auch jetzt noch (z. B. in
456
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hanptstiick).
Böhmen) den Laien der sogenannte (ungeweihte) Laien-Kelch gereicht. 2) Das Meßopfer.
Die römische Kirche sieht in dem h. Abend
mahl nicht bloß eine Kommunion, sondern auch ein Opfer, welches
die Kirche durch die Hand ihrer Priester Gott darbringt, zu ver
söhnen die Sünden des Volkes. tige Wiederholung
„Die Messe ist die tägliche unblu
des blutigen Opfers Christi am Kreuz."
Wie
der Sohn Gottes sich einmal für uns am Kreuze geopfert hat zur Tilgung der Erbsünde, so muß er von der Kirche täglich aller Orten geopfert werden zur Vergebung der täglichen Sünden.
2 b) Ein Opfer kann nicht bloß für Anwesende, für Abwesende, Verstorbene u. s. w. dargebracht werden.
sondern auch So werden
denn in der römischen Kirche feierliche und Privatmessen gelesen für allerhand Anliegen und in mannigfaltigsten Nöthen:
für Reisende,
Bedrängte, in Kriegs-, Feuer-, Wassernöthen, bei Landschäden u. s. w. Ja, aus dem Mittelalter wird uns berichtet, daß man das Meßopfer
sogar über verwundete Rosse und Jagdhunde dargebracht habe. Doch
haben wir, über derartige jetzt nicht mehr vorkommende Gräuel zu schreien, so lange kein Recht, als auch bei uns noch heute von dem
„gemeinen Manne" Thiere, die sich verfangen haben, von „Gebildeten" dagegen Warzen, Rose, Fieber u. bergt im Namen der heiligen Drei
faltigkeit besprochen werden. — Die häufigsten unter diesen Messen sind die sogenannten Seelenmessen zur Abkürzung der Qualen, welche die Verstorbenen im Fegefeuer erdulden müssen.
sie haben selbst Katholische
schon
In Beziehung auf
daran Anstoß genommen, daß,
wenn die Kirche aus dem Fegefeuer erretten könne, sie solches nicht
fleißiger noch — ohne Entgelt thue.
Doch werden auch hierfür von
der römischen Kirche Gründe angeführt. B. Die evangelische Lehre. Dieser gesammten Lehre der römischen
Kirche setzt die evangelische Kirche einmüthig ihre Verneinung, und den Nachweis, daß sie unbiblisch sei, entgegen. Dagegen geht sie in
dem, was sie ihrerseits über das Abendmahl aufstellt, auseinander. Beginnen wir, um den Unterschied nicht größer erscheinen zu lassen, als er ist, mit demjenigen, worin die Evangelischen unter einander,
ja noch mit der römischen Kirche einig sind.
Sämmtliche christlichen Confessionen, auch die reformirte, lehren: daß Christus im Abendmahl wahrhaftig gegenwärtig sei. Zwar wird
Die Lehre — katholische imb evangelische (lutherische u. reformirte).
457
das den Reformirten von übereifrigen Lutheranern öfter bestritten,
als wollten jene „nur eine geistige Gegenwart Christi im Abendmahle zugeben".
Aber
die
Reformirten,
auch
Zwingli,
haben
stets
behauptet, daß sie damit die wahre, wirkliche und wirksame Gegen
wart des Herrn lehren und glauben: und ringen offenbar danach,
diese „wahre Gegenwart" in mannigfacher Weise zur Anschauung zu bringen. Und in der That vermag ihnen das nur eine sehr massive, ganz im Sinnlichen stecken gebliebene Anschauung zu bestreiten. Wie denn?
Ist nur das Leibliche wirklich?
So daß etwa nur Zahn
schmerzen wirkliche Schmerzen, Angst, Sorge, Reue, Buße dagegen bloße Einbildungen wären? — Und welches von beidem ist denn das
wahrere, die sinnliche Lust oder die Freude an dem Herrn? — Welches
Stoffliche ist in dem Gebete?
Selbst in der Taufe ist nicht Fleisch
und Blut, und ist doch eine Taufe. bedenken, um zu erkennen,
Nur dieses braucht man zu
daß es allein überreizter Eifer oder
äußerster Materialismus ist, wenn man behauptet, die Reformirten müßten, weil sie die geistige Gegenwart Jesu im Abendmahle lehren,
darum seine wirkliche Gegenwart leugnen!
Die Confessionen weichen von einander nur ab, theils in der Weise, wie, theils in dem,
worin sie den Herrn gegenwärtig
denken. Worin?
Die römische Kirche lehrt, das Brot und der Wein
— oder vielmehr das, was vorher Brot und Wein gewesen, nun aber nicht mehr Brot, sondern in Fleisch und Blut Christi ver wandelt ist, — sei der Leib und das Blut Christi.
Die lutherische Kirche behauptet: In, mit und unter der Gestalt des Brotes und Weines verbinde sich während des Genusses
der wahre Leib und das wahre Blut Christi: oder Brot und Wein enthalten Leib und Blut des Herrn (die Lehre von der consub-
stantiatio gegenüber der römischen transsubstantiatio).
Nach der reformirten Lehre bezeichnen das gebrochene Brot und der gesegnete Kelch — nicht überhaupt den Leib, sondern den Leib, der für uns gebrochen, das Blut, das für uns vergossen wird, also den Tod Jesu uud den durch diesen Tod geschlossenen Neuen Bund. Christus aber ist gegenwärtig in der Feier. Oder anders ausgedrückt: nicht das Brot noch der Kelch ist der Leib oder
458
Gnadenrnittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),
enthält den Leib, sondern das Abendmahl, beziehungsweise die das
Abendmahl feiernde Gemeinde wird der Leib des Herrn genannt, sofern sie Mittel und Träger der vollen persönlichen Gegenwart des
Herrn sind. Wie?
Die römische Kirche lehrt:
fleischlich, mit demselben Leibe, da
mit Christus gekreuzigt ist, und demselben Blute,
das er damals
vergossen hat.
Die lutherische Kirche desgleichen:
fleischlich,
allerdings nur
während des Genusses; aber so, daß der wahre Leib und das wahre Blut Jesu mündlich auch von den nicht Glaubenden genossen
wird. — Luther selbst hat sich darüber in der Hitze des Streites bis zur Uebertreibung ausgelassen, daß der wahre Leib u. s. w. von unsern
Händen zerbrochen, von unsern Zähnen zerkaut werde u. s. f. dererseits hat er doch
An
gegen Kapernaitisches Fleischeffen (Joh. 6)
protestirt, und nur von einem Genusse des verklärten Fleisches und Blutes Christi wissen wollen.
Wobei nur schwer deutlich zu
machen ist, einerseits, wie solcher Genuß mittelst unsers irdischen
„Mundes" u. s. w. möglich sei; andererseits, wo da noch der außer
ordentliche Unterschied zwischen dieser Auffaffung und der Auffassung
der Reformirten blieb! Endlich die Reformirten lehren, wie bereits erwähnt, die gei
stige Gegenwart Christi und folgerecht den Genuß derselben, wie des Leibes und Blutes Christi, nur für den Glauben:
„daß wir nicht allein mit gläubigem Herzen das ganze Leiden und Sterben I. Christi annehmen und dadurch Vergebung
Sünden und
ewiges Leben erlangen, sondern
der
auch durch den
heiligen Geist, der zugleich in Christo und in uns wohnt, also mit seinem gebenedeyten Leibe je mehr und mehr vereinigt wer
den, daß wir, obgleich er im Himmel und wir auf Erden sind, dennoch Fleisch von seinem Fleisch und Bein von seinen Beinen
sind, und von seinem Geiste,
von einer
Seele,
wie die Glieder unsers Leibes
ewig leben und regiert werden."
(Heidel
berger K.)
Was die Reformirten meinen, läßt sich schärfer auch so ausdrücken: Christus ist immer gegenwärtig.
Aber im Abendmahl ist er noch
Die Lehre — katholische und evangelische (lutherische u. reformirte).
auf eine besondere Weise gegenwärtig:
459
indem er uns in demselben
einen Ersatz auch für seine leibliche Gegenwart giebt.
Brot und
Wein find, wie die Zeichen seines Todes, so zugleich die greifbaren
Unterpfänder seiner Nähe, sein Friedensgruß und Kuß, dadurch er selbst uns vergewissert:
„daß sein Leib so gewiß — für mich am Kreuze geopfert und gebrochen, und sein Blut für mich vergossen ist, so gewiß ich mit
Augen sehe, daß das Brot des Herrn mir gebrochen, und der Kelch mir mitgetheilt wird" (Heidelberger K.);
so daß nun auch nach dieser Seite hin nichts mehr an der vollen persönlichen Gegenwart Christi fehlt. III.
Die Begründung.
Es ist eine häufige Rede:
die Reformirten haben
allerdings
auch ein Abendmahl, aber wir haben mehr;
oder auch: wir haben
an dem reformirten Abendmahl nicht genug, wir müssen mehr haben. Das ist eine Thorheit. zu
Nicht daraus kommt es an, was einer mehr
die römischen auch mehr,
haben meint (auf diese Weise hätten
weil sie 7 Sakramente zu haben glauben):
noch auch auf das, was
jemand, weil er an dem Vorhandenen nicht genug zu haben wähnt,
mehr fordert (sonst könnte ja auch einer sprechen, die vierte Bitte
im Vater Unser:
unser täglich Brot gieb uns heute, genüge ihm
nicht, er müsse mehr haben): sondern
einzig und allein auf das,
was der Herr verheißen hat, zu geben.
Daran wird sich jeder
wohl genügen lassen müssen. Was hat der Herr verheißen? 1) Wir haben über die Einsetzung des h. Abendmahls
einen
kürzeren und einen längeren Bericht, jenen bei Matthäus und Markus, diesen bei Lukas und Paulus.
Keiner dieser vier Berichte stimmt
mit dem andern wörtlich überein. würde er schwerlich
Hätte Luther das bedacht, so
die Worte: „das ist mein Leib" zu Marburg
aus den Tisch geschrieben haben. 2) Luther selbst giebt im Katechismus die Worte Christi nach
Paulus, den er aus den andern ergänzt hat, an.
Denn entweder sind das
Wir folgen ihm.
wirklich die Worte, die der Herr bei der
Einsetzung gesprochen hat: dann ist der Bericht bei Matthäus und Markus nur die Zusammenfassung.
Oder der Herr hat geredet, wie
460
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),
es bei jenen lautet: dann haben wir in der Ausführung des Paulus
die authentische Auslegung. —
Die Worte des Herrn zerfallen in zwei Aussprüche, den einen bei Austheilung des Brotes, den andern bei Darreichung des Kelches.
Beide gehören zusammen und dürfen um deswillen beide nur in der selben Weise ausgelegt werden; nicht aber darf man den einen wört lich, den andern bildlich deuten.
Beim Kelche spricht der Herr nicht:
der Kelch ist im Blute, oder: das Blut ist im Kelche; sondern: dieser ist das „Neue Testament in meinem Blute".
Kelch
Das „in
meinem Blute" ist nicht aus „Kelch", sondern auf „Testament" be
zogen, soll dieses näher bestimmen.
So gewiß das nur heißen kann:
der Kelch ist Sinnbild, Zeichen, Unterpfand des neuen Bundes, der in meinem Blute geschlossen werden wird: so gewiß kann auch das
bei Darreichung des Brotes gesprochene Wort nur das Entsprechende
heißen:
dieses,
nämlich das Brechen des Brotes, oder dieses ge
brochene Brot ist ein Zeichen meines Leibes, der gebrochen werden
wird; oder es stellt meinen zu brechenden Leib, meinen Tod, dar. — 3) Zu demselben Ergebniß gelangen wir, auch wenn wir die
Worte:
„das ist mein Leib" rein für sich
betrachten.
Zwar hat
Luther geleugnet, daß die Worte: „das ist", jemals heißen könnten:
das bedeute.
Die Wahrheit aber ist, daß sie nicht nur dieses, son
dern noch viel mehreres bezeichnen können, je nachdem nach dem
Zusammenhänge der Rede bei ihnen ergänzt werden muß, was, als
sich von selbst verstehend, um
der Bündigkeit und Kräftigkeit der
Rede willen ausgelassen worden ist und überall ausgelassen wird: als: „Zeichen," „Grund," „Ursache," „Gegenstand" oder selbst ganze
Sätze.
Wie z. B. hier:
das ist (die Karte von) Palästina, das ist
Jerusalem, das der Jordan u. s. f.
Das ist Gustav Adolf vor der
Schlacht bei Lützen, — das stellt Gustav Adolf u. s. w. vor. — In eurem Album: das ist dein Bruder, das ist seine Haltung, das ist sein Auge, seine Nase, das sind seine Züge: — das ist eine genaue
Abbildung seiner Haltung, seines Auges, seiner Züge! — In der
Schrift, Matth. 13: Der Same ist das Wort Gottes. Steinige gesäet ist, bezeichnet die u. s. f.
Bruder, euer Freund in die Thür tritt: Desgleichen:
Ihr seid meine Freude,
Der auf das
Und wieder, wenn euer das ist er leibhaftig. —
d. i. ihr seid der Gegenstand
Evangelische Lehre nach der Schrift. meiner Freude; ihr macht mir Freude!
461
Dieser Bube ist mein Tod
— die Ursache meines Todes. — Das ist der gestrige Sturm (ge wesen,
der diese Verwüstung angerichtet hat);
oder auch:
das ist
die Wirkung des gestrigen Sturms. — Endlich ganz lutherisch: dies (meine Börse) ist (enthält)
meine ganze Einnahme;
dies (diese
Scheunen) ist (enthalten) meine diesjährige Ernte u. s. w. — Welche
von allen diesen grammatisch möglichen Bedeutungen des Wortes „das ist" an einer bestimmten Stelle die logisch nothwendige und
allein wirkliche sei: bestimmt, wie aus dem Vorstehenden hinlänglich hervorgeht,
worten nur
der Zusammenhang.
Dieser läßt bei den Einsetzungs
die reformirte Auslegung zu.
Von der römischen zu
geschweigen, würde auch nach der lutherischen Ausfassung Leib und Blut des Herrn zweimal vorhanden gewesen sein:
einmal der Herr
selbst mit seinem noch nicht gebrochenen Leibe, und dann derselbe
noch nicht gebrochene Leib gebrochen, ja verklärt in der Hand des
ungebrochenen;
einmal das Blut des Herrn noch nicht vergossen in
den Adern des Herrn und dann dasselbe nicht vergossene Blut ver gossen und verklärt in dem Kelche! Das kann der Herr nicht haben
sagen wollen, und wenn doch, so würde er es aus eine solche Weise gesagt haben, daß seine Jünger es absolut nicht hätten verstehen können.
Freilich sagt man: auch viele andere Worte des Herrn seien
den Jüngern erst nach dem Tode des Herrn aufgegangen. Sodann:
der Widersinn falle weg, und die lutherische, beziehungsweise die ka tholische Auslegung rechtfertige sich, sobald man festhalte, daß die
Worte des Herrn sich gar nicht auf dieses Mahl bezogen hätten, bei welchem er ja noch leibhaftig zugegen gewesen sei, sondern, daß sie
lediglich den spätern (wirklichen?) Abendmahlen nach seinem Tode gälten!
Sagt das der Herr?
Auf diese Weise kann man aus jeder
Stelle alles und jedes herleiten!
Zum Ueberfluß
haben wir
die
Gewähr, daß die Apostel noch sehr spät nach dem Tode des Herrn
die Worte: „das ist mein Leib, das ist mein Blut", nicht lutherisch,
verstanden haben:
Apostg. 15,20.
Eine Christenheit,
welche die
Enthaltung von „Blut" zur Bedingung der brüderlichen Anerkennung machte, kann unmöglich gemeint gewesen sein, in ihrem Abendmahl
das Blut ihres Herrn zu genießen!
Damit stimmt auch 1 Kor. 10,16.17.
Zwar sagt da Paulus:
462
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),
der gesegnete Kelch, den wir segnen, ist der nicht die Gemeinschaft des Blutes Christi? Aber er sagt auch: das Brot, das wir brechen,
ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi?
der Gemeinde Christi;
das heißt aber:
denn — setzt er hinzu — ein Brot ist es,
so sind wir viele ein Leib, dieweil wir alle eines Brotes theilhaftig sind.
Kann danach zweifelhaft sein,
daß auch jene Worte nichts
anderes heißen, als: der Kelch, den wir segnen, bringt der uns nicht mit dem Blute d. i. mit dem versöhnenden Tode Christi in Verbindung
und macht uns der Segnungen desselben theilhaft? (Röm. 6,4—6.)') *) Die Stelle 1 Kor. 10, 16 f. ist schwer. Paulus redet nicht mit dogmatischer
Bestimmtheit, sondern emphatisch und in populärem Ausdruck. Was soll das heißen, der Kelch — sei die Gemeinschaft des Blutes Christi? Kann man sich —
genau genommen — dabei etwas Bestimmtes denken? Höchstens: „der Kelch — bringt uns mit dem Blute Christi in Verbindung." Aber wie so thut er das? Jedenfalls ist klar, daß die Worte nicht das Luthersche heißen können: „der Kelch enthalte das Blut"; „theile uns das verklärte Blut mit". Sondern etwa Ähn liches, wie das Apostolische: „gewaschen ihre Kleider im Blute des Lammes", oder das Johanneische: „das Blut Christi macht uns rein von allen Sünden"; also: der Kelch d. h. das Abendmahl macht uns der Segnungen theilhaftig, welche durch das Blut i. e. den Tod Christi erworben sind. Dazu kommt nun das „Denn ein Brot ist es: so sind wir viele ein Leib, dieweil wir alle eines Brotes theilhaftig sind." Hier ist ohne Zweifel „ein Leib" gleich „eine Gemeinde", die, entsprechend der in Kapitel 12 bestimmter hervor tretenden Anschauung des. Apostels, als der geistliche Leib I. Christi bezeichnet wird. (Vergl. Ephes. 4, 4f. u. 15f., ferner Kol. 1, 18 u. s. w.) — Desgleichen ist ohne Zweifel, daß das „Brot" als das diesen Leib Constituirende erscheint. Nun faßt man freilich die Worte: „denn ein Brot ist es" u. s. w. gewöhnlich als einen nur so beiläufig hinzukommenden Nebengedanken. Aber, selbst so verstanden, zeigen sie das Unmögliche der Lutherschen Auslegung. Denn ungeschickter hätte der Apostel, falls er Lutherisch gedacht hätte, nicht argumentiren können, als: das Brot macht uns des (wahren) Leibes I. Christi theilhaftig, denn es ist ein Brot; so sind wir auch, wir viele, sein (geistlicher) Leib, dieweil wir alle eines Brotes theil haftig sind. Vielmehr hätte er — und Paulus konnte doch denken und (wenn auch ab und zu schwerfällig) einigermaßen ausdrücken, was er wollte — sagen müssen: das Brot theilt uns den Leib Christi mit, „denn es ist eben, oder es enthält den (wahren) Leib Christi: und nun erst nach dieser Begründung, die
allein eine Begründung gewesen sein würde, hätte er auch auf die Einheit dieses Brotes und auf die durch dieselbe bewirkte Constituirung der Gemeinde zum geistlichen Leibe Christi übergehen können. Selbst so wären das zwei neben einander hergehende Gedanken gewesen, wovon man nicht begriffe, wie und durch welche Gedankenverbindung er von dem ersteren: „das Brot enthält den (wahren) Leib Christi", auf den zweiten: „das Brot macht uns zu dem (geistlichen) Leibe
Evangelische Lehre nach der Schrift.
463
— Vergleiche noch Joh. 6, 26—63, welche Stelle auf entscheidende Weise darlegt,
was unter dem Essen und Trinken des Leibes nnd
Blutes I. zu verstehen ist; nämlich: den ganzen ungeteilten Christus,
vornehmlich
aber
seine Dahingebung in
den Tod im
lebendigen
Glauben sich so zu eigen machen und die in ihm und in dieser seiner
That sich offenbarenden göttlichen Lebens- und Liebeskräfte so in unser
geistig Fleisch und Blut verwandeln, wie das leibliche Essen und Trinken die leibliche Speise und Trank in unser leibliches Fleisch und Blut überführt, und uns also ernährt (cf. Die oben angegebenen
Ausführungen des Heidelb. Katech.) *). Veranlassung und Bedeutung des Streites. — Schwerlich
IV.
würde sich unser großer Luther diesen Gründen entzogen haben, wenn er nicht 1) damals schon so viel mit dem „Geiste" und der „Geisteret" der Zwickauer Propheten, sodann des Thomas Münzer, die schließChristi",
gekommen wäre!
Aber es wäre wenigstens klar gewesen.
so
Indeß,
drückt er sich in keiner Weise aus, vielmehr tritt der durch die Hinweisung auf die Einheit des Brotes eingeführte Gedanke des einen Leibes ausdrücklich
als Grund des von der Gemeinschaft des Leibes handelnden Gedankens auf;
soll und will erklären, warum uud wieso „das Brot, das wir brechen, die Ge meinschaft des Leibes Christi sei?"
Liegt es da nicht auf der Hand, was
Paulus mit dem letzteren meint: nämlich die Gemeinschaft mit dem (von ihm sehr real gedachten und in der That sehr realen) geistlichen Leibe d. i. der Gemeinde
Christi?
„Wie könnt ihr Göhenopfer essen,
die ihr durch
das Abendmahl der
Segnungen des versöhnenden Todes („des Blutes") Christi theilhaftig, und Glieder seines Leibes, seiner Gemeinde, geworden seid?
So paßt es von allen Seiten.
Denn ein Brot ist es" u. s. w.
Das Wort Leib hat beidemal dieselbe Bedeu
tung: und der zweite Satz ist wirklich eine Begründung des ersten.
Möglich aller
dings ist bei der Ungenauigkeit und dem Schillernden des Ausdrucks, daß das erste Mal, veranlaßt durch
die vorangehende „Gemeinschaft des Blutes Christi",
der
Gedanke an den die Gemeinde der Erlösten begründenden Tod („das Brechen
des Leibes") Christi mit hineingespielt ha^ und der Faden gewesen ist, an welchem innerlich die Gedankenentwicklung sich fortgesponnen hat: wie andererseits, daß schon
im „Blute"
der Gedanke mit an das „Bundesblut des Neuen Testamentes"
„den Neuen Bund" angestreift haben kann.
Die Ausdrucksweise ist eben keine
haarscharfe, sondern eine solche, welche ein Hereinschillern auch anderer Gedankengänge^möglich macht.
’) Wem an weiterer Begründung liegt, vergleiche den „Vortrag über die Pom
Abendmahl handelnden Stellen des N. Testamentes" von H. Krause in der „Mo natsschrift für die unirte Kirche".
IV. 6. S. 431.
464
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hmrptstück).
lich in Hellen Aufruhr und Mordbrennerei hinauslief, zu kämpfen
gehabt, und gemeint hätte, sich solcher „Schwarmgeisterei" gegenüber um so fester auf das „Wort" stützen
zu müssen; — wenn nicht
2) der Abendmahlshandel unglücklicher Weise zuerst von dem unru
higen und Luthern mit Recht widerwärtigen Karlstadt in der ver
kehrtesten Weise angeregt worden wäre.
Karlstadt lehrte, Christus
habe, als er die Worte „das ist mein Leib" gesprochen, auf sich ge zeigt; dann habe er das Brot dargereicht, indem er gesagt, das thut
zu meinem Gedächtniß.
Luther zeigte die Albernheit dieser Auslegung,
indem er sagte, das sei gerade so, als wenn der Herr Christus ge sprochen:
„Hier sitzt Hans mit der rothen Joppen,
das thut zu
meinem Gedächtniß." — Als später die Schweizer in die Sache eintraten, meinte Luther, sie wollten den Karlstadt, der sich zu ihnen begeben hatte, und seine Lehre wider ihn in Schutz nehmen; — wenn
nicht 3) die Schweizer und namentlich Zwingli sich ab und
zu
minder deutlich ausgesprochen hätten, so daß allerdings der Schein entstand, als sähen sie in Brot und Wein nur leere Zeichen. Luthern
kam es zuletzt auch nicht auf „Fleischessen" an: aber er wollte nicht,
daß man das Abendmahl nur zu einer frommen Ceremonie und bloßem Gedächtnißmahle herabsetze, an welchem man schließlich nichts habe, als, was der Meusch in eigner geistiger Erhebung und Er
innerung an ein einmal Geschehenes zu gewinnen vermöchte. Er wollte
festgehalten wissen, daß uns in dem h. Abendmahle eine himmlische Gabe und reale Mittheilung Christi entgegenkomme.
nach
Daß das auch
der reformirten Ausfassung in hohem, wo nicht in höherem
Grade, als nach der lutherischen möglich ist, liegt nach dem vorher Auseinandergesetzten auf der Hand. die Gefahr vorhanden,
werden,
Aber damals war allerdings
daß diese Seite des Abendmahls übersehen
und jede tiefere ahnungsvolle Auffassung über einer allzu
großen Nüchternheit verschwinden möchte.
Diese Seite, „das Geheim
niß" des Abendmahls, ja des Religiösen überhaupt festgehalten und auf die Zeit hin bewahrt zu haben, wo das Verständniß zur Er
fassung und Begründung auch dieser Tiefen herangereift sein würde, das ist ungeachtet seiner Schroffheiten das unveräußerliche Verdienst
unsers Luther im Streite über das Abendmahl. —
V.
Die Bereitung auf den Genuß des Abendmahls. — Wie
Vorbereitung.
Winke für den ersten Gang zum Tisch des Herrn.
das Heil überhaupt nicht von Glaubensmeinungen,
465
sondern vom
Glauben d. i. der Hingebung an die Gnade Gottes in Christo ab hängig ist, so hängt auch der Segen des Abendmahls nicht von der mehr oder minder richtigen Ansicht über das Abendmahl,
als viel
mehr von dem rechten Verlangen nach dem Heil ab (Matth. 5, 6).
Auch
ein katholischer
Christ kann vollen Segen des Abendmahls
haben. — Das hat im Grunde niemand schärfer ausgesprochen, als
Luther in seinem Katechismus, der überhaupt bis auf die erste Frage durchweg so gefaßt ist, kann.
daß jedweder Evangelische nur zustimmen
„Für euch gegeben und vergossen zur Vergebung der Sünde" :
das zeigt, was uns im Abendmahle verheißen ist, und was wir in ihm zu suchen haben; nicht Hader und Streit, nicht dünkelhafte
Ueberhebung des einen über den andern: sondern „Vergebung der Sünden, Leben und Seligkeit."
„Für euch gegeben und vergossen
zur Vergebung der Sünde": das weist darauf hin, was im Abend
mahle das Wirksame sei; nämlich nicht „Essen und Trinken, die es nicht thun, sondern diese Worte, die dabei stehen; welche Worte neben dem Essen und Trinken sind als das Hauptstück im Sakrament; so
daß, wer diesen Worten glaubt, der hat, was sie sagen, und wie sie
lauten, nämlich Vergebung der Sünden." vergossen zur Vergebung der Sünde":
„Für euch gegeben und
das hält uns endlich vor,
„wer recht würdig und wohl geschickt sei,
das Abendmahl
nießen; nämlich, wer den Glauben hat an diese Worte.
zu ge
Wer aber
diesen Worten nicht glaubt oder zweifelt, der ist unwürdig und un
geschickt" — er mag eine Lehre haben, welche es sei, und sich an stellen, wie er wolle: „denn das Wort „für uns" fordert eitel gläu bige Herzen." — Dem entspricht auch die Mahnung des Herrn „zu
meinem Gedächtniß",
Der Abendmahlsgast hat wohl an anderes
zu denken, als an Luther und Calvin und den Streit der Confessionen.
Nicht, daß ihm und insbesondere euch, die ihr frisch aus der Unter weisung kommt,
dieser Unterschied nicht einfallen könnte, ja müßte:
nur soll niemand Werth darauf legen,
noch sich darum ängstigen.
Beim Abendmahl kommt alles darauf an,
daß man zu demselben
als zu Christo kommt, demüthig, hülfsbedürftig, hungernd und dur stend nach dem Heil, wie das Lied 366 in unserm Gesangbuche sagt:
„Ich komme als ein armer Gast — o Herr, zu deinem Tische — den Eitester, Materialien. 2. Auflage.
30
466
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hauptstück),
du für mich bereitet hast — daß er mein Herz erfrische." Wer aber als ein stolzer Reformirter oder Lutheraner kommt, an dem wird der Herr kein Wohlgefallen, nnb er selbst jedenfalls mindern Segen haben. VI. Etliche Winke für solche, welche zum ersten Male zum Abendmahle gehen. — Es ist eine sehr gewöhnliche Erfahrung, daß insbesondere junge Christen, die zum ersten Male zum Tische des Herrn kommen, in ihrer Andacht gestört und angefochten werden, wenn sie bei dem Genusse des Brotes und Weines den Geschmack eben nur des Brotes und Weines haben. Sie sind mehr oder minder bewußt der Erwartung gewesen, die Gegenwart des Herrn auch irgend wie leib lich schmecken zu können, ja Ivohl — wenn sie sich nicht als Un würdige betrachten sollen — schmecken zu müssen. Die sind zu erinnern, daß diese Erwartung selbst nach der römischen Lehre nicht in Erfüllung gehen könne: vollends nicht nach evangelischer. Wo bliebe auch,wenn dasHimmlische sich leiblich schmecken ließe, derGIaube? Andere haben schon geklagt, daß sie bei dem Abendmahl über haupt nicht dasjenige gefunden hätten, was sie sich davon versprochen: daß sie im Gegentheil bei andern Gelegenheiten viel mächtiger er faßt, viel tiefer ergriffen und erbaut worden wären, als hier, wo sie sogar kalt geblieben. Wenn das richtig ist, so ist es der Beweis, „daß der Wind bläst, wo er will" (Joh. 3, 8); daß der Herr mit feinen Gnadenzügen und Gnadenwirkungen nicht an Zeit, Ort, Ge legenheit, also auch nicht an das Abendmahl gebunden und gewissermaßen angekettet ist. Aber in den meisten Fällen ist es nicht rich tig, sondern beruht auf einer Täuschung. Weit entfernt, daß die also Zagenden minder angesaßt gewesen wären, war vielmehr ihre Ergriffenheit, und in Folge der gespannten Erwartung und andauern den geistigen Arbeit auch ihre leibliche Erregung so groß, daß sie gerade über der Heftigkeit der Bewegung zu keinem ruhigen Genusse der heiligen Feier zu kommen vermochten. Mögen die sich doch um's Himmelswillen nicht ängstigen, noch meinen, keinen Segen gehabt zu haben. Sie sind in hohem Grade gesegnet gewesen; wie sie das wohl an den Wirkungen werden gemerkt haben, welche sich von daher auf ihr Leben ergossen.
Vorbereitung.
Winke für den ersten Gang zum Tisch des Herrn.
467
Mit dieser gesteigerten leiblichen und geistigen Erregung hängen
noch Erscheinungen zusammen, die zu den quälendsten Erfahrungen gehören, welche der Mensch machen kann: daß man nämlich vor lau ter Aufregung nicht bloß — im buchstäblichen Sinne des Wortes —
an Leib und Seele friert, sich unerquickt, öde und zerrissen fühlt; sondern auch, daß sich uns mitten in den feierlichsten Augenblicken fremde, widerwärtige,
abscheuliche Gedanken aufdrängen, die man
mit keiner Anstrengung loswerden kann.
Unerfahrene halten das
wohl für Anfechtungen des Satans, jedenfalls für etwas ganz Er schreckliches-, und ängstigen sich unsäglich darüber. Der Kundige aber'
weiß,
daß
die Gedankenverbindung in
unserm Geiste nicht bloß
nach dem Gesetze der Gleichheit oder Aehnlichkeit, sondern auch nach dem Gesetze des Gegensatzes vor sich geht; so daß z. B. niemand sich „Weiß" vorstellen kann, ohne daß ihm nicht leicht „Schwarz" ein
Sodann erinnert er sich, wie auch sonst bei großer Aufregung
fiele.
und gesteigerter Nervosität die gleiche Erscheinung vorkommt, näm daß urplötzlich Vorstellungen, Bilder, Gestalten in uns auf
lich:
tauchen und sich an uns heften, von denen unser innerster Mensch
nicht das Mindeste weiß, die wir sogar hassen und verabscheuen, die
wir aber trotzdem in solchen Zuständen zu erleiden haben.
Die in
solcher Weise Angefochtenen thun am besten, wenn sie auf dergleichen
sie umsummende Gedanken u. s. w. so wenig als möglich reflektiren; vielmehr es machen, wie wir zu thun Pflegen, wenn wir im schwülen
Sommer von Mückenschwärmen überfallen werden.
Da hilft es auch
nicht, daß man in das Ungeziefer hineinschlägt oder heftig läuft: im
Gegentheil wird dadurch die Plage nur ärger.
gegen Ende.
seinen Weg geht,
Je ruhiger man da
um so eher nimmt die Belästigung ein
So ist es auch mit dieser geistigen Pein.
Im übrigen thut
dieselbe, so quälend sie für die Empfindung ist, dem Segen keinen Abbruch. — Damit ist schon gesagt, was von
dem Streben zu halten ist,
bei dem Abendmahl gewisse vorher bestimmte Empfindungen, insbe
sondre das Gefühl
so rechter tiefer Zerknirschung
zu haben; und
diese Empfindungen nun in jeder möglichen Weise zu erzeugen.
genug kann davor gewarnt werden.
Nicht
Bei dem Abendmahl, wie bei
allen sonstigen heiligen Handlungen, ja überhaupt bei der Religion, 30*
468
Gnadenmittel.
3. Die Sakramente.
B. Das h. Abendmahl (5. Hailptstück).
kommt unendlich wenig, so gut wie gar nichts, auf die Empfindung, Bewegung, Rührung und dergleichen an.
Es ist eine reine Selbst
täuschung, wenn einer darin und dadurch Segen gehabt zu haben meinte.
Der Segen liegt ganz wo anders und ist ein anderer: wie
auch die Schrift lehrt:
„Es ist ein köstlich Ding, daß das Herz
fest werde, welches geschieht durch Gnade" (Ebr. 13, 9). aber ist es Betrug und Belügung Gottes, wenn
Vollends
Gott belogen
werden kann, und unser selbst, so jemand durch derartige gewalt same Rührung und gemachte Empfindung sonstigen Mangel be decken, durch die Zerknirschung eines Tages, die Thräne eines Augen
blicks die Versäumniß von Jahren ersetzen wollte. doch niemand nach „Empfindung"!
Darum trachte
Es schadet immer.
Im besten
Falle lenkt es die Gedanken von dem, was nöthiger ist, ja, worauf
es allein ankommt, von der Richtung des Willens, der Gesinnung, ab.
Rach der strebe, um die bete man: dann lasse man es gehen,
wie Gott will! —
Endlich: junge Christen haben die Neigung, das Abendmahl auf
zuschieben.
Sie fühlen sich so unreif, so unwerth: sie möchten lieber
warten, bis sie würdiger sind. Nun ist es schon richtig, daß sie Un
mündige, Schwache, Unvollkommene, mit einem Worte, daß sie An
fänger sind. Und ist auch gut, daß sie sich dessen bewußt seien, wenn sie aus diesem Bewußtsein den Antrieb nehmen, Gott um so inniger zu danken, und fortan im übrigen Leben die Demuth, den Gehorsam,
das Streben nach Vollkommenheit, das vor allen dem jungen Christen ziemt, zu entfalten.
Aber das ist nicht nöthig (und dies ist auch
manchem älteren zu sagen), daß sie deshalb mit dem Abendmahle
warten. Worauf wollen sie warten? sind?
Dis sie ganz würdig geworden
Es giebt keine andere Würdigkeit des Christen, als, daß er
wisse: „Herr, ich bin zu gering aller der Treue und Barmherzigkeit, die du an deinem Knechte, oder vielmehr, die du an deinem Kinde
gethan hast," und aus diesem Bewußtsein heraus durch Vertrauen
und Gehorsam danke! — Oder meinen sie, warten zu müssen, bis
sie die Sünde, mit der sie zu kämpfen haben, los sind?
Wird das
auf Erden jemals der Fall sein? Oder wird nicht vielmehr der nie
ruhende, nie auszufetzende Streit mit der Sünde und Schwachheit in uns nur da zu steigendem Siege führen, wo wir in unserer
Vorbereitung.
Winke für den ersten Gang zum Tisch des Herrn.
469
Schwachheit uns an den wenden, der stärken, geben und vergeben kann? Die ihr aufschieben wollt, denkt doch nur an euren christlichen
Glauben: „Ich glaube an die Vergebung derSünde."
Wo bliebe
das, wenn ihr euch die Vergebung vorher verdienen könntet, ver dienen müßtet?
Nicht also: sie wird unverdient dargeboten, und
muß unverdient genommen werden, dann senkt sie den Frieden in die Brust, aus
dem das neue Leben quillt.
euch Gott und versiegle ihn, so
Den Frieden
schenke
oft ihr zum Sakramente kommt
und vernehmet das Wort: „Für euch gegeben" — der „Neue Bund" — immer neuer Gnade — „zur Vergebung der Sünden."
Amen!